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German Pages 288 Year 1989
Ursula Reinhold
Alfred Andersch
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Ursula Reinhold
Alfred Anders ch Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit
Akademie-Verlag Berlin
1988
ISBN 3-05-000429-0 ISSN 023-315 X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 ©Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202 • 100/122/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6728 Lektor: Elzbieta Mischke LSV: 8053 Bestellnummer: 7547492 (2150/93) 01050
Inhalt
Einleitung Historische und geistige 1944 -1952
7 Voraussetzungen.
Literatur
und
Politik 12
Biografie und Autobiografie Amerikaerfahrung, die deutsche Nachkriegsrealität und das politische Programm des „Ruf" Heimatlose Linke als europäische Avantgarde? Grundaüge eines Literaturprogramms: Deutsche Literatur in der Entscheidung „Die Kirschen der Freiheit" - Werk und Wirkung . . . . Alfred Andersch im literarischen und kulturellen 'Betrieb der f ü n f ziger Jahre Die Arbeit im Rundfunk „Texte und Zeichen" - eine literarische Zeitschrift . . . . „Sansibar oder der letzte Grund" - Geschichtliche Aktion und ästhetische Konstruktion „Die Rote" - Wirkungsintention und ästhetische Gestalt . „Der Romanhat immer eine Zukunft ..." len in den sechziger und siebziger Jahren
12 25 33 40 71 87 89 99 122 136
- Welt blick und Erzäh-
„Efraim" - Roman der Krise und des Übergangs Bericht und Erzählung bei Andersch Alfred Andersch und Ernst Jünger (Ein Exkurs) „Winterspelt" - Geschichte und Fiktion
156 . . . .
156 182 202 214
„empört euch der himmel ist blau" - Schriftstellerisches Selbstverständnis und politisches Engagement in den siebziger Jahren . . . 235 5
Nachbemerkung
254
Anmerkungen
255
Zeittafel
279
Personenregister
281
Einleitung
Diese Untersuchung stellt mit Alfred Andersch einen Autor in den Mittelpunkt, der das literarische Leben in der Bundesrepublik maßgeblich mitbestimmt hat und dessen vielgestaltige literarische Produktion eine große Wirksamkeit im europäischen Maßstab aufzuweisen hat. Als Vermittler, Organisator und Initiator innerhalb des literarischen Betriebs, als Publizist, der politische, historische und künstlerische Erscheinungen aufgreift, als Reiseschriftsteller, Erzähler, Hörspiel- und Romanautor hat er ein Werk hinterlassen, das in den Bestand der deutschen Literatur Eingang fand. Das Interesse der Untersuchung ist vor allem auf drei Fragenkomplexe gerichtet. Erstens wird der Zusammenhang von Politik und Literatur untersucht. Die Autorin geht der Frage nach, wie er sich in den verschiedenen Etappen der westdeutschen Entwicklung und am Werke Anderschs in der spezifischen Ausformung und historischen Wandlung seines von Sartre her bestimmten Engagement-Begriffs darstellt. Ein zweiter Komplex stellt die Herausbildung des spezifischen Schreibkonzepts dar. Andersch geht vom Mitteilungscharakter der Literatur aus und entwickelt Schreibstrategien, die unmittolbar auf den Leser gerichtet sind. Die geschichtsphilosophische Grundlage für diese Bestimmtheit seines Schreibens wurzelt in Kategorien des traditionellen und existentialistischen Humanismus. Die ästhetischen und ethischen Intentionen seines Schreibens sind auf die Verteidigung des Individuums gerichtet und tangieren unter diesem Gesichtspunkt Fragen der politischen Moral und einer moralischen Politik. Diese Grundproblematik von Anderschs Prosaarbeiten resultiert aus biografisch-geschichtlichen Erlebnissen, denen in der Untersuchung nachgegangen wird. Für die Beschreibung der ästhetischen Aufbauformen konzentriert sich die Untersuchung vor allem 7
auf das R o m a n w e r k , bezieht aber die anderen Prosaarbeiten mit ein, auch um die Nahtstellen zwischen fiktiven und dokumentarischen Darstellungsformen und ihre unterschiedlichen Wirkungsintentionen sichtbar zu machen. Drittens werden Fragen des sozialen und geistigen Standorts eines Autors erörtert, der sich auf die Möglichkeiten des Literaturbetriebs und der Medien voll einläßt und ihre Anregungen für sein eigenes Werk aufnimmt. Die Untersuchung weist die Möglichkeiten und Grenzen, die produktiven Anregungen und K o m promisse auf, die eine solche Tätigkeit begleitet haben, und diskutiert das Spannungsverhältnis zwischen einer auf Mitteilung gerichteten Literaturproduktion und den literarischen Wirkungsmöglichkeiten innerhalb eines kapitalistisch organisierten Literaturbetriebs. Sie zeigt den Autor mit seinen ästhetischen und literarischen Ansichten innerhalb der zeitgenössischen Debatten. Die Methode der Arbeit wäre mit historischer Rekonstruktion zutreffend zu beschreiben. Die Darstellung gruppiert sich um gedankliche Kernpunkte, die sich aus dem historisch wandelbaren Verhältnis zwischen geschichtlicher Erfahrung und ästhetischem Weltbild mit entsprechenden Schreibintentionen und Schreibstrategien ergeben. Dabei stellt die Autorin die publizistischen und künstlerischen Reaktionen des Autors auf die Geschichte und ihre Wirkung in der geschichtlichen Welt an einigen Beispielen dar. Das ließ sich vor allem durch die Einbeziehung der zeitgenössischen Kritik auf das Romanschaffen realisieren. Es wurde der allgemeine geschichtliche und der spezifisch ästhetische Horizont der kritischen Rezeption rekonstruiert und ein eigenes Interpretationsangebot unterbreitet, das die symptomatischen Leerstellen, die kontroversen Diskussionspunkte oder aber die auffälligen Übereinstimmungen innerhalb der kritischen Rezeption mitreflektiert. Die Darstellung folgt der Biografie und dem Geschichtsverlauf. Die Autorin versucht durch Vor- und Rückgriffe und durch zusammenfassende Abschnitte durchgehende Linien herzustellen, die bestimmte Umbrüche, Krisen und Neuansätze innerhalb der ästhetischen Position des Autors markieren, dabei zieht sie, soweit als möglich, auch die Problematik der materiellen Lebensbedingungen Anderschs in ihrer symptomatischen Bedeutung für die Befestigung einer „freien" Schriftstellerexistenz heran. Sowohl Anderschs Wirkung in der Bundesrepublik als auch einige Gesichtspunkte der Rezeptionsgeschichte seiner Werke in der D D R fanden Beachtung.
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Am Beispiel dieses Künstlers werden Probleme sichtbar, die sich während der Suche nach Bündnispartnerschaften und Kooperationsmöglichkeiten in den vierziger und fünfziger Jahren in der DDR ergeben haben. Fehleinschätzungen wurden teilweise durch die mangelnde Bereitschaft verursacht, die besonderen Produktionsbedingungen und den ideellen Kontext bürgerlicher Autoren ernsthaft in Rechnung zu stellen. Im Falle von Andersch liegt der Grund für die sehr späte Rezeption eines bisher nur ausgewählten Teils seines künstlerischen Werkes vor allem in seiner zeitweiligen Zugehörigkeit zur Kommunistischen Jugendbewegung vor 1933, die die Vorstellung von Renegatentum aufkommen ließ. Dieses Urteil läßt erkennen, daß dem Faktor der Zufälligkeit im biografischen Entwicklungsgang keine Bedeutung eingeräumt wurde. Die Tatsache, daß bestimmte historische Konstellationen das Individuum in die Isolation entlassen können, fand ebenfalls keine Berücksichtigung. Obwohl die Zugehörigkeit zum Kommunistischen Jugendverband nur eine kurze Episode in Anderschs Entwicklung blieb, war ihre Wirkung für das künstlerische Selbstverständnis und das historische Bewußtsein des Autors von folgenreichem Wert. Sie regte ständige produktive Auseinandersetzung an und bewirkte, daß Andersch, gegen Ende seines Lebens verstärkt, in sozialistischer Richtung über die kapitalistische Gesellschaft hinausdachte. Wesentlicher Antrieb für Anderschs künstlerisches Schaffen ist ein entschiedener Antifaschismus, der ihn veranlaßt, seine Arbeit als Friedensarbeit zu verstehen und seinen selbstgestellten Auftrag an die Friedenserhaltung zu binden. In der BRD war Andersch immer ein vor allem durch die Kritik vielbeachteter Autor. Neben einer umfangreichen Publizistik zu seinem Werk hat sich in den siebziger und achtziger Jahren ein gewisser Forschungsstand in der germanistischen Literaturwissenschaft entwickelt, während die Aufmerksamkeit innerhalb des Literaturbetriebs eher zurückging. Das hing mit publizistisch-politischen Akivitäten des Autors zusammen, auf die die bürgerliche Kritik eher negativ reagierte. Zur literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung hat der Germanist Volker Wehdeking mit seiner 1983 erschienenen Monographie Alfred Andersch einen wichtigen Beitrag geleistet, nachdem er schon 1971 mit seiner Publikation Der Nullpunkt wichtige Aufschlüsse über Voraussetzungen und Bedingungen der frühen BRD-Literatur ermittelt hatte. In seiner Andersch-Monographie stellt er sich die Aufgabe, „zu dem vom Autor immer sehr ernst 9
genommenen ästhetischen Strukturbild das historische Bezugsbild zu finden" 1 und den Formen des gesellschaftlichen Engagements nachzugehen. Er bedient sich dabei der „Methode einer kritischen Literatursoziologie" 2 , mit deren Hilfe die Wirkungsvorstellung des Autors zu den Wirkungsstrategien seiner Erzählwerke und zum geschichtlichen Umfeld in Beziehung gesetzt wird. Allerdings gelingt es ihm nicht durchgängig, diesen produktiven Ansatz durchzuhalten und Geschichte auf ihre sie bestimmenden Determinanten zurückzuführen, Anderschs immer wieder aufs neue aufgenommene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in ihrer historischen Dimension zu werten. Dennoch setzt Wehdekings Untersuchung die positiven Seiten einer wissenschaftlichen und essayistischen Publizistik über Andersch fort, die in den sechziger Jahren vor allem von Schriftstellerkollegen geschrieben worden ist. Beiträge von Jean Amery, Wolfgang Koeppen, Ingeborg Drewitz, Hanno Kesting, Werner Weber, Elisabeth Plessen, Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger betonten die Eigenständigkeit von Anderschs literarischem Weg, die Konsequenz in der Verbindung von gesellschaftlicher und künstlerischer Aktivität und die aus einer stets erneut geführten Auseinandersetzung mit geschichtlichen Vorgängen gewonnene Innovationskraft seines erzählerischen Schaffens. „Andersch ist ein politischer Schriftsteller . . .", schrieb in diesem Zusammenhang Hans Magnus Enzensberger, „nicht indem der Autor sein artistisches Können verleugnet, sondern indem er ihm das Äußerste abverlangt hat, weder Trost, noch Eleganz, sondern Zeugenschaft." 3 Für einen großen Teil der Andersch-Forschung gilt allerdings das, wovor Max Frisch gewarnt hat: Der politische Schriftsteller Andersch wird zu einem Meister deutscher Prosa entschärft. Diese Charakteristik trifft auf zahlreiche Untersuchungen zu, die dann meist Marcel Reich-Ranickis Formel vom „enttäuschten Revolutionär" 4 abwandeln, der in die Kunst desertiert sei. Durch eine solche Sicht ist auch die Publikation von Alfons Bühlmann In der Faszination der Freiheit5 (1973) bestimmt, in der die Freiheitsproblematik im Werk Anderschs untersucht wird. Der Autor urteilt vom Standpunkt einer existentialistischen Freiheitsauffassung, innerhalb derer individuelle Freiheit von ihrer sozialen und historischen Determination abgetrennt und das Freiheitsproblem nur in seiner allgemeinen existentiellen Dimension gefaßt wird. Die genaue Beschreibung ästhetischer Bausteine, bis hin zu motivischen und sprach10
liehen Gestaltungselementen, kann als positives Ergebnis gewertet werden. Da historische Bezüge völlig ausgeklammert bleiben, ist der Aussagewert dieser Untersuchung jedoch nur begrenzt. Das Autorenbuch Alfred Andersch von Erhard Schütz, als Nummer 23 der Autorenbücher 1973 erschienen, bezieht den geschichtlichen Zusammenhang und die biografischen Voraussetzungen mit ein, bestimmt diesen Zusammenhang („Naturgeschichte eines Schriftstellers" 6 ) allerdings höchst mißverständlich. Die Darlegung der Entwicklungsstufen und Grundzüge von Anderschs Werk erfolgt kursorisch, die Wertung bleibt mitunter unentschieden. So werden zum Beispiel die politischen Aktivitäten als „Ausfälle" interpretiert und mit psychischer Übersensibilität des Autors begründet, wird Anderschs literarisches Selbstverständnis kaum in seiner geschichtlichen Relevanz erfaßt. Als wichtige Quelle für die Forschungsarbeit dienen die Materialbücher von Gerd Haffmans 7 , Anderschs langjährigem Lektor. Sowohl Das Alfred-Andersch-Lesebuch (1979) als auch Über Alfred Andersch (1980) enthalten Materialien von und über Andersch sowie bio- und bibliografische Übersichten, die allerdings ergänzungsbedürftig sind. Eine Sondernummer der Zeitschrift Text und Kritik8 (1979) bietet eine Auswahlbibliografie und Vorarbeiten für weiterführende Forschungen. Zur Erarbeitung der vorliegenden Untersuchung nutzte die Autorin u. a. das Material des Alfred-Andersch-Nachlasses, das sich im Deutschen Literaturarchiv des Schiller-Nationalmuseums in Marbach a. N. befindet. Den Mitarbeitern des Archivs sei an dieser Stelle für die Unterstützung gedankt.
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Historische und geistige Voraussetzungen. Literatur und Politik 1944-1952
Biografie und Autobiografie Bei der Rekonstruktion von Anderschs früher Biografie ist die Forschung vor allem auf dessen eigene Aussagen und auf die Verarbeitung der Jugendeindrücke in seinen literarischen Zeugnissen angewiesen. Da die Erfahrungen in den verschiedenen Lebensperioden neu und anders wieder aufgenommen, frühere Haltungen und Einschätzungen korrigiert wurden und so eine ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklung erfolgte, kommt den erwähnten Zeugnissen als Quelle für die Rekonstruktion der Biografie, vor allem der geistigen Entwicklung, nur eingeschränkter Aussagewert zu. Auf Grund veröffentlichter und unveröffentlichter Materialien aus dem Nachlaß, früher Prosaversuche und Lebenszeugnisse, ist es möglich, die Umrisse seiner Jugend genauer zu zeichnen. Diese Rekonstruktion ist nicht nur notwendig, um das Bild über Andersch zu komplettieren, sondern auch, weil die biografischen Grunderlebnisse des jungen Andersch zu den wichtigsten Quellen seines literarischen Schaffens werden. In den persönlichen, politischen und geistigen Erfahrungen der beginnenden dreißiger Jahre liegen die Antriebe seiner künstlerischen Produktion und ihre ideellen Voraussetzungen. Das trifft nicht nur für die ausgesprochen autobiografischen Werke wie Die Kirschen der Freiheit oder die Kien-Erzählungen zu, sondern gilt für die geistige Substanz des gesamten Werkes. Die aus biografischer Erfahrung erwachsene existentielle Grundgestimmtheit bildet die Basis für die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Fragen unserer Epoche. So bildet sie auch eine durchgehende Linie in der vorliegenden Arbeit, vor allem in den werkanalytischen Teilen. Alfred Andersch wurde am 4. Februar 1914 als zweiter Sohn eines Weltkriegsoffiziers und Ludendorff-Anhängers in München geboren. Zu den frühen Eindrücken des Heranwachsenden zählt das Ende der Münchener Räterepublik, ein Frühlingstag, „an dem sie 12
Menschen in langen Reihen die Leonrodstraße in München entlang führten, in Richtung auf das Oberwiesenfeld zu, u m sie in den weiten H ö f e n , vor den Garagenwänden des 'Kraftverkehr Bayern' zu erschießen" 1 , berichtet er in seinem autobiografischen Erlebnisbericht. E i n Erlebnis, das ihn erst mit vierzehn, fünfzehn J a h r e n , u m 1928 herum, wieder zu beschäftigen und ihm in seiner B e d e u t u n g klar zu werden begann. I m Milieu seines deutschnationalen Vaters wurden die Opfer des „weißen" Terrors als „ G e s i n d e l " bezeichnet, denn der Vater gehörte als G r ü n d u n g s m i t g l i e d der Thule-Gesellschaft z u m konterrevolutionären Z e n t r u m 2 bei der N i e d e r s c h l a g u n g der Münchener Räterepublik. Während der Weimarer R e p u b l i k bekam er keinen B o d e n unter die Füße, war ohne Rente, mittellos und krank, „weil er die Niederlage Deutschlands zu seiner eigenen gemacht h a t t e " 3 . „ I c h entsinne mich noch des M o r g e n s , an d e m er aus d e m Wirbel des Hitler-Putsches heimkehrte, nach kurzer H a f t . D a s war 1923. D a n a c h wurde er ein bedingungsloser Parteigänger des Generals Ludendorff."' 4 T r o t z der miserablen sozialen L a g e , in der sich die Familie befand, reichten die deutschnationalen V e r bindungen des Vaters so weit, daß er seinem Sohn Alfred nach d e m Besuch der Volksschule einen Freiplatz auf d e m Wittelsbacher G y m n a s i u m sicherte, dessen Direktor Heinrich H i m m l e r s Vater war. Wegen schwacher Griechisch- und Mathematikleistungen m u ß Andersch das G y m n a s i u m 1928 verlassen und k o m m t in eine B u c h handelslehre zu d e m Alldeutschen- und Naziverleger, d e m G r ü n dungsmitglied der N S D A P J u l i u s Friedrich Lehmann. A n d e r s c h hat das geistige K l i m a dieser J a h r e auf großartige Weise in seiner letzten E r z ä h l u n g Der Vater eines Mörders vergegenwärtigt. N a c h der Lehre wird der junge Andersch arbeitslos, gewinnt Anschluß an den Kommunistischen J u g e n d v e r b a n d und lernt einige seiner Mitglieder kennen. Im J a h r e 1931, ein halbes J a h r nach d e m T o d seines Vaters, wird er Mitglied und 1932 bereits Organisationsleiter des Kommunistischen J u g e n d v e r b a n d e s v o n Südbayern. Ü b e r die geistige S t i m m u n g dieser Zeit schreibt er aus der Rückschau der fünfziger J a h r e : „Ich betrat den B o d e n des K o m m u n i s m u s mit d e m gespannten Entzücken dessen, der z u m erstenmal seinen F u ß auf einen jungfräulichen K o n t i n e n t setzt. Er bedeutete f ü r mich das absolut N e u e und Andere, und witternd s o g ich das wilde A r o m a L e b e n ein, das mit half, mich aus meiner kleinbürgerlichen U m w e l t zu befreien. D a s Wort Revolution faszinierte mich. Mit der Schnelligkeit jähen Begreifens v o l l z o g ich den Übertritt v o n den nationalisti13
sehen Doktrinen meines Vaters zu den Gedanken des Sozialismus, der Menschenliebe, der Befreiung der Unterdrückten, der Internationale und des militanten Defaitismus." 5 Sein Weltbild formte sich durch die Lektüre der sozialkritischen Romane Upton Sinclairs und Barbusses, er las die von Münzenberg redigierte Arbeiter-IllustrierteZeitung, studierte die Wirtschaftsuntersuchungen Vargas, die ihm das soziale Massenelend erklärten, in dem er selbst steckte, beschäftigte sich - freilich völlig unsystematisch - mit Marx, Lenin und mit Bucharins Dialektischem Materialismus und war fasziniert von der geistigen Macht, die die Arbeiter ausstrahlten, mit denen er Umgang hatte. „Aber was dann kam, war nicht die Revolution. Mit aufgerissenen Augen starrten wir der Niederlage in den dunklen Schlangenblick." 6 Das Jahr 1933 brachte einen tiefen Einschnitt: Andersch wird zweimal für einige Monate ins KZ Dachau gebracht, aus dem Hans Beimler im März 1933 die Flucht gelang. Die Kürze des Aufenthalts im KZ verdankte er seiner Mutter, die mit den Papieren des Vaters einen Gnadenerweis erwirkte. Nach der zweiten Verhaftung stand für Andersch fest, daß er seine „Tätigkeit für die Kommunistische Partei beendet hatte" 7 . Es liegt nahe, die in den Kirschen der Freiheit enthaltenen Erklärungen und Rechtfertigungen dieser Abkehr (Andersch lehnte die deterministische Objektivität der marxistischen Philosophie, die Leugnung der Willensfreiheit und die nach seinem Ermessen daraus erfolgte Bürokratisierung und Verselbständigung des Parteiapparates ab) schon als Ergebnisse geistiger Verarbeitung in der Nachkriegszeit zu werten, deshalb werden sie hier in ihrer Rolle für Anderschs spätere Entwicklung nicht dargestellt. Interessieren soll in diesem Zusammenhang die existentielle Dimension seiner Abkehr: das Erlebnis der Ohnmacht, der Isolation und der Angst. Nach seiner zweiten Verhaftung, allein in einer Zelle sitzend, erinnert sich Andersch an seinen ersten Aufenthalt in Dachau: „ . . . wo ich niemals Angst gehabt hatte, obwohl ich in die Strafkompanie eingereiht worden war. Jeder, der zur Strafkompanie gehörte, war rasch von einem Nimbus umgeben. Wir fühlten, daß wir eine Elite bildeten. Aber davon war jetzt nichts mehr übriggeblieben. An jenem Tag wäre ich zu jeder Aussage bereit gewesen, die man im Verhör von mir verlangt hätte. Man hätte mich nicht einmal zu schlagen brauchen. Man hat mich nie geschlagen; ich habe in dieser Hinsicht immer ein unverschämtes Glück gehabt." 8 In den folgenden Jahren versuchte er, „die ganze Sache zu ver14
gessen" 9 . Andersch arbeitet als Büroangestellter und siedelt 1937 nach Hamburg über, um der Gestapo-Aufsicht zu entgehen. Seine marxistischen Bücher waren bereits 1933 beschlagnahmt worden. In diesen Jahren, so schreibt er, „unterlegte ich meinem Dasein die Stimmungen Rilkes, machte auch Gedichte dieser Art und geriet, umklammert von einer versteckten Verfolgungs-Neurose, in tiefe Depression. Ich haßte die Arbeit, die mich jeden Morgen um acht Uhr vor den Kontenrahmen einer Verlagsbuchhandlung zwang, und ich ignorierte die Gesellschaft, die sich rings um mich als Organisationsform den totalen Staat errichtete. Der Ausweg, den ich wählte, hieß Kunst. Im ganzen war es eine ziemlich dünne Beschäftigung. Da eine Kunst, die mit der Gesellschaft zusammenhing, nicht möglich war, studierte ich die Fassade des Preysing-Palais und die Vokalsetzung in den 'Sonetten an Orpheus'. Der Preis, den ich für die Emigration aus der Geschichte bezahlte, war hoch; höher als der, den ich leisten mußte, als ich mit der Kommunistischen Partei in der Geschichte gelebt hatte."10 Diesen konsequenten Rückzug aus der Geschichte nahm Andersch aus späterer Sicht mit tiefer Bestürzung wahr. Aus dem Erlebnis dieses geschichtlichen Versagens resultierten zugleich die Antriebe für sein Lebensthema: die Entscheidungs- und Grenzsituationen, in denen der einzelne steht, seine individuelle Gefährdung und Bewußtwerdung innerhalb des geschichtlichen Bedingungsrahmens. Er bewegt in seinem Werk die existentiellen und geschichtlichen Folgen der Niederlage von 1933 bis zu seinem Tode und kehrt unter stets neuen Voraussetzungen zu diesen seinen frühen Erfahrungen zurück. Zeugnisse sind dafür vor allem auch die Kien-Erzählungen aus den sechziger und siebziger Jahren, in denen er an einer autobiografischen Erzählfigur Entscheidungssituationen jener Jahre darstellt. Eindrücke aus der autobiografischen Erlebniswelt jer.er Jahre nimmt die 1963 erschienene Erzählung Alte Peripherie wieder auf, in der die für Andersch so charakteristischen Motive der individuellen Entscheidung und des Verrats auftauchen. Neben Details aus dem Arbeits- und Arbeitslosenalltag stellt diese Erzählung Kiens Verrat an jugendlichen Freunden dar, die eine Flucht aus dem häuslichen Milieu geplant hatten. Die Erzählung läßt offen, inwieweit Kiens Entscheidung aus Feigheit, aus realistischer Einschätzung seiner eigenen sozialen Lage (diese hat ihn doch weit von der geistigen Welt seiner Freunde aus dem Gymnasium entfernt) oder einfach aus dem Bedürfnis erwachsen ist, sich von den anderen abzusetzen, um sich 15
in seiner individuellen Eigenständigkeit zu beweisen. Sie stellt eine Entscheidungssituation dar, die nicht ergriffen wird, die Gründe hierfür bleiben offen, sie werden gleichsam dem Leser überantwortet, der über ihre Erörterung eine kritische Distanz zur Erzählfigur aufbaut. Die wiederholte Aufnahme dieses Entscheidungsmotivs, das immer mit der Frage nach der individuellen Freiheit und Bewährung gekoppelt ist, deutet darauf hin, daß Andersch die eigene in seiner Jugend getroffene Entscheidung mit zunehmendem Alter und historischer Erfahrung in ein selbstkritisches Licht gerückt hat. Biografische Rückschlüsse auf die frühen dreißiger Jahre läßt auch die Erzählung aus dem Jahre 1976 Un aus den Baracken zu, die der Erlebniswelt des kommunistischen Jugendverbandes entnommen ist und ebenfalls aus der Sicht Franz Kiens erzählt wird. Er ist hier als ein verträumter, den politischen Bekenntnissen und Reden seiner Genossen etwas fremd gegenüberstehender Junge gezeichnet, der in seiner weltfremden Traumhaftigkeit sein Liebesglück verpaßt, da er im entscheidenden Augenblick notwendiges Handeln versäumt. Auch hier ist, mittels eines differenzierten Erzähl Vorgangs, Distanz zu der Erzählfigur zu spüren, die aber die Fremdheit gegenüber der Welt der politischen Losungen und Begriffe nicht aufhebt. Wichtige biografische Aufschlüsse über die persönliche und geschichtliche Situation, in der sich Andersch nach seiner Rückkehr aus dem KZ befunden haben muß, vermittelt die ebenfalls zur KienGruppe gehörende Erzählung Die Inseln unter dem Wind (1971). Es sind einprägsame Bilder von der Isolation und der sozialen Lage, in der sich Andersch in dieser Zeit befand. Kien ist arbeitslos, sein Bruder verschafft ihm manchmal die Möglichkeit, sich als Stadtführer für Touristen zu verdingen, natürlich darf nicht bekannt werden, daß er jemals etwas mit den Kommunisten zu tun hatte. Besuche bei ehemaligen Genossen verlaufen ergebnislos, weil diese entweder verhaftet sind oder bewacht werden und nicht wissen, ob dem aus dem KZ Entlassenen noch zu trauen ist. Dabei wird der Erzählvorgang wieder so strukturiert, daß eine kritische Distanz zur Erzählfigur entsteht, der die Methoden konspirativer Arbeit höchst fremd zu sein scheinen. Kien gefährdet unbedenklich sich und die Genossen, er fühlt sich, mit viel politischer Naivität, durch das feindselige Mißtrauen eines jüdischen Bekannten persönlich verletzt. Auch hier wird eine Entscheidungssituation vorgeführt, die einen intensiven Eindruck von der in München herrschenden Atmosphäre vermittelt, wo sich die Antifaschisten nur noch in der 16
Illegalität bewegen konnten. Bei einer Stadtführung, die Kien für den ehemaligen britischen Gouverneur der „Inseln unter dem Winde" veranstaltet, nähert er sich der faschistischen Ehrenwache vor der Feldherrenhalle, an der jeder mit erhobener Hand vorüberzugehen hat. Kien findet weder den Mut, sich gegenüber dem Briten zu erklären (weil dieser kaum politisches Verständnis, sondern nur die Aufmerksamkeit eines Tierforschers für alles Fremde erkennen läßt), noch die Geistesgegenwart, einen anderen Weg einzuschlagen. So bleibt ihm nur die Möglichkeit, zusammen mit dem Briten erhobenen Armes an dem Nazi-Ehrenmal vorüberzudefilieren. Die inneren Skrupel und die heftige Abwehr gegen diesen Akt mildem nicht das Bewußtsein des Versagens, das er sich quittieren muß. Es wird aus einer komplizierten Situation und persönlichen Lage heraus motiviert, aber es bleibt Versagen. Frühe Prosa Lange Zeit galt es als ausgemacht, daß Alfred Andersch erst nach dem Krieg zu schreiben begonnen hat. Erst seine erneute autobiografische Beschäftigung in den siebziger Jahren gab Hinweise auf frühe Prosa, denen vor allem Volker Wehdeking 1 1 nachging und die durch Veröffentlichungen aus dem Nachlaß zu zuverlässigeren Aussagen geführt werden konnten. Diese Prosaarbeiten geben authentische Einblicke in Anderschs damalige geistige Welt. Das trifft in besonderem Maße auf die frühen Texte zu, die erst nach Anderschs Tod veröffentlicht wurden bzw. über deren Veröffentlichung bisher nichts bekannt war. Dazu gehören: die in drei Abschnitte gegliederte Prosa-Arbeit Skizze zu einem jungen Mann (1941), Terrassen-Morgen
oder Variationen über eine zerbrochene
Schallplatte
(wahrscheinlich
1943/44), deren Grundmotive Andersch in Cadenza finale wieder aufnimmt, Sechzehnjähriger allein, eine Erzählung, die mit einigen Kürzungen unter dem Titel Erste Ausfahrt in der Kölnischen Zeitung vom 25. 4. 1944 gedruckt worden war, sowie der aus dem Nachlaß herausgegebene Prosatext Amerikaner - Erster Eindruck, der neben einem Zensurstempel den Vermerk enthält, „geschrieben im Herbst 1944 in Louisiana", die Erzählung Fräulein Christine, die bereits 1945 in der amerikanischen Ausgabe des Ruf gedruckt worden war, und der Bericht Jahre in Zügen, der in der ersten Nummer des Münchener Ruf erschienen ist und nach Anderschs eigener Aussage bereits 1943 begonnen und im Kriegsgefangenenlager fertiggeschrieben wurde. 2
Reinhold, Andersch
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Spuren früher Schreibversuche gehen in die Jahre 1939/40 zurück. Im Nachlaß finden sich impressionistische Skizzen über norddeutsche Landschaften und städtische Umgebungen, in denen der Autor auf neoromantische Weise mit Formen und Farben umgeht (z. B. Citj-Strasse) n . Der Prosatext Skizze zu einem jungen Mann wird durch die Spannung zwischen einem erzählenden Ich und Bernhard Reber, der als Dandyfigur angelegt ist, konstituiert. Im Laufe des Erzählens verwandelt sich die Spannung in faszinierte Hingabe. Der erste Abschnitt entwickelt das gesicherte bürgerliche Milieu, aus dem der junge Mann stammt („Kaufleute, Beamte in gehobenen Diensten, Professoren, Techniker"), ein Milieu, in dem die „Möglichkeit eines sich in Arbeit und Familie erschöpfenden Lebens . . . noch nicht die Form völliger Illusionen angenommen [hatte], wie sich dies nach dem, alle gültigen Wertbegriffe auflösenden Zusammenbruch ergab" 13 . Der zweite Abschnitt führt in die Atmosphäre eines Münchener Gymnasiums, in dem der Ich-Erzähler das bewunderte Vorbild Bernhard Reber aus der Ferne beobachten kann, und der dritte Teil stellt Rebers Münchener Existenz als die eines selbständigen jungen Mannes dar. Außer einigen Hinweisen auf „Gebrauchslyrik" gibt es in diesem Abschnitt keine Rückschlüsse auf die historische Zeit der zwanziger Jahre. Die Lebensform, die hier beschrieben wird, entstammt eher literarischen Vorbildern der Jahrhundertwende. Das beschriebene und bewunderte Vorbild führt eine auf gesicherter sozialer Basis beruhende ästhetische Existenz, ein neoromantisches Leben zwischen Weitläufigkeit, Unbeteiligtsein und Einsamkeit, woraus ein Gefühl der Vergeblichkeit, des schönen Scheins als beherrschendes Lebensgefühl erwächst. Andersch zeichnet ein Bild des Flaneurs, das den frühen Werken Thomas Manns entliehen sein könnte. Die Grundstimmung einer ästhetischen Existenz, die sich gegenüber den geschichtlichen Ereignissen abzudichten versucht, ist auch für die 1944 veröffentlichte Erzählung Erste Ausfahrt charakteristisch, in der unmittelbar auf tatsächliche Erlebnisse zu Beginn der dreißiger Jahre zurückgegriffen wird („die Gemeinschaft des Jugendbundes"), allerdings nur, um den erzählerischen Einfall kontrapunktisch zu entwickeln. Dabei verflüchtigt sich das wirkliche soziale und geschichtliche Umfeld auf bezeichnende Weise. Im Präsens wird aus figurengebundener Sicht eines Werner — Vorform von Anderschs autobiografischer Erlebnisfigur, die in dem Bericht Jahre in Zügen 18
und in Flucht in Etrurien zu Werner Rott und in den sechziger Jahren zu Franz Kien wird - von der ersten Radtour eines Jungen erzählt, die nicht in der „Gemeinschaft des Jugendbundes" erfolgte. Andersch beschreibt ein erwachendes Individualitätsbewußtsein, dessen Voraussetzung Einsamkeit, Verbundenheit mit der Natur und der Glaube an künftige große Werke und Taten ist. Magische Naturbilder, erfühlte Einheit mit der Welt, unbestimmte Hinweise auf das soziale Milieu und das Schicksal „des unglücklichen Vaters, der, nachdem das unglückliche Schicksal seines Vaterlandes seinen Sinn gebrochen hatte, das Glück der Familie in schweifenden, ziellosen Unternehmungen vertat", charakterisieren die damalige geistige Verfassung des Autors. Einige Züge dieser Weltsicht enthält auch noch die Erzählung Fräulein Christine, in der allerdings die autobiografische Ich-Figur in Beziehung zu einem intellektuellen Kreis gesetzt wird, in dem sich eine über die Kunst vermittelte geistige Widerstandskraft gegen den Faschismus ausdrückt. Hier tauchen erstmals Barlach-Figuren als Träger solcher Widerstandspotenzen auf, ein Zeichen dafür, daß Andersch zumindest die faschistischen Feldzüge gegen die moderne Kunst sehr wohl wahrgenommen hatte. Eine entscheidende Veränderung seiner literarischen Sehweise bringt jedoch erst die Erfahrung des Krieges. Andersch war in bezug auf diese frühe Prosa selbst sein härtester Kritiker. In Die Kirschen der Freiheit schreibt er in Erinnerung an diese Versuche: „Aber welches Brackwasser der Gefühle, Ideen, Meinungen ! Dumpfe, stillstehende Luft über dem allmählichen Einfalten der Seele . . . Versuche mit kalligraphischen Gebilden am Schreibtisch, Rilke-Lektüre, Blicke auf im Gegenlicht bläulich schimmernde Häuserblocks in München oder Rom." Und seinen Stil aus der Skizze zu einem jungen Mann paraphrasierend, fährt er fort: „Sah die Welt als Vedute, durch das Grün irgendeines Parks in Entfernung gerückt und durch eigentümlich diffuses Licht nur schwach konturiert, Flaneur-Illusion vom Promenadeplatz bis zur Piazza Navona, von der Asamkirche bis San Miniato al Monte."14 Außer den Hinweisen, die Andersch selbst über seine damalige Lektüre in Die Kirschen der Freiheit, in Der Seesack und in Gesprächen15 gibt, vermittelt eine aus dem Nachlaß stammende Bücherliste („Aufstellung der in Verlust geratenen Gegenstände zum Antrag Alfred Anderschs, Frankfurt a. M., Bürgerstr. 16/IV, infolge Bombenschaden 27./28. Juli 1943 in Hamburg", bei der neben verschiedenen Sachen in einer „Sonderaufstellung Bücher"16 ca. 600 Bücher im 2»
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Gesamtwert von RM 5000,- auf Grund der totalen Ausbombung der Familienwohnung in Hamburg geltend gemacht wurden) interessante Aufschlüsse über seine Lektüre. Die Liste enthält nur 200 der angegebenen 600 Bände, sie war offensichtlich den Zensurbestimmungen angepaßt und enthielt nicht die bei der GestapoHaussuchung beschlagnahmten Münchener Bücher, zu denen nach Anderschs Aussage Werke von Marx, Lenin, Bucharin, Upton Sinclair und die Reihe Bauhaus-Bücher (Klees Pädagogisches Skizzenbuch, München 1925, Werke von Feininger, Schlemmer, Albers, Mareks, Kandinsky, Mies van der Rohe, Gropius) gehört hatten. Aufschlußreich für die unter den einschränkenden Bedingungen faschistischer Kulturpolitik vorhandenen Lektüreinteressen des damaligen Andersch ist, in bezug auf das 20. Jahrhundert, das völlige Fehlen von gesellschaftskritischen Autoren wie den Brüdern Mann, Musil, Kafka, Stefan und Arnold Zweig, Döblin, Brecht, Seghers und dagegen der hohe Anteil solcher Autoren, denen ein gewisser Zug zur Bauernidylle (Hamsun, Timmermans) oder zur Neoromantik (Huch, Hofmannsthal, Rilke, Britting) eignet. Ernst Jünger ist mit vier Titeln: Blätter und Steine, Gärten und Straßen, In Stahlgewittern und Geheimnisse der Sprache vertreten. Der von den Nazibehörden verbotene Teil der Strahlungen befindet sich nicht auf der Liste. Die literarische Begegnung mit Jünger sollte für Andersch nachdrücklichen Einfluß gewinnen, die Auseinandersetzung mit dessen Werk begleitete ihn über alle Jahrzehnte seines Lebens. Außerdem finden sich auf der Liste drei Jahrgänge der schweizerischen Zeitschrift Corona, die u. a. auch Werke der Schriftsteller druckte, die im faschistischen Deutschland publizierten, z. B. Carossa, R. A. Schröder, Grimm, Binding, Jünger ( M a r m o r k l i p p e n im Vorabdruck). Es fällt eine Neigung Anderschs zum Geschichtsessay und zur Kunst- und Literaturgeschichte auf, wovon Josef Nadlers Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Schriften Burckhardts, Rankes und des Begründers des modernen Konservatismus Moeller van den Bruck Auskunft geben. Das Erlebnis des Krieges Es ist schwer zu ermitteln, inwieweit man aus der Erzählung Brüder (1971), die den Tag des Kriegsausbruchs aus der Sicht von Franz Kien und dessen Bruder schildert, Rückschlüsse auf die Biografie des Autors ziehen kann. War er tatsächlich in die Welt der Kunst ver20
sunken, aus der ihn die Nachricht vom Ausbruch des Krieges herausriß? Die selbstkritische Schärfe, mit der Andersch seine damalige Verfassung kommentiert, läßt allerdings auf eine erhebliche Identität zwischen Autor und autobiografischer Figur schließen. „Jedesmal, wenn ich daran denke, daß ich eine Zeitlang einen deutschen Sieg für möglich gehalten hatte, spucke ich innerlich vor mir aus" 17 , heißt es in Die Kirschen der Freiheit. Als Andersch dann 1940 eingezogen wurde, war für ihn allerdings von Anfang an klar, daß dieser Krieg nicht sein Krieg war, daß es für ihn keinen Schützengraben gab, aus dem heraus er den Krieg hätte führen können. Im Jahre 1937 siedelt Andersch nach Hamburg über und nimmt in der Werbeabteilung einer Fotopapierfabrik Arbeit auf, 1940 wird er als Bausoldat in die Armee eingezogen und muß Dienst als Besatzungssoldat in Frankreich tun. 1941 entläßt man ihn vorübergehend aus der Armee, er arbeitet bis 1943 wieder als Büroangestellter in Frankfurt a. M., wohin er nach der Ausbombung der Hamburger Wohnung im Juli 1943 zieht. 1943 wird er erneut gemustert und zu einer Infanterie-Pionier-Ausbildung in Siegen, Westfalen, abgestellt, 1944, als Obergrenadier, nach Dänemark gebracht, im Mai nach Etrurien, wo er am 6. Juni 1944 auf dem Rückzug zu den Amerikanern desertierte. Als ungewöhnlich stellt sich dar, daß man Andersch, als ehemaligen KZler, nicht in die Strafdivision 99918 beorderte, die aus „Wehrunwürdigen", d. h. zu einem Drittel aus Antifaschisten und zu einem Drittel aus Kriminellen, sowie aus faschistischen Stammannschaften zusammengesetzt war und von 1940 an aufgebaut wurde. Zu den autobiografischen Quellen über diese Soldatenjahre zählen neben dem Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit die aus dem Nachlaß publizierten Erzählungen Heimatfront (1946 geschrieben, 1981 publiziert), Flucht in Etrurien (v. 10. -22. 8. 1950 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt, eine eigenständige Vorform des Erlebnisberichtes) und die ebenfalls aus dem Nachlaß herausgegebene Reportage Amerikaner - Erster Eindruck (versehen mit dem Zensurstempel des Kriegsgefangenenlagers Fort Kearney in Rhode Island). Aus der letztgenannten sind Beschreibungen einiger Erlebnisse bei den Amerikanern in der Reportage Abschied von Rom verarbeitet worden, die Andersch im Feuilleton der Zeitschrift für die deutschen Kriegsgefangenen Der Ruf (v. 15. 5.1945, Nr. 5) publiziert hat. Die beiden Erzählungen vermitteln die entsetzliche Erfahrung des Krieges aus der Sicht der autobio21
grafischen Figur Werner Rott, während in der Reportage im unverhüllten Ich-Bericht von der ersten Begegnung mit den Amerikanern, von ihrer technischen Kriegsüberlegenheit, von den zivilen Umgangsformen innerhalb des Militärs und von ersten Gesprächen über das Ziel ihrer Kriegsführung berichtet wird. Wichtige Aufschlüsse über die inneren Antriebe zur Desertion finden sich in der Erzählung Flucht in Etrurien und vor allem auch im Bericht Jahre in Zügen, der in der zweiten Nummer des Münchener Ruf erschien. Hier klingen schon einige Motive an, die in der oben genannten Erzählung und im Erlebnisbericht ausgeführt werden. Es sind vor allem die Motive von Freiheit und Bindung, von Kameradschaft und eine für die frühe Nachkriegssituation charakteristische Haltung der Desillusionierung. In diesem Bericht über acht Soldaten werden Porträts geliefert, in denen mit hoher sozialer Präzision und mit psychologischem Differenzierungsvermögen die Physiognomien deutscher Soldaten entworfen werden, für die Andersch, bei aller Unterschiedlichkeit von Haltung und Ansicht, ein gemeinsames Charakteristikum darin vermerkt, daß sie sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens stellen. Diese Prosa, Bericht und Porträts, mündet zum Ende hin in rhetorische Reflexion, in der Andersch die Situation dieser acht Männer existentialistisch ausdeutet. „Sie waren in Schweigen versunken und jeder für sich in seiner Verlassenheit. Sie waren ein Häuflein von Männern der verschiedensten Lebensalter, aus allerlei Landschaften und Umwelten zusammengeführt durch den Zufall, den schrecklichen Zufall, der Gesetz des Krieges war. Sie kannten sich allesamt nicht. Und sie kannten sich manchmal bis in die Tiefe ihrer Herzen. Sie erkannten dann die ungeheure, die karstige Einsamkeit, die in ihnen war. Sie waren Verstörte. Aber in ihnen brannte unauslöschlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie hatten alle Antworten, die man ihnen geben wollte, mit der reinen Sprache der Männer, die um die Verlorenheit ihres Postens wissen, verschüttet. Waren sie Kreaturen eines übermächtigen Willens, ausgeliefert der kalten Mechanik der Gewalt? Oder war noch ein Rest von Sinn, eine winzige Insel von Wahrheit in dieser Existenz, die sie herausgeführt hatte aus jeglicher Ordnung und Bindung in die Welt des Grauens, des toten Gehorsams, des Marschbefehls, der sie in die Ziellosigkeit entsandte?"19 Hier kündigen sich zweifellos schon Fragestellungen an, die den Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit wesentlich strukturieren. Die autobio grafischen Elemente in diesem Bericht finden sich weniger in be22
stimmten Figuren, vielmehr in dem von zwei Soldaten gefaßten Entschluß, bei einem Fronteinsatz die Truppe zu verlassen. Erich hatte diesen Entschluß seinem Kameraden mitgeteilt, dem Maler Werner R., in dem sich ebenfalls eine frühe Variante von Anderschs autobiografischer Erzählfiguren verbirgt. Den Entschluß zur Desertion trug Ernst M., den der Autor als schweigsam und verschlossen charakterisiert, noch fester in seinem Herzen. Dieser Wille war „in der Härte einer Natur [verschlossen], die sowohl aus der Eigenart des Charakters wie aus der Besonderheit des Lebenslaufs erwachsen war. Der Umsturz zur Diktatur hatte ihn, der damals kaum 18 Jahre alt war, als Leiter einer Gruppe des gewerkschaftlichen [!] Jugendverbandes überrascht, und mit vielen anderen war er in das Konzentrationslager gewandert, das er mit 20 Jahren wieder verließ. Dann folgten Jahre als Seemann . . . Nicht nur die schweigende Kühle des erfahrenen Soldaten oder die tiefe Kameradschaftlichkeit des sozialistischen Arbeiters waren es, die ihm jene Autorität sicherten."20 Aus den Kirschen der Freiheit erfahren wir, daß Anderschs Desertion zu einer entscheidenden politischen Erfahrung seines Lebens wurde. Die Jahre der amerikanischen Gefangenschaft sind in verschiedenen berichtenden und erzählenden Versuchen vergegenwärtigt worden. So in der Erzählung Festschrift für Capitain Fleischer, in der er aus der Sicht seiner autobiografischen Figur ein Bekenntnis zur tätigen Nächstenhilfe abgibt, die sich auch über politische Blindheit und Fanatismus hinwegsetzt. Dieses Bekenntnis ist mit einer Absage an revolutionäres Handeln verbunden, die Erinnerung an sie scheint in der Welt des amerikanischen Camps sehr fern gerückt und verschwimmt immer mehr. Allerdings wird der zynische Nihilismus eines entlaufenen Revolutionärs als Reaktion auf den eigenen Verrat im Erzählverlauf kritisch abgeführt. Für die Rekonstruktion von Anderschs Erfahrungen und Erlebnissen im amerikanischen Kriegsgefangenenlager sind einige Berichte, Gespräche am Atlantik, publizistische Arbeiten aus dem amerikanischen und Münchener Ruf und aus den Frankfurter Heften sowie seine spätere, nicht vollendete Autobiografie Der Seesack aufschlußreich. Andersch beschreibt die Stimmung, mit der er Deutschland wiederbetreten hat, sowie seine Erwartungen und die politischen wie gesellschaftlichen Vorstellungen, die sich in der amerikanischen Gefangenschaft gebildet hatten. Vor allem erinnert er sich an die Diskrepanz zwischen diesen seinen Vorstellungen und der vorge23
fundenen Realität. Schon der simple Gedanke, daß er auf dem Bahnsteig in Darmstadt seinen Seesack wird festhalten müssen, um ihn vor den Hungernden zu schützen, leitete einen umfassenden Desillusionierungsprozeß ein. Denn „es erscheint sicherlich als unvorstellbar, das Gepäckstück eines aus Amerika zurückgekehrten Kriegsgefangenen . . . könne mit etwas anderem vollgepackt sein als mit Konservendosen. Ein von Enttäuschung und Verachtung gefärbtes Lachen würde sie überkommen, würden sie ihn mit Gewalt ergreifen und seinen Inhalt auf den Bahnsteig ausschütten. Sie lebten in der Realität, und die Erkenntnis, daß ich mein Bündel Bücher vor ihnen schützen müsse, war der erste Schritt, mit dem ich in die Realität heimkehrte." 21 Alfred Andersch war bis April 1945 im Camp Ruston, Louisiana, untergebracht, das, wenn er zurückdachte, „immer paradiesischere Züge" annahm. „Wir hielten uns große Landschildkröten, pflückten Baumwolle, schlugen Zuckerrohr und betrachteten das Brackwasser der toten Mississipi-Arme mit den Augen der Pelikane, die in ihm weideten." 22 Im April 1945 redigierte er dort die Literaturseite der im März 1945 gegründeten Zeitschrift für die deutschen Kriegsgefangenen Der Ruf, nachdem er schon einzelne kleinere Artikel für diese Zeitschrift geschrieben hatte. Ab August 1945 nahm er an Kursen der amerikanischen Verwaltungsschule für Kriegsgefangene in Fort Getty in Rhode Island teil. Im September 1945 kehrt Andersch nach Deutschland zurück und tritt zunächst, da er ein Zeugnis des Prisoner of War Education Program vorweisen konnte, in dem er als ein „selected Citizen of Germany" eingestuft wurde, in den Redaktionsstab der Neuen Zeitung in München ein (Amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung). Dort wurde er von Hans Habe, dem damaligen Chefredakteur, einem antifaschistischen jüdischen Emigranten, der in der amerikanischen Armee gedient hatte und später in der Springer-Presse arbeitete, Erich Kästner als Assistent des Feuilletons zugeteilt. Andersch gesteht später über diese Beziehung: „Ich habe Kästner enttäuscht. Er hat nie etwas gesagt, sich nicht beschwert, aber ich habe gespürt, daß er es insgeheim mißbilligt hat, in wie schamloser Weise ich meinen Posten als sein Assistent in der 'Neuen Zeitung' dazu benutzt habe, eine andere Zeitung vorzubereiten, den 'Ruf'." 2 3
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Amerikaerfabrung, die deutsche Nachkriegsrealität und das politische Programm des „Ruf" Das Erlebnis Amerika hat in Anderschs Werk von der Erzählung Festschrift für Captain Fleischer über das Hörspiel Der Tod des James Dean bis zu seinem letzten Roman Winterspelt in vielfältiger und unterschiedlicher Form Niederschlag gefunden. In verschiedenen, unverhüllt autobiografischen Berichten legt Andersch seine Erfahrungen über den Aufenthalt in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern dar. In seiner späten, unvollendeten Autobiografie Der Seesack kommentiert er aus der zeitlichen und gedanklichen Distanz einer langen politischen Lebenserfahrung die Vorstellungen und Träume, die er über den Atlantik nach Europa mitgebracht hatte. Eine wichtige Quelle seiner damaligen Aktivitäten und Ansichten stellt seine politische und literarische Publizistik dar, die das Spiegelbild eines schrittweisen Desillusionierungsprozesses ist.24 Andersch war vom Sommer 1944 bis zum September 1945 in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Zunächst ist er in Camp Ruston, in dem es ausreichend Essen gibt, die hygienischen Verhältnisse sind einwandfrei, und die Gefangenen werden den örtlichen Bedingungen entsprechend zur Arbeit herangezogen. Sie verwalten sich selbst, politische Schulungen finden nicht statt, die englischsprachigen Zeitungen, die ausgehängt werden und über das Kriegsgeschehen berichten, geben zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Antifaschisten und unbelehrbaren Faschisten Anlaß. Es kommt in einzelnen Fällen zu regelrechten Lynchmorden an antifaschistischen Gefangenen. Hans Werner Richter erzählt davon in seinem Buch Die Geschlagenen, und von einer anderen Position her berichtet Emil Rudolf Greulich in Eine amerikanische Odyssee von diesen Vorkommnissen. 24 Jahre später schreibt Andersch aus der Erinnerung : „Das Lager Ruston, Louisiana, bestand aus zwei Compounds: einem für Soldaten, die ihren Kriegsdienst nicht in Frage stellten, und einem für Soldaten, die sich bei ihrer Gefangennahme als HitlerGegner bezeichnet hatten. Die Amerikaner, in deren Denken der Begriff des trouble und des trouble-shooting eine bedeutende Rolle spielt, hielten diese zwei Gruppen sorgfältig voneinander getrennt; sie wollten keine troubles haben. Ihre Sympathien waren zweifellos auf der Seite derjenigen, die den Krieg annahmen wie ein Schicksal; mit ihnen gab es viel weniger Probleme als mit den Menschen, die mit dem deutschen Krieg und seinen Ursachen verfallen waren." 25 25
Gegen Ende des Krieges beginnen die Amerikaner, Antifaschisten und ehemalige Faschisten, die sich als solche bekennen, aber einen gewissen Umdenkungsprozeß durchgemacht haben, auszusondern und in besonderen Lagern zu Schulungen zusammenzufassen. Andersch kommt in das Lager Fort Getty. Er hat diesen Ort in Gespräche am Atlantik so beschrieben: „Der Schauplatz der hier wiedergegebenen Unterhaltungen war eines jener kleinen Kriegsgefangenenlager an der Küste Neu-Englands, in denen sich in den letzten Kriegsmonaten Amerikaner und Deutsche zu gemeinsamer Arbeit trafen. Die Begegnung wurde zur Grundlage eines interkontinentalen Gesprächs, das trotz - oder wegen der Zeit tiefster Erbitterung, in der es geführt wurde, einen ersten Ausblick auf Inseln des Verständnisses bot." 26 Die Amerikaner versuchten mit diesen Lagern, sich ihrerseits auf die Erfordernisse Nachkriegsdeutschlands vorzubereiten und Fachleute für Polizei und Verwaltung im „Geiste der amerikanischen Demokratie" auszubilden. Andersch, so sehr er den in den Schulungsgesprächen herrschenden Geist lobt, kritisiert in der Bilanz Die Kriegsgefangenen. Ucht und Schatten11, daß für diese Schulungen nur ausgewählte Personen in Frage kamen und daß die Masse der Kriegsgefangenen ohne jede antifaschistische Beeinflussung blieb und zudem nach Kriegsende durch die amerikanische Regierung an Frankreich zu Arbeitszwecken überführt wurde. Ab März 1945 organisieren die Amerikaner die Herausgabe einer Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA, Der Ruf die bis November 1945 halbmonatlich erscheint. An der Herausgabe waren außer Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff, Walter Mannzen, Kurt Vinz, der spätere Lizenzträger der Nymphenburger Verlagshandlung, und Friedrich Minssen beteiligt. Sie stellt sich als Keimzelle oder als Vorfahr der dann ab August 1946 in München erscheinenden Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation dar. Diese Zeitschrift wird zunächst von Hans Werner Richter und Alfred Andersch geleitet, die jedoch auf Betreiben der Amerikaner im März 1947 (nach Nr. 16) durch die Nymphenburger Verlagshandlung als Herausgeber abgelöst werden. Andersch schreibt für die Kriegsgefangenenzeitschrift einige Feuilletons und berichtet über amerikanische Schriftsteller. Wahrscheinlich beginnt für ihn hier die Begegnung mit der amerikanischen Literatur. Die Zeitschrift verändert im Laufe ihres Erscheinens ihr Profil zu einem entschiedeneren Antifaschismus hin. Während sie in 26
den letzten Kriegsmonaten zunächst wertungsfrei über das Frontgeschehen berichtet, beginnt man mit Kriegsende in einer Deutschland-Seite über die Ursachen, den Verlauf und Charakter des Krieges in den besetzten Gebieten zu schreiben. Außerdem stellt sie in Aufsätzen die geographischen, wirtschaftlichen, politischen und historischen Gegebenheiten der USA vor. Auf der letzten Seite wird aus den verschiedenen Lagern berichtet und ein Teil der Leserpost vorgestellt. In einer Reihe „Amerikanische Profile" werden Dichter, Wissenschaftler, Staatsmänner Amerikas porträtiert. Bei der Darstellung der Verhältnisse in den USA ist der Geist der Roosevelt-Ära spürbar. Heraufbeschworen werden das Ideal der wirtschaftlichen Gerechtigkeit für alle Amerikaner, der Geist der nationalen Souveränität, in dessen Namen gegen den Faschismus gekämpft wurde, und die Vorstellung von der Würde des einzelnen in einer funktionierenden Demokratie. Dieser Geist soll nach Anderschs Empfinden auch in den Schulungen der Kriegsgefangenen geherrscht haben. Man hatte ein regelrechtes College-System aufgebaut. Universitätsprofessoren behandelten Themen aus der deutschen Geschichte, vor allem der Weimarer Republik, aber auch Fragen der amerikanischen Geschichte, der amerikanischen Demokratie und des Staatsaufbaus, des Funktionierens der Militärregierung in der amerikanischen Zone u. a. Die Begeisterung für den „Geist der amerikanischen Demokraie", mit der Andersch nach Deutschland zurückkehrte, hatte sich aus der Methode des Unterrichts ergeben, die auf der Grundlage von Gleichberechtigung, offener Aussprache unterschiedlicher Standpunkte beruhte. Sie blieb ungeprüft gegenüber den Widersprüchen des amerikanischen Lebens. Die Gleichberechtigung und der freie Austausch der Meinungen im Unterricht erschienen Andersch als ein Modell des Umgangs der Völker miteinander und eine Gewähr dafür, daß die hier verkündeten Ideale der sozialen Gerechtigkeit, der individuellen Freiheit und der demokratischen Mitbestimmung auch realisierbar wären. Vor allem aber gilt ihm die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes der deutschen Nation und die Bewahrung der deutschen Einheit als eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung der Lebensverhältnisse in Nachkriegsdeutschland. Mit dieser Vorstellung gerät er nach seiner Rückkehr sehr schnell, vor allem ablesbar an seiner Publizistik im Münchener R u f , in Widerspruch zur realen Deutschlandpolitik der Amerikaner, an der er vor allem die Unterbindung aller demokrati27
sehen Aktivitäten und politischen Betätigungen kritisiert. Bereits 1947 charakterisiert Andersch diese Kurse als eine „Umerziehung in der Retorte", die in der durchaus „nicht keimfreien Luft Nachkriegsdeutschlands" ihr Ende gefunden habe. „Die Arbeit heute wird durch die Abwesenheit des Geistes gekennzeichnet, der in Getty herrschte . . . im Grunde ist es sehr still geworden um den 'Getty spirit' der Zusammenarbeit mit den Siegern, und das ist kein Wunder, da doch der Grundsatz der Gleichberechtigung und die Voraussetzung der deutschen Einheit, die in Fort Getty dazu veranlaßten, in dem Deutschland, das man dann vorfand, nicht mehr gegeben sind." 28 Andersch erinnert sich später in seinen autobiografischen Aufzeichnungen daran, wie tief ihn eine Demokratieauffassung berührt hatte, die sich als ein „System zur Herstellung schöpferischer Kompromisse" 29 begriff, und wie sehr er daran interessiert war, in Nachkriegsdeutschland daran mitzuwirken. Politische Erfahrungen, die gegen eine solche Sicht sprachen, wurden ignoriert. Die Realitäten in Nachkriegsdeutschland stellten diese Auffassungen in ganz bestimmte politische Konstellationen, an denen sie sich abzuarbeiten hatten und ihre Unbrauchbarkeit erwiesen. Andersch hat diesen Abschied von unrealisierbaren Vorstellungen und Hoffnungen in dem großen Gedicht Erinnerung an eine Utopie ausgedrückt. Zunächst aber begann er zusammen mit Hans Werner Richter, der ebenfalls aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, die Umrisse eines solchen gesellschaftspolitischen Programms im Ruf zu entwickeln und publizistisch umzusetzen. Adressat dieser politischen Publizistik war eine undifferenziert gesehene junge Generation, von der der entscheidende Neubeginn für Deutschland nach Krieg und Faschismus erwartet wurde. Die Grundlage dieses Neubeginns ist ein entschiedener Antifaschismus, eine nicht ganz widerspruchslose Vorstellung von antikapitalistischer Veränderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, die mit kleinbürgerlichen Individualitäts- und Freiheitsvorstellungen verknüpft ist und die Idee einer Synthese von sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaft beinhaltet. Geschichtliche Kräfte als Träger dieses Gesellschaftsmodells werden nicht benannt, an ihre Stelle tritt der Appell an die Jugend Europas und die Hoffnung auf die Bildung demokratischer Eliten, die ins Volk hineinwirken sollen. Da nicht von der Basis der wirklich handlungsfähigen Kräfte in der Gesellschaft ausgegangen wird, bleibt dieses ge28
seilschaftspolitische Modell ein bloßes Erziehungsprogramm. Anderschs Ernüchterung über die begrenzten Wirkungs- und Handlungsmöglichkeiten im Bereich der politischen Publizistik hat nicht zu einem vollkommenen Rückzug aus ihr und auch nicht zu einem generellen Zweifel an Wirkungsmöglichkeiten des Wortes und der Literatur geführt. Die Verarbeitung dieser Erfahrungen hat bei ihm einen Zuwachs an differenziertem Umgang mit den Möglichkeiten des Wortes erbracht. Anhand der politischen und literarischen Publizistik Anderschs im Ruf lassen sich diese Anschauungen und der beginnende Desillusionierungsprozeß genau rekonstruieren. Dabei vermitteln besonders zwei Aufsätze eine Vorstellung von den programmatischen Leitideen des Autors. In der ersten Nummer der Zeitschrift erscheint ein redaktioneller Aufsatz aus der Feder Anderschs mit dem Titel: Das junge Europa formt sein Gesicht. In ihm klingen wichtige Gedanken an, die in dem vom Autor namentlich gezeichneten Aufsatz aus dem Heft 15 der Zeitschrift, Die sozialistische Situation. Versuch einer synthetischen Kritik, weiter ausgeführt werden. In beiden Aufsätzen wird die Idee einer gesellschaftspolitischen Ordnung für Deutschland entworfen, die eine Synthese zwischen Sozialismus und Kapitalismus darstellen soll. Dabei wendet sich Andersch in seinen Beiträgen, die von einer appellativen Rhetorik in der Darstellung gekennzeichnet sind, an die junge Generation Europas, von der er meint, daß sie links stünde. „Sie vertritt wirtschaftliche Gerechtigkeit und weiß, daß diese sich nur im Sozialismus verwirklichen läßt. In einem wirklichen Sozialismus, nicht in sozialen Reformen: Die sozialistische Forderung schließt die Forderung nach einer geplanten Wirtschaft und eine - trotz allem Bejahung der Technik ein. 'Links' steht dieser Geist ferner in seiner kulturellen Aufgeschlossenheit, seiner Ablehnung nationaler und rassischer Vorurteile, seiner Verhöhnung des provinziellen Konservatismus. Humanistisch aber ist Europas Jugend in ihrem unerschöpflichen Hunger nach Freiheit. Humanismus bedeutet ihr Anerkennung der Würde und Freiheit des Menschen - nicht mehr und nicht weniger. Sie wäre bereit, das Lager des Sozialismus zu verlassen, wenn sie darin die Freiheit des Menschen aufgegeben sähe, zugunsten jenes alten orthodoxen Marxismus, der die Determiniertheit des Menschen von seiner Wirtschaft postuliert und die menschliche Willensfreiheit leugnet." 30 Diese Vorstellungen werden im einzelnen konkretisiert, ihre innere Widersprüchlichkeit bleibt erhalten. So wird z. B. im Rahmen der Forderung 29
nach einer geplanten Wirtschaft mitunter von einer Sozialisierung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gesprochen, dann wieder von einem Gruppen- oder genossenschaftlichen Eigentum, in dem das Konkurrenzprinzip als wirtschaftlich belebend beibehalten werden soll. Offensichtlich sind auch diese Forderungen beeinflußt von den amerikanischen Theoretikern des Rooseveltschen New Deal, denn Andersch unterbreitet seine Vorstellungen zusammen mit Auszügen einer Vorlesung, die sein ehemaliger Lehrer, Professor Henry Ehrmann vom „Institut of world affairs", vor deutschen Kriegsgefangenen in Amerika unter dem Titel Im Vorraum des Sozialismus gehalten hatte. Ehrmann untersucht, inwieweit die bestehenden Wirtschaftsverhältnisse in den USA die Freiheit des einzelnen garantieren, und kommt zu dem Ergebnis, daß von einem „unbeschränkten freien Spiel der Kräfte" 31 nicht die Rede sein könne. Im Anschluß an die ökonomische Theorie von Keynes fordert er staatliche und planwirtschaftliche Kontrollen und Regulierungsmaßnahmen, eine gewisse Dezentralisation der ökonomischen Macht, betriebliche Demokratie, ein Durchsichtigmachen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, um die Freiheitsrechte des einzelnen zu berücksichtigen. Es handelt sich um ökonomische Maßnahmen innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems, um die Gewährleistung seiner inneren Stabilität. Die hier entworfene ökonomische Strategie steht in einem auffälligen Widerspruch zu der allgemein von den Herausgebern vorgetragenen Forderung nach Sozialisierung der ökonomischen Basis. Möglicherweise wurde sie als Schritt auf dem Wege dorthin interpretiert. Mit der Forderung nach Freiheit und Würde des Menschen nimmt Andersch jene Grundsätze der amerikanischen Verfassung auf, die sich in der Realität des amerikanischen Lebens längst als das soziale und politische Recht der Besitzenden erwiesen haben. Er grenzt sich mit dieser Forderung auch gegen die Verletzung individueller Freiheiten in der Sowjetunion ab. Für die Einschätzung der innersowjetischen Entwicklung stützt er sich auf die Zeugnisse ehemaliger Kommunisten wie Arthur Koestler, aus dessen 1943 entstandenem Essay D/e Gemeinschaft der Pessimisten in der 1. Nummer des Ruf ein Ausschnitt abgedruckt wurde, Ignazio Silone u. a. Mit seinem Vorwurf an den „alten orthodoxen Marxismus", er postuliere die Determiniertheit des Menschen von seiner Wirtschaft, setzt er das methodologisch-theoretische Prinzip marxistischer Gesell30
schaftstheorie mit den Zielvorstellungen der sozialistischen Gesellschaft gleich. Das läßt auf eine nur oberflächliche Kenntnis der marxistischen Theorie schließen, die Andersch an anderer Stelle auch selbst eingesteht. Diese Vorurteile gegen den theoretischen Marxismus als eine deterministische, die Willensfreiheit des einzelnen ignorierende Philosophie hat Andersch niemals ganz abgelegt. Die Herausgeber des Ruf wenden sich an die Sozialdemokraten und unabhängigen Sozialisten Europas und legen ihnen die Wideraufnahme revolutionärer Kampfmethoden, die Verabschiedung des Reformismus und den Bruch mit „jenen Kräften" nahe, die letzten Endes zum „kapitalistischen Lager rechnen" 32 . Große Hoffnungen werden dabei auf die Politik der Labour-Party gesetzt, die in Großbritannien die Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Kurze Zeit später erkennt man den Widerspruch zwischen dem Programm der Labour-Regierung und der Besatzungspolitik der Briten, die in ihrer Zone alle Sozialisierungsmaßnahmen verboten. Weiterhin erwarten die Herausgeber des Batf die Neuformierung einer sozialistischen Front in Europa unter der Leitung unabhängiger Linker, zu denen Arthur Koestler, der Italiener Ignazio Silone, Stephen Spender aus Großbritannien, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir aus Frankreich gerechnet werden. Auf den ersten Blick fällt die Heterogenität dieser Reihe auf. Von diesen Intellektuellen erhofft man eine demokratische Elitebildung, ein Hineinwirken in die Massen, durch die sie zur Verwirklichung dieser Ideen befähigt werden sollen. Andersch sieht deren Aufgabe außerdem darin, die Idee des Sozialismus „rein zu erhalten" und sich von der praktischen Politik der Sowjetunion kritisch abzusetzen. Sonst ginge die Linke zugrunde und „mit ihr die einzige Hoffnung unserer Zeit" 33 . Die Erwartungen, die Andersch in die Politik der Amerikaner für eine Umerziehung zur Demokratie in Nachkriegsdeutschland setzte, zerfielen sehr schnell. Innerhalb weniger Monate erfolgte im R u f die Wendung von der Identifikation mit der amerikanischen Politik zur Kritik an ihr. Sie bildet den Hintergrund für den Appell an die Deutschen, sich nicht nur als Objekt von Erziehungsprogrammen zu verstehen, sondern selbst politisch aktiv zu werden und mit der Überwindung des Faschismus ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht zu verwirklichen. Dagegen erwiesen sich die Vorstellungen von der Rolle und den Einflußmöglichkeiten bindungsloser linker Intellektueller als sehr 31
viel zählebiger. Sie reproduzierten sich unter veränderten Bedingungen in variierter Gestalt. Obwohl sich mit dem Scheitern des R u f Unternehmens die Unmöglichkeit gezeigt hatte, für solche Ideen auch nur eine dauerhafte publizistische Basis zu finden, ganz abgesehen von ihrer Realisierbarkeit, blieb ihr Illusionismus dem Autor lange Zeit verborgen. Charakteristisch für das gesamte Programm des Ruf ist die Ferne zu praktischer Politik und entsprechenden Klassenkräften, die sie hätten tragen können. Es gibt keinen ausgewiesenen Zusammenhang mit der SPD, keine Beziehungen zu den Kommunisten, keine Beziehung zu sonstigen Organisationen. Dennoch wird die gesellschaftliche Praxis bis zu einem gewissen Grade durchaus mitgedacht, so wenn Vorschläge für eine sozialistische Hochschule und für die Abschaffung des bürgerlichen Bildungsprivilegs gemacht werden oder wenn Anregungen zur Popularisierung humanistischer Literatur an die Verlage ergehen. Bei allem politischen Illusionismus, der diesem Programm innewohnte und der in dem Glauben bestand, daß man sich über die wirklichen Klassenfronten und machtpolitischen Konstellationen in der Welt hinwegsetzen könne, profilierte sich die Zeitschrift unter der Leitung von Andersch und Richter als ein Organ der deutschen demokratischen Opposition gegen die Besatzungspolitik der westlichen Alliierten in ihren Zonen. Sie übte von Anfang an Kritik an der Kollektivschuldthese der Amerikaner und bemühte sich, Zeugnisse des deutschen Widerstands vorzulegen. Sie kritisierte die Entnazifizierungspolitik der Amerikaner und verlangte nach entschiedenerer Überwindung des Faschismus, sie behauptete das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Deutschen gegen alliierte Pläne der Zerstückelung, Abtrennung und Internationalisierung von Rhein und Ruhr, forderte eine sinnvolle wirtschaftliche Neuordnung, die die drückendste Not und die Arbeitslosigkeit beseitigen würde. Diese Konstituierung einer westdeutschen Opposition führte schließlich auch zum Entzug der Lizenz für Andersch und Richter als Herausgeber. Die Zeitschrift stellt sich heute als ein frühes Dokument der kritischen Opposition gegenüber den restaurativen Bestrebungen im westlichen Teil Deutschlands dar und ist zugleich Zeugnis des widersprüchlichen Charakters dieser Opposition. Bei den politischen Vorstellungen dieser unabhängigen Linken handelt es sich - so zwiespältig und den Realitäten unangemessen ihr Versuch auch war, zwischen den weltgeschichtlichen Kräften programmatisch wirksam zu werden - um die Begründung 32
einer Position, die wesentliche Elemente sozialistischer Zielvorstellungen aufrechterhielt und sie mit bürgerlichen Individualitäts- und Freiheitsauffassungen zu verbinden suchte. Wirksam wurde die Zeitschrift vor allem mit ihrer mahnenden Sorge um den Frieden und die Einheit Deutschlands, die man in den internationalen Konflikten zerschellen sah. Die Aufforderung, Konflikte friedlich beizulegen und mehr Sicherheit durch Abbau von Truppenstärken zu erreichen, blieb ihr bis heute unabgegoltener Beitrag zu einer als notwendig erkannten Friedensregelung in Europa. In der letzten von Andersch und Richter redigierten Nummer vom April 1947 äußert sich Andersch in einem redaktionellen Artikel mit der Überschrift Jahrhundert der Furcht zu den amerikanischen Landungen in Griechenland und der Türkei wie folgt: „Wir sind von tiefer Sorge erfüllt, wenn wir an die Rückwirkungen denken, die eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem Osten und dem Westen auf Deutschland notwendig haben muß. Wird es sich nicht erweisen, daß die Errichtung amerikanischer Garnisonen in Saloniki oder Ankara die Verstärkung der russischen Garnisonen in Erfurt oder Magdeburg zur Folge haben wird? Und wird dies nicht wiederum dazu führen, daß man glaubt, die Stützpunkte der Westmächte in sagen wir Bamberg oder Lüneburg ausbauen zu müssen? Und am Ende haben wir eine Zündschnur!" 34
Heimatlose Unke als europäische Avantgarde? Mit dem Austritt aus der R«/-Redaktion sah sich Andersch um eine publizistische Wirkungsmöglichkeit gebracht. Der Verlauf der praktischen Politik hatte zu „Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Leitartikeln, Analysen und dem heute üblichen journalistisch-publizistischen Gerede" geführt. Die linke Publizistik mache noch stets mit in dem „großen Ideologien-Streit, während anderswo bereits die Kommandopositionen ausgehandelt werden" 35 . Diese Erfahrungen bewogen Andersch allerdings zu keinem vollkommenen Auszug aus der politischen Publizistik und zu keinem Rückzug in die Literatur. Die publizistischen Formen verändern sich, verlieren ihren appellativen Charakter, konstatieren ein „Unbehagen an der Politik" (Frankfurter Hefte). Andersch versucht, sich mit den Zeitereignissen auseinanderzusetzen. Ein wichtiges Zeugnis dieser Bemühungen stellt das Linke Tagebuch36 dar, das 3
Reinhold, Andersch
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Andersch neben anderen Beiträgen in der Münchener Zeitschrift Neues Europa im Spätsommer 1948, kurz nach der Währungsreform, veröffentlicht. In dieser Zeitschrift publizieren neben Andersch noch weitere ehemalige Mitarbeiter des Ruf wie z. B. Walter Kolbenhoff, Walter Mannzen, Friedrich Minssen und Hans Werner Richter. Sie versuchen, den veränderten Gegebenheiten entsprechend, bestimmte Programmpunkte des Ruf wie Betonung weltanschaulicher Unabhängigkeit, Streben nach Frieden und Völkerverständigung, weiterzuführen. Es werden hier die Umrisse eines politischen Konzepts sichtbar, das für Europa eine neutralistische Stellung zwischen den Fronten von Ost und West zu bestimmen suchte. Es war vor allem auf Antifaschismus, Antimilitarismus und friedlichen Ausgleich zwischen Ost und West gerichtet, vertrat das nationale Selbstbestimmungsrecht der europäischen Nationen und entwickelte vage Vorstellungen von einer sozialen Erneuerung der Gesellschaft. Diese Ansätze eines im wesentlichen demokratischen Europakonzepts konnten unter den Bedingungen des kalten Krieges und zunehmend antikommunistischer Tendenzen keinen Einfluß auf praktische politische Vorgänge gewinnen. Sie blieben allerdings wesentliches Element auch späterer außenpolitischer Oppositionsbestrebungen in der BRD gegen die restaurative Adenauersche westliche Integrationspolitik. Elemente eines im weitesten Sinne demokratischen Europakonzepts blieben auch die Grundlage für die kritische Position von linken Intellektuellen. In Anderschs Linkem Tagebuch zeigen sich deutlich die Grenzen einer solchen Position, die sich im kritischen Räsonnement erschöpft und ihre sozialistischen Intentionen nur noch als intellektuellen Wert und nicht als Ziel praktischer Politik versteht. Dieses Tagebuch ist wegen seines hohen Anteils an Selbstreflexion ein wichtiges Dokument nicht nur- für Anderschs damalige Vorstellungen, sondern für die „heimatlose Linke" überhaupt. Die Positionsbestimmung, die hier für 1948 gegeben wird, bezieht sich unmittelbar auf die möglichen parteipolitischen Entscheidungen, wobei eine tiefe Skepsis gegenüber „dem Schema der Weimarer Republik" artikuliert wird. „Da ist die SPD, da ist die bürgerliche Mitte, da ist die KPD, und die Rechte beginnt sich auch schon wieder zu formieren. Wir haben es doch erlebt, daß irgend etwas an diesem Schema faul ist. Hitler ist doch nicht umsonst gekommen." 37 Als ausgemacht galt, daß „die SED als mögliche Heimat ausschied". Gleichzeitig wird konstatiert, daß im Osten entscheidende gesell34
schaftliche Veränderungen vor sich gehen, „die Schul- und Universitätsreform, die Agrarreform, die Sozialisierung der Industrie", die für ganz Deutschland durchzusetzen wären. Die kritische Distanz zu den Vorgängen im Osten resultiert aus den wahrgenommenen Unterdrückungsmaßnahmen im Kampf um die Macht, die dem „Unterdrückungssystem einer Funktionärsschicht" 38 angelastet werden. Einer angemessenen Verarbeitung der politischen Erfahrungen der Nachkriegszeit stand auch die Kenntnis der innenpolitischen Vorgänge in der Sowjetunion der dreißiger Jahre hinderlich entgegen, die allein aus der Sicht von ehemaligen Kommunisten beurteilt wurden. Die Umwälzungen im Osten Deutschlands setzt man zu diesen Ereignissen in Beziehung, begreift sie daher kaum in ihrem weitreichenden gesellschaftlichen Charakter. Dazu bestand für Andersch, bedingt durch das Niemandsland, das der Faschismus geschaffen hatte, eine vollkommene Isolierung von den Kommunisten. Auch das im wachsenden Maße undifferenzierte Feindbild, das sich unter dem Druck des kalten Krieges herausbildete und Intellektuelle wie Andersch der Gegenseite zutrieb, prägte die Sicht auf die historischen Vorgänge. Diese geschichtliche Konstellation des kalten Krieges bewirkte eine jahrzehntelange Abspaltung der linken Intellektuellen von den anderen progressiven Kräften. Die immer stärkere Isolation, in die die linken Intellektuellen auf Grund dieser Konstellation gerieten, registriert Andersch mit einer gewissen Bitterkeit, so wenn er die „mutigen Pläne unabhängiger Sozialisten" 39 zur Gründung neuer Tageszeitungen beschreibt, die sich vor lauter Rücksichtnahmen und Abgrenzungen als nicht verwirklichbar erweisen. In einem solchen Kommentar über „unabhängige Sozialisten", die sich in gesunkener Stimmung „heimatlose Linke" nennen, klingt selbstironische Distanz an, die allerdings kein grundsätzliches Umdenken nach sich zieht. Denn 1949 versucht Andersch mit der Herausgabe der Anthologie Europäische Avantgarde noch einmal, „die Wortführer neuer Gedanken und Strömungen, des Existentialismus, des Personalismus, eines erneuerten Sozialismus und eines in Bewegung geratenen Christentums" 40 vorzustellen. Mit Ausschnitten aus ihren Werken werden hier Arthur Koestler, Denis de Rougement, Simone de Beauvoir, Stephen Spender, Ignazio Silone, Albert Camus, Jean-Paul Sartre, André Malraux, Erich von Kahler, Eugen Kogon und Vercors vorgestellt, Autoren, die dem 3»
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R»/-Leser bereits 1946 -47 bekannt gemacht worden waren. Lediglich Eugen Kogon, der Herausgeber der Frankfurter Hefte, und der französische Schriftsteller Vercors sind neu hinzugekommen. War die Präsentation dieser Autoren im Ruf 1946 noch an die Vorstellung von einem Neubeginn gebunden, der sich unter sozialistischen Vorzeichen für Deutschland innerhalb einer befreundeten Völkerfamilie vollziehen sollte, so ist 1949 von sozialistischer Perspektive keine Rede mehr. Die Auswahl der Beiträge ist auf ein Europa-Konzept angelegt, das sich nur im geistigen Raum bewegt. Schon dem Ruf und der Zeitschrift Neues Europa war eine europäische Orientierung insofern abzulesen, als in bewußter Absetzung vom faschistischen Nationalismus Völkerverbindung und -Verständigung in den Mittelpunkt gerückt wurden. Nationales Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und europäische Verständigung standen dabei in einem engen Zusammenhang, ein Grund, weshalb gegen den Ruf mehrmals von der unter amerikanischer Regie stehenden Neuen Zeitung Vorwürfe wegen vermeintlichen Nationalismus erhoben wurden. Denn die Politik der westlichen Alliierten in diesen ersten Jahren nach dem Krieg war vor allem darauf gerichtet, keine sozialistischen Veränderungen zuzulassen und den deutschen Kapitalismus als Konkurrenten auszuschalten. Erst mit der Entfesselung des kalten Krieges gegen die Sowjetunion, der darauf zielte, sozialistische Veränderungen in den Staaten Europas zu unterbinden, wurde der deutsche Imperialismus für die USA zu einem willkommenen Partner im Kampf gegen den weiteren Vormarsch des Sozialismus in Europa. Ideologische Grundlage dieses politischen Interessenbündnisses war die Europa-Ideologie, mit der man versuchte, traditionelle Wertvorstellungen des Abendlandes wie Christentum und Humanismus gegen die sozialistische Idee ins Feld zu führen. Anderschs Konzept, Europa betreffend, setzt sich von den restaurativen Tendenzen ab. „Und das Abendland? Wir laufen ihm mit hängender Zunge nach, um schließlich zu entdecken, daß aus der Kathedrale eine Eisschrankfabrik wurde" 41 , so resümierte er die Erfahrungen seit der Währungsreform. Die politische Funktion der imperialistischen Europa-Ideologie ignorierte er, und er beruft sich auf andere Voraussetzungen mit dem Hinweis, daß der größte Teil der von ihm präsentierten europäischen Intellektuellen engagiert im antifaschistischen Kampf gestanden hätte. Sie haben die „Möglichkeiten des Untergangs gesehen, sie waren verzweifelt, 36
aber sie handeln und entwickeln Hoffnung". Mit ihnen präsentiert er spezifische Handlungsmöglichkeiten Intellektueller, deren „Waffe das Wort ist". „Unscheinbar, aus der Masse, aus dem Kampf, aus dem Untergang einer Kultur geboren, handeln sie, indem sie sprechen. Durch sie handelt Europa. Es beginnt mit dem gesprochenen Gedanken. Muß das Wort nicht am Anfang stehen, da Europa sich einen neuen Anfang setzen muß?" 42 Diese Verabsolutierung intellektuellen Handelns erscheint nach den politischen Erfahrungen, die Andersch zu sammeln Gelegenheit hatte, außerordentlich überraschend. Auffällig wirkt außerdem die Nichtberücksichtigung der politischen Situation und die Ignorierung der seit 1945 stattgefundenen Geschichte. Die Absicht, mit dem intellektuellen Wort 1949 einen neuen Anfang zu setzen, mag vielleicht als ein verzweifelter Versuch gewertet werden, innerhalb der politischen Entwicklungen, die allesamt nicht bejaht werden können, eine wenigstens geistige Alternative aufzurichten, die als eine Orientierungshilfe dienen soll. Einem gleichlaufenden Versuch begegnen wir auf literarischem Gebiet in Wolfgang Weyrauchs Anthologie Tausend Gramm, in der er programmatisch die Absicht ankündigt, einen „Kahlschlag durch das Dickicht vorzunehmen", weil er im Jahre 1945 versäumt worden sei. Anderschs Europäische Avantgarde ist nicht nur ein Dokument der intellektuellen Überhebung, sondern zugleich auch ein Dokument der intellektuellen Ohnmacht und der versäumten Gelegenheiten des politischen Handelns in der unmittelbaren Nachkriegssituation. Die Autoren des Bandes nehmen sehr unterschiedliche Positionen ein: Da steht der ehemalige Kommunist Arthur Koestler mit seinem Beitrag Die Gemeinschaft der Pessimisten neben dem unabhängigen Sozialisten Ignazio Silone, der mit dem Opportunismus bürgerlicher Intellektueller scharf abrechnet, da steht der Existentialist Jean-Paul Sartre mit seiner Betrachtung über das Engagement des Schriftstellers neben Simone de Beauvoir mit Prosaausschnitten, der Schriftsteller Stephen Spender mit einem Aufsatz über die Aufgaben der europäischen Intellektuellen neben Vercors, der mit einer Rede an die Amerikaner vor einem möglichen Atomkrieg warnt, der Schriftsteller Camus mit einem Beitrag über die Krise des Menschen neben Malraux mit seiner Erinnerung an die Möglichkeiten der Kunst in Der Mensch und die künstlerische Kultur, Erich von Kahler mit einer Untersuchung über die Rolle der Technik im 20. Jahrhundert neben Emmanuel Mounier und seiner War37
nung, den Weg der nur technischen Rationalität weiterzugehen, schließlich Eugen Kogon mit einer Betrachtung der föderalistischen Struktur Deutschlands, die er für ein Muster der europäischen Einigung hält. Andersch verweist in seinem Vorwort innerhalb dieser thematischen und weltanschaulichen Heterogenität auf die Mindestformel, die ein gemeinsames Anliegen bildet. „Diese Mindestformel ist der Mensch, seine individuelle Freiheit und Würde, sein Anspruch und seine Verpflichtung auf die Gerechtigkeit und die Liebe . . . Die Verteidigung des Menschen ist das gemeinsame Anliegen der Avantgarde Europas." 43 Diese von Andersch aufgezeigte Gemeinsamkeit ist noch insofern zu konkretisieren, als der Ausgangspunkt, die Verteidigung des einzelnen, seine individuelle Freiheit und Würde, auch das methodologische Prinzip bei der Betrachtung gesellschaftlicher Fragen ist. Dementsprechend werden auch gesellschaftliche Strukturen nicht in ihrer objektiven Erscheinungsform analysiert, sondern im Hinblick auf das als frei gedachte Individuum - in dieser Form schon eine intellektuelle Konstruktion. Als grundlegend für die Struktur der gegenwärtigen Epoche werden nicht die sozialen Besitzverhältnisse erkannt, sondern die Rolle der Technik und der davon abgeleitete Verlust von Moral- und Wertvorstellungen, der den Einbruch totalitärer Herrschaftsformen ermöglicht habe. Unter den Begriff Totalitarismus werden hier Faschismus und Sozialismus gleichermaßen subsumiert, womit der offiziellen antikommunistischen Doktrin der erforderliche Tribut gezollt wird. Andererseits aber gibt es praktizierte oder geforderte Formen des konkreten sozialen Engagements (z. B. Sartres Überlegungen zur sozialen Funktion des Schriftstellers und Vercors' Stellungnahme gegen den möglichen Atomkrieg) und die Forderung nach kollektiven Organisationsformen für die weitere Produktivkraftentwicklung, die innerhalb einer größeren sozialen Bewegung ihren Platz finden können und z. T. auch gefunden haben. Die weitere geschichtliche Entwicklung belegt, daß die so unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sich in der Anthologie vereint fanden, bei der weiteren Zuspitzung der internationalen Lage in sehr unterschiedlichen Lagern wirkten. Diese Tatsache prägt auch Anderschs retrospektive Aussage, die er in einem Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger (Die Literatur nach dem Tod der Literatur) dahingehend trifft, daß die „jüngeren deutschen Schriftsteller" „den kalten Krieg nicht mitgemacht haben". „Es gab damals als eine 38
kulturelle Institution des kalten Krieges eine Einrichtung, die nannte sich 'Kongreß für die Freiheit der Kultur'. Sie wurde initiiert von Leuten wie Koestler oder Burnham und war eine absolute CIA-Angelegenheit." 44 Dieser Kongreß fand im Juni 1950 statt, und es ist anzunehmen, daß die Zeit nach 1949 (Ausbruch des KoreaKrieges, Kulmination des kalten Krieges) zur Differenzierung der freischwebenden Intellektuellen beigetragen hat. Dennoch spiegelt diese Aussage von 1972 keineswegs den Erkenntnisstand der Linken jener Jahre wider, sondern ist das Ergebnis eines langen intellektuellen und geschichtlichen Entwicklungsweges. Historisch verbürgt aber ist, daß von den Schriftstellern, die sich um den Ruf geschart hatten und späterhin die Gruppe 47 bildeten, niemand an diesem Kongreß teilgenommen hat. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde aber zunehmend eine direkte Konfrontation mit den Autoren und Intellektuellen gesucht, die sich im Osten Deutschlands konkret für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft engagierten. Von diesem Bestreben, sich abzusetzen, geben die Anfragen Wolfgang Weyrauchs an Brecht, die Aufforderungen, gegen die eigene Regierung zu protestieren, und andere Aktivitäten innerhalb der Gruppe 47 und in den Publikationen der Zeitschrift Die Literatur Auskunft. Sie und auch Erklärungen Anderschs zeugen davon, daß der soziale Inhalt des revolutionären Umwälzungsprozesses in der DDR nicht begriffen und die Klischees vom „verordneten Sozialismus", die innerhalb der Ideologie des kalten Krieges instrumentalen Charakter besaßen, aufgenommen wurden. Aber auch die widerspruchsvolle Entwicklung in der DDR selbst erschwerte das Verständnis des wesentlichen Inhalts der sozialen und kulturellen Umwälzungen. Das betraf vor allem die Diskussionen im Zusammenhang mit der 5. Tagung des ZK der SED vom März 1951, in denen eine sektiererische Haltung gegenüber modernen Kunstströmungen eingenommen wurde und eine einseitige Orientierung auf das nationale Kulturerbe erfolgte. Für die linke Intelligenz ergaben sich daraus keine Anknüpfungspunkte. Andersch erhob im Zusammenhang mit Stellungnahmen zur kulturellen Situation in der DDR Forderungen nach uneingeschränkter künstlerischer Freiheit, die anzeigten, daß die eigenen intellektuellen Produktionsbedingungen den Maßstab für die Beurteilung gesellschaftlicher Prozesse bildeten. Er war allerdings schon während dieser Zeit bemüht, seine kritische Haltung gegenüber den politischen Verhältnissen in den sozialistischen 39
Ländern von der herrschenden Totalitarismus-Doktrin abzusetzen. In einem Artikel aus dem Jahre 1957 wehrt er sich gegen „die Formel der schrecklichen Vereinfacher, die besagt, 'der Kommunismus sei mit dem Faschismus identisch'. Aber diese Formel ist die große Lüge unserer Zeit. Der wahre Kommunismus ist nichts anderes als der linke Flügel der Demokratie." 45
Grund^üge eines Literaturprogramms: Deutsche Literatur in der Entscheidung Literatur im „Ruf" In einigen literaturhistorischen Darstellungen ist eine Tendenz sichtbar, das Verbot des Ruf als die Geburtsstunde der Gruppe 47 zu apostrophieren. Sicherlich ist soviel daran richtig, daß mit dem Ausscheiden von Andersch und Richter aus dem Ruf und mit der Nichtzulassung der geplanten Zeitschrift Der Skorpion durch die amerikanischen Lizenzbehörden das Bedürfnis nach einer neuen Form von Kommunikation zwischen denjenigen Intellektuellen entstanden war, die als Herausgeber oder Autoren im Ruf ihren Platz gefunden hatten. Aus der späteren Rückschau haben Andersch und auch Richter die Gründung der Gruppe 47 schon als einen Akt der Resignation dargestellt, nämlich als Ausdruck für die Abdrängung aus dem Bereich der politischen Publizistik in den der Literatur. Das entspricht den geschichtlichen Gegebenheiten nicht ganz, wenn man daran denkt, daß mit Neues Europa und Frankfurter Hefte weiterhin Foren der politischen Publizistik bestanden. Allerdings konzentrieren sich die publizistischen Bemühungen dann immer stärker auf die Literatur und ihre Kritik. Es ist später oftmals die Frage gestellt worden, ob die Autoren des Ruf tatsächlich ein Programm des politischen Handelns verfolgt haben oder — eine Deutung, die vor allem von konservativen Kritikern dieser Autorengruppe vorgetragen wird — ob sie politisierende Literaten gewesen sind, die sich nur zufällig und zeitweilig in die politische Publizistik verirrt hatten. Eine solche Deutung läßt außer acht, daß sich ihre Absicht, in Nachkriegsdeutschland politisch wirksam zu werden, notwendig aus der Suche nach einem Neubeginn, nach einer materiellen und geistigen Überwindung des Faschismus ergab. Es war offensicht40
lieh, daß sich ein solcher Neubeginn auf alle gesellschaftlichen Bereiche, von den sozialen und politischen Strukturen bis in die Bereiche der ideellen Produktion, erstrecken mußte. Allerdings hatte die Literatur in diesen Überlegungen von Anfang an einen wichtigen Stellenwert. Er resultiert aus der Struktur ihres Denkens, das nicht auf die Analyse der sozialen und politischen Kräfte in ihrem objektiven Charakter gerichtet war, dementsprechend die Adressaten und geschichtlichen Handlungsträger nicht aus dieser Analyse ableiten konnte und sich demzufolge an sozial undifferenzierte Kräfte - die junge Generation - wandte, von der Handlungsimpulse erwartet wurden. Dementsprechend spielten subjektive Kategorien der Entscheidung, des Erlebnisses und ähnliches eine große Rolle, für deren Artikulation die Literatur wesentliches Instrument war. Sie sei „das Bekenntnis zum Menschen unserer Zeit und die Gestaltung des Menschen in seinem rationalen und irrationalen Verlorensein, in seinem Herdentrieb und in seiner Angst und Qual vor den Schrecken einer Umwelt" 46 . Andererseits aber artikuliere sie nicht nur die Befindlichkeit des gegenwärtigen Menschen, sondern sei auch ein Instrument, um die Gegenwart zu gestalten. Die Literatur rückt - wie in allen Erziehungskonzepten, in denen der Vernunft und der Bildung eine ausschlaggebende Rolle zuerkannt wird - auch hier an einen wichtigen Platz, weil sie teilhaben soll an der Bildung von „demokratischen Eliten", die in die Breite des Volkes hinein Vernunft durchzusetzen haben. Dieses literarische Programm stellt sich allerdings nicht als so voraussetzungslos dar, wie das aus der späteren Sicht der fünfziger Jahre unterstellt wurde. 47 Mit der positiven Akzentuierung der Exilliteratur, in der kritischen Auseinandersetzung mit der „kalligraphischen Literatur" und mit der Propagierung französischer, englischer und amerikanischer Literatur unter der Rubrik „Bücher, die wir nicht lesen durften", wurden wesentliche Voraussetzungen und Traditionen benannt. Grundzüge dieses auf „Erfahrung" begründeten Literaturkonzepts, das sich als „Realismus der Unmittelbarkeit" verstand, haben Hans Werner Richter in seinem Beitrag Literatur im Interregnum, Gustav René Hocke in Deutsche Kalligraphie oder. Glanz, und Elend der modernen Literatur und Horst Lange in seiner Auseinandersetzung mit der inneren Emigration Bücher nach dem Kriege erarbeitet. Neben Romanausschnitten von Walter Kolbenhoff, Erzählungen von Wolfgang Borchert und Wolfdietrich Schnurre, Gedichten 41
v o n Günter E i c h und anderen druckte man Literaturkritik und literarische Reportagen. Andersch stellte mit Gespräche am Atlantik E r f a h r u n g e n aus der amerikanischen K r i e g s g e f a n g e n s c h a f t v o r . Mit Winterabend in einer frierenden Stadt, einer R e p o r t a g e über H a m b u r g , Der richtige Nährboden für die Demokratie und mit Richters Reise in den deutschen Osten wurde über wichtige Erlebnisse und E i n d r ü c k e aus d e m deutschen Nachkriegsalltag berichtet: über die L e thargie und den schwarzen Markt, über die D e m o n t a g e und die politische Apathie, über Arbeitslosigkeit im deutschen Westen und über den Versuch im Osten, der N o t und d e m H u n g e r mit organisiertem Arbeitswillen zu Leibe zu rücken. Der Alltag dieser unmittelbaren Nachkriegsjahre ist hier auf höchst eindrucksvolle Weise dokumentiert. 4 8 Andersch nimmt in seinem E s s a y Deutsche Literatur in der Entscheidung aus d e m J a h r e 1948 wichtige Elemente dieses in einzelnen Z ü g e n sichtbar werdenden literarischen P r o g r a m m s auf und führt sie zu einer gewissen inneren Geschlossenheit. D i e F u n k t i o n seines Literaturkonzepts sieht er innerhalb der antifaschistischen E r neuerung. E r geht aus v o n der Verantwortung der Geistesschaffenden für den W e g aus den „ F o l g e n des historischen Irrtums, in den das deutsche V o l k durch seine führenden Schichten getrieben w u r d e " 4 9 . Die Schrift ist ein Appell an die Verantwortung der geistig Schaffenden. D i e Untersuchung ihrer Rolle soll die „ F r a g e entscheiden, o b die geistigen K r ä f t e der deutschen G e g e n w a r t in den trüben Strudeln der Selbstbezichtigung notwendig untergehen m ü s sen oder o b der D r u c k der Verzweiflung, den eine solche A n k l a g e mit sich bringt, gelüftet werden k a n n " 5 0 . Anderschs Analyse der literarischen Situation in Deutschland geschieht mit d e m Ziel einet Bestandsaufnahme. Sie läßt eine für diese Zeit genaue Kenntnis der literarischen Erscheinungen erkennen und ist auf die Rolle der Literatur in G e g e n w a r t und Z u k u n f t gerichtet. I m ersten Abschnitt behandelt er Deutsche Literatur als innere Emigration, deren widersprüchlichen Charakter er in Auseinandersetzung mit den damaligen Debatten u m innere und äußere E m i g r a t i o n erörtert. D a b e i zeigt er die innere Differenziertheit dieses Feldes deutscher Literatur, schätzt ihren Wert nach der ihr eingeschriebenen Distanz z u m faschistischen System ein. „ D e n n o c h relativiert sich ihr Wert, gemessen an d e m Wert, den die Literatur der offenen deutschen Résistance g e g e n Hitler besitzt, einer Résistance, die identisch war mit den E x p o n e n ten der deutschen literarischen E m i g r a t i o n im A u s l a n d . " 5 1 42
Andersch stellt die Blut-und-Boden-Literatur in ihren ungebrochenen Traditionen als Stütze der faschistischen Literaturpolitik dar, zeigt die Nachkommen der bürgerlichen Klassik mit ihrem gegen den Faschismus wehrlosen Humanismusbegriff und die eingeschränkten Möglichkeiten einer verschlüsselten Literatur als Widerstand gegen die faschistische Barbarei. Dagegen apostrophiert er im zweiten Abschnitt Deutsche Literatur des offenen Widerstands die antifaschistische Exilliteratur als Hauptsäule der deutschen Literatur, der er eine große Bedeutung bei der antifaschistischen Umerziehung des deutschen Volkes beimißt. Große Hoffnungen setzt er auf die Rückkehr Thomas Manns, an dessen Wirken er die Einheit von politischem und literarischem Denken hervorhebt. Aber auch für die Werke Heinrich Manns, Lion Feuchtwangers, Arnold Zweigs, Alfred Döblins, Anna Seghers', Bertolt Brechts erhofft er baldige Verbreitung in Deutschland. Die innere Anteilnahme am Schicksal Deutschlands sieht er als Grundlage ihres schnellen Heimischwerdens. Von der Ferne vom deutschen Leser sieht er die proletarisch-revolutionäre Literatur am wenigsten bedroht, weil sie in ein Programm des antifaschistischen Kampfes eingefügt war. Obwohl Andersch ein direktes Anknüpfen an ihre Tradition für unmöglich hält, betont er ihre Bedeutung für die antifaschistische Umerziehung. Im dritten Abschnitt Deutsche Literatur im Vorraum der Freiheit analysiert er die neu entstandene Literatur eines Walter Kolbenhoff, Theodor Plievier, Wolfgang Weyrauch, Wolfgang Borchert, lobt die von ihnen geleistete illusionslose Bestandsaufnahme und hebt ihre Rolle für die individuelle Entscheidungsfindung bei der gesellschaftlichen Erneuerung hervor. Ziel seiner Analyse ist es, Grundzüge eines auf die Gegenwart Nachkriegsdeutschlands gerichteten Literaturprogramms zu entwerfen. Grundgedanken dieses Essays bildeten eine Diskussionsgrundlage auf der 2. Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1947, wo sie, den Presseberichten zufolge, zustimmend aufgenommen wurden. Außerdem wurde der Essay in der SPD-Kreisen nahestehenden Zeitschrift Volk und Zeit52 abgedruckt. Eine größere Passage aus der Schrift publizierte auch die Wochenzeitung des Kulturbundes Sonntag53. In späteren Jahren spielt der Essay für die öffentliche Verständigung um die Traditionen und Voraussetzungen der westdeutschen Literatur keine Rolle mehr.
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Existentialismus und Nachkriegssituation F ü r seine auf W i r k u n g e n in der G e g e n w a r t gerichteten Ü b e r l e g u n g e n zur „Literatur im V o r r a u m der F r e i h e i t " u n d für die B e g r ü n d u n g der Rolle des Schriftstellers in ihm zieht A n d e r s c h E l e mente der existentialistischen Philosophie Sartrescher P r o v e n i e n z heran. E r tut es nicht allein, denn der Existentialismus w u r d e v o n vielen antifaschistischen Intellektuellen als Orientierungshilfe bei der n o t w e n d i g e n Ü b e r w i n d u n g des F a s c h i s m u s a u f g e n o m m e n , schien er d o c h mit seiner B e t o n u n g der individuellen Freiheit und E n t s c h e i d u n g s f ä h i g k e i t ein G e g e n g e w i c h t g e g e n die faschistische I d e o l o g i e zu bieten und eine G r u n d l a g e f ü r individuelle H a n d l u n g s f ä h i g k e i t a b z u g e b e n . Z u d e m war er d u r c h Sartre g e w i s s e r maßen antifaschistisch legitimiert. A n d e r s c h hat in seinen a u t o b i o g r a f i s c h e n A u f z e i c h n u n g e n b e kannt, daß ihm v o n Sartre im J a h r e 1947, als er sich auf eine Verteid i g u n g des Existentialismus g e g e n P r o f e s s o r E b b i n g h a u s e n in der Neuen Zeit eingelassen hatte, nichts weiter als Die Fliegen, Die Mauer und Ist der Existentialismus ein Humanismus? bekannt g e w e s e n seien. In dieser Literatur beeindruckte ihn die Idee der K r a f t zur subjektiven E n t s c h e i d u n g g e g e n die „ G e w a l t der o b j e k t i v e n Ideen" 5 ' 1 . E r hatte den E i n d r u c k , daß v o n dieser s u b j e k t i v e n R e volte etwas N e u e s g e g e n die Z e r s t ö r u n g und Barbarei a u s g e h e n m ü s s e , die er s o e b e n überlebt hatte und noch allenthalben u m sich sah. „Blutbeschmierte M a u e r n , Millionen v o n Fliegen, ein G e r u c h wie v o n Schlächterei, eine Hitze für Kellerasseln, v e r ö d e t e Straßen, ein G o t t mit d e m G e s i c h t eines E r m o r d e t e n , terrorisierte L a r v e n , die sich in der dunkelsten E c k e ihrer H ä u s e r v o r die B r u s t s c h l a g e n " , zitiert A n d e r s c h Sartres Fliegen, und er fährt f o r t : „ D a s war D e u t s c h l a n d 1 9 4 5 . " 5 5 N a c h d e m K r i e g e b e z o g f ü r ihn der E x i stentialismus „ e r r e g e n d e A k t u a l i t ä t " aus „ d e m apokalyptischen Z u stand dieser Z e i t " 5 6 . G e s i c h t s p u n k t e , die er innerhalb der aktuellen N a c h k r i e g s s i t u a t i o n f ü r w i r k s a m hält u n d deshalb rezipiert, sind einmal die A b l e h n u n g der Objektivität v o n W e r t v o r s t e l l u n g e n , die er d u r c h den F a s c h i s m u s als diskreditiert und auch unter den g e g e n w ä r t i g e n B e d i n g u n g e n des zugespitzten internationalen K o n fliktes für widerlegt hält. D a b e i fällt in der A r g u m e n t a t i o n eine V e r m i s c h u n g der erkenntnistheoretischen A s p e k t e des P r o b l e m s der Objektivität v o n W e r t s d e t e r m i n i e r u n g e n mit den moralischen F r a g e n v o n W e r t v o r s t e l l u n g e n auf. Objektivität wird v o n
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Andersch als Anspruch auf allgemeine Gültigkeit interpretiert, und er wehrt sich gegen sie aus der Erfahrung heraus, daß sie diktatorisch mißbraucht wurde. Im Zentrum seiner Rezeption des Existentialismus aber steht die Freiheits- und Entscheidungskategorie, die ontologisch aufgefaßt wird. Freiheit wird mit der Existenz gleichgesetzt. „In seinem Appell an die persönliche Entscheidung weist es [das existentialistische Denken] der menschlichen Freiheit den beherrschenden Platz ein, mehr noch, indem es Freiheit und Existenz identifiziert, die Viskosität eines entscheidungslosen Daseins gleichsetzt mit Unmenschlichkeit und Tod, übernimmt es die dialektische Rolle einer geistigen Bewegung, welche die Welt, um ein Wort von Marx zu gebrauchen, nicht nur interpretiert, sondern verändert." 57 Da im existentialistischen Denken der einzelne zum Ausgangspunkt von Weltbetrachtung gemacht wird, vermutet man hier ein konsequentes Gegengewicht gegenüber der Zerstörung des Menschen im Faschismus und seiner Unterordnung unter das Führerprinzip. Nach der Desillusionierung über den Mißbrauch von Wertmaßstäben in Krieg und Faschismus gilt vielen Intellektuellen die Besinnung auf die menschliche Existenz als notwendige Voraussetzung eines Neubeginns. Zum anderen resultiert der aktuelle Wert des Existentialismus für Andersch vor allem daraus, daß er weltanschaulich offen sei, durch alle Lager hindurch wirke, es gäbe einen glaubenslosen und einen christlichen Existentialismus, genau so, wie sich ein marxistischer denken ließe. In dieser Hinsicht sieht er hier die gewünschte Toleranz und Ideologiefreiheit verbürgt. Der Appell an die Entscheidungsfreiheit des Individuums stellt sich für Andersch als eine notwendige Kraft gegenüber der „Macht der Systeme" dar, innerhalb deren Wirkungsbereich dem subjektiven Handeln enge Grenzen gezogen sind. Diese Entscheidungskategorie findet keine historische Fundierung, sie geht nicht von der objektiven Rolle geschichtlicher Kräfte und ihrer sozialen Interessen aus. Sie negiert das objektive Determinationsgeflecht, in dem der einzelne handelt, und räumt dem subjektiven Willensakt hervorragende Bedeutung ein. Allerdings muß sich diese subjektiv begründete Entscheidungs- und Handlungsfreiheit immer in einem geschichtlichen Raum realisieren, so, wenn die Notwendigkeit der Tat gegen die faschistische Tyrannei betont wird. An der Rezeption und Interpretation der französischen existentialistischen Literatur, z. B. Jean Anouilhs Antigone, Sartres Die Fliegen u. a., läßt 45
sich ablesen, wie Andersch die abstrakte Freiheits- und Entscheidungsauffassung auf den geschichtlichen Augenblick und auf ein ihm angemessenes Handeln hin konkretisiert. In seiner Rezension zur Antigone hebt er den Konflikt zwischen Kreon, dem Vertreter einer sich diktatorischer Mittel bedienenden Macht, und der Unbedingtheit eines sittlichen Anspruchs bei Antigone hervor und bezieht diese Konstellation auf die deutsche Nachkriegsentwicklung. Er verweist auf die Rolle, die diese Literatur für die Organisierung eines französischen Widerstands gegen den deutschen Faschismus gespielt hat, und er fährt, Sartre zitierend, fort: „Unsere Vergangenheit existierte nicht mehr. Sie war uns in der Hand zerronnen, ohne daß wir Zeit hatten, sie festzuhalten, weiterhin zu beachten, um sie zu begreifen. Neu aber war - auch wenn ein feindliches Heer Frankreich besetzt hatte - die Zukunft! Wir hatten Gelegenheit, sie kritisch zu prüfen: es stand uns frei, daraus eine Zukunft der Besiegten zu machen oder - in umgekehrter Richtung - eine Zukunft der freien Menschen, die sich gegen die Behauptung wehren, daß eine Niederlage das Ende alles dessen bedeutet, was das menschliche Leben lebenswert macht." 58 Zwar gibt es keine direkten Belege und Hinweise dafür, daß Andersch Sartres 1947 in Frankreich erschienenen Essay Qjue-estce que la littérature? gekannt hat, aber es ist nicht zu übersehen, daß er die Fragestellung von littérature engagée und littérature pure übernommen und als methodologisches Prinzip seiner Wertungen der deutschen Literatur zugrunde gelegt hat. Diese Übereinstimmung 59 ergibt sich aus der Gleichartigkeit der Positionsbildung und aus dem Versuch, von einer bindungslosen intellektuellen Position her die gesellschaftliche Funktion der Literatur zu begründen. Gegenüber der Parteilichkeit kommunistischer Schriftsteller einerseits und dem Ästhetizismus bürgerlicher Autoren andererseits entwickelt Sartre ein Konzept, in dem der Leser eine wesentliche Instanz für den Autor und das Schreiben bildet. Der Inhalt dieser Wirkungsrichtung auf den Leser hin bleibt allerdings offen, sie ist an die existentialistische Freiheitskategorie gebunden. Die Ästhetik des Schreibens beinhaltet für Sartre den Appell an die Freiheit des Lesers, den Akt der Freiheit, den das Schreiben bedeutet, zu vollenden: „So schreibt der Autor, um sich an die Freiheit der Leser zu wenden, und er braucht sie, um sein Werk existieren zu lassen." 60 In Korrespondenz zur Offenheit der Wirkungsrichtung steht der Begriff des Engagements, mit dem Sartre Freiheit und 46
Verantwortung als Zusammenhang bestimmt, um für Haltung und Schaffen des Schriftstellers einen gesellschaftlichen Bezugspunkt angeben zu können. Das W o f ü r des Engagements bleibt weitgehend unbestimmt, beginnt sich aber, gestützt auf Humanismus, innerhalb der geschichtlichen Bewegung zu konkretisieren. Auch für Andersch ist die Absicht zu wirken der Ausgangspunkt seiner Vorstellungen von einem Literaturprogramm im „Vorraum der Freiheit". Auch er bestimmt es in kritischer Distanz zu den realen, in der Geschichte agierenden Kräften, gegenüber denen er einen von der Verteidigung des einzelnen ausgehenden Humanismus behauptet. Die Literatur erhält innerhalb seiner Bemühungen um eine antifaschistisch-demokratische Erneuerung die Funktion, subjektive Erfahrung in einer Weise zu verarbeiten, die den Leser in die Lage versetzt, Entscheidungen für die Zukunft treffen zu können. Dabei rücken die tatsächlichen geschichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb der Nachkriegszeit ins Blickfeld, ohne allerdings als Alternativen begriffen zu werden. Obwohl Andersch die mangelnde Konkretheit der existentialistischen Freiheitsauffassung erkennt - er spricht von einer „Leerformel" - , hält er an ihr als an einer Wirkungsrichtung für die Literatur doch fest, weil er in der Betonung subjektiver Entscheidungskategorien einen Zusammenhang zur Verarbeitung konkreter Erfahrungen in der Literatur erblickt. In der Rezeption existentialistischen Denkens durch Andersch wird die besondere Affinität deutlich, die zwischen dieser Denkweise und der gesellschaftlichen Lage des zwischen den Hauptklassen stehenden Intellektuellen besteht. Diese Denkweise ist einerseits die Reproduktion dieser Zwischenstellung und gewährt andererseits mit ihrer Betonung subjektiver Handlungsmöglichkeiten eine soziale Rolle und Funktion zwischen diesen Hauptklassen. Im geschichtlichen Kontext verwirklicht sich diese Rolle allerdings immer im konkreten Bezug zu den Kämpfen zwischen den sozialen Hauptkräften der jeweiligen Epoche. Auch Andersch stand mit seinem Programm einer „Literatur in der Entscheidung", das er 1948 entwarf und für das er Bruchstücke der existentialistischen Philosophie rezipierte, sofort im polemischen Bezug. Er mußte seine Denkweise gegen den Vorwurf des Nihilismus und der Wertzerstörung verteidigen, der besonders von solchen Kräften erhoben wurde, die nach konservativer Wertorientierung suchten, wie z. B. Professor Ebbinghausen in der Neuen Zeitung. In dieser 47
Front standen auch solche Ideologen, die mit direkter politischer Argumentation von den Intellektuellen Zutrauen in die Politik der Westmächte forderten und dem Existentialismus vorwarfen, gegen den „Kommunismus waffenlos" zu machen. So lautet der Vorwurf, den Günter Birkenfeld, Herausgeber der Westberliner Jugendzeitung Horizont und ein maßgeblicher Anheizer des Frontstadtklimas, gegen den Verfasser der Deutschen Literatur in der Entscheidung erhob. Dabei arbeitet er mit einem in seiner politischen Funktion innerhalb des kalten Krieges eindeutigen Freiheitsbegriff, in dessen Namen er gegen Anderschs existentialistischen Freiheitsbegriff entschiedene sittliche Werte, „den Glauben an eine höhere Macht, die das Maß gibt und die Ordnung", verlangt. 61 Von marxistischer Seite setzte sich u. a. Georg Lukäcs mit dem Existentialismus auseinander. Er kritisierte den weltanschaulichen Subjektivismus dieser Philosophie und stellte ihr eine Analyse der objektiven Klassenverhältnisse und -kämpfe entgegen. Andersch begründet die Position des Intellektuellen in Nachkriegsdeutschland aus der Bindung an den Wert des Menschen als Träger einer existentialistisch verstandenen Freiheit. Bezogen auf die konkrete Nachkriegssituation sieht er die deutschen Intellektuellen als Angehörige der geistigen Schicht eines „halbkolonialen Volkes" 62 , die nur über begrenzte Wirkungsmöglichkeiten verfügen. Diese Kennzeichnung verrät, daß Andersch mit seinem Verständnis intellektueller Freiheit sofort in Widerspruch zu den konkreten geschichtlichen Konstellationen in den Westzonen getreten war. Aus der Perspektive der Westzonen betrachtet er die deutsche Nachkriegswirklichkeit und die internationale Situation. Sie stellt sich dar mit ihrer erneuten Kriegsgefahr, mit dem nicht überwundenen Faschismus, mit den Tendenzen der deutschen Spaltung und mit hysterischem Antikommunismus. „Wertsysteme, die uns als Ausweg aus der Krise propagandistisch angeboten werden, [können wir] in ihren heutigen Formen auch schon deshalb nicht annehmen, weil wir ihre [der Mächte] Bereitschaft kennen, unter der Maske höchster ethischer Postulate die tiefste Entwürdigung des Menschen vorzubereiten: den Krieg. Solange sich hinter den Begriffen der Freiheit und Humanität die Atombombe verbirgt, hinter dem der sozialen Gerechtigkeit das größte Landheer der Welt und hinter dem Begriff der Nation der faschistische Galgen, solange werden uns diese Begriffe selbst als ihres Inhalts beraubt und tief verdächtig gelten." 63 Unter den so charakterisierten Umständen bestimmt An48
dersch die Aufgabe des Intellektuellen in zweifacher Hinsicht: „Er muß im Namen der wahren Demokratie die Heuchelei derjenigen enthüllen, die heute die Demokratie durch ihre Politik gegenüber Deutschland diskreditieren, und er muß den Geist der Demokratie verteidigen gegen alle, die aus der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, an der wir leiden, bereits wieder ihre faschistischen Schlüsse ziehen." 64 Er fordert die Intellektuellen auf, sich in den ideologischen Kampagnen zwischen Ost und West nicht mißbrauchen zu lassen, und er sieht sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit dem Manifest des 1. Deutschen Schriftstellerkongresses in Berlin, an dem er selbst allerdings nicht teilgenommen hat. „Es ist erfreulich, daß der 1. Deutsche Schriftsteller-Kongreß in Berlin (Oktober 1947) dieses Mißtrauen klar zum Ausdruck gebracht hat, indem er eine Entschließung annahm, welche den deutschen Intellektuellen abrät, sich von den Propagandawellen des Westens gegen den Osten, und umgekehrt, mitnehmen zu lassen." 6 5 Diese Berufung ist schon eine spezifische Lesart des Manifestes vom 1. Deutschen Schriftstellerkongreß, in dem die Verantwortung der Schriftsteller für den Frieden und für die Gesundung der deutschen Kultur zum Ausdruck gebracht wird. Realismus als P r o g r a m m und kritischer Maßstab Im Stichwort Realismus laufen wesentliche Elemente von Anderschs Literaturkonzept zusammen. Es geht dabei um die Begründung einer Literaturfunktion, die auf die Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland gerichtet und dabei in der Lage ist, „alle Zeichen einer tiefgehenden geistigen und sozialen Umwälzung" wahrzunehmen und zu vermitteln. Erfahrung, Unmittelbarkeit und Freiheit sind wichtige Kategorien innerhalb dieser Vorstellungen, mit deren Hilfe die Beziehungen zwischen Literatur und Wirklichkeit in einer spezifischen, die literarischen und politischen Frontstellungen jener Jahre berührenden Weise erörtert werden. Bereits in seinem Beitrag Die neuen Dichter Amerikas, geschrieben für den amerikanischen R u f , rekurriert Andersch auf das Stichwort Realismus. Er bezeichnet ihn hier als einen Grundzug des amerikanischen Lebens, den er in unmittelbarer Hinwendung zur Wirklichkeit, in der Einstellung auf ihre Erfordernisse erblickt. In der amerikanischen Literatur, vor allem in den großen kritischen realistischen Beschreibungen von Theodore Dreiser, Sherwood Anderson 4
Reinhold, Andersch
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und Sinclair Lewis, sieht er diese Welt zum Bewußtsein ihrer selbst kommen. Eine neue Stufe des Realismus entdeckt Andersch in den Werken Wolfes, Steinbecks, Faulkners, Dos Passos' und vor allem bei Hemingway, den er für den Leser der westlichen Zonen in immer neuen Ansätzen bekanntzumachen versucht. Bei Hemingway findet er die Form von Realismus, in der eine notwendige Desillusionierung auch für den deutschen Leser und für die Aneignung der deutschen Nachkriegsrealität vorgebildet ist. „Mit asketischer Härte gibt er nur Tatsachen, verzichtet auf Deutung, auf das Reden ü b e r die Dinge." 66 Diesen Grundgedanken entwickelt Andersch nach seiner Heimkehr weiter. Dabei konkretisiert er ihn über die Analyse der in Deutschland geschriebenen nichtfaschistischen Literatur und der Exilliteratur in ihren verschiedenen Strömungen. Außerdem präzisiert er seinen Realismus-Begriff in Kenntnis der sich entwickelnden jungen Literatur nach dem Kriege und gegen die weltflüchtige Literatur der inneren Emigration, die nach 1945 einen breiten Strom Belanglosigkeiten in die Öffentlichkeit entließ. Diese Literatur faßt er unter dem Begriff des „Symbolismus" oder der „Kalligraphie" zusammen. Die Bezeichnung „Kalligraphie" war in einer R#/"-Analyse der gegenwärtigen Literatur in Deutschland von Gustav René Hocke für die Kennzeichnung derjenigen Literatur herangezogen worden, die sich in verinnerlichter Schönschreiberei erging und sich in keiner Weise den zeitgenössischen Realitäten stellte. In einem in epigrammatischer Form abgefaßten literarischen Credo kennzeichnet Andersch diese Literatur als „die feierliche Verkündung des ästhetischen Beourgeois: irgendwelche Geschehnisse symbolisieren irgend etwas" 67 . Die Aufgabe der deutschen Literatur heißt dagegen: „revolutionärer Realismus". Symbolismus bringt Andersch in engen Zusammenhang zum Faschismus, der nicht nur den ästhetischen Symbolstil duldete, sondern gleichzeitig auch die „Realitäten des Symbolismus" erfand, denn „Propaganda ist Symbolismus für den Massengebrauch" 68 . Der von Andersch etablierte Realismus-Begriff steht in einem inneren Zusammenhang zum Humanismus, er kommt ohne Illusionen über die Wirklichkeit aus, aber nicht ohne Hoffnung, wie es in einer Rezension zu Erich Kästners Fabian heißt. Humanistisch heißt, die „Würde des Menschen voraussetzend und wahrnehmend" 69 . Diesen Humanismus bindet Andersch an die existentialistisch verstandene Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit des einzelnen. 50
Der von Andersch verwendete Realismus-Begriff berührt unterschiedliche Ebenen des Verhältnisses zwischen Literatur und Wirklichkeit. Der Umgang mit ihm führt allerdings nicht zur Erarbeitung eines systematischen Programms. Er bleibt ein Hilfsinstrument, mit dem nicht nur die Abbildungen des Wirklichen in der Literatur aufzufinden sind, sondern die Funktion der Literatur bei der Überwindung des Faschismus zu bestimmen ist. Andersch faßt als Realismus produktions- und wirkungsästhetische Gesichtspunkte der Literatur für die Auseinandersetzung mit der deutschen Wirklichkeit, mit der Erfahrung von Krieg und Faschismus. Realistische Literatur erhält hier die Funktion, die unmittelbare individuelle Erfahrung als Teil der geschichtlichen Erfahrung festzuhalten. Dabei reicht die bloße naturalistische Wiedergabe des Geschehenen nicht aus, es wird ein Überschreiten der erfahrenen Realität verlangt, der Mensch soll in der Lektüre seine Freiheit und Entscheidungsfähigkeit für die Bewältigung der Zukunft erkennen. In diesem Sinne versteht Andersch sein Konzept als Gegenpol zu Literaturvorstellungen, die die Realität verklären oder sich in idealistische Konstruktionen flüchten. In anderem Zusammenhang aber setzt er Realismus als einen Stilbegriff, der die Verwendung von surrealistischen und phantastischen Stilmitteln ausschließt. Hauptgesichtspunkt der Wertung für die neu entstehende Literatur ist für Andersch allerdings die Aufrichtigkeit und literarische Intensität, mit der die bestehende Verwüstung und Verirrung wiedergegeben und zugleich überschritten wird. Er grenzt seine Realismusauffassung einerseits gegen die Schönschreiber und Verklärer, andererseits gegen die Parteilichkeit sozialistischer Literatur ab, weil für ihn „die Wahrheit immer für sich selbst spricht, sie hat keine Tendenz und keine Predigt nötig" 7. In der „Tendenz" erblickt Andersch eine Gefahr für den Realismus der revolutionär-proletarischen Literatur, der er ansonsten für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur eine große Bedeutung beimißt. Besonderes Interesse bekundet er für die bevorstehende Heimkehr Brechts. Die Grundlage seines Versuchs, gewissermaßen neben der sozialistischen Literatur und ihrer entschiedenen Parteilichkeit eine realistische Literatur zu etablieren, liegt in seinem Mißtrauen gegen die sozialistische Ideologie begründet. Diese wird, die Erfahrung des Faschismus verallgemeinernd, unter den Verdacht gestellt, eine völlige Okkupation der Hirne der Menschen vornehmen zu wollen. Dieses Mißtrauen gegen j e d e Ideolo4*
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gie, ein wesentliches Charakteristikum der heimatlosen Linken, prägt den widersprüchlichen und wehrlosen Charakter der sich bildenden Opposition gegen die kapitalistische Restauration. „Wenn irgend etwas die proletarische Literatur hindern könnte, zum wichtigsten Formelement der geistigen Produktion zu werden, dann nur ihre allzu starke Bindung an eine erklärende Dogmatik der gesellschaftlichen Vorgänge, ihr Glaube an eine wissenschaftliche Methodik, der sie in die Gefahr der Trockenheit bringt." 7 1 Es ist offensichtlich, daß Andersch hier sein Mißtrauen gegen die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus, gegen dessen Fähigkeit, die gesellschaftlichen Gesetze zu erklären, zum Ausdruck bringt. Diese polemische Haltung rührt einmal aus der ungenügenden Kenntnis des Marxismus her - Andersch identifiziert fortwährend methodologische Prinzipien der Gesellschaftsanalyse mit sozialistischen Zielvorstellungen - und zum anderen aus Vorbehalten, die aus der ideologischen Konfrontation des kalten Krieges erwuchsen. Das führt wiederum dazu, daß dieses Literaturprogramm späterhin in der D D R nur in seinen gegen den Marxismus und die sozialistische Literatur gerichteten Elementen wahrgenommen, polemisch abgewiesen und nicht als Programm einer auf die Bewältigung der Nachkriegswirklichkeit gerichteten Literaturvorstellung gewertet wurde. 72 Die subjektive künstlerische Wahrheit scheint für Andersch mit dem Objektivitätsanspruch sozialistischer Ideologie unvereinbar. Sie stehe der existentiellen Denkweise näher, die als ein „Hilfsmittel" „der deutschen Literatur den Weg zu einem großen Realismus und damit in die Welt" 73 öffnen soll. Die neu entstehende Literatur der Gegenwart sieht Andersch davon allerdings noch weit entfernt. „An den Büchern meiner Freunde fällt mir nicht Nihilismus, sondern eine hochgespannte Moralität auf", konstatiert er gegen den Vorwurf des Nihilismus gewandt. („Z. B. das unbedingte Fragen und die verzweifelte Suche nach Moralität bei Wolfdietrich Schnurre, die Wahrheitsliebe und gesteigerte Moralität der sozialkritischen Reportagen Walter Kolbenhoffs, bei der größten Begabung Wolfgang Borcherts der gleiche Abgrund des Determinismus wie bei Büchner.) Ich sehe die Gefahr, daß von diesem moralisch intendierten Realismus der Realismus nur als Methode gebraucht wird. Deshalb fordere ich den ganzen Realismus . . . [Er] ist die notwendige Korrektur zu einer Anschauung, die im Realismus nur die Bindung an 52
das Materielle sieht, ohne die Freiheit als Freiheit zu erkennen. Diese existentialistische Freiheit, die uns aus dem Reich der Notwendigkeit heraushebt, vermag allein, unseren um die Wahrheit ringenden Dichtern das Bewußtsein ihrer geistigen Möglichkeiten zu vermitteln und damit den Blick für einen Ausweg zu eröffnen." 74 Die Kritik an den aktuellen Erscheinungen der deutschen und internationalen Literatur ist für Andersch immer ein Teil seines Tätigkeitsfeldes geblieben. Die wichtigsten Kritiken seit 1950 hat er in seine Aufsatzsammlung Ein neuer Scheiterhaufen für alte Ketzer (1979) aufgenommen. Sie bilden außerdem die dritte Abteilung von Norden, Süden, rechts und links. Von Reisen und Bächern 1951 -1971. Anderschs literaturkritische Arbeit im Ruf ordnete sich in die politischen und literaturprogrammatischen Vorstellungen dieser Zeitschrift ein. Sie steht im engen Zusammenhang mit den programmatischen Aufsätzen zur literarischen Situation, die damals allerdings nicht aus Anderschs Feder stammten, sondern von Hans Werner Richter, Horst Lange und Gustav René Hocke. Die polemische Frontstellung richtete sich gegen den „Zustand der deutschen Literatur, das Gewühl von Stifter-Epigonen, mystischen Dilettanten und Kunstgewerblern jeglicher Observanz" 75 , wie es in einer Kritik zu Kästner heißt, und forderte dagegen eine entschiedene Hinwendung zur deutschen Wirklichkeit, die, durch Krieg und Faschismus verwüstet, den Neuanfang einer illusionslosen Generation brauche. Außerdem betont Andersch die Notwendigkeit, nicht in der bloßen Desillusionierung und Verneinung stehenzubleiben, sondern gerade den kritisch-aufklärerischen Kampfgeist freizusetzen, der in Kästners Werk steckt. Im Ruf ist allerdings nicht die Literaturkritik Anderschs bevorzugtes Tätigkeitsfeld, sondern die politische Publizistik. Neben einem Hinweis auf Chaplins Film Der große Diktator in der ständigen Rubrik Bücher die wir nicht lesen dürfen, in der er sich kritisch mit der amerikanischen Lizenzpolitik auseinandersetzt, gibt es nur noch eine kleine Rezension zu Ernst Kreuders Roman Die Gesellschaft vom Dachboden, in der Andersch den Balanceakt zwischen visionärem Traum und Realität erörtert und die Hoffnung zum Ausdruck bringt, daß dieser Zwiespalt zugunsten der Realität entschieden werden würde. Nach dem Ausscheiden aus dem Ruf publiziert Andersch seine Kritiken in den Frankfurter Heften und gelegentlich in der Neuen Zeitung, der Neuen Woche und in Hier und Heute. An seinen Kriti53
ken zu Wolfgang Borchert (1947), Günter Eich (1949), Heinrich Boll {Wo warst du Adam?, 1951), Hans Werner Richter (Sie fielen aus Gottes Hand, 1951), zu Karl Krolows Gedichten (1952) und zu Arno Schmidt (1952) ist ablesbar, wie Andersch seine Realismusauffassung der kritischen Arbeit zugrunde legt und zunächst nach dem Wirklichkeitsbefund fragt, den das jeweilige Buch einbringt. Dabei bestimmt er die einmalige Originalität des jeweiligen Autors sehr präzis, so wenn er über Borchert schreibt: „Borcherts Werk ist eine einzige Frage, unwiederholbar und sprachmächtig gestellt, darin liegt sein geistiger Wert. Er hat bereits für uns alle endgültig und radikal gefragt. Es nützt nichts, daß wir seine Frage wiederholen. Wir müssen uns auf den Weg machen, einen Ausweg zu finden . . ." 76 Jede Kritik berücksichtigt außerdem das vom Autor gewählte Genre mit seinen Intentionen, von dem her sich die Frage nach dem Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit konkretisiert. Dabei stehen analytischer Aufschluß des Inhalts und der möglichen Wirkung auf den Leser in unmittelbarer Beziehung. Einblicke, wie dieser Maßstab gehandhabt wird, vermittelt die Rezension zu Hans Werner Richters Roman Sie fielen aus Gottes Hand (1951). Mit der Überschrift Aus wessen Hand wird sofort ein kritischer Grundton angeschlagen. Zunächst geht Andersch von der Existenznotwendigkeit politischer Zeitromane aus, deren Qualität von der „kompromißlosen Schärfe in der Analyse politischer, soziologischer und psychologischer Tatbestände" abhängt, „von der Klarheit der Kritik, die er übt". Andersch hebt die positiven Möglichkeiten eines solchen Romantyps polemisch gegen „unsere symbolistische Schule" ab, die als „Zeitroman" nur die „Kafka-Epigonie gelten lassen will und mit der Soziologie am liebsten gleich auch die Gesellschaft aus der Welt eskamotieren möchte" 77 . Dieser polemische Bezug weist auf eine Veränderung in der literarischen Landschaft gegenüber der unmittelbaren Nachkriegszeit hin, in der sich die Polemik gegen „Schönschreiber, Mystiker und Stifter-Epigonen" gerichtet hatte. Der kritische Hinweis auf Kafka-Epigonen läßt deutlich werden, daß sich das Literaturkonzept der R»/"-Herausgeber nicht durchgesetzt hatte, sondern daß eher eine ganz andere Auffassung von Literatur eine Vorrangstellung einzunehmen begann: die von der literarischen Autarkie und gesellschaftlichen Unverbindlichkeit. Sie etablierte sich unter dem Signum der künstlerischen Modernität und des notwendigen Anschlusses an die Moderne-Tradition. Dabei wurden die künstleri54
sehen Neuerungen der avantgardistischen Literatur von ihren sozialen Inhalten und Zusammenhängen getrennt, und es wurde gewissermaßen ein Formenkatalog der modernen Literatur aufgebaut. Unter diesem Eindruck begannen viele junge Autoren als Epigonen moderner Schriftsteller (Kafka, Joyce u. a.) zu schreiben. Andersch richtet sich in seiner Polemik gegen diese epigonale und unproduktive Nachahmung moderner Literatur. Er verteidigt dagegen anläßlich einer Kritik, die Hans Egon Holthusen an seiner Rezension zu Arno Schmidt übte, die Bedeutung der Zeitumstände und des Originaleindrucks, den der Autor empfängt. Gegen Holthusen gewandt, der die formalen Neuerungen der modernen Literatur dogmatisiert und Arno Schmidt empfiehlt, diese Neuerungen „nachzuarbeiten", betont Andersch das Recht des Autors, jedweden Umgang mit der Tradition zu pflegen, „denn die Kunst ist kein Schulzimmer". „Es ist unmöglich, die Situation der ausländischen Schriftsteller zwischen 1933 und 1945 nachzuvollziehen. Es ist eben unser Schicksal, daß wir sie [die Moderne] versäumt haben." 78 Neben der kritischen Abwehr einer Dogmatisierung der Moderne geht es ihm darum, ihre formalen Errungenschaften so einzusetzen, daß kein „Rückgriff auf die bürgerliche Dekadenz" erfolgt, wie er anläßlich einer Kritik an Karl Krolows Gedichten schreibt, vielmehr „direkte Aktion in eine Zukunft hinein . . . von der man weiß, daß sie sich nur öffnet, wenn man sich selbst offen hält" 79 . (Welchen positiven Inhalt sein avantgardistischer Literaturbegriff darüber hinaus besitzt, wird uns in einem späteren Abschnitt beschäftigen. Vgl. S. III ff.) Anderschs Polemik gegen eine Verabsolutierung der formalen Elemente der modernen Literatur richtet sich vor allem gegen solche Leute, „die ohnmächtige Proteste gegen einen imaginären Leviathan richten, weil ihnen das eine 'schönere' Sprache erlaubt" 80 , und so eine Mystifizierung von gesellschaftlichen Mächten betreiben, die notwendig zu benennen wären. In diesem Sinne auch bringt er seine Kritik an Richters Roman vor, weil die „Mächte" unbestimmt seien und die Gesellschaftskritik einen Punkt erreicht habe, „an dem die Linse unscharf wird" 81 . Daß Andersch die politische Restauration meint, die ihren kalten Krieg gegen alle demokratischen Kräfte führt, zeigt seine politische Publizistik aus dieser Zeit, mit der er sich immer mehr in Randzonen verwiesen sieht. Auf die politische Linie der Frankfurter Hefte, die einen christlich intendierten Sozialismus mit antikommunistischer Stoßrichtung vertreten, gewinnt er kaum Einfluß. 55
In der Auseinandersetzung zwischen Verfechtern einer „ästhetischen" Literatur und einer „zeitbezogenen" Literatur zu Beginn der fünfziger Jahre verbargen sich die politischen Fronten der Restaurationspolitik und ihrer Kritiker. Das läßt auch die literarische Fehde um und mit Friedrich Sieburg erkennen, der einige Jahre nach dem Krieg als ehemaliger Journalist faschistischer Blätter Veröffentlichungsverbot hatte und ab 1948 zum prominenten Befürworter politischer und literarischer Restauration wurde. Er hatte in der Wochenzeitung Die Zeit (14. 8. 1952) und in der von ihm redigierten Zeitschrift Die Gegenwart (9/1952) kritische Attacken gegen die Aktualität der neuen Literatur, gegen die Gruppe 47 und gegen die Literatur geführt. Diese Zeitschrift versuchte unter der Redaktion von Hans Werner Richter bestimmte Positionen des R u f weiterzuführen.82 Sieburg sieht in seinem Aufsatz Kriechende 'Literatur™ die damalige Literatur in der Sackgasse, in die der Irrglaube geführt habe, „sich der Gegenwart dadurch aufzwingen zu können, daß man aktuelle Fragen behandelt. Dabei ist weniger an Bücher zu denken, die ihren Stoff aus der Politik nehmen, fast im Gegenteil, denn ein rein politischer Roman, der die Politik als ein Stück Sittengeschichte behandelt, ist bisher noch nicht geschrieben worden, obwohl das Thema sehr lohnend wäre." Sieburgs Abwehr gegen die Beschäftigung mit der Aktualität richtet sich vor allem gegen eine bestimmte Sicht auf diese Gegenwart. Er wirft den Autoren vor, daß sie die Ausschnitte des Lebens und die Konflikte, die sie gestalten, „immer wieder ins Kollektive rücken" und so die menschliche innere Leidensfähigkeit verkennen, für die es einerlei ist, ob „das Kind eines Mannes an Hirnhautentzündung in der Schweiz gestorben oder bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist". Sieburg kritisiert die Absage an das Ästhetentum, sie erfolge nach seiner Auffassung aus dem Bedürfnis heraus, bei „geistigen Kriechübungen nicht durch die Anwendung von Qualitätsmaßstäben gestört zu werden" 84 . Sieburg denunziert außerdem die Organisation der Schriftsteller wie in der Gruppe 47, die sich als „Notwehrakt 'einiger jüngerer Schriftsteller' gegen die alles überwuchernde Pseudo-Prominenz schreibender Roués wie gegen die sich wieder sammelnde Finsternis des Nationalismus" verstand.85 Er hegt den Verdacht, die Gruppe 47, wäre „geheime Reichsschrifttumskammer" - ein Wort, das, ähnlich wie die Schimpfkanonaden westdeutscher Politiker gegen die Intellektuellen, in die Geschichte eingehen sollte - , und er erhebt gegen sie den Vorwurf der Uniformität und des Opportunismus. 56
Andersch räumt in seiner Polemik ein, daß einige Gesichtspunkte der Kritik an der Literatur der Gegenwart berechtigt seien. Nur Anderschs Kritik kommt von einer anderen Seite. Er nutzt die Gelegenheit, um gegen die Restauration reaktionären Gedankenguts, gegen die im „Auftrag der Aktualität betriebene Geschichtsfälschung" zu Felde zu ziehen, die durch die Neuauflage von Bruno Brehms y\pis und Este, durch die Verfälschung der soziologischen Wahrheit in der Neuauflage von Grimms Volk ohne Kaum, durch den im Auftrag der Aktualität geschriebenen, überall aus dem Boden schießenden „Rommel- und Rundstedt-Schund" verbreitet wurde. „Ja, denkt man, wen anderen kann Sieburg wohl meinen als den Herrn von Salomon, wenn er Sätze schreibt wie diese: 'das eigentliche Verhängnis, das jede künstlerische Arbeit bedroht, ist die gauklerische Vertauschung von Masse und Volk, . . . der natürliche Drang, mit dem Volk im Einklang zu bleiben, wird zu einem Dienst am Massenhaften verdorben'. Wer wohl hat den niedrigsten Instinkten des Massenhaften besser gedient als eben jener Herr von Salomon? Wer füllt die Kategorien, die Sieburg aufstellt, besser aus als Salomon oder Richard Euringer oder Edwin Erich Dwinger, Hans Grimm, Bruno Brehm und in ihrem Gefolge das Heer der Illustrierten - Schmierer bis hinunter zu Assi Hahn?" 86 Andersch nimmt gegen den reaktionären Sieburg Anna Seghers, Plievier, Koeppen, Borchert, Weyrauch, Richter, Kolbenhoff in Schutz und schreibt, daß ihr literarisches Vermögen unterschiedlich, die psychologische Differenzierungskunst nicht immer voll entwickelt, dafür aber ihre Absicht nicht zu übersehen sei, „unsere Zeit und ihre jüngste Vergangenheit in ihren brennendsten politischen, sozialen und psychischen Tatbeständen zu erkennen" 87 . Seine Einwände gehen in die entgegengesetzte Richtung wie die Sieburgs. „Dem ist die Literatur nicht literarisch genug, . . . mir ist sie es zu sehr. Angesichts von Feinden, die keine Gentlemens sind, brauchen wir ein grobes, naives, primitives und barbarisches Blatt. Ein solches Blatt zu schreiben, ist viel schwieriger, es erfordert vielmehr Raffinement und Kunst als eine feingeistige Zeitschrift, die mit den Pseudogentlemens diskutiert. Laßt sie doch unter sich, die alten Nazis und die sandkuchenmürben Esoteriker! Laßt die bösen alten Herren ruhig 'europäische Geistigkeit' spielen . . . denn wo der europäische Geist wirklich steht, das bestimmen nicht sie!" 8 8 Andersch wird hier durch die polemische Frontstellung veranlaßt, sich als Anti-Ästhet zu bekennen, obwohl er ein Autor ist, der literarischem Experiment stets offen gegenübersteht. Der Grund 57
liegt in den Wirkungsabsichten, die er stets für die Literatur im Blickfeld behält. Für die Möglichkeiten von literarischer Wirkung aber hatte sich im Jahre 1952 im Vergleich mit der unmittelbaren Nachkriegssituation ein tiefgreifender Wandel ergeben. Konnten Bücher und Zeitschriften nach 1945 bis zur Währungsreform einen hohen Absatz finden, so stellte man nach der Währungsreform die Herausgabe vieler literarischer Zeitschriften ein. Es begann die breite Publikation von seichter oder die Remilitarisierung befördernder Massenliteratur, wodurch sich der Wirkungsraum der kritischen Literatur radikal einengte. Aber auch das ästhetische Klima innerhalb der literarischen Öffentlichkeit war gesellschaftskritischer Literatur wenig förderlich. Man operiert mit einem ästhetischen Formalismus, den Peter Rühmkorf aus der Sicht späterer Jahre so charakterisiert: „jenseits aller Politik und fern von Forderungen irgendwelcher Obrigkeit, so nur geschmacksbedingt und wie von ungefähr entstanden, und doch, wenn man es recht besah — die es förderten und was dann am Ende herausbriet —, es war die herrschend und herrschender werdende Richtung kaum anders denn als Richtung der Herrschenden zu bezeichnen. Der Formalismus nämlich — Kunst mit nichts anderem im Sinn als Kunst — der Formalismus und sein ganzes theoretisches Verbundssystem, sie paßten ganz vorzüglich ins Konzept der Gesellschaftsinhaber . . , " 8 9 Durch die Unterordnung der Literaturproduktion unter kapitalistische Verwertungsbedingungen, die die Restauration kapitalistischer Literaturverhältnisse mit sich brachte, hatte sich der für solche Verhältnisse charakteristische Widerspruch zwischen einer minderwertigen Literatur für die Massen und einer ästhetisch-anspruchsvollen Literatur für eine intellektuelle Minderheit reproduziert. Die verbreitete Literatur war eine Literatur, die die Volksmassen für die restaurative Politik des Kapitalismus, für die Pläne zur Remilitarisierung ideologisch reif machen sollte. Mit dem Hinweis auf die Memoiren der Hitler-Generäle, auf die Publikation von Büchern faschistischer Autoren verweist Andersch auf diesen Zusammenhang. Daneben steht die entpolitisierende, verklärende Trivialliteratur, die von den Illustrierten in Massenauflagen verbreitet wird. Auch sie bezieht Andersch in seine Betrachtung ein. Und gegenüber dieser ganzen Flut steht die kritisch-oppositionelle Literatur, für die Andersch ficht. Aus dieser gesellschaftlichen Konstellation ergibt 58
sich: Will sie ihr Ziel nicht verfehlen, so muß sie auch in ihrer Darstellungsart Wirkung auf breitere Massen von Lesern anstreben. In diesem Zusammenhang steht Andersens Plädoyer für ein „großes, naives, primitives und barbarisches Blatt" 90 . Es bildet den Gegenpol seiner Bemühungen um eine experimentierfreudige avantgardistische Literatur, die er als Herausgeber der Reihe studio frankfurt fördert, denn diese verbleibt im engen literarischen Zirkel. (Vgl. hierzu S. 105ff. dieser Monographie.) Der hier beschriebene Widerspruch aber bleibt für Andersch und die oppositionelle humanistische Literatur in der BRD eine permanente Herausforderung. Andersch selbst kommt in verschiedenen Zusammenhängen auf den Umkreis Trivialliteratur zu sprechen und sucht nach eigenen Möglichkeiten, an breitere Leserschichten heranzukommen. Andersch als Vermittler amerikanischer Literatur Aus Selbstzeugnissen von Schriftstellern der Nachkriegszeit geht hervor, welche große Bedeutung die amerikanische Literatur für ihren literarischen Beginn hatte. Auch Andersch bekennt noch 1978 in Mein "Lesebuch, von Hemingway „mehr gelernt zu haben" als von „Rudolf Alexander Schröder oder Hans Carossa". Literarischen Niederschlag fanden diese Anregungen für ihn jedoch erst in den fünfziger Jahren, ein Zeichen dafür, wie lange die Ablösung von literarischen Vorbildern gedauert hat, in deren Zeichen seine literarischen Anfänge standen. Aber sofort nach dem Kriege tritt Andersch als Vermittler amerikanischer Literatur auf, für die unter den Autoren der Nachkriegszeit eine große Affinität bestand. Besonders die Tradition der short story, deren Verbreitung Ledig-Rowohlt mit story in den Jahren zwischen 1945 -1949 eine ganze Zeitschrift gewidmet hatte, schien besonders geeignet, um sich mit dem bedrängenden Kriegserlebnis auseinanderzusetzen. Stellvertretend sei Wolfdietrich Schnurre zitiert, der, wie auch Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff, Wolfgang Borchert, Heinrich Boll u. a., diese Form für das eigene literarische Schaffen entdeckt hat. Er schreibt rückblickend: „Doch der eigentliche Grund, weshalb sie [die deutschen Kriegsautoren] die Form der short story so blitzartig übernahmen und auch gleich mit beachtlicher Könnerschaft zu handhaben verstanden, lag woanders. Er lag im Stofflichen, in der Überfülle an peinigenden Erlebnissen aus den Kriegsjahren, Schuld, Anklage, Verzweiflung - das drängte zur Aussprache. Zu keiner 59
ästhetisch verbrämten, auch zu keiner durchkomponierten oder gar episch gegliederten; nein, zu einer atemlos heruntergeschriebenen, keuchend kurzen, mißtrauisch kargen Mitteilungsform. Da kam die 'Entdeckung' der short story eben zur rechten Zeit." 91 Für Andersch stand die Beschäftigung mit amerikanischer Literatur im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um ein literarisches Programm für die Nachkriegszeit. Bei den amerikanischen Autoren fand er wichtige Stichworte seiner eigenen Vorstellungen: schonungslosen Realismus, zeitgeschichtliches Sujet, einen auf die Wiedergabe des Faktischen drängenden Duktus des Schreibens und alle Zeichen der Gefährdung des Menschen in der modernen Welt. Seine Bemühungen standen zudem im Kontext zum amerikanischen Reedukation-Programm für Deutschland. Dieses Programm hatte schon Einfluß auf die Bücher, die Andersch aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft mit über den Atlantik brachte.92 Den Erwerb und die Kenntnis der Romane und Erzählungen vonCabell, O. Henry, Henry James, Sherwood Anderson, Ernest Hemingway, Scott Fitzgerald, Thornton Wilder, John Steinbeck, Erskine Caldwell verdankte er den billigen Sonderdrucken für deutsche Kriegsgefangene, die unter dem Titel Bücherreihe Neue Welt in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern vertrieben wurden. Sie wurden von Civil Affairs Division des War Departments im Rahmen des amerikanischen Reedukation-Programms ermöglicht, in das die Amerikaner ab 1944 auch Deutschland miteinbezogen haben. Die Literaturpolitik war Bestandteil der amerikanischen Deutschlandpolitik, somit von deren Widersprüchen und Wandlungen abhängig. Hans Jörg Gehring hat in seinem Buch: Amerikanische Uterattirpolitik in Deutschland 1945-1953 (Stuttgart 1976) diesen Zusammenhang untersucht. Er beschreibt drei Phasen: Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945 -1947, in der neben dem Verbot nationalsozialistischer Literatur die Propagierung von ausgewählter amerikanischer Literatur erfolgte, wobei Werke mit demokratischer und antimilitaristischer Tendenz im Vordergrund standen. Mit dem politischen Klimawechsel beim Übergang zum kalten Krieg gegen den Sozialismus ab 1947 begann man Werke von der Liste zu streichen, die eine kritische Darstellung des amerikanischen Lebens brachten. Kommunistische Autoren fanden in dieser Zeit schon keinen Weg mehr zum deutschen Leser. Nach der Gründung der Bundesrepublik beschreibt Gehring die amerikanische Literaturpolitik als Ära McCarthys und zeigt, wie der Untersuchungsausschuß 60
auf die kulturellen Verhältnisse der Bundesrepublik E i n f l u ß n i m m t und durch Inspektionen der Amerikahäuser auf die Verbreitung v o n amerikanischer Literatur direkt einwirkt. T r o t z der inneren Widersprüchlichkeit der amerikanischen Literaturpolitik - E i n b i n d u n g in die Machtinteressen der Amerikaner in Deutschland, das Bemühen, vor allem ein Bild v o n A m e r i k a als d e m L a n d der unbegrenzten Möglichkeiten zu vermitteln - wurden besonders für die erste Nachkriegsphase wichtige literarische Leistungen realistischer amerikanischer Literatur durch Übersetzung zugänglich gemacht. Diese Tatsache war vor allem d e m Wirken demokratischer Kulturoffiziere innerhalb der amerikanischen Armeebürokratie geschuldet, die allerdings mit d e m Ü b e r g a n g z u m kalten K r i e g abgelöst wurden. N a c h 1947 gibt es z. B. s o g a r g e g e n die Übersetzung v o n Büchern Caldwells und Faulkners E i n w ä n d e , die damit begründet werden, daß sie ein negatives Bild der amerikanischen Zivilisation malten. 9 3 A u c h D o s Passos' Number one, der R o m a n über den Aufstieg eines rassistischen D e m a g o g e n aus den Südstaaten, durfte nicht publiziert werden, und die Bücher k o m m u nistischer Autoren wie H o w a r d Fast, L o u i s A d a m i c und Granville Hicks, J a m e s T . Farell fielen nach 1947 generell unter Verbot. Zunächst aber leistet auch die im A u f t r a g des amerikanischen Informationsdienstes herausgegebene Amerikanische Rundschau mit der Vorstellung v o n amerikanischen Autoren wie Carl A u g u s t S a n d b u r g , Walt Whitman, Ernest Hemingway, T h e o d o r e Dreiser, S h e r w o o d Anderson, Sinclair Lewis, J o h n D o s Passos, J o h n Steinbeck, William Faulkner, T h o m a s Wolfe, E . E . C u m m i n g s , Katherine Anne Porter u. a. einen wichtigen Beitrag für das Bekanntwerden amerikanischer Literatur, wobei bei deren Vermittlung schon die Widersprüche der amerikanischen Politik jener J a h r e maßgeblich wirksam werden. Eine wichtige Rolle für die Rezeption amerikanischer Literatur gewinnt unmittelbar nach d e m K r i e g e die Position des amerikanischen Literaturpublizisten Alfred Kazin, der mit seinem 1944 in deutscher Sprache gedruckten B u c h Der amerikanische Roman. Eine Interpretation moderner amerikanischer Prosaliteratur in den westlichen Z o n e n im Rahmen des Reedukation-Programms w i r k s a m wird. K a z i n entwickelt seine Bewertungskriterien für die Romanentwicklung aus der Verarbeitung des amerikanischen L e b e n s durch die Literatur und den Impulsen, die v o n ihr in dieses L e b e n e i n g e g a n g e n sind. E r begründet sein literaturkritisches Verfahren in P o l e m i k 61
mit der „pedantischen Technik" des new critizism und mit den Vorstellungen von Literatur als einer „politischen Waffe", also in Auseinandersetzung mit der sozialistischen Literaturbewegung, zu der er in den dreißiger Jahren selbst gehört hatte. Seinen politischen Ausgangspunkt bildet der Kampf gegen den Faschismus. Die Funktion der gegenüber gesellschaftskritischer Literatur der dreißiger Jahre veränderten Literatur sieht er innerhalb des neuentstandenen amerikanischen Nationalgefühls verankert. Eine Hinwendung zu den Wertvorstellungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sei damit verbunden, wobei die Besinnung auf die demokratischen Tendenzen amerikanischer Geschichte notwendiges Erfordernis einer inneren sozialen Wandlungsfähigkeit sei, denn sie bilde die Voraussetzung, im Kampf gegen den Faschismus bestehen zu können. „Niemals war es so notwendig, keinen der Werte, die unserem Leben einen Sinn geben, zu opfern, niemals war es so notwendig, daß die Menschen sich dem Bösen gewachsen zeigen, das sie bedroht, und nicht seinem Terror nachgeben." 94 Die gesellschaftskritische Literatur der dreißiger Jahre und die Dokumentär- und Reportageliteratur der vierziger Jahre haben innerhalb seines Konzepts die Funktion, „die Legende vom Erfolgreichen" zu korrigieren und ein realistisches Bild vom wirklichen amerikanischen Leben zu vermitteln, eine Voraussetzung für die angestrebte Erneuerung der nationalen Identität. Anderschs Aufsatz Die Dichter Amerikas lehnt sich in der Kürze der Darstellung, in den Gliederungsprinzipien und in der Wertung der Autoren an Kazins Arbeit an. Er hatte dessen Buch offensichtlich als Wegweiser durch die amerikanische Literatur benutzt. Dabei haben seine Aufsätze im amerikanischen Ruf vor allem das Ziel, deutschen Lesern die amerikanische Literatur aus dem amerikanischen Leben heraus zu erklären. Dessen Widersprüche stellt er dar an Richard Wrights Black boy, am lyrischen Werk Robert Frosts, an den Romanen Theodore Dreisers, Sherwood Andersons, Sinclair Lewis', Ernest Hemingways, Thomas Wolfes, Thornton Wilders, John Steinbecks, William Faulkners. Schon hier akzentuiert er „die neuen Dichter Amerikas", die „Dichter der gefährdeten Welt", vor allem Hemingway, auf besondere Weise. Sie scheinen ihm den „präzisen literarischen Ausdruck des Verlorenheitsgefühls" 95 gegeben zu haben, das auch für seine eigene Existenz kennzeichnend ist. Mit dieser Sicht steht Andersch gleich nach seiner Ankunft in Deutschland in einem polemischen Bezug: Es erfolgt die Ablösung der 62
Kazinschen Position durch neue, unverbindliche Vorstellungen, die Literatur wird in keinen nationalen oder sozialen Rahmen mehr gestellt, sie soll kritiklos sein und dem Bedürfnis der Menschen nach unverrückbaren Werten, nach religiöser Hinwendung und Verklärung gerecht werden bzw. vor allem Unterhaltung bieten. Eine solche Position wird durch Adams J. Donald vertreten, der als Literaturmanager viele Jahre hindurch die Literaturbeilage der New York Times redigiert hatte und mit dessen Beitrag Das Buch von Morgen die Amerikanische Kundschau ihr Erscheinen für deutsche Leser einleitet. Er beschreibt ein affirmatives Literaturprogramm an Autoren der gehobenen Unterhaltungsliteratur wie William Saroyan (The Human Comedy, 1943) und setzt sie gegen die Dichter der dreißiger Jahre polemisch ab. Er konstatiert, daß in den Büchern von Lewis, Masters, Hemingway, Sinclair, Dreiser, Dos Passos, Faulkner und Anderson zwar Lebenskraft stecke, „die Vitalität entbehrte aber der aufrichtigen Liebe zum Leben, viel eher könnte man sie einen wilden Angriff auf das Leben nennen" ; sie lehnten es ab, „das Gute zu sehen, das mit dem Bösen vermischt ist" 96 . Für Donald sind die von ihm erwähnten Autoren destruktiv und nihilistisch. Anderschs Bemühungen um amerikanische Literatur, vor allem Hemingway und Steinbeck geraten sofort in diesen Kontext, wobei der Vorwurf des Nihilismus und der Amoralität innerhalb der nachkriegsdeutschen Diskussion aufgenommen und in zweierlei unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen vorgetragen wird. Einmal aus einem Literaturkonzept heraus, das die Literatur in zeitfernen Ewigkeitsvorstellungen als den Anwalt einer allgültigen Wahrheit, als „Trösterin in schwerer Zeit" 97 versteht und den „Dichter jenseits der Zeit" als den ansieht, auf den die „Hungernden warten", der den „Sinn und das Gesetz einer großen Weltordnung" 98 stiftet. Von diesen Sachwaltern ethischer und ästhetischer Ewigkeitswerte, für die in dieser Zeit die Begriffswelt des christlichen Abendlandes zu fungieren begann, wurde eine Polemik mit einen „Realismus der Unmittelbarkeit" und mit Hemingway geführt, den man für die deutschen „Verhältnisse als nicht zukunftsweisend" empfand.99 Andersch hält gegen solche Konzepte daran fest, daß Literatur die unmittelbare Zeiterfahrung der Menschen ausdrücken und den Zusammenbruch der falschen Lebensvorstellungen und Ideale im Krieg nachzeichnen müsse. Und zwar so direkt und schonungslos wie möglich, um gewissermaßen eine geistig-seelische Bestandsaufnahme mitzubewirken. Er räumt dabei einer Literatur, 63
die diese Erfahrung unmittelbar wiedergibt, den Vorzug ein, indem er daran erinnert, daß „der Nationalsozialismus die symbolisch erhöhte, das heißt also: die nicht offen sprechende Literatur, etwa Ernst Jüngers, ertragen konnte, während er die kompromißlosen Realisten vom Schlage Döblins verbieten mußte" 1 0 0 . Der Nihilismus-Vorwurf gegen die Bilder der gefährdeten Welt wird aber auch von den Kräften erhoben, die eine wirkliche revolutionäre Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland im Auge hatten. Hier ging man davon aus, daß Hemingways Auffassung von der „verlorenen Generation" ein Ausdruck des Individualismus und der Entfremdung von der Gesellschaft war und keine Brücke in die Zukunft bilden konnte. „Für die junge deutsche Generation kann also gerade Hemingway nicht zukunftsweisend sein." Die deutsche Jugend muß die Autoren der verlorenen Generation lesen, darf aber nicht bei ihrem Nihilismus stehen bleiben. Sie muß Einblicke in Ursachen von verlorenen Kriegen gewinnen und sich mit den Autoren beschäftigen, - und hier folgt der Verfasser ebenfalls den Darlegungen Kazins - die Hemingways Position überwunden haben und „'durch ihre Beschäftigung mit den großen Zusammenhängen der Gesellschaft und durch ihre Überzeugung, daß niemand heute allein ist, ihre bewußte Abkehr von Hemingway' bezeugt haben". Zu solcher bewußten „Abkehr von Hemingway als einem Vertreter der ichbezogenen verlorenen Generation der Nihilisten muß auch die junge deutsche Generation kommen". Ansonsten entwickelte sich die verlorene Generation der Nihilisten zum „reinen Typ des geistigen Separatisten". Als notwendige Haltung stellt der Autor heraus: „die Hinwendung zu den Zusammenhängen der menschlichen Gesellschaft und damit eine Bejahung von Entwicklung und Sinn." 1 0 1 Andersch nimmt diese beiden Positionen völlig unterschiedslos auf. Das liegt offensichtlich in der auf den ersten Blick ähnlichen Argumentation, daß eine illusionslose Kenntnisnahme der tatsächlichen Situation nicht ausreichend ist. Die Hinwendung zur Unmittelbarkeit der erlebten und erfahrenen Dinge aber bildet in Anderschs Literaturvorstellung einen zentralen Punkt, sie erlaubt ihm eine vom Erlebnis des einzelnen ausgehende Verarbeitung der Kriegserfahrung, ohne daß diese Erfahrung zugleich in neue ideologische Wertungsraster' eingebunden werden müßte. Daher hebt er an Hemingways Methode vor allem hervor, daß dieser „die Wertung in die Darstellung der Dinge [verlegt], er schreibt nicht
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über sie, sondern stellt sie selbst dar", so in der Vorbemerkung zum Abdruck von Hemingways Essay Über das Verhältnis der Amerikaner zu den besiegten Deutschen^2. Den Vorwurf von Nihilismus und Amoralismus interpretiert Andersch als eine im Ergebnis des Zerfalls bürgerlicher Werte entstandene Haltung, die durch und mit dem ersten Weltkrieg eingesetzt hat. An Hemingways Prosa hebt er hervor, daß sie diesen Wertzerfall nicht nur spiegelt, sondern mit ihrer Desillusionierung auch den Versuch unternimmt, dem Individuellen in extremen Entscheidungssituationen Sinn zu verleihen. Diese Entscheidung zur Sinngebung für das individuelle Leben scheint ihm, unter dem frischen Eindruck existentieller Gedanken, die notwendige Haltung im Nachkriegsdeutschland zu sein, die einen gründlichen Neubeginn verbürgt. Allerdings ist Andersch weit davon entfernt, etwa die Nachahmung amerikanischer Dichter zu empfehlen. Er findet bei ihnen das der eigenen Erfahrung entsprechende Weltgefühl und dennoch den Glauben „an den Wert und die Würde des Menschen", wie er im Vorwort zu der von ihm selbst besorgten Übersetzung von Steinbecks Erzählung Tularecitos Herkunft103 schreibt. In diesem Sinne wendet er sich polemisch gegen die Schrift des Berliner Verlegers Walter Kahnert Objektivismus, Gedanken über einen neuen Literaturstil, in der Überlegungen zu einem neuen Literaturstil der Öffentlichkeit unterbreitet wurden. Hemingways Erzählstil fungiert in diesem Konzept als direktes Muster. Die Schrift eröffnete die Reihe Neue Erkenntnisse und Bekenntnisse^, in der kunstprogrammatische und philosophische Beiträge vorgestellt werden sollten. Auch Kahnerts Überlegungen stehen im Umkreis eines „Realismus der Unmittelbarkeit", den er in Weyrauchs Prosaarbeiten verwirklicht sieht. Er geht jedoch, im Unterschied zu den programmatischen Vorstellungen der R«/"-Autoren, weniger von funktionalen Gesichtspunkten innerhalb eines gesellschaftlichen Neubeginns aus, sondern erblickt den Sinn der Literatur in einer „seelischen Bestandsaufnahme". „Es geht nicht darum, [die Menschen] auf irgendeinen Weg zu stoßen, weil er im Nebel enden würde - einfach, weil Entscheidungen zu treffen wären, die von noch nicht bekanntgegebenen Absichten der Militärbehörden abhängen." 105 Aus der Hilflosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Perspektivfragen ergibt sich der von Andersch polemisch abgewiesene Versuch, ein Literaturprogramm von Stilfragen her zu begründen und durch die Übernahme von Stileigentümlichkeiten amerika5
Reinhold, Andersch
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nischer Autoren auf „die ganze Wahrheit über die menschliche Existenz zu kommen" 106 . Dagegen will Andersch mit seinem existentialistisch untermauerten Literaturkonzept auf die individuelle Erfahrungsverarbeitung Einfluß nehmen, deren Intensität für ihn die Voraussetzung notwendigen gesellschaftlichen Wandels ist. Diese Zielstellung ist seinen Vorschlägen zur Rezeption amerikanischer Literatur eingeschrieben. Andersch rückt erst mit seiner großangelegten Analyse (unter dem Titel Amerikanische Anarchisten, 1951) Thornton Wilders Dem Himmel bin ich auserkoren und Ernest Hemingways Haien und Nichthaben von dem Versuch ab, die amerikanischen Vorbilder unmittelbar in den deutschen Kontext einzufunktionieren und dem eigenen Literaturkonzept dienstbar zu machen. Die beiden Bücher analysiert er tiefgreifend im Zusammenhang mit der amerikanischen Gesellschaft der dreißiger und vierziger Jahre und erkennt in der Reaktionsweise der Autoren eine bestimmte weltanschauliche und künstlerische Haltung gegenüber der Wirklichkeit, die wiederum selbst tief von ihr geprägt ist. Andersch beschreibt Hemingway und Wilder als amerikanische Anarchisten, die mittels unterschiedlicher Figurentypen „die Absurdität des in die Krise geschleuderten Amerikas" darstellen, auf die diese Figuren tragisch oder komisch reagieren und so gegen diese Welt revoltieren; bei Wilder im Namen Gottes, bei Hemingway die Revolte eines konservativen Anarchisten im Namen eines romantischen Weltgefühls. „Mit den Mitteln des härtesten Realismus rebelliert er gegen die gesellschaftliche Realität seiner Zeit." 107 Die Beschreibung des künstlerischen und historischen Ranges dieser Bücher erfolgt mit Distanz zu ihren „Lösungsvorschlägen" und ohne den Versuch, aus ihnen direkten Nutzen für die deutsche Literaturentwicklung abzuziehen. Die Rezeption amerikanischer Literatur nach 1945 war in die Auseinandersetzung der Zeit unmittelbar einbezogen und erhielt hier ihre Funktion. Sie verlief trotz des amerikanischen Einflusses doch weitgehend den einheimischen Bedürfnissen entsprechend und ließ sofort die politischen und literarischen Fronten erkennen. Der von der amerikanischen Literaturpolitik gesetzte Rahmen und die Probleme der deutschen Nachkriegssituation klingen an, wenn Andersch im Jahre 1947 den Stand der Aneignung einschätzt: „Die Dichtung des Auslands [wird] allmählich auch in Deutschland zum Gegenstand des Gesprächs. Am stärksten bisher durch die Bühne, die gedruckte Literatur, insbesondere der Roman folgt vorläufig zögernd, 66
hier werfen Copyright und Devisenfragen Dämme auf . . . Schon jetzt wird ein wichtiger Tatbestand sichtbar: daß Deutschland zur geistigen Verarbeitung der neuen amerikanischen Literatur bisher noch nicht gekommen ist." 108 Die Gründe dafür sieht Andersch einerseits in der amerikanischen Lizenzpolitik, die den Deutschen das Gesamtwerk John Steinbecks, Hemingways Erzählungen, Dos Passos' Manhattan Transfer, Caldwells Tobacco Road, die Werke Katherine Anne Porters u. a. noch immer vorenthält, und andererseits in der desolaten Situation Deutschlands nach dem Krieg. Literatur und Politik am Beispiel Thomas Manns Schon in dem Ruf, einer Zeitung für die deutschen Kriegsgefangenen in den USA, gibt es Zeugnisse von Anderschs Beschäftigung mit Thomas Mann. Obwohl nicht alle anzuführenden Aufsätze eindeutig als von Andersch stammend nachgewiesen werden können, ist, da er Leiter der Literaturseite der Zeitung war, die Präsentation Thomas Manns zweifellos auf seinen Einfluß zurückzuführen. In einem kurzen Aufsatz mit den Initialen F. A. gibt es den Hinweis auf den „größten lebenden deutschen Dichter und Humanisten" 109 , dem die Deutschen eine dauerhafte Heimat zu garantieren hätten. In einem mit den Initialen A. A. gezeichneten Aufsatz Deutscher Geist in der Sicht Thomas Manns werden die Grundgedanken von Thomas Manns Vortrag in der Library of Congress Deutschland und die Deutschen referiert. Als bewegend hebt der Schreibende an Thomas Mann die „selbstverständliche Humanität" hervor, die sich aus zwei Gedankenströmen speist: „Liberale Geisteskultur, die um die Problematik der Demokratie ringt, und christliche Humanität, die aus der Pflicht zur Menschenliebe und zur Verantwortung vor Gott erwächst." 110 Auch hier wird die Beschäftigung mit Thomas Manns Werk als notwendige Bedingung für die Entwicklung einer wirklichen Demokratie gesehen. Die Redaktion des Münchener Ruf hatte 1946 direkten Kontakt zu Thomas Mann aufgenommen. Davon zeugt eine Dankschrift Thomas Manns für die Zusendung der zwei ersten Nummern der Zeitschrift. Er schreibt, „daß die Zeitschrift mit derselben Frische, Tapferkeit und Intelligenz, mit demselben offenen Sinn für die Weltlage und für die Not sowohl wie die Hoffnung Deutschlands geführt wird, wie schon als Lagerzeitung in Amerika. Man merkt wohl, daß diese jungen Leute Außenluft geatmet haben und daß sie 5*
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willens sind, ihre geistigen Erfahrungen nutzbar zu machen." 111 Zuvor hatte sich schon in einem Artikel Walter Kolbenhoffs ein Bedauern darüber gefunden, daß Thomas Mann nicht nach Deutschland zurückkehren würde. Parallel dazu verliefen die unerfreulichen Debatten um die sogenannte innere Emigration 112 , in denen Frank Thieß, Wilhelm Hausenstein, Walter von Molo, Otto Flake u. a. das Wort ergriffen hatten, um den emigrierten Schriftstellern das Recht streitig zu machen, im Namen Deutschlands zu sprechen. Anlaß war die von Molo ausgesprochene und von Thomas Mann abschlägig beantwortete Einladung, nach Deutschland zurückzukehren. Die Vorwürfe, die daraufhin von einigen in Deutschland verbliebenen Schriftstellern erhoben wurden und auf eine Rechtfertigung ihrer politischen Haltung hinausliefen, waren Ausdruck des geistigen Klimas in den Westzonen: Eine entschiedene Abrechnung mit dem faschistischen Ungeist ließ auf sich warten. Andersch befaßt sich mit diesen Kontroversen in seiner Schrift Deutsche Literatur in der Entscheidung, in der Thomas Mann einen gewichtigen Platz im Kapitel Deutsche Literatur im Widerstand einnimmt. Andersch geht hier auf die Problematik des Exils ein und betont, daß die Entscheidung zur Emigration eine „Entscheidung zur Freiheit - nicht etwa zur Flucht bedeutete" ,13 . Er geht auf den Vorwurf der Isolation ein, der von den Vertretern der inneren Emigration erhoben wurde, räumt ein, daß sie eine Gefahr war, betont aber, daß die innere Beziehung zum Schicksal des deutschen Volkes letztlich maßgebend ist. An Manns Werk sei sie vielfältig nachzuweisen, an jener „säkulären Schöpfung eines Schwanengesanges des bürgerlichen Zeitalters, die er zauberhaft mit allen Untertönen seines Wissens um die künftige soziale und religiöse Erneuerung mischt, der er selbst nicht mehr angehört . . . In Wirklichkeit ist er niemals fortgewesen, wie schon seine leidenschaftliche publizistische Beteiligung an den Zeitfragen beweist."11,4 Sich von den unberechtigten Vorwürfen gegenüber Thomas Mann abgrenzend und gleichzeitig dessen ressentimentgeladene Stellungnahme neutralisierend, fährt Andersch fort: „Nein, die Heimkehr der Emigration ist kein geografisches Problem, sondern ein nur schwer zu beschreibender innerer Vorgang des Wieder-Anteilnehmens, der Verwandlung des streitenden Ressentiments, der leidenden Enttäuschung in eine Art von Objektivierung der Nation gegenüber." 115 Anderschs großem Essay von 1950, Thomas Mann als Politiker, ist die bereits veränderte geschichtliche Konstellation abzulesen. Der 68
Essay war als Einleitung für eine Ausgabe mit politischen Essays von Thomas Mann gedacht, die der Rowohlt-Verlag geplant hatte.116 Die Erfahrungen des Umgangs mit Thomas Mann im Osten und im Westen Deutschlands wurden hier verarbeitet. Dabei ist der Aufsatz in der Art und Weise, wie Thomas Mann für „den Geist des Westens" in Anspruch genommen wird, ein Zeugnis für die bereits vollzogene Auseinanderentwicklung vom östlichen und westlichen Teil Deutschlands und in der polemischen Konfrontation zum Osten auch durchaus ein Zeugnis für die ideologische Atmosphäre des kalten Krieges und dessen Einwirkungen, die selbst bei linken Intellektuellen wie Andersch Spuren hinterlassen hatten. Andersch nimmt Thomas Mann für „den Geist des Westens" in Anspruch, den er als Synonym für Demokratie und Humanismus faßt. Eine Konstruktion, mit der sich Werner Steinberg in seiner Rezension der ersten Nummer von Texte und Zeichen, in der der Aufsatz Thomas Mann als Politiker 1955 unter dem Titel mit den Augen des Westens erstmalig öffentlich wird, kritisch auseinandersetzt. Er weist darauf hin, daß zum „Westen" eben „leider auch die Augen Syngman Rhees oder Konrad Adenauers gehören" 117 . Andersch befaßt sich in den siebziger Jahren mit dieser Konstruktion sehr selbstkritisch, indem er die Einäugigkeit dieses Geistes als ein Produkt des kalten Krieges charakterisiert.118 Auch seinen Thomas-Mann-Aufsatz sah er aus späterer Sicht kritisch und kündigte 1979 in einer öffentlichen Diskussion zur Literatur der Nachkriegszeit „die Notwendigkeit [an], ihn öffentlich und in aller Form widerrufen zu müssen. Eine der wichtigsten Aufgaben, die ich noch in diesem Leben vor mir habe." 119 Diese Zeit blieb ihm nicht mehr. In dem hier vorliegenden Zusammenhang ist der Aufsatz als ein historisches Dokument zu nehmen, das wie manches andere erkennen läßt, daß sich selbst aufgeklärte kritische Geister der ideologischen Atmosphäre des kalten Krieges nicht völlig zu entziehen vermochten. Den Ausgangspunkt des Essays bildet die skandalöse Behandlung Thomas Manns durch den Westen, wo „sich die bourgeoise Restauration im Bündnis mit dem nationalistischen Ressentiment gegen Thomas Mann wendet". „Dem wahrhaft staunenden Auge bietet sich das absonderliche Schauspiel, daß der deutsche Westen seinen bedeutendsten Künstler völlig kampflos der um ihn werbenden Elite des Stalinismus überläßt." 120 An Thomas Mann beschreibt Andersch das positive Verhältnis eines Künstlers zur Politik. Das Gewicht dieses politischen Beitrags 69
sieht Andersch darin, daß einmal die für Deutschland übliche Trennung der Sphären von Literatur und Politik unterlaufen wird und zum anderen das Bild des deutschen Schriftstellers als Politiker korrigiert würde. Er zeige sich als ein „aufgestörtes und ratloses Geschöpf, das man dazu mißbraucht, den oder jenen pazifistischen oder zum Soldatentum auffordernden Aufruf zu unterzeichnen, worauf es erschöpft, zugleich eitel und leicht angewidert . . . wieder in die Viskosität seiner dichterischen Existenz zurücksinkt" m . Dieses Bild wird durch Manns Aktivität im Exil revidiert, wo er eine direkte politische Aufgabe, die demokratische Umerziehung der Deutschen und die Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie, übernommen hat. Das konnte er nur, denn er „ist vorzüglich unterrichtet, er kann mitreden, und er redet mit". Diese wirkliche Kompetenz in politisch-öffentlichen Angelegenheiten gilt Andersch als wichtige Voraussetzung politischen Mitspracherechts des Künstlers. Eine so verstandene politische Verantwortung sieht er im engen Zusammenhang zum Realismus des Mannschen Werkes und im weltanschaulichen und soziologischen Standort des Künstlers, den er innerhalb „der internationalen sozialistischen Bewegung" ansiedelt. Inhaltlich sei dieser Standort von einem „sozialen Humanismus" bestimmt, der sich „rasch zu einer entschieden sozialistischen Kritik an der kapitalistischen Verfassung des Westens" 122 entwickelte und dem sozialen Experiment in der Sowjetunion positiv gegenüberstehe. Andersch identifiziert sich mit Thomas Manns Grunderkenntnis vom Antibolschewismus als Grundtorheit unserer Epoche und weist auf den inneren Zusammenhang von Demokratie und Kommunismus hin, der aus dem Glauben an soziale Gerechtigkeit und Brüderlichkeit geboren wurde. Er führt gegen die landläufige Totalitarismus-Doktrin die besten „Köpfe des Westens" ins Feld (Shaw, Rüssel, Schweitzer, Picasso, Eluard u. a.), verweist aber die praktische Politik in der Sowjetunion auf das „andere Ufer!". Thomas Manns Zukunftsvorstellungen wertet er im Zusammenhang mit dem Experiment des New Deal. Andersch beschreibt diese Vorstellungen als passe, apostrophiert aber, indem er Thomas Manns Zukunftshoffnungen charakterisiert, noch einmal die eigene Utopie: „Ein die Welt erfüllender 'New Deal' - die Synthese von Freiheit und Sozialismus in menschlicher Relation war seine Hoffnung. Mit kritisch-nüchternen, mit unruhevoll-besorgten, mit streitbar-begeisterten Augen, mit den Augen des Westens, verfolgt er den Pendelschlag der Weltenuhr." 1 2 3 70
Diese Zukunftsvorstellungen stehen zur Welt der realen Klassenauseinandersetzungen in einem widerspruchsvollen Verhältnis. „Die Substanz des Friedens aus der Lösung der Gegensätze zu fällen" ist nur innerhalb dieser realen geschichtlichen Kämpfe möglich, zu denen sich Schriftsteller in ein bestimmtes Verhältnis setzen, auch dann, wenn sie, wie Andersch an Thomas Mann beschreibt, „um der reinen Demokratie willen . . . den Stand zwischen den Linien, den Posten im Niemandsland" beziehen. „Die Position zwischen den beiden großen Lagern ist prekär, weil sie zwar von einigen aus Mut aufgesucht wird, von vielen, allzuvielen aber aus Opportunismus." 124
„Die Kirschen der Freiheit" — Werk und Wirkung Im August 1950 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Fortsetzungen die Erzählung Flucht in Etrurien, die sich als eine Vorform des Erlebnisberichts Die Kirschen der Freiheit darstellt. Alfred Andersch war bis dahin als Erzähler noch wenig bekannt. Nach seinem Beitrag Die Treue für die von Wolfgang Weyrauch herausgegebene Anthologie Tausend Gramm und nach Reportagen im Ruf hat ihn der Leser vor allem als Essayisten, Publizisten und Kritiker kennengelernt. In der Erzählung stellt Andersch bereits den inhaltlichen Kern seines späteren Erlebnisberichts vor: den Entschluß und die Durchführung einer Desertion aus der faschistischen Wehrmacht im Sommer 1944 an der italienischen Front. Lange Dialoge bahnen den Konflikt zwischen drei Männern an. Einer der drei Männer trägt sich mit dem Gedanken, in Gefangenschaft zu gehen, er ringt um einen jungen Mann, den er mitnehmen will, während der dritte sich entschließt, bei der faschistischen Truppe zu bleiben. Erzählt wird aus der Sicht Werner Rotts, einer frühen Form von Anderschs autobiografischen Erlebnisfiguren. Den Entschluß und die Fahnenflucht gibt der Autor, obwohl figurengebunden erzählt, in einer objektivierten Erzählform wieder, die durch die Dialogpartien, durch die Konfliktkonstellation zwischen den Soldaten und durch die Beschreibung der unmittelbaren Handlung zustande kommt. Vorund Rückgriffe finden kaum statt, Reflexionen beziehen sich nur auf die unmittelbare Handlung. Der Text ist in sechs Abschnitte gegliedert und umfaßt etwa 75 Seiten. Den gleichen Umfang nehmen auch der zweite und der dritte Teil von den Kirschen der Freiheit, 71
„Die Fahnenflucht" und „Die Wildnis", ein, die Abschnitte, die die Desertion schildern und das Zentrum des Erlebnisberichts bilden. Zudem sind viele Textteile, Beschreibungen von Landschaften, Stimmungen und unmittelbare Handlungsvorgänge mit denen des Erlebnisberichtes identisch. Die große Übereinstimmung zwischen beiden Prosastücken läßt allerdings einen wesentlichen Punkt nicht übersehen : Der Erzählaspekt hat sich von der Er-Perspektive Werner Rotts in der Erzählung auf die unverhüllte Ich-Perspektive im Bericht verlagert. Damit sind objektivierende Darstellungsmöglichkeiten geringer geworden, die Figuren und die Handlungsvorgänge werden ausdrücklicher auf die Perspektive des erlebenden und erzählenden Ichs bezogen. Die Vorgänge um die Desertion aus der faschistischen Wehrmacht sind nun in den Bericht über Anderschs bisheriges Leben eingegliedert, den der Autor aus der unverhüllten Ich-Sicht gibt: Kindheit und Jugend in München, im Elternhaus eines deutschnationalen Offiziers und Ludendorff-Anhängers, Gymnasium und Buchhändlerlehre, Arbeit im Kommunistischen Jugendverband, 1933 einige Monate KZ-Haft, Trennung von den Kommunisten während der Jahre des Faschismus, Krieg, Desertion. Der Ich-Bericht enthält auch die Interpretation dieses Weges, und der ist streng nach bestimmten Gesichtspunkten gegliedert. In drei Abschnitten: „Der unsichtbare Kurs", „Die Fahnenflucht" und „Die Wildnis" schildert Andersch wie das Individuum im steten Widerstreit von Bindung und Flucht, von Entscheidung und Versagen, von Schicksal und Freiheit zu sich selbst findet. Bereits hier greift er nach einem Grundmotiv, das, stets abgewandelt und geschichtlich konkretisiert, sein gesamtes künstlerisches Schaffen durchziehen wird. Andersch hat seinem Erlebnisbericht als programmatisches Motto die Worte André Gides vorangestellt: „Ich baue nur noch auf die Deserteure." Hierin ist das Grundmotiv seines Berichts zusammengefaßt. Er interpretiert seine Desertion aus der faschistischen Wehrmacht als einen existentialistisch verstandenen Akt der Freiheit, als eine geistige Entscheidung zur Unabhängigkeit. Diese Sicht und die erfolgte Absage an die kommunistische Partei haben marxistische Kritiker 125 zum Gegenstand einer weltanschaulichen Polemik gemacht, die ihre Berechtigung hat. Für die Einordnung und Wertung nicht nur dieses Werkes von Andersch scheint es mir einmal notwendig, den Blick auf die konkreten geschichtlichen Zusammenhänge zu richten. Zum anderen kann nicht übersehen werden, daß die 72
Zugehörigkeit zur kommunistischen Bewegung nur eine kurze biografische Episode des jungen Andersch war, ein Schritt der Lösung aus einem deutschnationalen Elternhaus. Im Unterschied zu anderen bürgerlichen Künstlern verarbeitet er diese Erfahrung bewußt und kommt sein Leben lang auf sie zurück. In der Art und Weise, wie er sie in den Kirschen der Freiheit interpretiert, ist allerdings der Preis für die Niederlage der Arbeiterbewegung von 1933 und für die unter den Bedingungen des kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands erfolgte Isolation von den kommunistischen Kräften eingeschrieben. Mit der Struktur seines Berichts, der Veränderung des Erzählaspekts von einer objektivierten Darstellungsform zum bekenntnishaften Ich-Bericht, die zwischen den Jahren 1950 bis 1951/52 erfolgte, zielt Andersch bewußt auf zeitgeschichtliche Vorgänge, kalkuliert bewußt die Wirkung ein, die dann auch in Form einer überraschend großen öffentlichen Resonanz eintraf. Andersch hatte, 38jährig im Jahre dieses eigentlichen literarischen Debüts, genügend politische Erfahrung in der kurzen Geschichte der Bundesrepublik gesammelt, um zu wissen, worauf er sich einließ. Legt man sich nun die Frage vor, welche wirkungsstrategischen Absichten der Autor verfolgte, so sieht man sich auf die Notwendigkeit verwiesen, die kritische Aufnahme des Berichts aus dem Jahre 1952 auf die aktuelle gesellschaftliche Situation zu beziehen. Die ca. 70 höchst unterschiedlichen Kritiken waren sich zumindest in einer Sache einig: sie bescheinigten dem Buch durchgehend eine ungeheure politische Explosivkraft. Heinrich Boll, der gleich zwei Rezensionen - für die Jugendzeitschrift des DGB Aufwärts und für die Wochenzeitung des DGB Welt der Arbeit - verfaßte, nannte das Buch einen „Trompetenstoß in schwüle Stille" 126 . Von anderen wurde es als „eine geladene Pistole" empfunden, als „eine herausfordernde Tat für retrospektive Falschmünzer"127. Konservative Kritiker werteten es als „aufreizend unzeitgemäß" 128, als „eine geballte Ladung, die er [Andersch] gerade zu dem Zeitpunkt hochgehen läßt, in dem die Restaurierung des deutschen Soldatentums sich anschickt, Wirklichkeit zu werden" 129 . Hans Egon Holthusen, ein vehementer Kritiker, spricht die Zielrichtung des Buches klar aus: „. . . seine Veröffentlichung in einem höchst absichtsvoll gewählten Moment stellt einen politischen Vorstoß mit literarischen Mitteln dar: es geht gegen den deutschen Wehrbeitrag." 130 Dieser höchst absichtsvoll gewählte historische Moment war durch die nunmehr in aller Öffentlichkeit betriebenen Pläne zur Remili73
tarisierung der Bundesrepublik gekennzeichnet. Geheimabsprachen zwischen den westlichen Alliierten und dem Adenauer-Kabinett gingen bis in die Jahre 1946—47 zurück. Mit Beginn der fünfziger Jahre traten die Bemühungen um Remilitarisierung in ein neues Stadium. Besonders seit Mitte des Jahres 1950, mit dem Beginn der amerikanischen Aggression in Korea, sollte die Öffentlichkeit langsam auf eine Wiederaufrüstung vorbereitet werden. So bietet Adenauer am 17. August, wiederholt am 29. August 1950, den Westmächten ein Kontingent deutscher Soldaten für den KoreaKrieg an. Diese Mitteilung findet sich genau zu der Zeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt, in der auch Anderschs Erzählung Flucht in Etrurien erschienen war. Danach intensiviert Adenauer die Bemühungen um eine westdeutsche Wiederaufrüstung. Im Oktober 1950 wird das Amt Blank gegründet, die Vorform des späteren Verteidigungsministeriums, nachdem bereits im September die New Yorker Außenministerkonferenz den westdeutschen „Vorschlag" eines militärischen Beitrags akzeptierte und den Beschluß faßte, „daß die (West)Deutschen in die Lage versetzt werden sollen, einen Beitrag zum Aufbau der Verteidigung Westeuropas zu leisten" 131. Im Oktober darauf arbeitet ein Gremium deutscher Militaristen eine Denkschrift %ur Wehrpolitik aus, und im Oktober 1951 wird bereits von westdeutscher Seite der Generalvertrag unterzeichnet. Schon an der Ausarbeitung der Denkschrift waren ehemalige Generäle der faschistischen Wehrmacht beteiligt, die vom Nürnberger Gerichtshof als Kriegsverbrecher verurteilt und zwischen 1949 und 1951 von den Westmächten freigelassen worden waren. Diese Rehabilitierung der Nazi-Generalität ging mit der schrittweisen Remilitarisierung Hand in Hand. Es wurde üblich, zwischen den Offizieren und Soldaten der Wehrmacht einerseits und Hitler und seinen Helfershelfern andererseits zu unterscheiden. Es begann eine Ehrenrettung des faschistischen Militärs. Sie wurde durch den amerikanischen General Eisenhower eingeleitet. „Was mich betrifft", erklärt er, „so bin ich nicht der Ansicht, daß der deutsche Soldat als solcher seine Ehre verloren hätte." 132 Dies war der Auftakt zu einem großangelegten psychologischen und moralischen Legitimationsversuch der faschistischen Generalität, bei dem die „Literatur der Kesselrings" eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Franz Fühmann, der sich als einer der ersten in einem Pamphlet gegen diese Literatur und ihre kriegsverherrlichenden Tendenzen wandte, stellte heraus, in welcher Weise gerade solche Begriffe wie Eidespflicht, 74
Kameradschaft und Tapferkeit dazu mißbraucht wurden, jedes Verbrechen zu decken und positive Qualitäten zu verdrehen. Dieses ganze Umfeld muß man sich vergegenwärtigen, um die ungeheure Provokation nachvollziehen zu können, die Anderschs Buch Die Kirschen der Freiheit darstellte. Die Veränderung der Grundrichtung in der ästhetischen Anlage, die Andersch von dem Abdruck der Erzählung bis zur Fertigstellung seines Berichts vollzogen hatte, hing aufs engste mit diesen Vorgängen zusammen, die gerade eben mit dem Ausbruch des Koreakrieges eine neue Dimension annahmen und schlagartig die Öffentlichkeit alarmierten. Mit der ästhetischen Struktur veränderte er auch die Wirkungsrichtung: War die Erzählung als Diskussionsbeitrag zu der Frage angelegt, ob man Deutschland verrät, wenn man desertiert, so wird im Bericht nicht erwogen oder diskutiert, sondern es wird das uneingeschränkte Bekenntnis zum positiven Sinn einer Fahnenflucht unterbreitet. Dieses Bekenntnis schließt die Gewißheit ein, daß „die Entscheidungsschlacht mit den politischen und literarischen Henkern von gestern heute geschlagen werden [muß], da sie in der Agonie von 1945 nicht geschlagen werden konnte. Ehe sie nicht stattgefunden hat, kann nicht von Freiheit geredet werden. Meine Freunde und ich werden nicht mit den Bonins und Seebohms, mit den Salomons und Dwingers zusammen um die 'Freiheit' kämpfen, denn eine Freiheit, in der diese das Wort führen, ist keine Freiheit, sondern Fasrhismus." 433 Mit der antimilitaristischen Tendenz von Kirschen der Freiheit beginnt für Andersch die Arbeit an einem Lebensthema, das er in den siebziger Jahren als seinen Beitrag zu einer Welt des Friedens kennzeichnen wird. Dieser Beitrag ist darauf gerichtet, die Anonymität kriegerischer Bedrohung durch die Offenlegung ihrer ideologischen Triebkräfte und Verschleierungen aufzulösen und die zum Kriege treibenden Kräfte öffentlich dingfest zu machen. In einem Gedenkblatt zum ersten Weltkrieg schreibt er 1954 über die Lehren dieses Krieges, nachdem er die im Ökonomischen und Politischen fußenden Ursachen seines Entstehens analysiert hat: „In der Zwischenzeit, in der wir leben, muß man die Lehre des 1. August 1914 bedenken. Es gab damals Verantwortliche. Es gibt sie auch heute. Sollte ein neuer Krieg kommen, so wird er gemacht worden sein. Man kann ihn nicht einfach als Schicksal hinnehmen. So billig ist das Schicksal nicht zu haben." 134 Der subjektive Bekenntnischarakter des Buches wurde von der 75
Kritik als äußerst mutig registriert, denn 1945 wäre es eines unter zumindest mehreren gewesen, während es 1952 auf eine grundsätzlich veränderte Situation traf. Direkte Reflexionen über die restaurative Gegenwart sind nur sparsam eingestreut, so z. B. wenn Speidel als der „Inaugurator jener von freiheitlichen Reden und die Freiheit verachtenden Handlungen bereits wie von einer Sage umwitterten deutschen Division des neuen historischen Augenblicks" 135 apostrophiert wird. Die Komposition des Buches verrät aber, daß der Autor von den aktuellen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung samt ihren ideologischen Begleiterscheinungen polemisch angeregt ist. Dies wird besonders am zweiten Kapitel, „Fahnenflucht", ablesbar, in dem Andersch jeweils eine für das militaristische Gefüge unentbehrliche Kategorie thematisiert: „Die Kameraden", „Die Angst", „Der Eid". Unter diesen Gesichtspunkten begründet er seine Tat unter jeweils einem anderen Aspekt: In „Angst" zeichnet er die psychische Konstellation nach, neben der Angst und dem Mut die Feigheit, die ihn zu seiner Tat befähigt hat. In dem mit „Die Kameraden" überschriebenen Abschnitt stellt er dar, daß sich für ihn aus der Zugehörigkeit zu einer militärischen Einheit keinerlei Verpflichtungen ergeben konnten, und unter der Überschrift „Der Eid" enthüllt er den verbrecherischen Charakter des faschistischen Eids und liefert damit eine politische Begründung seines Schrittes zur Fahnenflucht. Gegen den Mythos von der Kameradschaft stellt Andersch die Erfahrung, daß es sich bei der faschistischen Wehrmacht um einen willenlosen, zusammengewürfelten Haufen handelte und bei den meisten nur der Drang maßgeblich war, beim „großen Haufen zu bleiben". Er setzt gegen die sogenannte Kameradschaft der militärischen Truppe die Treue seiner ehemaligen Genossen und vor allem das Recht auf die eigene Entscheidung. Gerade innerhalb dieses Komplexes fallen die Veränderungen auf, die gegenüber der Erzählung vollzogen worden sind. Ging es in ihr darum, auch einige der Kameraden für die Flucht zu gewinnen, gab es außer dem dumpfen Mißtrauen auch Solidarität, so werden in den Kirschen der Freiheit alle diese Momente der zentralen Problematik des Buches, dem Herausstellen der individuellen Entscheidungsfähigkeit, untergeordnet. Gegen den Mißbrauch von Opferbereitschaft und Mut betont Andersch die Angst vor dem Tode als die „Ehre des Deserteurs", der den verbrecherischen Charakter des Krieges durchschaut hat und der diesen Krieg niemals als seinen 76
Krieg betrachtet hatte. Heinrich Boll nahm dieses mutige antifaschistische Bekenntnis als Aufforderung an diejenigen, die in den letzten Kriegswochen gegen den Durchhaltewahnsinn ihrer Offiziere freiwillig in Gefangenschaft gegangen waren. Er forderte ihr öffentliches Bekennen gegen die Verklärung und die Lüge, wie sie in den Memoiren der Hitlergeneräle, in den Büchern ehemaliger NaziSchriftsteller und in Filmen wie Rommel, der Wüstenfuchs anzutreffen sind. Dort spräche man von „strategischen Experimenten", ohne daß „ein einziges Soldatengrab" gezeigt werde.136 Den Mythos von der Eidespflicht enthüllt Andersch als einen Trick der Herrschenden, denn der Eid wurde unter Zwang geleistet und kann daher niemals die Grundlage einer Gebundenheit sein. Er setzt dagegen das Bekenntnis zur individuellen Verantwortung und zur Entscheidungsfähigkeit, die von ihm als ein Grundrecht des einzelnen angesehen werden. Er wehrt polemisch den Versuch ab, die Kriegsverbrechen der faschistischen Offiziere, sinnloses Durchhalten und Verheizen von Soldaten, mit dem Hinweis auf die Eidespflicht zu rechtfertigen, ja die Eidespflicht zur absoluten Tugend zu verklären. So heißt es z. B. in Albert Kesselrings 137 Soldat bis zum jüngsten Tag (1951): „Die Luftwaffenangehörigen wurden wie alle anderen Wehrmachtsangehörigen auf den Führer vereidigt; sie hielten sich vorbehaltlos an den Eid gebunden - was hätte ein Eid sonst für einen Sinn? - und hielten ihn." 138 In einer Fußnote betont Kesselring die Bedeutung des Eids vor allem für den einfachen Soldaten. „Der Fahneneid soll dann gleichsam der Stern sein, der den Eidträger die Richtung halten läßt." 139 Andersch führt in seinem Buch auf zweifache Weise eine solche Position ad absurdum. Er rekonstruiert die aussichtslose strategische Situation der Luftwaffen-Feld-Division unter dem Generalfeldmarschall Kesselring an der italienischen Front, der er als Melder zugeteilt war und die von den Amerikanern einfach „kassiert worden ist". Andersch schreibt: „Es ist dem Generalfeldmarschall Kesselring daraus kein Vorwurf zu machen. Im Gegenteil: seine Fehlentscheidung hat den meisten Soldaten der beiden Divisionen das Leben gerettet. Doch muß ihm vorgeworfen werden, daß er sich angesichts der Lage an der Südfront nicht in das Stabsquartier von General Mark Clark begab und um Verhandlungen zur Einstellung des Kampfes nachsuchte." 14 " Außerdem entlarvt Andersch die Behauptung, daß der Eid besonders für die einfachen Soldaten maßgeblich sei, als Zweckpropa77
ganda, die das Ziel verfolgt, den einfachen Soldaten zum willfährigen Vollstrecker jedes sinnlosen Befehls zu degradieren. Dagegen stellt er zunächst einmal die Erfahrung, daß unter den Mannschaften die Frage des Eides niemals eine Rolle gespielt hat, da er ja auch nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung, sondern eines Zwanges war. Aus dieser Tatsache leitet Andersch das Recht ab, diesen Eid als gegenstandslos zu betrachten. In der öffentlichen Kritik des Jahres 1952 hat gerade diese Seite des Buches, die Darlegungen über Kameradschaft, Angst und Eid, die heftigsten Kontroversen ausgelöst. Sie ließen die politischen Fronten hervortreten und wurden von Seiten der Befürworter der erneuten Aufrüstung im Tone der rüdesten Beschimpfung und Denunziation geführt. Von den Ideologen des Konservatismus wie Armin Möhler in der Zeitschrift der Ranke-Gesellschaft, Das historisch-politische Buch, von Hans Egon Holthusen, von Walter Warnach und Hubert Becher in klerikal beeinflußten Blättern wird im Namen einer die Zeiten überdauernden Sittlichkeit argumentiert, die als ungeschriebenes, ins „Herz jedes Mannes geschriebenes Gesetz" existiere, das ihn daran hindere, „eine Truppe, die unter einem Kampfauftrag steht, zu verlassen" und die er, „mag er sich weder durch den Eid noch durch die vaterländische Pflicht gebunden fühlen - nicht verläßt, ohne daß ihn die Schatten der Gefallenen bis an sein Lebensende heimsuchen" 141 . In anderen Stellungnahmen gibt es die versteckte Drohung, der sich die Denunziation beigesellt: „Der Tatbestand, den das Buch beschreibt, ist eindeutig: Fahnenflucht - seitdem es keine deutschen Militärgerichte mehr gibt, eine private Angelegenheit . . ." 142 In der Deutschen Soldatenzeitung, dem eben erst geborenen Kind der Remilitarisierung, wird dieser Ton aufgenommen, wenn es heißt: „Die Gesellschaft, jeder, der jemals Kameraden hatte, ob in der Schule, in seinem Betrieb oder an der Front, das ist doch angesichts dieser kleinen Wühlmaus ganz einerlei kann nichts besseres tun, als die Tür hinter sich zuschlagen und dieses asoziale Gesindel, Denunzianten und Emigranten draußen lassen." 143 Daß sich die Kritik vorrangig auf die im Abschnitt „Fahnenflucht" aufgeworfene Problematik konzentriert, resultierte zum einen daraus, daß hier am ausdrücklichsten auf den aktuellen geschichtlichen Kontext gezielt wurde; das rückhaltlose Bekenntnis zur Desertion empfand man als eine politische Provokation. Zum anderen ergibt sich diese Tatsache aber auch daraus, daß Andersch 78
seinen Lebensbericht auf dieses Ereignis und auf dessen philosophische Erörterung hin geschrieben und ihm innerhalb der ästhetisch-strukturellen Anlage des Buches eine Schlüsselstellung eingeräumt hat. Der Erlebnisbericht als philosophisches Traktat Die unmittelbare Erlebnisschicht des Berichts wird von einer durchgehenden, auf die Erörterung philosophischer Problematik gerichteten Ebene überhöht. Diese Problematik kreist vor allem um das Freiheitsproblem, um die Beziehung zwischen Schicksal—Bindung— Freiheit, die Andersch in einer bestimmten Weise beleuchtet und der Wertung seines Lebensweges zugrunde legt. Er interpretiert seine Desertion als einen Augenblick der Freiheit, als einen Moment, in dem „man sich aus dem Schicksal herausfallen läßt" m . In „jenem winzigen Bruchteil einer Sekunde, welcher der Sekunde der Entscheidung vorausgeht, verwirklicht sich die Möglichkeit der absoluten Freiheit, die der Mensch besitzt. Nicht im Moment der Tat selbst ist der Mensch frei, denn indem er sie vollzieht, stellt er die alte Spannung wieder her, in deren Strom seine Natur kreist. Aufgehoben wird sie nur in dem einen flüchtigen Atemhauch zwischen Denken und Vollzug." 1 4 5 Die Freiheit verwirklicht sich hier in dem Augenblick zwischen Gefangenschaft und Gefangenschaft. „Aus dem Nu der Freiheit - ich wiederhole: niemals kann Freiheit in unserem Leben länger dauern als ein paar Atemzüge lang, aber für sie leben wir - , aus ihm allein gewinnen wir die Härte des Bewußtseins, die sich gegen das Schicksal wendet und neues Schicksal setzt." 146 In seinem Verständnis verwirklicht Andersch mit der Entscheidung, sich in amerikanische Gefangenschaft zu begeben, eine Willensfreiheit, in der er s e i n e Möglichkeit gewählt hat. Mit der Interpretation dieser Entscheidung adaptiert er eine Vorstellung von menschlicher Willensfreiheit, die besagt, daß schon die Chance, sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden zu können, die Verwirklichung dieser Freiheit sei. Er stellt diese Sicht polemisch gegen eine „deterministische Philosophie", die den „Gedanken der Willensfreiheit ablehnte, die Freiheit des menschlichen Denkens, die Fähigkeit des Menschen, zu wählen" 147 . Als eine solche „deterministische Philosophie" sieht er den Marxismus an, dem er vorwirft, die Macht der objektiven Bedingungen gegenüber dieser Willensfreiheit zu überschätzen. Damit begründet er auch seine Kritik an der Haltung der Kommunisten bei der Machtergreifung des Faschismus im Jahre 79
1933. Ihnen wirft er vor, entscheidende Augenblicke geschichtlichen Handelns versäumt zu haben. Andersch stellt hier schon, sehr früh, eine Frage, die ihn, ebenso wie auch Peter Weiss, vor allem in den siebziger Jahren, in der Rückschau auf die Jahre des Faschismus, wieder beschäftigen wird: Gab es Alternativen innerhalb des geschichtlichen Prozesses, und wie hätten sie aussehen können? Der entscheidende Unterschied zwischen Weiss' und Anderschs Sicht besteht allerdings darin, daß Andersch nicht die Analyse der geschichtlichen Konstellation einbezieht, nicht den komplizierten Zusammenhang zwischen den Handlungsmöglichkeiten des einzelnen, der Klasse und der Partei aufschlüsselt, sondern das Individuum aus diesem Zusammenhang herausgelöst und von daher nach dessen Handlungsmöglichkeiten fragt. Es ist der Ausgangspunkt des Existentialismus, den Andersch einnimmt, weil er seiner Isolierung, seiner in der Trennung von der Klasse und ihrer Partei gemachten Lebens- und Welterfahrung während des Faschismus entspricht. Im Rahmen seiner Freiheitsauffassung weist der Existentialismus dem einzelnen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu, die unter bestimmten Umständen historisches Gewicht erhalten können. Die philosophische Deutung der eigenen Lebenserfahrung, die Andersch hier unter existentialistischen Vorzeichen vornimmt, ebnet allerdings schon in den Kirschen der Freiheit den Reichtum der wirklichen Erfahrung ein, den der Erzähler Andersch sinnlich anschaubar macht. Denn schon der Entschluß, die Waffe wegzuwerfen und sich in die amerikanische Gefangenschaft zu begeben, war nicht die Verwirklichung einer absolut gesetzten menschlichen Willensfreiheit, sondern er war unter den gegebenen Umständen und subjektiven Voraussetzungen notwendig und richtig. Er steht in dem Sinne der marxistischen Auffassung von der menschlichen Willensfreiheit näher, als er selbst ahnt. Denn der Marxismus leugnet keineswegs diese Willensfreiheit, nur er bettet sie in den Kontext der gesamten Freiheitsproblematik ein, der die ökonomischen, politischen und ideologischen Aspekte umfaßt, und betrachtet sie nicht als Vollzug eines abstrakt verstandenen Willensaktes. Das Ich wählt bei Andersch nicht frei von äußeren Zwängen, sondern entscheidet mit Sachkenntnis gemäß der Kriegskonstellation, dem Charakter des Krieges und der unmittelbaren Lage. Der individuelle Willensakt wird zu einer historisch richtigen Entscheidung. Die Fähigkeit des Individuums zum sachkundigen Handeln begründet Andersch selbst innerhalb seines Berichts, wenn er auf 80
General Speidels Gebot, daß nur der oberste militärische Führer zu Waffenstillstandsangeboten berechtigt sei - da er den einzelnen Soldaten und Offizier für solch hohe Einsicht nicht befähigt hält, entgegnet: „Ich, obwohl nur ein 'einzelner Soldat', besaß 'solch hohe Einsicht', samt dazugehöriger metaphysischer als auch rationaler Verantwortung." 1 4 8 In der Sekundärliteratur wird sehr oft das Verständnis von Freiheit bei Andersch mit Bindungslosigkeit gleichgesetzt. 149 In seinem Erlebnisbericht gibt es auch eine Reihe von Anhaltspunkten dafür: die Interpretation der Freiheit als eines Augenblicks zwischen Gefangenschaft und Gefangenschaft, die Abkehr von der kommunistischen Bewegung und das Pochen auf den eigenen „unsichtbaren Kurs", die Absage an die Kameradschaft. Eine völlige Identifikation der Freiheit mit Bindungslosigkeit findet aber nicht statt, Freiheit ist für Andersch immer mit einer Entscheidung zur positiven Tat gekoppelt. Als solche ist nur die Desertion aus der faschistischen Wehrmacht gekennzeichnet, nicht aber die Abkehr von der kommunistischen Bewegung. Denn sie nimmt gerade mit ihren für die individuelle Entwicklung so problematischen Folgen einen breiten Raum ein. So wird in dem Abschnitt „In der Tasche geballt" eine Episode erzählt, in der die SA das Gewerkschaftshaus besetzt, während Arbeiter und Genossen kampflos zusehen. Andersch vermerkt dieses passive Zuschauen auch als eigene Schuld. Er selbst hat keinen Mut aufgebracht, ein Signal zum Handeln zu geben. Die Niederlage der Bewegung wird in solchen Momenten auch als die eigene empfunden. Als Andersch nach einer dreimonatigen KZ-Haft im Herbst 1933 ein zweites Mal verhaftet wurde, beendete er aus Angst und Ohnmachtsgefühl jede Arbeit für die kommunistische Partei. Über die folgenden Jahre berichtet Andersch mit großer Distanz, wie er auf den „totalen Staat mit der totalen Introversion" geantwortet habe, wie er in den Park von Kultur und Ästhetik flüchtete, seinem Dasein Stimmungen Rilkes unterlegte und in tiefe Depression geraten sei. Die Folge davon war eine totale Isolation und Introversion. 150 Die Abkehr von der Verantwortung in der Geschichte ging so weit, daß er einige Zeit sogar einen deutschen Sieg für möglich gehalten hatte. 151 Die ästhetische Existenz, in die er in dieser Zeit flüchtete („Ich lebte auf der Hallig meiner Seele, als säße ich jahrelang auf dem Klosett." 1 5 2 ), wird in ihren problematischen Seiten, als Abkehr von der Geschichte gesehen und selbst6
Reinhold, Andersch
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kritisch gewertet. Die Jahre der Bindungslosigkeit akzentuiert Andersch in keiner Weise positiv, ihre ehrliche Darstellung wird erst möglich, nachdem dieses Versagen durch die mutige Tat des Überlaufens relativiert worden ist. Ein weiteres philosophisches Problem seines Erlebnisberichtes ist das Verhältnis von Individuum und Masse. Auch hier setzt sich Andersch von der Philosophie der kommunistischen Partei ab, der er unterstellt, sie fetischisiere den Begriff der Massen. Von der bürgerlichen Kritik wird festgehalten, daß Andersch - im Zusammenhang mit der Betonung der Bindungslosigkeit - Individualität nur in der Abgrenzung von den Massen für möglich hält. Auch diese Interpretation befindet sich im Widerspruch zur Erlebnisebene des Berichts. Andersch stellt das Ich nicht in einen absoluten Gegensatz zu den Massen, er selbst sieht sich durchaus in der Masse, als ein Bestandteil von ihr, vor allem dann, wenn er sich nicht zur notwendigen Tat durchringt, sondern lediglich dem „Herdentrieb" folgt. So auch während des Soldateneinsatzes. Gegen die rechtfertigenden Behauptungen von der Eidespflicht betont er die Trägheit der politisch unmündigen Soldaten, die einfach „'beim Haufen bleiben'" wollen. Eine Kameradenpflicht ihnen gegenüber kann es nicht geben, wohl aber betont Andersch die Treue zu seinen ermordeten Genossen, wenn er sich zum Überlaufen entschließt. Als handlungsfähig erweisen sich in Anderschs Buch stets einzelne, denn er selbst hat keine positiv handelnden Massen kennengelernt. Die Verallgemeinerung dieser Erfahrung führt zur verabsolutierenden Annahme: „Jeder für sich war wieder allein. Es gab keine Massen. Vielleicht hatte es früher einmal Massen gegeben, kollektiv gerichtete Willenskeile, Springfluten der Geschichte, Material für Aufstände, die glühende Lava von Revolutionen. Aber die Appelle der Geschichte sind verraucht. Es gibt nur noch Einzelne, manchmal durch Zufall oder durch Zwang zu Mengen zusammengefügt, psychotischen Zuständen des Jubels oder des Fatalismus verfallend und dann wieder heimkehrend, allein, in Zimmern sitzend, bei aufgedrehtem Radio, klapperndem Geschirr . . 1 5 3 Hier wird die Erfahrung der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Bewegung aus der Sicht eines isolierten, auf sich selbst verwiesenen Intellektuellen wiedergegeben, der positives Handeln der Massen nicht kennengelernt hat, zudem um die Problematik des individuellen Versagens weiß und daraus den Schluß gezogen hat, daß die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des
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einzelnen der Wahrnehmung geschichtlicher Verantwortung vorausgeht. Resümierend läßt sich festhalten, daß die erzählerisch vergegenwärtigte Erfahrung vielfältiger ist als die im Erlebnisbericht selbst gelieferte verallgemeinernde philosophische Ansicht darüber. In der hier gezeichneten Individualentwicklung wird die existentielle Dimension einer geschichtlichen Niederlage greifbar, die viele Menschen in die Isolation, in Ohnmacht und Angst führte. Andersch hat in seinem Erlebnisbericht die Befindlichkeit von Vertretern einer Generation wiedergegeben, die, durch den Faschismus bedingt, keinen direkten Anschluß mehr an progressive geschichtliche Bewegungen gefunden haben und auf vereinsamtem Posten standen. Diese erzählerische Leistung wird auch durch die philosophische Interpretationsebene des Erlebnisberichts nicht aufgehoben, in der die Tendenz besteht, den Reichtum der wirklichen Erfahrung in das einengende Schema einer existentialistischen Freiheitssicht zu pressen, für die Freiheit als ein subjektiver Willensakt erscheint. Auf dieser Ebene bringt Andersch die individuelle Entscheidungsfähigkeit in einen Gegensatz zu gesellschaftlichen Bedingungen, macht Freiheit nur in der Absage an diese Bindungen erlebbar. Andersch manifestiert damit eine künstlerische Position, die in den fünfziger Jahren zur Grundlage der literarischen Opposition in der Bundesrepublik geworden ist. Er legt sie in dieser Zeit mit Konsequenz auch seinem gesellschaftlichen Engagement zugrunde, indem er seine kritischen Attacken als einzelner vertritt. Daher finden wir Anderschs Namen auch nicht im Zusammenhang mit der sich formierenden antimilitaristischen Opposition in der BRD, die sich zunächst in der Ohne-mich-Bewegung für einen Volksentscheid 154 organisierte. Allerdings finden wir seinen Namen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre unter einem Aufruf gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr und im Zusammenhang mit der Paulskirchenbewegung. 155 Das Erlebnis der Kunst Andersch hat unter den Titel seines Buches die Genrebezeichnung „Ein Bericht" gesetzt. Sie gibt sich bewußt untertrieben, präsentiert sich dieser Bericht doch als ein streng komponiertes Kunstwerk, in dem Erlebnis, Bekenntnis und Empfindung auf einem hohen künstlerischen Niveau verschmolzen sind. Mit dieser Zuordnung 6*
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zur literarischen Gattung stellt sich Andersch in den Kontext der literarischen Programme und Versuche der frühen Nachkriegszeit, das Kriegserlebnis in seinem desillusionierenden Charakter zu erfassen und in möglichst unprätentiöser Form darzustellen. Er stellt sich in die Tradition der Kriegsbücher von Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff, Theodor Plievier, Wolfgang Weyrauch und Heinrich Boll. Das um Jahre spätere Erscheinen von Anderschs Bericht prägte dessen künstlerische Gestalt entscheidend. Die ästhetische Struktur ist differenzierter geworden: Es wird nicht nur die unmittelbare Erfahrung wiedergegeben, sondern es erfolgt auch ihre gedankliche Verarbeitung. Die sachliche Berichtsform der frühen Kriegsbücher wurde hier mit der inneren Erlebnisebene des berichtenden Subjekts verbunden. Sie läßt es unter anderem auch zu, die Erfahrungen der Gegenwart in die Bewertungen der Autobiografie einfließen zu lassen. Die Bezugsebene der Mitteilung von Erlebnis, Bekenntnis und Empfindung ist das autobiografische Ich des Autors, der sich unverhüllt zu seiner Erfahrung bekennt. „Dieses Buch will nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private und subjektive Wahrheit. Aber ich bin überzeugt, daß jede private und subjektive Wahrheit, wenn sie nur wirklich wahr ist, zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit beiträgt." 156 Indem der Bericht den von bestimmten geschichtlichen Bedingungen geprägten individuellen Weg eines einzelnen dokumentiert, bereichert er das Wissen über die geschichtliche Wahrheit dieser Zeit. Über seinen geschichtsdokumentarischen Wert hinaus liegt der künstlerische Wert des Buches in der dichterischen Manifestation eines Vorgangs, in dem sich das berichtende Ich seiner eigenen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten bewußt wird. Für diesen Vorgang spielt die Kunst und die eigene künstlerische Tätigkeit eine wichtige Rolle. Sie wird für jede Lebensetappe in den geschichtlichen und biografischen Zusammenhang eingeordnet und bekommt von daher ihren Stellenwert. Schon während der trostlosen Kindheit und Jugend, in der Andersch zwei Jahre lang dem Sterben seines im ersten Weltkrieg verwundeten Vaters zusehen mußte, flüchtete er sich in die Münchener Pinakothek, in den Park zu Schleißheim, zu den Gedichten Rimbauds und Verlaines. „Vergaß so die Toten der Revolution, die Langeweile von Neuhausen, die Schulmisere, die Deklassiertheit meiner kleinbürgerlichen Familie, ja selbst das Stöhnen meines Vaters, und begann mein eigenes 84
Leben, indem ich durch die Gitterpforte der Pubertät und des Schlosses zu Schleißheim in den Park der Literatur und der Ästhetik eintrat." 157 Während der Jahre des Faschismus, nach seiner Abkehr von der kommunistischen Partei, verkümmerte seine Seele in einer nur ästhetischen Existenz. „Aber welches Brackwasser der Gefühle, Ideen, Meinungen! . . . In meinem Falle also Kunstgeschichte, statt Kunst, Versuche mit kalligraphischen Gebilden am Schreibtisch, Rilke-Lektüre, Blicke auf im Gegenlicht bläulich schimmernde Häuserblocks in München oder Rom." 158 Obwohl Andersch in seinem Buch einen kritischen Abstand zu solcherart Kunstumgang aufbaut er nutzt sogar seinen Stil von damals in parodierender Weise - , begann hier dennoch die Beschäftigung mit der Kunst, die auch nicht bei Rilke stehenblieb, sondern dank eines umsichtigen Lehrers zu Shakespeare und Goethe fortschritt. Dieser Lehrer gab ihm für die eigenen dichterischen Versuche den Rat: „Über alle Ihre Gedichte ist zu sagen, daß ihnen Zucht und Arbeit, daher auch Können fehlt . . . Ihre Art, sich einfach lyrisch zu ergießen, ist höchst gefährlich; aber die Fähigkeit zum Erguß zu verlieren, wäre natürlich genauso gefährlich." 159 Hiermit wird auf ein Element Anderschs künstlerischer Auffassungen verwiesen, das sich zu diesem Zeitpunkt herauszubilden beginnt und das spätere Werk mitkonstituiert. Es ist der bewußt kalkulierte, der streng zisilierte Bau seiner Werke, der Empfindung und Denken organisiert und das Ergebnis der Arbeit in überschaubarer Form dem Leser darbringt. Eine gewisse Tendenz zur Konstruktion und Abstraktion ist nicht zu übersehen. In den Kirschen der Freiheit wird das Gespräch über die Kunst in der dritten entscheidenden Lebensphase, nämlich im Kapitel „Angst", wieder aufgenommen. „Mut und Angst, Vernunft und Leidenschaft" werden nicht als feindliche Gegensätze begriffen, sondern als Pole des „einen Spannungsfeldes, das er [der Mensch] selber ist." 160 Nach Andersch gehört die Angst notwendig zum Mut, da sie dort, wo sie verschüttet wird, nur noch Gleichgültigkeit zurückläßt. Sie steht für ihn in einem engen Zusammenhang zur Freiheit, bei deren Erlebnis der Mensch seine Angst überwindet. Sie bereitet die notwendige Entschlußkraft zur Tat vor und macht die „Ehre des Deserteurs aus", der sich „vom Angesicht des Todes" abwendet, „von dem Gorgonenhaupt, das nicht zur Tat befreit, sondern den, der es anblickt, versteinert" ,61 . Im Moment der Befreiung von der Angst und des Entschlusses zur Tat, den Andersch 85
als den „Augenblick der Freiheit" apostrophiert, entfaltet sich eine ästhetische Stimmung, die ein Element der Kunst, ihrer Schaffung und ihres Erlebens ist. Unter diesem Aspekt - („Hingegeben der Stimmung als der Atemluft unseres Geistes, sind wir alle genial." 162 ) Kunst als Empfindung zu sehen, grenzt er sich von der Auffassung ab, musische Begabung besäßen nur einige. Anderschs Auffassung von der Kunst wird hier - so wie diese Stelle innerhalb des Berichts plaziert ist - mit der Erfahrung des eigenen Menschseins, dem Augenblick des eigenen Gewahrwerdens zusammengebracht. In diesen Momenten bestehe eine hohe Empfindungsfähigkeit für die Schönheit und Wildheit der Landschaft, für Farben, Formen, Licht und Atmosphäre. Andersch weiß sie eindringlich sinnlich zu vergegenwärtigen. Die durch handwerkliches und denkerisches Kalkül getragene Konstruktion, das stimmungsvolle Nachmalen des Gesehenen und der sachliche Bericht des Geschehens sind Elemente von Anderschs Kunstverständnis und zugleich Bausteine seiner eigenen künstlerischen Produktion, nicht nur in diesem Erlebnisbericht, sondern in seinem gesamten Werk.
Alfred Andersch im literarischen und kulturellen Betrieb der fünfziger Jahre
In den Jahren nach dem Ausscheiden aus der R«/-Redaktion bis zur Übersiedlung in die Schweiz (1948 -1958) war Andersch bemüht, eine Position zu finden, in der er der neu entstehenden oppositionellen Literatur und den eigenen publizistischen und literarischen Versuchen Wirkungsraum verschaffen könnte. Seine Aktivitäten erstreckten sich dabei neben politischer und literarischer Publizistik und der Arbeit an literarischen Werken vor allem auf die Tätigkeit im Rundfunk und auf editorische und vermittelnde Unternehmungen. Die Bedingungen, auf die er traf, waren nicht günstig. Das betraf vor allem das vorherrschend restaurative Klima, in dem ein hysterischer Antikommunismus dazu herhalten mußte, jede oppositionelle Regung gegen den Kurs der Remilitarisierung zu diffamieren. Für die Erzeugung einer Atmosphäre politischer Konfrontation und Verdächtigung spielte der im Auftrag des CIA organisierte Kongreß „Für die Freiheit der Kultur" im Juni 1950 in Westberlin eine wichtige Rolle. Das Ziel dieser Zusammenkunft, an der kaum Kulturschaffende und Schriftsteller, aber sehr viele Publizisten, vor allem auch ehemalige Kommunisten teilnahmen, bestand nach dem Willen der Veranstalter darin, der Weltfriedensbewegung die Initiative zu entreißen. Mit dem Bekenntnis zu einer nicht näher begründeten geistigen Freiheit sollte gegenüber der kommunistischen Bewegung eine gewisse Attraktivität für Intellektuelle hergestellt werden. Entsprechend wurde die Stockholmer Unterschriftensammlung zur Ächtung der Atombombe als „ein Instrument des sowjetischen Imperialismus" 163 denunziert. Die Bedrohungslüge mußte zur Rechtfertigung amerikanischer Atombomben herhalten, „die als der einzige Schutz der Freiheit des westlichen Europa" 164 ausgegeben wurden. Das Ziel des Kongresses bestand außerdem auch darin, gegen alle Intellektuellen, die sich diesem Dienst für den kalten Krieg entzogen, ein öffentliches Klima der Verdächtigung zu schaf87
fen, indem man sie als „Opfer einer seltsamen Perversion, als Halbjungfrauen der Demokratie" 165 diffamierte. Ein anderer Grund für die komplizierten Wirkungsbedingungen 166 lag darin, daß der vollständig wiederhergestellte kapitalistische Literaturbetrieb die Buchproduktion dem Gesetz des Profits unterordnete. Die neuen technischen Möglichkeiten der Buchherstellung sorgten für das Anwachsen der Produktion, die Verfahren zur Herstellung von Taschenbüchern wurden sehr schnell aus den USA übernommen. Die Verlage waren daran interessiert, Bücher herauszubringen, für die ein Absatz garantiert schien. Diese Konkurrenzsituation unter den Verlagen ließ im Laufe der fünfziger Jahre den „typischen modernen Großverlag" entstehen: „ein durchaus rationell arbeitender Betrieb industrieller Prägung", der sein Programm so einrichtete, daß sich das „investierte Kapital schnell amortisierte"167. Diese Situation war für die neu entstehende Literatur nicht günstig. Hans Werner Richter stellt aus dem Rückblick über diese Zeit fest: „Die Verleger kümmerten sich nicht um uns. Sie blickten ins Ausland, um den neuen Nachholebedarf zu decken . . . An eine neue deutsche Literatur glaubten sie nicht." 168 Andersch konnte für seine eigene literarische Tätigkeit die gleichen Erfahrungen machen. Zur Vorgeschichte der Kirschen der Freiheit gehört die Suche nach einem Verlag, die von verschiedenen abschlägigen Bescheiden begleitet war. Der Cheflektor des Rowohlt-Verlages lehnte die Publikation des Buches mit der Bemerkung ab, daß sich dafür nicht mehr als 70 Leser interessieren würden.169 Die gleiche Erfahrung mußte Andersch mit dem Fischer-Verlag machen, für den er im Jahre 1950 ein Sonderheft der Neuen Rundschau mit neuer deutscher Literatur geplant hatte. Er hatte Texte von Wolfdietrich Schnurre, Karl Krolow, Wolfgang Weyrauch, Heinrich Boll, Arno Schmidt, Ernst Schnabel u. a. zusammengestellt, deren „politisch-geistige Linie" er als „eindrucksvolles Bekenntnis gegen die jüngste Vergangenheit" 170 wertete. Der Fischer-Verlag lehnte die Publikation dieses Sonderheftes mit der Begründung ab, es wäre für die Öffentlichkeit „nicht interessant genug". Dieses geplante Sonderheft wurde die Keimzelle für die Buchreihe studio frankfurt, die Andersch in den Jahren 1952/53 in der Frankfurter Verlagsanstalt herausgab und in der auch Die Kirschen der Freiheit erschienen sind. Der Buchreihe war allerdings nur eine sehr kurze Lebensdauer beschieden, da der Verlag in finanzielle Schwierigkeiten geriet und die Anteile der Buchreihe an den Luchterhand-Verlag verkaufte, den späteren 88
Verlag von Texte und Zeichen. Mit seinem Erlebnisbericht war Andersch nun ebenfalls wieder ohne Verlag, bis im Jahre 1954 der ClaassenVerlag eine zweite Auflage des Buches herausbrachte. Eine wichtige Rolle für die Durchsetzung der jungen Literatur und für Anderschs eigene Aktivität als Organisator und Vermittler innerhalb dieses Betriebs spielte in jenen Jahren der Rundfunk, dessen „Hilfestellung für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur nicht hoch genug" 171 eingeschätzt werden kann. Dabei läßt Anderschs Arbeit im und für den Rundfunk 172 Sehr genau die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Tätigkeit für die Entwicklung einer progressiven Literatur unter den Verhältnissen der politischen Restauration erkennen, sie macht Kompromisse und Einschränkungen deutlich, aber auch die produktiven Anregungen für das eigene literarische Schaffen.
Die Arbeit im Kundfunk Andersch als Organisator 1948 begann Andersch als Gründer und Leiter des Abendstudios am Sender Frankfurt seine Tätigkeit am Rundfunk. Zu dieser Zeit war der Sender Frankfurt aus amerikanischer in deutsche Verwaltung übergegangen und hieß von nun an Hessischer Rundfunk. Ein hessisches Landesrundfunkgesetz, das unter der Leitung von Rundfunkleuten aus der Weimarer Republik zustande gekommen war, begründete den öffentlich-rechtlichen Status des Rundfunks, nach dem den Gremien bürgerlicher Interessenvertretung ein entscheidender Einfluß garantiert war. 173 Charakteristisch für die bereits herrschende politische Atmosphäre ist eine Aussage von Golo Mann, der sich an seine Zeit als amerikanischer Kontrolloffizier bei Radio Frankfurt erinnert: „Zensor mußte ich nur in politics sein; besonders den Kommunisten gegenüber, weil sie immer wieder Propaganda einschmuggeln wollten." 174 Im Zeichen der antikommunistischen Konfrontation und des beginnenden kalten Krieges wurden Kommunisten und ihre Sympathisanten aus Rundfunkanstalten und Zeitschriftenredaktionen herausgedrängt. In den Jahren 1947/48 mußten Hans Mayer 175 , Stephan Hermlin, Karl Georg Egel, Karl Eduard von Schnitzler, Max Burghardt westdeutsche Sender verlassen. Mit der Übernahme des 89
Rundfunks durch deutsche Verwaltungen wurde auch begonnen, die inhaltliche Struktur der Programme zu verändern. Ab 1948 richtete man schrittweise in allen Sendern Abendstudios ein, die nach dem Vorbild der dritten Programme der BBC zu später Abendstunde Sendungen über kulturelle und literarische Themen ausstrahlten. Es war die Zeit kurz nach der Währungsreform, die auch für die literarische Öffentlichkeit, insbesondere für die zahlreichen Zeitschriften, die in den Nachkriegsjahren erschienen waren, einschneidende Veränderungen brachte. Nur wenige dieser Zeitschriften überlebten die Währungsreform. Kapitalistisch organisierte Literaturverhältnisse waren wiederhergestellt. Produziert wurde nach den Bedürfnissen des Marktes; das Bedürfnis nach geistiger Neuorientierung wich dem Drang, an der wirtschaftlichen Prosperität teilzunehmen. Die Leute kauften für das neue Geld anderes als Literatur, sie blieb wie je eine Angelegenheit für wenige. Die Einrichtung der dritten Programme trug dieser neuen Situation und der veränderten Stellung von Literatur und Kultur innerhalb der sich restaurierenden Gesellschaft Rechnung. Man schuf einen geistigen Freiraum, in dem sich die kritische Intelligenz reibungslos und ohne Folgen bewegen konnte. Andersch wollte über den Rundfunk viele Hörer erreichen: „Der Funk ist für viele Menschen zum einzigen Berührungspunkt mit dem Phänomen Kultur" 176 geworden, stellt er in einer bisher unveröffentlichten Anmerkung zum geplanten Druck eines seiner Hörspiele fest. Seine gedruckten Äußerungen zum Thema lassen seine Bereitschaft erkennen, aus den gegebenen Möglichkeiten innerhalb des dritten Programms das Beste zu machen. Er gibt in der Radiobeilage einer Tageszeitung Hinweise, wie sich der nicht intellektuelle Hörer für die späte Stunde der Sendung munter und geistig aufnahmebereit halten kann. Aus diesen Überlegungen wird erkennbar, daß er sich des Problems, nur ein bestimmtes intellektuelles Publikum erreichen zu können, sehr wohl bewußt war. Andererseits hofft er auf die Möglichkeiten von Literatur und kritischem Denken, so wenn er das Abendstudio als einen Faktor gegen „geistige Bequemlichkeit" ansieht und eine Hörergemeinde stiften möchte, die „sich jeden Dienstagabend ebenso gespannt wie kritisch um den Geist schart" 177 . Die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten dieser wöchentlichen Sendereihe werden von Andersch später als „intellektuelles Ghetto" apostrophiert, erst aus der Rückschau wird die schrittweise Abdrängung der kritischen Intelligenz aus der Öffentlichkeit offenbar. In den 90
siebziger Jahren setzt er sich kritisch mit dieser „kaum reflektierten Art, an die Literatur zu glauben", auseinander: „und natürlich glaubten wir ganz besonders an die neue Literatur, an das neue Denken" 178. Trotz der begrenzten Wirkungsmöglichkeiten und der Einfunktionierung in den vor allem manipulativ gebrauchten Medienapparat war es Andersch innerhalb dieses Rahmens möglich, die oppositionell kritische Literatur zu fördern, etwas für ihre Verbreitung und Wirkung zu tun, viele Autoren durch Aufträge für Hörspiele materiell zu unterstützen und ihnen so ihre schriftstellerische Existenz zu sichern. Aufschlußreich für die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Funk ist ein Manuskript, das im Februar 1954 im Abendstudio des Hessischen Rundfunks unter dem Titel Briefe an eine Dame in Chikago, die mich nach der deutschen Literatur 1953 fragte gesendet wurde. Andersch stellt in Form eines fiktiven Briefes die Literatur des Jahres 1953 vor. Er bettet seine literarische Betrachtung in die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, die er wie folgt wertet: „Deutschland lebt gegenwärtig in einer Periode der wirtschaftlichen Prosperität. In der Politik haben gemäßigte Rechtstendenzen den Sieg davongetragen, der Stolz auf das 'deutsche Wunder' steht im Vordergrund und hat den Wunsch nach innerer Regeneration, der nach 1945 vorherrschte, verdrängt. Die Literatur reagiert darauf kritisch und oppositionell. Fast alle Schriftsteller, die im Jahre 1953 wichtige Bücher herausgebracht haben, wenden sich gegen die sogenannte Restauration, gegen das Vergessen in nationaler Selbstzufriedenheit." 179 In diesem Zusammenhang kritisiert er die Normen der herrschenden Kritik, die er als ästhetizistisch, wenn nicht reaktionär charakterisiert, und veranschlagt ihren Anteil an der Durchsetzung dieser jungen Literatur negativ. Von den Werken, die er vorstellt, u. a. Koeppens Das Treibhaus, Bolls Und sagte kein einziges Wort, Hans Werner Richters Spuren im Sand, Arno Schmidts Die Umsiedler, Schnurres Sternstaub und Sänfte, Wolfgang Hildesheimers Das Ende der Welt, die Lyrik von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Wolfgang Weyrauch, gibt er einen erheblichen Teil in der von ihm edierten Buchreihe studio frankfurt180 heraus. Ab 1951 arbeitete Andersch gleichzeitig als Leiter der FeatureRedaktion des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) in Hamburg, wohin ihn Ernst Schnabel geholt hatte. In dieser Funktion gewann er Heinrich Boll, Hans Georg Brenner, Wolfgang Hildes91
heimer, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Hans Werner Richter, Günter Eich, Wolfgang Weyrauch für Rundfunkarbeiten, vor allem für Hörspiele. Organisierend und programmatisch wirkte Andersch auch in seiner Doppelfunktion als Gründer und Leiter der Redaktion radioessay des Süddeutschen Rundfunks (1955 -1958) in Stuttgart und als Herausgeber der literarischen Zeitschrift Texte und Zeichen (1955 1957). Dabei nutzte er die Möglichkeiten der Funkarbeit, um Texte und Zeichen finanziell zu stützen, indem er für die Autoren zugleich eine mehrfache Verwertung ihrer Arbeiten vorsah. 181 Auf diese Weise hat er mit Kritikern gearbeitet, hat Theodor W. Adorno, Max Bense, Eugen Kogon, Walter Muschg Publikationsmöglichkeiten verschafft und junge Autoren wie Martin Walser, Helmut Heißenbüttel, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass u. a. bekanntgemacht. Auch die Einbeziehung junger Komponisten wie Luigi Nono und Hans Werner Henze in die inhaltliche Gestaltung von Texte und Zeichen geht auf die Anregung des Rundfunks zurück. In besonderer Weise hat sich Andersch als Förderer von Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen verdient gemacht. Diese beiden Autoren spielten sowohl in Texte und Zeichen als auch in der Programmgestaltung des Funks eine Rolle. Andersch hat die Reisen für Wolfgang Koeppen angeregt, denen wir wichtige Bücher verdanken, und er hat die Finanzierung dieser Reisen durch den Süddeutschen Rundfunk organisiert. Koeppens Berichte über Spanien, Amsterdam, Rom, London, die Sowjetunion und USA brachte er im Programm des radio-essay, den SU-Bericht Herr Polevoi und sein Gast nahm er außerdem noch in Texte und Zeichen auf. Auch Arno Schmidt wurde von Andersch wirkungsvoll gefördert. Nach der Publikation der Umsiedler in der Buchreihe studio frankfurt machte Andersch in einem von ihm verfaßten Feature Der Außenseiter im Mittelpunkt auf Schmidt aufmerksam und vermerkte in seinen fiktiven Briefen an eine Dame in Chicago . . ., daß Arno Schmidt mit seinen sprachexperimentellen Prosatexten sich organisch aus einer Literatur „der Nüchternheit, der tabula rasa" entwickelt hat und innerhalb einer geistigen Bewegung steht, die von einer l'artpour-l'art-Literatur weit entfernt ist. Auch in Texte und Zeichen ist Arno Schmidt mit erzählerischen und essayistischen Beiträgen vertreten. In einem Brief vom 19. Mai 1978 schrieb Andersch rückblickend über diese Beziehungen zu Arno Schmidt: „Meine persönliche Beziehung zu Schmidt geht bis zum Anfang der fünfziger Jahre 92
zurück. Ich habe dann eine ganze Reihe Radio-Sendungen mit ihm gemacht, als ich Redakteur der Nacht-Programme im Süddeutschen Rundfunk war. Damals hatte ich die Möglichkeit, für die grundlegenden Lebensverhältnisse von Schmidt zu sorgen, der ja - das ist viel zu wenig bekannt - jahrelang von 200-300 DM im Monat gelebt hat." 182 Andersch als Hörspielautor Die Arbeit im Funk hat Anderschs literarisches Schaffen maßgeblich angeregt. Vor allem im Radio-Hörspiel sah er eine Möglichkeit, an ein neues Publikum heranzukommen. Während Andersch das Theater als „Angelegenheit eines bürgerlichen Restpublikums" erscheint, hat für ihn der Funk die Chance, viele Menschen mit Kultur in Berührung zu bringen. 183 Andersch entwickelt Gedanken für eine „Kultur des Hörspielschaffens", um spezifische „Kunstformen der Massen-Zivilisation in die Kontinuität der Literatur zu überführen" 184 . Dafür verlangt er von den Institutionen Archivierung und Autorenförderung, um das Hörspielschaffen der rasenden Fluktuation zu entziehen. Die wichtigste Grundlage für eine Ästhetik des Hörspiels bildet für Andersch der Autorentext, der die Dramatik innerer Vorgänge des Menschen auszudrücken hat. In den Nachbemerkungen zur Ausgabe seiner Hörspiele im Jahre 1974 bekräftigt er den Gedanken vom epischen Charakter der Hörspiele. Unreflektiert bleiben in diesem Zusammenhang die technischen Wiedergabebedingungen von Hörspielen, obgleich er sie für seine eigene Hörspielproduktion im Einsatz akustischer Mittel voll ausgebildet hat. Die Produktionsbedingungen des Hörspiels haben auch Anderschs erzählerisches Schaffen geprägt. Der filmschnittartige Szenenaufbau und die Konzentration auf die inneren Vorgänge der Figuren in den Romanen Sansibar oder der letzte Grund und Die Rote verraten Anregungen aus der Hörspielarbeit. Andererseits hat sich die vielfältige Ausnutzung von literarischen Episoden und Motiven nicht nur positiv ausgewirkt. Es zeigte sich, daß die Produktion für den „schnellen Gebrauch" anderen Gesetzen unterliegt als das Prosaschreiben, weshalb Andersch wohl auch nur einen geringen Teil seiner Texte für den Rundfunk drucken ließ. Interessante Aufschlüsse über die verschiedenen Verarbeitungsformen vermittelt ein Vergleich zwischen Hörspiel- und Prosafassung von Die Letzten vom schwarzen 93
Mann. Letztere ist die in den Erzählungsband Geister und Leute (1958) aufgenommen worden. In beiden Arbeiten wird mit dem Motiv des Wiedergängers an die Toten des zweiten Weltkrieges erinnert. Aber während die Hörspielfassung christliche Erlösungsvorstellungen für den Appell zum Nichtvergessen nutzt, werden in der Prosafassung gerade diese romantisch-pathetischen Motive ironisch aufgehoben, eine Trost verweigernde, das kritische Denken aber anregende Form für diese Kriegserzählung. („In jenen alten Sagen . . . wurde ja behauptet, daß die reine Liebe eines Mädchens einen G e i s t . . . zu erlösen vermöchte. Romantische Idee! Jungfrau war sie sowieso nicht." 185 ) Thematisch sind die Hörspiele Biologie und Tennis (1950), Fahrerflucht, Kussisches Koulette (diese abgedruckt in: Alfred Andersch, Hörspiele. Zürich 1973, entstanden zwischen 1957-1961) auf Entscheidungssituationen von Menschen konzentriert, die in einem nicht immer genau bestimmbaren sozialen und geschichtlichen Umfeld angesiedelt sind. Sie offenbaren einen gewissen Hang zum Konstruktivistischen, der sich aus der Zuspitzung existentieller Situationen ergibt. Das erste gesendete Hörspiel, Biologie und Tennis (gesendet am 23. 10. 1950 vom Hessischen Rundfunk), war als ein Bühnenstück geplant und führt wohl deshalb als Untertitel die Genrebezeichnung „dramatische Reportage". Es ist ein Diskussionsstück über die „Arisierung" der Schütting-Werke während des Faschismus, über die Entlassung des halbjüdischen technischen Direktors, der die Herren des Aufsichtsrates fraglos zustimmen. Nur ein junger Chemiker, der als Nachfolger vorgesehen ist, beginnt gegen den Opportunismus der anderen zu kämpfen und nach rechtlichen Mitteln zu suchen, um sich der Verfügung zu widersetzen. Andersch hat ein Diskussionsstück gestaltet, in dem es um die Mechanismen von Anpassung und Opportunismus geht, militante Antisemiten werden im Stück nicht dargestellt. Neben diesem Mechanismus des Anpassungsverhaltens, den Andersch vor allem in seinen moralischen, weniger in seinen ökonomischen und politischen Ursachen entschlüsselt, zeigt er in einer Entscheidungssituation, daß es keine Zwangsläufigkeit im Verhalten der Menschen gibt. Den Wiederabdruck des Stückes begründet er mit dem moralisch-politischen Gewicht des Themas Judenverfolgung. Er schreibt: „Es ist der Einwand erhoben worden, über das Judenproblem sei nun genug geschrieben worden. Das stimmt nicht. Es gibt bisher nur zwei wichtige Beiträge zu diesem Thema auf dem deutschen Theater: 94
Friedrich Wolfs ausgezeichneten 'Professor Mamlock' und das hervorragende Hörspiel 'Ehe im Schatten', aus dem die DEFA einen unvergeßlichen Film gemacht hat. Beide Produktionen stammen aus der Ostzone, von den führenden Schriftstellern Westdeutschlands kenne ich keinen einzigen, der sich ernsthaft und umfassend mit dem Problem des Antisemitismus auseinandergesetzt hat." 186 Die mangelnde Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik mit der faschistischen Vergangenheit und dem Thema der Judenverfolgung auseinanderzusetzen, prägte den „Inszenierungsstil hochmoderner Beiläufigkeit . . ., der das Pathos, aber auch die Schärfe der Auseinandersetzung vermeidet"! 87 , wie Andersch kritisch vermerkt, und es kennzeichnet die allgemeine Atmosphäre, wenn er sich zu kürzenden Eingriffen gezwungen sah: „Aus Opportunismus habe ich zugestimmt, denn als unbekannter Autor muß man sehen, daß man seine Stücke überhaupt aufgeführt bekommt. Nur solche Interpretation erklärt das Urteil eines Münchener Kritikers, der das Stück als einen Unterhaltungsroman um politisch und rassisch Verfolgte bezeichnete."188 Mit Fahrerflucht nimmt Andersch die für ihn so charakteristische Problematik der Flucht auf. Die Arbeit erfolgte etwa gleichzeitig mit dem Schreiben des Romans Sansibar oder der letzte Grund. Es geht in dem Hörspiel um die existentiellen Probleme dreier Menschen, die durch einen besonderen Vorfall zueinander in Beziehung gesetzt werden: Ein Manager, der nach einem bereits vor der Machtergreifung durch die Faschisten begonnenen steilen Aufstieg als Aktionär und Wirtschaftskapitän von seiner lebensbedrohenden Erkrankung erfahren hat und die letzte Zeit seines Lebens allein, fernab von seinen Funktionen und Rollen verbringen will, überfährt bei seinem Aufbruch ein junges Mädchen, das auf dem Wege zu einem Reitplatz ist; ein Tankwart, der sich als Zeuge des Verbrechens durch die imposanten Herrschergebärden des Managers und einen Hundertmarkschein hat zum Schweigen bringen lassen, ringt sich am Ende des Stückes zur Wahrheit durch. Eine ähnlich konstruierte Ausnahmesituation liegt auch dem Hörspiel Kussisches Roulette zugrunde. Es ist eine Synthese aus Erzählung und Hörspiel; ein Erzähler bringt neben dem szenischen Bericht seine Situation zum Ausdruck. Auf zwei stimmlich voneinander abgesetzten Raumebenen wird das innere Drama eines jungen Mannes entrollt, der absolutem Schicksalsglauben anhängt und sich in Sekunden der Leere und der Verzweiflung einen Revolver an 95
die Schläfe drückt. Schießt die Pistole nicht, hat das russische Roulette für sein Leben entschieden. Diesem Spiel ist er wie einer Droge verfallen, und erst die Liebe eines couragierten jungen Mädchens befreit ihn davon. Diesen Typ von Arbeiten führt Andersch mit Tochter weiter, während sich in den siebziger Jahren mit Tapetenwechsel und der nicht vollendeten Szenenfolge Hans Beimler ein neuer Hörspieltyp ausbildet. Neben Hörspielen ist Andersch innerhalb des Rundfunks auch mit publizistischen Formen des Features und des Funk-Essays, mit dramatischen Reportagen und Funkmontagen in Erscheinung getreten. Besonders in den publizistischen Formen werden mit der Anpassung an bestimmte politische Konstellationen des kalten Krieges der Spielraum und die Grenzen deutlich, in denen sich eine solche Tätigkeit nur vollziehen konnte. So übernimmt Andersch in verschiedenen Arbeiten fraglos solche Begriffe wie „freie Welt" oder „Einheit Europas". Nur in einigen Arbeiten werden geschichtliche Realitäten gegen sie aufgerechnet, so z. B. in einigen in der Reihe radio-essay gesendeten. In Normandie, 6. Juni 1944 (1954), unter dem Pseudonym Werner Gregor gesendet, stellt Andersch aus Berichten, Dokumenten und Analysen eine Montage über Kriegsführungsprinzipien der westlichen Alliierten und der faschistischen Wehrmacht zusammen. Hier reproduzieren sich die sonst bereits verabschiedeten Vorstellungen vom demokratischen Charakter der amerikanischen Armee zum Zwecke eines schematischen und in seiner historischen Einordnung fragwürdigen Versuchs. Wiederum stellt Andersch in seinem Radio-Essay Das Wunder an der Marne (Erstsendung 20. 9. 1955) den Krieg als Mittel politischer Auseinandersetzung in Frage, bringt zum Ausdruck, daß die Vorstellung von der Gewinnbarkeit von Kriegen für Gegenwart und Zukunft untauglich ist. Für eine Reihe von Funkarbeiten hat Andersch die Form des Features verwendet, eine funkdramatische Darstellungsform, die erstmalig vom britischen Rundfunk während des zweiten Weltkrieges zur Übertragung des ersten Transportflugs zwischen den britischen Inseln und den USA benutzt worden war. Verschiedene westdeutsche Rundfunkstationen begannen im Rahmen ihrer dritten Programme Abteilungen einzurichten, in denen „Talks and Features" produziert wurden. In Hamburg waren es vor allem Axel Eggebrecht und Ernst Schnabel, die diese publizistische Form für aussagefähige 96
Sendungen nutzten. Es handelt sich dabei um den Versuch, „mit allen zu Gebote stehenden epischen, szenischen oder Reportagemitteln, politisch, journalistisch, illustrativ und demonstrativ einen Komplex von Wirklichkeit aufzubauen" 189 . Von Anderschs Funkarbeiten kommen die für den Norddeutschen Rundfunk Hamburg erarbeiteten Stücke Die Bürde des weißen Mannes (1954) und In der Nacht der Giraffe190 (entstanden zwischen 1957 und 1961) der Bezeichnung Feature am nächsten. Hier werden nicht wie im Hörspiel seelische Vorgänge der Akteure ins Gleichnishafte gehoben, sondern es geht um die Rekonstruktion ganz bestimmter historischer Konstellationen mit szenischen, dokumentarischen, berichtenden und illustrierenden Elementen. Zumeist tritt in ihnen ein berichtender Chronist oder Reporter auf. In Die Bürde des weißen Mannes ist es ein deutscher Reporter, der die in Paris stattfindenden geheimen Friedensverhandlungen zwischen der vietnamesischen Befreiungsfront und dem französischen Außenminister recherchiert, und In der Nacht der Giraffe rekonstruiert ein Reporter die Ereignisse in der Nacht des Staatsstreichs durch de Gaulle. Beide Funkarbeiten beschäftigen sich mit wichtigen zeitgeschichtlichen Ereignissen, dem Indochinakrieg und den politischen Verhältnissen in Frankreich, zwischen denen ein innerer Zusammenhang besteht; in beiden fungiert ein Erzähler, der den gesamten Vorgang darbietet und kommentiert. In Dialogen, Monologen und Berichten von verschiedenen Schauplätzen werden die Ereignisse aus der unterschiedlichen Perspektive der beteiligten Kräfte wiedergegeben. Zeitgeschichtliche Gestalten wie Servan-Schreiber, Ho chi Minh, Philippe Devilliers und de Gaulle treten auf und spielen i h r e Rolle. Die Bürde des weißen Mannes ist eine Dokumentation, in der die historischen Abläufe um die französische Kolonialpolitik, den Unabhängigkeitskampf Vietnams und die Volksfrontpolitik der Vietnamesen das Ende des Kolonialzeitalters signalisieren. Die Objektivität dieser Sicht wird allerdings durch die Kommentare eines Reporters eingeschränkt. Das letzte Wort erhält dennoch ein vietnamesischer Reisbauer, dessen Vision vom Frieden diesem Befragungsstück zum Thema Vietnam aus dem Jahre 1954 historische Perspektive verleiht. Im Hörspiel In der Nacht der Giraffe sind dagegen die erzählerischen Partien breiter. Auf der Grundlage genau rekonstruierter de Gaullescher Staatsstreichversuche mit Hilfe der kolonialistischen Generalität aus Algerien werden Möglichkeiten der Gegenwehr durch 7
Reinhold, Andersch
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Intellektuelle diskutiert. Andersch sieht sie in der Organisierung einer Öffentlichkeit durch die Presse, deren Funktion innerhalb der Gesellschaft allerdings nur so lange als produktiv gilt, „so lange sich die Mächte im Gleichgewicht befinden . . . Aber wenn die Politik in den Raum der reinen Macht tritt, ist es aus damit. Dann ist die Presse und ihre Literatur nur noch eine Fußnote zu den Prämissen der Macht." 191 Gleichzeitig wird die liberale Presse wegen ihrer Kompromißbereitschaft kritisiert. 192 Die Tatsache, daß es Andersch hier neben der Rekonstruktion geschichtlicher Vorgänge, die mit Tages- und Stundenangabe genau belegt werden, auch um die Diskussion der eigenen Wirkungsmöglichkeiten in der Geschichte geht, verweist auf die grundsätzlichen Antriebe seiner Tätigkeit. Er will den Anschein von Zwangsläufigkeit geschichtlicher Abläufe durchbrechen und auf die Akteure verweisen. Jedes Ereignis besitzt für ihn Ursachen, Verursacher, Akteure und Opfer. Ein weiterer Typ von Funkarbeiten sind Funkmontagen, z. B. Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, nach Walter Benjamin, Der Tod des James Dean, und die Bearbeitungen: Simson fällt durch die Jahrtausende, ein dramatisches Gedicht von Nelly Sachs, und Kurdjukows Brief und andere Erlebnisse in Budjonnys Reiterarmee, erzählt von Isaak Babel und in Stimmen gesetzt von Alfred Andersch. Diese Arbeiten sind nicht erzählerisch angelegt, sondern es werden fremde Texte montiert, um Tatbestände und Situationen durchsichtig zu machen. Charakteristisches Beispiel ist dafür Der Tod des James Dean, zu dem Andersch durch den frühen Tod des Filmidols angeregt wurde. Der Hauptstrang der Funkmontage besteht aus einer Reportage von Dos Passos über Leben und Tod James Deans, dessen Schicksal als Symbol für den aufgeblasenen Größenwahn, die Leere amerikanischer Träume und den tragischen moralischen Verschleiß seiner Jugend genommen wird. Einmontiert sind Gedichte von Allen Ginsberg, der zum Sprecher dieser geschlagenen, finsteren Generation Amerikas geworden ist. Die Montage ist ein Zeugnis dafür, wie Anderschs Desillusionierungsprozeß über die Vereinigten Staaten weitergegangen ist. Er arbeitet hier am Abbau eines Mythos, der mit der Amerikanisierung des kulturellen Lebens in der Bundesrepublik vielfältig kolportiert und popularisiert worden war. Er zerstört diesen Mythos dadurch, daß er ihm seine eigenen Träume und Bilder vorhält und das aktuelle Amerika als Land des räuberischen Gegeneinander und der zerstörten menschlichen Werte darstellt. Wie in anderen Hörspielen nutzt Andersch auch hier Jazz- und Rock98
musik als dramaturgische Charakterisierungs- und Stimmungsmittel, um das Lebensgefühl einer verlorenen Generation zum Ausdruck zu bringen.
„Texte und Zeichen" - eine literarische Zeitschrift Parallel zu seiner Tätigkeit als Gründer und Leiter der Redaktion radio-essay im Süddeutschen Rundfunk gab Alfred Andersch von 1955 bis 1957 sechzehn Hefte der Zeitschrift Texte und Zeichen heraus. Sie verdankte ihr Erscheinen einer von Andersch damals dem Leser gegenüber als „Mäzenatentat" apostrophierten Initiative des Luchterhand-Verlages. Von ihr berichtet der damalige geschäftsführende Gesellschafter Eduard Reifferscheid, daß seit 1954 damit begonnen worden war, dem ursprünglich als Fachverlag für Steuerfragen gegründeten Haus eine literarische Abteilung anzugliedern. Reifferscheid, der diesen literarischen Verlag organisierte, plante eine Zeitschrift, die für das literarische Programm seines Verlages werben und es mit durchsetzen sollte. Dafür suchte er einen geeigneten Herausgeber. 1980 erinnert er sich anläßlich einer Ausstellung „Für Alfred Andersch" zu Texte und Zeichen an die erste Begegnung: „Der Kontakt zu Alfred Andersch erfolgte durch die Bekanntgabe eines Ankaufsinteresses des 'studio frankfurt', vermutlich durch schriftliche Anfragen von mir bei Herrn Kogon . . . Unaufgefordert besuchte mich daraufhin Alfred Andersch - wenn ich mich recht entsinnen kann, mit seiner Frau. Andersch überzeugte mich schon bei unserem ersten Gespräch - sowohl durch seine Person, als auch durch seine Auffassung über progressive Literatur und seine mir durch 'Die Kirschen der Freiheit' gezeigte und bewiesene Charaktergesinnung. Wir wurden uns schon bei diesem ersten Gespräch einig und das auch, - ich will es nicht verschweigen - weil seine eigenen Wünsche über die Höhe des Herausgeberhonorars bescheiden waren und bis zuletzt bescheiden blieben. Ich glaubte in ihm den geeigneten Herausgeber für die Zeitschrift, die ich schon einige Zeit vor seinem Besuch geplant hatte, gefunden zu haben."193 Für Andersch war die Herausgabe einer Zeitschrift, nachdem er als Herausgeber der Reihe studio frankfurt durch den materiellen Ruin der Frankfurter Verlagsanstalt stellungslos geworden war, offensichtlich äußerst verlockend. War vom Verlag her die Zeitschrift hauptsächlich als ein Werbemittel gedacht, so ließ ihm der Eigentümer 7*
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des Verlages bei der Konzipierung der Hefte viel Spielraum, den er zu nutzen verstand. Für den Verlag hatte die Zeitschrift nach drei Jahren ihren Zweck erfüllt. Das literarische Programm des Luchterhand-Verlages war etabliert, seine Übersetzungen und wichtige Werke junger Autoren (Grass, Jens, Rehn u. a.), nicht zuletzt durch die Rezensionen in Texte und Zeichen, bekannt gemacht worden. Zwanzig Jahre später spricht Andersch nicht mehr von Mäzenatentat, sondern wertet den Zusammenhang von Kapitalinteresse und ästhetischer Produktion illusionsloser: „Der nicht sehr kleine Kapitalist, der die Zeitschrift finanziert hatte, gab nach Erscheinen des sechzehnten Heftes vor, sie nicht weiter finanzieren zu können. Dafür wurde er, ein paar Jahre später, der Verleger Solshenizyns."194 In welcher Richtung Andersch den sich eröffnenden geistigen Freiraum zu füllen gedachte, läßt bereits die Vorankündigung der Zeitschrift deutlich werden. Sie ist vor allem gegen einen Literaturbetrieb polemisch gerichtet, in dem die Literatur „zu einem Medium unver bindlichsten Genießens, falscher Verinnerlichung oder gläserner Intellektualität geworden" ist. Dieser Entwicklung will die Zeitschrift Texte und Zeichen vor allem durch die Apostrophierung der gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten von Literatur entgegenwirken. „Die Literatur ist das geistige Vorfeld, auf dem die Entscheidungen fallen, noch ehe sie im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft verwirklicht werden." 195 Demgemäß setzt sich Andersch mit seiner Ankündigung auch von einer Autonomsetzung künstlerischer Produktion ab und kündigt Texte für Leser an, die sich mit den Autoren darin einig wissen, daß sie „mit einem Worte Kleists der Witz der Wortspiele, auf dem Schlachtfeld von Agincourt nur noch sehr bedingt kümmert" 196 . War Der Ruf von seinen Herausgebern als eine Zeitschrift mit gesellschaftspolitischem Programm konzipiert, verstanden sich Texte und Zeichen von vornherein als eine Zeitschrift mit und über Literatur. Sie war für einen kleinen Leserkreis künstlerisch sachverständiger Leute gedacht. 197 Diese Zielrichtung auf eine „große, sehr vornehme, sehr abgehobene Vierteljahreszeitschrift auf der VittoriniBeckett-Borges-Faulkner-Koeppen-Ebene, aber mit einem eisern gesteuerten Rezensionsteil, in dem auch die kulturpolitische Glosse und die große kritische Untersuchung auftauchen kann" 198 , bekräftigt Andersch noch 1961 in einem Brief an Enzensberger, und auch in seinem Abschiedswort an die Leser im letzten Heft bringt er in Erinnerung, daß es sich bei ihnen „um eine Minderheit in der Masse 100
des geistigen Konformismus, der heute Deutschland beherrscht, handelt. Daß der Geist überhaupt lebt, hängt ausschließlich von der Existenz solcher Minderheiten ab." 199 Die hohe Wertschätzung der Literatur als „geistiges Vorfeld" der gesellschaftlichen Entscheidungen von morgen und die Orientierung der Zeitschrift auf einen literarisch gebildeten, sachverständigen Leser als ein Programm der Vornehmheit gegen den allgemein herrschenden geistigen Konformismus verweisen auf einen grundsätzlich veränderten gesellschaftlichen Wirkungsraum der freischwebenden linken Intelligenz, die sich auf einen engen literarischen Zirkel eingegrenzt sah. Die vornehme Abgehobenheit von Texte und Zeichen ist zu kritisieren. Es muß allerdings festgestellt werden, daß diese elitäre Haltung die Grundlage der Verweigerung von Mitarbeit an der geistigen Verdummung der Volksmassen bedeutete. Dieser Punkt weist aber auch, bei allem historisch bedingten Wandel in der Zeitschriftenkonzipierung vom Kuf zu Texte und Zeichen, auf die bestehende geistige Kontinuität hin : die Hoffnung auf geistige Eliten, die in der Nachkriegszeit moralisch-politisch, in den fünfziger Jahren stärker literarisch-ästhetisch apostrophiert wird. Über diese allgemeine Bestimmung hinaus betont Andersch an verschiedenen Stellen, daß Texte und Zeichen ohne ausdrückliches Programm angetreten und auch beschlossen wurden. Das bedeute soviel, daß dieses Programm nicht in programmatischen Worten zusammengefaßt werden konnte, sondern sich in den abgedruckten literarischen Texten darstellte. In verschiedenen Presserezensionen war die Zeitschrift mit dem Prädikat „avantgardistisch" belegt worden. In einer Notiz wehrt sich die Redaktion gegen diese Zuordnung, und „zwar einfach deshalb, weil die Redaktion nicht ahnt, was das Wort 'avantgardistisch' im Jahre 1956 zu bedeuten hat"200. Hans Magnus Enzensberger charakterisierte 1979 beim Erscheinen des Reprints von Texte und Zeichen die Zeitschrift „als den ernsthaften Versuch einer kleinen Zahl von demokratischen Intellektuellen, wenigstens untereinander ein Minimum von Selbstverständigung zu erreichen" und einen „latent vorhandenen, aber nirgends artikulierten Kontext sichtbar zu machen". 201 Ihren literarischen Aristokratismus, ihre literarische Qualität kennzeichnet er als den Preis dafür, „daß die Interessen der kompakten Majorität in ihren Spalten nicht vorkamen . . . Der Alltag der Bundesrepublik so gut wie gar nicht reflektiert [wird] und massive gesellschaftliche Erfahrungen geraten so gut wie gar nicht [ins Blickfeld]. Man spricht von Mallarmé, aber 101
nicht vom Rock and Roll; man analysiert die Plastiken von Giacometti, aber nicht das Werbefernsehen, man untersucht das absurde Theater, aber nicht die aberwitzige Motorisierung der Gesellschaft."202 Diese für die fünfziger Jahre charakteristische Beschränkung auf einen Kunstbegriff, der in Antinomie zum bürgerlichen Kulturbegriff begründet wurde, war die programmatische Bedingung für ein auf kritische Aufklärung gerichtetes Kunstverständnis. Andersch bestimmt Kultur in diesem Zusammenhang „zum Gegenbild alles dessen . . . was Kunst hervorruft. Kultur ist heute als Gegenstand staatlicher Verwaltung und Erzeugnis der nach ihr benannten Industrien das Anti-Künstlerische schlechthin. Sie ist als Etat, terminiertes Programm, Tagung, 'Gespräch', Spielplan, paritätisch bestimmtes Ausstellungswesen, Organisation von Akademien und Festspielen, Selbstkontrolle, 'Förderung' und Erziehung nichts anderes als ein totaler Versuch, den Strahlungskern der Kunst und des schöpferischen Denkens einzuzäunen und unschädlich zu machen."203 Die ästhetischen Positionen, die in Texte und Zeichen vertreten werden, haben weder einen einheitlichen noch einen systematischen Charakter. Sie sind allerdings durch verschiedene Vorentscheidungen in der Auswahl, durch ästhetische Positionen bekannter Ideologen, wie Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre, Max Bense, und nicht zuletzt durch die Aufsätze von Alfred Andersch mit ihrer vehementen Benn-Polemik markiert und lassen die ästhetischen Richtungskämpfe der fünfziger Jahre erkennen. Obwohl sich Texte und. Zeichen als eine literarische Zeitschrift versteht, ist für ihren Charakter eine multimediale bzw. die verschiedenen Künste einbeziehende Anlage hervorzuheben. Einen Hinweis in diese Richtung gibt schon der Titel, der für Literatur, die traditionellen Gattungen auflösend, einfach „Texte" setzt und mit dem Wort „Zeichen" auf ein der Kommunikationstheorie verpflichtetes Kunstverständnis hinweist, das im ästhetischen Zeichen den Schlüssel für eine umfassende ästhetische Kommunikation erblickt. Außer der Literatur und den auf ihr fußenden Künsten wie Film, Fernsehen, Hörspiel und Theater stellt sie in ihren Heften auch bildende Künstler, Bühnenbildner, Zeichner, Städteplaner mit ihrem Werk vor, porträtiert moderne Komponisten wie Luigi Nono und Hans Werner Henze, bespricht Ballettaufführungen und vieles andere. Daneben richtet sie ihr Augenmerk aber durchaus auf die traditionellen Gattungen der Literatur, erörtert Möglichkeiten der Kurzgeschichte, der Novelle, des Romans und ähnliches. 102
In ihrer Anlage ist die Zeitschrift international. Das findet sowohl in der Auswahl der abgedruckten Texte als auch im Spektrum der Informationen seinen Niederschlag. Auch die Auswahl dessen, was aus dem künstlerischen Erbe einbezogen wurde, gibt wichtige Aufschlüsse über ihren ästhetischen und literaturpolitischen Stellenwert. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der bürgerlichen Literatur des 20. Jahrhunderts. Neben dem deutschen Expressionismus und dem französischen Surrealismus, die mit Originaltexten vorgestellt und kritisch interpretiert werden, stehen Proust und Kafka, Döblin und Joyce, T. E. Lawrence, Eliot, die Italiener Vittorini und Pavese, die französischen Dichter Baudelaire, Lautréamont, Saint John Perse, Aragon, Montherlant, Adamov und Vertreter des „noveau roman", die amerikanische Literatur von Steinbeck über Hemingway bis zu Henry Miller, Ezra Pound und Saul Bellow. Auch Prosa und Dramen von Samuel Beckett werden für die Bundesrepublik durch Texte und Zeichen bekanntgemacht. Bei aller Vielfalt der Namen fällt auf, daß die sozialistische und auch kritisch realistische Literatur des 20. Jahrhunderts weitgehend ausgeschlossen blieb. Trotz der Beschäftigung mit Aragon, mit Neruda, der in einem in seiner Interpretation aufschlußreichen Artikel von Enzensberger vorgestellt wurde, und dem gelegentlichen Abdruck eines Brecht-Textes wird deutlich, daß auch hier die dogmatische Ausschließlichkeit der Ästheten der Literaturrevolution nicht wirkungslos geblieben war. Auf die Enge dieses Traditionsbegriffs konzentriert Günther Cwojdrak seine Besprechung im Jahre 1956, wobei er vor allem die Auslassung der klassischen Tradition und das weitgehende Ignorieren der sozialistischen Literatur kritisch vermerkt.2"'5 Bei dem Versuch, das Blickfeld für internationale Literaturprozesse durch Übersichtsartikel über die Literaturen Österreichs, Schwedens, Italiens, Frankreichs, Lateinamerikas und Afrikas zu eröffnen, sind Majakowski, Scholochow, Laxness, Hikmet, Fast, Seghers und viele andere sozialistische Autoren nicht berücksichtigt worden. Es offenbart sich die völlige Ignoranz den Literaturen der Sowjetunion und der Volksdemokratien gegenüber. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang ein sehr sachlich gehaltener Bericht über Buchproduktion und Verlagswesen in der DDR, der unter dem Titel Die zweite deutsche Uteratur205 publiziert wurde. Andersch hat sich zwanzig Jahre später sehr selbstkritisch mit dieser Einäugigkeit auseinandergesetzt und versucht, die Gründe 103
dafür zu finden. Er sieht sie schon in der Einseitigkeit begründet, mit der der Nachholebedarf nach 1945 gedeckt wurde. „Worauf wir uns stürzten, waren Amerikaner, Engländer, Franzosen, Italiener, Hemingway, Faulkner und Vittorini, Eliot, Gide und Sartre. Unsere spezielle Aufmerksamkeit widmeten wir der Literatur der Avantgarde: Kafka, Proust, Joyce und der neuen Lyrik jeglicher Observanz. Meine eigene Biographie ist ohne Sartre und Beckett nicht denkbar. Ich relativiere diese Erlebnisse nicht: Sartres 'Ekel' und Becketts 'Warten auf Godot' betrachte ich noch heute als einzigartige Abenteuer des Geistes. Nach der 'klassischen' Avantgarde kamen die Moden." 2 0 6 In dieser Konstellation sieht er die subjektiven Gründe dafür, daß Russisches „für uns nicht infrage" kam. Nach der „Nachricht, bei der Literatur der Sowjetunion handele es sich um eine staatlich gelenkte Propaganda-Unternehmung, um belletristische Interpretationen von Parteiaufträgen . . . hat er [der Intellektuelle] sich schaudernd abgewandt und es nicht einmal für nötig gehalten, diese Behauptung nachzuprüfen" 207 . Das Ergebnis war: „Von 1945 bis 1958 tauchte weder ein einzelner sowjetischer Autor noch die moderne Literatur der Sowjetunion als Ganzes am Horizont unseres Denkens auf. (Ich spreche selbstverständlich nur von Westdeutschland.) Ich finde dafür keine Erklärung. Der Antagonismus verschiedener gesellschaftlicher Systeme, das Klasseninteresse unserer herrschenden Schicht an einer falschen Struktur des Überbaus - mit dem besten Willen kann ich mich nicht dazu überreden, in ihnen die einzigen und alles erklärenden Ursachen für unsere Ignoranz einer Kultur gegenüber zu sehen, welche die Kultur eines Weltreiches ist. Welche Mechanismen haben da funktioniert, oder besser gesagt, nicht funktioniert? Ich weiß es nicht. Ich habe von 1955 -1957 eine Zeitschrift für deutsche und internationale Literatur herausgegeben. In den sechzehn Nummern dieser Zeitschrift ist nicht ein einziger Beitrag eines sowjetischen Autors, keine einzige Rezension eines sowjetischen Buches erschienen. Wie zum Hohn auf mein Versäumnis erschien im letzten Heft Wolfgang Koeppens Bericht aus der Sowjetunion 'Herr Polevoi und sein Gast', gab den Lesern der Zeitschrift 'Texte und Zeichen' einen Begriff von dem, was ihr Herausgeber versäumt hatte." 2 0 8
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„Texte und Zeichen" innerhalb der ästhetischen Ansichten der fünfziger Jahre Obwohl Texte und Zeichen in ihrer Einäugigkeit ganz und gar ein Produkt des kulturellen Klimas der fünfziger Jahre waren, die vorherrschenden ästhetischen Anschauungen, die eine Autarkie des Literarischen vom Gesellschaftlichen behaupteten und Kunst als Selbstzweck deklarierten, teilten sie nicht. Man hielt daran fest, daß Literatur eine gesellschaftliche Funktion hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse abbildet und auf sie einwirkt. Diese Funktion besteht vor allem in der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft. Einen wichtigen Stellenwert für das herrschende Literaturkonzept der fünfziger Jahre nahm die „Ästhetik der Literaturrevolution" 209 ein, die die spätbürgerliche Moderne zum Modell der Literatur im 20. Jahrhundert machte. Im Mittelpunkt dieses Moderne-Konzepts stand eine Umkehrung des Revolutionsbegriffs bzw. Entleerung von seinen sozialen Inhalten: Der Zusammenhang zwischen literarischer und sozialer Bewegung wird ignoriert, die formalen literarischen Innovationen werden zu einem „Ethos der Form" verengt. Als weltanschauliche Prämissen dieser ästhetischen Positionen galten die Überzeugung von der Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, Erkenntniszweifel und Krisenbewußtsein. Die kritische Aneignung der modernen Literatur durch Texte und Zeichen machte die Differenzpunkte zur „Ästhetik der Literaturrevolution" greifbar. Sie bestanden vor allem dort, wo der geschichtliche und soziale Zusammenhang des Entstehens von Literatur und ihre gesellschaftlichen Ziele zur Sprache kamen. Literarische Neuerungen werden nicht als pure Offenbarungen, sondern im Zusammenhang mit ihren Entstehungsbedingungen und Wirkungsrichtungen untersucht. Der polemische Bezug zu einem autonomen Literaturverständnis und gegen eine Dogmatisierung der formalen Errungenschaften der modernen Literatur ist stets gegenwärtig. So, wenn in einer regelmäßig wiederkehrenden Rubrik unter dem Titel Demystifizierungen Werke von Autoren wie Henry Miller, Ezra Pound, Gottfried Benn u. a. auf ihren wirklichen literarischen und weltanschaulichen Gehalt hin kritisch befragt werden, um so den konformistischen Sog zu enthüllen, der vom Dogma der Moderne auszugehen begann. Man setzt sich gegen eine „Befreiung vom Zwecke" zur Wehr und hält in wesentlichen Punkten an einem aufklärerisch-humanistischen Funktionsverständnis von Literatur fest. 105
Alfred Andersch hat das Konzept von Texte und Zeichen als Herausgeber und mit wesentlichen eigenen Beiträgen bestimmt. Für das erste Heft im Jahre 1955 erhält sein bereits 1950 geschriebener Aufsatz Thomas Mann als Politiker, der jetzt unter dem Titel Mit den Augen des Westens erscheint, einen programmatischen Stellenwert. Hier wird die politische und moralische Verantwortung des Schriftstellers in seiner Zeit an Thomas Manns antifaschistischer Aktivität dargelegt, zur Gegenwart und zu konkreten politischen Kämpfen stellt Andersch allerdings keinen Bezug her. Daneben geben Anderschs Essay Die Blindheit des Kunstwerks und seine kritischen Beiträge zu Erscheinungen des aktuellen Literaturprozesses wichtige Auskünfte über das ästhetische Konzept der Zeitschrift. Einen besonderen Stellenwert erhalten in diesem Zusammenhang drei Namen: Jean-Paul Sartre mit seinem Aufsatz Die Nationalisierung der Literatur, Theodor W. Adorno mit den Aufsätzen Rückblickend auf den Surrealismus und Die Wunde Heines, Max Bense mit Die Aktualität der Hegeischen Ästhetik und mit Rezensionen zu Hegels ästhetischem Gesamtwerk. Zweifellos ist es so, daß der Einfluß dieser Theoretiker auf die Konzeptionsbildung von Texte und Zeichen über den Abdruck der genannten Aufsätze hinausgeht. Das ist besonders im Falle von Adorno so, dessen Positionen aus seiner Dialektik der Aufklärung unausgesprochen als Prämissen übernommen werden. Hier hatte er seinen Begriff der negativen Aufklärung entwickelt, mit dem es ihm darauf ankam, den Prozeß der Verdinglichung zu durchbrechen, der durch „die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität" charakterisiert wird, „die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung" 210 verschafft. Dem durch den manipulativen Mißbrauch der kulturindustriellen Apparate erzeugten „Verblendungszusammenhang" ist nach Adorno nur durch Aufkündigung von Einverständnis und Unnachgiebigkeit gegenüber dem „Prinzip der blinden Herrschaft" zu entgehen. Wie bei Adorno wird mit der Entgegensetzung zur affirmativen Massenkultur, die Texte und Zeichen vollziehen, der Kunst ein a priori gesetzter emanzipatorischer bzw. kritischer Charakter zugestanden. Welche verschiedenen Vorstellungen über die Rolle der Kunst selbst auf dieser Grundlage möglich waren, zeigt sich in der durchgehenden Polemik mit den herrschenden ästhetischen Ansichten eines l'art-pour-l'art-Standpunktes und mit der Adorno106
sehen Autonomievorstellung, die mittels Sartres EngagementBegriffs immanent kritisiert wird. Mit dem Aufsatz von Sartre ist zugleich auch der Punkt bezeichnet, an dem sich Andersch von Adornos Kunstvorstellungen absetzt. Sartre entwickelte in seinem Aufsatz Die Nationalisierung der Literatur seine Vorstellungen vom Engagement entsprechend den Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg. Ihr wichtigster Ansatzpunkt war das Adressiertsein der Literatur an Leser. Adornos Kritik der subjektivistischen Seite von Sartres Engagement-Position, die er 1962 in seinem Rundfunkvortrag Zur Dialektik des "Engagements entwickelte, wird in dieser Zeit noch nicht wirksam, wiewohl sie seinen ästhetischen Auffassungen immanent ist. Mit den genannten Aufsätzen Adornos wurden von der Redaktion der Texte und Zeichen solche Beiträge gewählt, die den Zusammenhang des literaturgeschichtlichen Prozesses beschreiben. Die kulturkritischen Arbeiten Adornos finden keinen direkten Eingang, obwohl zweifellos das Selbstverständnis der Zeitschrift Adornos kritische Negation des Gesamtobjekts der modernen Kultur zur Voraussetzung hat. In seinem Aufsatz Die Wunde Heines hebt Adorno, entgegen seiner ästhetischen Theorie der Moderne, deren Akommunikativität und Abstraktion er als unabwendbare Folgen der Fetischisierung der Sachwelt im Kapitalismus bejaht und in ihr den letzten Widerstand gegen diese Sachwelt erblickt, an Heine gerade die Macht des „ohnmächtig Spottenden" hervor. Er arbeitet am Beispiel Heines den Zusammenhang von Marktabhängigkeit und Autonomie heraus und steht damit im Gegensatz zu den Verfechtern der Literaturrevolution, bei denen die Autonomie von den geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung abgehoben und zum „Eigentlichen" der Dichtung stilisiert wird. Heine, so Adorno, habe sich in „aller Affinität zur Romantik einen unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt" 211 , sich dem Individualismus der Innerlichkeit nicht gebeugt und einen emanzipatorischen Vorgriff auf eine befreite Gesellschaft unternommen. Andererseits aber geht Adorno an der spezifischen Leistung Heines vorbei, indem er ihn auf einen Begriff von Moderne bezieht, der allein Baudelaire zum Maßstab erklärt und Heine als einen zu inkonsequenten Modernisten212, weil er seine „dichterische Technik der Reproduktion . . . auf die überkommenen romantischen Archetypen angewandt, nicht aber Archetypen der Moderne getroffen" 213 habe. Mit seinem Aufsatz 'Rückblickend auf den Surrealismus wandte 107
sich Adorno einem literaturgeschichtlichen Gegenstand zu, der innerhalb der „Ästhetik der Literaturrevolution" neben dem deutschen Expressionismus einen modellhaften Stellenwert erhalten hatte. Dabei ist sein aktueller Ausgangspunkt darauf gerichtet, den Surrealismus als konkret historische Erscheinung zu analysieren, die mit der versachlichten Warenwelt und der Entfremdung im Kapitalismus zusammenhängt, und ihn zu sehen als „Album der Idiosynkrasien, das einsammelt, was die Sachlichkeit dem Menschen versagt" 2 1 4 . Adorno wendet sich polemisch gegen die Vorstellung, daß im Surrealismus das Unbewußte „an sich" zur Darstellung käme, und hebt dagegen den rationalistisch-aufklärerischen Charakter der Metaphern und des Montageprinzips hervor, mit dem ein neuer Zusammenhang gestiftet und Einblicke in die versachlichte Welt zugelassen werden. Er hält damit an bestimmten aufklärerischen Positionen im Literaturverständnis fest, die er gegen die Mystifizierung der Literaturproduktion setzt. Benses ästhetische Überlegungen werden in der Zeitschrift nur bruchstückhaft vorgestellt. Dessen Ästhetik hält ebenfalls an einem aufklärerischen, auf Emanzipation gerichteten Ausgangspunkt fest. Bense versteht seine Ästhetik als Konsequenz der wissenschaftlichtechnischen Revolution und ihrer Anwendung auf die Kunst. In seiner Aesthetica (Max Bense: Aesthetica. Metaphysische Beobachtungen am Schönen. Stuttgart 1954; ders.: aesthetica. Bd. 2 . - 4 . Baden Baden 1956 -1960; 2. Aesthetische Information. 1956; 3. Ästhetik und Zivilisation. Theorie der ästhetischen Kommunikation. 1958; 4. Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik. 1960.) leitet er die künstlerische Produktion aus der zeichenhaften Kommunikation ab, die sich im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution entwickelt hat. Im zweiten Band seiner Ästhetik nutzt er Denkweisen und Begriffe der Informationstheorie, um die Grundlagen einer neuzeitlichen Ästhetik zu entwickeln. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Gestalt der modernen Literatur als Ausdruck einer veränderten Welt. Dabei erhalten in seinem Verständnis moderner Kunst technische Rationalität und die durch sie bedingten Bewußtseins- und Wahrnehmungsstrukturen des Menschen eine Schlüsselstellung. Demgemäß sieht er den entscheidenden Unterschied zwischen moderner Kunst und vorhegelscher Kunst und Theorie darin, daß die Kunst nicht mehr als Ausdruck menschlichen Seins fungiert, daß ihr Schönheitsbegriff nicht mehr unmittelbar an die Empfindung der objektiven Welt 108
gebunden wird (z. B. der Satz: „Der Mond ist schön" als Ausdruck einer solchen optischen Schönheits- und Kunstempfindung), sondern daß der moderne Schönheitsbegriff semantisch strukturiert ist, d. h., die Dinge werden erst durch das Zeichen schön, das man für sie findet. Diese Zeichen nehmen durch die umfassende technische Rationalität, der der Mensch ausgesetzt ist, einen integrativen, sowohl verschiedene menschliche Ausdrucks- und Erkenntnisweisen als auch einen die Nationen übergreifenden planetarischen Charakter an, wodurch sie sich in einen allgemeinen kommunikativen Fluß einordnen. In ihn sind auch die ästhetischen Informationen eingeschlossen. Dieser Zusammenschluß ist für Bense die Voraussetzung die auseinandertreibende moderne Welt auf technischer Grundlage zu vereinheitlichen. Innerhalb der ästhetischen Position von Texte und Zeichen haben Benses Überlegungen konzeptionellen Charakter, wovon schon der Titel der Zeitschrift Zeugnis ablegt. Man versucht sich so auf einen Entwicklungsprozeß einzustellen, in dem sich durch eine rasante wissenschaftlich-technische Entwicklung, z. B. die Herausbildung neuer Nachrichtenübertragungs- und Informationsmittel, auch der Begriff von Ästhetik und die Bedingungen künstlerischer Produktion zu verändern beginnen bzw. verändert haben. Die Produktivität des Gedankens einer Unterscheidung von gegenständlich-abbildendem und Zeichencharakter künstlerischer Ausdrucks- und Darstellungsmittel haben Bense und Heißenbüttel bei der Betrachtung abstrakter Bilder demonstriert. Den Anspruch auf generelle Geltung, den Benses Ästhetik erhebt, weist man in der Zeitschrift indirekt zurück, indem die traditionellen literarisch-künstlerischen Gattungen, wie Roman, Kurzgeschichte, Erzählung usw., danach befragt werden, wie sie unter veränderten Bedingungen noch wirksam bleiben können. Dabei ist stets die Warnung vor einer durch den manipulativen Gebrauch der neuen Kommunikationsmittel ausgelösten kulturellen Verwilderung präsent. Der Geltungsbereich der Benseschen Überlegungen wird auch durch Versuche eingeschränkt, den besonderen Charakter ästhetischer Information gegenüber einer allgemeinen Kommunikation zu bestimmen. Eine dritte abgrenzende Position ist mit dem schon erwähnten Essay Sartres gegeben. In diesem Beitrag geht es um den Versuch einer Positionsbestimmung für den bürgerlichen Schriftsteller in der Mitte der fünfziger Jahre, also unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Erfahrungen, die nach dem Kriege im Frankreich der vierten Republik gesammelt wurden. Hierin eingeschlossen sind 109
für Sartre, neben den offiziellen Bestrebungen zur Institutionalisierung der Literatur durch den imperialistischen Staat, Aktivitäten innerhalb der Weltfriedensbewegung, gegen den Kolonialkrieg in Indochina und Algerien, für die Freiheit spanischer Intellektueller, die auch in Texte und Zeichen Eingang gefunden haben. (Die einzige direkte politische Aktivität der Zeitschrift.) Diese Erfahrungen werden zwar nicht ausdrücklich benannt, bilden aber den Hintergrund für Sartres Versuch, seine Position zu bestimmen, vor allem in Abgrenzung von der verbreiteten Praxis, Autor und Buch zu institutionalisieren, die Literatur zu einem „wohlgemeinten Beitrag zum größeren Glänze der vierten Republik" 215 zu machen. „Nie war die Literatur von einer ernsteren Gefahr bedroht: Die amtlichen und halbamtlichen Instanzen, die Regierung, die Zeitungen, vielleicht sogar die Hochfinanz und die Schwerindustrie entdecken die Macht der Literatur und wollen sie zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wenn ihnen das gelingt, wird der Schriftsteller wählen können: Entweder er widmet sich der Wahlpropaganda oder er tritt einer Sonderabteilung des Informationsministeriums bei." 216 Sartre setzt gegen diese erlebte Einfunktionierung den Appell an die individuelle Moral des Schriftstellers, der sich seiner Lage bewußt werden muß und seinen Platz an der Seite der Unterdrückten zu wählen hat. Die Verantwortung des Schriftstellers ergebe sich aus der gesellschaftlichen Bestimmtheit seines Berufes. Er gehe als einzelner ein Wagnis ein und schaffe das „Verlangen nach Gerechtigkeit, Freiheit, Gemeinschaftssinn"217. Sartre konkretisiert seinen Engagementbegriff stets unter Berücksichtigung sozial bedingter Gegensätze, wie sie in der von ihm wahrgenommenen Welt in Erscheinung treten, bindet ihn aber an die Moral des einzelnen Schriftstellers, die sich aus seiner Stellung in der arbeitsteiligen Gesellschaft ergibt. Diese gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers führe dazu, daß sich seine individuelle Verantwortung vervielfachte. Wesentliche Grundgedanken dieser Engagement-Bestimmung wurden von Andersch und anderen progressiven Schriftstellern schon in der deutschen Nachkriegssituation aufgenommen. Daß man sich 1955 auf ihren aktualisierten Zusammenhang beruft, zeigt, daß sie nach wie vor als wesentliche Grundlage des eigenen Selbstverständnisses verstanden wurden. Insofern überrascht die Einbeziehung dieser Gedanken in das Konzept der Zeitschrift und in die Überlegungen von Andersch nicht, sie erfolgt allerdings, im Unterschied zur Nachkriegszeit, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Sartres existentialistischen Freiheits110
begriff. Sartres Gedankengänge über die Einfunktionierung von Autor und Literatur in die herrschende politische Öffentlichkeit und ihre politische Neutralisierung finden in dieser Zeit in der BRD erst langsam Resonanz. Zwar ist der Grundgestus des Selbstverständnisses linker Autoren durch die polemische Abstoßung und Abwehr von staatlichen Integrationsversuchen gekennzeichnet, aber der gesellschaftliche Mechanismus als Ganzes bleibt noch weitgehend undurchschaut. Die Abrechnung mit der politischen Neutralisierung der Literatur durch den Literaturbetrieb erfolgt erst in den sechziger Jahren. Literatur als Arbeit an den Fragen der Epoche — Engagement und Experiment als Eckpfeiler einer modernen Literatur Eine polemische Haltung gehört zu den Charakteristiken von Texte und Zeichen. Sie geht vor allem in zweierlei Richtungen: einmal gegen die Überreste eines völkisch-nationalistischen und konservativen Literaturverständnisses, das sich im restaurativen Klima der fünfziger Jahre konserviert und reproduziert hatte. Zum anderen gegen einen Ästhetizismus, der auf sein Herkommen von der Moderne pochte, in dem sich aber die erneuernden Impulse moderner Literatur längst zu einem dogmatischen Formenkanon verengt hatten. Hier waren vor allem Gottfried Benn und seine dichterischen und kritischen Adepten gemeint. Für den ersten Zusammenhang ist eine Polemik von Alfred Andersch gegen einen Aufsatz in den Neuen Deutschen Heften aufschlußreich, in der er einen Literaturbegriff zurückweist, der Dichtung und Literatur, Gefühl und Verstand gegenüberstellt und die Versenkung ins Mythische gegen kritischen Intellekt aufbietet. Andersch nimmt Bezug auf die gesellschaftliche Wirkungsintention eines solchen Dichtungsverständnisses, indem er äußert, daß „der Reaktionär mit der Keule des falschen Dichtungsbegriffs gegen alle Versuche wütet, auf Freiheit gegründete Ordnungen zu verwirklichen" 218 . Auch die ausführliche Polemik mit dem NS-Literaturhistoriker Paul Fechter'durch Harry Pross geht in diese Richtung. Es blieb eine seltene Ausnahme in Texte und Zeichen, daß für diesen Zusammenhang Günther Cwojdraks Pamphlet gegen Fechter beachtet wurde. Pross wertet die Neuauflage von Fechters Literaturgeschichte als einen Beweis für das Unbewältigte der faschistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik und verlangt eine 111
öffentliche Auseinandersetzung um diese Fragen. „Ändern muß sich die Gewohnheit, alles als verjährt zu betrachten, was zwölf oder zwanzig Jahre zurückliegt. Wir sind mit der Hitlerei nicht fertig und noch weniger mit ihrer Vorgeschichte. Das zeigt Fechters Beispiel, das zeigen ungezählte andere, die angesichts der Oder-Neiße-Linie die Volkstumsleier wieder schlagen." 219 Die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Ästhetizismus bildet auch für Andersch die unmittelbare Voraussetzung für die Präzisierung und Bestimmung der eigenen ästhetischen Position. Sie erfolgt in seiner Essayistik, vor allem in Die Blindheit des Kunstwerks. In Anderschs Überlegungen lassen sich drei Problemkreise ablesen: 1. die Betonung der Humanisierungsfunktion der Literatur in Polemik mit dem zeitgenössischen Ästhetizismus; 2. die Rekurrierung auf erkenntnistheoretische Voraussetzung für das Festhalten am Abbildcharakter der Literatur und gegen ihre Autarksetzung und 3. das Offenhalten der Überlegungen gegenüber dem literaturhistorischen Prozeß. Deutlich muß allerdings hervorgehoben werden, daß Anderschs ästhetische Ansichten nicht etwa ein geschlossenes ästhetisches System darstellen und daß sie nachträglich auch nicht zum System gemacht werden sollten. Seine Überlegungen, in denen der Anspruch der Literatur auf eine gesellschaftliche Wirksamkeit behauptet wird, erhalten ihren Rang als Beitrag eines produzierenden Künstlers, der zugleich als Organisator, Herausgeber und Kritiker den lebendigen Literaturprozeß wesentlich mitgeprägt hat. Schlüsselbegriffe seines Verständnisses von Kunstproduktion und ihrer gesellschaftlichen Rolle sind Wahrheit und Engagement. Dabei bilden diese Begriffe nicht den Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis einer Argumentationskette, die, sich polemisch von den aktualisierten Versuchen eines Ästhetizismus abgrenzend, zur positiven Bestimmung dessen fortschreitet, was Kunst vermag und welchen gesellschaftlichen Stellenwert sie hat. Diese weltanschaulich-moralische Fundierung seines Literaturbegriffs grenzt ihn von Adorno ab, dessen Einfluß aber in verschiedenen anderen Punkten spürbar bleibt. Andersch teilt Adornos Grundüberzeugung, daß Kunst ein Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse ist, so wenn er z. B. die abstrakte Kunst zur „instinktiven oder bewußten Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie" erklärt. „Die abstrakte Kunst ist nicht Kunst ohne Inhalt, sondern Kunst des Aufstandes gegen den zur Ideologie degradierten Inhalt in der Weise des Sich-Entziehens." 220 Zwar erkennt er die Gefahr der Integration dieser abstrakten Kunst, 112
weil sie in der Gegenwart immer stärker zur Dekoration oder zum leeren Formalismus verkomme, aber ihren elementaren Impuls sieht er in diesem Zusammenhang. Für die Bestimmung der Möglichkeiten von Literatur aber wird diese Nähe zu Adornos Ideen nicht unbedingt wirksam. In den aktuellen Versuchen, eine Autarkie der Literatur von der Gesellschaft zu verkünden, sieht er eine Dogmatisierung und Verabsolutierung dessen, was die Kunst nur ihrem Anschein nach tut. Er wendet sich entschieden gegen eine Ästhetik, die in „ihren letzten Ausformungen erklärt, der einzige Inhalt der Kunst sei ihre Form", und die Richtung, in der sich die Kunst bewegt, die „Erledigung der Wahrheit zugunsten einer Fundamentierung des Stils"221, w i e er in der Polemik gegen Benns Theorie der reinen Ausdruckskunst und gegen Albrecht Fabris' Theorie einer modernen Kunst bemerkt. Die Versuche, das dichterische Subjekt autonom zu setzen, veranlassen ihn dazu, auf das erkenntnistheoretische Grundproblem des Verhältnisses von Subjekt und Objekt zu verweisen, es kann „nicht trickhaft aus der Welt geschafft werden. - Auch das Verhalten des abstrakten Künstlers ist das Verhalten eines erkennenden Subjekts zu einer von ihm unabhängigen, real existierenden, objektiven Außenwelt" 2 2 2 . Aus diesem Spannungsverhältnis entstehe Kunst, deren Sinn in der Wahrheitserkenntnis zu suchen sei, die in der dem Kunstwerk eigenen Seinsweise erscheine. „Nur indem Kunst sich auf den alles Erkennen voraussetzenden Begriff der Wahrheit bezieht, vollzieht sie den Auftrag, die Gesellschaft geöffnet zu halten. Freiheit, die Bedingung der Kunst, ist nur in einer die Bemühung um die Wahrheit offen haltenden Gesellschaft möglich. So mag Kunst von allem abstrahieren, - . . . (von der Wahrheit selbst abzusehen, ist ihr, ihrem Wesen nach unmöglich)." 2 2 3 Gegen das Schweigen , das Dunkel, die Blindheit und die völlige Absonderung der „Konfigurationen eines göttlichen Kunstgewerbes", eines l'art-pour-l'art-Standpunkts, setzt Andersch sein Bekenntnis: „Die Literatur ist Arbeit an den Fragen der Epoche, auch wenn sie dabei die Epoche transzendiert . . . Jedes vollkommene Kunstwerk ist ein gelungener Ausbruch aus der Blindheit der reinen, sich selbst genügenden Form." 2 2 4 Für Anderschs ästhetische Position bleibt der Versuch bestimmend, künstlerische Subjektivität in ihrem Zusammenhang zu Erkenntnis und Veränderung gesellschaftlicher Umstände zu sehen, also auf eine Funktion zu gründen. Dabei bleiben Verantwortung und Entscheidung wichtige Kategorien, die er späterhin allerdings nicht mehr mit 8
Reinhold, Andersch
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dem Begriff Engagement faßt. Adornos Kritik an der Offenheit einer nur auf Sittlichkeit und nicht auf dem Formgesetz der Kunst begründeten Fassung von künstlerischer Subjektivität und Wirkung hat die schwachen Punkte dieses Konzepts aufgezeichnet. Für ihn liegt hier ein Fall des Sich-Einlassens auf abzulehnende Verhältnisse vor, demgegenüber er seine Vorstellung einer „rücksichtlosen Autonomie" von Kunstwerken entwickelt, die „der Anpassung an den Markt und dem Verschleiß sich entziehen" und damit „unwillkürlich zum Angriff" werden müssen.225 Ihren Bezug zur Gesellschaft sieht Adorno allein darin, daß sich moderne Literatur in Formkategorien, in der „Umgruppierung der Momente kraft ihres Formgesetzes" 226 zur Realität verhält. So erklärt er in einer Interpretation der Werke Becketts, den er gegen Brecht polemisch absetzt, die Abstraktheit seines Werkes sei ein „Reflex auf die Abstraktheit des Gesetzes, das objektiv in der Gesellschaft waltet" 227 . Hier sieht er die Abdankung des Subjekts gestaltet, eine Prämisse, die gerade von Andersch und auch anderen Autoren, die sich Adorno in vielem verbunden fühlen, nicht angenommen wird. In Anderschs Vorstellung von Gesellschaft und geschichtlicher Welt wird die geschichtliche Dialektik als Widerschein der sozialen und politischen Antagonismen nicht zur fetischisierten Eindimensionalität eingeebnet, wie sich gesellschaftliche Wirklichkeit letztendlich für Adorno darstellt. Für Andersch ist Geschichte immer etwas Gemachtes, mit Ursache und Wirkung verbunden und insofern auch dem Eingriff des Subjekts offen. Das ist der Punkt, an dem er mit seiner auf Kategorien der Moral gegründeten Fassung von der Subjektivität des Künstlers auf eine gesellschaftliche Wirkung zielt, die den Leser als Partner des Autors immer ausdrücklicher in den Schreibvorgang hineindenkt. Innerhalb dieser grundsätzlichen Prämissen stellt sich Andersch voll auf den sich entwickelnden Kunstprozeß ein. Das wird auch an seiner literatur-, film- und kunstkritischen Arbeit deutlich, in der er stets vom Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Zielrichtung und den eingesetzten ästhetischen Mitteln ausgeht, hellhörig auf neue Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst reagiert und sich gleichzeitig unnachgiebig gegen leere Pose und formale Routine wendet. Das ist vor allem auch an seiner Rezension zu Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom ablesbar, ein Buch, das Andersch als eine „Choreographie des politischen Augenblicks" bezeichnet, in dem sich ein „Künstler von unbedingtestem Formanspruch . . . als politischer Romancier verwirklicht" 228 . Auch in einer Analyse der 114
Lyrikentwicklung um die Mitte der fünfziger Jahre, die er unter der Überschrift Lyrische Demoskopie vornimmt, wird die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion zum Angelpunkt. Er beschreibt eine wahre Lyrikinvasion und meint, das Produzieren von Gedichten gehöre offensichtlich zum Volkssport. In der überwiegenden Mehrzahl zeugten die Produkte, in denen übrigens die Moderne umfassend angeeignet wurde, von der tiefen Verfallenheit mit der Welt, in der die Dichter leben. Insofern wertet Andersch sie als Dokument von soziologischem Interesse. Er kritisiert zugleich, daß der ihnen innewohnende Protest keine große politische Lyrik hervorbringt, sondern durch die Bemühungen um „reine Kunst" neutralisiert wird. Die Anklage der Gedichte bleibe verschwommen, die Distanz zur historisch-politischen Wirklichkeit drücke sich in Fluchtbewegungen aus. In diesem Zusammenhang scheint ihm die Tatsache, daß Spuren des Dichters Bertolt Brecht nicht aufzufinden sind, durchaus symptomatisch. Von dieser Position her wendet sich Andersch später auch gegen die thematisch-stoffliche Reduktion, durch die ganze Wirklichkeitsbereiche aus der westdeutschen Literatur ausgegrenzt bleiben. Ein besonderes Versäumnis sieht er darin, daß „die Arbeitswelt als der wichtigste Schauplatz des menschlichen Lebens" und die Fragen des Geldes ausgespart sind. Zwar verbindet er diese Kritik mit einer pauschalen Abqualifizierung der Bemühungen der sozialistischen Literatur um diese Problematik — er wertet sie als „deformiert" - , versucht, den „formalen Tiefstand der kommunistisch beauftragten Belletristik" zu belegen, gleichzeitig aber sieht er hier die „Moralität eines geistigen Ansatzes", den er in der westdeutschen Literatur vermißt. „Man gewinnt den Eindruck, daß sie [die westdeutsche Literatur] in Gehirnen konzipiert wird, denen der Gedanke, sie könnten den wichtigen Schauplatz des menschlichen Lebens zum Schauplatz der Konflikte ihrer Romane, Dramen und Gedichte machen, überhaupt nicht kommt."® Im Umgang mit kunstgeschichtlichen Phänomenen, die als Moderne bzw. Avantgardismus gefaßt werden, bewegt sich Andersch innerhalb der beschriebenen Voraussetzungen, wobei er diese Begriffe außerordentlich zurückhaltend anwendet. Sein Interesse ist vorrangig auf Fragen der Literaturproduktion und eines gesellschaftlich verankerten Autorenverständnisses gerichtet. Er grenzt sich gegen mystische und irrationalistische Bestimmungen von Dichtung und Literatur ab, betont dagegen den Arbeits- und Werkstattcharakter literarischer Produktion. Das ist auch der Grund für die Herausgabe 8»
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von Hans Werner Henzes Roman „eines Balletts" Undine, in dessen Vorwort er die kollektiven Produktionsbeziehungen der Menschen für die Erarbeitung eines Kunstwerks hervorhebt und alle Vorstellungen vom einsamen Genie ad absurdum geführt sieht. Andersch versteht den Autor als einen kollektiven Produzenten, und er hat für sich solche Beziehungen auch wiederholt gesucht. Die Literatur der Moderne sieht er durch diesen Werkstattcharakter gekennzeichnet. Durch die Verwendung von Montage, durch den Einsatz der Metapher und durch ihren Konstruktionscharakter habe sie einem auf Geniekult aufbauenden Dichtungsbegriff den Todesstoß versetzt. Bei der näheren Betrachtung solcher historischer Phänomene wie der Moderne unterscheidet er zwischen ihrer tatsächlichen Rolle und dem „Terror jener Dogmatiker, denen das Publikum heute die Rolle einer offiziell anerkannten Avantgarde" 230 zuerkannt hat. Im Vorwort zu dem Offenen Tagebuch des italienischen Dichters Elio Vittorini, das Andersch herausgibt, heißt es: „Ich bin mir des Leichtsinns bewußt, dem ich mich hingebe, indem ich diesen Namen [die Moderne] verwende. Wir leben in den Jahren, in denen die Moderne allmählich zum Gegenstand historischer Forschung geworden ist; sie geht weiter, aber sie ist doch in die Jahre gekommen. Was sich enthüllt, ist ein Janus-Haupt. Wir wissen heute, daß es eine konservative Moderne gibt, eine revolutionäre, eine reaktionäre und eine progressive, eine rechte und eine linke, und zwar sehr oft innerhalb der stilistischen und gedanklichen Bewegungen, in denen sich die Moderne vollzieht; innerhalb des Expressionismus, des Surrealismus, des Geometrismus, der 'art informel': Die Dialektik des Geistes, die Spannung zwischen Romantik und Klassik, zwischen Irrationalem und Ratio, zwischen Existentialismus und Objektivismus, zwischen Mythologisierungen und Aufklärung, bleibt innerhalb jenes Stilphänomens, das wir Moderne nennen, erhalten. Aber was ist dann die Moderne, wenn sie etwas ist, was es immer gegeben hat? Sie ist nichts anderes als eben jene Dialektik selbst, als die dialektische Schärfe, als die ganz neuartige Spannung zwischen Polen, deren Berührung die Stilphänomene zur Entladung bringt, die wir als die spezifisch modernen betrachten: den Choc oder das große elektrische Feld. Picasso oder Klee. Faulkner oder Proust. Beckett oder Vittorini." 231 Im konkreten analytischen Bezug auf seinen Gegenstand entwickelt Andersch in drei Aspekten, worin er die Bedeutung der Moderne sieht : Von der Seite des Künstlers sieht er sie als eine neue 116
Weise, die Welt zu sehen, als eine neue Sensibilität, mit der dieser auf veränderte Wirklichkeit reagiert, von der Seite des Kunstwerks her analysiert er dessen veränderte Gestalt im Zusammenhang von härtestem Verismus und subjektivster Selbstaussage, die dieses Werk zum Ereignis werden lassen, und unter dem Aspekt der Wirkung hebt er hervor, daß Moralität und Kunst eine Einheit bilden können, daß die „grausamste Anklage zur reinsten Poesie, die zauberischste Schönheit zum furchtbarsten Schrecken"232 werden kann. Auch in Anderschs Umgang mit dem Phänomen der Moderne ist der innere Widerspruch zu Adorno eingezeichnet. Während Adorno mit dem „Autonomiebegriff" die Weigerung, an der Herstellung des „gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs" teilzunehmen, eine b e s t i m m t e Reaktion auf veränderte Wirklichkeitsbedingungen, zum absoluten Gesetz moderner Kunst erklärt, läßt sich Andersch stärker auf die tatsächlichen Widersprüche des literarischen Prozesses ein, aus denen heraus er die möglichen Folgen für das künstlerische Subjekt und das literarische Kunstschaffen analysiert, um auch so auf den im geschichtlichen Prozeß angelegten Spielraum zu verweisen. „Texte und Zeichen" und die Literatur der BRD Anderschs Auffassungen zur Moderne markieren auch das Umfeld, in dem sich die Zeitschrift Texte und Zeichen auf die Verbreitung der zeitgenössischen Literatur in der BRD konzentrierte. Der Abdruck neuerschienener oder noch unveröffentlichter Texte, Gedichte, Hörspiele, Essays und die umfangreiche Literaturkritik, in der die übersetzte und landeseigene Literaturproduktion recht umfassend zur Kenntnis genommen wurde (vorgestellt werden u. a. Prosa von Boll, Koeppen, Jens, Rehn, Opitz, Ledig, Hartlaub, Walser, Lenz und Gedichte von Bachmann, Eich, Celan, Grass, Enzensberger, Rühmkorf, Weyrauch), belegt, daß die Redaktion bei der Auswahl der Titel eine glückliche Hand hatte. Alle wichtigen Namen und Bücher aus dem aktuellen Literaturangebot jener Jahre sind vertreten. Die eingehende Analyse dieser Literaturkritik bildet ein Thema für sich. Sie kann hier nicht geleistet werden. Für den vorliegenden Zusammenhang sollen nur zwei Gesichtspunkte hervorgehoben werden, die die Maßstäbe dieser Kritik beleuchten. Es ist die auch von Andersch erhobene Forderung nach Wahrheit, wofür auch Gesellschaftskritik bzw. Realismus als Synonyme gebraucht werden, und es ist die Auffassung vom literarischen Experiment, 117
dessen inhaltliche Bestimmung in Texte und Zeichen diskutiert wird. Die Redaktion von Texte und Zeichen schrieb für das Jahr 1957 einen Romanpreis aus. Er sollte in Höhe von 3000 DM für „einen realistischen, zeit- und gesellschaftskritischen Roman" 233 vergeben werden. Für die nähere Begründung ist kennzeichnend, daß der Begriff „realistisch", anknüpfend an Vorstellungen der Nachkriegszeit, im Sinne gesellschaftlicher Zielvorstellungen, im Sinne von Gerichtetsein auf gesellschaftliche Verhältnisse gebraucht wird, andererseits aber erscheint eine nähere Erklärung über die nicht beabsichtigte stilistische Einengung bei der Verwendung des Begriffs notwendig, weil im herrschenden Gebrauch des Wortes er nurmehr auf Stileigentümlichkeiten der Literatur des 19. Jahrhunderts festgelegt wurde. „Mit dem Wort realistisch wollen wir keine stilistische Einengung erreichen. Im Gegenteil werden alle Arbeiten, die auf eine Erweiterung der Möglichkeiten deutscher Sprache abziehen, unser besonderes Interesse finden . . . Wir setzen Realismus also nicht mit Reportage gleich, sondern wir sprechen von Prosagebilden, die wie sehr auch verfremdet, etwas von den heute bestimmenden gesellschaftlichen Zusammenhängen spürbar machen." „Mit 'realistisch' bzw. 'gesellschaftskritisch' sollen weder Tendenz, noch Thematik vorgeschrieben werden, sondern klar gemacht werden, daß unter zwei Arbeiten mit dem gleichen künstlerischen Rang, die mit dem größeren kritischen Mut ausgewählt werden wird." 234 Im Ergebnis des Preisausschreibens werden 47 Romane eingesandt, die Jury, Theodor W. Adorno, Max Bense, Wolfgang Koeppen, Karl Korn und Alfred Andersch, vergab keinen Preis. Ist das Gesamtkonzept der Zeitschrift auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher Funktion und künstlerischem Wert gerichtet, so heißt das nicht, daß dieser Zusammenhang in den einzelnen Artikeln stets präsent ist. Die Beiträge stehen in einem polemischen Bezug zueinander. Das trifft z. B. auf Walter Jens' Plädoyer für die abstrakte Literatur zu, mit dem er den extremen Gegenpol zu den in der Begründung des Romanwettbewerbs genannten Gesichtspunkten bildet. Jens nimmt in den ästhetischen Diskussionen zwischen den „Autonomisten" und den „Engagierten" eine Zwischenstellung ein, die sich auch in seinen Arbeiten Statt einer Uteraturgeschichte (1957) und Deutsche Uteratur der Gegenwart (1961) ausdrückt. Obwohl auch er bestimmte literaturgeschichtliche Epochen als Modelle ansieht und daraus einen Kanon weltanschaulicher, durch die spätbürgerliche Philosophie und Weltsicht geprägter Prämissen und moderner 118
Gestaltungsweisen ableitet, behauptet er doch den Zusammenhang von Literatur und Wirklichkeit, die er allerdings nur als widerspruchsfreie Uniformität wahrnimmt. Das zeigt sich z. B. in seinen Bemerkungen über die stofflich gegenständliche Reduktion der westdeutschen Literatur, aus der ein späterer Zeitgenosse die Vorstellung gewinnen müsse, als hätten die Menschen in einem ständigen Feierabend gelebt. Sein Plädoyer für die abstrakte Uteratur235 verrät die Polemik gegen ein Dichtungs- und Dichter Verständnis, das aus „mythischen Seinsgründen" gespeist wird und an konventionellen Vorstellungen von Literatur klebt, die dem lebendigen Literaturprozeß nicht gerecht werden. Gegen eine Literaturkritik, der „naives Fabulieren" als „einziger Ausweis literarischen Talents" gilt, hält Jens mit gleicher verabsolutierender Schärfe das „literarische Kalkül", das „artistische Element", die „Abstraktion", den „poeta Doctus", den er zur unabdingbaren Voraussetzung moderner Literaturproduktion erklärt. Hier faßt Jens seinen Literaturbegriff nur von der formal-technischen Seite her, aus der die Fragen nach dem inhaltlichfunktionalen Gebrauch vollkommen ausgegrenzt bleiben. Zwar berührt er sich in der Betonung des Arbeitscharakters und der rationalen Elemente von Literaturproduktion auch mit Überlegungen von Andersch, aber in seiner Fassung von artistischer Abstraktion und künstlerischem Experiment können sich auch literarische Versuche bestätigt finden, die zum leeren Formalismus neigen. Von dieser Tendenz ist übrigens auch seine eigene Prosa aus dieser Zeit nicht frei, in der die Demonstration der These von der Undurchschaubarkeit und Ungestaltbarkeit der Welt zu einem immer höheren Grad der abstrakten Konstruktion geführt hat. Eine Position, die in den sechziger Jahren in die Krise gerät und unter dem Eindruck bedrängender gesellschaftlicher Veränderungen von jüngeren Autoren kritisiert wird. So durch Dieter Wellershoff in seinen Thesen zu einem „neuen Realismus" (In: Die Kiepe, 1/1965): „abstrakte Daseinsmodelle" weist er als nicht evident zurück, statt dessen verlangt er nach einer Hinwendung zu den alltäglichen Realitäten des Lebens. Wichtige weltanschauliche Prämissen wie Erkenntniszweifel und Undurchschaubarkeit der Welt bleiben allerdings unangefochten. Innerhalb von Texten und Zeichen stehen Jens' Thesen in einem Umfeld von korrigierenden Ansichten. Obwohl nicht direkt auf Jens verwiesen wird, an Hans Magnus Enzensbergers Beitrag Die Kunst und das Meerschweinchen oder: Was ist ein Experiment? ist auch eine Kontrastellung ablesbar. Enzensberger, und das ist für diesen 119
Zeitraum selten, artikuliert hellsichtig den inneren Zusammenhang zwischen den ästhetischen Auffassungen der „fortschrittlichen deutschen Literatur" und denen, die in den „kritischen Wäldern der Restauration" herrschen. Er weist nach, daß bei ersteren das Experiment als „Cetero censeo" gepriesen, während es bei den restaurativen Kräften gebrandmarkt wird. In der Bejahung bzw. Verneinung des künstlerischen Experiments kommt durchaus etwas Charakteristisches zum Ausdruck: In beiden Fällen geht der Bezug zum gesellschaftlichen Zusammenhang, die Frage nach dem Sinn und Zweck von Experimenten verloren, argumentiert Enzensberger. Die literarisch-technische Seite werde jeweils autonom gesetzt. Dagegen schlägt er vor, derartig hülsenhafte Redensarten zu demontieren und die Analyse als Grundlage für Entscheidungen zu nehmen. Auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Experiment als „das Erfahrene" verweisend, äußert er: „Das heißt: Ein Experiment kann gelingen oder scheitern, aber immer nur im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel, auf eine Theorie oder eine Hypothese. Es muß nachprüfbar sein und zu einem Resultat führen, mindestens zu einem Ausgangspunkt zu weiteren Experimenten. Es setzt Überlegungen voraus und beinhaltet eine Erfahrung. Keineswegs kann es Selbstzweck sein; sein inhärenter Wert ist Null." 2 3 6 Auf den Unterschied zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Experiment eingehend, betont er, daß der Biologe, der sein Meerschweinchen zwingt, ihm Auskünfte zu erteilen, mit den Ergebnissen nichts zu. tun hat, während der Schriftsteller für seine Ergebnisse verantwortlich zeichnet. „Ein Autor, der die Sprache zu einer Äußerung zwingt, übernimmt für das Resultat die Verantwortung, indem er es veröffentlicht." 237 Der landesüblichen Kritik aber wirft er vor, Experimente als eine Übung zu betrachten, die an sich lobenswert bzw. verwerflich ist. „Methode, Nachprüfbarkeit und Stringenz spielen keine Rolle. Je weiter sie sich von der Erfahrung irgendwelcher Art entfernten, desto 'experimenteller' sind Experimente dieser Art. Das übliche Adjektiv für sie ist 'kühn', Geduld und Fleiß liegen ihnen fern." 2 3 8 Die Frage nach dem Zweck künstlerischer Experimente ist auch der Ausgangspunkt für den Abdruck von sprachexperimentellen Versuchen, die in Arbeiten von Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig und in den ästhetischen Überlegungen Arno Schmidts präsentiert werden. Dabei ist Arno Schmidt sowohl mit Überlegungen zur Nutzung traditioneller Prosagattungen, z. B. des Romans und der Kurzgeschichte, vertreten als auch mit Versuchen, die die Aussage120
fähigkeit literarischer Mittel zu erweitern trachten. Darüber hinaus führt er in seine Beiträge über Goethe, Stifter und Hebbel Erfahrungen der Literaturgeschichte ein. In den Berechnungen I und II (1955) 239 versucht Schmidt, Bewußtseinsvorgänge wie Gedankenspiel, Erinnerung und Traum in ihrer Struktur zu analysieren und unter Beachtung der subjektiven und objektiven Erlebnisebene Rückschlüsse auf psychologische Eigentümlichkeiten der Menschen und deren mögliche soziologische Zuordnungen abzuleiten. Um eine solche, vom Zweck her bestimmte Auffassung vom künstlerischen Experiment ist auch Max Bense in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Augenblick bemüht, die im Untertitel Tendenz und Experiment heißt. Zu den Voraussetzungen seines Unternehmens erklärt er die Notwendigkeit, „einen Klassenkampf der Intelligenz gegen das Wirtschaftswunder" zu führen, denn es gibt „zweifellos noch andere Interessen als die der General- und Hirtenstäbler oder ihrer konformen Abbilder aus dem Bundesverband der deutschen Manager" 240 . Hier wird die Kontrastellung gegen die Politik der Restauration erkennbar, und für Bense sind „Experiment und Tendenz" die Stichworte, die seine Gegenposition markieren. Ihr Inhalt bleibt schwer bestimmbar, „Experiment" wird mit Veränderung und Schöpferkraft, „Tendenz" mit Humanismus assoziiert. Die Gegenposition zum herrschenden Klima der Restauration bietet auch die Grundlage für Andersch, anläßlich einer Polemik mit Franz Schonauer, bei der es um den Schweizer Literaturhistoriker Alfred Muschg geht, die Abrechnung mit Benn und dem gesamten Kult des ästhetischen Autonomismus, die er schon in Die Blindheit des Kunstwerks geführt hatte, wieder aufzunehmen. „Wie der Basler Historiker halte ich Benn für einen großen Lyriker und einen geistigen Scharlatan; Benn sind, besonders in seiner Frühzeit, ein paar große Gedichte gelungen, aber die Gedankenführung seiner essayistischen Prosa ist, obwohl in Einzelheiten amüsant und bestechend, in den Ergebnissen tatsächlich banal und tautologischer Quatsch . . . Was ich ihm vorzuwerfen habe ist, daß er den deutschen Expressionismus an den deutschen Ästhetizismus verraten hat." 241
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Sansibar oder der letzte Grund" — Geschichtliche Aktion und ästhetische Konstruktion Während die Aufnahme von Anderschs Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit von politischen Kontroversen begleitet war, wurde Sansibar oder der letzte Grund, erschienen 1956, von der Kritik einhellig als bedeutendes Kunstwerk aufgenommen, Andersch mit mehreren Preisen öffentlich geehrt. 1957 erhielt er den Deutschen Kritikerpreis, 1958 den Immermann-Förderpreis und einen Teil des Veillon-Preises. Friedrich Sieburg kommentierte anläßlich des Erscheinens dieses Romans, daß aus der „anklagenden Opposition [der Nachkriegszeit] eine lebenskräftige und machtfreudige Schicht von nicht mehr ganz jungen Leuten [geworden sei], denen die Hebel der mit geistigem Stoff betriebenen Mechanerie fest in der Hand liegen" 242 . Es war offensichtlich, daß sich dieser Roman mühelos in die herrschenden literarischen Vorstellungen eingliedern ließ und daß die literarische Opposition einen Wandel im öffentlichen Bewußtsein erfahren hatte. Dazu trug auch die Tätigkeit Anderschs innerhalb der literarischen Medien bei. Der Wandel, wie er hier von einem ästhetischen Verfechter der Restaurationspolitik, mit dem sich Andersch manch heftige Pressefehde geliefert hatte, zum Ausdruck gebracht wurde, fußte darauf, daß im Unterschied zum Beginn der fünfziger Jahre wichtige politische Entscheidungen für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik gefallen waren und die literarische Opposition sich damit ihres unmittelbaren Wirkungsraumes beraubt sah. Diese literarische Opposition interpretierte die Lage damals anders, denn die selbstkritische Einsicht von der Neutralisierung oppositioneller Regungen ist Ergebnis erst späterer Jahre. Zunächst jedoch hatte Andersch durch den Erfolg seines Romans, von dem Lizenzausgaben auch in England, Frankreich, Italien, Spanien, Holland, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Ungarn, Rumänien und den USA erschienen, die Möglichkeit, sich 1958 aus dem Literaturbetrieb zurückzuziehen und eine freischaffende Schriftstellerexistenz zu begründen. Flucht als Widerstand Der Mehrzahl der zeitgenössischen Kritiken kann die Aussage entnommen werden, daß es sich um einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Roman seit Ende des zweiten Weltkrieges handelt. 122
Seltene Hinweise findet der Leser darauf, daß Sansibar oder der letzte Grund der R o m a n einer Widerstandsaktion im faschistischen D e u t s c h land an einem späten O k t o b e r t a g des J a h r e s 1937 ist. D e n n als ein A k t des antifaschistischen Widerstandes wird die Flucht eines jüdischen Mädchens vor ihren faschistischen Verfolgern dargestellt. A n dieser Aktion, die sich aus einer zufälligen Konstellation ergibt und während der außerdem die Holzplastik eines verfolgten Künstlers, „ D e r lesende Klosterschüler", aus der Reriker Kirche nach Schweden in Sicherheit zu bringen ist, sind fünf Personen beteiligt. G r e g o r , ein kommunistischer Funktionär und Instrukteur, der im Begriff steht, seine Partei zu verlassen, K n u d s e n ein Fischer, ebenfalls K o m m u n i s t , der am Ort der Letzte einer F ü n f e r g r u p p e seiner Partei geblieben ist, entschlossen, sich aus politischen Aktionen zurückzuziehen, Heiander, der evangelische Pfarrer, der sich v o n seiner K i r c h e und seinem G o t t verraten fühlt, Judith, eine junge J ü d i n aus einer reichen H a m b u r g e r Familie, und ein „ J u n g e " , Bootsgehilfe des Fischers, der sich in die A k t i o n verwickelt sieht. Handlungsart des Geschehens ist Rerik, ein Fischerdorf an der westlichen Ostseeküste, das gleichsam nach drei Seiten hin a b g e schlossen, nur d e m Meer zu noch offen für die Flüchtlinge ist. D i e topographische L a g e dieses Ortes ist v o n Andersch mit großer Genauigkeit beschrieben. D a s Fischerdorf und die Halbinsel W u s t r o w mit der Lotseninsel an deren Spitze zur westlichen See hin lassen sich auf der K a r t e auffinden, der Leser kann den Fluchtweg rekonstruieren. A u c h Rerik, die L a g e des Hafens, die roten Backsteintürme der Kirche, sind überprüfbar. D i e Handlungszeit wird auf einen späten O k t o b e r t a g des J a h r e s 1937 v o n etwa 14.00 Uhr bis z u m frühen M o r g e n des darauffolgenden T a g e s datiert. T r o t z dieser K o n z e n tration auf einen kurzen Zeitraum wird die Konstellation des historischen Augenblicks in wesentlichen Faktoren bestimmbar. D i e Faschisten, im R o m a n selbst stets als „die A n d e r e n " bezeichnet und nicht individualisiert, holen im J a h r e 1937 in Vorbereitung auf einen K r i e g aufs neue g e g e n Widerstandsbewegungen aus. E s hat erneute Verhaftungen gegeben, und die K o m m u n i s t i s c h e Partei steht am Rande der Z e r s t ö r u n g ihrer Basis im Volk. D i e Kirche hat ihren Frieden mit d e m faschistischen Staat gemacht, Widerstand gibt es nur v o n einzelnen Christen, die der Bekennenden Kirche angehören, aber eine Organisation wird für den einzelnen Pfarrer, für Heiander, nicht wirksam. Der faschistische Staat ist längst dazu ü b e r g e g a n g e n , das gesamte Kunstschaffen seinen politischen Prämis123
sen zu unterstellen, politisch mißliebige Künstler zu verfolgen und ihre Werke als „entartet" aus den öffentlichen Räumen zu entfernen. Auch die Plastik „Der lesende Klosterschüler" von Barlach, der wegen seiner humanistischen und pazifistischen Arbeiten von den Faschisten verfolgt wird und im Jahre 1938, verfemt und vereinsamt, stirbt, soll wie viele andere Barlach-Plastiken, die sich in den Kirchen Norddeutschlands befanden und von den Faschisten zertrümmert oder entfernt wurden, aus der Reriker Kirche abtransportiert werden. Die Judenverfolgung tritt 1937 in das Stadium der sogenannten Endlösung ein, nachdem 1935 die Nürnberger Rassengesetze verkündet worden waren, die Juden ihre öffentliche Kennzeichnung hinnehmen mußten und täglich aus ihren Wohnungen verschwanden, deportiert wurden. Um einer Deportation zu entgehen, versucht Judith über Rerik aus Deutschland herauszukommen. Die geschichtliche Situation im Spätherbst des Jahres 1937 wird mit wesentlichen, bedrohlichen Zeichen der Unterdrückung und der Gefahr kenntlich gemacht. Diese präzise zeitliche und räumliche Fixierung des Geschehens vermerkt allerdings die überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Kritiker überhaupt nicht oder aber akzeptiert sie nicht als Bedingung für den Wert des Romans. Man wertet ihn als einen „der bedeutendsten Romane der deutschen literarischen Nachkriegsproduktion" 243 , als „Musterbeispiel dichterischer Komposition", als „höchst ehrenvolle[n] Rückzug auf die Hoffnung", „in der geleisteten Kunst einen Sinn zu finden. Ein sehnsüchtiges Langen nach der Erlösung durch das vollkommene Wort durchzieht diesen Roman. Aus dem endgültigen Verzicht auf die direkte Aktion erwachsen die dichterischen Regungen und rechtfertigen den Gebrauch der literarischen Form. Die Welt wird nicht mehr verändert, sondern verwandelt." 244 So bei Friedrich Sieburg, dem einstmals vehementen Kritiker von Andersch, dessen Äußerung hier als Beispiel für die umfassenden Versuche der aktuellen Kritik steht, das Buch in die herrschenden ästhetischen Normen und seine Interpretation in das Konzept von der Autarkie des künstlerischen Werks einzugliedern. In einer Kritik der Gegenwart heißt es: „ . . . hier wird nicht geschrieben, weil die Ereiferung über das, was damals in Deutschland war, sich Luft schaffen wollte . . ." Alles wird in eine „höhere und erlösende Wirklichkeit versetzt: ein Kunstwerk ist entstanden." 245 In dieser hochlobenden Aufnahme des Romans drückt sich ein Wandel im Literaturverständnis der herrschenden Kritik aus, die von Andersch zu Beginn der fünfziger Jahre als „reaktionär" und 124
„ästhetizistisch" gekennzeichnet worden war. Die Abstraktion vom geschichtlichen Stoff oder überhaupt die Negation jeden Bezugs zur Wirklichkeit bildet bei diesen Urteilen die Vorbedingung für ästhetische Qualität von Literatur. Darüber hinaus sieht diese Kritik in Anderschs Roman, der die Möglichkeiten modernen Erzählens souverän zu nutzen weiß, auch eine ästhetische Selbstkritik des Autors und der literarischen Generation, die nach dem Kriege mit ihrer Forderung nach einem „Kahlschlag" eine unmittelbare gesellschaftliche Wirkung von Literatur gefordert und praktiziert hatte. Andersch war immer mehr Theoretiker eines solchen operativen Literaturprogramms. Mit seinen eigenen erzählerischen Arbeiten, mit denen er erst zu Beginn der fünfziger Jahre an die Öffentlichkeit trat, begegnete er bereits einer veränderten gesellschaftlichen Aufnahmebereitschaft für Literatur. Dieser Roman läßt eine Verarbeitung moderner Literatur erkennen, wie sie Andersch in Texte und Zeichen mitinitiiert hatte. Das zeigt schon der souveräne Umgang mit modernen Erzählmitteln. Die vermittelnden Instanzen ignorierten die politische Brisanz des Buches und verwiesen es in den Bereich politischer Neutralisation und ästhetischer Selbstgenügsamkeit. Neben dem Versuch, den Roman als das Zeichen einer Heimkehr in die Kunst zu apostrophieren, gab es Kritiker, vor allem Schriftstellerkollegen, wie Arno Schmidt, Helmut Heißenbüttel und Horst Bingel, die ihre Hochschätzung für den Roman auf ganz andere Weise begründeten. Sie verweisen - vor allem Arno Schmidt geht hier sehr genau vor - auf die politischen Voraussetzungen und geschichtlichen Hintergründe, die die im Roman geschilderte Flucht aus Deutschland bedingt haben. Schmidt beschreibt alle Momente des Bedrohtseins und erinnert daran, wer aus dem Deutschland des Jahres 1937 flüchten mußte. Er bringt so in Erinnerung, wer verfolgt wurde und wer Widerstand geleistet hat. Er ist der einzige Kritiker, der aktuelle Parallelen zur Gegenwart herstellt, indem er darauf hinweist, daß im Jahre 1957 wiederum jüdische Friedhöfe geschändet wurden, die KPD verboten ist und das „uniformierte Fleisch umgeht"24^. Resümierend bezeichnet er das Buch als eine „sachlich unwiderlegbare Anklage gegen Deutschland. Eine Warnung an alle, die es angeht". Er wertet das Buch als einen „Unterricht in Flucht als Protest, als Vorzeichen einer neuerlichen, nur durch ein Wunder noch aufzuhaltenden Emigration aller Geistigkeit, als ein Mißtrauensvotum ersten Ranges gegen unser behäbig aufgeblasenes Volk der Mitte" 2«. 125
Diese so unterschiedlichen Motive für insgesamt positiv wertende Besprechungen lassen nach den Gründen für die so auseinandergehende Rezeption des Buches fragen. Die Aufnahme läßt zunächst einmal deutlich werden, welchen Stellenwert für die aktuelle Kritik die herrschenden ästhetischen Auffassungen von der Autarkie des Kunstwerks haben, wie sie dazu angetan sind, Rezeptionsangebote, die im Roman präsent sind, zu ignorieren und nur die Bestätigung vorgegebener ästhetischer Muster wahrzunehmen. Außer der politischen und ästhetischen Disposition des Rezipienten, hier der Kritik, sind für die Aufnahme des Buches die Rezeptionsangebote des Autors in der ästhetischen Präsentation des Romans von Belang, die im folgenden analysiert werden. Die Figuren und die Struktur ihrer Beziehungen Der Roman besteht aus 37 Abschnitten. Zunächst führt Andersch die Beteiligten - Gregor, Heiander, Knudsen, Judith, der Junge - in Monologen ein. Dabei berichtet er in erlebter Rede, wo sie sich befinden, wie sie ihre nähere Umgebung aufnehmen. Ihre Pläne, Absichten, Gedanken, ihre Vergangenheit und ihr geistiges Herkommen werden in Monologen so dargestellt, daß die Gedanken und Gefühle der Figuren dem Leser erlebbar werden. Die wechselnde Figurenperspektive und die Konzentration auf wenige Figuren prägen die Komposition des Romans, die im engen Zusammenhang zur beabsichtigten Wirkung durch den Autor steht. Sie rechtfertigt ein analytisches Vorgehen, das zunächst nach der so dargebotenen Welt der Figuren fragt und über deren Rekonstruktion zur Bedeutungsebene des Romans vorstößt. Da wäre zunächst Gregor, der als kommunistischer Funktionär mit dem Auftrag eingeführt wird, seinen Genossen Knudsen in Rerik zu treffen, ihn über das neue Fünfergruppensystem zu unterrichten, das einen höheren Grad von Sicherheit in einer Zeit gewährleisten soll, in der die Faschisten zum erneuten Schlag gegen die Widerstandsbewegungen ausholen. Wir erfahren also, daß von der kommunistischen Partei Widerstand geleistet wird, offensichtlich unter großen Opfern. Gregor soll seinem Genossen außerdem die neue Taktik der Volksfrontpolitik erklären, die, der Kriegsgefahr angemessen, auf ein Zusammengehen von Bürgern, Arbeitern, Christen, Kommunisten und Sozialdemokraten orientiert. Gregor gedenkt, diesen seinen letzten Auftrag zu erfüllen und sich dann ins Ausland abzusetzen. 126
Er will nach eigener Vorstellung leben, weil er am Sinn seiner Parteiaufträge seit langem zweifelt. Eine ähnliche Ausgangssituation gilt auch für Knudsen, den Fischer, der sich ebenfalls von der politischen Arbeit der Partei zurückziehen will, weil er fürchtet, daß seine psychisch labile Frau Bertha den faschistischen Euthanasie-Gesetzen zum Opfer fallen wird. Er ist verbittert, sieht sich von der Partei verlassen, begreift den Sinn ihrer taktischen Beschlüsse nicht. Auch Knudsen also ist entschlossen, dem Instrukteur gegenüber weitere politische Arbeit aufzukündigen und sich auf seine Fischerei zurückzuziehen. Dieser Entschluß wird von ihm allerdings nicht nur als Erleichterung empfunden. Andersch deutet an, welche Verluste er mit sich bringt. Die Aufträge seiner Partei galten dem Fischer bisher als Sinnerfüllung seines Lebens, und er fürchtet sich vor der Zeit ohne Auftrag und davor, daß er möglicherweise die Lust am Leben und an der Liebe verlieren wird. Die Ausgangsposition von Heiander, dem Geistlichen, ist ähnlich. Anders ist sie dadurch, daß er sich in seiner Widerstandshaltung nur auf sich selbst verwiesen sieht. Sein Gott, von dem er ein Zeichen erhofft, schweigt. Als Zugehöriger zur Bekennenden Kirche weiß er sich zwar mit einigen seiner Amtsbrüder und Glaubensgefährten eines Sinnes, auf den Beistand seiner Kirche kann er bei dem Vorhaben, den „Lesenden Klosterschüler" nach Schweden vor dem Zugriff der „Anderen" in Sicherheit zu bringen, nicht rechnen. Deshalb sucht er die Hilfe des kommunistischen Fischers, der das Verlangen des Geistlichen, sein Leben für „einen kirchlichen Götzen" einzusetzen, erstaunt und mißwillig zur Kenntnis nimmt. Er will nichts mehr riskieren, für niemanden. Für Gregor, Heiander und Knudsen zeichnet Andersch bei aller unterschiedlichen Motivierung und verschiedenartigen Geschichte eine gemeinsame Ausgangsposition: Sie hassen die „Anderen", sind Antifaschisten und leben in Distanz bzw. im Konflikt mit ihrer politischen und geistigen Heimat, der sie sich aber dennoch zugehörig fühlen. Anders bei Judith. Als rassisch Verfolgte hat sie keine Wahl, ihre Lebensbedrohung ist elementar und durch kein Risiko zu verringern oder zu erhöhen. Sie wird im Fremdenzimmer des Gasthauses „Wappen von Wismar" dem Leser bekanntgemacht. Sie muß dieses Land verlassen, aber sie weiß nicht wie, kennt keine Menschen, die ihr helfen können, ist zu verwöhnt, zu lebensfremd, um skrupellos Chancen zu nutzen, lebt bei aller angstvollen Pein und erlebter Bedrohung in der Erwartung rettender Wunder. Ihr totales 127
Ausgeliefertsein an ihre Verfolger ist ihre wirkliche Situation, die Rettung ist ein Zufall, den es auf Grund von menschlicher Solidarität gegeben hat. Im weiteren Gang der Handlung werden die Figuren zueinander in Beziehung gesetzt, wobei Gregor eine zentrale Rolle zufällt. Durch ihn werden die zwei getrennt voneinander verlaufenden Fluchtaktionen in Zusammenhang gebracht: Judiths Flucht und der Transport des „Lesenden Klosterschülers". Gregor bringt Knudsen dazu, beide mit seinem Fischerboot zu befördern und organisiert die Aktion. In der Komposition drückt sich Gregors zentrale Stellung darin aus, daß er in fast allen Abschnitten anwesend ist, in denen die Figuren zueinander in eine Beziehung gesetzt werden. Es gibt nur eine einzige Szene zwischen Heiander und Knudsen, in der Gregor fehlt. Auch das zentrale Thema des Romans, die Freiheits- und Entscheidungsproblematik, wird am Schicksal Gregors abgehandelt. Häufiger aber noch als Gregor-Passagen plaziert Andersch die inneren Monologe des Jungen. Er nimmt innerhalb des kompositorischen Aufbaus eine Sonderstellung ein. Jeder zweite Abschnitt, der auch typographisch von den übrigen Partien abgesetzt wurde, gilt ihm. Die Monologe des Jungen begleiten die Erwachsenenhandlung , erst in den letzten Abschnitten tritt er in diese ein. Andersch überträgt dem Jungen, den er als einzigen ohne Namen beläßt, eine kommentierende Funktion. Er beobachtet die ablaufenden Ereignisse aus der Position eines Unbeteiligten und relativiert so in einigen Momenten die Sicht der anderen Personen. Auch er will Rerik verlassen, er hat jedoch seine eigenen Gründe. Er handelt nicht aus Not, sondern aus Langeweile und weil sein Vater, ein Fischer, in Rerik zugrunde gegangen ist, ohne daß ihm jemand geholfen hätte, und weil er ganz einfach Fernweh hat - nach Sansibar oder Amerika. Zur Welt der Erwachsenen hat er keine Beziehung, was sie bewegt, interessiert ihn nicht. Er muß sich von Knudsen in die Pflicht nehmen lassen, und bis zu einem eigenen Fischerboot ist es noch lange hin. Indessen nährt er seine Fernwehträume mit Mark Twain, phantasiert von abenteuerlich-ungebundenem Leben, von Selbstbestimmung und mutigem Einsatz. Er beobachtet mit Überraschung die Beziehungen, die sich plötzlich zwischen dem Geistlichen und dem kommunistischen Fischer anbahnen, und übernimmt die Rolle der „öffentlichen" Meinung des Ortes. Erst als er in die Handlung der Erwachsenen eintritt, weil er bei der Flucht mit dem Boot eine aktive Rolle zu übernehmen hat, entdeckt er für sich eigenen Handlungs128
räum. Er begleitet den Fischer mit seiner Fracht nach Schweden und beginnt sich gedanklich auf ein abenteuerliches, ungebundenes Leben einzurichten. Als er den wartenden Fischer auf dem Boot sitzen sieht - für ihn wäre es lebensgefährlich, ohne den Jungen zurückzukehren - , entscheidet er sich gegen Sansibar und kehrt mit ihm zurück. Andersch gruppiert diese Entscheidung ebenfalls um das thematische Zentralmotiv seines Romans: Die Freiheit wird hier wahrgenommen in Verbindung zur Verantwortung vor dem Nächsten, der Bindung an ihn, auch wenn dies Rückkehr ins faschistische Deutschland bedeuten soll. Ästhetische Konstruktion und moralischer Appell In Monologen bzw. Dialogen verbindet der Autor die Darbietung der Gefühlswelt einzelner Figuren mit der Darbietung der Geschehnisse. Für die Gesamtgestalt des Buches ist Konzentration charakteristisch: Der Roman umfaßt nicht mehr als 146 Seiten, Natur- und Stadteindrücke, die Schilderungen von Hafen, Kneipe, Kirche, Küstenlandschaft und die Beschreibung des Klosterbruders werden durch das erlebende Subjekt wiedergegeben. Das Erleben der Umwelt offenbart die innere Verfassung der Figuren und macht deren Situation sinnfällig, vermittelt ein Stück Atmosphäre des Spätherbstes 1937 im faschistischen Deutschland. Diese ist von Bedrohung, Gefahr und Erfahrung der Einsamkeit geprägt. Zwar wird sie in den Dialogen, in denen sich die Figuren gegenseitig korrigieren, durch Momente gemeinsamen Handelns durchbrochen, aber nicht aufgehoben. Aus dieser Atmosphäre der Bedrohung ergeben sich die Spannungsmomente, die ein wesentliches Charakteristikum der Romanhandlung ausmachen. Dem Zufall kommt dabei entscheidende Funktion zu. Das Treffen der fünf Menschen in Rerik kann zwar aus der Tatsache begründet werden, daß hier noch ein Fluchtweg offen zu sein scheint, die eigentliche Handlung konstituiert aber der Zufall. Gregor erkennt in Judith sofort die verfolgte Jüdin, der Pfarrer vertraut sich dem kommunistischen Funktionär an, jeder hat seine eigenen Interessen, und dennoch entwickelt sich daraus eine gemeinsame Aktion. Aus dem Zufall entwickelt Andersch eine sinnfällige, historisch begründbare Aktion, die der Leser spannungsreich nachvollziehen kann. Für jede einzelne Situation, in der die Figuren stehen, baut er 9
Reinhold, Andersch
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die Spannung neu auf. Wird der unbemerkte Abtransport des „Lesenden Klosterschülers" aus der Kirche gelingen? Wird Knudsen auch das jüdische Mädchen mitnehmen? Wird sie zuvor entdeckt werden? Wird Gregor mitfahren oder bleiben? Wie wird sich Heiander, der Geistliche, verhalten? Wird er vor dem Zugriff der Gestapo in eine Klinik flüchten? (Eine Möglichkeit, die ihm sein Hausarzt eröffnet, denn ein Wundbrand breitet sich in seinem Beinstumpf aus.) Wird er sich selbst das Leben nehmen oder nicht kampflos kapitulieren? Diese Momente der Ungewißheit halten den Leser ununterbrochen in Atem, richten seine Gedanken auf den Erfolg der Aktion, auf die Rettung. Ihre Notwendigkeit ist das Übereinkommen, das der Autor vom Beginn an mit dem Leser herstellt. Der Freiraum für die gedankliche Aktivität des Lesers beginnt dort, wo auf die Bedingungen ihres Zustandekommens gelenkt wird, auf die Motive, die inneren Kämpfe und Verhaltensweisen der Figuren. Der Leser beginnt hier, anders als in dem Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit, nicht nur als Adressat, sondern auch als Partner einen Platz innerhalb der erzählerischen Struktur einzunehmen. Indem der Autor die innere Reflexion zum Angelpunkt der ästhetischen Präsentation werden läßt, die Handlung in figurengebundenen Perspektiven darbietet, bezieht er den Leser in den Zusammenhang von äußeren Vorgängen und Denken, von Erinnerung und Handeln, von Erlebnis und Urteil der Figuren ein und ermöglicht ihm einen aktiven gedanklichen Mitvollzug. Die Grenzen dieser Leseraktivität sind durch die Besonderheit der ästhetischen Präsentation gegeben. Sie ergibt sich aus der konsequenten Organisation des Ganzen auf die Durchführung einer politisch und moralisch gerechtfertigten Aktion. Diese erhält den Charakter eines moralisch-politischen Appells, ist auf das vorherrschende restaurative Klima der fünfziger Jahre gerichtet und resultiert aus Anderschs intellektueller Disposition, von der her er stets neu die Fragen von politischer Moral und moralischer Politik stellt. Die zahlreichen formalen Verknüpfungselemente, die Andersch für den Aufbau einer solchen Appellstruktur aufbietet, verraten die ästhetische Konstruktion des Ganzen: Die Beschränkung auf wenige Figuren für die Inszenierung einer Aktion, einer Flucht aus dem faschistischen Deutschland, hat den Charakter einer Versuchsanordnung, eines ästhetischen Modells. Für diese Anlage müssen neben der praktischen Überlegung, daß für die Bewerkstelligung einer Flucht unter so schwierigen Bedingungen schon aus Gründen der 130
Konspiration nicht mehr Menschen in Frage kommen, noch andere Gründe sprechen. Gregor, Heiander und Knudsen sind dabei, bisherige politische und geistige Bindungen zu zerreißen, sich gewissermaßen in den Motiven ihres Handelns auf sich selbst zurückzuziehen. In den Monologen und Dialogen führt Andersch eine gründliche Ummotivierung des Handelns bei Gregor und Knudsen durch. Dem Entschluß, sich von den Aufträgen der Partei fernzuhalten, folgt bei Gregor die bewußt vollzogene Entscheidung, fernerhin in eigener Regie, nach eigenem Auftrag zu leben, und bei Knudsen der Versuch, sich auf das eigene Überleben zu konzentrieren. Im Laufe der Handlung aber beginnt Gregor, eben aus dieser eigenen Verantwortung heraus, sich für die Rettung des „Lesenden Klosterschülers" und für die Rettung des jüdischen Mädchens einzusetzen, es gelingt ihm, die widerwillige Abwehr des Fischers zu durchbrechen und ihn zum solidarischen Handeln zu bewegen. Sie beginnen ohne Auftrag zu handeln bzw. geben sich den Auftrag für ihr Handeln selbst. Und dieses Handeln wird durch einfache menschliche Motive, nicht mehr durch politische Einsichten oder weltanschauliche Bindungen ausgelöst. Der Ausgangspunkt des Pfarrers ist in diesem Zusammenhang ein anderer. Er empfängt keine Aufträge von kirchlichen oder anderen Institutionen, auch Gott gibt nicht das erwartete Zeichen. Er ist auf sich selbst verwiesen und wendet sich aus eigenem Entschluß an den kommunistischen Fischer, um die Plastik ins Ausland zu retten. Auf diese Weise werden in der Rettungsaktion bestehende soziale und politische Widersprüche überbrückt bzw. aufgehoben, die vor der Bedrohung durch die „Anderen" unüberbrückbar schienen: Der kommunistische Funktionär arbeitet mit dem Pfarrer zusammen, der atheistische Proletarier hilft eine religiöse Plastik und ein bürgerliches jüdisches Mädchen zu retten, der evangelische Pfarrer setzt sich für die Jüdin ein. Aber sie tun das nur, nachdem sie sich von ihren weltanschaulichen und politischen Bindungen, von ihrer institutionellen Zugehörigkeit zu Partei oder Kirche getrennt oder innerlich distanziert haben. Diese Motivierung ist zumindest für die beiden Kommunisten nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch aus der inneren Logik des Erzählens heraus angreifbar. Für den Kirchenmann ist sie geschichtlich untermauert: Die Institution der Kirche hatte sich nicht schützend vor Geistliche der Bekennenden Kirche gestellt, 9*
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die sich gegen die Nazi-Barbarei wandten. Die kommunistische Partei stand von Anfang bis Ende im Widerstand, mußte seit 1933 in der Illegalität arbeiten, hat einen großen Teil ihrer Funktionäre und Mitglieder in den KZs und Zuchthäusern verloren, hat immer wieder aufs neue versucht, Widerstand zu organisieren. Diese Fakten finden in Sansibar soweit Eingang, als auf Existenz des kommunistischen Widerstandes und auf seine Organisierung vom Ausland her verwiesen wird. Es gibt aber keinerlei Begründungen dafür, weshalb die Flucht eines jüdischen Mädchens und die Sicherstellung eines Kunstwerks mit der kommunistischen Strategie unvereinbar wären. Auch die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Christen und Juden steht einer kommunistischen Orientierung auf ein Bündnis aller Hitlergegner nicht entgegen. Von der kommunistischen Politik her ist gegen diese Aktion nicht zu argumentieren, und deshalb entspringen die Motivierungen, die Andersch für Gregor anführt, allein der Subjektivität des Künstlers. Gregor hat das Erlebnis der Schönheit tiefer empfunden als jede politische Notwendigkeit, der er sich innerhalb der kommunistischen Bewegung hat beugen müssen. Bei der Betrachtung des „Lesenden Klosterschülers" spürt er die kritische Skepsis, die er zeitweise in der Dogmatisierung seines Denkens verloren hat. Im Erlebnis der Kunst findet er jene innere Unabhängigkeit, die Andersch schon in den Kirschen der Freiheit als intellektuelle Errungenschaft, als Freiheit einführt. In Gregors Zügen ist eine gewisse Starre auffällig; er gibt sich, so richtig er handelt, in seine Beziehungen und Aktionen niemals ganz hinein. Er behält etwas von sich in Reserve, er scheut Bindungen, weil sie angreifbar und verletzlich machen. In Anderschs Darstellung ist allerdings nicht ganz schlüssig auszumachen, ob sich diese Tatsache seiner jahrelangen Tätigkeit im Kommunistischen Jugendverband oder aber gerade dem Zerreißen dieser Bindungen verdankt. Bei Knudsen motiviert Andersch stärker im unmittelbar menschlichen Bereich, er hat Furcht, seine Frau Bertha zu verlieren. Außerdem ist ihm der Wechsel der politischen Strategien nicht ganz einsichtig, er hätte sich beim Machtantritt der Nazis offenen Widerstand gewünscht. Das Zerreißen der Bindung und der Verlust wird von Andersch hier als innere Irritation dargestellt, die durch die in eigener Verantwortung durchgeführte Aktion gemildert wird. Andersch hat den Zuschnitt seiner Figuren deshalb so gewählt, weil es ihm auf die thematische Durchführung der Freiheitsproble132
matik ankommt. Hier wie in den Kirschen der Freiheit manifestiert er seine existentialistisch geprägte Freiheitsauffassung, die besagt, daß sich individuelle Freiheit nur in einer Absage an politische, weltanschauliche und institutionelle Bindungen verwirklicht. Dem Anspruch auf Freiheit muß sich allerdings Verantwortung vor dem Nächsten gesellen. Nicht zutreffend ist die in der bürgerlichen Sekundärliteratur zu findende Behauptung, daß diese Freiheit stets mit Flucht in die Bindungslosigkeit identisch gesetzt ist. Allerdings konkretisiert sich durch das Zerbrechen von Bindungen, durch die Flucht aus bestimmten geschichtlich bedingten Verkettungen dieser Freiheitsbegriff. In Sansibar oder der letzte Grund ist die Flucht historisch konkret und Konfliktebene des Romans. Aber die Flucht erscheint nicht als Wert an sich, sondern sie steht im Zusammenhang zu mitmenschlicher Verantwortung. Knudsen kehrt zurück, weil er seine Frau nicht der faschistischen Ausrottungspolitik ausliefern will, der Junge, weil er begreift, in welche Gefahr er den alten Fischer bringen würde, Gregor beansprucht für sich keinen Platz im Boot, weil er Judith als hilflos und gefährdet erkennt. Heiander schließlich beschreitet die Fluchtwege, die sich ihm öffnen, nicht, sondern stirbt, sich wehrend, im offenen Kampf. Die ästhetische Ausführung des Romans läßt erkennen, daß Andersch mit dem moralisch-politischen Appell einer genau bestimmten geschichtlichen Aktion zu den eigenen thematischen Absichten in Widerspruch gerät bzw. die Rezeptionsmöglichkeiten beschneidet. Mit der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem Menschen und den „Abstraktionen von Politik und Ideologie" tendiert er dazu, positive Handlungsmöglichkeiten nur außerhalb konkreter geschichtlicher Wirkungsräume zu suchen. Die erzählerische Darbietung präsentiert diesen geschichtlichen Raum aber gerade in treffsicheren Details und stellt das Handeln in eine konkrete geschichtliche Situation. Hierin findet sich ein Widerspruch des Erzählers Alfred Andersch, der für sein Schaffen lange Zeit wirksam bleibt und sich erst später aufzulösen beginnt. Es ist der Widerspruch zwischen der ästhetischen Konzeption des Erzählers, für den die genaue, atmosphärisch dichte Beschreibung den Angelpunkt bildet, und dem existentialistisch gefärbten Moralismus seiner weltanschaulichen Konzeption, der die Thematik seiner Bücher bestimmt.
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Mit dem Thema von Sansibar oder der letzte Grund steht Andersch in der Literatur der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik ziemlich einzigartig da. Krieg und Faschismus waren von Heinrich Boll, Hans Werner Richter, Walter Kolbenhoff und Paul Schallück, Siegfried Lenz u. a. vor allem aus der Perspektive und Erlebniswelt des verführten Soldaten der faschistischen Armee dargestellt worden, der einen schrittweisen Desillusionierungsprozeß durchmacht. Die Gestaltung einer direkten antifaschistischen Widerstandsaktion ist gegen die herrschende Verdrängung der faschistischen Vergangenheit und der Mitschuld an ihr gerichtet und trägt den Charakter einer moralischen Aufforderung. Auch mit der Darstellung von Kommunisten bzw. solchen, die sich von ihrer Partei distanziert haben, hebt sich Andersch innerhalb der westdeutschen Literatur heraus. Er begründet für sein Werk damit eine Tradition, auf die er in allen seinen Romanen, von der Roten, über Efraim bis zu Winterspelt, zurückkommt und die beweist, daß seine zeitweilige Beziehung zur kommunistischen Bewegung tiefe Spuren hinterlassen hat und ihn bis zum Ende seines Lebens beschäftigte. Die von Andersch gekennzeichneten kommunistischen Intellektuellen treten, ohne ihren politischen Standort eines entschiedenen Antifaschismus zu verlassen, in dem Maße aus der organisierten Bewegung heraus, indem sie in der Begegnung mit der Kunst ein höheres Maß an intellektueller Unabhängigkeit und innerer Freiheit gewinnen. Es wiederholt sich damit eine Konstellation, wie sie bereits in Kirschen der Freiheit beschrieben wird. Die Sicht auf kommunistische Gestalten ist selbstverständlich mitgeprägt vom herrschenden ideologischen Klima der Bundesrepublik und insofern auch ein aufschlußreiches Indiz für die geistige Situation dieser Zeit. Andersch bewegte sich mit diesen Darstellungen an der Grenze zu einem mißbrauchbaren Antikommunismus. Die zeitgenössische Kritik der DDR verwies seinen Roman Sansibar oder der letzte Grund in den Bereich der Renegatenliteratur. Gegenüber dieser Einschätzung ist es wichtig zu betonen, daß sein Engagement innerhalb der kommunistischen Jugendbewegung vorübergehend war, und für die Darstellung seiner Figuren wäre hervorzuheben, daß ihre Distanzierung von der kommunistischen Partei nicht mit einer generellen Wende der politischen Überzeugungen und des entsprechenden Handelns verbunden ist. Mit der moralischen und ästhetischen Problematik seiner Werke steht Andersch allerdings durchaus im literarischen Kontext jener 134
Jahre. V o n Autoren wie z. B . Siegfried Lenz, Walter J e n s , Paul Schallück, die ebenfalls geschichtliche F r a g e n als moralische F r a g e n behandeln, hebt er sich dadurch hervor, daß er diese F r a g e n immer in politische und geschichtliche D i m e n s i o n stellt und sie nicht in die Ferne „ewiger D a s e i n s m o d e l l e " rückt. A n Sansibar oder der let%te Grund - Anderschs erstem R o m a n fällt die schon sehr überzeugende A u s p r ä g u n g seiner erzählerischen Methode auf, die sich zwar in den folgenden J a h r e n und Werken variiert, aber für die bestimmte Grundpfeiler konstant bleiben. Wichtige E r f a h r u n g e n sind für diese ästhetische Struktur offensichtlich aus der Hörspielarbeit nutzbar gemacht worden. D a s zeigt sich in der Konzentration auf die inneren V o r g ä n g e der Figuren und i m U m g a n g mit den spannungserzeugenden Elementen, die für jede einzelne E p i s o d e und für die gesamte Struktur eingesetzt werden. Darin ist offensichtlich auch der G r u n d für die mehrfachen B e m ü hungen u m Verfilmungen und Bühnenadaptionen zu suchen. 2 4 8 D a n e b e n p r ä g t sich eine Besonderheit seines erzählerischen Verfahrens aus, die in der V e r b i n d u n g v o n nachprüfbarer Beschreibung und erzählerischer Fiktion zu sehen ist, mit der er seine ästhetischen Modelle realisiert. M a x Bense sprach in diesem Z u s a m m e n h a n g v o n „reportierter F i k t i o n " 2 4 9 , eine Formulierung, die diese Spezifik trifft. D i e beschreibenden Elemente seines Erzählens schaffen eine intensive sinnliche Beziehung des Lesers zur dargestellten L a n d s c h a f t und zu den Figuren. Farben und F o r m e n erhalten bei Andersch leitmotivische Funktion und schaffen eine dichte erzählerische Atmosphäre. N a c h der gelungenen Rettung des Mädchens und der Plastik legt Andersch G r e g o r einen inneren M o n o l o g in den M u n d , der hier als Beispiel für den Erlebnisgehalt beschreibender Partien stehen soll: „ A l s er aufsah, erblickte er die T ü r m e v o n Rerik in der Ferne. V o n hier aus gesehen waren sie keine schweren roten U n g e heuer mehr, sondern kleine blasse K l ö t z e im G r a u des M o r g e n s , feine quadratische Stäbe, blaugrau am Rande des H a f f s . A b e r im Osten hatte sich zwischen das Meer und den einförmigen H i m m e l ein scharlachroter Streifen geschoben. E r war die einzige F a r b e in einer farblosen Welt, in einer Welt aus g r a u e m Kieselstrand u n d schlafenden V ö g e l n , aus der Erinnerung an einen schwarzen M u n d und an ein seltsames, rätselhaftes Wesen aus Holz. W e n n das M o r g e n rot verschwunden ist, wird es zu regnen beginnen, dachte G r e g o r , es ist nicht einmal imstande, den M o r g e n zu färben. D a s graue 135
Morgenlicht erfüllte die Welt, das nüchterne, farblose Morgenlicht zeigte die Gegenstände ohne Schatten und Farben, es zeigte sie beinahe so, wie sie wirklich waren, rein und zur Prüfung bereit. Alles muß neu geprüft werden, überlegte Gregor. Als er mit den Füßen ins Wasser tastete, fand er es eisig." 250 Der Bau des gesamten Romans gehorcht bei Andersch jeweils ethisch-weltanschaulichen Intentionen, die den Freiheits- und Handlungsraum des Menschen, seine Möglichkeiten und Gefährdungen innerhalb der geschichtlichen Welt ausloten wollen. Diese Intentionen erzeugen die beabsichtigte Wirkung des Textes und organisieren die ästhetische Gesamtgestalt des Romans. Eine durch alle erzählerischen Werke Anderschs gehende Linie bildet sich durch die Einbeziehung der Kunstproblematik. Diesem Element begegnen wir im Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit, in Sansibar oder der letzte Grund ist es die Plastik des lesenden Klosterschülers, die als Symbol für die verfolgte Kunst und den Widerstand eingesetzt wird. Darüber hinaus versinnbildlicht sie den Ort, an dem der Mensch sich selbst begegnet, an dem er seine eigenen Möglichkeiten bedenkt und sich ihrer bewußt wird. Die Begegnung mit der Kunst löst in Anderschs Roman zumeist einen existentiellen Umbruch aus, von dem her politische und menschliche Bindungen in Frage gestellt werden. Diese Sicht korrespondiert mit Anderschs ästhetischen Auffassungen, in denen die Kunst den Widerstand gegen eine barbarische Welt verkörpert.
„Die Kote" - Wirkungsintention und ästhetische Gestalt Ein übereinstimmender Tenor bei der kritischen Aufnahme 251 des Romans Die Rote im Jahre 1960 ergibt sich aus der Feststellung, daß dieser Roman klischeehafte Züge aufweise, daß er in seiner ästhetischen Machart trivial und daß das erzählerische Niveau durch manieristische Überladungen beeinträchtigt sei. Diesem Kritikerurteil — das allerdings verschiedene Wertungen nach sich zieht — steht die Tatsache gegenüber, daß der Roman sich einer außerordentlichen Publikumswirksamkeit erfreut. Kein anderes Buch von Alfred Andersch fand ein so reges Interesse wie Die Rote.252 Andersch, in einem Gespräch mit Bienek auf diesen Fakt der widersprüchlichen Beurteilung durch Kritik und Publikum angesprochen, nutzt die Gelegenheit, um sich ausdrücklich zum Schreiben für Leser zu 136
bekennen. „Ich schreibe für das Publikum. Ich wünsche mir ein zahlreiches Publikum. Ich wünsche mir ein großes, reifes und kritisches Publikum." 253 Diese Hinwendung zum Leser ist mit der Absicht verbunden, „den Menschen dazu [zu] bewegen, daß er die Voraussetzungen nicht einfach annimmt, die ihm zum Leben gegeben sind. Er soll sich fragen, ob diese richtig sind." 254 Davon ist auch die auf einen positiven Nachvollzug gerichtete Wirkungsintention des Romans Die Rote getragen. Für unsere Analyse ist die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis dieses Schreiben für den Leser zu den gesellschaftskritischen Prämissen des Buches steht, wie die ästhetischen Mittel eingesetzt werden und welche Probleme sich aus einem ausdrücklich auf den Leser gerichteten Schreiben ergeben können. Offensichtlich deutet sich hier ein Komplex von Widersprüchen an, die mit der Stellung des Autors in der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem sozialen Status von Literatur und den Methoden ihrer Verbreitung zusammenhängen. Wichtiges Ergebnis dieser Widersprüche ist der „Bruch zwischen einer Literatur, die alle lesen, und solcher Literatur, die nur von einer Elite gelesen wird, wie es seit Joyces 'Ulysses' nicht zu übersehen ist" 255 . Andersch empfindet diese Kluft als außerordentlich problematisch und versucht mit seiner Literatur, auf ihre Überbrückung einzuwirken. Dieser Bruch wird, wie sich auch in der Aufnahme der Koten zeigt, von der bürgerlichen Kritik sanktioniert, indem Versuche, sich auf ein breiteres Lesepublikum einzustellen, von vornherein mit ästhetischen Mängeln in Zusammenhang gebracht werden. Andersch begreift dagegen die Trennung in Unterhaltungs- und ernste Literatur als ein geschichtliches Phänomen und die strikte Antinomie, wie sie von der bürgerlichen Literaturkritik praktiziert wird, selbst schon als ein Produkt dieser Trennung, deren geschichtliche Voraussetzungen gerade in Frage zu stellen wären. An Beispielen aus der Literaturgeschichte verweist er auf gelungene Versuche, die Höhepunkte der Literaturgeschichte markieren und gleichzeitig Lektüre für Millionen Leser geworden sind. Für sein eigenes Schaffen wertet er die Wirkung von Trivialliteratur und die Unsterblichkeit des Trivialromans als eine Herausforderung, der er sich unter bewußter Beachtung der Lesebedürfnisse zu stellen versucht. Mit den gewachsenen technischen Möglichkeiten massenhafter Verbreitung von Literatur gewinnt dieses Problem für den Autor eine neue Dimension. Es sind einerseits die Voraussetzungen gegeben, 137
ein Massenpublikum mit billigen Büchern zu versorgen, andererseits wachsen aber auch die Gelegenheiten, Leserbedürfnisse zu manipulieren. Durch diesen Widerspruch sind vor allem auch die Taschenbuchprogramme und die Programme der Leseringe gekennzeichnet. Einen Schwerpunkt dieser Programme, vor allem in den fünfziger Jahren, bilden antikommunistische und entpolitisierend wirkende Bücher, daneben gelingt es späterhin einigen westdeutschen Autoren, Heinrich Boll, Günter Grass und auch Alfred Andersch mit der Roten, das Programm des Bertelsmann Leseringes 256 mitzubestimmen. Für unseren Zusammenhang kommt es zunächst darauf an, die thematisch-gedanklichen Angebote zu ermitteln, die Andersch dem Leser im Roman Die Kote unterbreitet. Dabei wird der thematische Ausgangspunkt, Franziskas Flucht als Absage an den bundesrepublikanischen Alltag, in ihrer gesellschaftskritischen Relevanz und nicht als „privat erotische Problematik" 257 zu werten sein, wie das im überwiegenden Teil der Kritik von 1960 geschehen ist. Mit dem Roman Die Kote stellt sich Andersch erstmalig in einem großen Roman den Problemen der unmittelbaren Gegenwart, denn in seinen bisherigen Werken verarbeitete er geschichtlich abgeschlossene Vorgänge. Allerdings hatte er sich - im Erzählungsband Geister und Leute aus dem Jahre 1957 und im Band Ein Liebhaber des Halbschattens von 1962 - bereits in kürzeren Prosaarbeiten an die Gegenwartsprobleme herangeschrieben. Das geschah einmal in knappen Momentaufnahmen aus dem bundesrepublikanischen Alltag, für den das Unbewältigte der faschistischen Vergangenheit charakteristisch war, und zum anderen mit der Erfindung eines Figurentyps, mit dem die soziale und moralische Mentalität einer bestimmten gesellschaftstragenden Schicht in der Bundesrepublik ausgelotet werden konnte. Mit dem Roman Die Kote schafft Andersch eine erzählerische Struktur, die es gestattet, mit der Flucht einer jungen Frau aus den persönlichen und moralischen Verstrickungen ihres Lebens einen Vorgang von gesellschaftlicher Tragweite darzustellen: Die Frage nach der Lebensqualität der bundesdeutschen Gesellschaft wird mit Fragen der Bewältigung der faschistischen Vergangenheit verbunden, und so werden Legitimität und politische Fragwürdigkeit dieser Gesellschaft ins Bewußtsein gerückt. Kritische Auseinandersetzung mit der bundesdeutschen Wirklichkeit erfolgte bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre vor allem mit den Romanen 258 von Wolfgang Koeppen und Heinrich Boll, in der zweiten Hälfte 138
des Jahrzehnts in den Romanen von Carl Amery, Die große deutsche Tour, Erich Kuby, Des deutschen Wunders liebstes Kind, Heinz von Cramer, Kunstfigur, und Martin Walser, Ehen in Philippsburg und Halbzeit. Wie alle diese Romane trägt auch Die Rote einen bilanzierenden Charakter, wobei es Andersch weniger um die satirische Durchleuchtung eines gesellschaftlichen Befundes geht. Nach dem geschichtlichen Sujet von Sansibar oder der letzte Grund unternimmt Andersch den Versuch, sein Thema: geschichtliche und individuelle Möglichkeiten des Menschen, seine existentiellen Gefährdungen und Chancen zur Selbstbestimmung und zum Widerstand gegen ihn bedrängende Mächte, an der bundesrepublikanischen Gegenwart zu entwickeln. Er führt dabei ein Exempel positiven individuellen Handelns vor, dem er zugleich auch geschichtlichen Belang verleiht. Die entschieden positiven Identifikationsangebote beziehen sich auf den Ausbruch von Franziska, ihre Loslösung aus den moralischen Verstrickungen des westdeutschen Alltags. Mit der Geschichte von Franziska verknüpft der Autor eine verzweigte Handlung. Franziska wird mit dem Schicksal eines unschuldig Schuldigen konfrontiert, der sich durch einen Mord an einem ehemaligen faschistischen Gestapo-Mann aus unseligen Gewissensqualen befreit. Die Handlungsführung bewegt sich strikt auf dieses Ende zu, wobei die Tat spannungsauflösend wirkt. Parallel zu diesem in beabsichtigter Konstruktion realisierten Handlungsstrang wird die Geschichte von Fabio Crepaz erzählt, an der Andersch die Frage nach dem Schicksal eines Revolutionärs weiterführt. Der geschichtliche Rahmen der Verhältnisse in der Nachkriegszeit wird so bezeichnet: „Es war so weit gekommen, daß die Leute, die eine revolutionäre Änderung der Verhältnisse angestrebt hatten, sich heute überhaupt nicht mehr verständlich machen konnten . . . Klares Denken hielt er [Fabio] für wichtig, und klares Denken führte zu dem Ergebnis, daß die revolutionären Bewegungen, an denen er sich beteiligt hatte, verlorengegangen und wahrscheinlich sogar vergeblich gewesen waren. Nicht sinnlos, aber vergeblich." 259 Roman einer Emanzipation Das wichtigste Identifikationsangebot für den Leser unterbreitet Andersch mit seiner Hauptfigur. Sie verkörpert die Möglichkeit einer positiven Selbstbestimmung unter den Bedingungen der versteinerten Verhältnisse der fünfziger Jahre, nachdem die Hoffnung 139
auf eine gesellschaftliche Veränderung nach dem Kriege nicht erfüllt wurde. Dabei verlegt der Autor den Handlungsort nicht zufällig nach Italien. Das gibt ihm einmal die Möglichkeit, die bundesrepublikanischen Verhältnisse von außen zu betrachten und ihnen ein Bild von lebendigem Volksleben entgegenzusetzen. Er kann hier an eine bestimmte Vorstellung beim Leser anknüpfen, die vor allem durch Reiseprospekte und Urlaubseindrücke entstanden ist. Von der Kritik brachte ihm das die Unterstellung ein, „der Mittelklasse der Italienreisenden und den Filmregisseuren gefallen zu wollen" 2 6 0 . Der Titel des Romans bezieht sich auf die roten Haare der Protagonistin, läßt aber durchaus weiterreichende Assoziationen zu. Eine „Rote" ist im Sprachgebrauch des westdeutschen Konformisten eine „Linke", eine „Politische", in den siebziger Jahren vielleicht eine „Emanze"! Mit dem Titel setzt der Autor für den Leser sofort ein Signal dafür, daß Franziska aus dem Rahmen des Üblichen herausfällt. Franziska, die Rote, faßt auf einer Dienstreise an der Seite ihres Mannes, Herbert, den sie als Sekretärin, Dolmetscherin und Reisegefährtin begleitet, den überraschenden Entschluß, sich von ihm zu trennen, sie läßt ihn im Mailänder „Biffi" sitzen und fährt mit dem Zug nach Venedig. Die Motive dieses plötzlichen Entschlusses liegen in Franziskas Unzufriedenheit mit ihrem Leben: Das tolerierte Liebesverhältnis zum Chef ihres Mannes, der Wohlstand und der äußere Komfort, die Lüge und die Anpassung widern sie an. Mit ihrem Ausbruch rebelliert sie dagegen und sucht nach Lebensmöglichkeiten außerhalb der Alternative zwischen „schickem Leben" und „sauberer Langeweile". Das Dreiecksverhältnis, in dem sie sich begonnen hatte einzurichten, steht bei Andersch als ein Symptom für Verhältnisse in Luxus und Wohlstand, für die reibungslose Geschäftigkeit und für moralischen Verschleiß. Franziska ist Prototyp einer Frau, die in den Verhältnissen des restaurierten Kapitalismus ihren Platz gefunden hat. Sie scheint ein geordnetes Leben zu führen, sie ist durch ihre Arbeit in bestimmtem Maße unabhängig. Die Brüchigkeit ihrer Existenz liegt im moralischen Bereich, der hier als Synonym für Lebensqualität steht. Die Koordinaten ihrer Lebensverhältnisse sind nicht allein durch sie selbst bestimmbar, sondern durch die Gegebenheiten der prosperierenden Wohlstandsgesellschaft bedingt, in der sich menschliche Beziehungen vor allem über Ware-Geld-Beziehungen regeln, die 140
Liebe und menschliche Werte dem Geldverdienen und dem Prestige geopfert werden. Den Entschluß zur Befreiung aus diesen Bindungen motiviert Andersch aus ihrer Berufstätigkeit heraus, die sie sozial eigenständig macht. Möglichkeiten einer menschlichen Selbstbestimmung werden erst greifbar, wenn ein bestimmtes Maß an sozialer Unabhängigkeit erreicht ist. An Franziskas Überlegungen zu ihrer weiteren Lebensgestaltung führt Andersch zugleich dem Leser vor, daß die Berufstätigkeit kein unter allen Umständen verbrieftes Recht ist. Kann sie als Ausländerin in Italien eine angemessene Arbeit finden? Noch dazu außerhalb der Saison? Wie soll sie leben, allein mit einem Kind? Andersch ist in der Literatur der B R D einer der ersten, der nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Frauenemanzipation fragt und diese Problematik mit geschichtlichen und die Gesellschaft resümierenden Fragestellungen verbindet. In einem qualvollen Desillusionierungsprozeß muß Franziska ihre wirkliche Lage erst begreifen und die Gewohnheiten ihres mondänen Lebensstils hinter sich lassen. Ihre Erlebnisse in einem Hotel dritter Klasse, auf der Suche nach einer Arbeitsstelle, bei einem Juwelier, der ihre Notlage sofort auszunutzen beginnt, zwingen sie zur realistischen Einschätzung ihrer Situation, sie begreift, daß ihre Unabhängigkeit bedroht ist. Die episodisch aufgebauten Erlebnisse verbindet Andersch mit der Schilderung der Straßen, Plätze, Paläste, Restaurants, des ganzen venezianischen Kolorits. Dabei verknüpft er die reportagehaft genauen Schilderungen Venedigs mit dem thematischen Anliegen seines Romans. Schon die Atmosphäre des neblig düsteren Januar, die triste Leere der Stadt, die geschlossenen Restaurants und die billigen Hotels widersprechen allem, was sich für einen oberflächlichen Touristenblick als spezifisch venezianisch darbietet. Die erzählerische Atmosphäre der Handlungszeit von einigen Tagen erzeugt, trotz der detaillierten Beschreibung wiedererkennbarer Plätze und Straßen, ein Kontrastbild zu den üblichen Schilderungen — Erzeugnissen einer kitschigen Massenkultur —, das auf kritischer Distanz beruht. Franziskas Geschichte bildet allerdings nur den einen Handlungsstrang des Buches. Mit der gleichen Technik montierter Episoden, in denen Figurenperspektive und erlebte Rede sich abwechseln, wird die Geschichte Fabios, des entlaufenen Revolutionärs und Geigers, erzählt. Beide Handlungsstränge verhalten sich kontrapunktisch zueinander und werden gegen Ende zusammengeführt. Die Struktur des Buches — zwei nebeneinander laufende Hand141
lungsstränge mit novellistischen Erzählpartien, die den thematischen K e r n des Buches ausloten - hat Andersch bereits in seinem ersten R o m a n erprobt. A n die Stelle der ästhetischen Geschlossenheit allerdings, die die H a n d l u n g des R o m a n s Sansibar oder der letzte Grund p r ä g t , sind in der Koten selbständige H a n d l u n g s s t r ä n g e getreten. Z w a r werden Lebensentscheidungen innerhalb eines kurzen zeitlichen A b l a u f s - die H a n d l u n g spielt v o n Freitag nachmittag bis M o n t a g v o r m i t t a g - vorgeführt, aber die B e g r ü n d u n g e n , M o tive, Verstrickungen der gegenwärtigen Lebenssituationen und E n t scheidungen reichen weit zurück in die Vergangenheit, und sie werden aus einem komplexen geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g erklärt. D a s E r b e der faschistischen Vergangenheit für die N a c h kriegsentwicklung der westeuropäischen Länder spielt hierbei eine wichtige Rolle. F r a n z i s k a in d e r W e l t g e s c h i c h t l i c h e r G e g e n s ä t z e D a s positive Identifikationsangebot für den Leser erstreckt sich nicht allein auf Franziskas Versuch, ein selbstbestimmtes Frauendasein aufzubauen. Indem Andersch seine Protagonistin in die Welt geschichtlicher Gegensätze führt, zeigt sich Franziskas Schicksal in einer geschichtlichen Perspektive. Andersch bezieht die faschistische Vergangenheit, ihre gegenwärtige Präsenz, den geschichtlichen und existentiellen Preis ihrer Macht mit ein. Ästhetisch wird dieser Z u s a m m e n h a n g mittels B e g e g n u n g e n hergestellt, durch die Franziska wider Willen in den K o n f l i k t zwischen dem faschistischen M ö r der K r a m e r und dessen O p f e r , dem Iren Patrick O'Malley, hineingez o g e n wird. Mit K r a m e r zeichnet Andersch den T y p des „gleichgültigen M ö r d e r s " , der, einst Beamter, z u m Handlanger faschistischer Verbrechen g e w o r d e n ist. E r ist mit allen Merkmalen des skrupellosen Tatmenschen gekennzeichnet, allerdings nur deshalb zu fürchten, weil er durch eine verzweigte Organisation gestützt wird. Andersch nimmt hier eine Konstellation wieder auf, wie sie auf andere Weise schon v o n W o l f g a n g K o e p p e n in Der Tod in Rom entwickelt w o r d e n w a r : Deutsche Faschisten ziehen v o m A u s l a n d her die Fäden und wissen sich auf G r u n d der Besetzung des Staats- und J u s t i z apparates mit ehemaligen Faschisten in Italien und der B u n d e s republik gleich sicher. Diese V e r q u i c k u n g v o n Machtinteressen verhindert die konsequente V e r f o l g u n g der faschistischen Verbrechen 142
und schafft eine Atmosphäre von Angst und bedrängender Unsicherheit, die Franziska auf den Straßen Venedigs empfindet. Nach einem anfänglichen Gefühl der Befreiung von gewöhnlichen Banalitäten und moralischer Lüge sieht sie sich in die Beziehung zwischen O'Malley und Kramer verstrickt, die sie als Teil ihrer bisherigen Existenz begreifen lernt. Franziska, noch zwischen den veränderten Realitäten und den Gewohnheiten ihres schicken Lebens schwankend, gelangt in das Valpone, ein venezianisches Nobelrestaurant, und wird dort von dem Iren O'Malley als diejenige „erkannt", der er seine Lebensgeschichte anvertrauen möchte. Sie sieht bei dem „kleinen Schwulen" das sensible Interesse an ihrer Lage und hofft auf einen möglichen Ausweg aus der ungeklärten Situation. In einer novellistisch eingefügten Episode erzählt der Ire s e i n e Geschichte: Folgen eines Schocks (auch als selbständige Erzählung, u. a. in Weltreise auf deutsche Art, Berlin 1985, erschienen): Man hat ihn zum Sicherheitsmann innerhalb der britischen Armee für den Kampf gegen die deutschen Faschisten ausgebildet und im deutschen Hinterland abgesetzt. Noch bevor er seinen Auftrag erfüllen konnte, wird er verhaftet und in den Fängen der Gestapo zum Verräter. Kramer ist als ehemaliger Gestapo-Mann Verursacher und Zeuge dieses Verrats. Obwohl O'Malley seine Spitzeldienste in einem britischen Gefangenenlager gesteht, bleibt ein dunkler Punkt: Der Verrat hat einen Menschen das Leben gekostet, und O'Malley wird mit seiner Tat nicht fertig. Da die Polizei nicht an eine Verfolgung des faschistischen Verbrechers denkt, greift der Ire zur Selbstjustiz, in die er Franziska als Zeugin hineinzieht. Mit der Konstellation Kramer - O'Malley knüpft Andersch an Sinnbilder an, die die Literatur für solche Situationen schon gefunden hat. Neben Wolfgang Koeppens Tod in Rom ist hier offensichtlich Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer mit verarbeitet und für den Leser assoziierbar, in der innerer Zerfall einer bestimmten sozialen Existenz, ihre Wehrlosigkeit gegenüber dem betrügerischen Zauber des Verführers und ihr Weg zum Verbrechen dargestellt sind. Anderschs Kramer-Figur allerdings ist brutaler in ihrer Machtausübung, ihre Drohungen sind offener. Ebenso wie Andersch die literarischen Befunde der Wohlstandsgesellschaft aufnimmt, indem er andeutungsweise an sie erinnert, schließt er hier an literarisch vorgeprägte Situationen an, in denen die Faszination des Bösen, die Verfallenheit an die Gewalttätigkeit, die Verstrickung des 143
Opfers und der Ausbruch in die Freiheit einen starken literarischen Ausdruck gefunden haben. Mit der Aufnahme schon bekannter literarischer Konstellationen und der Verwendung von Spannungselementen findet bei Andersch eine ganz bewußte Einstellung auf den Leser statt. Der Mord als Selbstjustiz an einem gefährlichen faschistischen Verbrecher erhält im ästhetischen Gefüge des Romans eine spannungslösende Funktion, die einen positiven Mitvollzug für den Leser nahelegt. Der Ire befreit sich durch diese Tat aus qualvoller Inaktivität und moralischer Selbstzerfleischung, und Franziska sieht sich aus der ungewollten Verstrickung in eine unabgegoltene Geschichte entlassen. Andersch nimmt für ein solches positives Handlungsangebot, durchaus gewollt, Verknüpfungen und Verwicklungen in Kauf, die ihm nicht zu Unrecht den Vorwurf der Kolportage eingebracht haben. Diese Kolportageelemente 261 erwachsen einerseits aus Anderschs Absicht, existentielle Motivierungen des menschlichen Handelns als unmittelbar geschichtlich belangvoll darzustellen, andererseits setzt er sie ganz bewußt ein, um ein breites Lesepublikum erreichen zu können. Der Leser von Massenliteratur ist gewohnt, den aktiv handelnden Helden zu erleben, der mutig seine Geschicke in die eigene Hand nimmt und das Böse durch Selbstjustiz zur Strecke bringt, gewissermaßen als Ausgleich für fehlende gesellschaftliche Gerechtigkeit. Der so handelnde Held läßt dann eine „sauber aufgeräumte Ordnungszelle zurück, sorgfältig ersonnen zur Erregung und Beruhigung eines Publikums, welches bis zum Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise versichert sein wollte, daß die Dinge zum besten ständen" 2 6 2 , so schreibt Andersch über die Machart von Detektivromanen. Er knüpft mit dem Motiv der Selbstjustiz und mit- Franziskas Rolle als guter Fee im Planspiel eines solchen Helden an diese Elemente an, funktioniert sie aber bis zu einem gewissen Grade um. Der Mord an Kramer ist eigentlich ein kleiner, schäbiger Mord, er wird nicht aus pathetischem Gerechtigkeitsgefühl heraus vollzogen, sondern ist Ergebnis der Qual, individueller Verstrickung und Angst, und er tritt an die Stelle einer Aburteilung, die von der Justiz realisiert werden müßte. Andersch bringt hier Kolportageelemente mit dem Zustand der Gesellschaft in Zusammenhang, die vom Verbrechen durchsetzt ist. Die moralische Alternative heißt, sich durch individuelle Kraftanstrengung zu entziehen. Sie wird dem Leser nahegelegt, indem der Autor die moralischen Wertungen im Handlungsablauf als ständigen Kontrapunkt 144
zu den ästhetischen Spannungselementen aufbaut. E t vollführt damit eine Gratwanderung, die ihre Gefahren offenbart, weil es ihm nicht durchweg gelingt, seine ästhetischen Mittel konsequent funktional einzusetzen. Das Ergebnis führt zu einer teilweisen Verselbständigung konstruierter, effektvoller Handlungselemente, klischierter Motivierungen und Figurenführungen. Hierin liegt wohl auch der Grund für die so unterschiedliche Wertung des ästhetischen Gewichts des Romans, die zwischen Extremen schwankt. Einmal wird das Buch auf „seinen Platz im Regal des gehobenen Zeitvertreibs" 2 6 3 verwiesen (Jaesrich), während es von anderen Kritikern als „ein Roman der Weltliteratur" charakterisiert wird (Wolfgang Koeppen im Klappentext der Taschenbuchausgabe des Romans von 1974).
Gegenwelt und Perspektiveentwurf Parallel zur Handlung um Franziska führt Andersch eine Handlungsebene ein, die er als Alternative zum Leben in moralischem Zynismus und schuldhaften Verstrickungen aufbaut. In diese Alternativwelt tritt Franziska dank der Begegnung mit dem Italiener Fabio Crepaz am Ende der Romanfassung von 1960 ein. Andersch schafft so einen positiven Lebensentwurf, und der Träger dieses Entwurfs ist ein freischaffend lebender Künstler und resignierter Revolutionär, der vor dem Hintergrund der italienischen Geschichte und des einfachen Volkslebens gezeichnet wird. Mit der Figur des Italieners Fabio Crepaz führt Andersch die historische Erfahrung des konsequenten antifaschistischem Kämpfers ein, den die Entwicklung der Nachkriegszeit in eine resignative Haltung zu den politischen Kämpfen gebracht hat, eine Haltung, die von Andersch im Roman als ein spezifisches Problem italienischer Intellektueller im Kontext italienischer Geschichte diskutiert wird. So führt Andersch kontinuierlich eines der Themen seines gesamten Werkes fort, er fragt nach der Stellung des Intellektuellen in den geschichtlichen Kämpfen und nach seinem Verhältnis zur kommunistischen Bewegung. Neue Momente ergeben sich in der Darstellung vor allem daraus, daß er die Lebensproblematik seiner Figur hier umfassender in ihren geschichtlichen Determinanten ausleuchtet. Andersch stellt einen ehemaligen Spanienkämpfer und italienischen Partisanenführer vor: „ein Mann, der alles verlor, als er die Aktion 10
Reinhold, Andersch
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verlor, ein Mann, der sich mit einem Stück gerade noch brauchbarer Musik zufriedengibt und im übrigen ein Betrachter, ein Zuschauer, ein Dilettant" 2 6 4 . Er hatte sich am Ende des Krieges dem Befehl gebeugt, die Partisanenbrigaden von den amerikanischen Truppen entwaffnen zu lassen, weil eine „revolutionäre Aktion im Augenblick der Befreiung nicht gerechtfertigt sei, sie wäre die terroristische Aktion einer Minderheit" 265 gewesen. Diesen Argumenten hat er sich vor allem deshalb gebeugt, weil er die militärische Übermacht der Amerikaner begriff. „Die Kapitulation der Partisanenbrigade Dona di Piave war ein prächtiges Schauspiel gewesen, verglichen mit dem Untergang der Internationalen Brigade Matteotti, sieben Jahre zuvor, auf den Schlachtfeldern von Katalonien." 2 6 6 Fernerhin hatte er beschlossen, sich aus der Politik zurückzuziehen, trat aus der kommunistischen Partei aus und spielte, so gut er konnte, Geige. Er lernte sie zwar „immer klarer und genauer spielen, aber immer klarer und genauer erkannte er das Elend von Mestre, in dem er aufgewachsen war, darum konnte er nicht ins Geigen-Elend versinken, nicht dem Elend mit seiner Geige aufspielen" 267 . Damit wird der Weg Fabios in die Kunst als ein problemvoller Fluchtweg dargestellt, für den das klare Bewußtsein seines Preises die Bedingung ist, sich nicht in die Selbstgerechtigkeit und Selbstgenügsamkeit einer ästhetischen Scheinexistenz zu begeben. Mit dieser Konstellation werden von Andersch in bezug auf das Verhältnis zur Kunst und auf Beziehungen zwischen Kunst und Politik durchaus auch Akzente beigebracht, die seine bisherige Position erweitern. Bisher war die Problematik der Kunst in seinen Büchern vor allem in ihren für die Identitätsfindung des Menschen positiven Seiten berührt worden. Fabios Flucht in die Welt der Kunst birgt in sich Gefahren. An seiner Geschichte, an seinem „venezianischen Inselleben" und an „seiner Ghettoexistenz" wird der Preis sinnfällig gemacht, der für einen Rückzug aus der geschichtlichen Aktion zu zahlen ist. Andersch motiviert diesen Rückzug Fabios nicht allein mit der Niederlage oder dem Bewußtsein des Besiegten, sondern mit einem „Gefühl der Sinnlosigkeit", einer Enttäuschung darüber, daß „die Revolution, für die er gekämpft hatte, aus einer Idee zur Schimäre verdampfte, ebenso übrigens wie die Idee der Freiheit, von der Bertoldi gelebt hatte" 2 6 8 . Er begann zu begreifen, daß die Ideen ihre Inhalte verloren hatten und für den Kampf der wirklichen Akteure nur einen geringen Stellenwert besaßen. Es wurden inzwischen geschichtliche Kräfte wirksam, die Andersch allerdings mit „reinen 146
Machtblöcken" unzureichend konkretisiert. Bei der Motivierung des Rückzugs seiner Figur aus der politischen Aktion wendet er ein Denkschema an, wie es für viele Intellektuelle und deren Verhältnis zum geschichtlichen Prozeß charakteristisch ist: Im Vorstellungskreis ihrer Welt ist die menschliche „Geschichte eine Geschichte der Entscheidungen zwischen geistigen Prinzipien" 269. Mit dieser Begründung offenbart Andersch einen sehr wesentlichen Kernpunkt für die wechselnden Haltungen Intellektueller zum geschichtlichen Prozeß und berührt nicht zuletzt auch die eigene Entscheidung mit ihren Folgen und ihrem Preis. Eine Erörterung dieser Fragen gelingt Andersch durch die Einbeziehung des Professor Bertoldi, eines alten Freundes von Fabio, der, ein Liberaler mit Überzeugungen, nach dem Kriege lange Zeit versucht hatte, verschiedene politische Parteien innerhalb der städtischen Ordnung Venedigs zusammenzuhalten, und letztendlich gescheitert ist. In dieser Figur zeichnet Andersch die eigenen Hoffnungen auf die Kraft moralischer Prinzipien innerhalb der politischen Kräftekonstellation, deren Scheitern er - dazu ist er allzusehr Realist - nur konstatieren kann. Die Bertoldi-Figur ist von Andersch nur wenig geschichtlich motiviert. Ihr politisches Scheitern berührt Fabios Entscheidung, ohne sie zu korrigieren. Andersch führt Fabio in wenigen Episoden seiner alltäglichen Existenz vor, die sich abspielt zwischen Theater, Mietzimmer bei einer Witwe, Ugos Bar, in der er Gleichgesinnte findet, dem Freund Bertoldi und der Wohnung seiner Geliebten, eines liebenswerten, oberflächlichen Geschöpfes, das eigentlich über ihn kaum etwas weiß. Der Widerspruch in Fabios Existenz besteht zwischen seiner weitschweifenden Phantasie und den eng gezogenen Grenzen seiner wirklichen Existenz. Die Enttäuschung hat ihn einsam und beziehungslos werden lassen, er überläßt sich weder seinen Gefühlen noch den gedanklichen Verlockungen, er scheut Bindungen, um weiteren Enttäuschungen aus dem Wege zu gehen. Die Berührung mit Franziska assoziiert für den Leser den Beginn einer Bindung. Aber Andersch läßt die Möglichkeiten dieser Beziehung offen, vermeidet damit den Eindruck, als wäre Fabios Existenzproblematik durch eine Liebe grundlegend zu verändern. Dem Fabio-Handlungsstrang hat Andersch die novellenhaft pointierte Erzählung Grausiges Erlebnis eines venezianischen Ofensetzers angefügt, die auch als eigenständiges Werk veröffentlicht worden ist (u. a. in: Weltreise auf deutsche Art. Berlin 1985). Der grausig10«
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faszinierende Kampf zwischen dem gewaltigen Kater und der riesenhaften Ratte, die im Kamin eines venezianischen Palais gelebt hatte, lähmt die Augenzeugen. Nur ein couragierter Pater handelt entschlossen und befördert die ineinander verbissenen Tiere aus dem Fenster ins Wasser. Einmontiert ist außerdem die eigenständige Erzählung Das Meer, in der Andersch Michelangelo Antonionis Film II Grido frei nacherzählt hat und über die er einen thematischen Bezug zu Fabios Bindungs- und Liebelosigkeit herstellt. Die in der Geschichte gezeigte unbedingte Liebesverfallenheit bildet den korrektiven Gegenpol zu Fabios Haltung. Die parallel geführten Handlungen um Franziska und Fabio werden am Ende durch eine Begegnung zwischen beiden verklammert. Franziska entschließt sich, ein hartes Arbeitsleben inmitten einfacher Italiener zu führen. Dieser Entschluß wird mit Episoden aus dem italienischen Volksleben vorbereitet, die Andersch jeweils am Ende der drei Tage plaziert, aus denen die Romanzeit besteht. Diese Episoden, fortlaufend kleingeschrieben, vermitteln Bilder aus dem Arbeitsleben von Fabios Vater, einem alten Fischer. Unter der Überschrift „Der alte Piero. Ende der Nacht" gibt Andersch Einblicke in den Rhythmus eines einfachen Lebens, das von Wasser und Wind, Sonne und Regen und dem Wechsel der Jahreszeiten bestimmt wird. Der Kampf mit der Natur ist Teil eines schweren, aber erfüllten Lebens. Diese Episoden bereiten Franziskas Eintritt in die Welt des einfachen Volkes vor, deren Umrisse Andersch im Epilog „Vom Geheimnis solcher Häuser" zeichnet. Franziska wird von Fabios Familie aufgenommen, sie hat vor, in einem industrialisierten Vorort Venedigs ihr Kind zur Welt zu bringen und dort in einer Seifenfabrik zu arbeiten. Diese Welt des einfachen Lebens stellt Andersch dar als Gegenentwurf zu Franziskas bisherigem Leben der oberflächlichen Reize und der doppelten Moral, entfernt von den Verstrickungen der geschichtlichen Welt. Das Bild Italiens als ein positiver Lebensentwurf hat eine lange Tradition in der deutschen Literatur, der hier nicht nachgegangen werden kann. Auch unter westdeutschen Autoren lebt diese Tradition fort. Sie beinhaltet Eskapismus und Protest zugleich, berührt Fragen der gesellschaftlichen Perspektive und des kritischen Maßstabs. Mit dem positiven Italienbild werden die restaurativen Verhältnisse in der Bundesrepublik ins kritische Licht gesetzt. Ausdruck dieser zunehmend kritischen Distanz ist auch die Tatsache, daß in 148
dieser Zeit viele westdeutsche Schriftstellet ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen. Sie begleiten von dort aus die inneren Verhältnisse ihres Heimatlandes mit bissigem Kommentar. Ein wichtiges, aufschlußreiches Dokument dieser Tendenz ist der von Hermann Kesten herausgegebene Band Ich lebe nicht in der Bundesrepublik (1960). Anderschs Perspektiveentwurf ist also symptomatisch, er ist der, gegenüber vielen anderen in der Literatur, bezeichnende Versuch, der Restauration etwas anderes als resignative Skepsis entgegenzusetzen, er insistiert auf positive Lebensbewältigung und auf ebenso positives Handeln. Von der gleichen symptomatischen Bedeutung ist auch die negative Reaktion der Kritik auf diesen literarischen Vorschlag. Insofern ist der Feststellung des Autors zu folgen, daß das „Hohngelächter über einen solchen Vorgang nicht die Wertlosigkeit eines erzählerischen Einfalls, sondern ein gesellschaftliches Symptom [enthüllt]: die Unfähigkeit nämlich, sich vorzustellen, es könne ein Mensch einen solchen Entschluß fassen. Einigen Kritikern und Lesern scheint es im Jahre 1961 unvorstellbar zu sein, ein Mensch könne Wandlungen durchmachen, die zu irgendwelchen praktischen Konsequenzen in seinem Leben führen. Ich mache diesen Leuten keinen Vorwurf - eine bestimmte historische Entwicklung hat dazu geführt, daß wir in einem zynischen und desillusionierten Klima leben. Allerdings mache ich den Versuch, mit meinem Werk dieses Klima zu durchstoßen." 270 Dieser kritischen Wirkungsintention stehen allerdings die geschichtliche Unangemessenheit des Lösungsvorschlags und die Elemente der Idyllisierung entgegen, die auf die generelle Problematik der Perspektive und ihrer literarischen Gestaltung bei Andersch verweisen. Kritikerstimmen zum Roman Die kritischen Stellungnahmen aus dem Jahre 1960 reflektieren diese generelle Problematik in höchst unterschiedlicher Weise und deuten schon auf Konflikte hin, die sich in den sechziger Jahren voll entfalten. Einige Kritiker stellen die kulturkritischen Prämissen des Buches zur Diskussion und äußern die Frage, ob der Roman geeignet sei, „unser kritisches Verständnis für die gesellschaftliche Wirklichkeit des Jahres 1960 über die vertrauten Stilübungen der WochenendFeuilletonisten hinaus zu erweitern" 271 . Ein Kritiker verneint diese Frage mit dem Hinweis auf die im Buch enthaltene rückwärts gewandte Kulturkritik. „Es ist verblüffend zu sehen, wie vorindu149
strielle Relikte der Gesellschaftsstruktur, die Andersch in der BRD sofort als solche erkennen würde, im italienischen Gewand plötzlich Heilserwartungen suggerieren." 272 Die Gründe für diese eskapistische Tendenz werden allerdings nicht erfragt. Auf sie kommt Peter Hamm in der Kulturbundzeitschrift Geist und Zeit zu sprechen, in der er eine frühe, in ihrer verabsolutierenden Schärfe allerdings problematische Abrechnung mit dem Nonkonformismus vorlegt. Unter dem Titel Immer noch draußen vor der Tür charakterisiert er die Harmlosigkeit der Nonkonformisten gegenüber dem politischen und ästhetischen Klima der Restauration, auf das er mit seiner kritischen Attacke eigentlich zielt. Im folgenden geraten allerdings die linken Intellektuellen ins Hauptfeuer der Kritik, denen wirft Hamm vor, daß sich ihre Tätigkeit in „selbst genügenden Formspielen" erschöpft und daß sie sich „von der Restauration ernähren" lassen.273 Auf Walsers Skizze zu einem Vorwurf Bezug nehmend, wirft er den westdeutschen Autoren, die sich als Nonkonformisten und heimatlose Linke sehen, vor, daß sie insgesamt dem Staat ihre Billigung nicht versagen, das Tabu des Kommunismus tolerieren und sich mit Industriepreisen abspeisen lassen. Damit nimmt er kritische Punkte auf, die auch Walser in seiner selbstkritischen Studie angesprochen hatte und die die generellen Probleme linker Intellektueller in der BRD berühren: die Einbindung der intellektuellen Tätigkeit in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang und die daraus folgende Neutralisierung geübter Kritik. Nach Hamm sind es die Intellektuellen selbst, die für dieses Einfunktionieren in den geistigen Stoffwechselprozeß der restaurierten kapitalistischen Gesellschaft Verantwortung tragen, weil sie vor allem die politischen Tabus anerkennen. Diese Haltungsfragen rücken hier ins Zentrum und werden in einer appellativen Form verhandelt, die nicht das Übereinstimmende, sondern das Trennende in den Vordergrund treten läßt. So, wenn Hamm sich direkt an Andersch wendet und, den Roman Die Rote einbeziehend, schreibt: „Merken Sie nicht, wie Sie uniform gehen . . .?" „Natürlich leiden auch Sie unter Ihrer Wirkungslosigkeit, die Ihnen eine Villa im Tessin und etliches mehr eingebracht hat. Aber Sie lieben Ihr Leiden." 274 Und ohne das inhaltlich-thematische Angebot der Roten wirklich aufzunehmen, fährt er fort: „'Die Rote' ist schön, sogar sehr schön . . . Trotzdem ist dieses Buch nichts, ist ein Nichts durch und durch. Es sieht genauso aus, wie sich die Feuerwerker drinnen den 'modernen Roman' vorstellen. Und das wissen Sie auch, Herr Andersch . . . Diese angeblich avantgardistische Form 150
stört. . . nicht, . . . aber ein neuer I n h a l t . . . er würde sehr stören . . . In Wahrheit, Herr Andersch, sind Sie der Mann der Restauration, indem Sie gegen das, was Sie Konformismus nennen, nur eine revolutionäre Pose setzen, die bereits in den 20er Jahren lächerlich war, indem Sie sich mit Stolz zur heimatlosen Linken zählen - und was heißt heimatlos anderes als draußen vor der Tür. Natürlich reißen Sie Tabus ein, kommen sich mutig dabei vor, natürlich geht es Ihnen wie all den anderen schreibenden Damen und Herren um die 'unbewältigte Vergangenheit'. Aber haben Sie noch nicht mitbekommen, daß es nur ein einziges Tabu gibt im Westen, das niemand anrühren darf und niemand anrührt - auch Sie nicht - . . . Ich meine den Kommunismus." 275 Von einer anderen Position her beurteilt die Problematik des im Roman vorgestellten Perspektiventwurfs der konservative Kritiker von Christ und Welt, der im „moralischen Ideal" des einfachen Lebens eine Möglichkeit erblickt, sich mit „dem Leben als Ganzes zu versöhnen". Er kritisiert Andersch wegen der Wahl des italienischen Schauplatzes und stellt einen Bezug zu Wiecherts Roman Das einfache Leben her, in dem eine introvertierte Selbstbesinnung als Lebenshaltung vorgeführt wird. Der Kritiker trennt die kulturkritischen Prämissen der Koten von ihren gesellschaftlich bedingten Motivierungen und wertet die dargestellte geschichtliche Konstellation als „Ausfluß von bösen Leidenschaften"276, denen durch Hinwendung zu den moralischen Konstanten eines „einfachen Lebens" zu begegnen wäre. Andersch hat sich gegen den Vergleich mit Wiecherts Roman mit Recht gewehrt, weil er nach seiner Meinung aus dem tendenziösen Leseangebot des Kritikers erwachsen ist. Aber auch sein Roman enthält einen problematischen Lösungsvorschlag, der eine Tendenz zur Sentimentalisierung und Idyllik nicht verleugnen kann. In der überarbeiteten Neuausgabe von 1972 hat Andersch den Romanschluß verändert. Er hat Passagen über Franziskas Schwangerschaft und den Epilog „Vom Geheimnis solcher Häuser" wegfallen lassen. Außerdem hat er überflüssige Floskeln beseitigt. 277 Die Änderungen lassen die Absicht erkennen, dem viel kritisierten Zug zum Mondänen und Manierierten entgegenzuwirken. In der Nachbemerkung zur Neuausgabe von 1972 vermerkt Andersch seine Überzeugung, „daß es besser ist, dem Roman einen 'offenen Schluß' zu geben und das weitere Schicksal Franziskas und Fabios der Phantasie des Lesers zu überlassen" 278 . Hier drückt 151
sich die Entwicklung von Anderschs erzählerischer Konzeption aus, er sucht in zunehmendem Maße nach Möglichkeiten, dem Leser Freiräume zu schaffen, in die er mit eigener gedanklicher und emotionaler Aktivität eingreifen kann. Die Gründe für die Neufassung der Schlußlösung mögen in Anderschs Erfahrungen bei der filmischen Verwertung, in der genaueren Ausformung seines erzählerischen Konzepts und in den ideologischen und politischen Entwicklungen der sechziger Jahre zu finden sein, die ihm die Fragwürdigkeit des vorgestellten Perspektiveentwurfs deutlich werden ließen. Andersch und der Film. Verfilmung des Romans „Die Rote" Aus den vorangegangenen Darlegungen dürfte offensichtlich geworden sein, daß der Autor in einer Zeit des vorherrschenden elitären Literaturverständnisses an einem auf moralische Wirkung gerichteten Konzept festhält und die durch die ästhetische Kritik sanktionierte Kluft zwischen einer elitären und einer trivialen Literatur als Herausforderung annimmt. Mit einer auf Spannung angelegten Handlung, mit den auf Mitvollzug gerichteten Lösungsvorschlägen und mit dem Einsatz von überraschenden Elementen findet ein bewußtes Einstellen auf die durch triviale Literatur geformten Lesegewohnheiten statt. Diese direkte Einstellung auf Leser verrät auch die typographische Gestaltung des Romans: Hervorhebungen und Kursivdruck für Gedankenmonologe und Beschreibungspartien, schon vom Schriftbild her Streben nach Übersichtlichkeit. Die Aufnahme des Romans, in dem alle Kunstgriffe modernen Erzählens, vom Perspektivwechsel bis zur erlebten Rede, genutzt werden, erleichtert so der Autor auch dem Leser, der in der Lektüre moderner Literatur ungeübt ist. Wirkungsabsichten standen für Andersch auch bei dem Unternehmen im Vordergrund, Die Rote als Film einzurichten. Ebenso wie bei den Arbeiten für den Rundfunk ließ er sich hier von der Einsicht in die immensen Wirkungsmöglichkeiten der Medien, vor allem von Film und Fernsehen, leiten. Die Arbeit an funkdramatischen wie Prosawerken beförderte auch Übereinstimmungen in ihrer Struktur. Auch die Struktur der Roten zeugt vom Umgang mit den Medien. Perspektivwechsel, dramatische Zuspitzung der Handlung und Montage deuten auf filmische Verfahren hin und auf die genaue Kenntnis ihrer Möglichkeiten. 279 Andersch bekennt, 152
nach Fertigstellung des Romans an eine Verfilmung gedacht zu haben; bei der konkreten Arbeit am Szenarium wurde dann allerdings offensichtlich, daß sich die Struktureigentümlichkeiten der Prosa nicht ohne Umstände in filmische Lösungen übersetzen lassen. Andersch erinnert sich, daß ihn sehr früh das Phänomen Film fasziniert hat. In den frühen dreißiger Jahren lernte er die Filme von Eisenstein und Pudowkin kennen, deren Tradition er nach dem Kriege in den Filmen des italienischen Neorealismus fortgeführt sieht.280 Aus dieser Faszination heraus sind eigene Projekte entstanden, auch eine umfangreiche Tätigkeit als Filmkritiker, während der er Filme von Fellini, Rossellini und Arbeiten der französischen Nouvelles vagues besprochen hat. Die Kritiken zeigen, daß er die gesellschaftlichen Bedingungen filmischer Produktion, die Tatsache, daß der Film „ausgeliefert ist dem Gesetz der Rentabilität als dem grundlegenden Gesetz der Wirtschaft, auf dem sich unsere Gesellschaftsordnung ufbaut" 281 , als Faktor in Rechnung zu stellen weiß und zum Gesichtspunkt seiner kritischen Wertung werden läßt. So, wenn er den Fellini-Film La dolce vita als Ergebnis materieller Kalkulationen, Konzessionen und Auflagen beschreibt: „Der Herstellung dieses Films liegt nicht eine Abmachung über seine Rentabilität allein, sondern über die Rentabilität einer ganzen Industrie zugrunde, der Industrie des italienischen Films . . . Man verlangt von ihm [dem Regisseur] das Meisterwerk einer Gesellschaftskritik, die vom wohlwollenden Lächeln des Zensors begleitet werden kann, einen nonkonformistischen Film unter staatlicher Planung" 282 und außerdem mit guten Exportaussichten. Auch bei der Betrachtung der Möglichkeiten, die das Fernsehen für Autoren bietet, kalkuliert Andersch die Faktoren ein, die dieses institutionell kontrollierte Massenmedium dem Autor vorgibt und die ein „ganzes Raster von Tabus" bedeuten. „Der Autor muß dieses Tabu-Raster einkalkulieren und versuchen, es zu durchbrechen." 283 Trotz der prägenden Bedingungen, die sich aus dem institutionalisierten Warencharakter der Kunstproduktion ergeben, Film und Fernsehen zu besonderen Einschränkungen zwingen, hat sich Andersch auf die Verwertung seiner Prosaarbeiten durch die Medien eingelassen. Sansibar oder der letzte Grund wurde in einer Fassung von Leopold Ahlsen für das Fernsehen bearbeitet, Die Kote vori Helmut Käutner verfilmt, und in den siebziger Jahren verfilmte Eberhard Fechner den Roman Winterspelt. Andersch hat offensichtlich die positiven Möglichkeiten der filmischen Verbrei153
tung höher veranschlagt als die Probleme, die sich dabei für den A u t o r und eine adäquate Werkaneignung ergaben. Allerdings hat er seine Position als Produzent v o n Literatur in der Zusammenarbeit mit dem Film genau umrissen. Indem er Film und Fernsehen als literarische K u n s t f o r m , „die D r a m a t u r g i e v o n Filmund Fernsehspiel [als] die D r a m a t u r g i e einer visuellen F o r m der Literatur . . . als A u s f o r m u n g eines spezifischen Z w e i g e s v o n Liter a t u r " 2 8 4 bestimmt, geht es ihm u m die H e r v o r h e b u n g ihrer E r k e n n t nisfunktion gegenüber formalisierenden Tendenzen einer Filmästhetik, die den Film auf „reine Zeichensprache", auf ästhetische Stereotype festlegen will. Darin sieht Andersch eine V e r a r m u n g der filmischen Möglichkeiten, wie sie an der perfektionierten Westernindustrie abzulesen ist. In seinem programmatischen Aufsatz Das Kino der Autoren bestimmt er Film wie Literatur als K u n s t f o r m e n des zeitlichen Ablaufs und nicht als das Bild, das einen statischen und zeitlosen Gesamteindruck hervorbringen will. D a s Bild im Film vergleicht Andersch mit der Metapher in der D i c h t u n g , daher ist für ihn die Ur-Zelle des Films der T e x t : „ D a s Wesen eines erzählerischen Textes bildet ein V o r g a n g subjektiver K o m m u n i k a t i o n oder kommunizierender S u b j e k t i v i t ä t . " 2 8 5 D e r optischen Struktur sei die Funktion der L o g i k eingeschrieben, d. h. der Wahrheit der literarischen Idee, die sich auf die gesellschaftliche U m w e l t beziehe. Andersch apostrophiert den Film als visuelle F o r m v o n Literatur, um zu betonen, daß der Film an die gleiche innere L o g i k g e b u n d e n ist wie die Literatur. D a m i t hebt er die v o m A u t o r bestimmte Synthese mit d e m Regisseur hervor, weil „das K a m e r a a u g e erst wahrhaft sehend würde, wenn es v o n einem literarischen Bewußtsein sich l e i t e n " 286 ließe.
Anläßlich einer Antwort auf die Fragen nach einem Fernsehen für Autoren aus d e m J a h r e 1963 hat Andersch alle seine E r f a h r u n g e n mit Film und Fernsehen negativ apostrophiert. 2 8 7 Dieses pauschale Fazit war möglicherweise den aktuellen Eindrücken der Z u s a m m e n arbeit mit d e m Regisseur Helmut Käutner geschuldet, mit dessen filmischer U m s e t z u n g der Roten der A u t o r nicht sehr einverstanden war. E r war an diese Zusammenarbeit mit großen E r w a r t u n g e n herangegangen und betont in verschiedenen Gesprächen - 1962 im winterlichen Venedig, dem O r t der Dreharbeiten - die N o t w e n d i g keit, die Beziehungen zwischen Literatur und Film zu* verbessern, um den westdeutschen Film aus seinen trivialen N i e d e r u n g e n zu führen. Andersch fordert seine Schriftstellerkollegen auf, mit A n g e 154
boten auf die Filmemacher zuzugehen. Bei dieser Gelegenheit betont er seinen Anteil am Drehbuch. Das endgültige Szenarium wurde zwar das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Autor und Regisseur, vom fertigen Film hat sich Andersch dennoch distanziert. Seine Kritik richtete sich vor allem auf die gedankliche Verarmung der Fabio-Figur. Trotzdem hat Andersch nach Möglichkeiten der technischen Medien immer aufs neue gesucht und ihre produktiven Anregungen für das eigene ästhetische Ausdrucksvermögen genutzt.
,Der Roman hat immer eine Zukunft.. ."Weltblick und Erzählen in den sechziger und siebziger Jahren
„ Efraim" - Roman der Krise und des Übergangs Kontexte Andersch begann die Arbeit am Roman Efraim im Oktober 1963 und beendete die Niederschrift 1966. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen seines Ich-Erzählers, Efraim, datieren vom September 1962 bis zum Frühjahr 1965. Wie in keinem anderen Roman vom Andersch rücken Entstehungs- und erzählte Zeit dicht aneinander, ist der Autor den jüngsten Ereignissen unmittelbar auf der Spur. Während Die Kirschen der Freiheit als eine Rückschau und Sansibar oder der letzte Grund als eine für sich abgeschlossene, vergangene Handlung dargeboten werden, nähert sich Andersch mit dem erzählerischen Konzept in der Roten der unmittelbaren Gegenwart; die Handlung spielt in den fünfziger Jahren, eine genaue Datierung läßt sich allerdings nicht ermitteln, sie ist auch für den Aufbau der Fiktion ohne Belang. Anders in Efraim-. Die den Autor während der Entstehungszeit des Romans bedrängenden Probleme werden reproduziert, die Problematik des Schreibvorgangs und die Spannung zwischen der Erzählzeit des Ich-Erzählers und der erzählten Zeit des länger oder kürzlich Vergangenen zum konstituierenden Element des Romans gemacht. Die Ebene der Entstehungszeit des Romans und die verschiedenen zeitlichen Ebenen der Fiktion stehen zueinander im spannungsvollen Verhältnis, das verrät, in welchem Maße der Autor mit seinem Gegenstand verwoben ist. Der Roman hatte für Andersch offensichtlich auch die Funktion, sich von ihn bedrängenden Fragen freizuschreiben und für die unmittelbaren Erfahrungen eine Objektivierung zu suchen. Die Thematisierung der schriftstellerischen Problematik und die Auseinandersetzung mit den genau datierbaren Zeitereignissen jener Jahre waren offensichtlich der Grund dafür, daß ein Teil der Kritik von einer Identität zwischen Figur und Autor ausging. Mit einer solchen Gleichsetzung wird man 156
jedoch der Fiktion nicht gerecht und ebnet die komplexe Aussagestruktur des Werkes ein. Dennoch ist es für das Verständnis des Ganzen notwendig, den realen Erfahrungen nachzugehen, die in diesen Roman eingeflossen sind und auch seine Darbietungsform mitbestimmt haben. Andersch bezog im Jahre 1958 mit seiner Frau, der Malerin Gisela Andersch, ein altes Bauernhaus in Berzona, einem Dorf in der Nähe der italienischen Alpen, wo sich auch Max Frisch angesiedelt hatte. Er hat immer Wert darauf gelegt, für diese Entscheidung rein private Gründe anzuführen. 288 Anderschs Ausscheiden aus dem Kulturbetrieb - er war zuletzt im Südwestfunk Stuttgart tätig - war jedoch ein Entschluß von weitreichender Tragweite und deutet darauf hin, in welchem Maße die „private" Existenz eines Schriftstellers von äußeren Bedingungen und Faktoren bestimmt ist, die sich in ihren Konsequenzen auch gesellschaftlich vermitteln. Hinter Anderschs Entschluß verbarg sich die für den Schriftsteller typische, konfliktreiche Beschaffenheit seiner Existenz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Adorno hat in seinen Untersuchungen zur Kulturindustrie darauf verwiesen, daß die „gesellschaftliche und wirtschaftliche Gesamttendenz die materielle Basis der traditionellen Kultur liberalen und individualistischen Stils" zerfrißt und daß es für den einzelnen Autor unmöglich ist, sich dieser Tendenz zu entziehen. Er charakterisierte den Appell an Kulturschaffende, sie möchten sich dem Prozeß entziehen und draußen bleiben, als albern und hohl. „Nicht nur würde ihnen die Möglichkeit abgeschnitten, ihren Unterhalt zu erwerben, sondern auch jegliche Wirkung, der Kontakt zwischen Werk und Gesellschaft, auf den das integerste Werk nicht verzichten kann, wenn es nicht verdorren soll. Die ihrer Reinheit vom Betrieb sich rühmen, die Stillen im Lande, sind des Provinziellen, kleinbürgerlich Reaktionären überaus verdächtig." 289 Vom Standpunkt der bis Ende der fünfziger Jahre voll ausgebildeten Kulturindustrie besitzen Schriftsteller und ihre Produkte nur noch im Zusammenhang von Angebot und Nachfrage, unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Verwertbarkeit, eine Bedeutung. Schriftsteller haben kaum eine andere Wahl, als sich diesem Verwertungszusammenhang zu unterstellen. „Staatsmonopolistische Kommunikationsstruktur und Dichterindividualität, kulturindustrielles Funktionieren des Kunstwerks und sein Gehalt - so sehr sie mit historischer Unvermeidlichkeit eine 157
Symbiose dieser oder jener Art eingehen müssen - treten in d e m selben Maße in einen A n t a g o n i s m u s . " 2 9 0 D i e zeitgenössischen E m p f e h l u n g e n des Theoretikers der freien Marktwirtschaft Wilhelm R ö p k e : „ V o m Markt, aber für den Geist l e b e n " 2 9 1 (anläßlich der Frankfurter Buchmesse 1959) nehmen sich gegenüber diesen Tendenzen als Z y n i s m u s aus. N e b e n diesen sozialökonomischen Determinationen beschnitt das politische K l i m a der Restauration die M ö g lichkeiten intellektueller O p p o s i t i o n und erzeugte bei vielen Intellektuellen eine funktionierende Selbstzensur. „ E i n A u t o r , der im großen ein G e g n e r der Politik Adenauers ist, wird dennoch unbewußt im kleinen in dessen politischer S t r ö m u n g schwimmen, g e g e n seinen Willen, wenn er lieber d o c h mit seiner wahren Meinung über den K o m m u n i s m u s , über M a r x oder die O s t z o n e hinter d e m B e r g hält . . . E r wird es möglicherweise deshalb tun, weil er seine soziologische Stellung ungemein gefährdet findet, mit Recht, . . . und mit solchen verzweifelten K o m p r o m i s s e n sich dennoch einen Platz in unserer Restgesellschaft zu erkämpfen sucht. D a ß Westdeutschland seine Schriftsteller heute k a u m braucht, außer u m seine Besitzbürger ein wenig zu zerstreuen, um K i n o , F u n k und Fernsehen mit Gebrauchtwaren zu versorgen, das liegt offen z u t a g e . " 2 9 2 Andersch hatte sich wie k a u m ein anderer Schriftsteller in der B R D auf die B e d i n g u n g e n des kulturellen Betriebs eingelassen, war als Förderer, Initiator, Organisator und Herausgeber für die E n t w i c k l u n g der Literatur wirksam g e w o r d e n , hatte in seinem eigenen Schaffen als F u n k a u t o r und Erzähler die Möglichkeiten und B e g r e n z u n g e n des Literaturbetriebs kennengelernt. K o m p r o m i s s e und K o n z e s s i o n e n haben diese Tätigkeit begleitet. Die materiellen Bedingungen dafür, daß er sich für eine „ f r e i e " Schriftstellerexistenz entschied, waren mit dem E r f o l g v o n Sansibar oder der letzte Grund und mit der Verleihung des Kritikerpreises gegeben. E r weist 1967 in einem Gespräch darauf hin, daß, wenn ein A u t o r v o m Schreiben leben wolle, er alle zwei bis drei J a h r e ein B u c h publizieren müsse, das es mindestens zu 2 0 0 0 0 verkauften E x e m plaren bringe. „ D a s garantiert das Existenzminimum, o b w o h l ein A u t o r auch dann nicht auf die Massenmedien für die Sicherstellung seines Lebensunterhalts verzichten k a n n . " 2 9 3 Andersch beschreibt hier seine eigenen Existenzbedingungen, v o n denen er 1973 s a g t : „Ich bin ein bekannter, aber keineswegs ein reicher Schriftsteller. Meine Bücher erreichen A u f l a g e n , die gerade ausreichen — zusammen mit den Bildverkäufen meiner Frau - die K o s t e n unserer L e b e n s 158
haltung zu decken, Zuschüsse zum Studium unser Kinder zu leisten, Steuern zu bezahlen. Immerhin stelle ich mich damit schon besser als die meisten meiner Kollegen. Beispielsweise kann ich ungestört zwei bis drei Jahre an einem Buch arbeiten, ohne Neben-Aufträge von Rundfunk, Fernsehen, Presse übernehmen zu müssen." 2 9 4 Diese Sätze aus dem Jahre 1973 sagen jedoch nichts aus über die Schwierigkeiten, eine solche Existenz zu befestigen. Auch Andersch suchte in den Jahren um 1960 zwanghaft nach Publikationsmöglichkeiten.295
Die von Andersch als „privat" apostrophierten Gründe für sein Ausscheiden aus dem Kulturbetrieb waren durchaus von gesamtgesellschaftlichem Belang. Sie lagen, neben dem Zwang zu tagtäglichen Kompromissen, auch noch in atmosphärisch-soziologischen Gründen, die Andersch unter dem Stichwort „Kunstfeindlichkeit der Städte" faßt. Er bezeichnet damit die Atmosphäre sachlicher Betriebsamkeit, die mit der Entvölkerung der Stadtkerne, mit dem Bau von Trabantenstädten, mit Poesiefeindlichkeit und Nüchternheit verbunden ist. In den Städten breitete sich geschäftemachender Kunsthandel und eine reiche Pseudoboheme immer mehr aus, die die traditionellen Künstlerviertel in München und anderswo in Reservate von Snobs verwandelte. Aus dieser so veränderten städtischen Umwelt zogen sich in den fünfziger Jahren viele Künstler zurück, und „sie brachten sehr schnell heraus, wo sich in Europa noch Gegenden befanden, in denen sie billig Häuser erwerben konnten. Während früher die 'Künstlerkolonie' ein Einzelfall war, wurden nun abseitige, von der industriellen Entwicklung liegengelassene Bezirke, Landschaften mit einem dichten Gehalt an Atmosphäre, von Künstlern förmlich übersiedelt." 296 Für Andersch ist diese Bewegung nicht unproblematisch, und er vermerkt ironisch, daß er und seine Frau sich 1958 bei ihrer Übersiedlung nicht darüber im klaren gewesen wären, daß auch sie an einem verbreiteten Imago mitarbeiten, das jetzt unter der Bezeichnung „Tessin" bekannt geworden sei. Mit der Übersiedlung in das Tessin hat sich Andersch aber einen Ruhe- und Konzentrationspunkt geschaffen, der für die künstlerische Arbeit trotz sozialer Einbindungen und technischer Veränderungen unerläßlich geblieben ist. Denn der künstlerische Produktionsvorgang selbst ist dem des kleinen Warenproduzenten vergleichbar; Kopf und Hand des Künstlers spielen die ausschlaggebende Rolle. Nur unter diesen Bedingungen kann sich die intellektuelle Distanz zu den Gesetzen des Kapitalismus reproduzieren und als Form von 159
Opposition wirksam werden. Andersch hat diese Unverwechselbarkeit der schriftstellerischen Arbeit immer betont und damit auf Elemente hingewiesen, die den egalisierenden Tendenzen in der Kapitalverwertung entgegenarbeiten. In diesem Sinne ist auch seine epigrammatische Polemik 297 mit Walter Benjamins These vom Ende der „auratischen Kunst" zu verstehen, gegen die er die Originalität und Ausstrahlungskraft künstlerischer Hervorbringungen betont. Für Andersch brachte der veränderte Wohnsitz nicht nur einen Wechsel zum schweizerischen Walter-Verlag mit sich, sondern auch eine neue Sicht auf die Entwicklung in der Bundesrepublik und die Rolle der schriftstellerischen Intelligenz in ihr. Die Entfernung von dem Literaturbetrieb veränderte seine Stellung innerhalb des literarischen Lebens und zu den politischen Vorgängen in der Bundesrepublik. Hatte er sich als Mitbegründer der Gruppe 47 in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre in polemische Kontroversen gegen die restaurativen Gegner dieser Gruppe eingelassen und die Rolle der Gruppe als kritische Opposition gegenüber der restaurativen Entwicklung der Bundesrepublik betont - eine Einschätzung, an der Andersch im Unterschied zu Enzensberger auch späterhin festhält - , so zieht er sich seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre aus ihr immer mehr zurück. Der Grund dafür ist in der Tatsache zu sehen, daß sich die Gruppe 47 zu einem literarischen Marktinstrument entwickelt hatte, während sie in der Frühzeit ein Freundschaftsbund war. „Das waren etwa 20 -30 Schriftsteller, die die verrückte Idee hatten, sich gegenseitig ihre Sachen vorzulesen und dann miteinander zu diskutieren. Sie hatte auch eine politische Funktion, sie war eine Zusammenkunft der in Deutschland neu hervorgetretenen Schriftsteller . . . Sie hat ein politisch wichtiges Klima der Kritik gegen die Restauration geschaffen." 298 Am Ende der fünfziger Jahre wird offensichtlich, daß die kritischen Stellungnahmen der Schriftsteller die politische Restauration kaum beeinflussen konnten. Angesichts der registrierten Fehlentwicklung des westdeutschen Staatswesens - die Einheit Deutschlands scheint als Ergebnis der Adenauer-Politik verspielt, Demokratie und soziale Gerechtigkeit der Restauration des kapitalistischen Wirtschaftssystems geopfert - setzt unter den Schriftstellern ein genereller Vorgang kritischer Prüfung ein, als deren Ergebnis die Erkenntnis von äußerst begrenzten gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten steht. Die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre herausgegebenen Anthologien 299 bilanzieren die bundesrepublikanische Entwicklung 160
kritisch und skizzieren Möglichkeiten praktisch-politischer Tätigkeit. Andersch beteiligt sich an diesen Anthologien nicht, obwohl auch er innerhalb-dieses generellen Orientierungsprozesses steht. In der Sekundärliteratur 300 wird Anderschs Haltung in den sechziger Jahren als Rückzug von der Politik in die Literatur charakterisiert. Er selbst verwendet für eine geplante Autobiografie Stichworte über diese Zeit wie „Unentschiedenheit" und „Zynismus". Sie verweisen auf starke Unsicherheiten in der Positionsbestimmung, die sich auch hier aus dem Problematischwerden des Engagement-Begriffs und der erlebten Folgenlosigkeit intellektueller Kritik ergeben haben. In Gesprächen aus dieser Zeit äußert er, daß ihm der Begriff des Engagements während der letzten Jahre etwas fragwürdig geworden sei. Er wäre nicht mehr so einfach zu definieren, wie man sich das noch in den fünfziger Jahren gedacht habe. Und in Hohe Breitengrade lesen wir: „ Ich mag das Wort Engagement nicht mehr, während das Wort Humanität für mich nichts von seinem Wert verloren hat." 301 Anderschs besondere Stellung innerhalb der politischen und literarischen Bewegung der sechziger Jahre besteht darin, daß der Zweifel am Sinn des Engagements bei ihm das künstlerische Selbstverständnis nicht grundlegend berührt hat. Gegenüber den Verunsicherungen über die Funktion der Literatur, die bei Enzensberger zu Äußerungen über mangelnde Rechtfertigung für Kunstausübung oder bei Martin Walser zu einem vorübergehenden Verzicht auf Fiktionen und zur Favoris ierung von Dokumentationen führten, hält Andersch unbeirrt an der Vorstellung fest, daß das literarische Werk in der Gesellschaft Wirkungen ausübt. „Es ist ein Teil der gesellschaftlichen Realität. Es kommt aus gewissen historischen Erfahrungen und wird sich auf andere Erfahrungen auswirken." 302 Diese Wirkungsvorstellung steht bei Andersch jenseits aller politischen und weltanschaulichem Didaktik und jenseits der begrenzenden Vorstellung, da Liteaturauf bestimmte Zielgruppen gerichtet sei. Politische Erfahrungen charakterisiert er dabei als eine Voraussetzung, die der Autor nach Möglichkeit mitbringen sollte, das Medium seiner Arbeit sei aber die Literatur und nicht die Politik. Im Gegensatz zur kulturrevolutionären Utopie der Neuen Linken geht Andersch davon aus, daß die Arbeitsteilung, die den produzierenden Autor hervorgebracht hat, nicht willkürlich abzuschaffen sei. Aus diesem schriftstellerischen Selbstverständnis heraus bezieht Andersch Distanz zu den politischen und literarischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre in der BRD. Von Autoren wie Günter Grass, Martin Walser 11
Reinhold, Andersch
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und Hans Magnus Enzensberger unterscheidet ihn vor allem der kritische Abstand zur sich vollziehenden politischen Radikalisierung im Laufe der sechziger Jahre. Im Herbst 1962 hat Andersch letztmalig an einer Tagung der Gruppe 47 in Westberlin teilgenommen. Auf dieser Zusammenkunft wurde ein Protestschreiben gegen die Durchsuchung der Redaktionsräume des Spiegels und die Verhaftung des Chefredakteurs Rudolf Augstein verabschiedet. Die durch den damaligen Verteidigungsminister Strauß verfügte Aktion begründete man mit der Behauptung des „Verdachts auf Verrat militärischer Geheimnisse", sie rief in der demokratisch gesinnten Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung hervor. Die Gruppe 47 wandte sich einen Tag nach Bekanntwerden der Vorgänge mit einem Manifest an die Öffentlichkeit, in dem sie sich mit dem Spiegel-Redakteur: solidarisierte und das Recht auf öffentliche Unterrichtung zum Angelpunkt machte: „In einer Zeit, die den Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar gemacht hat, halten sie [die Verfasser] die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht, die sie jederzeit erfüllen würden. Die Unterzeichner bedauern es, daß die Politik des Verteidigungsministers der Bundesrepublik sie zu einem so scharfen Konflikt mit den Anschauungen der staatlichen Macht zwingt. Sie fordern diesen politisch, gesellschaftlich und persönlich diskreditierten Minister auf, jetzt endlich zurückzutreten."303 Dieses Manifest führte zu einer ausgedehnten öffentlichen Kontroverse, die von Seiten der reaktionären Presse mit wüsten Beschimpfungen gegen die Gruppe 47 begleitet wurde und sich über die Jahre 1962/63 hinzog. In ihrem Verlauf tat sich neben Hans Habe besonders Rudolf Krämer-Badoni mit einem Kommentar in der Welt hervor, in dem er „Reklamesucht zum einzig schlüssigen Impuls der Schriftsteller" erklärte. Er unterstellte der Gruppe, sie strebe danach, „den Untergang der politischen und persönlichen Freiheit über uns zu verhängen . . .", und er forderte die Öffentlichkeit dazu auf, Kulturschaffende als „ z u r ü c k g e b l i e b e n e N a r r e n " , „ k i n dische N a t i o n a l n a r r e n " zu betrachten. „Und warum sollte ein Volk sich abends nicht über seine Nationalnarren amüsieren?"304 Wenig später diffamierte der Geschäftsführende Vorsitzende der CDU, Josef Hermann Dufhues, die Gruppe 47 als „geheime Reichsschrifttumskammer", deren Fäden in die Redaktionen zu verfolgen seien. In einem von Heinz Schnabel, Wolfdietrich Schnurre, Peter Weiss, Martin Walser, aber nicht von Andersch (!) unterzeichneten 162
öffentlichen Brief305 forderten die Autoren die Zurücknahme der Diffamierung und kündigten an, daß sie, sollte die Zurücknahme nicht erfolgen, um ihre Rehabilitierung bei Gericht kämpfen würden. Daraufhin wurde eine zuvor von dem Publizisten Kurt Ziesel initiierte Strafanzeige wegen Aufforderung zum Landesverrat von der Bundesanwaltschaft mit der Begründung eingestellt, daß der „Sinn der beanstandeten Erklärung unklar bleibe und ihr allgemein gehaltener Wortlaut den Paragraphen 49a des Strafgesetzbuches über die strafbare und mißlungene Anstiftung unerfüllt lasse" 306. Diese politische Konfrontation in der Öffentlichkeit der BRD verdeckte die bestehenden Unterschiede, die es nicht nur im literarischen Selbstverständnis, sondern auch in den politischen Positionen der Schriftsteller gab. Anderschs politische Stellungnahmen und Haltungen sind in dieser Zeit durch einen Widerspruch zwischen gewonnenen Einsichten und Handeln gekennzeichnet, zwischen einer grundsätzlich kritischen Distanz zu den Vorgängen in der BRD und dem weitgehenden Verzicht auf Teilnahme an konkreten politischen Aktionen. Am Beginn der sechziger Jahre steht allerdings neben der SpiegelResolution die Initiierung eines offenen Briefes an den französischen Kulturminister, den Schriftsteller André Malraux, in dem sich Andersch, zusammen mit Max Frisch, gegen die Verfolgung französischer Intellektueller wendet, die er als Anschlag auf die Meinungsfreiheit wertet. Die Intellektuellen hatten öffentlich zum Widerstand gegen den Kolonialkrieg in Algerien aufgerufen.307 Die Erklärung „über das Recht auf Gehorsamsverweigerung im algerischen Krieg" 308 wird von Andersch vor allem als Aufruf zur Ablehnung eines ungerechten und barbarischen Krieges gesehen, darüber hinaus findet er „neu bestätigt, daß die Staatsräson und diejenige des sogenannten nationalen Interesses nur gelten - sofern sie überhaupt gelten - , solange sie nicht im Gegensatz zum menschlichen Gewissen und der Menschheit stehen . . . " Auf Grund geschichtlicher Erfahrungen, nicht zuletzt der des Faschismus, sieht Andersch es als bewiesen an, daß „blinder Gehorsam und Ausführung der Befehle sowie kritiklose Anerkennung der Autorität" zum Verbrechen werden können, während „Insubordination nicht nur ein Recht ist, sondern zur ersten Pflicht werden kann".309 Andersch hat schon früher die Bedeutung dieses Rechts betont und es bei seiner Desertion aus der faschistischen Wehrmacht auch in Anspruch genommen. Daß er hier so nachdrücklich auf dieses Recht zurückkommt, ist Zeichen dafür, wie er die politische Situation einschätzt. Er hält es für notwendig, auf 11*
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dieses Menschenrecht zum Ungehorsam im Kampf gegen eine menschenfeindliche Politik zu pochen. Im Verlauf der sechziger Jahre kommt Andersch mehrfach darauf zurück, so wenn er den „bürgerlichen Ungehorsam", die „Zivilverweigerung" 310 als die wichtigste Form der Gegenwehr hervorhebt. Er verweist auf ein nachahmenswertes Beispiel, die öffentlich bekundete Entscheidung eines Amerikaners, keine Steuern mehr für die Rüstung zu zahlen, und er verlangt die „Entlarvung des Zusammenhangs zwischen der Entstehung des kalten Krieges und dem gigantischsten Rüstungswahnsinn der Weltgeschichte" 3 U . Diese Äußerungen stehen in einem auffälligen Kontrast zu der Tatsache, daß sich Andersch gegenüber den innenpolitischen Vorgängen, die vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die politischen Fronten schieden (Notstandsgesetze, Protest gegen den Vietnamkrieg, Studentenunruhen), außerordentlich zurückhält und sich keinerlei Bekundungen anschließt. Diese Zurückhaltung drückte sich auch schon darin aus, daß er die erwähnten Äußerungen zum französischen Algerienkrieg nicht publizierte und in dem zusammen mit Max Frisch abgefaßten Brief an André Malraux lediglich das Problem der Verletzung der Meinungsfreiheit gegenüber den französischen Intellektuellen in den Mittelpunkt stellte. Weder der berechtigte Anlaß des Manifests, der Algerienkrieg, noch die Gedanken über das Recht auf den zivilen Ungehorsam gegenüber diesem ungerechten Krieg haben in den Brief Eingang gefunden. Auch von politischen Konsequenzen, wie sie in dieser Zeit Schriftstellerkollegen gezogen haben, grenzt er sich ab. Er gedenkt weder die Wahlkampfaktivitäten von Günter Grass zu unterstützten, die er „als Wahlaktion eines Einzelgängers . . . paradoxer Weise für eine besonders domestizierte Partei" 312 apostrophiert, noch teilt er die Haltung von Hans Magnus Enzensberger, seinem einstigen Assistenten aus der Stuttgarter Rundfunkzeit. In dessen Aktivität sieht er die Mitwirkung an „einem ideologischen Establishment". „Die neueste Stellungnahme der Literatur zur Politik [schreibt er mit Bezug auf Enzensbergers Katechismus zur deutschen Frage - U. R.] gibt sich bereits gänzlich als diplomatisches 'Papier' das sie auch wirklich ist ; der schärfste Kopf der intellektuellen Linken" läßt es von „PolitikWissenschaftlern" ausarbeiten und „sichert sich dafür die debattierende Mitwirkung eines ideologischen Establishments" 313 . Auch das Bestreben der Gruppe 47, als Repräsentanz der deutschen Literatur im Ausland zu fungieren und ihre Tagungen z. B. in 164
Schweden oder Princeton abzuhalten, qualifiziert Andersch als Streben nach „Offiziosität und nicht Opposition" 3 1 4 . An Anderschs Werk aus dieser Zeit, vor allem ablesbar an dem Roman Efraim, wird eine unmittelbare Auseinandersetzung und Verarbeitung der geschichtlichen Erfahrungen dieser Zeit deutlich. In dem schon erwähnten Gespräch aus dem Jahre 1967 äußert er die Hoffnung: „einiges von dem, was ich politisch sagen möchte, [kommt] vielleicht in meinem nächsten Buch zum Ausdruck" 3 1 5 . Insofern ist die These vom Rückzug aus der Politik nicht zutreffend. Was Andersch einen besonderen Status verleiht, ist seine Weigerung, sich in den Radikalisierungsprozeß hineinziehen zu lassen und die sich darbietenden Alternativen zu ergreifen. Überraschend bleibt dabei allerdings, für einen politischen Schriftsteller wie Andersch, die Tatsache, daß er auf wichtige politische Vorgänge, wie beispielsweise den Vietnamkrieg, der in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre zu einem wichtigen Anlaß politischer Positionsbildung geworden war, nicht reagiert. Äußerungen aus den siebziger Jahren belegen, daß der imperialistische Charakter dieses Krieges für ihn schon lange den Mythos über Amerika zerstört hatte. An den Aktivitäten, wie sie z. B. Martin Walser gegen eine positive Presse über diesen Krieg und gegen seine Unterstützung durch die Regierung der Bundesrepublik initiiert, beteiligt er sich jedoch nicht. Eine Erklärung für diese Tatsache findet man in den innenpolitischen Frontenbildungen, die sich für Andersch durch eigene frühere Erfahrung und durch ein über die Medien vermitteltes Bild der Vorgänge um 1968 so darstellten: „Was bietet man mir also an?" Auf der einen Seite sieht er eine Republik, die nicht willens ist, sich gegen ihre wirklichen Feinde von rechts zu verteidigen, auf der anderen Seite „eine maoistische Revolution", die für ihn vor allem auch wegen ihres terroristischen Charakters unannehmbar ist. „Ich bedanke mich dafür, vor solche Alternativen gestellt zu werden." „Auf meiner Ebene, der Ebene des Schriftstellers nehmen die Alternativen eine groteske Form an . . . es geht dann meist um die Frage, ob ich dem Establishment angehöre, oder ob ich engagiert sei. Der Konformismus dieses Alternativschemas bestürzt mich. Ich erkläre also, daß ich weder dem Establishment angehöre, noch engagiert bin. Ich passe." 3 1 6 Andersch wehrt sich in diesem Kontext gegen eine Vermischung von politischem Aktivismus und literarischer Arbeit, um sich von unerwünschten Vereinnahmungen abzugrenzen. Sein theoretisches und praktisches Verständnis von schriftstellerischer Arbeit 165
schloß durchaus nicht generell die direkte politische Stellungnahme aus, wie seine politische Wirksamkeit aus den siebziger Jahren erkennen läßt. Sie ist für ihn - unabhängig von tagespolitschen Fronten - an einen selbstgestellten humanistischen Auftrag gebunden, der darauf gerichtet ist, an „einer Welt des Friedens mitzuarbeiten" und sich jeglicher Entwicklung zu widersetzen, die ein erneutes Aufkommen von Kriegsgefahr und Faschismus ankündigt. Auf eine entsprechende Interviewfrage von Ulrich Bosshard sagt Andersch: „Ich möchte mithelfen, unter allen Umständen, einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Denn der Krieg ist etwas so Schreckliches - ich habe es erlebt - , und ich werde im Kampf gegen den Krieg mithelfen, mit was für Mitteln es auch immer geschehe." 317 Der hauptsächliche Beitrag des Schriftstellers ist für Andersch in diesem Zusammenhang aber sein Werk. Andersch nimmt die politischen und literarischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre zum Anlaß, die spezifisch literarischen Wirkungsmöglichkeiten eines Schriftstellers zu konkretisieren. Dabei grenzt er sich einerseits gegen den Versuch ab, Engagement im Sinne einer politischen Partei zu definieren, wie er ihn bei Günter Grass praktiziert sieht, und andererseits vom linksradikalen Ersetzen der Literatur durch Politik, wie sie in bestimmten Kreisen der studentischen Bewegungen anzutreffen war, zeitweise auch bei Enzensberger. Engagement innerhalb konkreter politischer Vorgänge, wie beispielsweise Martin Walsers Aktivitäten innerhalb der Bewegung gegen den Vietnamkrieg, oder der Versuch, sich zum sozialistischen Parteilichkeitsbegriff ins Verhältnis zu setzen, wie ihn Peter Weiss unternommen hat, geraten für Andersch in dieser Zeit nicht ins Blickfeld. Individualitätsbewußtsein und Fiktion Andersch hat Efraim als einen Roman beschrieben, „in dem es einem Menschen erlaubt wird, von sich selbst zu erzählen" 318 . Seinen Ausgangspunkt bildet ein Bewußtsein, das daran festhält, daß „trotz Auschwitz und Hiroshima, und obwohl wir in einer Welt der Massenproduktion und der Massenmedien, der Kulturindustrie, des Tourismus und der Ideologie leben" 319 , die menschliche Individualität einen Wert besitzt, der für die Entscheidungen über die menschliche Zukunft eine wesentliche Bedeutung hat. Obwohl „Menschen heutzutage massenweise umgebracht werden oder an Massenneurosen 166
leiden" 320, bleibt die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen ein wichtiger Faktor geschichtlicher Gestaltungskraft. Die weltanschauliche Grundlage dieses Humanismus bildet der Existentialismus, in dem Andersch die Rolle des einzelnen gegenüber der geschichtlichen Rolle sozialer Klassen betont findet. Gegenüber früheren Romanarbeiten, in denen produktive Möglichkeiten der Individualitätsentfaltung und des Handelns erkundet werden, konzentriert sich Andersch in diesem Roman auf detaillierte erzählerische Aufschlüsselung der Individualität eines Intellektuellen, bei der zugleich auch die problematischen Seiten einer bindungslosen, auf sich selbst verwiesenen Existenz einsehbar werden. Andersch steht in den sechziger Jahren mit seiner humanistischen Verteidigung des Individuums in einem veränderten weltanschaulichen und ästhetischen Bezugsfeld. Dieses prägen u. a. Fragestellungen, die durch den sichtbaren und umfassenden Zusammenbruch idealistischer Individualitätsvorstellungen verursacht worden sind. Gegen die in die Krise geratene Vorstellung von der Allmacht des Individuums etablierte sich, vor allem in den soziologischen und kulturkritischen Prämissen der Frankfurter Schule, deren Umkehrung, die Überzeugung von seiner Ohnmacht. Adorno beschreibt den Individualitätsverlust, „die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt" 321 , als universellen Vorgang, gegen den er den Aufruf zu Moralität und Selbstbehauptung als leere Ohnmachtsgeste wertet. Andersch definiert sein schriftstellerisches Selbstverständnis gerade gegen diese Vorgänge und Auffassungen, und er gründet es auf die Widerstandsfähigkeit des Menschen und die Potenzen der Literatur, „den Menschen zu bewegen", die Voraussetzungen zu prüfen, die ihm zum Leben gegeben sind, ihn gegenüber seiner Umwelt zu sensibilisieren und an seine eigenen Möglichkeiten zu erinnern. Seine bisherigen Romanprotagonisten hat Andersch in Situationen gestellt, in denen sie die isolierende Selbstaufgabe überwinden und zu einem neuen Identitäts- und Handlungsbewußtsein gelangen. Mit Efraim geraten stärker die problematischen Seiten einer solchen individuellen Selbstfindung ins Zentrum. Sie werden einsehbar, indem Andersch die Lebensgeschichte des Juden Efraim vor dem Hintergrund der Geschichte seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts rekonstruiert. Efraim steht somit im Umkreis jener Romane der sechziger Jahre, die die problematisch gewordene Stellung des 167
einzelnen in den gesellschaftlichen Abläufen des entwickelten Kapitalismus als Identitätsproblematik thematisieren. Im Unterschied etwa zu Frischs Mein Name sei Gantenbein, der im spielerisch-modellhaften Erproben verschiedener sozialer Rollen die Unmöglichkeit einer individuellen Identität vorführt, und im Unterschied auch zu Walsers Erzählen in der Kristlein-Trilogie, in der aus dem sozialen Rollenverhalten satirische Gesellschaftskritik gewonnen wird, stellt sich in Efraim die Suche nach der Identität als Moment der Verteidig u n g der Individualität dar. Dieser Einstiegspunkt korrespondiert mit Anderschs Vorstellungen über die Möglichkeiten des R o m a n s : „In der Tat wäre es mit dem Roman in dem Augenblick zu Ende, in dem man die Menschen endgültig in eine Art von Ameisen verwandelt hätte." 3 2 2 E b e n s o wie ein auf Selbstbestimmung aufbauendes Individualitätsbewußtsein geraten in den sechziger Jahren auch der Fiktionsbegriff und die Überzeugung von der Fähigkeit des Romans, Wirklichkeit aufzunehmen und auf sie zu reagieren, in eine unterschiedlich akzentuierte Kritik. E s wäre zu fragen, wie Andersch mit der Thematisierung des Schreibvorganges in Efraim diesen polemischen Umkreis einbezieht. Georg Efraim — Zeitgenosse und Erzählfigur Andersch erzählt aus der Sicht eines jüdischen Intellektuellen, G e o r g Efraim. Seine jüdische Berliner Kaufmannsfamilie bringt ihn in den dreißiger Jahren nach England und rettet so sein Leben. E r ist der einzige Überlebende dieser Familie. Nach 25 Jahren, 1962, betritt er erstmalig die nunmehr gespaltene Stadt - Berlin - wieder, um den Spuren eines jüdischen Mädchens und den eigenen nachzuforschen. E r reist im Auftrag einer konservativen britischen Zeitung, für die er als Journalist schon an verschiedenen Brennpunkten der Welt recherchiert hat. In Berlin beginnt er mit eigenen biografischen Aufzeichnungen, um sich über die eigene Lebensproblematik Klarheit zu verschaffen. Andersch hat auf diese Weise einen erzählerischen Ausgangspunkt geschaffen, der ihm erlaubt, die individuelle Befindlichkeit seines Protagonisten auszuleuchten und ihn zugleich als erzählerisches Medium und als Kristallisationspunkt für die Darstellung eines wichtigen Abschnitts deutscher und europäischer Geschichte einzusetzen. Beide Aspekte hängen eng zusammen, denn die subjektive Sicht prägt den U m g a n g mit den geschichtlichen Fakten dieses 168
Zeitraums. Diese Sicht ist von Andersch präzise aus den geschichtlichen Faktoren der Biografie eines emigrierten deutschen J u d e n und Journalisten entwickelt. Z u ihren Voraussetzungen gehören ein konsequenter Antifaschismus und eine kritische Haltung zu den Vorgängen in Deutschland vor und nach 1945, die geboren wird vor allem aus einer erzwungenen nationalen Unzugehörigkeit. Dabei bildet das Jahr 1962 als Beginn der Romanhandlung einen wichtigen Einschnitt für das Resümee. E s ist eine Zeit wichtiger außen- und innenpolitischer Vorgänge und Entscheidungen. Die Kuba-Krise und die E r m o r d u n g Kennedys signalisieren eine anhaltende weltpolitische Konfrontation, die Spiegel-Aifäte und das politische Gesamtklima deuten auf Restauration und Abbau von Demokratie in der B R D . Die sichtbar vollzogene Teilung der Stadt nach dem 13. August 1961 macht bewußt, daß die Resultate der Nachkriegsentwicklung in Gestalt zweier deutscher Staaten zunächst erst einmal besiegelt sind. Damit ist nicht nur der Bankrott der Adenauerschen Wiedervereinigungspolitik offensichtlich, sondern auch die Realität der Spaltung, die hier einen wichtigen Grund für das Fehlen einer nationalen Identität von Efraim darstellt. Die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten betrachtet der Ich-Erzähler aus der Distanz eines nicht Dazugehörigen. In der Bundesrepublik wird die geschichtliche Erfahrung verdrängt, es herrscht moralische und politische Gedankenlosigkeit ihrer Führungsschicht bis in die Gewohnheiten eines neudeutschen Jargons. Der Osten Berlins macht in Bildern puritanischen Graus die Unattraktivität einer Welt sinnfällig, die für Efraim durch die Begegnung mit Anna Kristek und deren Vater dennoch einen ideellen Wert erhält. Die Unmöglichkeit, eine nationale Identität, Wohnung und Heimat, finden zu können, wird von Andersch als wesentliche Quelle für die Problematik seiner Figur, zugleich als Symptom des deutschen Schicksals gesehen. Efraim ist ein Roman über das andauernde Exil eines antifaschistischen jüdischen Emigraten. Den zweiten Grund der andauernden Unzugehörigkeit Efraims bringt Andersch mit dessen Judentum in Zusammenhang. Diese Seite des Romans wurde bei der Erstrezeption sehr kritisch aufgenommen, dem Autor mangelnde Authentizität zum Vorwurf gemacht. Einem nichtjüdischen Leser steht keine Bezugsebene zur V e r f ü g u n g , er kann nur feststellen, daß der Autor charakterisierende Details einsetzt, die bis in die Sprache des Ich-Erzählers reichen, das jiddische Vokabular. D a s Judentum steht bei Andersch hier vor allem als Sym169
bol für verfolgte Minderheit, durch ihren mangelnden Widerstand auch für die Ohnmacht und das Ausgeliefertsein. Zudem zeichnet Andersch Efraim als den auch dem Judentum nicht Zugehörigen, weil sich seine Familie weitgehend assimiliert hatte. Schon der Großvater legte Wert auf die Namensschreibung mit f. Auch der Londoner Anwalt, bei dem Efraim aufwächst, ist kein Anhänger orthodoxen jüdischen Glaubens. „Ihn interessierte auch, wenn er die Synagoge besuchte, keine Religion, sondern nur die Humanität und die Spiritualität dieses Hauptes [Jesus'] und Rembrandts." 323 Als nirgendwohin zugehörig kennzeichnet Andersch auch Efraims soziale und geistige Existenz. Als deutscher Jude kämpft er in der britischen Armee, wird nach dem Krieg Journalist eines konservativen englischen Blattes, obwohl er sich selbst als Linker definiert. An vielen Brennpunkten der Welt ist er dabei, ohne sich jemals einzumischen. Aus der Indifferenz des neutralen Berichterstatters sehnt er sich in die teilnehmende Verantwortung, aus der scheinbaren Objektivität des Journalisten in die Subjektivität des Schriftstellers. Andersch hat die sozialen und geschichtlichen Bedingungen einer solchen Heimatlosigkeit genau aufgeschlüsselt und auf den historischen Rahmen zurückgeführt, der die Identität des einzelnen prägt bzw. in Frage stellt. Seine erzählerische Leistung in diesem Roman besteht darüber hinaus darin, daß er eine solche Existenz gleichzeitig mit ihren problematischen Seiten dem kritisch urteilenden Leser überantwortet. In die subjektive,.an das erzählende Ich gebundene Erzählweise hat er distanzierende Mittel eingesetzt, die dem Leser die Problematik einer solchen Existenz bewerten helfen. Für diese innere Architektur des Romans spielen das Städtedreieck Berlin - London - Rom und die Zuordnung der Figuren eine wichtige Rolle. Die Landschaften von Berlin, London und Rom sind an Lebensstationen des erzählenden Ichs gebunden: der Berliner Westen als Ort der Kindheit, London als Stadt der Mannesjahre, mit Meg und neben Keir Horn, dem konservativen Chefredakteur und Nebenbuhler von Efraims Frau, Rom als Zufluchtsort für den Heimatlosen, nachdem die abermalige Begegnung mit dem gespaltenen Berlin nur Fremdsein bestätigt und das Bedürfnis nach dem eigenen Lebensfazit geweckt hatte. Die Heimatlosigkeit äußert sich im Pendeln zwischen den Städten, in der Unentschiedenheit, Wohnung zu nehmen, im Hotelleben. Diese Unfähigkeit, Wurzeln zu schlagen, 170
wird durch die selbstkritische Reflexion des Ich-Erzählers dem Leserurteil ausgesetzt: „Das Viertel ist mir zu folkloristisch; ich passe da nicht hinein. Natürlich stimmt das nicht. Das Viertel ist überhaupt nicht folkloristisch, es ist nur ungeheuer lebendig, vielleicht etwas grell, es ist farbig in dem Sinne, daß es mich gezwungen hätte, Farbe zu bekennen, davon abgesehen, hätte es meine Sonderlings-Existenz in sich aufgenommen, man hätte mich sicherlich respektiert; ich bin ein Narr, daß ich dieses Angebot nicht annehme, sondern nach einer neutraleren Umgebung suche, nach einem Mittelstandsmilieu, in dem ich gänzlich unbeachtet ein schattenhaftes Leben führen könnte, ich will nicht Farbe bekennen . . . ich will meine Ruhe haben. Ich blicke starr auf die fünf Wörter, die ich soeben geschrieben habe, ohne daß es mir große Mühe gemacht hätte, sie auf das Papier zu setzen, wie selbstverständlich sind sie dahin gelangt . . . Für einen Mann meines Alters ist ein solcher Satz eine Bankerott-Erklärung." 324 Neben der über die Lebensproblematik des Ich-Erzählers realisierten Darstellung von Städtelandschaften beschreibt Andersch ein auf Grundlage genauer Recherchen gewonnenes Bild von Berlin, London und Rom: Straßenzüge und Atmosphäre, Architektur, Kulturdenkmäler und Arbeitsstätten, politisches Klima, Lebensgewohnheiten und Mentalität der Menschen, ein lebendiges Bild ihrer Eigentümlichkeiten und Qualitäten. Hier beweist er sich als Verfasser von Reiseberichten, der gewohnt ist, solche örtlichen Gegebenheiten durch genaue Beobachtung zu rekonstruieren und wiederzugeben. Straßen und Plätze sind auffindbar, Hausecken und Häuserwände können besichtigt werden, sind, wie in den meisten Romanen von Andersch, überprüfbar. Efraim, das Buch, in dem Andersch am intensivsten in die Subjektivität einer Figur hineinleuchtet, behält somit auch Elemente von Bericht und Reportage bei. Diesem Städtedreieck ist die Architektur der Figuren zugeordnet, die auf die Lebenssituationen des Protagonisten hin konzipiert sind. Das doppelte Dreieck, in das Andersch seinen Ich-Erzähler stellt, KeirMeg in London und Anna-Hornbostel in Westberlin, symbolisiert die Lebensproblematik und Entscheidungsmöglichkeiten des IchErzählers. Die Lebensbilanz setzt in Berlin zu einem Zeitpunkt ein, als Efraim die Selbsttäuschungen seiner journalistischen Existenz, die auf den Vorstellungen von einer objektiven Berichterstattung und dem Glauben an die Macht der öffentlichen Unterrichtung basieren, 171
zu durchschauen beginnt. Die internationalen politischen Vorgänge signalisieren Kriegsgefahr und scheinen die Ohnmacht einer auf Verständigung wirkenden Position zu bestätigen. In der Beziehung Efraims zu Meg und zu dem konservativen Chefredakteur Keir versammelt Andersch die geschichtlichen und persönlichen Aspekte dieser Krisensituation für den Erzähler. Keirs schuldhaftes Versagen gegenüber seiner unehelichen jüdischen Tochter, deren Spuren Efraim in Keirs Auftrag finden soll, steht bei Andersch für Haltungen, die aus dem historisch spezifischen Umkreis der faschistischen deutschen Vergangenheit hergeleitet und für die Gegenwart verallgemeinert werden. Efraims Trennung von Keir bedeutet den Abschied von Illusionen über seine journalistische Tätigkeit und von einer mit ihr verbundenen Vorstellung von Überparteilichkeit. Zugleich bedeutet sie auch die Loslösung von seiner Frau Meg, die in einer von ihm teilweise tolerierten Liebesbeziehung zu Keir steht. Das selbstironische Resümee seiner Bindung an Meg - schwankend zwischen Sehnsucht nach vergangener Liebe, Eitelkeit, Toleranz und Eifersucht - wird von Andersch als Spannungsbogen eingesetzt, auf dessen Lösung der Roman hinausläuft. Anna Kristek, eine Schauspielschülerin, die im Osten der Stadt studiert hat und dem Brecht-Theater nahesteht, Tochter eines Neuköllner Kommunisten, und ihr Verlobter Hornbostel, Komponist moderner Musik, stehen für ein politisch kritisches Engagement mit sozialistischen Perspektivevorstellungen. Der mit dem Figurenaufbau intendierte Horizont wird von Andersch mit dem Erlebnis der realen Widerspüche und der politischen Konflikte der Stadt konfrontiert. Sie führen bei Efraim zur Nichtentscheidung und zum „Rückzug in die private Existenz". Gleichzeitig wird die Haltung der permanenten Entscheidungsunfähigkeit als eine problematische und nicht durchzuhaltende Position in Frage gestellt. Ihre inneren Widersprüche konstituieren den Handlungsaufbau. Andersch zeigt seinen Protagonisten im ständigen Widerstreit mit sich selbst. Seine inneren Widersprüche werden durch psychologisch einfühlsame Darstellung mitvollziehbar und vor den differenziert ausgestellten Bedingungen ihres gesellschaftlichen So-Seins für den Leser bewertbar gemacht. Diese Einbeziehung des Lesers geschieht mittels der konfrontativen Anlage von Figuren und Orten und durch den Aufbau einer durchgehenden Reflexionsebene, die an den Ich-Erzähler gebundene Dialogpartien aufnimmt. Die Reflexion ist um weltanschauliche 172
Zentralpunkte gruppiert, die sich mit den Stichworten Zufall, Chaos, Fatalismus kennzeichnen lassen. Andersch führt seinen Ich-Erzähler als einen Skeptiker, Anhänger einer Weltsicht ein, die sich im Glauben an die Allmacht des Zufalls, im völligen Fatalismus äußert. Der Humanismus des Onkels hatte sich bei Efraim nur als ein „Gefühl der Trauer" darüber erhalten, daß er „an nichts weiter glauben kann als an den Zufall und das Chaos" 3 2 5 . Mit diesem Fatalismus setzt Andersch seine Figur zu sich selbst ständig in Widerspruch. Efraim ist unfähig, Gegebenheiten fraglos hinzunehmen. So wehrt er sich gegen die Gedankenlosigkeit eines neudeutschen Jargons, als jemand vorgibt, „sich bis zur Vergasung amüsieren zu wollen", oder jemand „auf die Mangel genommen" oder „gegen die Wand gedrückt wird" ebenso wie gegen die Verdrängung geschichtlicher Schuld. Auch weigert er sich, im Tode des jüdischen Mädchens schicksalhafte Fügung zu sehen, weil auch in diesem Falle die Entscheidung und das Handeln von Menschen beteiligt waren. Die Dialoge machen diesen inneren Widerspruch lebendig, so in einem Gespräch mit Hornbostel: „'Sie müssen verrückt sein!' fuhr er mich an. 'Erst schlagen Sie einen Menschen, weil er gedankenlos von Vergasung redet, und dann kommen Sie mit einer Theorie, mit der Sie den erhaben Gleichgültigen spielen können! Wissen Sie nicht, daß es nur in Deutschland geschehen konnte, nirgends sonst, und genau zu dem Zeitpunkt, an dem es geschah? Es ist gewollt worden, verstehen Sie: gewollt!' Natürlich war die dritte Möglichkeit: wenn es sich weder um ein Schicksal noch um den Zufall handelte, dann war das, was sich nicht mehr beschreiben ließ, die Wirkung eines Willens gewesen, was wiederum zur Folge hatte, daß man irgendeine Erklärung dafür finden konnte. Jedoch gibt es keine Erklärung für Auschwitz." 3 2 6 Mit dieser diskursiven Erörterung weltanschaulich-politischer Fragen bezieht Andersch den Leser in das erzählerische Geflecht seiner Romanwelt ein und macht ihn auf verpaßte Entscheidungen und unterlassene Hilfestellungen für ein jüdisches Mädchen aufmerksam. Er markiert menschliches Handeln als einen Faktor des geschichtlichen Ganges, womit er Vorstellungen vom selbstätigen, mechanischen Ablauf der Geschichte korrigiert. An den Leser appelliert er über die Beispiele der Entscheidungsunfähigkeit. Sie bezieht sich neben dem schuldhaften Versagen von Keir auch auf den Protagonisten des Romans, in dessen Zeichnung allerdings eine innere Widersprüchlichkeit greifbar wird, die auch eine gewisse 173
Ambivalenz des gesamten Romanaufbaus bestimmt. Sie besteht darin, daß zwischen der kritischen Intention des Autors in bezug auf seinen Protagonisten und dem identifikatorischen Einverständnis in der Darstellung eine gewisse Diskrepanz besteht, die die Rezeption des Buches beeinflußt. Trotz der kritischen Distanz, die der Autor gegenüber seinem Protagonisten aufbaut, indem er dessen Entscheidungsunfähigkeit im Pendeln zwischen verschiedenen Städten, Frauen und Existenzformen, bis hin in die geheimsten Regungen seiner erotischen Sehnsüchte aufschlüsselt, ist der selbstironische Ton der Darstellung auf einen vor allem einverständigen Leser ausgerichtet. Diese vom Autor intendierte Wirkungsstrategie, die Schwebe zwischen dem genußvollen Nachvollzug und dem kritischen Abstand, gehört mit zur Dauerproblematik der hier vorgeführten intellektuellen Existenz, die sich mit kritischer Ironie betrachtet, ohne sich selbst negieren zu können. Diese Erzählhaltung ist durch die eigene schriftstellerische Problematik bestimmt. Andersch hat mit diesem Buch seinen Beitrag zu den Diskussionen um das Engagement und das Schreiben gegeben. Die Tatsache, daß er im Unterschied zu anderen Autoren, wie Walser, Enzensberger, Grass, Weiss, dazu das Medium der Literatur selbst wählt, zeugt davon, daß er die erzählende Literatur als wichtigsten Beitrag des Schriftstellers wertet. Daher ist das Schreiben als Thema von Efraim zugleich auch ein Plädoyer für die Literatur überhaupt und für Andersch das Medium, in dem er den Zusammenhang von Schreiben und Handeln und die Möglichkeiten der Literatur diskutiert. Das Schreiben als Thema von „Efraim" — der Streit um die Möglichkeiten des Romans Der Schreibvorgang ist zunächst ein wichtiges Aufbauelement der Romankomposition. Er gewährleistet die Verklammerung verschiedener zeitlicher Ebenen, die durch das Sich erinnern des Ich-Erzählers abberufen werden. Zugleich ist das Schreiben der Bezugspunkt, von dem her die verschiedenen Elemente des Romans, wie biografische Erinnerung, Beschreibung von Städten und Häusern, dialogische Partien, die Reflexion des Ich-Erzählers, vereinigt werden. Der Anlaß für den Beginn der Niederschrift des Buches ist eine Lebenskrise des Ich-Erzählers, von Andersch aus den geschichtlichen Bedingungen seines Herkommens und aus Entscheidungsunfähigkeit motiviert. Diese negative Lebensbilanz - Andersch hatte für den 174
Roman 2unächst den Titel „Verlorene Partie" geplant - wird durch die Reflexionen über den Schreibvorgang relativiert, weil sich die als höchst „privater Bericht" geplante Lebensbilanz zu einer geschichtlichen Bilanz deutscher Entwicklung weitet. Mit der Unfähigkeit, Bindungen herzustellen, zu handeln und Entscheidungen zu fällen, verleiht Andersch der Figur einen medialen Charakter, baut moralische und ästhetische Leerstellen auf, die der Leser auszufüllen hat. Das Schreiben wird im Roman als ein Verzicht auf unmittelbares Handeln gewertet. Vom erzählenden Ich wird es zunächst sogar als „Orgie von Subjektivität", als „Rückzug in die Privatheit" angenommen und als Möglichkeit gewertet, gegenüber der auf Weltereignisse gerichteten journalistischen Tätigkeit endlich mit den Problemen der privaten Existenz beschäftigt zu sein. Diese Selbsttäuschung beginnt erst zu zerfallen, als sich ein Verleger und ein Lektor für das Buch zu interessieren beginnen und der Lebensbericht zu einem Gegenstand des kalkulierten Marktinteresses wird. In der Auseinandersetzung über den Sinn des Schreibens bietet Andersch seinen Beitrag zur Diskussion über den Wert oder Unwert von Literatur, wie sie in den sechziger Jahren geführt wurde. Dabei macht er auf den gesellschaftlichen Charakter individueller Erfahrung aufmerksam, deren Mitteilung für ihn die wesentliche Funktion von Literatur bedeutet. Die Thematisierung des Schreibens in Efraim ist zugleich ein Plädoyer für die literarische Fiktion, die wiederum in höchstem Maße von den gesellschaftlichen Bedingungen geprägt ist. Andersch hat in das literarische Konzept von Efraim die Argumente gegen den angeblich nur subjektiven Charakter von Literatur hineingenommen, die als Begründung gegen die Erkenntnisfähigkeit von Fiktionen ins Feld geführt wurden. Er steht mit seinem literarischen Plädoyer für das Schreiben als eine besondere Form von Erfahrungsvermittlung in einem verzweigten polemischen Bezugsfeld, das in den sechziger Jahren als Reaktion auf veränderte gesellschaftliche Entwicklung entstanden war. Andersch hatte sich als Romanautor und Publizist immer um einen produktiven Umgang mit der Romangattung bemüht. „Bei den üblichen Debatten über das Ende des Romans und über die Abdankung des allwissenden Erzählers passe ich"327, hatte er erklärt. Gegen die Proklamationen der Krise des Romans hält ihn Andersch für eine zwar historisch wandelbare, aber unverzichtbare Gelegenheit zur erzählerischen Vergegenwärtigung menschlicher Möglichkeiten. Seine Existenz liege in einem spezifisch menschlichen Bedürfnis 175
begründet, die Begrenzungen des individuellen Daseins zu überschreiten. Für Andersch bleibt, aus einem existentialistisch bestimmten Humanismus heraus motiviert, die Kunstübung eine „konstitutionell bedingte menschliche Tätigkeit, zu deren Determiniertheiten die Freiheit der Wahl gehört" 328 . Und so erblickt er in der Literatur die Möglichkeit, Widerstandskräfte des einzelnen gegen unmenschliche Zustände entwickeln zu helfen. Diesen Standpunkt behält Andersch auch innerhalb der radikalisierenden Antinomien bei, wie sie die Diskussionen um die Möglichkeiten der Literatur in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre beherrschten. Er wehrt sich dagegen, die Möglichkeiten der Literatur gegenüber dem Hunger in der dritten Welt aufzurechnen, und konstatiert, daß auch die humanste Dichtung keine heutige oder zukünftige Unmenschlichkeit verhindere. Auf die Aufforderung zum literarischen Aktivismus reagiert Andersch mit einer spezifischeren Fassung dessen, was Prosaliteratur vermag. „Die Aufgabe von Literatur ist es ja nicht, irgend etwas vorzubereiten oder zu verhindern - das ist die Aufgabe von Politik. Die Aufgabe von Literatur ist es - und ich spreche jetzt von Prosaliteratur - , in erzählerischen Prozessen eine Erinnerung zu formen." 329 Mit dem Hinweis auf die Romane des Italieners Giorgio Bassani heißt es: „Was ist geschehen in den Romanen Bassanis? Freilich nichts weiter, als daß ein sehr großer Erzähler sich erinnert hat, daß er seine Erinnerung zu einer kollektiven Erinnerung gemacht hat und daß seine Erinnerung in die Erinnerung des einzelnen Lesers eingeht. Erinnerungen, so erinnert, daß wir sie nicht vergessen. Ist das zu wenig?" 330 Bildet der einzelne auch den Ausgangspunkt seines Literaturkonzepts, so besteht das Ziel literarischer Aneignung in der Bildung einer kollektiven Erfahrung durch entsprechende Schreibstrategien, die den Leser einbeziehen. Andersch wehrt sich mit seiner Romanarbeit gegen unterschiedliche Versuche, den Roman als „die kulturelle Gallionsfigur eines ausgehenden, des bürgerlichen Zeitalters"331 fragwürdig zu machen. Die Diskussionen über die „Krise des Romans"332 erhielten in dieser Zeit insofern einige neue Akzente, als jetzt nicht nur die Möglichkeiten der Literatur vor dem Hintergrund der Informationsflut der Massenmedien und der komplizierter gewordenen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Zweifel gezogen wurden, sondern der Sinn von Fiktionen überhaupt. Den Erzähler erklärte man zu einer überflüssigen Figur. Solche Versuche lagen z. B. mit Reinhard Baumgarts Theorie einer dokumentarischen Literatur vor, der eine neue Literatur vor allem als eine neue 176
„demonstrative" Schreibweise zu bestimmen suchte, aus der der „alte Wunschtraum der Kunst, Sinn zu stiften, Weisung zu erteilen" 333 , getilgt sei und Zeitgenossenschaft durch Sprache manifest wird, indem „diese neue Literatur schon das kulturindustriell gestanzte Bewußtsein"334 zitiert. Aus diesem Konzept dokumentarischer Literatur war gleichsam die Subjektivität des Schriftstellers, seine aktive Rolle für die Herstellung ästhetischer Konstruktionen verschwunden. Es war von dem Versuch des nouveau roman angeregt, eine neue Literatur über eine neue Schreibweise, „écriture", zu etablieren. Dieses Konzept wurde in den sechziger Jahren in der literarischen Szene der Bundesrepublik breit rezipiert. Andersch, stets darauf bedacht, die Möglichkeiten des Romans zu erweitern, hatte die theoretischen und praktischen Ergebnisse der Autoren des nouveau roman umfassend und kritisch zur Kenntnis genommen. Dabei unterscheidet er sehr genau zwischen den erzählerischen Erfindungen und den Proklamationen der Theoretiker. So sieht er z. B. in Nathalie Sarrautes Tropismen „Modellstücke einer Schilderung neu entdeckter psychologischer Verhaltensweisen"335, die den psychologischen Roman entscheidend bereichern. Robbe-Grillets Argumente für einen neuen Roman kennzeichnet Andersch dagegen als den „heroischen, aber aussichtslosen Versuch, das Gesetz aufzuheben, nach dem die Literatur anthropozentrisch ist" 336 . Gegen dieses Schreibkonzept betont er als Kritiker die Möglichkeiten des englischen Romans, der eigensinnig darauf besteht, „Beziehungen und Konflikte zwischen Menschen darzustellen, Charaktere und ihre seelischen Regungen zu schildern, eine spannende Handlung zu entwickeln, historische und soziale Zusammenhänge scharf zu zeichnen und darüber hinaus die Individualität seines Verfassers zu spiegeln"337. Gegenüber dem nouveau roman „eignet er sich nicht recht als Modell für pseudometaphysische Programme" 338 . Als Kritiker der Romane von RobbeGrillet läßt sich Andersch auf das erzählerische Angebot ein, beschreibt das erzählerische Verfahren, das keine Helden, keine Geschichten, keine Metaphern kennt. An ihre Stelle „tritt die Kunst der Beschreibung von Dingen, einer Dingwelt, die nicht mehr interpretiert, sondern nur noch gezeigt wird, aber auf das kunstvollste in ihren wechselnden Konstellationen" 339 . In die Beschreibung dieser Dingwelt sind die von der Kulturindustrie erzeugten Alltagsmythen mit einbezogen. Robbe-Grillet hat sich, so Andersch in der Rezension zu Die blaue Villa von Hongkong, „in seine artifiziell hergestellte 12
Reinhold, Andersch
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Welt widerstandslos verliebt" 3 4 0 . Und als Fazit seiner Kritik stellt er die Frage: „Darf man vermuten, daß sich hier die Methode an ihrem Werk rächt? Daß es keine Helden und keine Geschichten mehr geben soll, könnte man zur Not noch einsehen, und auf Metaphern hatte schließlich schon Hemingway verzichtet. Wie aber, wenn auch noch Tiefe, Engagement, Humanismus und Tragik fehlen? Begibt sich eine Literatur, die nur noch beschreibt, vielleicht doch ihrer kritischen Möglichkeiten? Mag sein, daß die Welt weder sinnvoll, noch absurd ist. Aber einfach festzustellen, daß sie da ist mon dieu, das gibt auch nicht viel her! Es gibt doch höchstens ein paar statische Bücher her, und gelegentlich ein entzückendes kleines bijou von einem Buch, wenn auch ohne kritische Kraft." 3 4 1 Anderschs Argumente für den Roman und seine Produktivität gründen sich in seinem Verständnis von der humanisierenden Funktion der Literatur, aus dem heraus er sich gegen alle Versuche wendet, die Rolle der Subjektivität für den künstlerischen Schaffensprozeß und für die Wirkung von Literatur zu negieren. Seine Vorstellung von der Subjektivität wurzelt im moralisch-politischen Impetus seines Selbstverständnisses, er setzt sich mit solchen Schreibkonzepten kritisch auseinander, die sich als bloßer Reflex fetischisierter Dingwelt darstellen. Die traditionellen Kategorien des Romans, Held, Geschichte, Erzähler, behalten vor dieser Wirkungsabsicht ebenso ihre Bedeutung wie Elemente neuer Erzählverfahren. Das Sicheinlassen auf die sich verändernde Realität des gesellschaftlichen Lebens verhindert die realitätsblinde Erstarrung eines solchen Schreibkonzepts. Aufschlußreich ist, wie Andersch vor diesem Hintergrund die erzählerischen Verfahren modifiziert hat. Das Gerede vom Abdanken des allwissenden Erzählers hält Andersch für eine Fiktion, die das eigentliche Problem verdeckt, nämlich die Tatsache der Übereinkunft zwischen Autorerzähler und Leser im Roman. Die Behauptung von der Allwissenheit des Erzählers führe ebenso in die Irre wie die Erklärung seiner völligen Inkompetenz. Der Autorerzähler sei ein durchaus „zuständiges" Wesen, das eine Übereinkunft mit dem Leser schafft, der Wahrheit des Lebens auf die Spur zu kommen. In der Forderung nach seinem Abdanken sieht Andersch einen Rückfall in mechanische Vorstellungen von einer Welt der Dinge, aus der der Mensch und sein Bewußtsein hinausgedacht werden. Andersch führt das Erzählproblem auf die Frage der künstlerischen Wahrheit zurück, der die nach den verschiedenen erzählerischen Verfahren untergeordnet bleibt. „Weil die Erzähler viele 178
Lügen erzählen und weil die Zuhörer manche dieser Lügen glauben, soll nun die uralte Übereinkunft zerbrochen werden. Aber man kann nicht die Lügen der Erzähler aus der Welt schaffen, indem man eine neue, faustdicke und sehr dumme Lüge erfindet: die Behauptung, es gäbe den Erzähler gar nicht. Denn es gibt ihn. Und noch der subtilste Leser weiß, daß es eine letzte und äußerste Realität der Literatur gibt: den Menschen, der schreibt, und den, der liest." 342 Die Varianten seiner eigenen erzählerischen Verfahren, vom authentischen Lebensbericht über die multispektivische Erzählung bis hin zur konsequent subjektiven Sicht einer Erzählfigur als Darbietungsform, lassen erkennen, daß erzählerische Verfahren ständig der Zugluft gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ausgesetzt sind. Die symptomatischen Diskussionen über die Krise von Fiktion und Erzählen, ja über die Existenzberechtigung von Literatur überhaupt, hatten ihre Ursache in den generellen Erkenntnisschwierigkeiten spätbürgerlicher Weltbilder, die eine veränderte Realität auf überkommene Erkenntniskategorien nicht mehr reimen konnten. Als Folge wurde Erkenntniszweifel bzw. die Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher Vorgänge behauptet. Andersch stellt gegen einen solchen umfassenden Erkenntniszweifel die spezifischen Möglichkeiten literarischer Erkenntnisfähigkeit heraus, die er mit „radikaler Subjektivität" beschreibt. Ihren Erkenntnisund Wahrheitswert bindet er an die lebendige Erfahrung des einzelnen, die innerhalb des geschichtlichen Bedingungsgefüges ihren allgemeinen Charakter erweist. Er betont die „radikale Subjektivität" der literarischen Wahrheitsermittlung gegen den Anspruch jeder Ideologie, deren übereinstimmende Tendenz er im Begriff „einer existierenden, allgemeingültigen und umfassenden Wahrheit" erblickt, „die nur gefunden zu werden braucht". Literatur kennzeichnet er als Gegenpol zum „Geschiebe der objektivierenden Systeme, sowohl der Restbestände der Idealismen und der dogmatischen Religionen, wie des Marxismus, der Psychoanalyse, des Strukturalismus" 343 . Mit diesen Vorbehalten gegen jegliche ideologische Systeme begründet Andersch allerdings keinen umfassenden Erkenntniszweifel (er selbst setzt sich zu Ergebnissen und Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis in ein produktives Verhältnis, indem er den Marxismus von x-beliebigen idealistischen Systemen wohl unterscheidet), sondern es geht ihm auch hier um die Bestimmung des besonderen, unverwechselbaren Beitrags von Literatur und ihrer Fähigkeit, den Wert individueller Erfahrung festzuhalten und aufzubewahren. Im Marxis12*
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mus vermißt er, daß diese individuelle Erfahrung keinen systematischen Stellenwert besitzt. Die philosophische Untermauerung eines solchen, von der Subjektivität individueller Erfahrung ausgehenden Wahrheitsverständnisses findet Andersch im philosophischen Nominalismus, der das sinnlich und anschaulich wahrgenommene Einzelne gegenüber der Konstruktion des Allgemeinen betont. Mit diesem Rekurs auf das Einzelne, auf die wirklichen Dinge stellt sich nun allerdings doch ein Zusammenhang zu Robbe-Grillets Konzept her, der sich aus dem übereinstimmenden Mißtrauen gegen den Wahrheitsanspruch von Ideologen ergibt. Robbe-Grillets Plädoyer für eine neue Literatur enthält die polemische Wendung gegen eine inflationäre Überladung der Dinge mit Bedeutungen und Erklärungen. „Erst sollen Gegenstände und Gebärden durch ihre Gegenwart ihre Existenz beweisen, es soll dieses ständige Hiersein vorherrschen, über jene Theorie hinaus, die es versuchen würde, sie in irgendein Bezugssystem, sei es sentimental, soziologisch, freudisch, metaphysisch, einzusperren. - In dieser künftigen Welt des Romans werden Gebärden und Gegenstände erst 'da' sein, bevor sie 'etwas' sind." 344 Diese polemische Wendung gegen Bedeutungen und Abstraktionen findet in Anderschs Konzept eine Entsprechung, indem er zum programmatischen Motto seines Lesebuches (1978) 345 die Äußerung eines walisischen Literaturgelehrten macht, nach der Kunst nicht von Abstraktionen, letzten Fragen, Unendlichkeit und Ewigkeit, sondern von Knöpfen handele. („Art is not about abstractions or ultimate issues of infinity or eternity. Art is about buttons.") Ein Motto, das Andersch schon seinem Erzählungsband von 1971 Mein Verschwinden in Providence vorangestellt hatte. Das ausdrückliche Plädoyer für die wirklichen Dinge mag durchaus auf die Anregungen der Theoretiker des nouveau roman zurückgehen, eine direkte Übernahme ist allerdings nicht nachweisbar. Der entscheidende Unterschied besteht im Stellenwert, den die wirklichen Dinge innerhalb eines auf Wirkung und Erkenntnis ausgerichteten Literaturkonzepts einnehmen. Wie Robbe-Grillet teilt Andersch den Vorbehalt gegenüber Ideologie, bestimmt die Rolle der wirklichen Dinge aber niemals außerhalb ihres menschlichen Bezugs. Bei Andersch resultiert der Rekurs auf die wirklichen Dinge aus der Rolle, die die Beschreibung innerhalb seiner erzählerischen Konzeption einnimmt. Sie bildet innerhalb des literarischen Schaffens das unmittelbare Verbindungsstück zur außerindividuellen Wirklichkeit. 180
Das Plädoyer für die Fiktion und die Möglichkeiten des Erzählens ist im Efraim als Thema und Struktur eingeschrieben. Es ist mit der erzählerischen Auslotung einer komplizierten intellektuellen und psychologischen Mentalität einer Figur verbunden, deren Problematik Andersch greifbar macht, deren Sicht aber weitgehend den Horizont des Romans bestimmt. Damit sind Geltung und Grenze eines solchen Romans bezeichnet, der mit einem erheblichen Werbeaufwand innerhalb der literarischen Landschaft plaziert wurde. Es druckte ihn, wie schon Die Kote, die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Fortsetzungen ab, eine ganzseitige Annonce in der gleichen Zeitung pries den Roman als ein „Buch der Reife und Erfahrung", der „Modernität und Experimentierfreudigkeit" des Erzählers, weiter hieß es, der leicht ironische Erzählton mache „dem skeptischen modernen Bewußtsein" 346 das Gefühl akzeptabel. Der Roman und sein Autor waren als bedeutend integriert. Darauf verweist auch die Vergabe des Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund und des Prix Charles Veillon im Jahre 1968. Der geschmäcklerische Totalverriß Reich-Ranickis in der Zeit, der durch zwei positive Gegenkritiken aufgehoben wurde, erhält unter diesem Gesichtspunkt eher die Bedeutung einer geschickten Publicity. Lediglich am Rande des insgesamt positiven Spektrums der kritischen Aufnahme lassen sich Stimmen vernehmen, die die radikalisierenden Antinomien, von denen der Literaturbetrieb in dieser Zeit zunehmend bestimmt wurde, auf eine radikale Gesellschaftskritik beziehen und von daher die Prämissen des Romans in Frage stellten. In diesen Stimmen deutet sich der Generationswechsel innerhalb einer kritischen Intelligenz an, die eine vehemente Abrechnung mit der Halbherzigkeit der Nonkonformisten zu führen beginnt. Sie resultiert durchaus aus einem schärferen Realitätsbewußtsein, das die moralische Gebrechlichkeit und Unentschiedenheit des Helden kritisiert und in der „fortgeschrittenen Fortschrittsmüdigkeit" die Bedingung für ein „gut spätbürgerliches, recht abwechslungsreiches und durch die Zubereitung leicht verdauliches Werk" 347 erblickt, das in die BestsellerSpalten des Spiegel hinter den Trivialromanen von Malpass, Golon, Simmel eingerückt ist. Gehen diese kritischen Stimmen auch am eigentlichen Angebot des Romans vorbei, so signalisieren sie Gefahren des Erzählers Andersch, der die souveräne Handhabung erzählerischer Möglichkeiten stets aufs neue den Reibungsflächen der Realität aussetzen muß, um sie nicht zu bloßer Perfektion verkommen zu lassen. Wo 181
das wie in Winterspelt geschieht, sind gegen die Integration in den Literaturbetrieb mannigfache Widerstände aufgebaut.
Bericht und Erzählung bei Andersch Bericht und Erzählung nehmen in Anderschs Werk einen eigenständigen Stellenwert ein. In getrennten Gattungen prägen sich hier Elemente der ästhetischen Konzeption des Autors aus, die sich auf jeweils verschiedene Weise in ihrem konzeptionellen Grundcharakter berühren. Bevor diese eigenständige Ausprägung von Bericht und Erzählung, ihre Entwicklungen und ihre Aufbauformen betrachtet werden, ist der Frage nach dem Platz und dem Zusammenhang dieser beiden Elemente innerhalb der ästhetischen Position von Andersch nachzugehen. Nicht nur die Tatsache, daß der Autor von der Zeitungspublizistik herkommt und seine schriftstellerische Laufbahn mit Berichten über den Nachkriegsalltag begonnen hat, prägte seine Sicht auf die Realitäten der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Seine Überzeugung, daß man die Welt zunächst durch Beobachtung und Anschauung, auf dem Wege der sinnlichen Wahrnehmung aneignet, bildet die Grundlage seines auf Objektivität gerichteten Weltverhältnisses, in dem die Subjekt-ObjektDialektik der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt bleibt. Wie bereits dargestellt, beruft sich Andersch auf den Nominalismus, in dessen „Aufstand gegen die Scholastik" er die dialektische Rolle vorgebildet sieht, die „sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Verhältnis des Materialismus zum Idealismus wiederholt" 348 . Der programmatische Stellenwert, den er dem bereits zitierten Motto eines walisischen Literaturhistorikers verleiht: „Art is about buttons" („Kunst handelt von Knöpfen"), hat in diesem philosophischen Umkreis seine Begründung. Der Rückgang auf die „Dinge selbst" - „die Dinge, Sachen, entziehen sich jeglichem Idealismus, sie sind" 349 - bringt Andersch in einen Zusammenhang zur Phänomenologie, in deren ideologischem Kontext auch bestimmte Prämissen des nouveau roman wurzeln. Brigitte Burmeister, die die phänomenologischen Einflüsse auf den nouveau roman untersucht hat, arbeitet heraus, daß der Bezug auf die Dinge durchaus mit metaphysischem Anspruch verbunden sein kann, in dem die irrationalistische „Schau" gelebter Welterfahrung in Gegensatz zur rationalen Analyse tritt. Mit Bezug auf den französi182
sehen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty stellt sie fest: „Der Rückgang auf 'die Dinge selbst' zielte demnach nicht auf eine erkennende Rekonstruktion objektiver Existenz, sondern auf die philosophische Reflexion des im 'unreflektierten Bewußtseinsleben unmittelbar gegebenen Bezuges zur Welt', auf die 'Besinnung auf Raum, Zeit und Welt des (Lebens)'. Daher stellt sich für die Phänomenologie nicht die Frage, 'ob wir eine Welt denn auch wirklich wahrnehmen, vielmehr ist zu sagen: Die Welt ist das, was wir wahrnehmen.'" 3 5 0 Diesem erkenntnistheoretischen Subjektivismus folgt Andersch nicht. Für ihn stellt die Berufung auf die „Dinge selbst" eher die Begründung eines objektiven Weltbezugs dar, der sich in der Aneignung und in der erkennenden Rekonstruktion objektiver Existenz der Dinge realisiert. Im philosophischen Sinne trennt er dabei das erkennende Subjekt vom Erkenntnisgegenstand und behauptet die Trennung von Ideologie- und Erkenntnisinteressen. Diese Prämisse, aus einem bestimmten politischen und literarischen Verständnis der Nachkriegszeit geboren, gibt Andersch niemals auf, obgleich er in bestimmten Zusammenhängen damit selbst in Konflikt gerät. Innerhalb seines ästhetischen Verständnisses wird mit diesem Gedanken und dem Festhalten an der Rolle der genauen Deskription die abbildende Relation von Literatur und die Eigenständigkeit ästhetischer Weltaneignung betont, die sich teilweise auch gegen philosophische und ideologische Prämissen ihrer Schöpfer durchsetzt. „Die Beziehung eines Schriftstellers zu einer Sache hat mich stets stärker interessiert als seine Ideen, seine Weltanschauung." 3 5 1 In der Rolle, die die Beschreibung innerhalb der ästhetischen Ansichten von Andersch und seines eigenen Werkes innehat, wird die objektive Seite ästhetischer Weltaneignung und ihr Zusammenhang zur gesellschaftlichen Realität betont. Diese Tatsache hält Anderschs Position offen für die sich stets verändernden Realitäten des gesellschaftlichen Prozesses. Diese Seite seines Schaffens findet ihre eigene Ausformung in den Berichten, darüber hinaus ist sie ein Element der erzählerischen Produktion. Zwischen Beschreibung und Erzählung bestehen unmittelbare und fließende Übergänge. Erzählungen und Romane Anderschs fußen auf gelungenen Beschreibungen, die erzählten Werke nehmen deskriptive Partien auf und verschmelzen sie zusammen mit Reflexion und gestalteter Episode zu einer komplexen Struktur, während andererseits in den Berichten fiktive und reflexive Elemente enthalten sind, die den fließenden Charakter des Unterschieds zwischen beiden vor Augen führen. 183
„. . . was es ist, das in uns tickt, wenn wir beschließen, auf Reisen zu gehen." Anderschs Reiseberichte Im Zentrum von Anderschs Berichtswerk stehen die Reiseberichte. Sie sind innerhalb des Gesamtwerks nichts Beiläufiges, sondern behaupten ihre eigenständige Rolle. Ihre Existenz verdanken sie Anderschs Fähigkeit, Eindrücke, Beobachtungen und Erlebnisse berichtend festzuhalten, „ein Jäger des Augenblicks zu sein", wie er selbst im Nachwort zu Wanderungen im Norden schreibt. Daß innerhalb der Berichtsformen der Reisebericht eine solche ausschließliche Eigenständigkeit erhält, hängt mit dem Stellenwert zusammen, den das Reisen für Anderschs Persönlichkeit und Werk besitzt. Die westeuropäische Integration nach dem zweiten Weltkrieg hatte für die Schriftsteller in der Bundesrepublik die Möglichkeit einer ungehinderten Mobilität gebracht. Sie beförderte, nach der Abschnürung im Faschismus, einen ungehinderten kulturellen Austausch und bildete die Grundlage für die vermittelnde Funktion, die Andersch als Herausgeber und Übersetzer innehatte und durch die er auf selbstverständliche Weise dazu beitrug, westeuropäische und amerikanische Literatur, aber auch dabei die nationalen Besonderheiten des jeweiligen literarischen Betriebs bekanntzumachen. Die kulturellen Kontakte ermöglichten das Kennenlernen verschiedener Länder, wurden zur notwendigen Tätigkeit eines mit der Literaturproduktion und -Verbreitung beschäftigten Autors. Er konnte Kontaktfähigkeit entwickeln und die Isolation von verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen aufheben. Durch die Begegnung mit fremden Landschaften, Menschen, Städten stellte sich ein Bezug zur sozialen Praxis her, der sich zugleich in Beschreibungen niederschlug. Andersch geht es bei seinen Reisen um die Aneignung des Fremden, nicht um die „Realisation der Reise als Selbst-Inszenierung des reisenden Subjekts" 352 . Das Reisen hängt aber auch mit dem gedanklichen Zentrum seines Werkes zusammen, mit existentialistisch verstandenen Entscheidungssituationen, mit grenzüberschreitenden Auf- und Ausbrüchen, mit der Suche nach neuen Möglichkeiten. Die räumliche Fortbewegung assoziiert Veränderung und die Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten. „Das Glück der Reise jedenfalls ist und bleibt zeitweiliges Entrinnen ohne Nachforderung von zu Hause, ist durchgreifende Umstellung ohne äußeren Zwang zu 184
ihr."353 Es gibt kaum ein erzählerisches Werk von Andersch, in dem nicht gereist wird: von den Zwangsreisen in Die Kirschen der Freiheit über die Flucht in Sansibar oder der letzte Grund, den Ausbruch der Franziska in Die Rote bis hin zum Irgendwo und Nirgendwohin in Efraim. Stets berührt das Reisen die zentrale Problematik von Anderschs Werk, Reisen - Flucht - Freiheit bilden einen inneren Zusammenhang der Motive. Die Reiseberichte, deren Mehrzahl in den drei Bänden Wanderungen im Norden (1962), Aus einem römischen Winter (1966) und Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze (1969) enthalten sind (die DDR-Ausgabe Aus einem römischen Winter und andere Reisebilder, Berlin 1979, bietet eine kleinere Auswahl), vermitteln dem Leser das Reiseerlebnis des Berichtenden, dem mitunter etwas Wichtiges widerfährt: „Er wird von Stimmungen berührt, von Farben, von Gerüchen, von Formen, von der Essenz fremden menschlichen Lebens oder von der Substanz toter Steine."354 Die Nordlandbücher Wanderungen im Norden und Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze hat Andersch zusammen mit seiner Frau, der Malerin Gisela Andersch, herausgegeben, die die Farbenund Formenwelt des Nordens in Bildern festgehalten hat. Die Bücher verdanken ihre Entstehung Anderschs Vorliebe für die nördliche Landschaft. Das dem zweiten Band vorangestellte Motto von Walter Benjamin drückt die Suche nach dem Erlebnis der Grenze zwischen den bewohnten und den unbewohnten Breiten aus, in denen gewissermaßen die Ewigkeit jenseits der Menschenwelt beginnt. „Du bist ins Magazin der Zeit gedrungen und blickst auf Stapel unbenutzter Tage, die sich die Erde vor Jahrtausenden auf dies Eis legte." (Walter Benjamin: Nordische See.) Aber auch Städte, Menschen, ihre Geschichte und die verschiedenen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens regen Andersch an. Reiseziele verraten etwas von dem, was gesucht wird, von den Antrieben und Interessen, die dieser Suche zugrunde liegen. „Man reist in der Tat vor allem deshalb", notiert Andersch, „weil die Wohnung nicht angenehm, der Lehnstuhl nicht bequem, die Aussicht nicht schön ist und weil Hitze herrscht. Die Motive des Reisens, die wir als die einfachen und vernünftigen bezeichnet haben, reichen nicht aus, die Wanderungen des Menschen zu begründen. In Wirklichkeit reist man aus Ungenügen, aus Neugier, aus Unruhe. Jede Reise ist ein kritisches Unternehmen, eine Form der Selbstkritik, der Kritik an den Zuständen, in denen man lebt, der schöpferischen Unruhe, des Zwanges, sich der Welt zu stellen." 355 185
Andersch gehört zu den Reisenden, die sich für die F r e m d e wirklich interessieren, und nicht zu denen, v o n denen E r n s t B l o c h s a g t : „. . . nichts ist in der F r e m d e exotisch als der F r e m d e selbst: doch dieser sieht als bürgerlicher Enthusiast zunächst gar nicht den Alltag der F r e m d e , am wenigsten will er d a s E l e n d in ihr sehen, das ihm den Wechsel auf Schönheit nicht einlöst; er sieht in der F r e m d e , mit o f t heillosem Subjektivismus, sein persönlich mitgebrachtes Wunschbild v o n i h r . " 3 5 6 Andersch läßt sich auf die fremden Länder wirklich ein, ihre Eigenart löst bei ihm Interesse aus und konstituiert die unterschiedlichen T y p e n der Reiseberichte bis in A u f b a u und F o r m hinein. E r hat seine Reiseberichte n der Nachkriegszeit als Reisender aus Z w a n g im Inland begonnen. Jahre in Zügen, Winter in einer frierenden Stadt, Europäisches Tagebuch (publiziert im Ruf und in Neues Europa) vermitteln Momentaufnahmen aus d e m K r i e g s - und N a c h k r i e g s alltag, berichten v o m H u n g e r n und Frieren, v o n den materiellen und moralischen Verwüstungen und enthalten Stellungnahmen zu der politischen Realität der Nachkriegszeit. V o n der Vielzahl der Berichte über den Nachkriegsalltag 3 5 7 unterscheiden sich diese dadurch, daß sie die ausgeprägte Tendenz des Alltagsverhaltens, w o jeder sich selbst der Nächste war, kritisch unter die L u p e nehmen und nach Wegen aus d e m E l e n d mit Hilfe solidarischen Handelns suchen. D i e S t i m m u n g s l a g e schwankt in diesen Berichten zwischen vager H o f f n u n g und Resignation. In den ersten Reiseberichten über fremde Länder, die in der Mitte der fünfziger J a h r e entstehen, werden Schweden und N o r w e g e n beschrieben. Andersch realisiert hier einen T y p des Landschaftsberichts, den er später in A b w a n d l u n g e n auch beim Beschreiben der nordischen Inseln fortsetzt. In Synöves Halsband, Notizen aus Norge, Das Rappa-Tal aus d e m Band Wanderungen im Norden und in Der Eissturmvogel, Die Reise zu den sieben Inseln, Das Tal des Jägers aus d e m Band Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze werden unterschiedliche Berichtshaltungen konstituiert. In Synöves Halsband und in Das Rxippa-Tal durchsetzt Andersch die E b e n e des Berichterstatters mit Handlungselementen, während er in den Notizen aus Norge stärker beschreibt. Synöves Halsband zeichnen wechselnde Darbietungsperspektiven aus, der Blickwinkel ist einmal an K e n gebunden, auf Ansichten und Erlebnisse in Stockholm, dessen Architektur, Menschen, Geschichte und K u n s t , und zum anderen auf das Erlebnis der nordschwedischen Landschaft Härjedalen 186
gerichtet, die in der Vielfalt ihrer Formen und Farben aus der Perspektive Lenas, einer Fotografin, nacherlebbar gemacht wird. In Hohe Breitengrade . . . hat Andersch diese detaillierten und präzisen Beschreibungen der nördlichen Landschaft zu einem „Strukturmodell eines arktischen Kleinkontinents" verarbeitet, in dem er das ästhetische Erlebnis dieser Landschaft sprachlich wiederzugeben versucht. Für Zeichen, Konturen, Flächen , Formen, Körper, Licht, Farben und Spuren sucht er sprachliche Chiffren, um ihren Zusammenhang darstellbar zu machen. Diese Berichte sind durch das Erlebnis der Natur bestimmt, deren Vielfalt und farbliche Atmosphäre sinnlich nachvollziehbar eingefangen werden. Sie vermitteln die Faszination, die vom Norden ausgeht, von seiner kargen und bizarren Eigenart, für den Menschen eine ständige Herausforderung. Sie bringt Andersch vor allem in Die Reise zu den sieben Inseln, in der der Reporter bis an die Grenze des ewigen Eises vordringt, oder in Das Rappa-Tal, im Bericht über ein schwer zugängliches und sumpfiges Tal, zur Anschauung. Die Schilderung bekommt hier ein aktives Element, dem Verhältnis zur Natur fehlt jede kontemplative Beschaulichkeit. Ihre Kenntnis muß mit Anstrengung erworben werden, die gleichzeitig ihren gefährlichen Charakter sinnfällig macht. Die Spannung zwischen Mensch und Natur wird durch die Konflikte unter den Teilnehmern der Wanderung noch erhöht. Auseinandersetzungen ergeben sich bei dem waghalsigen Entschluß, die Wanderung trotz erschwerter Bedingungen fortzusetzen, die Ken, der etwas romantische Naturschwärmer, durchgesetzt hatte. Der Herausforderung der Natur bleiben die Wanderer nur im einhelligen Handeln gewachsen, das gewahrt bleibt, obwohl die Meinungen zum Risiko dieses Unternehmens sehr verschieden sind. Der Bericht von einer Wanderung durch das Rappa-Tal verdeutlicht den Selbstbehauptungswillen der Menschen in der Natur und ihre konfliktreichen Beziehungen untereinander. Er ist von einer erzählerischen Qualität, die ihn Erzählungen von Hemingway und anderen großen Reiseschriftstellern an die Seite stellt. Ein weiterer Typ von Reiseberichten wird durch das Erlebnis von kulturgewordenen Landschaften, meist städtischen, konstituiert. In den Berichten aus dem Band Wanderungen im Norden (Postkarten aus Delft und Trondheim, Notizen aus Norge, Asa und Imögen oder der März am Oslofjord), in Berichten über England (Alte hinke in London), Amsterdam (Interieurs für Charles Srvann) und Brügge (Schlafende 187
Löwin), über die Umgebung Roms (Aus einem römischen Winter) und über die sardischen Räuberprovinzen (Nach Tharros) sind die Darstellungsvarianten je nach Gegenstand verschieden. Charakteristisch für sie ist, daß der erlebende Berichterstatter im Hintergrund bleibt. Informationen über Geschichte und Gegenwart städtischer Gemeinwesen wie Brügge und Amsterdam, Delft, Trondheim und Oslo, über deren Architektur und Geschichte, über die Spuren sozialer und politischer Bewegungen (in Alte Unke in London) verschmelzen mit der Wiedergabe des Atmosphärischen der Städte, ihres kulturellen und städtischen Fluidums. Die Beschreibungen sind von hoher Präzision, Straßen, Plätze, Häuser werden mit topographischer Genauigkeit gezeichnet. Dazu kommt die Begegnung mit Menschen, über deren Lebensverhältnisse die soziale und politische Einbindung durchscheint. Innerhalb dieses Reportagetyps haben auch fiktionale Elemente ihren Stellenwert, wie Asa und Imogen oder der März *n Oslofjord zeigt. Andersch holt hier in fiktiven Gesprächen mit der sagenumwobenen Norwegerkönigin, die von einer Besichtigung des Osloer Schiffahrtsmuseums angeregt sind, Geschichte und Märchenwelt dieses nordischen Landes in die Darstellung des heutigen Oslo. Ein wichtiges Element für die Darstellung der Fremde bildet in diesem Reportagetyp die Kunst. Herausragendes Beispiel dafür ist die Reportage über Amsterdam mit dem Titel Interieurs für Charles Swann. Die Bilder holländischer Maler bieten hier den Bezugspunkt für die Beschreibung der Grachten und Bürgerhäuser, ihres jetzigen Zustands und ihrer Geschichte. Die Wahrnehmung von Farbe und Atmosphäre wird durch die Kenntnis der Kunst mitgeprägt, weil Augenblicke der Vergangenheit in Kunstwerken sinnlich vergegenwärtigt sind. Beschreibungen von Zeugnissen vergangener Jahrhunderte fordern den geschichtlichen Vergleich heraus wie z. B. in Alte Linke in London. Hier bildet der Engels-Bericht über die Lage der arbeitenden Klasse in England den Bezugspunkt für die Schilderung der Proletarierviertel, und der Bericht eines Polizeispitzels wird referiert, um dem Haus, in dem sich die Wohnung der Familie Marx in der Dean Street befand, geschichtliche Dimension zu verleihen. Den Anlaß für Beschreibungen gibt mitunter die Auseinandersetzung mit den vom Tourismus verbreiteten Traumbildern (z. B. Mexiko als Paradies); seine Momentaufnahmen in Aus einem römischen Winter leitet Andersch mit folgendem Geständnis ein: „Ich bin 188
der heutigen Wirklichkeit Roms ausgewichen. Nichts von der Betonwoge der zukünftigen Slums, in der Rom erstickt, nichts vom Inferno der Autos, nichts von der Vernichtung der Albenaberge, der Campagna und des Strandes von Anzio bis Fregene, nichts von Politik. Eine toll gewordene Spekulantenbande, eine rasende Kamarilla von Großverdienern ist dab^i, Rom dem Chaos zu überliefern." 358 Der Autor sucht weniger Bekanntes auf, um Miniaturen von Landschaften und Personen zu zeichnen, bei denen er noch fand, was er suchte. Diese Skizzen verstehen sich als Erinnerung, weil sie wiedergeben, was in der Gegenwart gerade noch auffindbar, weil dessen Untergang eigentlich schon beschlossen ist. Er beschreibt Überreste antiker oder mittelalterlicher Bauwerke, Inseln ländlichen Lebens, die noch unberührt sind von der Industrie und vom Tourismus, zugleich auch aristokratische und gelehrte Gesprächspartner, die in einer Welt universeller Bildung und konservativer Gediegenheit leben. Einige Reiseberichte sind durch Interesse an gesellschaftspolitischen Vorgängen motiviert. Dazu gehören die Schwedenreportage: Die Bäume des Herrn Ekelund(1959/60), die Reportage über Mexiko: Das verlorene Paradies (1973), über Portugal: Reise in die Revolution (1975) und als Pendant dazu der Spanienbericht: Regen in Andalusien (1975). In diesem Berichtstyp nehmen Dialog und Reflexion einen wichtigen Platz ein, die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen konstituiert ihren Aufbau. Elemente dieses Reportagetyps gibt es auch in vielen anderen Berichten. Das Erlebnis der Fremde steht auch hier im Vordergrund, dennoch bringt Andersch deutlicher seine politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen zum Ausdruck und nimmt damit Stellung zu aktuellpolitischen Entwicklungen. Die Schwedenreportage ist ein enthusiastischer Bericht über die Lebensverhältnisse in den Waldgebieten des nördlichen Schweden. Im Text werden Sachinformation, plastische Naturbeschreibung und erlebendes Reporter-Ich verklammert. Die Dialogpartien, Gespräche, nehmen dabei breiten Raum ein. Den Reporter fasziniert das schwedische Reformprogramm, in dem er ein Fortleben großer sozialer Utopien erblickt. „Wohlfahrt war in Schweden kein diskreditierter Begriff", heißt es im Anschluß an eine Begegnung mit dem Direktor eines der mächtigsten privaten Holztrusts. „Eigensinnig beharrten die Völker der großen nordischen Demokratien . . . darauf, daß der Zusammenhang von sozialer Sicherung und Menschenwürde, von Wohlfahrt und Freiheit gewahrt werde, und die Manager und Kapitäne akzeptierten diese 189
Voraussetzung."359 Obwohl diese Polemik von der Wohlstandsideologie der Adenauer-Ära angeregt ist, die die Unternehmerinitiative zum Nonplusultra von Freiheit stilisierte, wird deutlich, daß für Andersch am Ende der fünfziger Jahre offensichtlich an die Stelle des Rooseveltschen New Deal die schwedischen Verhältnisse als vorbildliches Gesellschaftsmodell getreten sind. Trotz Privateigentum sieht er hier Wohlfahrt für alle durch soziale Verantwortung garantiert. Die Verbindung von wirtschaftlicher Entwicklung und Sozialplanung, die er in den Holzarbeitersiedlungen des schwedischen Nordens realisiert glaubt, erscheint als intaktes Gesellschaftsmodell, auch wenn er mit selbstironischer Distanz kommentiert: „Ken dachte sich ein vollständiges und sicherlich utopisch idealisiertes Gesellschaftsbild aus. "360 Andersch kommt auf dieses schwedische Beispiel niemals mehr ausdrücklich zurück. Allerdings gibt es in den späteren Jahren, vor allem durch die Reportagen über Mexiko und Portugal, indirekte Korrekturen bestimmter Auffassungen. Am eindringlichsten spiegelt wohl die Portugalreportage Reise in die Revolution diesen politischen Lernprozeß vom Ende der fünfziger bis zu den siebziger Jahren. Sie ist von einer mitreißenden Sympathie getragen, die durch eigene Beobachtungen ausgelöst wird. Das Tempo der Mitteilung steigert sich - von Eindrücken über leere Strände und Hotels, über die Aufbruchstimmung des Volkes, die sich nicht zuletzt in den revolutionär heiteren Losungen ausdrückt, bis hin zu einer Darlegung der geschichtlichen wie politischen Hintergründe der portugiesischen Revolution und der Lebensverhältnisse des Volkes, um zu einer vergleichenden Erörterung des portugiesischen Revolutionsmodells im Spiegel der revolutionären Erfahrungen von Chile und Vietnam hinzuführen. Seine enthusiastische Sympathie drückt der Berichtende in dem Wunsch aus: „Ich möchte gerne in Lissabon leben"361. Andersch läßt sich von der Aufbruchstimmung des Volkes mitreißen, von der Heiterkeit ihrer revolutionären Insignien (das Gewehr mit der Nelke), ihrer Kunst, von der Entschlossenheit, ihre eingeleiteten Umwälzungen (Nationalisierung der Banken und Bodenreform) weiterzuführen. Trotz dieser Stimmung bleiben die Gefährdungen und Probleme eines solchen Vorgangs stets präsent. Die Armut des Volkes, der beginnende Boykott der imperialistischen Staaten und die Erinnerung an die Konterrevolution in Chile lassen keine leichtfertige Romantik aufkommen. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich das zweite konstituierende Element seines 190
Berichts, eine direkte Auseinandersetzung mit der Einmischungspolitik gegenüber Portugal und mit der verfälschenden Berichterstattung der bürgerlichen Medien, vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Die herrlichen kilometerlangen Strände waren wie für uns reserviert. Das war natürlich prima. Wir hatten dies der westlichen, insbesondere der westdeutschen Presse zu danken, ihrer dunkel raunenden oder offen hetzerischen Berichterstattung über eine Revolution, in der bis jetzt noch keinem Menschen auch nur ein einziges Haar gekrümmt worden ist. Bei den meisten Menschen genügen ja schon Wörter wie Revolution oder links, damit sie ihre Reisepläne ändern. Während Rechtsputsche, auch blutigste, dem Tourismus niemals Schaden zufügen. Jahrzehntelange Programmierung trägt so ihre Früchte." 362 Andersch beteiligt sich mit seinem Bericht über Portugal an einer umfassenden Kampagne der demokratischen Kräfte gegen die entstellende Berichterstattung der bürgerlichen Medien. In der Aktion „Wahrheit über Portugal" stand er innerhalb einer politischen Initiative, die für ihn Teil einer erneuten Beschäftigung mit Politik wurde. Wenige Monate nach der Niederschrift seines Berichts hat er seine Enttäuschung über den weiteren Verlauf der portugiesischen Ereignisse zum Ausdruck gebracht: „Lissabon im Herist (1975) von den wänden blättert die hoffnung ab bleich bedeckt sie die sache des ausgetretenen Feuers". Formen erzählerischer Vergegenwärtigung Werden die Reportagen vor allem durch Fakten getragen, erhalten die Erzählungen ihre Struktur gerade aus der Verschränkung berichtender und fiktiver Elemente. Andersch erprobt in seinen Erzählungen, in der Mehrzahl abgedruckt in den Bänden Geister und Leute (1958), Ein Liebhaber des Halbschattens (1963) und Mein Verschwinden in Providence (1971), sehr unterschiedliche Erzählformen, die sich bereits im ersten Band ankündigen und die dann weiter ausgeformt bzw. variiert werden. Darauf weist der Autor selbst im Begleittext von Geister und Leute 191
hin: „Man mag dieses kleine Lesebuch also als ein Brevier verschiedener Erzählweisen betrachten, oder als Demonstration der Verhaltensweisen, die der Geschichtenerzähler einnehmen muß, je nachdem, was für eine Art von Geschichten er zu erzählen beabsichtigt." 363 Die Erzählungen bilden einen wichtigen Bestandteil des Gesamtwerkes, mit dem übrigen Prosawerk stehen sie in unmittelbarem Zusammenhang, es gibt thematische, stoffliche und Motive betreffende Übereinstimmungen bzw. Berührungen. Teilweise erproben sie in erzählerischen Momentaufnahmen Konstellationen, die dann in den Romanen wieder aufgenommen werden. Der eigenständige Wert der Erzählungen liegt vor allem darin begründet, daß Andersch, von politischen Themen und Konstellationen ausgehend, eine Kunstprosa entwickelt, die virtuos alle erzählerischen Möglichkeiten nutzt. Sein erzählerisches Credo hat er so veranschaulicht: „Ein Garten bringt immer zugleich Erfreuliches und Unerfreuliches. Die Bemerkung ist vollständig überflüssig, da ja aus der beschreibenden Gegenüberstellung von gutem Kompost und geknickten Himbeer-Ruten von selbst hervorgeht, wie ein Garten immer zugleich Erfreuliches und Unerfreuliches bringt. Ich streiche sie nur deshalb nicht, weil ich ein Beispiel für Schlüsse geben möchte, die man vermeiden muß, wenn man eine Prosa zustandebringen will, an die der Leser sich erinnern soll." 364 Die Erzählungen unterscheiden sich im thematischen Zugriff und in der Machart. Ihre Ausprägung ist an bestimmte Perioden des Schaffens gebunden, einzelne Elemente behaupten sich aber stets neben den neu entwickelten Formen. Der eine Typ von Erzählungen wird aus Momentaufnahmen von Krieg und Nachkriegsgeschehen strukturiert und nimmt dann in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in wachsendem Maße Themen der Wohlstandsgesellschaft, ihrer politischen und moralischen Verschleißerscheinungen auf. In diesen Momentaufnahmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen das eben erst vergangene Kriegsgeschehen in schuldhaften menschlichen Verstrickungen (Vollkommene Reue) oder in verfremdet historischem Kostüm (Ein Auftrag für Lord Glouster) oder in gespenstisch phantastischer Form der Totenwiederkehr aufscheint (Die 'Letzten vom schwarzen Mann), verraten sich am ehesten die Einflüsse der amerikanischen short story, die Andersch mit seinem Aufsatz Die Dichter Amerikas bekanntmachen wollte. Die Kurzgeschichte wurde dann von den Autoren, die nach dem Krieg zu schreiben begannen (Wolfdietrich Schnurre, Wolfgang Weyrauch, Wolfgang 192
Borchert, Heinrich Boll, Hans Werner Richter u. a.), breit rezipiert. Sie war offensichtlich sehr geeignet für die Auseinandersetzung mit dem bedrängenden Kriegserlebnis. Andersch rezipiert diese Form vor allem in Hinblick auf das aus der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit stammende Sujet, den auf die unmittelbare Faktizität drängenden Duktus des Schreibens und die Doppelbödigkeit der gestalteten Situationen, die er vor allem in Hemingways Kurzgeschichte vorgebildet sieht. Die verfremdenden, phantastischen und surrealistischen Elemente sollen der realistischen Momentaufnahme über die bloße Alltäglichkeit hinaus assoziative Dimensionen eröffnen, deren Richtung in den frühen Zeugnissen unbestimmt bleibt. Dieser Typ von Kurzgeschichte wird mit den Erzählungen Ein Vormittag am Meer, Jesuskingdutschke und Die Erste Stunde aus dem Band Mein Verschwinden in Providence weiterentwickelt. Hier gelingt es besser als in den frühen Erzählungen dieses Typs, das überraschend Doppelbödige der gestalteten Episoden aus dem sozialen, geschichtlichen und individuellen Kontext der in ihnen agierenden Figuren direkt abzuleiten. In die Alltäglichkeit eines scheinbar gesicherten Lebens bricht in Ein Vormittag am Meer der Tod ein, und in Die erste Stunde wird aus der verfremdenden Sicht eines nach zwanzig Jahren Haft entlassenen Mannes die Kritik am westdeutschen Alltag gewonnen. Einen wichtigen Rang unter den Kurzgeschichten dieses Typs besitzt Jesuskingdutschke, in dem Andersch ein für die endsechziger Jahre charakteristisches Ereignis - einen Polizeieinsatz gegen eine Studentendemonstration - (hier vor dem Westberliner SpringerHochhaus) zum erzählerischen Ausgangspunkt nimmt. Hinweise auf Jugendprotest gibt Andersch schon in seiner Hörmontage über James Dean und im Roman Efraim, in dem der Ich-Erzähler in Frankfurt in eine Studentendemonstration gerät. Der Titel Jesuskingdutschke assoziiert Symbolfiguren verschiedener Protestbewegungen in Amerika und Westeuropa: Jesus als christliche Symbolfigur und ihr Fortleben in der friedfertigen Verweigerung der „Blumenkinder", Martin Luther King als Repräsentant der gewaltlosen Bürgerrechtsbewegung und der Westberliner Studentenführer Rudi Dutschke, Vertreter eines militanten Aktivismus. Der Titel deutet auf das, was erzählerisch ausgeformt wird: die Entstehung von Gewalt und Gegengewalt. In einem äußerst verdichteten, an politischen und philosophischen Verweisen reichen Text konfrontiert und diskutiert Andersch Verhaltens- und Denkweisen der 13 Reinhold, Andersch
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studentischen Protestgeneration, die durch die Aufnahme politischer Erfahrungen früherer Generationen historische Dimension erhalten. Die Konfrontation mit staatlicher Gewalt führt zur Befragung nach Entstehungsursachen und möglichen Folgen der Protesthaltung. In der Beziehung zwischen drei Studenten - dem Schweizer Architekturstudenten Leo, der sich nach der Erfahrung politischer Gewalt in Architekturstudien zurückzieht, Marcel mit seinem draufgängerischen und unüberlegten Aktivismus und Carla, die blinden Aktivismus ablehnt und ständig neue historische Bezugsfelder für ihre Entschlossenheit aufbaut - formt Andersch eine ästhetische Modellsituation, die er in Winterspelt in einen größeren geschichtlichen Rahmen stellt. Bei der in den fünfziger Jahren einsetzenden kritischen Verarbeitung von Erscheinungen der Wohlstands- und Restaurationsgesellschaft entwickelt Andersch einen Erzähltyp, in dem in einer komplizierten Struktur sozialpsychologische Befindlichkeit des westdeutschen Wohlstandsbürgers in historischer und politischer Dimension gesehen wird. Schon in seinem ersten Erzählungsband (Geister und 'Leute, 1958) fanden sich, besonders in der Erzählung Mit dem Chef nach Chenonceaux, Züge dieses Erzähltyps, der im Band Ein Uebhaher des Halbschattens (1963) und in Noch schöner wohnen aus dem Band Mein Verschwinden in Providence (1971) fortgesetzt wird. Andersch hatte mit diesem Erzähltyp noch weiterführende Pläne, wie Entwürfe unter dem Titel Bolands "Freiheit erkennen lassen. In diesen Erzählungen entwickelt er eine komplexe erzählerische Struktur, die es gestattet, über die moralische Physiognomie seiner Gestalten, die er treffsicher auslotet, auf generelle Züge der sich wieder stabilisierenden kapitalistischen Gesellschaft zu verweisen. Er arbeitet hier mit satirischen Mitteln, indem er die Prämissen der kapitalistischen Prosperität und des ungehemmten Aufstiegs - immer mehr, immer schöner - ad absurdum führt. Zugleich ironisiert er die Versuche, dem eingetretenen Sinndefizit durch Flucht in romantisierte Gegenden zu entgehen. Das Motto zu den drei Erzählungen des Bandes Ein "Liebhaber des Halbschattens verweist auf den Zusammenhang zwischen individuellem und geschichtlichem Sein: „Wir meinen, daß wir nicht nur jederzeit in gewisse gegenwärtige Geschichten verstrickt sind, sondern daß wir ständig in viele, um nicht zu sagen, unzählige Geschichten verstrickt sind und daß dies Verstricktsein oder vielleicht auch Verstricktgewesensein unser Sein ausmacht." 365 Mit der Figur 194
der Titelerzählung hat Andersch einen moralisch zwielichtigen, politisch opportunistischen und menschlich versagenden Charakter gezeichnet, dessen Gewordensein er aus der deutschen politischen Geschichte von Krieg und Nachkriegszeit umfassend motiviert. Moralische und politische Befindlichkeit der Akteure von Restauration und Wohlstand vermittelt Andersch auch in Noch schöner wohnen. Hier erzählt er in einer durch kurze Erzählschübe gegliederten und mit leitmotivischen Überschriften versehenen Prosa vom Ausstieg eines Industriellen aus dem Kreis der Produzenten und von seinem Einstieg ins reiche Rentnerdasein durch Erwerb eines abgelegenen Schlosses in Irland. „Er sagte sich, daß innerhalb der bestehenden Gesellschaft ein Zustand absoluter Freiheit nur im Besitz einer ausreichenden Rente erreicht werden kann." 366 Mit Genauigkeit gibt Andersch Einblicke in die sozialen politischen und kulturellen Bedingungen menschlicher Existenz, in die materielle Basis und in die Träume, in die kulturellen und persönlichen Bedürfnisse. Er seziert sie mit sachlich-ironischer Distanz und beweist die Fragwürdigkeit dieser gesamten sozialen Existenz und der Bedingungen, auf denen sie beruht. In einem weiteren Typ von Erzählungen arbeitet Andersch mit autobiografischen Erfahrungen. In diese Gruppe gehören die frühen, zwischen 1944 und 1948 entstandenen, erst nach seinem Tode wieder neu herausgegebenen Erzählungen Flucht in Etrurien und Heimatfront, aber auch die Kurzerzählung Drei Phasen, in der filmschnittartig drei Zeitebenen aus der eigenen Erfahrungswelt - München der dreißiger Jahre und Arbeit im kommunistischen Jugendverband, KZ-Aufenthalt in Dachau und amerikanische Kriegsgefangenschaft - montiert sind. Drei Phasen wurden in der Ich-Perspektive, die anderen Erzählungen aus der Perspektive von Werner Rott als zentraler Gestalt erzählt. Alle diese Erzählungen korrespondieren mit Anderschs Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit, in dem sich Episoden und Konstellationen aus seiner Biografie wiederfinden. In den sechziger Jahren beginnt sich der Typ der Kien-Erzählungen zu konstituieren, eine neue Phase im Umgang mit dem autobiografischen Material. Sie verläuft übrigens parallel zu einem grundsätzlichen Neubedenken gemachter Erfahrungen, in dessen Ergebnis die Revision früherer Überzeugungen steht. Davon legt die Arbeit an einer autobiografischen Bilanz Zeugnis ab, die Andersch in den siebziger Jahren begann, aber nicht mehr vollenden konnte. In den Erzählungen Alte Peripherie, Festschrift für Captain Fleischer, 13*
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Die Inseln unter dem Wind, Brüder, Un aus den Baracken, Tier Vater eines Mörders verarbeitet Andersch autobiografischen Erlebnisstoff aus der Sicht Franz K i e n s . In einem „ N a c h w o r t für L e s e r " in Der Vater eines Mörders hat der A u t o r d a s Geheimnis dieser K u n s t f i g u r gelüftet, sich zur weitgehenden Identität mit ihr bekannt. D i e Wahl dieser erzählerischen Perspektive begründet er nicht aus d e m Bedürfnis heraus, eine gewisse Diskretion zu wahren, sondern im Gegenteil: „ g e r a d e d a s Erzählen in der dritten Person erlaubt es d e m Schriftsteller, so ehrlich zu sein wie nur m ö g l i c h " 3 6 7 . Sie biete außerdem eine „ g e w i s s e Freiheit des Erzählens, die das Ich, diese tyrannische F o r m der B e u g u n g des Tätigkeitsworts, nicht z u l ä ß t " 3 6 8 . I m Unterschied z u m Ich seines Lebensberichts gestattet Andersch diese erzählerische Sicht, autobiografische E r f a h r u n g in ein neues Verhältnis zur geschichtlichen E r f a h r u n g zu rücken. A u s der Sicht Franz Kiens, mit ihm als gedankliches und stoffliches Z e n t r u m , macht Andersch, v o n verschiedenen erzählerischen Aspekten her überschauende Beschreibung, innerer M o n o l o g und Dialogpartien die innere Welt des Protagonisten ebenso durchsichtig wie die geschichtlichen Verhältnisse, in denen er lebt. Alle Kien-Erzählungen zeichnen sich durch einen präzis erfaßten geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g aus. Sie sind z u m großen Teil bis auf den T a g genau datiert und behandeln E p i s o d e n aus verschiedenen Lebenszeiten K i e n s zwischen d e m E n d e der Weimarer Republik und d e m K r i e g s e n d e . Sie folgen nicht der geschichdichen C h r o n o logie, sondern erinnern Lebenssituationen, in denen sich unter d e m Z w a n g gesellschaftlicher Entwicklungen Entscheidungen anbahnten, aus denen Andersch einen Maßstab für Bewertung individuellen Handelns gewinnt. D i e individuelle B e w ä h r u n g in E n t s c h e i d u n g s situationen bildet das gedankliche Z e n t r u m dieser Erzählungen. Für die A n l a g e der autobiografischen Erzählungen (Alte Peripherie, Die Inseln unter dem Wind, Un aus den Baracken, Brüder, Festschrift für Captain Fleischer), die unter ihrem biografischen Gesichtspunkt schon an anderer Stelle behandelt wurden (vgl. S. 1 2 f f . dieser M o n o grafie), ist eine den Leser einbeziehende Darstellungsart charakteristisch. Der Vater eines Mörders, das letzte Werk, das Andersch kurz vor seinem T o d e noch abschließen konnte, trägt den Untertitel „ E i n e Schulgeschichte". D e r A u t o r stellt sich mit dieser Erzählung in eine große Tradition kritisch-realistischer Literatur, in der die Schule als jener Ort gesehen wurde, an d e m die Heranwachsenden für die herrschenden Machtverhältnisse zugerichtet und ihre elemen196
taren Bedürfnisse und menschlichen Sehnsüchte verbogen und pervertiert wurden. Der humanistische Bildungsstoff blieb hier bloße Zuchtrute für die Einübung von Gehorsam und blinder Pflichterfüllung. Es geht in den dargestellten Beziehungen - zwischen dem Direktor, der die Schüler als „seine" betrachtet, dem Klassenlehrer, dem „Langweiler", der ein durchaus methodisches Verständnis für das Griechische hat, zwischen dem adligen Konrad Greif, der auf seinen Adelstitel pocht, und Kien, dem faulen Schüler - um Macht und Unterordnung. Kien, Sohn eines mittellosen, da invalidisierten ehemaligen Frontoffiziers, ist dieser Macht ausgeliefert und wird sich dieser Tatsache bewußt. Er entzieht sich ihr mit der Mitteilung, daß er Schriftsteller werden wolle und seine literarischen Interessen bei Karl May befriedige. Mit dieser Aussage erinnert Andersch an ein Motiv humanistischer Literatur von Hermann Hesse, Heinrich Mann bis zu Thomas Valentin: Mit Sehnsüchten und Träumen entziehen sich die Jugendlichen den Herrschenden. Aus der Literatur entnehmen sie Schönheitsvorstellungen, betrachten sie aber als das Eigene, dem individuellen Selbstgefühl Entsprungene. Andersch zerstört diesen individualistischen Glorienschein. Er zeigt, daß diesen Leseinteressen und Vorstellungen nicht nur das Eigene, sondern das Angenommene zugrunde liegt, und er verweist dabei auf den Widerspruch, der das Leben der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft prägt: die Fremdbestimmung in freudlos erlebter Pflicht und der Anschein von Selbstbestimmung bei der Kompensation dieses Zwanges in Ersatzwelten und Fluchtträumen. Andersch macht die widersprüchlichen Zusammenhänge zwischen Machtstreben und Unterwerfung, zwischen Auflehnung und Ausbrechen in einem vielschichtigen erzählerischen Geflecht anschaulich, in dem die politischen und menschlichen Konstellationen nicht nur des Wittelsbacher Gymnasiums im Jahre 1928, sondern auch die Verhältnisse und Beziehungen in den nationalistischen Kreisen im München der zwanziger Jahre durchsichtig werden. Die Schulstunde gerät dabei gewissermaßen zum Paradigma von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, in denen sich der einzelne als ausgeliefertes Opfer erlebt. Die Konzentration auf die Schulstunde wird von Andersch nur an zwei Stellen durchbrochen bzw. zeitlich erweitert. Einmal im inneren Monolog Kiens, in dem er sich an die Worte seines Vaters über den jungen Himmler erinnert, dieser wäre seinem deutsch197
nationalen Vater zu den Nazis davongelaufen. Zum anderen ist es der Titel, mit dem das Erzählte unmittelbar an die Gegenwart herangeführt und dem Leser ein weiterer Assoziationsraum eröffnet wird, denn der Hauptakteur der Schulstunde ist Himmler, Vater des späteren faschistischen Massenmörders. Andersch stellt in seinem Nachwort die Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?" 3 6 9 Die Antwort beteiligt den Leser an der Prüfung der Qualität einer humanistischen Bildung, die nur als Zuchtrute für die Unterordnung gebraucht wird und daher keine Widerstandskräfte gegen die Barbarei hat entstehen lassen. Die zeitliche und gedankliche Konzentration auf die erzählte Episode ist ein Prinzip, das für alle Kien-Erzählungen gilt. Mit der Beschränkung auf e i n e zeitliche Ebene stellt sich für den Leser eine Spannung zur erzählten Episode her, die daraus resultiert, daß Andersch seine Identität mit Kien kundtut und für den Leser damit die Möglichkeit eröffnet, die mitgeteilte Erfahrung zur späteren Existenz des Autors in Beziehung zu setzen. Der große zeitliche Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und der Erzählzeit der Episoden wird durch sparsame Mittel greifbar gemacht. So wird die Kien-Figur in einen präzis bestimmten geschichtlichen Raum gestellt, vor dessen Hintergrund die Bedingungen ihres Handelns, das sich entwickelnde Individualitätsbewußtsein und Momente von Versagen bewertbar gemacht werden können. Im Zentrum der Erzählungen steht das Lebensproblem der Kien-Figur; der Widerspruch zwischen dem Streben nach individueller Selbstbehauptung, der Sehnsucht nach Unabhängigkeit und der Unfähigkeit, in entscheidenden Situationen zu handeln, sie zu erkennen oder zu nutzen. Die zögernde Passivität in Momenten, in denen es aufs Handeln ankommt, betrifft den persönlichen, sozialen und politischen Bereich. Andersch gibt mit seinen Erzählungen allerdings kein eindeutiges moralisches Urteil ab, er bevorzugt die offene Form, beläßt den Ausgang stets in der Schwebe. Diese Anlage verweist darauf, daß sich eine noch nicht beendete Biografie nur mit einem relativen, gedachten Ausgang darstellen läßt. Auf diese Weise stellt sich eine intensive Beziehung her zwischen der geschichtlichen Situation der erzählten Begebenheit und der Gegenwart des Lesers, für den sich aus der Diskrepanz zwischen subjektivem Anspruch und Realität, zwischen erkannter Notwendigkeit und begrenzter Handlungsfähigkeit, zwischen Einsicht in die politischen und sozialen Gegeben198
heiten und der Sehnsucht, sich aus ihnen loszureißen, eine gedankliche Spannung aufbaut, die die Möglichkeit einer urteilenden Distanz einschließt. Andersch ermöglicht eine Sicht auf subjektive Erfahrung im Lichte geschichtlichen Anspruchs. Die Kien-Perspektive erweist sich so als Träger eines vielschichtigen epischen Geschehens. Neben den bisher charakterisierten gibt es Erzählungen, die sich keiner der beschriebenen Typen zuordnen lassen. Das trifft einmal auf die publizistischen Formen wie die Montage über die Zusammenhänge der Regierungsübernahme durch de Gaulle am 1. 6. 1958, Die Nacht der Giraffe, und auf die Berichte über den Nachkriegsalltag zu, die ebenfalls publizistisch und dokumentarisch angelegt sind. Sie sind vielfach durch die Arbeit für Zeitschriften oder den Rundfunk angeregt worden und haben hier vor allem auch ihren Platz, auch wenn sie spätere Prosafassungen erhalten haben, wie z. B. Die Nacht der Giraffe. Daneben stehen Erzählungen, die innerhalb des erzählerischen Werks unvergleichbar sind. Dazu gehören die von Andersch als „langsame Erzählungen" charakterisierten Texte wie Weltreise auf deutsche Art, mit dem der Autor auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1949 in Erscheinung trat, Diana mit Flötenspieler und Mein Verschwinden in Providence aus den siebziger Jahren. Die beiden ersten Erzählungen enthalten Lebensläufe, sie könnten das Exposé eines unausgeführten Romans sein. In Weltreise auf deutsche Art greift Andersch - in seinem Werk ein Ausnahmefall weit in die Geschichte zurück, zum Beginn unseres Jahrhunderts, und bettet die Lebenserfahrung eines einfachen Mannes in das beginnende imperialistische Zeitalter der Kolonialkriege, des Boxeraufstandes, der Niederschlagung der Hereros im Südwesten Afrikas ein. Andersch legt imperialistische Herrschaftspraktiken am Beginn unseres Jahrhunderts bloß und stellt den imperialistischen Krieg, in den der Küfer Johann Benedikt Zimmermann hineingezogen wird, als Modell dar; denn nach einer kurzen Atempause erreichte „ihn im August 1914 der zweite Gestellungsbefehl seines Lebens" 370 . Diese frühe Erzählung verweist auf die Grundintention von Anderschs Schreiben, den Frieden zu befördern und unermüdlich gegen die Wiederholung eines Krieges zu arbeiten. Dabei werden in der erzählerischen Struktur, in deren Mittelpunkt die desillusionierte Sicht des kleinen Mannes auf die Praktiken des Kolonialkrieges steht, die sozialen Interessen der Drahtzieher dieser Kriege, der imperialistische Drang ihres Herrschaftsanspruchs und die ideologischen Legitimationsversuche analytisch aufgeschlossen und in 199
treffenden Episoden erhellt. Der erzählerische Einstieg belegt die Tatsache, daß der erste Weltkrieg lange vor seinem eigentlichen Beginn schon begonnen hatte, so wie auch der zweite Weltkrieg vorhersehbar war. Andersch versucht - er arbeitet in einem Gedenkblatt zum Jahrestag des Ausbruchs des ersten Weltkrieges auch publizistisch daran - , Ursachen, Motive und Schuldige aus den geschichtlichen Konstellationen heraus zu ermitteln und die Mechanismen von Kriegen zu belegen. Er stellt sich damit gegen eine die Restauration begleitende Tendenz, die geschichtlichen Ursachen von Kriegen und ihre tatsächlichen Drahtzieher im Dunkeln zu belassen. Eine Sonderstellung nimmt auch Mein Verschwinden in Providence ein, Titelerzählung des 1971 erschienenen Bandes. Als Gattungsbezeichnung setzt Andersch den Untertitel „Vielleicht ein Romanentwurf". Mit diesem Vorschlag betont er das Spielerische des gesamten Entwurfs, hebt er den Fiktionscharakter des Ganzen hervor. Die komplizierte Struktur dieser Erzählung wird durch verschiedene zeitliche und gedankliche Ebenen gebildet, die sich wechselseitig bedingen und z. T. auch spiegeln und brechen. Der episodische Kern der Erzählung: Ein Schriftsteller „von mittlerem Bekanntheitsgrad" wird bei einer Vortragsreise nach Providence, wo er „den Schauplatz einer vergangenen Utopie" 371 aufsuchen will, von einem kinderlosen Ehepaar festgehalten und beginnt in der auf freiwilliger Abmachung beruhenden Gefangenschaft, den Roman seines Lebens zu schreiben. Die Beschreibung des Erlebten verquickt sich mit dem Plan des Romanschreibens, in dem die Gegenwart bereits als Bestandteil eines sich im Fluß befindlichen Lebens eingeschmolzen ist. Der gedankliche Kern dieser Erzählung wird im Titel des geplanten Romans, „Ein amerikanischer Traum", angesprochen, er führt an eines der Grunderlebnisse Anderschs heran, die ihn zeit seines Lebens beschäftigt haben. Die Rückkehr zum „Schauplatz einer vergangenen Utopie" wird als ironische Erinnerung an die vergangenen Hoffnungen rekapituliert. „Ich hatte mir von dem Wiedersehen mit ihm [dem Lager Fort Kearny] einen sensationellen Erinnerungseffekt erwartet. Immerhin habe ich mich nach der Epoche des Herzklopfens, in der Klausur von Fort Kearny darauf vorbereitet, Schriftsteller zu werden." 372 Die Aufarbeitung der ehemaligen Hoffnungen und Illusionen wird mit einer Erörterung der philosophischen Frage nach Zufall und Determination im Leben des Menschen verschränkt. Im weiteren thematischen Umkreis geht 200
es um die ästhetischen Probleme des Romanplans, um Erzählweise und den Zusammenhang von Analyse und Erzählung, von Kunst und wissenschaftlicher Untersuchung. Die ästhetischen Fragen sind mit den zentralen gedanklichen Problemen der Erzählung so verknüpft, daß gewissermaßen ein Kommentar zum eigenen ästhetischen Verfahren entsteht: „Die Erzählung ist ebenso wahr wie die Analyse, doch reicher an Bedeutung: die Erzählung legt nicht fest, sondern plaziert Feststellung in einem Spielraum: die Erzählung gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen." 373 Hier wird die Diskussion der ästhetischen Probleme weitergeführt, die wir an anderer Stelle berührt haben. Mit der Erörterung der Möglichkeiten des Erzählens insistiert der Autor auf die die Leser einbeziehende Literaturform, „die an Bedeutung [in dieser Beziehung - U. R.] die Beschreibung überragt" 374 , sich aber aus den präzisen Deskriptionen des Autors speist. Die Erzählung erscheint als Vorbereitung auf die vielschichtige Komposition von Winterspelt, in gedanklicher Hinsicht führt sie zu einer umfassenden Autobiografie hin, die Andersch in den siebziger Jahren zu schreiben beginnt. Beschreibend und reflektierend erinnert Andersch in ihr an Orte vergangener Erfahrungen und Erlebnisse und nimmt dabei gedankliche Auseinandersetzung um die eigene Entwicklung neu auf. In Mein Verschwinden in Providence aber werden die biografischen Elemente in einen erzählerischen Zusammenhang gebracht, der vor allem Fragen der schriftstellerischen Existenz und des Erzählens gewidmet ist. Die freiwillige Gefangennahme erscheint als eine Möglichkeit, sich dem Literaturbetrieb zu entziehen und in Ruhe den gewünschten literarischen Erfolg zu organisieren. „Aber er ist ein Schriftsteller, und so wünscht er, was sich aus dieser Mystifikation unvermeidlich ergeben wird: . . . den Skandal" 37 *. Diese ironisierende Bestimmung der schriftstellerischen Existenz, die Andersch schon in Efraim begonnen hatte, wird hier weitergeführt. Ähnlich geartete Versuche finden wir zur gleichen Zeit auch bei Martin Walser in Fiction (1970), der die undurchschauten Konditionen des schriftstellerischen Sonderstatus zum Gegenstand der sich selbst aufhebenden Fiktion macht. Bei Andersch werden gegenüber einer solchen Problematisierung der Fiktion die produktiven Möglichkeiten des Erzählens ins Feld geführt, ebenso verweist er auf deren Gefährdung durch die Neutralisation im Literaturbetrieb. 201
Alfred Anderscb und Ernst Jünger (Ein Exkurs) Wenn von den zahlreichen literarischen Anregungen, die Alfred Andersch in seinem Werk verarbeitet hat, diejenigen herausgehoben und etwas näher beleuchtet werden sollen, die auf Ernst Jünger zurückgehen, so ist hier nicht etwa ein Jünger-Bild zu erwarten, sondern es geht darum, am Ungewöhnlichen dieser Beziehung, die Wolfgang Koeppen als „überraschende Konstellation an Deutschlands literarischem Himmel" gekennzeichnet hat, die nicht politisch erklärbar sei, sondern als „Anziehung der Meister" 375 ®, auf eine Frage aufmerksam zu machen, die so zu formulieren wäre: Ist an den künstlerischen und Erkenntnisleistungen derer zu lernen, die historisch und politisch auf der anderen Seite stehen? Denn die verschiedenen Konstellationen, die wir diesbezüglich in der Literaturgeschichte zwischen Autoren konträrer Positionen antreffen, lassen deutlich werden, daß es sich bei der Beziehung Andersch Jünger nicht um eine Marotte Anderschs handelt, sondern um ein durchaus ernst zu nehmendes offenes Problem. Das Interesse Anderschs, des linksbürgerlichen Autors mit dem selbstgestellten schriftstellerischen Auftrag, an „einer Welt des Friedens mitzuarbeiten", für Ernst Jünger stellt sich als eine b e s o n d e r e Herausforderung dar. Denn Ernst Jünger gehört für uns mit seinen apologetischen Kriegsdarstellungen, mit seinem Ästhetizismus, weltanschaulichen Irrationalismus und Konservatismus in den Umkreis reaktionärster politischer Kräfte, die zum Faschismus tendierten und nach dem Bankrott nationalistischer Konzepte auf ein antikommunistisches Abendlandkonzept umschwenkten. Dieses Jünger-Bild ist in differenzierenden Darstellungen von Helmut Kaiser und Hans-Joachim Bernhard ausgearbeitet worden, 376 in denen die objektive historische Funktion Jüngers festgehalten wird. Und dennoch wäre zu fragen: Gibt es im Werk Jüngers Realitätsbefunde, Wahrnehmungen von Wirklichkeit, ästhetische Verfahren, die unser Interesse verdienen? Was glaubt Andersch zu entdecken? Worauf richtet sich sein Interesse? Andersch wurde, wie viele Schriftsteller, nach dem zweiten Weltkrieg mit dem geistigen Klima der sich frisch restaurierenden Bundesrepublik konfrontiert, zu deren literarischen Repräsentanten Gottfried Benn und Ernst Jünger gehörten. Eine kurze Phase des Publikationsverbots und der politischen Auseinandersetzungen um Gottfried Benn und vor allem um Jünger in der unmittelbaren Nach202
kriegszeit stellt sich aus der Rückschau nur als Episode dar. Der Streit um die Rolle Jüngers wurde damals durch das Erscheinen seiner Schrift Der Friede ausgelöst, mit der er im Jahre 1946 „Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt" richtete. Sahen einige darin ein Zeugnis für die Wandlung Jüngers, sprachen andere ihm, dem Verführer zum Krieg und Repräsentanten eines deutschen Nationalismus, das Recht ab, zur Jugend zu sprechen. Wolfgang Weyrauch charakterisierte anhand von Zitaten die verhängnisvolle Rolle Jüngers für die Erziehung zur Kriegsbereitschaft der Jugend, 377 Paul Rillas Polemik mit Ansichten über Jüngers Wandlung gipfelte in der Feststellung: „Jünger ist ein Gegner des Nationalsozialismus, dessen Schrittmacher er war."378 Obwohl diese Auseinandersetzung eine politische Kontroverse um die Rolle bestimmter philosophischer und künstlerischer Erscheinungen bei der Vorbereitung des Faschismus beinhaltete, verliefen die Fronten dennoch nicht eindeutig zwischen Antifaschisten und ihren Gegnern. Das beweist die differenzierte Stellungnahme des nach England emigrierten Literaturhistorikers Werner Milch über den Weg Ernst Jüngers, aber auch die Haltung von Ernst Niekisch, Alfred Andersch und Erich Fried. Andersch apostrophiert bereits im Jahre 1948 in seiner Schrift Deutsche Literatur in der Entscheidung den „Fall Jünger" innerhalb eines Abschnitts, der mit „Widerstand und Kalligraphie" überschrieben ist, auf besondere Weise. Er geht davon aus, daß sich bei Jünger, „der großen künstlerischen Hoffnung des extremen Nationalismus", 379 eine Konversion vollzogen habe, während der er sich gegen die Herrschaft der Nazis entschied. Er stützt diese These mit dem Hinweis auf Jüngers Frankreich-Tagebuch Gärten und Straßen, dessen weiteres Erscheinen nach dem ersten Teil von den Nazis verboten wurde. Auch in dem Essayband Blätter und Steine, in dem Roman Auf den Marmorklippen und in der Schrift Der Friede sieht Andersch Zeugnisse einer Wandlung, in dem Roman eine Vorwegnahme des 20. Juli 1944. Andersch erblickt in diesen Werken außerdem einen Beweis dafür, daß „echte Künstlerschaft identisch war mit Gegnerschaft zum Nationalsozialismus" und daß „antiliberaler Nachnietzscheanismus, mit dem Jünger an gewisse Erscheinungsformen des französischen Spätsymbolismus anknüpfte, sich im gleichen Augenblick gegen den Nationalismus richten müßte, wo dieser in den Händen der Nazis zu absoluter Barbarei pervertierte" 380 . Auch in anderen publizistischen Äußerungen aus dieser Zeit kennzeichnet Andersch Jünger als einen Autor, der vom Theoretiker 203
des „intellektuellen Konservatismus und Nationalismus zu einem großen europäischen Dichter der menschlichen Verantwortung wurde" 381 . Darüber hinaus gilt ihm der Fall Jünger als ein kennzeichnendes Beispiel für eine formal gehandhabte Entnazifizierungspolitik durch die westlichen Alliierten. „Der Dichter ist, da er in den Gründungsjahren der Reichswehr in ihr als aktiver Offizier diente, als 'Militarist' eingestuft. Er lehnt es jedoch ab, sich einem Denazifizierungsverfahren zu unterwerfen, was unmittelbar einleuchtet, wenn man bedenkt, daß er niemals Mitglied der NSDAP war, . . . das stärkste dichterische Werk des inneren Widerstands gegen die Diktatur, die 'Marmorklippen' schrieb und im Jahre 1944 wegen einer Beteiligung an der Pariser Konspiration des Generals Stülpnagel gegen Hitler als 'wehrunwürdig' aus der Armee ausgestoßen wurde. Bis es der zuständigen Spruchkammer also einfällt, Herrn Jünger den 'Nichtbetroffenenbescheid' zu übersenden, wird man sich bemühen müssen, die inzwischen erschienenen Ausgaben seiner neuesten Werke aus der Schweiz zu erlangen." 382 Auch Erich Fried, der Jüngers Auf den Marmorklippen während des Krieges in England zu Gesicht bekam und seine Haltung als tapfer empfand, bekennt im Jahre 1968, daß er nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, als Jüngers Leben gefährdet schien, um ihn gebangt habe, und er äußert weiter: Als „die Alliierten ihm nach Kriegsende keine Publikationserlaubnis erteilen wollten, habe ich protestiert. Beides tut mir nicht leid. Aber heute ist der längst wieder deutliche Jünger-Kult als ein gefährlicher zu erkennen, und viele, die ihm anhängen, halte ich für anrüchig." 383 Für das in der BRD der fünfziger Jahre herrschende Literaturprogramm waren Jünger und Benn repräsentativ. Im Unterschied zu Benn, dessen „Artistenevangelium" - in dem die Kunst sich als ihren wichtigsten Gegenstand zu erleben hatte - zum ästhetischen Programm dieser Zeit wurde, hat Jünger auf breite Wirksamkeit, auf öffentliche Stellungnahmen, auf eine Rolle im Literaturbetrieb verzichtet. Obwohl er der Gewährsmann der Rechten blieb, sucht man seinen Namen in einschlägigen Einrichtungen und Publikationsorganen vergeblich, worauf auch Andersch hinzuweisen nicht versäumt. Aber offizielle Reverenz wird ihm reichlich erwiesen. Festschriften zu seinem 60., 70., 80. Geburtstag, Literaturpreis der Stadt Bremen im Jahre 1955, Bundesverdienstkreuz, Schillerpreis des Landes Baden-Württemberg, Goethepreis der Stadt Frankfurt 204
sind nur einige der Ehrungen. Eine politisch bindungslose Intelligenz, die in den vierziger und fünfziger Jahren zu schreiben beginnt, rezipiert sowohl Benns als auch Jüngers Werke. Benn, so Rühtnkorf, habe „das lyrische Weltbild des Nachkriegsdeutschen" 384 nachdrücklich mitgeprägt. Eine ganze Lyrikergeneration, die in den fünfziger Jahren zu schreiben begonnen hat, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Christoph Meckel, Günter Grass u. a. ist durch diese Schule gegangen, hat Montageverfahren, provokative Bilder, Formen lyrischer Subjektivität auch an Benns Lyrik gelernt. Die Rezeption Benns verlief so massenwirksam und den Literaturbetrieb bestimmend, daß Rühmkorf in dem schon genannten Aufsatz davon sprechen konnte, Benn sei zum „La paloma der intellektuellen Demimonde" 385 geworden, und Andersch spricht anläßlich einer Überschau junger Lyrik im Jahre 1956 davon, daß es nachgerade zum Volkssport gehöre, Gedichte ä la Benn zu verfertigen. In der Mitte der fünfziger Jahre beginnt hier ein Ablösungsprozeß, dessen deutliches Zeugnis der große Essay Anderschs Die Blindheit des Kunstwerks ist, in dem er den Bennschen Ästhetizismus und Formalismus kritisiert und dagegen sein auf humanisierende Wirkung begründetes Literaturkonzept entwickelt: Literatur als „Arbeit an den Fragen der Epoche" 386 . Die Ablösung von der geistigen Welt Gottfried Benns führte zu Umwertungen durch diese Autorengeneration, denen erst in den späten siebziger Jahren erneuter Sichtwechsel im Zeichen der Wende folgt. Im Unterschied zur Rezeption Benns verlief die Jüngers lautloser. Von einer solchen den Literaturbetrieb bestimmenden Aufnahme war er nicht betroffen. Sein Ästhetentum blieb aristokratischer, sein konservatives Denken schwerer zugänglich. Im Unterschied zu Benn geht er auch mit ästhetischen und biografischen Selbstkommentierungen sehr viel sparsamer um. Aber auch sein Werk erfährt stete positive Aufnahme durch die Kritik und wird von den damals jüngeren Autoren umfassend rezipiert, obwohl die Spuren dieser Rezeption nicht so offenliegen wie im Fall Benns. Erst im Zusammenhang mit einer zunehmenden kritischen Distanzierung dieser Autoren vom offiziellen Staatswesen der Bundesrepublik in den sechziger Jahren setzt eine kritische Sicht ^uf Ernst Jünger ein. Während Heinrich Lübke, der damalige Staatspräsident der Bundesrepublik, Ernst Jünger zum 70. Geburtstag ein Staatstelegramm 387 schickt, beginnt eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit Jünger durch die linke Intelligenz. Gegenüber den offiziellen 205
Würdigungen artikulieren Helmut Heißenbüttel, Erich Fried, Gerhard Zwerenz, Hans Heinz Holz, Nikolaus Sombart, Wolfgang Weyrauch u. a. einen z. T . auch selbstkritischen Bewußtseinswandel in bezug auf Jünger und dessen geistige Welt. Dabei geraten einige der kritischen Positionen zu radikalen Rundumschlägen mit der nonkonformistischen Intelligenz und der Gruppe 47, der unterstellt wird, sich in unmittelbarer Nähe zur geistigen Welt Jüngers befunden zu haben. Nikolaus Sombart versucht eine Analyse von Jüngers Erfolgen vor allem auch in Auseinandersetzung mit J ü n g e r s Hochschätzung durch Teile der französischen linken Intelligenz. Über den Zusammenhang J ü n g e r - französische Moderne schreibt Sombart: „Der durch den pour le mérite mobilisierte Kleinbürger entdeckte die Giftküche der großbürgerlichen Decadence in einem Augenblick, in dem die geistige Avantgarde der Welt längst zu neuen Horizonten aufgebrochen war. E r ist ein Epigone Nietzsches und Baudelaires, der aus den Überresten ihrer gedanklichen Exerzitien recht primitive Molotow-Cocktails braute, die er in die Fenster der Häuser warf, die schon längst brannten." 3 8 8 Als Fazit schreibt er, daß Jüngers Ästhetizismus dem Perfektionismus Eichmanns näher stünde als der Artistik Cocteaus. Autoren wie Helmut Heißenbüttel und Erich Fried, bei denen eine positive Sicht auf J ü n g e r durch Auf den Marmorklippen und Tagebücher aus dem 1. Weltkrieg angeregt worden war, resümierten die Entwicklung ihres Verhältnisses zu diesem Autor in der Zeit seit 1945. Mit Bezug auf die Bücher Gärten und Straßen, Auf den Marmorklippen und Das abenteuerliche Herz (2. Fassung) bekennt Heißenbüttel, daß „diese drei Bücher bis zum Ende des Krieges eine Art Brevier waren, in dem sich Zuversicht und Maßstab finden ließen in einer Zeit, die beides kaum noch zu bieten schien" 3 8 9 . Eine Rezension aus dem Jahre 1959 zu An der Zeitmauer noch einmal aufnehmend, setzt er sich kritisch mit Jüngers „Beobachtungsstandpunkt des imaginären Generalstäblers der Geisteskräfte" 3 9 0 , mit seinem elitären Herrschaftsanspruch, mit dem verdächtigen Sprung aus dem nationalen in den kosmisch-planetarischen Raum und mit J ü n g e r s Stil, der „Poetisierung des militärischen J a r g o n s " 3 9 1 , auseinander. Diese Polemik einer radikalisierten Intelligenz und die Tatsache, daß Jünger zum Repräsentanten eines offiziellen Staatswesens gemacht wird, stoßen bei Andersch auf Kritik und veranlassen ihn dann, nach dem Aufnehmbaren bei Jünger zu fragen, um J ü n g e r nicht in Gänze den Rechten zu überlassen. Dabei zeigt sich, daß 206
Anderschs stete Beschäftigung mit Jüngers Werk seit den vierziger Jahren in einzelnen Rezensionen kritisch ist und auf Gesichtspunkte Bezug nimmt, die auch bei Heißenbüttel, Erich Fried u. a. eine Rolle spielen. Sie stehen in einem auffälligen Widerspruch zu den resümierenden Essays aus den siebziger Jahren und der dort getroffenen positiven Einschätzung. Und das bei einem Autor, der außerhalb jedes Verdachts steht, die Tendenzwende bedienen zu wollen! In seinen frühen Kritiken setzte sich Andersch auseinander mit der verschlüsselten Symbolik in Auf den Marmorklippen und den mythisch-konservativen Denkmustern in Über die Linie, Der gordische Knoten und An der Zeitmauer. Andersch sieht sich hier durchaus auf einer konträren weltanschaulichen Position, so, wenn er Jüngers Befangenheit im weltanschaulichen Modell Nietzsches sichtbar macht, das sich im „Strahlungskreis der platonischen Verwirrung" bewegt. Jüngers „Weltbild ist an subjektiven Idealismus gebunden, seine Anrufung der klassischen Theologie ignoriert die rationalistische Revolution, die die Entwicklung der Naturwissenschaften erst ermöglichte" 392 . Diese kritischen Urteile im einzelnen bilden einen auffälligen Widerspruch zu seinem resümierenden Urteil aus den siebziger Jahren. Hier wertet er Jünger als den „letzten aus der großen Reihe Mann (1875), Kafka (1883), Benn (1886), Brecht (1898)"393. Nur sein Außenseitertum habe bisher verhindert, „daß man in den Strahlungen das dritte große Meisterwerk aus dem gleichen Zeitraum erkannte, in dem der Doktor Faustus und Das lieben des Galileo Galilei entstanden" 39i . Hier liegt offensichtlich bei Andersch ein Versuch vor, einer produktiven literarischen Anregung, die er empfangen hat, dadurch Geltung zu verschaffen, daß er bei ihrer Wertung primär den Künstler und erst in zweiter Linie den politischen Ideologen betrachtet. Diese methodologische Trennung von Ideologie und Ästhetik ist ein Verfahren, mit dem Andersch zu seinem sonstigen Verständnis von Ästhetik durchaus im Widerspruch steht. Da sein Kunstbegriff an Humanisierungsfunktion gebunden ist, gibt es für ihn keine ästhetischen Errungenschaften, die außerhalb dieser Funktion stehen können. Wenn er hier im Widerspruch zu eigenen prinzipiellen Prämissen verfährt, so deshalb, weil ästhetische Anregungen und Errungenschaften auch aus Werken entnommen werden können, die einen anderen Begriff von Ästhetik besitzen. Dieser Konsequenz stellt er sich allerdings nicht, sondern fußt bei der Erarbeitung seiner Sicht auf der nicht unbestrittenen und unterschiedlich gewerteten 207
Tatsache, daß sich bei Jünger zu Beginn der dreißiger Jahre tatsächlich eine Veränderung abzuzeichnen begann. Anderschs Verhältnis zu dem Ideologen Jünger schließt - überblickt man die Rezensionen aus mehreren Jahrzehnten - weltanschauliche Differenz und politische Kritik ein, auch den Jünger der nationalistischen Phase kritisiert Andersch nachdrücklich, seine frühen Werke aber wertet er als bedeutsam. In den zusammenfassenden Jünger-Studien aus den siebziger Jahren versucht Andersch den Ideologen Jünger zu entschuldigen, sucht nach Erklärungen, die dann zu einem Satz hinführen, der dem gesamten Andersch-Werk widerspricht: „Ich gebe zu, daß ich dahingekommen bin, politische Literatur 'wertfrei', oder, um mich drastischer auszudrücken, zynisch zu beurteilen." 395 Andersch hat keine Zeile geschrieben, die als wertfrei daherkommt, sondern versteht seine literarische Arbeit als einen Beitrag gegen die Barbarei und gegen die Wiedererstehung des Faschismus. In seinen poetologischen Bemerkungen Aus der grauen Kladde, die aus ungefähr der gleichen Zeit stammen wie die Rede über Jünger, vermerkt er über die Absichten seines Schreibens: „Damit ich mein Metier ausüben kann, schreibe ich Texte, von denen ich mir einbilde, sie verhinderten, daß ich eines Tages wieder eine Straßenwalze in einem KZ ziehen muß . . . auch wenn ich über Bibliophilie oder Poliakoff oder eine Straße in London schreibe, ziehe ich eine sichtbare Perspektive bis zu jener Straßenwalze hin." 396 Die Wirkung Jüngers auf Andersch und andere Autoren können wir nicht nur als Mißverständnis betrachten. Vielmehr geht es hierbei um die vielfältige Interpretierbarkeit ästhetischer Bilder, ein Problem, das bei einer künftigen Jünger-Darstellung zu berücksichtigen wäre. Im folgenden sollen zwei Elemente dieser produktiven Beziehung etwas genauer betrachtet werden, die einmal auf einer biografisch-historischen und zum anderen auf einer ästhetisch-literarischen Ebene liegen. Andersch hat nach eigener Aussage Jüngers Werk erst mit der Essay-Sammlung Blätter und Steine (1934) und mit der Neufassung von Das abenteuerliche Herz (1938) kennengelernt. 1934 hatte er bereits zweimal kurze KZ-Haft hinter sich, die Tätigkeit in der Kommunistischen Partei gab er auf. Er beschreibt diese Zeit rückblickend in seinem Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit sehr selbstkritisch, in dem er von einer Emigration in den Park von Kultur und Ästhetik spricht. Die Lektüre Jüngers eröffnete ihm eine Prosa, die, wie er sagt: „mir unmöglich machte, sie in irgendeiner 208
Weise ideologisch zu klassifizieren", aber er zog aus ihr „ästhetische Genüsse" 397 . Wiederum wertet er diese Lektüreerfahrung in anderem Kontext doch politisch. Andersch sieht Das abenteuerliche Herz als das einzige surrealistische Buch in Deutschland und als, gegenüber Jüngers vorangegangenen Schriften, eine „Befreiung der Texte vom Zweck" 3 9 8 . Zusammen mit den Tagebüchern Strahlungen und Subtile Jagden rechnet er das Buch zu der Gruppe von Werken, die am freiesten in der Form und daher am interessantesten sind. An ihnen rühmt Andersch die Deskriptionen von Jünger, die aus Beobachtungen an Strukturen der lebendigen und unlebendigen Natur und in präzisem und feingegliedertem Stil entwickelt werden. Intensivste Beobachtungsgabe und präzise Beschreibung sind die Züge, die Andersch hervorhebt. Die „Befreiung vom Zweck" meint mit Bezug auf die Neufassung von Das abenteuerliche Herz das Ende einer Einbindung von Jüngers anarchistisch abenteuerlichem Antikapitalismus in die Gedankenwelt des nationalistischen und präfaschistischen Soldatentums. Deutliche Zeichen dieser Wandlung sieht Andersch auch in den Marmorklippen (1939). Mit diesem Buch lernte er einen Jünger-Text kennen, in dem die Wahrnehmung des Schreckens nicht mehr zwischen Legitimation und Ästhetisierung verlief, sondern in dem Grausamkeiten und Schrecken ästhetisch n e g a t i v gewertet werden. Von einer elitären Position her, aber dennoch unmißverständlich war die Distanz zur faschistischen Machtausübung, wenn von den „Stankhöhlen grauenhaftester Sorte" gesprochen wurde, worin „auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und der Menschenfreiheit schauerlich ergötzt" 3 9 9 . „Wir [waren] wie vom Donner gerührt", schrieb Andersch, „als uns . . . ein Text vor die Augen kam, in dem einer mit einer Kühnheit ohnegleichen nicht nur die Welt der Konzentrationslager beschwor, sondern auch gleich noch die Konsequenzen aus ihr zog" 4 0 0 . Und weiter: „Diese hochromantische und symbolistische Erzählung war für uns alle die Parabel der Notwendigkeit von Widerstand. Wir lasen sie, lasen sie uns gegenseitig vor, begriffen, antizipierten in ihr den Untergang von Hitlers Reich . . . " 4 0 1 Den gleichen Eindruck, den auch Fried und Heißenbüttel vermitteln, bestätigte auch Stephan Hermlin in einem Gespräch Ende 1985. Als er Jüngers Buch in der französischen Emigration in die Hände bekam, erschien es ihm als ein Zeichen dafür, wie weit bis in konservative Kreise hinein die Opposition gegen die faschistische Führung sich entwickelt habe. Andersch beteiligt sich mit seiner Einschätzung 14
Remhold, Andersch
209
des Jünger-Werkes an den Auseinandersetzungen um ihn in der Nachkriegszeit, wobei er den symbolistisch verschlüsselten Stil deutlich kritischer sieht als in den siebziger Jahren. Er hält ihn für ein Produkt der faschistischen Zensur und fordert demgegenüber für die Nachkriegszeit eine klare, auf Fakten und Authentizität begründete Darstellungsart: „Denn der Symbolismus Jüngerscher Prägung ist eine vortreffliche Sache in Zeiten der Diktatur, in der Nachbarschaft der Literatur einer echten Freiheit kann er zur eitlen Stelzengeherei werden, genau wie der Klassizismus und die Kalligraphie . . ." 402 Nach dreißig Jahren kommt Andersch zu einer Einschätzung, in der ursprüngliches Leseerlebnis und derzeitiges Kunstinteresse zusammengeschlossen werden. Da der damalige historisch-polemische Kontext entfällt, kann er die Kunstleistung deutlicher werten. Entsprechend ist nun auch der Umgang mit dem frühen Jünger. In Stahlgewittern hat Andersch nach eigener Aussage erst nach 1945 kennengelernt. Er liest das Buch jetzt im Lichte der von ihm als „Konversion" benannten Veränderungen bei Jünger. Auch hier geht es ihm darum, die ästhetische Bildkraft Jüngers für die Entwicklung der Kunst und für unsere Kenntnis von Wirklichkeit zu betonen. Das geschieht, indem Andersch die intensive künstlerische Wahrnehmung der Materialschlachten des ersten Weltkrieges von ihrer nationalistischen Wertung absetzt. Er kann sich dabei auf Becher berufen, der 1929 Auszüge aus Jüngers In Stahlgewittern in sein Antikriegsbuch Der Krieg aufgenommen hatte. Becher schätzt Jüngers Buch dort ein als „das unbarmherzigste, das brutalste und nackteste Kriegsbuch", das für uns insofern wertvoll sei, „als es von einem Offizier, einem Kriegsbejaher geschrieben ist. Daran ändert auch nichts der Nationalismus, für den es zeugen soll, denn diese Gesinnung wirkt schemenhaft und aufgesetzt. In dem Kampf zwischen Wirklichkeit und Gesinnung wiegt die Wirklichkeit. Ernst Jünger möchte ein Aufruf sein, er wird wider Willen zu einem Fragezeichen." 403 Wenn Andersch das Buch als Triumph der reinen Deskription wertet, nimmt er diesen Gedanken Bechers auf. Er betont damit die seismographische Genauigkeit in Werken Jüngers und lenkt die Aufmerksamkeit auf die ästhetischen Verfahren, mit denen sie realisiert werden. Er setzt die sachliche Beschreibung von ihrer ideologischen Wertung ab und kritisiert Jünger wegen seiner Interpretationen im Sinne eines germanischen Nationalismus, bei denen er in den gesamten „Metaphern-Schatz eines Provinzbürgermeisters [verfällt - U. R.], der ein Kriegerdenkmal zu enthüllen hat" 404 . 210
Andererseits aber meint er, sie entschuldigen zu müssen. Dabei bedient er sich eines unfairen, da die zeitlichen Abstände außer acht lassenden Vergleichs zu Thomas Mann. Er hält die nationalistischen Interpretationsraster für verzeihliche Irrtümer eines noch nicht dreißigjährigen Autors, dem seine kriegsverherrlichenden und nationalistischen Ausfälle stets heftiger angekreidet wurden als dem schon über vierzigjährigen Thomas Mann (Betrachtungen eines Unpolitischen ). Im folgenden berührt Andersch die komplizierte Stellung der Literatur in der Geschichte und den möglichen Widerspruch zwischen ihrer Rolle in den aktuellen geistigen Kämpfen und ihrem ästhetischen Wert, wenn er schreibt, daß es sich bei der Verherrlichung des Kriegermutes „um einen uralten Topos der Weltliteratur" handelt. „Wir fragen heute nicht mehr nach den Beweggründen für die Tapferkeit Achills . . ."''05 Ihn habe Jünger an sich selbst erlebt. Er habe ihn gerade durch die präzise Beschreibung des Kriegsgrauens in den Materialschlachten in seinem Widersinn enthüllt. Höchste Wertschätzung erfahren Jüngers Tagebücher Strahlungen, die Andersch als Zentrum des gesamten Werks ansieht. Den ersten, 1943 verbotenen Teil von Gärten und Straßen hatte Andersch noch während des Krieges gelesen. Er setzt die tagebuchartigen Werke von jenen programmatischen Schriften ab, in denen Jünger nach dem zweiten Weltkrieg den geschichtlichen Augenblick in „außergeschichtlichen Lageberichten", in mythischen Konstruktionen zu fassen versucht. Andersch kritisiert hier die Ungeschichtlichkeit solcher Denkschemata, die z. B. den Ost-West-Gegensatz als gordischen Knoten beschreiben. Wichtiger als diese „Konklusionen" ist ihm der Jünger der präzisen Deskription und Wirklichkeitserweiterung. Strahlungen sieht Andersch im Kontext der Literaturbewegung des 20. Jahrhunderts, die daran gearbeitet habe, unseren Begriff von Wirklichkeit zu erweitern. Diese Prosa steht für ihn in einer „Weltbewegung des Geistes", die um 1920 mit dem Surrealismus begann und „die unseren Begriff von Realität auf das Entschiedenste erweitert hat"/,ofi. Nüchterne Notate, in denen der Leser von der Situation eines Hauptmanns im Pariser Hauptquartier der faschistischen Wehrmacht der Jahre 1941/42 erfährt, stehen neben traumatischen und visionären Vorstellungen, die unseren Begriff von Realität verändern. Andersch erwirbt aus Jüngers tagebuchartigen Notizen Kenntnisse über den „metaphysischen und histori14*
211
sehen K o n k u r s und das Versagen des Offizierskorps"' 1 0 7 , o b w o h l J ü n g e r die A r m e e wie kein anderer geliebt habe. J ü n g e r s distanzierten Beobachterstandpunkt, der vielfach als Ästhetizismus kritisiert wurde, stellt Andersch in die L o g i k der literarischen D a n d y - F i g u r und rückt Strahlungen s o in die N ä h e v o n Benjamins Paris-Entwürfen. Diese D a n d y - F i g u r überinterpretiert er s i c h e r l i c h , wenn er meint, daß sie mit einer Existenz im inneren Widerstand korrespondiere, die, in unzählige B e g e g n u n g e n verstrickt, ein auf bedrückende Weise einsames Leben geführt habe. Allerdings sieht er J ü n g e r s Distanz z u m Faschismus nicht als politisch, sondern als ästhetisch motiviert. S o deutet er d a r a u f h i n , daß die v o n ihm an anderer Stelle vollzogene Identifizierung der Ästhetik des Widerstands mit d e m Widerstand der Ästhetik wohl doch nicht ganz problemlos verläuft. In J ü n g e r s Distanz zum Faschismus sieht er jedenfalls einen Beleg dafür, daß sich große Künstler zwar im geistigen U m k r e i s faschistischer B e w e g u n g befanden, aber keiner v o n ihnen die politische Praxis begleitet habe. Bei soviel Faszination durch den Künstler J ü n g e r m u ß gefragt werden, welche produktiven A n r e g u n g e n für Anderschs Werk aus dieser B e g e g n u n g erwachsen sind und w o Distanz zu beobachten ist. E s ist natürlich immer problematisch, bestimmte literarische Konstellationen und gedankliche B e z ü g e auf e i n e n Autor zurückzuführen, denn es g a b z. B. für Andersch literarische A n r e g u n g e n unterschiedlichster Art. N e b e n H e m i n g w a y , Steinbeck, d e m italienischen Neorealismus wäre auch T h o m a s Mann zu erwähnen. Z u m zweiten können bestimmte B e z ü g e durch einen vergleichbaren weltanschaulichen K o n t e x t , in diesem Falle im H e r k o m m e n aus lebensphilosophischem U m k r e i s , begründet sein. Z u m dritten müssen solche direkten Berührungen auch deshalb relativiert werden, weil bestimmte vergleichbare Z ü g e aus jener umfassenden literarischen B e w e g u n g moderner Literatur im 20. Jahrhundert resultieren, in die Andersch seinen A u t o r mit Recht stellt. D e n n o c h sollen im folgenden einige G e d a n k e n zu unmittelbaren J ü n g e r - B e z ü g e n im Werk A n derschs geäußert werden. Neben der bei Andersch vorhandenen Vorliebe für Beschreibungen (siehe dazu S. 182ff. dieser Arbeit), die ihn veranlaßt hat, in Mein Lesebuch (1978) auch einen A u s z u g aus E r n s t J ü n g e r s Subtile Jagden aufzunehmen, ergibt sich ein unmittelbarer Z u s a m m e n h a n g zu J ü n g e r aus der Konzentration auf Grenz- und E n t s c h e i d u n g s situationen, die Anderschs Werk weitgehend konstituierten. D i e s e 212
Grenzsituationen beinhalten für Jünger wie für Andersch die höchste Intensität des Lebens, eine Steigerung, in der die Momente der Erfüllung, der Selbstfindung und des Selbstgenusses liegen. Während für Jünger Grenzsituationen an gefährliches Leben in Krieg und Abenteuer gebunden sind, die um ihrer selbst willen gesucht werden, ihren Sinn in sich selbst tragen und sich daher keine Fragen nach Moral oder Verantwortung stellen, so sind Grenz- und Entscheidungssituationen bei Andersch immer in ihren kontextualen Bezügen greifbar, sie erhalten gerade als bestimmte historische Konstellation ihr Gewicht und ihre ästhetisch-moralische Relevanz. In Anderschs existentialistischer Heraushebung des „Augenblicks der Freiheit" einige Kritiker sprechen von einer „Epiphanie des Augenblicks" sehe ich einen Bezug zu Jüngers wahrnehmungsästhetischer Kategorie des Plötzlichen. Hier wird der Augenblick mit vergleichbarer sinnlicher Intensität, das Erlebnis von Farben, Düften, Landschaften, ästhetisch erlebbar gemacht. Jüngers Anregungen sind in der intensiven Färb- und Formensymbolik, mit der Andersch arbeitet, unübersehbar. Dabei haben sich bei Andersch die Farbwerte gegenüber denen in Jüngers Frühwerk, der hier für die Schreckensbilder des Krieges besonders grelle Farben verwendet, zu Grautönen verwandelt. Das Grau des Halbschattens ist bei Andersch bevorzugte Farbe für die Kennzeichnung von moralisch-historischer Zwielichtigkeit. In Anderschs Werk ist allerdings „der Moment" niemals so phänomenologisch herausgehoben, daß er das Zeitkontinuum sprengen würde: die bevorzugte ästhetische Verfahrensweise Jüngers. Bei aller Apostrophierung des Augenblicks löst Andersch das Einzelerlebnis niemals aus dem Zusammenhang zeitlicher und moralischer Wertungen heraus. Verarbeitete Anregungen werden vor allem auch in den Kirschen der Freiheit, dem Lebensbericht aus dem Jahre 1952, deutlich. Sie gehen auf Jüngers zwei Jahre zuvor erschienenen Waldgang zurück. Es ist hier der literarische Vorgang der Ausgliederung zu vergleichen, ein charakteristischer Topos des späten Jünger. Während Jünger diese Ausgliederung als einen mythisch verallgemeinerten Vorgang faßt, in dem sich der kontemplative Rückzug der geistigen Eliten vor dem „Leviathan", dem ebenso unhistorisch gefaßten Machtapparat, vollzieht, beschreibt Andersch die Ausgliederung als einen Vorgang positiven geschichtlichen Handelns, nämlich als Desertion aus der faschistischen Wehrmacht. Zur sinnlichen Vergegenwärtigung dieses Schrittes, den Andersch als existentielles Grunderlebnis der Freiheit interpretiert, 213
werden Metaphern Jüngerscher Beschreibungskunst genutzt. Das reicht bis zu den wilden Kirschen und ihrem unvergeßlichen Aroma. Für die Gesamtanlage des Buches ist allerdings Anderschs konkreter Antifaschismus und seine daraus resultierende bekenntnishafte Schreibstrategie, die sich bewußt an Leser richtet, wesentlich. Anderschs Werk ist durch biografische Grunderlebnisse geprägt. Man könnte auch hierin einen Bezug zu Jünger erblicken, obwohl gerade die epische Objektivierung dieser Erlebnisse Anderschs Werk von dem Jüngers abhebt. Gegen Ende seines Lebens beginnt Andersch eine Autobiografie zu schreiben, die allerdings nur bruchstückhaft vorliegt. Er versuchte hierbei eine komplexe Form zu entwickeln: Direkte biografische Erlebnisse sollten mit der Diskussion philosophischer, historischer und poetologischer Fragen verknüpft werden. Vergangenheit und Gegenwart, Privates und Öffentliches sollten zusammenfließen, um eine möglichst komplexe Annäherung an Wirklichkeit zu gewährleisten. Man geht sicherlich nicht ganz fehl in der Vermutung, daß auch hier Anregungen durch die offene Form von Jüngers Tagebüchern zu sehen sind. Die eingangs gestellte Frage wieder aufnehmend, fasse ich zusammen: Anderschs Sicht auf Ernst Jünger sollte nicht als mehr oder weniger entschuldbare Entgleisung verstanden werden, sondern als eine jener Berührungen zwischen Autoren unterschiedlicher Position, die uns mit der vielschichtigen Interpretierbarkeit ästhetischer Bilder konfrontieren, und als Ansporn, schon Abgebuchtes nochmals in Sicht zu nehmen.
„ Winterspelt" - Geschichte und Fiktion Aus Notizen entnehmen wir, daß auch dieser Roman einen autobiografischen Erlebnisstoff zur Grundlage hat: Andersch hatte in den letzten Kriegsjahren mehrfach seine spätere Ehefrau Gisela und deren Kinder besucht, die der Krieg in die Eifel, nach Winterspelt, verschlagen hatte. „Aus einem ihrer [der Gisela Andersch - U. R.] frühen Bilder ist mein Buch entstanden: Regenwolken über einem Land, das in Wogenzügen, endlos, nach Westen läuft, unter ihnen das Dorf, wie begraben. " i 0 8 Das Dorf Winterspelt wie das Kriegsgeschehen des Herbstes 1944 in der Eifel sind verbürgt. In den später fallengelassenen Widmungsvarianten hat Andersch diesen autobiografischen Bezug noch betont: 214
„gewidmet Gisela Andersch und unseren Kindern. Sie haben von 1941 bis 1945 im Gebiet der Ardennenschlacht gelebt und sie überstanden." Eine andere Variante, „gewidmet dem Andenken der Menschen, die es Kopf und Kragen gekostet hat, daß ein deutscher General - Feldmatschall von Rundstedt - den seinen nicht riskierte", 409 läßt erkennen, daß Andersch vom direkten biografischen Bezug Abstand nahm. In der endgültigen Fassung des Romans lenkt er mit dem vorangestellten Hinweis: „Gewidmet jener auf Seite 14 erwähnten, dem Verfasser als äußerst zuverlässig bekannten Person" 4 1 0 zugleich ins gedankliche Zentrum seines Werkes. Auf der angezeigten Seite 14 wird darüber berichtet, daß die dem Verfasser als äußerst zuverlässig bekannte Person angibt, „des öfteren Gespräche deutscher Offiziere mit angehört zu haben, in denen Pläne erörtert wurden, die denen des Majors Dincklage entsprachen. Die Frage, ob solche Pläne zu irgendeinem Zeitpunkt und in irgendeiner Weise nicht nur erwogen, sondern auch realisiert oder wenigstens in das Anfangsstadium einer Realisation übergeführt worden sind, muß sie allerdings verneinen." 411 Dem Hinweis schließen sich die Sätze an, die zusammen mit dem von William Faulkner entnommenen Motto - „Das Vergangene ist nie tot: es ist nicht einmal vergangen" - die erzählerische Absicht des Autors auf einen Nenner bringen: „Sandkasten: Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch" 4 1 2 . Der Plan des Majors Dincklage Andersch konstruiert eine mögliche Situation: Ein Major der faschistischen Wehrmacht erwägt im Oktober 1944, kurz vor der Ardennenoffensive, ein Bataillon kampflos an die Amerikaner zu übergeben. Mit dokumentarischer Genauigkeit rekonstruiert Andersch aus entsprechenden kriegsgeschichtlichen Darstellungen den tatsächlichen Frontverlauf im September/Oktober in diesem Raum, bestimmt den Standort der deutschen und amerikanischen Bataillone und Regimenter und siedelt hier die durch Major Dincklages Plan ausgelöste Aktion an. Sie wird also vor dem tatsächlichen geschichtlichen Hintergrund durchgespielt, obwohl es weder an dieser noch an irgendeiner anderen deutschen Front während des zweiten Welt215
kriegs einen solchen Versuch gegeben hatte. In diese Leerstelle stellt Andersch seine Erfindung, deren ästhetische Durchführung dem Plan und der Aktion hohe historische Modellhaftigkeit verleiht. Andersch geht es darum, versäumte Handlungsmöglichkeiten und Spielräume für die eingreifende Entscheidung der Menschen in Sicht zu bringen. „Ein Kammerspiel um den Gedanken herum, man brauche Geschichte nicht hinzunehmen, wie sie gekommen. Nie. Kein pazifistisches Buch, sondern ein Akt des Denkens gegen die Philosophie der Generalfeldmarschälle." 413 Er setzt gegen die Diktatur des Indikativs, der vollzogenen Tatsachen, die Möglichkeiten der Erfindung, will den Leser am spielerischen Erproben von Haltungen, an der gedanklichen Ausschreitung eines Spielraums beteiligen. „Ein Geschehen zum Nichtgeschehen. Ich finde das realistisch", 414 vermerkt Wolfgang Koeppen zu diesem Grundeinfall. Die Figuren, die Andersch über diese Aktion zueinander in Beziehung bringt, sind in ihrer sozialen und politischen Physiognomie geschichtliche Repräsentanten: Dincklage als Offizier, Hainstock, der Kommunist, Käthe Lenk, die spontan handelnde Antifaschisten, Schefold, ein Kunsthistoriker, sie alle Antifaschisten und von der Sinnlosigkeit und dem nahen Ende des Krieges überzeugt. Diese Konstellation ist mit hoher politischer Bewußtheit gewählt worden. Sie verweist auf Möglichkeiten und Bedingungen geschichtlichen Handelns, auf die Andersch gerade in den siebziger Jahren bei dem Nachdenken, wie 1933 die Niederlage vermeidbar gewesen wäre, wieder und wieder zurückkommt. Das Bündnis der revolutionären Arbeiterbewegung mit nationaldemokratischen Kräften des Militärs und der Intelligenz, die gemeinsame Aktion, hätte die verhängnisvolle geschichtliche Entwicklung verhindern können. Für die Zeichnung des Offiziers standen Andersch nicht nur die geschichtlichen Erfahrungen bedingungsloser Gefolgschaften gegenüber der faschistischen Heerführung, sondern auch die Ereignisse in Portugal zur Einsicht, wo Teile des Offizierskorps eine wichtige Rolle in den revolutionären Ereignissen spielten. Weder besteht der Sinn der Erfindung darin, die Geschichte im nachhinein gedanklich zu korrigieren, noch geht es Andersch darum, die Unausweichlichkeit des Scheiterns geschichtlicher Unternehmungen vorzuführen, vielmehr legt er den konkreten Mechanismus ihrer Motivationen und Handlungsbedingungen frei und stellt sich damit in den Diskussionskontext der siebziger Jahre. Gegen die Rechtfertigungsliteratur der Generäle des zweiten Weltkrieges, die 216
gerade in dieser Zeit in der BRD durch Legitimationsschriften von Nazigrößen komplettiert wurde, gegen den Geschichtsfatalismus im Schlepptau von Krise und Tendenzwende und den Pragmatismus der sich streng auf Fakten einstellenden, angeblichen Realpolitik befragt Andersch eine konkrete geschichtliche Situation nach Alternativen. Die Absicht, geschichtliche Erfahrungen für die Gegenwart verfügbar zu machen, findet auch bei anderen Autoren in dieser Zeit ihre Entsprechung. Dabei geht es einmal darum, „Erinnerungsarbeit" zu leisten, geschichtliche Erfahrungen weiterzugeben, aber vor allem auch darum, Alternativen im geschichtlichen Gang zu ermitteln, die gegenwärtiges Verhalten und Handeln zu beeinflussen vermögen. So hat Peter Weiss mit den drei Bänden seiner Ästhetik des Widerstands eine geschichtliche Bilanz seit den dreißiger Jahren vorgelegt, in der es ihm um die diskursive Erörterung der Bedingungen individuellen, klassenbestimmten und menschheitlichen Fortschreitens und Handelns geht. Christian Geißlcr bringt mit seinem Roman Wird Zeit, daß wir leben Handlungsmodelle zur Diskussion, die der Erörterung harren. Auch in den ästhetischen Verfahrensweisen zeigen sich gewisse Übereinstimmungen in der Art und Weise, wie dokumentierte Geschichte mit erzählerischen Fiktionen zu romanhaften Großformen montiert wird. Andersch geht dabei seinen Weg, knüpft an bestimmte, in seinem eigenen Schaffen ausgebildete Modelle an und bezieht noch konsequenter als bisher den Leser in sein ästhetisches Spiel ein. Das geschieht, indem er sein ästhetisches Versuchsgelände, das „Sandkastenspiel", wie er es nennt, mit höchster Konsequenz als solches sichtbar macht und den Leser in die Intention seiner Versuchsanordnung einbezieht. Die ästhetische Verfahrensweise, die er dafür findet, benennt er in Anlehnung an entsprechende Techniken in der Malerei als 'pointillistisch'. Das Erzählte wird in kleinen und kleinsten Sequenzen mitgeteilt. In Winter speit gibt es zwölf größere und dreiundachtzig kleinere Abschnitte. Einen fortlaufenden Erzählfluß gibt es nicht, die Herstellung der ganzen Geschichte verlangt den aktiven Mitvollzug des Lesers. Die Nahtstellen zwischen den dokumentarischen und erfundenen Elementen des Romans werden vom Autor genau markiert. So wird der Leser in die Absicht des Erzählens einbezogen, zur kritischen Betrachtung des wirklichen geschichtlichen Verlaufs angeregt. „Leichte Retuschen an der Hauptkampfzone" betonen den spielerischen Charakter des Ganzen, ohne daß damit das Dokumentarische verlorengeht. 217
Die ästhetische Struktur des Ganzen ist um zwei novellistische Kerne montiert: zum einen die Liebes- bzw. Dreiecksgeschichte zwischen Hainstock, Käthe („poetisch wunderlieb, eine Windgestalt, ein zärtlicher Roman im Roman"/*15 wie sie Wolfgang Koeppen charakterisiert) und Dincklage, die handlungsauslösende Konstellation, mit der die Figuren zusammengebracht werden; sie ermöglicht, einen Kommunisten und einen Major der faschistischen Wehrmacht in Berührung zu bringen. Der zweite novellistische Kern strukturiert die Handlungsdarbietung. Er ergibt sich aus dem Plan Joseph Dincklages und umfaßt Schefolds Gang durch die Frontlinie, der mit seiner Erschießung durch einen Soldaten der faschistischen Armee endet. Die Anordnung der Erzählsequenzen folgt jedoch weniger dem Handlungsgeschehen, sondern ist um gedankliche Zentren gruppiert, die die Darbietung des Ganzen strukturieren. Die außerordentliche Relevanz dieses ästhetischen Angebots fand in der kritischen Aufnahme durch die professionelle bürgerliche Zeitungskritik in der Bundesrepublik kaum Resonanz. Diese ope rierte in erster Linie rein ästhetisch, ohne den gedanklichen Intentionen dieses ästhetischen Spiels wirklich nachzugehen. Dabei wurden die negativen ästhetischen Urteile, die die Hauptkritiker, in der Frankftirter Allgemeinen Zeitung416 Reich-Ranicki, in der Z«/ 417 Rolf Michaelis, und die des Spiegels abgaben, zumeist mit traditionellen Vorstellungen vom Roman begründet. Ästhetische Kriterien wie fortlaufende Chronologie und Charaktergestaltung wurden herangezogen, die im anderen Zusammenhang von der gleichen Kritik als traditionalistisch verpönt worden waren. Der Kritiker der Frankfurter Kundschau Wolfram Schütte blieb in diesen Kreisen fast die Ausnahme mit seiner Feststellung, daß es sich hier um die „Revision einer verlorenen Partie" 418 handele, während der Rezensent des Spiegel den Unwillen aussprach, den andere Kritiker hinter ästhetischen Argumenten verbargen. Er hielt die „anklägerische Geste gegen Befehl, Gehorsam, Offiziersehre für überflüssig", der historisch-politische Kommentar, den Andersch übermittelt, würde den Leser kühl lassen, die dokumentarische Umrandung wäre „zu aufwendig, der erzählerische Aufwand zu groß". 419 Dagegen entwickelte sich im Umkreis einiger Zeitschriften (Merkur, Kürbiskern, Deutsche Volkszeitung) eine interessante Diskussion, die zeigte, daß nur die demokratische und sozialistische Linke das Angebot dieses Romans produktiv aufnehmen konnte. An ihr beteiligten sich vor allem Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen, Jean 218
Amery, Gerd Fuchs und Friedrich Hitzer, die ihre eigene Position in der geschichtlichen Konstellation bestimmten und den Roman als außerordentliches literarisches Ereignis aufnahmen. In der DDR wurde vor allem mit der Kritik von Max Walter Schulz, die Faszination nicht verbarg und dennoch kritische Akzente setzte,420 eine neue Stufe der Rezeption des Autors eingeleitet, nachdem im Jahre 1972 bereits eine Auswahl aus dem Erzähl werk 421 erschienen war. Der Rezensent befragt die Modellhaftigkeit des Vorgangs nach ihren realen Bezügen und bewertet Anderschs Ästhetik als Ausdruck des „Realismus der Lebenshaltung" und der „realistischen Empfindlichkeit des Weltbildes". Sie bestätige sich als „reale Ästhetik, deren innerstes Wesen deren Anima, das Soziale ist"/'22 Wolfgang Koeppen schätzt Winterspelt als ein großes Werk, als ein Buch, das ihn tief beunruhigt habe. „Ein Buch, das dem Leser den Schlaf raubt, ist ein Buch, das zu lesen sich lohnt. . . Jede Kritik an 'Winterspelt' richtet sich gegen den Kritiker." 423 Jean Amery charakterisiert den Roman als den wesentlichsten Roman über den zweiten Weltkrieg aus deutscher Sicht.424 Der Diskussionskontext, der sich in der BRD entfaltete, ließ erkennen, in welchem Maße der jeweils eigene geschichtliche und politische Erfahrungshorizont in die Betrachtung des Buches eingeht. Er offenbarte sich in der Bewertung der einzelnen Figuren, in der Sicht auf die Linien, die in die Gegenwart führen, und in der Bewertung geschichtlicher Handlungs möglichkeiten. Wir wollen einige dieser Argumente und Lesearten in die eigene Darstellung mit einbeziehen. Figuren als Entwürfe für Handlungsmodelle Andersch setzt für das Durchspielen des Planes von Major Dincklage Figuren unterschiedlicher Herkunft und Weltsicht zueinander in Beziehung. Sie verkörpern Vorstellungen vom Handeln und Überzeugungen, deren Relevanz sich in der Durchführung einer gemeinsamen Aktion beweisen muß. Anhand dieser Vorstellungen und Überzeugungen werden sie bewertbar gemacht. Sie korrigieren sich wechselseitig und bleiben so offen für die Aufnahme durch den Leser. „Ich versuche Menschen, Figuren immer so darzustellen, daß sie offen bleiben, daß es keine klaren und eindeutigen Antworten gibt, weil ich meine, so klare und eindeutige Leute gibt's überhaupt nicht. Das ist ein Prinzip, und das Prinzip geht bei mir so weit, daß, . . . 219
wenn ich ihn genau kenne oder glaube ihn genau zu kennen, dann schreibe ich ihn nicht mehr, dann interessiert er mich nicht mehr, und das ist eigentlich durchgehaltenes Prinzip auch in diesem Buch, die Figuren sind offen, sind nicht ganz k l a r . " 4 2 5 A u s dieser differenzierenden Widersprüchlichkeit der Figuren resultiert auch deren unterschiedliche Einschätzung durch Leser, die das Angebot jeweils auf den eigenen gedanklichen Horizont beziehen. Mit Dincklage zeichnet Andersch das Bild eines Offiziers der faschistischen Wehrmacht, der sich gegen E n d e des Krieges über seinen Ausgang vollkommen klar ist, seine mögliche Beendigung militärtechnisch erwägt, aber zum entschiedenen Handeln auf Grund seiner Einbindung in die Hierarchie der Armee und der Verinnerlichung ihrer Ehrbegriffe nicht in der Lage ist. Ein Moment emotionalen Überschwangs ist dafür verantwortlich, daß er Käthe in seinen Plan einweiht. Andersch zeichnet Dincklage als einen „ethischen Charakter", bei dem Denken und Handeln weit voneinander entfernt liegen und dessen Illusionen, den Wehrmachtseintritt als Möglichkeit zu sehen, den Faschismus „auf halbwegs saubere Art zu überstehen", für fragwürdig erklärt werden. Wolfgang Koeppen hat bei der Erörterung des Falles Dincklage geschichtliche Bezüge zu Graf Yorck und der Konvention von Tauroggen hergestellt und nach der Verantwortung militärischer Führer für das Geschick Deutschlands gefragt. Koeppen meint, daß eine solche geschichtsbuchreife Tat nicht möglich war, und dennoch: „Wäre sie ihm [Dincklage] mit einem kleinen Haufen gelungen, hätte das an sich nicht viel zu bedeuten, aber immerhin die Neutralisierung eines Truppenteils, eine Hochrechnung im Führerhauptquartier und hoffentlich ein Beispiel"' 1 2 6 . Gleichzeitig auf die Gründe für die Unterlassung dieser Tat eingehend, stellt er fest, „Dincklage war sich über gar nichts klar. E s ist der Roman der Konspiration der höheren Ränge in Hitlers Wehrmacht. Der Eidbruch konnte nie gelingen. Die Soldaten wußten nicht, was die Offiziere wollten. E s war ihnen auch gleichgültig. Sie hatten andere S o r g e n . " 4 2 7 Amery zieht die Lebenslinien der Figuren bis in die Gegenwart. E r bringt seine Erfahrung als jüdischer Emigrant in Belgien ein, wenn er schreibt: „ E r [Dincklage] war doch einer von den martialischschick uniformierten Herren, denen ich zwischen 1941 und 1943 im deutschbesetzten Westen auf Schritt und Tritt begegnet bin . . . Wie konnten sie ihr Ritterkreuz tragen, Dincklage, während andere 220
mit dem gelben Stern sich an die Mauern drückten? Ich weiß, sie senkten die Augen, wenn sie ihrer ansichtig wurden. Sie blickten weg von den grauen Hausmauern mit den kalkweißen Anschlägen der Kommandantur, die wortökonomisch von Geiselerschießungen berichteten. Sie dachten nach und taten dennoch ihren Dienst." 428 Die Existenz einer solchen Figur wird für Amery auch nicht durch die Tatsache gerechtfertigt, daß die Amerikaner nun „sowieso die Schlächter von Vietnam sind"'529. Friedrich Hitzer hat gegen diese nur negative Sicht auf die Erfahrungen mit Militärs auf das Beispiel Chile und Portugal verwiesen, wo es auch innerhalb der Armeen positive Entscheidungen gab. Größere Differenzen in der Aufnahme ergaben sich bei der Sicht auf Käthe und vor allem Hainstock, den Kommunisten, der von Koeppen und Amery als resignierende Figur gesehen wird. „Er weiß, der Krieg ist verloren, und nichts und gar nichts wird sich für Hainstock ändern, in der Steinbruchbude ein trockener Mosel" 430 , heißt es bei Koeppen, und Amery: „Der Wenzel Hainstock hat sein Leben gründlicher verloren als der faschistische Major Dincklage: diesen schirmen, sofern er nicht gefallen sein sollte - seine Bildung und sein Besitz ab gegen den Ansturm einer unerträglichen Zeit; er, Hainstock, aber ist verlassen von allen guten Geistern . . . Auch ist er seelisch übel dran, der Alte, seit er nicht mehr glaubt, es sei die Sowjetunion das Vaterland der Werktätigen, und nicht mehr Marx zitiert. Ja, die Genossen haben ihn zerbrochen, den Wenzel, mit weit fürchterlicherem Druck noch als damals Hitler." 431 Gerd Fuchs hat seine Rezension dagegen überschrieben: Hainstock weist den Weg.'tXl Er betont, daß ohne Hainstock Käthe verloren gewesen wäre. Andersch hat in seinen autobiografischen Notizen diese Aussage korrigiert: „Nein, das tut Käthe. Hainstock weiß, was richtig, Käthe, was wahr ist. Weil Hainstock weiß, was richtig ist, bleibt er widerwillig, brummig, bis zuletzt, während Käthe eine Tapferkeit entwirft, die aus dem Spiel Wirklichkeit machen soll." Und Andersch fügt resümierend hinzu: „Der Realismus und das Unbedingte. Nur das Unbedingte ist es, das von Zeit zu Zeit aus einer realistischen Erkenntnis Wirklichkeit macht." 433 Andersch räumt Käthe innerhalb seiner ästhetischen Konstruktion die Funktion eines die Handlung auslösenden Akteurs ein, sie ist es, die Dincklages Plan gegen Hainstocks abwartende Erwägungen ins Stadium praktischer Realisierung führt und den Zusammenhang zwischen den beteiligten Figuren herstellt. Ihren Handlungsspielraum hat Andersch 221
auf Grund ihrer Ungebundenheit weit gesteckt, er zeichnet sie als spontane, sympathische, sich selbst nicht schonende Frau, deren unbedenkliche Leichtfertigkeit stets aber auch Korrektive braucht. Gegenüber Käthes Spielraum ist Dincklages Handlungsraum begrenzt. Er ist in die Organisation der Armee eingeschlossen und hat Vorstellungen von der Offiziersehre verinnerlicht. Sie ersetzen bei ihm Eigenverantwortung. Hainstock analysiert die Lage, prüft die Bedingungen, richtet sich entsprechend den Gegebenheiten ein und dringt nicht auf unbedingtes Handeln. Schefold, der Kunsthistoriker, sieht die Wirklichkeit in den vorgeprägten Bildern der Kunst und kommt schwer zu den wirklichen Dingen zurück. Die Botengänge zwischen den Fronten macht er aus weltfremder Vertrauensseligkeit. In den an Hainstock adressierten Briefen faßt Andersch einen möglichen Erfahrungsgewinn dieses Intellektuellen zusammen, seine Einschätzung „des Herrn Dincklage" ähnelt der Hainstocks. Die ästhetische Realisierung des Ganzen läßt keine eindeutigen Favorisierungen bestimmter Handlungsmodelle und Verhaltensweisen zu. Es erfolgt - auch für Käthe - eine wechselseitige Relativierung und Korrektur der Standpunkte und Haltungen. Dem Leser stehen für sein Urteil die in Form von Biogrammen dargebotenen Lebensgeschichten mit ihren geschichtlichen und individuellen Hauptstationen, die dialogischen Partien des Romans, in denen Argumente geprüft und verworfen werden, der handlungsbestimmende ästhetische Stellenwert der Figur und ihrer Rolle für die Aktion zur Verfügung. Entsprechend ihrer Rolle als Vermittlerin und Initiatorin wird Käthe stets in dialogischen Situationen mit Hainstock und Dincklage dargestellt. Ihre Handlungsbereitschaft muß sich hier an Tatsachen überprüfen und zu den militärtechnischen Erwägungen Dincklages und Hainstocks über eine „fehlende Massenbasis" in der Armee in Beziehung setzen. Durch Käthes Handlungsbereitschaft sind deren Argumente nicht entkräftet, sie werden in der Analyse durch den amerikanischen Captain Kimbrough bestätigt. Sie berühren die unkalkulierbaren Faktoren und Unwägbarkeiten einer kampflosen Übergabe, die ohne die Unterstützung der ganzen Truppe ein unübersehbares Risiko bedeuten würde. Diese Argumente behalten gegen Käthes unbedingten Handlungswillen ihr Gewicht, sie bilden den geschichtlichen Bedingungsrahmen, an dem sich ein solcher Handlungswille bewähren muß. Wolfgang Koeppen hat zur Erklärung dieser Konstellation 222
Tolstois Krieg und Frieden herangezogen und zitiert: „Was ist die Ursache der historischen Ereignisse? Macht. Was ist Macht? Macht ist die Gesamtheit vieler Willen, auf eine einzelne Person übertragen. Unter welchen Bedingungen wird der Wille der Massen auf eine einzelne Person übertragen? Unter der Bedingung, daß diese Persönlichkeit den Willen aller Menschen zum Ausdruck bringt. Das heißt: Macht ist Macht. Das heißt: Macht ist ein Wort, dessen Bedeutung uns unverständlich bleibt." 434 Friedrich Hitzer hat dem entgegengehalten, daß mit der Annahme der „Unerklärbarkeit der Macht" gerade der Zugang zu dem versperrt bleibt, was Andersch „zu entschlüsseln" versucht.435 Der gedankliche Konzentrationspunkt des Buches besteht gerade in der Spannung zwischen der Analyse der vorgegebenen Bedingungen und dem Spielraum möglicher Handlungen. Damit löst Andersch gerade jenen anonymen Machtfetischismus auf, der Macht und Mensch in antinomische Größen verwandelt, und zeigt die Mechanismen, die Macht über Menschen entstehen lassen und die im Handeln der Menschen zu durchbrechen sind. Dabei geht es Andersch auch um die individuellen Handlungsmotivationen, die allerdings aus den biografischen und geschichtlichen Voraussetzungen eher zufälligen Charakter gewinnen. Motiven für unterlassenes Handeln geht er nicht nach, weil er dem Nichthandeln keine weiteren Legitimationen nachschicken will. „Im Gegensatz zu der nichtvorhandenen Literatur über den Fall Dincklage gibt es ja eine bereits unübersehbare zum Thema der Aufstandsversuche deutscher Offiziere gegen Hitler, welche die Überlegungen, weltanschaulichen Motive, Argumente und Gefühle dieser tragischen Gestalten, vor allem aber die Anzahl und Stärke ihrer Gewissensskrupel auf das minutiöseste katalogisiert. Ihr kann nach Belieben entnommen werden, was am Bild der Ursachen von Dincklages Projekt fehlen mag . . . Er [Schefold] hatte keine Lust, den jungen amerikanischen Hauptmann mit Auszügen aus jener Literatur der Rechtfertigung zu langweilen, die damals noch gar nicht geschrieben war." 436 Es geht Andersch vor allem um die objektiven Handlungsbedingungen. Die aus der Analyse der militärischen und politischen Situation gewonnenen Faktoren werden nicht entkräftet, sondern durch den Ausgang des von Dincklage nur halbherzig begonnenen Planes - seine Unentschiedenheit hat den sinnlosen Tod Schefolds zur Folge - eher noch bestätigt. Im Psychogramm des Obergefreiten Reidel, der den als Boten fungierenden Schefold einfach niederschießt, hat Andersch ein treffendes Bild jener unkalkulierbaren 223
politischen und individuellen Faktoren vermittelt, die auf diese oder eine andere Weise das Handeln und Verhalten der Angehörigen der Naziwehrmacht bestimmten. Das Risiko geht Dincklage ein, obwohl er seinen Plan längst ad acta gelegt hat. Damit zeigt Andersch, wie weit die Offiziersehre reicht: nur bis zum Schutz der eigenen Person. Der sinnlose Tod des Kunsthistorikers bekräftigt die Argumente Hainstocks, der an eine Offiziersehre nicht glaubt und dem Plan mit großem Widerwillen und Skepsis gegenübersteht. Die Beziehung zwischen Käthe und Hainstock ist von Andersch so aufgebaut worden, daß Käthes Kriegsgegnerschaft „dank Wenzel Hainstocks Unterricht ein klares politisches Bewußtsein" bekam, das ihrem spontanen Handlungswillen überhaupt erst eine zielgerichtete politische Dimension verlieh. Die wichtigsten Aufschlüsse über ihre beiderseitige persönliche und politisch-weltanschauliche Beziehung vermittelt Andersch in einem der Hauptkapitel unter der Überschrift „Entstehung einer Partisanin". Die politische Führungsrolle Hainstocks akzeptiert Käthe („Ohne Wenzel wäre ich verloren . . .."/'37), durch ihn bekommt sie eine Ahnung von der Rolle des weltverändernden Denkens. In einem der Weltanschauungsgespräche zu Beginn ihrer Bekanntschaft legt Andersch Hainstock Argumente gegen ihren geschichtlichen Fatalismus in den Mund. Auf ihre Worte: „Weißt du, ich glaube nicht, daß es in bezug auf geschichtliche Ereignisse viel Sinn hat, Konditionalsätze aufzustellen", erwidert Hainstock: „Das ist die reaktionärste Ansicht, die ich je gehört habe . . . Wenn man darauf verzichtet, sich vorzustellen, wie etwas hätte sein können, verzichtet man auf die Vorstellung einer besseren Möglichkeit überhaupt. Dann nimmt man die Geschichte hin, wie sie eben kommt." 4 3 8 Hainstock spricht hier einen zentralen Gedanken des Romans aus, und so läßt ihn Andersch innerhalb des Handlungsgeschehens eine in die Geschichte eingreifende Idee vertreten, stattet ihn mit der Kraft analytischer Präzision im Denken aus, mit der Fähigkeit, situationsbestimmende Faktoren genau zu erfassen. Hainstock handelt nicht, lebt zurückgezogen wie ein Waldkauz, aus seinem Versteck heraus beobachtet er seine Umgebung, ohne selbst gesehen zu werden, richtet sich in die Gegebenheiten ein, arrangiert sich mit Blick auf die Nachkriegsverhältnisse, die keine revolutionären Umwälzungen bringen werden, wie er vermutet. In Käthes Vorstellung nehmen Dincklage und Hainstock gewisse Ähnlichkeiten an, weil bei Hainstock die Revolution den Charakter einer abstrakten 224
Idee angenommen hat, ähnlich wie bei Dincklage, wenn er von seinem Plan spricht. Käthes spontaner Handlungsbereitschaft erkennt Andersch die Priorität zu, ohne die weitschauende politische Strategie und Analysefähigkeit Hainstocks würde sie allerdings kein G e wicht erhalten. Mit der Figur Käthes hat Andersch die Möglichkeit einer aktionistischen Handlungsform gedanklich und ästhetisch erprobt, ihre Rolle und geschichtliche Bedeutung sieht er in Abhängigkeit von den konkreten Situationen und Konstellationen, innerhalb dieses K o n textes steckt er ihren Wirkungsradius ab. In der moralischen U n bestechlichkeit und Spontaneität, in der unbedingten Absicht, Pläne und Ideen nach ihrer praktischen Realisierbarkeit zu befragen, sieht Andersch jene zufälligen und individuellen Antriebe des Handelns, wie sie aus dem Charakter des einzelnen und aus der Situation bestimmter Umstände erwachsen können. Er räumt ihnen innerhalb organisierter Formen des Handelns unter bestimmten Umständen eine Initialfunktion ein. Mit Hainstock setzt Andersch ein Figurenmodell innerhalb seines eigenen Werkes fort. Gregor aus Sansibar oder der letzte Grund, Fabio aus Die Rote, Annas Vater aus Efraim und schließlich Hainstock sind Kommunisten, die sich von der Partei getrennt haben oder auf Grund geschichtlicher Konstellation von ihr isoliert wurden. Diese Anlage ist Anderschs biografischer Grunderfahrung geschuldet, die seine frühzeitige Trennung von der proletarischen Organisation nach sich zog. Hainstock ist in Anderschs Werk allerdings der erste T y p eines politischen Funktionärs, der i n n e r h a l b der Partei antifaschistischen Widerstand leistet. E r bringt dafür viele Jahre im K Z Oranienburg zu. Seine Freiheit verdankt er einem jener unglaublichen Zufälle, die Andersch auch entsprechend apostrophiert; ein kapitalistischer Unternehmer sucht einen Fachmann für Steinbrüche, um sich auf diese Weise zugleich auch eine Rückversicherung für die Zeit nach dem Kriege zu verschaffen. Hainstock gerät ohne subjektive Absicht in Isolation von seinen Genossen und richtet sich in die Gegebenheiten ein. Diese Isolation ist der Preis für das Überleben, sie bestimmt die Perspektive für den Wirkungsraum nach dem Kriege. Der Autor hat die äußerste Konsequenz dieser Situation im R o m a n nur angedeutet und nicht ausgeschrieben, obwohl er es ursprünglich wollte, wie ein Einleitungsentwurf aus dem Nachlaß Fallengelassenes und andere Vorsätze verrät: „ A m nächsten hätte es gelegen, die ganze story von Wenzel Hainstock erzählen zu lassen. Seine erwiesene 15
Reinhold. Andersch
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Vormacht und seine Schweigsamkeit würden dafür sorgen, daß er die Sache richtig und zusammenhängend wiedergibt, auch wenn man sie seinen Zähnen entreißen müßte. Er ist der einzige der Akteure, der in der Gegend geblieben ist: zwar wohnt er nicht mehr in Winterspelt, aber nicht weit entfernt davon, in Schönecken; er ist nicht mehr Verwalter der damals stillgelegten Quarzit-Steinbrüche bei Winterspelt, sondern hat sich im Jahre 1955, seinen sozialistischen Überzeugungen zum Trotz, mit Hilfe eines Bankkredits, den die Kreissparkasse Prüm einem Mann wie ihm geradezu nachschmiß einen Kalksteinbruch bei Ellwerath gekauft, ist also Unternehmer geworden. (Allerdings unternimmt er nicht viel; von sechs, höchstens acht Arbeitern läßt er aus dem hellblauen, fossilreichen Kalk kleine Mengen Bausteine brechen.) Vielleicht könnte ich ihn dazu bewegen, Licht in die Angelegenheit Dincklage zu bringen, wenn ich ihn davon überzeuge, daß er in der Lage wäre, ein interessantes, ja einmaliges kriegsgeschichtliches Vorkommnis aufzuklären." 439 Warum Andersch diese Version fallenließ, kann nur vermutet werden. An die Stelle möglicher Erzählperspektiven sind dokumentarische Kapitel Feindlage militärisch und Feindlage geistig getreten, die den spezifischen, Dokument und Fiktion verbindenden Charakter des Buches konstituieren. Andersch hat auf die Schilderung von Hainstocks Unternehmer-Dasein nach dem Krieg wohl deswegen verzichtet, um die Momente des subjektiven Versagens zurückzudrängen und die Objektivität der geschichtlichen Umstände zu betonen. Einzig bei Käthe sind die Lebensbedingungen so, daß sie gewissermaßen vogelfrei ist. Sie hat nichts zu verlieren, sie kann jederzeit aufbrechen und gehen. Sie ist diejenige der Figuren, die am unmittelbarsten Anderschs existentialistisch intendierte Freiheitsauffassung verkörpert. Der Wechsel der Blickpunkte und der argumentativ-erörternde Charakter des Romans veranlaßt den Leser, eigene urteilende Sicht einzunehmen und die Handlungsmodelle in ihrem Bezug zur Realisierung des Planes zu bewerten. Die synchrone Führung der Figuren, die stete Veränderung der erzählerischen Perspektiven, die die nichtchronologische Anordnung der Handlung nach sich zieht, bringt den Leser auf eine Distanz, die ihm den Kunstcharakter des Romans ständig bewußt hält und zur Folge hat, daß er sich als Teilnehmer an einem gedanklichen Experiment empfindet. Die Montage einzelner Handlungsstränge geschieht nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan; Andersch läßt seine Figuren keinen 226
Moment aus dem Blick, hält alle erzählerischen Fäden in der Hand und tut sich in der ironischen Distanz kund. Auch der Aufbau kompositorischer und gedanklicher Spannungsbögen, die den inneren Zusammenhalt des Romans gewährleisten und den Leser in Atem halten, verrät die künstlerische Meisterschaft seines Schöpfers. Diese' Spannungsbögen gruppieren sich um den Kern des Geschehens am 12. Oktober 1944: Es setzt mit der „Meldung über einen Vorfall auf Posten" ein, d. h. darüber, daß Schefold durch die amerikanischen und deutschen Linien hindurch dem Major Dincklage ein Zeichen geben soll, das ihm den Ernst der Amerikaner verbürgt. Schefold stößt dabei auf den Oberfeldwebel der faschistischen Wehrmacht Reidel, der gerade am Überlegen ist, wie er einer wahrscheinlichen Meldung über seine homoerotische Annäherung an den Schützen Boreck begegnen kann. Schefold kommt ihm da wie gerufen. Während des Gangs von der vordersten Linie zum Bataillonsgefechtsstand vermittelt Andersch in wechselnden inneren Monologen nicht nur treffende Psychogrammc zweier unterschiedlicher politischer Charaktere, sondern baut eine Spannung über die Erörterung eines möglichen Ausgangs dieser Begegnung auf, die das kompositorische Rückgrat des ganzen Handlungsgeschehens bildet. Ein weiteres Spannungselement entsteht über den gedanklichen Mitvollzug der Frage, wer und was die Realisierung des Planes denn nun eigentlich verhindert hat, denn über seine Nichtausführung wird der Leser vom Anfang des Romans an nicht im Ungewissen gelassen. „Es mag scheinen, als sei, indem Dincklages Plan enthüllt wurde, die Katze aus dem Sack der Erzählung gelassen worden. Davon kann nicht die Rede sein. Diese Erzählung macht sich nichts daraus, zu erzählen, ob und wie es dem Major Dincklage gelingt oder mißlingt, ein nahezu kriegsstarkes deutsches Bataillon den Amerikanern zu übergeben. Obwohl sie sich als Schauplatz einen zu jener Zeit wirklich wilden Westen gewählt hat, kann sie sich nicht entschließen, zum Western zu geraten. . . . Schön wär's ja, . . . aber wie jedermann weiß, hat es die Übergabe eines Bataillons durch seinen kommandierenden Offizier an den Feind während des zweiten Weltkrieges . . . nicht gegeben . . . So weit darf Erzählung die Fiktion nicht treiben. Ihr genügt ein Sandkastenspiel."™ Aus dem möglichen Plan wird auch in der ästhetischen Fiktion kein wirklicher Plan, sondern er bleibt ein Planspiel. Das Interesse des Lesers wird nicht auf Schritte seiner tatsächlichen Realisierung die Mitteilungen über Schefolds Unterredung mit den Amerikanern 15*
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geschehen eher beiläufig sondern auf die Analyse der Faktoren gelenkt, die seiner möglichen Realisierung entgegenstehen. Aber nicht sie sind es, die seine Ausführung verhindern. Die Aktion findet nicht statt, weil Dincklage nicht h a n d e l t , weil er seinen Plan abbläst, noch ehe er mit der Vorbereitung begonnen hat, weil er sich dem Befehl seiner Oberbefehlshaber selbstverständlich fügt, zum nächsten Fronteinsatz abkommandieren läßt und damit den Krieg verlängern hilft. Die erwogenen Einzelheiten der möglichen Realisierung eines solchen Vorhabens bilden den Spielraum für die gedankliche Erprobung einer geschichtlichen Aktion, die dem Krieg eine Wende hätte geben können, zumindest tausenden Menschen das Leben gerettet hätte. Die gedankliche Spannung entsteht aus dem Fakt, daß dieses Handeln unterlassen wurde. Obwohl der Leser das weiß, korrigiert er probeweise diese Tatsache und wird so vom Autor zur gedanklichen Prüfung der geschichtlichen Abläufe gebracht. Andersch bedenkt nicht nur die Risiken des möglichen Handelns, sondern auch den Preis seiner Unterlassung: den sinnlosen Tod Schefolds und die Opfer der Ardennenoffensive. Im dokumentarischen Schlußteil des Buches werden sie statistisch aufgelistet. Gegenüber diesen Opfern des unterlassenen Handelns durch die linken Kräfte bejaht Andersch die Notwendigkeit zum Handeln mit all seinen Konsequenzen. In diesem Sinne ist das Buch auch ein Aufruf zur Tat und ein analytischer Aufschluß ihrer Bedingungen und Risiken. „Winterspelt" — ein Roman Von einigen Kritikern wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit sich die zerstückelte, aus vielen unterschiedlichen Elementen zusammengefügte Erzählstruktur von Winterspelt als Roman definieren läßt. Die Erzählform unterscheidet sich tatsächlich vom konventionellen Bau eines Romans. Auf die doppelte novellistische Struktur der Handlungskerne, die sich aus wechselnden personalen Perspektiven freilegten, wurde bereits hingewiesen. Neben diesem erzählerischen Element ist der Roman aus sehr verschiedenen epischen Elementen aufgebaut. Er enthält berichtende Elemente, mit denen in den Biogrammen die wichtigsten individuellen Entwicklungsbedingungen und Daten der handelnden Figuren referiert werden. Die dokumentarische 228
Ebene steckt den Rahmen der politischen, militärischen Bedingungen für das Handlungsgeschehen ab und bezieht dessen spätere Interpretation durch die Kriegsgeschichtsschreibung polemisch mit ein. Ein weiteres wichtiges Element bilden die essayistischen Exkurse, die teils den Biogrammen eingefügt sind, teils selbständigen Charakter tragen. Sie sind entweder bestimmten Figuren zugeordnet und charakterisieren deren Auffassungen und Handlungsantriebe, oder es sind Ausführungen über die geologische Beschaffenheit verschiedener Steinbrüche und deren ästhetischen Wert für Hainstock, der sie studiert und mit ihnen praktischen Umgang hat, über Dincklages Studien der Nationalökonomie, die ihn auch mit den Lehren von Karl Marx in Berührung gebracht hatten. Kunstgeschichtliche Erörterungen aus der Sicht Schefolds werden für die Beschreibung der Eifel-Landschaft mit herangezogen. Diese kunsthistorischen Exkurse und Bezüge besitzen innerhalb des Romans noch einen besonderen Stellenwert. Hier wird die Besonderheit ästhetischer Welterfahrung zur erzählerischen Struktur des Romans in Beziehung gebracht. Mit Schefolds Lieblingsbild, Paul Klees Polyphon umgrenztes Weiß, das er vor der Vernichtung durch die Faschisten aus dem Frankfurter Städel-Institut gerettet hat, wird ein sinnbildlicher Fingerzeig auf die ästhetische Struktur des Ganzen gegeben. Im Zusammenklang der verschiedenen erzählerischen Elemente hat der Roman etwas von einer Polyphonie. Der Titel des Bildes assoziiert den Charakter des Romans: Um eine geschichtliche Leerstelle herum wird eine vielstimmige Diskussion entfaltet. Mit einer Notiz von Paul Klee verweist der Autor auf diesen inneren Zusammenhang noch einmal: „Die einfache Bewegung kommt uns banal vor. Das zeitliche Element ist zu eliminieren. Gestern und Morgen als Gleichzeitiges. Die Polyphonie in der Musik kam diesem Bedürfnis einigermaßen entgegen. . . . Die polyphone Malerei ist der Musik dadurch überlegen, als das Zeitliche hier mehr ein Räumliches ist. Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reicher hervor." 441 Andersch stellt die Ästhetik seines Romans damit in die umfassenden Bemühungen der Kunst unseres Jahrhunderts, den komplexen Zusammenhängen der Wirklichkeit, ihrer zeitlichen und räumlichen Vieldimensionalität mit entsprechenden künstlerischen Verfahren beizukommen. In Winterspelt werden geschichtliche Vorgänge eines ganzen Jahrhunderts und räumlich auseinanderliegende Ereignisse (in Böhmen, Berlin, in den Südstaaten der USA) auf einen Punkt zusammengebracht. Diese vielschichtige chronologische und räum229
liehe Staffelung der ästhetischen Dimension des Romans ist nur in dieser intensiven Raffung, im präzisen Konstruktionsplan zu verwirklichen. In der Aufnahme exkursartiger, essayistischer Einschöbe hat Andersch an eine mit Thomas Manns Romankunst verbundene Tradition wieder angeknüpft, die schon in seinem bisherigen Werk angelegt war. Auch er erarbeitet sich die jeweiligen sachlichen Informationen sehr genau, benützt dazu Quellen und verwendet Dokumente. In der gleichen Tradition steht Anderschs Art und Weise, disparate Elemente des Ganzen zu integrieren und auf weltanschauliche Diskussionspunkte zu lenken. Der weltanschauliche Diskurs um das Problem von objektiver Determination und subjektivem Handlungsraum, von Schicksal, Gesetzmäßigkeit, Zufall und Aktion, ergibt sich aus der erzählerischen Inszenierung eines Kammerspiels, indem das Verhältnis von Freiheit und Handeln an der Objektivität des geschichtlichen Prozesses erprobt wird. Während Andersch diese Frage in früheren Werken vor allem unter den Prämissen individueller Moral behandelt hat, wirft er hier die Frage nach der Moral des politischen Handelns auf. Die Erörterung dieses Problemkreises ist die Integrationsebene, auf der die verschiedenen erzählerischen Elemente und Struktureinheiten zusammenkommen. Der Rahmen dieses weltanschaulichen Dialogs wird durch zwei Zitate abgesteckt, die Andersch an zentraler Stelle plaziert: Das eine ist Marx entnommen und beinhaltet die Grundeinsicht des Marxismus, daß das Bewußtsein der Menschen durch ihr Sein bestimmt ist, das andere, von Jean-Paul Sartre, in dem der Mensch als sein eigener Entwurf apostrophiert und die Freiheit der Entscheidung begründet wird. Diese Entscheidungsfähigkeit wird in Winterspelt zu den Bedingungen des historischen Prozesses ins Verhältnis gesetzt und in Hinblick auf dessen geschichtliche Alternativen durchgespielt. Den Bezug zu Thomas Mann verraten u. a. auch die fallengelassenen „Vorsätze" für eine mögliche erzählerische Perspektive, für die sich Andersch einen Chronisten nach dem Muster von Serenus Zeitbloom erfinden wollte. Im ersten fallengelassenen Vorsatz heißt es, in auffälliger Annäherung zu Thomas Manns Doktor Faustus: „Mein Name steht auf dem Titelblatt. Ich verstecke mich nicht hinter irgendeiner Gestalt ä la Serenus Zeitbloom (den ich hoch verehre!), obwohl ich eine Weile mit dem Gedanken gespielt habe, mir einen solchen Chronisten zu erfinden, beispielsweise einen inzwischen gealterten Pfarrherrn, der seit dem Krieg auf seiner elenden 230
Pfarre in Winterspelt hocken geblieben ist (weil er sich aus irgendwelchen G r ü n d e n bei der Diözese in Trier unbeliebt gemacht hat) und der nun, aus A b n e i g u n g g e g e n jenen sich ausbreitenden architektonischen Verrat a m Rande der D ö r f e r , der sich B u n g a l o w s nennt, g e g e n die neuen Fabriken in Prüm, gegen die Errichtung des Wintersport- und E r h o l u n g s z e n t r u m s 'schwarzer Mann' in der Schnee-Eifel und aus N o s t a l g i e nach einer G e g e n d , die im J a h r e 1944 noch so altertümlich war, daß sich in ihr der Fall D i n c k l a g e ereignen konnte, aufschreibt, was ihm damals zugetragen wurde, ja einiges, vielleicht alles, damals. In einem Eifeldorf ist der Pfarrherr ^(auch heute noch) die zentrale F i g u r ; man bringt ihm nicht nur Eier und Speck. Ich darf gar nicht zu lange über die Möglichkeit, meinen Bericht aus dieser Perspektive anzufertigen, nachdenken, sonst lasse ich mich verführen . . . Was mich d a v o n abhält, ist der U m s t a n d , daß der Pfarrer v o n Winterspelt in meinem Bericht nicht v o r k o m m t ; ich habe ihn ausgelassen, weil er im Ablauf der Ereignisse keine Rolle gespielt hat. E r hat den ganzen Herbst 1944 ziemlich versteckt in seinem Pfarrhaus zugebracht, blieb sozusagen unsichtbar. D i e Kirche liegt erhöht und etwas abgesondert auf einem H ü g e l a m südwestlichen D o r f r a n d . " 4 4 2 Die Faszination, die v o n T h o m a s Manns Werk für Alfred Andersch a u s g i n g , ist schon seinem E s s a y aus d e m J a h r e 1949 abzulesen. Seine frühe Prosa verrät, wie er durch A t m o s p h ä r e und F i g u r e n konstellationen des geschätzten Vorbildes sich anregen ließ. Bis in die Figurenkonstellation der Schulstunde und die A t m o s p h ä r e v o n A n g s t und schulischem Drill in seiner letzten E r z ä h l u n g Der Vater eines Mörders ist diese produktive A n r e g u n g greifbar und die angstvoll erlebte Schulstunde durch T h o m a s B u d d e n b r o o k assoziierbar. Winterspelt stellt gewissermaßen die S u m m e der p r o d u k t i v e n Anreg u n g e n durch die R o m a n k u n s t T h o m a s Manns unter Beweis. Sie äußern sich im dialogisch gefächerten G r u n d g e s t u s des Erzählens, im Perspektivwechsel, im erzählerischen Z u s a m m e n h a n g disparater Elemente und in der distanziert ironischen D a r b i e t u n g . A u c h die seit Sansibar oder der letzte Grund erprobte V e r k n ü p f u n g v o n Figurenphysiognomien und Farben findet in Winterspelt zu meisterhafter A u s f o r m u n g . Aber in Winterspelt sind auch noch andere für Anderschs G e s a m t w e r k wesentliche Traditionsbezüge eingegangen. In zwei vorangestellten Motti verweist er selbst auf sie. H e m i n g w a y s Kriegsreportagen v o n der Ardennenfront in 4 9 Depeschen entnimmt er die atmosphärische Schilderung des Kriegsschauplatzes: „ E s war 231
kalt, es goß, ein halber Sturm wehte, und vor uns lagen wie eine Mauer die schwarzen Forsten der Schnee-Eifel, wo die Drachen hausten." 443 Das Gespenstische dieser Landschaft hat Andersch in einer frühen Erzählung, Die 'Letzten vom Schwarzen Mann, als Widerhall eines gerade vergangenen Krieges im Motiv des Wiedergängers dargestellt. In dieser Erzählung tauchen das erste Mal die Namen Winterspelt und Schnee-Eifel als Mahnung an die Lebenden auf, die Toten des letzten Krieges nicht einfach aus dem Gedächtnis zu tilgen. Andersch hat selbst darauf hingewiesen, in welchem Maße diese historische Landschaft für ihn zugleich „Lebenslandschaft" ist, wie sie Jahrzehnte hindurch seine Erinnerung beschäftigte. Das Hemingway-Zitat erinnert nicht nur an ein frühes literarisches Vorbild, dessen Einfluß in vielen Kurzgeschichten und in der ästhetischen Programmatik der frühen Nachkriegs jähre nachweisbar ist, sondern erinnert an antifaschistische Gemeinsamkeit mit den Amerikanern, die Andersch über alle desillusionierenden Vorgänge in bezug auf die imperialistische Politik der USA nach dem zweiten Weltkrieg positiv wertet. Das zweite Motto, Faulkner entnommen, „Das Vergangene ist nie tot; es ist nicht einmal vergangen" 444 überantwortet diese geschichtliche Erfahrung der Gegenwart, für die die gemeinsame Aktion zwischen deutschen und amerikanischen Antifaschisten als positive Möglichkeit festgehalten werden soll. Als Erfahrung über die Geschichte stellt sie so die Fragwürdigkeit der amerikanischen These von der Kollektivschuld der Deutschen heraus und vermittelt eine Vorstellung von den Veränderungen, die das Amerika-Bild im Werk und Denken Anderschs in den vergangenen Jahren erfahren hat. Das Bild Amerikas in „Winterspelt" In die Zeichnung der Figurenkonstellation auf der amerikanischen Seite hat Andersch die Erfahrungen der Nachkriegszeit, die politische Augenzeugenschaft über drei Jahrzehnte amerikanischer Weltmachtpolitik, ihre Rolle in Südamerika, Vietnam und die innenpolitischen Skandale um Watergate mit verarbeitet. Die Erfahrungen dieser Zeit faßt er 1975 in seiner Antwort auf die Frage eines Reporters : „Glauben Sie angesichts der weltweiten CIA-Aktivitäten noch an eine vertrauenswürdige demokratische Außenpolitik der USA?", mit einem klaren „Nein" zusammen.445 In einem Prospekt des Diogenes Verlages zur Ankündigung des Buches ist, neben Karten, 232
Gefechtsskizzen, Bildern von Winterspelt vor und nach dem Kampf, Auszügen aus dem Text, eine „Fotografie des größten Gemäldes der Welt, darstellend die erste Schlacht von Atlanta 1864", und außerdem „der lebensnahe Schnappschuß zweier feindlicher Generäle, Hasso von Manteuffel und Bruce C. Clarke, geknipst zwanzig Jahre nach den Ereignissen von Winterspelt, in den Ardennen, in der Schnee-Eifel und, natürlich, einig und kameradschaftlich versöhnt" 446 zu sehen. Damit wird eine Konstellation des Buches polemisch aufgenommen, die die Widersprüchlichkeit der amerikanischen Kriegführung gegen Hitlerdeutschland im Spiegel der Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg beleuchtet. In der differenzierten Darstellung der amerikanischen Seite hat Andersch jenen Kräften handlungsbestimmendes Gewicht verliehen, die, wie Major Wheeler, in Übereinstimmung mit der Armeeführung „die Internationale der Offiziere" bilden und einen Verhaltenskodex von militärischen Ehrvorstellungen vertreten, in dem Verantwortung für die Menschen und für ihr Leben keinen Platz hat. Die kampflose Übergabe einer Einheit ist für sie Verrat. Andersch enthüllt in der Figur Wheelers auch das machtpolitische Kalkül, das hinter diesem Offiziersehrenkodex steckt. Es ist auf die Errichtung eines „Limes gegen die Russen" gerichtet. „'Wir sind hier, weil wir die Römer des 20. Jahrhunderts sind', sagte er . . . 'Wir sind nicht so fein, nicht so kultiviert wie die Griechen, die wir verteidigen, aber zweifellos errichten wir einen Limes'." Und auf die Frage Captain Kimbroughs, wer die Barbaren seien, folgt prompt: „Die Russen" 447 . Gegen diese „Internationale der Offiziere", die jedes Kriegsverbrechen einkalkuliert, setzt Andersch seinen Friedensappell. Im Zusammenhang mit den Plänen zur Stationierung der Neutronenbombe in Europa wendet er sich an die Offiziere der Bundeswehr: „Insbesondere die führenden Offiziere der Bundeswehr der Bundesrepublik Deutschland werden die Verantwortung kennen, die ihnen in dieser Lage auferlegt ist. Kein Feindbild, und möge es ihnen nach den Jahrzehnten der Entwicklung antikommunistischer Hetze zur Staatsideologie noch so plausibel erscheinen, gestattet ihnen, der Übernahme von Waffensystemen zuzustimmen, deren Anwendung zum Völkermord führen würde." 4 4 8 Mit dem Captain Kimbrough hat Andersch jene demokratischen Tendenzen innerhalb der USA ins Bild gesetzt, auf die er seine Hoffnungen nach dem Krieg immer gestützt hatte. Kimbroughs Einsatz für den Plan des deutschen Majors motiviert Andersch aus einer 233
Zivilcourage heraus, die sich Kimbrough als Anwalt in den Südstaaten, im Einsatz für Opfer der amerikanischen Gesellschaft erworben hat. Er wünscht einen schnellen Frieden herbei, denn er möchte, daß sich amerikanische Interessen auf die eigene Gesellschaft, nicht auf Europa richten. Aber auch die ungenaue Kenntnis der amerikanischen Militärbürokratie und -hierarchie veranlaßt ihn zu seinen Aktivitäten. In der Beschreibung seiner weiteren Lebensgeschichte hält Jean Amery die Perspektive für möglich, daß „der Ex-Captain, Anwalt nunmehr in Atlanta, angesehen, auch anständig, aus Widerwillen gegen jegliche Politik überhaupt nicht mehr an die Wahlurne trat"4/'9. Es wäre aber auch möglich, daß man ihn auf der Seite der Bürgerrechtsbewegung findet. Mit der Zeichnung dieser Figur hat Andersch ein differenziertes Bild Amerikas gegeben, in dem die Erinnerung an antifaschistische Traditionen wachgeblieben ist, als positives Vermächtnis an die Gegenwart. Die Möglichkeiten des Zusammengehens von deutschen und amerikanischen Antifaschisten sind nicht nur Erinnerung. In Winterspelt führt Andersch nicht nur die Stationen der eigenen Desillusionierung über die Rolle Amerikas vor - wie er sie bereits früh in Umerziehung in der Retorte und in Erinnerung an eine Utopie, aber auch in der Auseinandersetzung mit der Leere des amerikanischen Way of life in seiner James-Dean-Funkreportage artikuliert hat, bis hin zum selbstkritisch spielerischen Umgang mit den eigenen Illusionen in Mein Verschwinden in Providence - , sondern hebt zugleich die Elemente positiver Gemeinsamkeit ins Bewußtsein der Heutigen.
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„empört euch der Himmel ist blau" Schriftstellerisches Selbstverständnis und politisches Engagement in den siebziger Jahren
„empört euch der Himmel ist blau", so lautet die Schlußzeile des Postscriptums zum Gedicht andererseits und zugleich der Titel der 1977 erschienenen Gedichtsammlung. Das Gedicht markiert einen Einschnitt im historischen und ästhetischen Selbstverständnis des Autors. Andersch bezieht in den Vortrag seines veränderten Selbstverständnisses als Schriftsteller Bekenntnisse aus dem früher entstandenen Gedicht Auf dem Keickstag kritisch reflektierend ein. Über den Zweck seines Schreibens heißt es dort: „ich schreibe nicht/ für / adlige / bürger / arbeitet // hier schreibe ich / ich weiß nicht für wen / sorry / ich kann nicht anders / gott helfe mir / amen // mönchlein du gehst / einen schweren gang//." 450 In andererseits setzt er nun dagegen das ausdrückliche Bekenntnis zu einer Literatur mit ausgeprägtem Mitteilungscharakter. Die Vorstellung von den anderen wird in Auseinandersetzung mit Sartre konkretisiert: „die anderen sind nicht die hölle sondern höchstens die einsamkeit monaden sind wir doch nicht einmal fensterlos 3. am liebsten schreibe ich jetzt für freunde 235
genossen aber noch immer nicht für arbeiter bürger geschweige denn adlige sondern für menschen und erst allmählich es gibt eben groschen die langsam fallen begreife ich was es heißt für menschen zu schreiben es heißt gegen menschen schreiben die andere menschen unterdrücken foltern töten grabmäler will ich setzen dem unbekannten sadistischen ehemann und den bekannten bluthunden von chile und teheran". Postscriptum" zu diesem Gedicht heißt es: j»*
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zwar schreibe ich jetzt nicht mehr nur noch für mich andererseits schreibe ich nur was mir spaß macht 236
ausgeschlossen sagen viele moral und vergnügen schließen sich aus ich aber schreib's in eine zeile empört euch der himmel ist blau" i51 . Der Gedichtband vereint „Übungen in schwach rhythmisierter Prosa" 452 , so nennt Andersch seine Gedichte. Sie haben innerhalb seines Werkes marginalen Stellenwert, obwohl sie seine gesamte produktive Lebenszeit begleiten, wichtige Eckpunkte seiner schriftstellerischen Arbeit bezeichnen und seinen philosophischen und ästhetischen Standort zu erkennen geben. Sie dokumentieren, in teilweise epigrammatischer Kürze, Anderschs Sein in der Zeit, die Bedingungen und Vermittlungen seines gesamten Schaffens. Einen solchen Stellenwert hat z. B. das Gedicht 'Erinnerung an eine Utopie aus den Jahren 1959/60, in dem Andersch seine politische Hoffnung in bezug auf die USA erinnert und deren Unwiederbringlichkeit als Erfahrung ausstellt. „Erinnerung an eine Utopie azur rostrqt meerblau der indianersommer des orlogs rhode island oder die klarheit aus herbst die bucht der wind das gras im freien hören die gefangenen die lehre von der gewalten-trennung teddy Wilsons klavier call me joe sagte der Oberstleutnant
professor jones ironisiert poe im osten die toten hier der neue plan aus den ahorn-wäldern die ära des großen gelähmten 237
oktober-nostalgie nach der charta des bilderbuch-meeres d e m leuchtturm so weit v o n narragansett"
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Der bekenntnishafte Z u g der weiter vorn zitierten Mitteilung über das eigene Selbstverständnis bildet in d e m Band eher die Ausnahme. Bekenntnis, Appell und W a r n u n g sind selten. Vorherrschend ist im Gedichtband ein benennend-erörternder G e s t u s , der vor allem die Realien des L e b e n s selbst zur Sprache bringt. In Gedichten über Städte ( M o s k a u , Ostberlin) und Landschaften (des N o r d e n s , Italiens, der Schweiz, Mexikos) läßt Andersch, v o n den Impressionen des Betrachters ausgehend, deren innere Widersprüche anschaulich werden und gestattet in einer metapherlosen, unverfremdeten Bildsprache d e m Leser den Mitvollzug einer spannungsreichen Realitätsaneignung. D a b e i vermittelt die sinnliche Wahrnehmung der D i n g e immer auch Momente ihrer inneren Beschaffenheit, bleibt Beschreib u n g und mitteilende Beobachtung niemals sich selbst g e n ü g e n d . Gedichte über Philosophen und Philosophie (Freud, Marx, Spinoza, die Nominalisten, den Materialismus) vermitteln E c k p u n k t e des philosophischen Selbstverständnisses. In den Materialisten wird die S p a n n u n g zwischen dem Bekenntnis zum Materialismus und zu der moralisch-ästhetischen S i n n g e b u n g , der Andersch das eigene B e mühen zuordnet, ausgedrückt. „aber das einzig wirkliche ist die stoffliche sinnliche wahrnehmbare weit und unser denken das erzeugnis eines stofflichen körperlichen organs des gehirns solches halte ich für das einzig g e w i s s e " 45/*
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Das Bekenntnisgedicht andererseits besitzt innerhalb des Bandes programmatische Bedeutung und markiert einen deutlichen Einschnitt. Es leitet den Schlußteil des Bandes ein, in dem Andersch in gebundener Rede Meinungsäußerungen zu aktuellen politischen Vorgängen zusammengestellt hat, die teilweise Flugblattcharakter haben. Das Gedicht steht in Anderschs Schaffen und Entwicklung an dem Punkt, den er in seinen autobiographischen Skizzen mit einem „Wiederfinden der Linken" kennzeichnet, d. h. Rückkehr in unmittelbare politische Auseinandersetzungen. Schon bei der Aufnahme von Winterspelt durch die öffentliche Kritik wurde sichtbar, daß sich die gedankliche Substanz dieses Werkes in den bürgerlichen Literaturbetrieb nicht ohne weiteres integrieren ließ. Denn Anderschs Interesse an der individuellen Freiheits- und Persönlichkeitsproblematik hat sich auf die Frage nach den Möglichkeiten geschichtlichen Handelns verlagert, ihn interessierten jetzt Alternativen innerhalb des geschichtlichen Verlaufs, die eine Wiederkehr faschistischer Herrschaftsformen rechtzeitig verhindern konnten. Diese Fragerichtung schloß das Problem der Gewalt, ihrer Rechtmäßigkeit und ihres zerstörerischen Charakters ein, Fragen, die er in Erzählungen, z. B. jesuskingdutschke, an der studentischen Bewegung diskutiert hatte und auf die er durch die Erfahrungen revolutionärer Vorgänge in Vietnam, Chile und Portugal hingelenkt wird. Durch das Erlebnis des Faschismus hatte Andersch ins Zentrum seines menschlichen und künstlerischen Schaffens die Aufgabe gerückt, „an einer Welt des Friedens mitzuarbeiten" 455 . Das bleibt ein ständiges Grundanliegen auch in den Jahren der Illusionen über Demokratie und denen des resignierten Rückzugs. Dieser grundsätzliche antifaschistische Humanismus ist die Bedingung dafür, daß Andersch für geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen offenbleibt und so stets neue Erfahrungen macht. Die Absage an landesübliche Formen des schriftstellerischen Engagements in den sechziger Jahren bedeutete für Andersch keine grundsätzliche Abkehr von der gesellschaftlichen Verantwortung, sondern beinhaltete die Weigerung, sich vor den Karren der Politiker spannen zu lassen. Das konkrete Spannungsfeld, in dem das Engagement des Schriftstellers einerseits die Legitimation einer demokratischen Fassade zu liefern hatte und die Autoren in ihrem Selbstverständnis zwischen Über- und Unterbewertung hin und her schwankten und unter der Folgenlosigkeit ihrer Bemühungen litten, machte Andersch immer 239
stärker die problematischen Seiten solch einer Engagement-Vorstellung bewußt, so daß er diesen Begriff als Orientierungsgröße aufgibt und auf eine allgemeine Humanitätsvorstellung 2urückgreift. Aus der Verarbeitung politischer Erfahrungen innerhalb dieses Zeitraums zog Andersch schon 1965 andere Konsequenzen als beispielsweise Günter Grass, dem er in einer „Erklärung" auf die Aufforderung, so wie er (Grass) an den politischen Wahlkämpfen für die SPD teilzunehmen, antwortete, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, die SPD zu wählen. „Ich habe andere politische Ansichten." 456 Die Erfahrungen des revolutionären Weltprozesses aber bringen Andersch wieder in ein aktiveres Verhältnis zu den innenpolitischen Vorgängen in der BRD, denen er in den sechziger Jahren ziemlich fern gestanden hat. Mit seiner politischen Aktivität löst er in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik große Bewegung aus. Seine Stellungnahmen zu Fragen von öffentlichem Interesse richten sich auf zentrale Probleme der Friedenserhaltung und der Abrüstung. In dem Aufruf Worauf warten wir noch (1977) beteiligt sich Andersch an der Mobilisierung der europäischen Öffentlichkeit gegen den Beschluß des amerikanischen Präsidenten Carter, die Neutronenbombe zu bauen. Er initiiert mit diesem Appell einen Aufruf auch schweizerischer Persönlichkeiten an den amerikanischen Präsidenten, der von vielen Bürgern unterzeichnet wurde. Andersch will mit der Einleitung öffentlich-rechtlicher Maßnahmen „sichtbare Signale für die Rechtmäßigkeit einer allgemeinen europäischen Widerstandsbewegung gegen die politische Diktatur der gefährlichsten Menschengruppe der Welt, das amerikanische Großkapital" 457 , geben. „Noch triefend von Blut ihrer schmählichen Niederlage in Vietnam, manisch besessen von einer einzigen Idee, dem Antikommunismus, ist diese Menschengruppe offensichtlich entschlossen, die Menschheit dem Risiko eines dritten Weltkrieges auszusetzen. Die Freiheit, die der Präsident der Vereinigten Staaten meint, ist die Freiheit, die Neutronenbombe herzustellen und zu gebrauchen." 453 Andersch argumentiert in diesen Abrüstungsfragen sehr konkret und schlägt Schritte gegen den Rüstungswahnsinn vor, die im Rahmen bürgerlicher Demokratien als rechtmäßige anwendbar sind, so wenn er Klage bei der europäischen Menschenrechtskommission gegen den amerikanischen Präsidenten zu beantragen auffordert, da der „Tatbestand eines eigentlichen Kriegsverbrechens" 459 erfüllt ist. Diese Aktivitäten lassen die politische Erfahrung ihres Urhebers erkennen, sie sind frei von illusionären Forderungen, genau auf die politische und 240
historische Situation bezogen und stellen sich die Mobilisierung der Öffentlichkeit zur Aufgabe, in der Andersch die einzige Gewähr gegen Kriegstreiberei und Rüstungswahnsinn erblickt. Im Rahmen der innerpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik meldet sich Andersch in dem Augenblick zu Wort, in dem nach einer Phase der Demokratisierung an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren von den reaktionären Kräften der Versuch gestartet wird, eine gewisse Veränderung des inneren Kräfteverhältnisses durch staatliche Repressionsmaßnahmen wettzumachen. Gegen diesen Abbau von Demokratie wendet sich Andersch, er wertet ihn als Vorzeichen einer latent faschistischen Gefahr. Er begibt sich damit in handfeste politische Auseinandersetzungen, in deren Verlauf er sich rüde Verdächtigungen gefallen lassen muß. So beispielsweise mit seinem Gedicht artikel 5(5), mit seinem Eintreten für Peter Paul Zahl und für Opfer der Berufsverbote. Andersch hatte auf eine Umfrage der Frankfurter Kundschau: „Gibt es überhaupt noch eine öffentlich-kontroverse Diskussion, eine fortlaufende Kulturdebatte" mit dem Gedicht unter dem Titel artikel 5(5)W> geantwortet. Dieses Gedicht trägt publizistischen Charakter, ist Stellungnahme zur geübten Praxis der Berufsverbote. Es beginnt mit der Erinnerung an den Artikel 3(3) des Grundgesetzes der Bundesrepublik, nach dem niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt werden darf. Eine schmucklose Zeile charakterisiert die Berufsverbotspraxis als Verstoß gegen dieses Verfassungsrecht. In den nächsten Strophen appelliert Andersch an die Öffentlichkeit, diesen Abbau demokratischer Rechte nicht hinzunehmen. Abwehr soll erfolgen durch das Bekanntmachen der Fälle, die Opfer sollen in den Zeitungen berichten, die verantwortlichen SPD-Politiker die Schuldigen benennen. Die Schlußstrophen charakterisieren im Licht historischer Erfahrungen die Tendenz einer solchen Entwicklung: „die radikalen sind ausgeschlossen vom öffentlichen dienst also eingeschlossen ins lager das errichtet wird 16
Reinhold, Andersch
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für den gedanken an die Veränderung öffentlichen dienstes die gesellschaft ist wieder geteilt in Wächter und bewachte wie gehabt
ein geruch breitet sich aus der geruch einer maschine die gas erzeugt" 461 . Die politische Direktheit dieses Gedichts ließ sofort die Zensur in Aktion treten. Die Verhinderung seiner Aufnahme in das Literaturmagazin des Südwestfunks wurde zum Anlaß für eine ausgedehnte öffentliche Kontroverse,462 die sich zu einer grundsätzlichen Debatte über Meinungsfreiheit und Zensur ausweitete. Hierbei zeichneten sich eindeutige Fronten ab. Günter Zehm von der Welt und Günter Rühle von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeiteten mit politischer Diffamierung, sprachen dem Autor das Recht zu öffentlichpolitischer Stellungnahme ab und setzten alles daran, antikommunistisebe Ressentiments als Rechtfertigung antidemokratischer Verfahrensweisen zu mobilisieren. Diese öffentlichen Auseinandersetzungen beschleunigten einen politischen Lernprozeß, in dessen Verlauf Andersch zu grundsätzlichen Einsichten in den instrumentalen politischen Charakter des Antikommunismus kommt, den er als „umfassendes ideologisches System" charakterisiert, das „alle Lebensvorgänge durchdringt". „Die manischen Züge am Antikommunismus sind es, die ihn so gefährlich machen. Sie verhindern, daß der Westen im Kommunismus ganz einfach nur einen Vorschlag erblickt, wie man das menschliche Leben auf dieser Erde human fortführen kann. Ich persönlich glaube, daß es angesichts der Entwicklung, die der sogenannte Fortschritt genommen hat, nur im Sozialismus fortgeführt werden kann. Aber ich kann mir vorstellen, daß auf einen Vorschlag mit einem Gegenvorschlag geantwortet wird, mit einem Denken aus Vernunft, mit gemeinsamen sachlichen Überlegungen, mit dem Gespräch. An die Stelle solcher Erwägungen setzt der Antikommunismus die Rüstung, die Vorbereitung des Krieges. Übrigens wird er nicht an einem Krieg, sondern an seiner 242
Rüstung zugrunde gehen." 463 Dieses veränderte Selbstverständnis in der Einheit von Einsicht und Handeln verstieß gegen die Prämissen des bürgerlichen Literaturbetriebs, für den Andersch „Ein Relikt frühen und verdienten Ruhmes" wurde, einer, der nur noch „viel Lärm um nichts" inszeniere, der lange „schwieg, um sich dann desto schriller zu Wort zu melden" 464 . Die stärkere Aktivität für öffentliche Fragen von Belang stellte Andersch vor einen Widerspruch, dem sich schon viele engagierte Schriftsteller ausgesetzt sahen: zwischen der künstlerischen Produktion und der notwendigen Teilnahme am aktuellen politischen Geschehen. In der Skizze Meine Himbeeren und Peter Paul Zahl gibt es Stoßseufzer: „Ich komme nicht mehr nach. . . . Man erwartet, daß ich überall eingreife, mich zum Wort melde, an Aktionen teilnehme, mindestens Proteste unterzeichne." In der Abwehr gegen die berechtigten Forderungen des Tages behauptet Andersch seine künstlerische Selbständigkeit, die ihn wiederum in die Lage versetzt, seinen Beitrag zu den drängenden Fragen unserer Zeit als Künstler, mit seiner eigenständigen Sicht auf die Dinge zu leisten. „Ich kehre zu meinen Himbeer-Beeten zurück. Ich entschließe mich, sie weiter zu pflegen. Auch Himbeer-Beete haben ein Anrecht auf mich, nicht nur von der deutschen Justiz Verfolgte . . . Aber ich bitte meine Leser, zu verstehen, daß ich nicht mehr so häufig wie früher über Himbeeren schreiben werde. Das ist schade, ich weiß, die Schilderung von Himbeeren ist mir immer ganz gut gelungen, und sie sind ja auch ein erfreuliches Thema. Ich will jetzt nicht Brecht wiederholen, diese Sache mit dem Gespräch über Bäume, und was es einschließt. Ich glaube, daß man über Bäume und Himbeeren sprechen kann und trotzdem an Peter Paul Zahl denken." 465 Welche Veränderungen für Anderschs Werk die Erfahrungen mit der Öffentlichkeit erbrachten oder wie sie verarbeitet wurden, läßt sich nicht schlüssig beantworten, da sein zu früher Tod allen Bemühungen ein Ende gesetzt hat. Hörspiele, Erzählungen, Pläne und Skizzen zu einer Autobiografie lassen aber die Arbeitsrichtung erkennen. Momentaufnahmen aus der „Spätantike" — funkdramatische Arbeiten Neue Hörspiele, die der 1979 erschienene Band vereinigt, präsentieren einen inneren gedanklichen Zusammenhang. Sie unterscheiden sich von früheren funkdramatischen Arbeiten, deren stoffliches und ,6«
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dramaturgisches Spektrum breiter gefächert war und die stärker aus unmittelbaren Zeitereignissen hergeleitet wurden. Brandung von Hossegor, Tapetenwechsel, Radfahrer sucht Wohnung und auch ein geplantes Hörspiel über Hans Beimler erhalten ihren Zusammenhang aus einem genauen Epochenverständnis, wie es für Andersch in den vorangegangenen Jahrzehnten in dieser Form nicht anzutreffen war. So lautet eine Kernthese des Diskussionsstückes Tapetenwechsel, deren Geltung Andersch in verschiedener Form verallgemeinert hat: „wir leben in der Spätantike, die einen Dekadenzzustand hervorgerufen hat" 466 . Andersch verallgemeinert hier Erfahrungen über den gegenwärtigen Zustand der kapitalistischen Welt, den er durch die Tendenz einer allmählichen Dekadenz von Lebens- und Kulturformen, einen Niedergang politischer Herrschaftsformen und das Aufkommen der „neuen Christen" charakterisiert sieht. Das Aufkommen der „neuen Christen" drückt aus, womit auf den Kulturverfall reagiert wird. In diesen neuen Bewegungen leben für Andersch die komplexen Antriebe menschlicher Emanzipation. Sozialökonomische Widersprüche und direkte politische Motivierungen werden für den einzelnen in dem Augenblick wirksam, in dem das Leben direkt bedroht ist. Innerhalb seiner radikalen Kritik an den Zeiterscheinungen des Kapitalismus bekennt sich Andersch zu gewissen Übereinstimmungen mit konservativer Kulturkritik, die die Verletzung und die Negation kultureller Tabus, den Abbau von menschlicher Verantwortung und die Bedrohung des Menschen durch eine bestimmte Form des Fortschritts zum Ausgangspunkt hat. Diese Übereinstimmungen verweisen auf einen generellen Vorgang innerhalb der geschichtlichen Kämpfe unserer Zeit; die Bedrohung menschlicher Existenz hat eine solche Dimension angenommen, daß gegen sie die Erhaltung und Bewahrung aufzurufen, eine wichtige Rolle spielen kann. Andersch grenzt sich allerdings in seinem Zeitverständnis von den „Wanderpredigern des neuen Faschismus" ab, die die scheinkonservativen Argumente instrumental gegen die Linke im Interesse einer reaktionären Politik gebrauchen. Die Brandung von Hossegor vermittelt mit der Grundidee - Inszenierung und Drehen eines Films - Momentaufnahmen einer Lebensweise, der mit Korruption, Wertzerstörung und nihilistischer Verachtung des Menschen und vor allem deren profitabler Verwertung durch die Filmindustrie Züge der kapitalistischen Warenwirtschaft anhaften. Der Grundeinfall ist an die problematische Freundschaft zwischen einem bewunderten Filmidol und einem 244
wenig erfolgreichen Regisseur gebunden, der den gemeinsamen Urlaub an der spanischen Küste für seinen Filmeinfall nutzt. Er bannt nicht nur die leeren Eitelkeiten und großen Gesten des gefeierten Idols, sondern auch dessen Tod in den Wellen auf Zelluloid, um selbst groß herauszukommen. Auf einer gesonderten sprachlichzeitlichen Ebene rekapituliert Andersch die Stationen der Fertigstellung des Films, der seinen Höhepunkt dem Tod eines Menschen verdankt. Die Bilder zynischer Menschenverachtung werden als Bedingung für und Produkt von Verwertungsinteresse kenntlich gemacht. Explizite Kritik findet nicht statt, kritische Distanz wird über die schockierende Pointe aufgebaut. Das Zweipcrsonenstück Radfahrer sucht Wohnung, vom Autor als „ein Scherz" gekennzeichnet, stellt sich gegenüber den zentralen kulturkritischen Prämissen des Autors als ein Plädoyer für neue Formen des Zusammenlebens und als eine Bejahung der sinnlichen Heiterkeit dar. Von den funkdramatischen Arbeiten der letzten Jahre ist Tapetenwechsel am unmittelbarsten in die direkte zeitgeschichtliche Situation der Bundesrepublik eingebunden. In Dialogen - zwischen Fischer, einem Arbeiter, der nach Mexiko auswandern will, um seine revolutionären Vorstellungen endlich realisiert zu sehen, und dessen Ehefrau, zwischen dem Personalchef und Boß seiner Firma, seinen Genossen, Mitgliedern einer sozialistischen Partei, die auf Grund ihrer Isolierung sektenhafte Züge angenommen hat, seinem Sohn, der als Ausgeflippter im Gefängnis sitzt - baut Andersch Entscheidungssituationen auf. Er erörtert die Frage nach den Möglichkeiten zum politischen Handeln. Dabei ist die strukturbildende Spannung auf die Entscheidung gerichtet, ob Fischer nun nach Mexiko auswandern wird oder nicht, wobei seine Motive und Gründe in der Diskussion zur Sprache kommen. Die grundlegenden Ursachen für seine kritische Sicht werden in den kulturzerstörerischen und menschverachtenden Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft gesehen. Eine von Andersch mit authentischen Zeugnissen gearbeitete Szene einer Demonstration vor dem Kölner Dom, deren Ziel es 1975 war, Kardinal Höpfner zur Intervention gegen die Vollstreckung der Todesurteile an den baskischen Freiheitskämpfern durch Franco zu bewegen, erhält innerhalb des Diskussionsstücks einen die Handlung beeinflussenden Platz. Fischer bleibt im Lande, da diese Demonstration ihm das Herannahen der „Neuen Christen" verheißt. Eine sich in der Öffentlichkeit verbreiternde Neigung zum Protest, auch 245
in der „kleinen sozialistischen Partei", der Fischer angehört, eröffnet eine neue Perspektive. Die religiöse Färbung der neuen Bewegung steht bei Andersch für die Elemente von idealistischer Heilserwartung, die in allen gegen Bestehendes revoltierenden Bewegungen anzutreffen sei. Sie bewahren die Komplexität eines Lebensanspruchs, den Andersch in den Programmen revolutionärer Parteien zur abstrakten Begrifflichkeit einer Theorie schrumpfen sieht. Gleichzeitig vermerkt Andersch, welche Gefährdung in der Theorielosigkeit liegt, und er verweist so auf den permanenten Widerspruch zwischen den sich stets erneuernden Formen realen Protests und den Erfordernissen, die damit an die ständige Weiterentwicklung einer revolutionären Theorie gestellt werden. Andersch hat mit zwei verschiedenen Sprechern, von denen der eine die Handlung kommentiert und der andere die sehnsuchtsvolle Verheißung des fernen Ziels Mexiko in seinen realen Verhältnissen durchscheinen läßt, dem Stück eine epische, auf direkte Einbeziehung des Hörers hin gerichtete Dimension verliehen, in der die disparaten Teile des Ganzen in eine übergreifende Ebene verankert werden. Der Autor konstituiert mit den Sprechern eine Verständigungsbasis, auf der die stimmlichen Nuancierungen, die der Hörfunk bietet, für seine gedankliche Aussage genutzt werden. Diese Tatsache erklärt, weshalb das Stück bisher keine anderen Formen theatralischer Realisation gefunden hat, obwohl Andersch es eigentlich für die Bühne konzipiert hatte. In seiner Nachbemerkung zu dem Hörspielband vermerkt er: „es fand sich jedoch keines [Theater], das dieses Stück aufführen wollte. Ich betrachte es als 'work in progress', möchte noch daran arbeiten." 467 Zu einer weiteren Verarbeitung der Gedanken und der dramaturgischen Struktur dieses szenischen Arrangements kam es allerdings nicht mehr. Selbstbefragung als Geschichtsbefragung oder: noch einmal Autobiografie In den siebziger Jahren setzt bei Andersch eine Überprüfung bisheriger Haltungen und Meinungen ein. Sie werden teilweise revidiert oder erscheinen jetzt in einem neuen Licht. So wird beispielsweise seine Teilnahme an einem Kolloquium „Lehren aus der Literatur über den zweiten Weltkrieg und die Aufgaben des Schriftstellers im Zeitalter der détente" in Moskau 1975 und die Begegnung mit 246
Konstantin Simonow und anderen Schriftstellern in der sozialistischen Welt zum Anlaß, das Verhältnis zu den kulturellen und literarischen Zeugnissen im östlichen Teil Europas und der Sowjetunion grundsätzlich zu überprüfen. In seinem öffentlichen Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend setzt Andersch sich selbstkritisch mit der voreingenommenen Einäugigkeit seiner redaktionellen Arbeit in Texte und Zeichen in den fünfziger Jahren auseinander. In diesem Prozeß kommt er erneut auf die eigenen Erfahrungen zurück, ihre erzählerische Verarbeitung in den Kien-Geschichten und in der Erzählung Der Vater eines Mörders, die er im Januar 1980, kurz vor seinem Tode, vollendet hat. Nach der Fertigstellung von Winterspelt reift außerdem der Plan zu einer umfassenden Autobiografie, an der er, von kurzen, durch Krankheit erzwungenen Unterbrechungen abgesehen, bis zuletzt arbeitet. Während dieser gesamten Zeit hat er ständig am Charakter dieses Buches geformt. In einem 1977 erschienenen Ausschnitt Der Seesack notiert Andersch: „Auf die Gefahr hin, den Leser (und mich selber) gänzlich zu verwirren, entschließe ich mich, in diese Aufzeichnungen, die vorläufig noch unentschlossen zwischen Erinnerungen, Memoiren und Autobiografie pendeln, auch noch Zettel aus dem Tagebuch (das ich aber gar nicht führe) einzufügen, Notizen über Beschäftigungen, die ich betreibe, während ich an meinem Bericht arbeite, Lektüre zum Beispiel." 468 1979 berichtet er, „das Buch, an dem ich gegenwärtig schreibe, wird so persönlich, so individualistisch sein wie nur möglich, denn es wird ein Stück Autobiografie sein" 469 . In dem Ausschnitt Der Seesack setzt der Bericht mit der Entlassung aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft und der Wiederbegegnung mit der deutschen Nachkriegswirklichkeit ein. Andersch bezieht in den Bericht über seine Tätigkeiten in der Neuen Zeitung und im Ruf vor allem die ideelle Seite seiner Biografie ein, behandelt den Einfluß des Existentialismus und der amerikanischen Demokratieauffassung auf sein damaliges Denken. Die Niederschrift soll die Biografie in den geschichtlichen Prozeß stellen, in dem dieChronologie der Fakten mit der gedanklichen Verarbeitung damaliger und späterer Einsichten und Erkenntnisse verquickt ist. Andersch will in der Erinnerung und Selbstüberprüfung die Chronologie durchbrechen, gedankliche Konzentrationspunkte schaffen. Die Mitteilungen über die Zeit um die Mitte des Jahrhunderts sind geprägt von einem unablässigen Gefühl des Versäumnisses und der schrittweisen Desillusio247
nierung, und von daher werden die damaligen Erfahrungen resümiert. Die offene Form des Buches, die Erfahrungsbericht, Reflexion, Erinnerung und Polemik mühelos in sich aufnehmen kann, treibt auf ein philosophisches Zentralthema zu, mit dem sich Andersch seit längerem beschäftigt: das Verhältnis von Determination und Handlungsfreiheit des Individuums in der Geschichte. Seine Polemik gilt der Diktatur des Indikativs, der auffordert, alles hinzunehmen, wie es gekommen. In diesem Zusammenhang ruft er die Erfahrungen der Niederlage von 1933 auf, hält hartnäckig an der Idee des möglichen Widerstandes fest. „Diese alten Geschichten" vergegenwärtigt er nicht, um politische Versäumnisse aufzurechnen, denn er schließt sich in die Abrechnung mit dem Versagen durchaus ein, sondern er bringt über ihre Erörterung Handlungsmöglichkeiten ins Gespräch, die eine Wiederholung vergangener Fehler unbedingt zu vermeiden gestatten. Der letzte von Andersch veröffentlichte Auszug aus der geplanten Autobiografie Böse Träume trägt die Spuren großer Kraftanstrengung, denn die Weiterarbeit mußte der fortschreitenden Nierenerkrankung abgetrotzt werden. Zeitweilig mußte die Arbeit völlig ruhen. Lektüre, notwendige Publizistik und die Arbeit an der letzten Kien-Erzählung beanspruchen Anderschs Kräfte bis zu seinem Tode, der am 21. Februar 1980 eintritt. Die Pläne für eine Weiterarbeit an der Autobiografie vermitteln eine Ahnung von der möglichen Struktur des Ganzen, sie lassen erkennen, daß Andersch seinem Werk einen komplexen Charakter verleihen wollte, die Linearität von Memoiren sollte zugunsten der komplexen Lebenszusammenhänge aufgegeben werden. „Mein Leben verbindet sich für mich in Erinnerungen an Augenblicke" 470 , mit diesem Bekenntnis weist Andersch auf die Grenzsituationen eines Lebens, die ihn vor der Chronologie eines Ablaufs immer vor allem interessiert haben. Sie hat er vorrangig in den Kien-Erzählungen vergegenwärtigt, während ihn bei der Arbeit an einer umfassenden Autobiografie gerade die kompositorische Offenheit der Form reizte, die Möglichkeit, verschiedene zeitliche, gedankliche, stofflich-thematische Kreise aufzubauen und zusammenzufügen. Sehr verschiedene Ebenen plante Andersch in diesem Werk miteinander zu verknüpfen: Die eine Ebene begründet die Eigenart des autobiografischen Zugriffs, für die historische Berichtsebene notiert er sich zeitgeschichtliche Ereignisse, Porträts von Personen der Zeitgeschichte, Berichte über Arbeitsverhältnisse am Funk und über die eigenen damaligen schriftstellerischen Bemühungen. 248
Die Nachkriegsgeschichte untergliedert er in Etappen, benennt die vierziger Jahre „als Zeit der demokratischen Illusionen", den Beginn der fünfziger Jahre als Zeit der „allmählichen Ernüchterung", die Jahre um 1956 als „Zeit der Hoffnung", Die sechziger Jahre stellen sich als Jahre der „Unentschiedenheit" und des „Zynismus" dar, während er die siebziger Jahre mit „wiedergefundene Zeit" und an anderer Stelle mit „Wiederfinden der Linken" charakterisiert. 471 Eine der Gegenwart verpflichtete Tagebuchebene sieht den Bericht über eigenes Schreiben und über öffentliche Wirkung vor, Mitteilungen über Lektüre, Musik, Kunst und Filme; Marginalien über verschiedene Themen, z. B. „Medizin in der Sackgasse" oder „Schicksalsdiskussion Odessa/Moskau", Themen, von denen sich Andersch in irgendeiner Weise existentiell berührt fühlt. Aus der grauen Kladde (geschrieben zwischen 1965 und 1975, erschienen in: Andersch: Brief) gibt Werkstattberichte über philosophische, ästhetische und literarisch-technische Fragen, deren wichtigste Ergebnisse auch in die rhythmisierte Prosa der Gedichte eingegangen sind. Ein Teil der Tagebucheintragungen bezieht sich auf den Alltag, enthält Mitteilungen über Briefe und Resolutionen, über Publikationen und Lesungen, und unüberhörbar ist der Kampf mit der Krankheit, der Versuch, dem „Terror-Regime des physischen Schmerzes" mit äußerster Willensanstrengung zu begegnen. Der Plan eines vielschichtigen, diskursiven autobiografischen Werkes war bei Andersch offensichtlich aus dem Bedürfnis heraus entstanden, ein Fazit aus eigenen Erfahrungen und aus einer an historischen Erfahrungen reichen Zeit zu ziehen. Dabei regte ihn die Gegenwart mit ihren Entwicklungen zum erneuten Einstieg in die Geschichte an, war sie es, für die Erfahrungen verfügbar gemacht wurden. Daß Andersch als Zeuge eines halben Jahrhunderts dabei auf eigene Erfahrungen zurückgreift, erklärt sich aus seiner künstlerischen Konzeption, in die stets der autobiografische Erlebnisstoff verwoben war. Andersch versucht auf durchaus ähnlich motivierte Weise wie Peter Weiss nach dem Widerstand der Ästhetik gegen eine unmenschliche Politik zu fragen. In seiner Rezension Wie man widersteht hat er sich mit „Reichtum und Tiefe" von Peter Weiss' Roman Ästhetik des Widerstands beschäftigt und sich selbst zu diesem Werk in Beziehung gesetzt. Er wertet diesen Roman des diskursiven Denkens als „roman d'essai" 472 und hält seine Form für außerordentlich geeignet, eine so umfassende Bilanz der Jahrhunderterfahrung 249
vorzunehmen. E r richtet sein Interesse und das des Lesers vor allem auf die erzählerische und diskursive Ausbreitung des Einheitsgedankens als Bedingung und Form des Widerstands. Damit berührt er ein Problem, das ihn selbst seit geraumer Zeit beschäftigte, denn schon in einem Leserbrief zu Jean Amerys Vorschlag „für eine Volksfront dieser Zeit" begreift Andersch Einheit der politischen linken Kräfte als Notwendigkeit der Gegenwart, mit der „etwas ganz Neues begonnen hat, das zugleich Erinnerung an sehr Altes und Vorgriff auf ungeahnte Möglichkeiten" ist. 4 7 3 Mit Peter Weiss' geschichtlichromanhafter Aufarbeitung erfolgt für Andersch eine wesentliche Voraussetzung zu einer zukünftigen Einheit, es ist Arbeit an der historischen Bewältigung der Fehler und Versäumnisse innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung, die an der historischen Niederlage ihren Anteil hat. In den Überlegungen der letzten Jahre nimmt die Niederlage von 1933 und ihre mögliche Vermeidbarkeit einen wichtigen Platz ein. Das drückt auch die Autobiografie aus, in der Andersch schreibt: „Ich halte jedoch an meiner Überzeugung fest, daß die Partei im Januar 1933 den Bürgerkrieg hätte auslösen müssen. Sie hätte eine gute Chance gehabt, ihn zu gewinnen, wenn sie schon von 1930 an die Politik der Volksfront betrieben und wenn sie sich militärisch auf den Faschismus vorbereitet hätte. Bei einem bewaffneten Kampf der Kommunisten und Sozialdemokraten gegen die SA hätte die Reichswehr Gewehr bei Fuß gestanden: Teile des Heeres wären auf die Seiten der Linken getreten, wie sich ja zehn Jahre später herausstellen sollte. Ein deutscher Bürgerkrieg hätte der Welt einen Weltkrieg erspart. Stattdessen ließ die Partei sich geschlossen in die Konzentrationslager treiben, wie eine Herde Schafe in den Pferch. Ich habe Glück gehabt, ich bin aus Dachau schnell wieder herausgekommen, aber meine Genossen blieben im Lager, zwölf Jahre lang, wenn sie die Zeit überlebten. Ich weiß, was sie zwölf Jahre lang gedacht haben: Da hätten wir ja auch kämpfen können! Lauter Konditionalsätze. Historische." 4 7 4 Pläne, Abgebrochenes Unter den Skizzen und Entwürfen für unvollendet Gebliebenes finden sich eine genaue Disposition und Varianten für die Szenenfolge eines Hörspiels über Hans Beimler, den Münchener Kommunisten. Das Interesse an der Figur dieses kommunistischen Funktionärs
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erklärt sich aus der Suche nach geschichtlichen Aktionsmöglichkeiten, die die historische Niederlage zwar nicht nachträglich korrigieren, dennoch ihre abermalige Wiederholung vermeiden helfen. Außerdem ist das Interesse an Beimler aus dem unmittelbaren biografischen Antrieb motiviert, die eigenen Erfahrungen zu prüfen und in Beziehung zu anderen möglichen Wegen zu bewerten. Hans Beimler war vor 1933 politischer Leiter der KPD in Südbayern, Alfred Andersch in derselben Zeit Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes. Möglich, daß sie sich begegnet sind, sicher, daß der um Jahre jüngere Andersch Hans Beimler bei politischen Veranstaltungen erlebt hat. Beide werden wenige Monate nach der Machtergreifung durch die Faschisten ins KZ Dachau deportiert. Andersch entläßt man nach der Intervention seiner Mutter, der Witwe eines Weltkriegsoffiziers und Ludendorff-Anhängers, verhaftet ihn allerdings im Herbst desselben Jahres noch einmal für kurze Zeit. Hans Beimler gelingt nach vierwöchiger Inhaftierung die Flucht aus Dachau, ein Fanal des ungebrochenen Widerstands. Er kämpft im spanischen Bürgerkrieg und fällt dort. Andersch erwähnt Beimlers Namen neben anderen der gefallenen Genossen schon in seinem autobiografischen Bericht Die Kirschen der Freiheit im Abschnitt Fahnenflucht, in dem er sein eigenes Verhältnis zu den ehemaligen Genossen erörtert. Die Erinnerung an Hans Beimler dient hier der Rechtfertigung des selbstgewählten Kurses, der Andersch in die Isolierung geführt hat. In seinem Tagebuch kommt Andersch auf Beimler und das Verhältnis zur kommunistischen Partei zurück. Er legt sich die Frage vor, warum er in den fünfziger Jahren nicht wenigstens die alten Beziehungen erneuert hat und welche Rolle hierbei die offizielle Doktrin des Antikommunismus spielte. Im Umkreis der Überlegungen, wie die Niederlage von 1933 vermeidbar gewesen wäre, notiert er an gleicher Stelle die Vermutung: „Wenn ihm [Beimler] noch einige Sekunden des Bewußtseins vergönnt waren, ehe er starb, muß er gedacht haben: aber da wär's doch eigentlich besser gewesen, in Berlin zu fallen!" 475 Dieses so andere Leben empfindet Andersch zugleich als persönliche Herausforderung, von der her er den eigenen Weg in ein kritisches Licht rückt. „Ich werfe mir vor", notiert er an gleicher Stelle, „daß ich nicht am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen habe. Es wäre nicht schwer gewesen, über die deutsche Grenze zu gehen und in den spanischen Krieg zu ziehen. Ich habe eine feine Entschuldigung: ich bin überhaupt nicht auf diese Idee gekommen. 251
Wirklich, ich schwöre es: der Gedanke, ich könne nach Spanien gehen, ist mir niemals gekommen. Aber das macht die Sache nachträglich nur umso schlimmer. Ich könnte ja Gründe dafür finden, warum ich nicht nach Spanien gegangen bin, objektive und subjektive, aber daß ich nicht ein einziges Mal daran gedacht habe, es zu tun, ist eigentlich unentschuldbar." 476 Diese individuelle und zugleich historische Spannung machte Andersch zum Angelpunkt für die Struktur seines Hörspiels über Beimler. Er hat für diese Arbeit ein genaues Quellenstudium betrieben, las Hans Beimlers noch 1933 in Moskau erschienenen Bericht Im Mörderlager Dachau. Vier Wochen in den Händen der braunen Banditen, hatte eine vom internationalen Club in Barcelona herausgegebene Broschüre zum Tode von Hans Beimler in seinen Unterlagen (mit Beiträgen von Rafael Alberti, Franz Dahlem, Vega, Miguel Valdes, Fritz Arndt, Dr. Friedrichs u. a.). Er hat sich mit den historischen Umständen der Flucht Beimlers aus dem KZ, seinem Weg nach Moskau, später Spanien und den Gegebenheiten des spanischen Bürgerkriegs genau bekanntgemacht. Die Disposition läßt erkennen, daß die Geschichte des Arbeiterführers ein Handlungsstrang des Hörspiels werden sollte. In ihm sollten das Verhältnis von sozialdemokratischer und kommunistischer Politik am Ende der Weimarer Republik und das Heraufkommen des Faschismus als Folge der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise in der Feature-Art erörtert werden. Diesen Handlungsstrang wollte Andersch mit einer Hörspielhandlung verquicken, die Beimlers Flucht aus dem KZ zum Inhalt hat. Eine dritte Ebene integriert das Ganze, die persönliche Situation eines zeitgenössischen Rechercheurs regt die Reflexion über das Erlebnis der Niederlage von damals an. Andersch plante, die Linien zur Gegenwart nicht unmittelbar auszuziehen, sondern die historischen Erfahrungen dem gegenwärtigen Gebrauch ohne direkte Lehre verfügbar zu machen. Aus den Plänen geht hervor, daß er für die Form des Hörspiels eine Verbindung zwischen historischer Dokumentation und Fiktion vorsah, die historischen Stränge sollten dokumentarische und hörspielartig gestaltete Partien enthalten. Auch die gegenwärtige Ebene des Rechercheurs enthält fiktive und nichtfiktive Elemente, mit denen Andersch den Schauplatz der Handlung in München während der Zeit des konterrevolutionären Putsches in Chile ansiedelt. Mit Demonstrationen für ein HansBeimler-Denkmal werden Einblicke in die politische Aktionsszene 252
Münchens vermittelt, in die Andersch eine Liebesgeschichte einbettet. Für die Charakterisierung der politischen Aktivitäten junger und alter Münchener hat sich Andersch von seinen Bekannten und Freunden anregen lassen, was bis in die Namensgebung seiner Personen verfolgt werden kann. (Z. B. trägt ein junger Demonstrant den Namen Kirti Maiseis, eines Spartakus-Studenten, der mit publizistischer Arbeit über die Geschichte des R u f hervorgetreten ist.) Andersch hat sich als zentrales Thema seines Beimler-Hörspiels das Problem der Gewalt notiert. Es ergibt sich aus der historischen Fragestellung nach der Vermeidbarkeit der Niederlage und aus der Flucht Beimlers, die ihm nur gelingt, wenn er tötet. Auch für den Rechercheur, sein geschichtliches Interesse und seine politische Biografie ergibt sich dieses Problem als gedanklicher Konzentrationspunkt. Gewalt als Aktionsform geschichtlichen Handelns wird von Andersch hier grundsätzlich nach ihrem Zweck befragt. Bei Abwehr politischer Reaktion und als Akt der Notwehr wird sie bejaht, ein ungelöstes Problem bleibt sie für Andersch dann, wenn sie sich verselbständigt. Daher läßt er, ausdrücklich in der Disposition vermerkt, „die Frage nach der Rolle der Gewalt in der Gesellschaft frei im Raum stehen" 477 . Das Problem der Gewalt beschäftigt ihn auch in weiteren Entwürfen zu dramatischen Funkarbeiten: Der Handstreich der siebten Flotte, Aktion Leros, Die Meuterei des Admirals und Mailand. Hier befaßt er sich mit Formen anarchistischer und terroristischer Aktionen, die offensichtlich durch aktuelle Anlässe angeregt worden waren. Auch diese Entwürfe lassen erkennen, daß Andersch Gewaltanwendung mit positiver geschichtlicher Funktion für gerechtfertigt ansieht, wobei sich der einzelne Beteiligte der moralischen Verantwortung bewußt bleiben muß. Eine nichtkalkulierbare Dimension beginnt für Andersch dort, wo die Ebene des einzelnen verlassen wird und die Aktion der Massen beginnt. Die Frage nach den politischen Organisationsformen der Volksmassen, nach ihrer geschichtlichen Rolle und ihrem Charakter findet bei ihm keine intensivere Aufmerksamkeit mehr.
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Nachbemerkung
Das Interesse an Anderschs Werk ist nach dem Tod des Autors im Jahre 1980 nicht geringer geworden. Der Vater eines Mörders wurde inzwischen für das Fernsehen (ARD) verfilmt und gesendet, aus dem Nachlaß erschienen Auszüge aus der geplanten Autobiografie (Böse Träume. In: Tintenfaß 2 und 4. Zürich 1981), einige Gedichte im Kürbishern (1/1981), der Band Flucht in Etrurien (Zürich 1981) mit der gleichnamigen Erzählung und mit dem Prosastück Heimatfront. Volker Wehdekings Monographie {Alfred Andersch. Stuttgart 1983) bringt im Anhang den frühen Text Skizze zu einem jungen Mann (1941 geschrieben) und den Aufruf für Grün, einen der letzten Texte Anderschs aus dem Jahre 1980. Aus der weiteren Erschließung des Nachlasses sind auch Anregungen für die Forschung zu erwarten. Der Briefwechsel Anderschs mit seiner Mutter ( A l f r e d Andersch: „. . . einmal wirklich leben". Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943-1975. Hg. von Winfried Stephan. Zürich 1986) ermöglicht genauere Einblicke in die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen des Autors, er ist zudem ein bewegendes menschliches Dokument. Der Briefwechsel mit Arno Schmidt (Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. Hg. von Bernd Rauschenbach. Zürich 1985) vermittelt Einsichten in eine produktive und langjährige Autorenfreundschaft. Beide Bände konnten für die vorliegende Publikation nicht mehr umfassend ausgewertet werden. Für den Leser in der DDR liegen mit dem Band Weltreise auf deutsche Art, Berlin 1985, fast alle Erzählungen Anderschs gesammelt vor. Die vorliegende Arbeit will dem Leser eine Einführung in Leben und Werk dieses Autors geben und die Herausgabe seiner weiteren Werke hierzulande anregen.
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Anmerkungen
Abkürzungen Deutsche Literatur
Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Karlsruhe 1948. Kirschen Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Stuttgart 1975. Koeppen/Amery Wolfgang Koeppen/Jean Amery: Die Leute von Winterspelt. Zwei Variationen zu einem Roman. I. II. In: Merkur 28 (1974) 12, S. 1175-1182. Mein Lesebuch oder Lehrbuch der Beschreibungen. Lesebuch Hg. von Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 1978. Alfred Andersch: Der Seesack. In: Literaturmagazin 7. Seesack Nachkriegsliteratur. Reinbek 1977. Wehdeking: Nullpunkt Volker Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945 bis 1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971. Winterspelt Alfred Andersch: Winterspelt. Berlin 1976. Andersch: Brief Alfred Andersch: Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend. Zürich 1977. Andersch-Nachlaß Alfred-Andersch-Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv des Schiller-Nationalmuseums in Marbach a. N.
Einleitung 1 Volker Wehdeking: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. VIII. 2 Ebenda. 3 Hans Magnus Enzensberger: Artistik und Zeugenschaft. In- Neue Deutsche Hefte (1959) 55, S. 1030. 4 Marcel Reich-Ranicki: Alfred Andersch, ein geschlagener Revolutionär. In: Deutsche Literatur in Ost und West. Prosa seit 1945. München 1963, S. 101 bis 119. 5 Alfons Bühlmann: In der Faszination der Freiheit. Eine Untersuchung zur
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Struktur der Grundthematik im Werk von Alfred Andersch. Berlin (West) 1973. 6 Erhard Schütz: Alfred Andersch. München 1980. Autorenbücher Nr. 23. 7 Das Alfred-Andersch-Lesebuch. Hg. von Gerd Haffmans. Zürich 1979; Über Alfred Andersch. Hg. von Gerd Haffmans. Zürich 1980. 8 Alfred Andersch. Text und Kritik, 1979, 61/62(Sonderheft: Alfred Andersch).
Text 1 Kirschen, S. 5. 2 Vgl. Friedrich Hitzer: Der Mord im Hofbräuhaus. Unbekanntes und Vergessenes aus der Baierischen Räterepublik. Frankfurt a. M. 1981, S. 36, 251. 3 Kirschen, S. 12. 4 Ebenda, S. 10. 5 Ebenda, S. 16. 6 Ebenda, S. 19. 7 Ebenda, S. 31. 8 Ebenda, S. 30-31. 9 Ebenda, S. 31. 10 Ebenda, S. 32. 11 Bisher sind von den vor 1945 geschriebenen Manuskripten, die bislang nicht bekannt waren, folgende Texte publiziert worden: Skizze zu einem jungen Mann (1940). In: Volker Wehdeking: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 166—177; Terrassen-Morgen oder Variationen über eine zerbrochene Schallplatte (ca. 1943/44). In: Die Hören 125 (1982), S. 127-130; Alfred Andersch: Erste Ausfahrt. In: Kölnische Zeitung v. 25.4. 1944. — Wiedergabe in Auszügen: Volker Wehdeking: Erste Ausfahrt — Überraschendes vom jungen Andersch. In: Neue Rundschau 92 (1981) 4, S. 129-144; Alfred Andersch: Amerikaner — Erster Eindruck. In: Flucht in Etrurien. Zürich 1981, S. 171-199. 12 Als Beispiel für diese frühe Prosa wird hier ein Textstück zitiert, das mit City-Straße überschrieben ist. In: Andersch-Nachlaß. Mappe „Frühe Prosa". — „Wäre sie nicht so breit, man müßte die Straße eine Schlucht nennen, so gewaltig stehen die Kontorhäuser ihr zu beiden Seiten, füllige Granitfelsen, deren Unmäßigkeit ein Gerippe schmalen, aufstrebenden, regelmäßig gliedernden Pfeilerwerks als sanfte Maske verhüllt. So aber fließt sie dahin wie ein Tal, gelassen in schöner Biegung, vorbei an dem Warenhaus-Gebirge, auf ihrem Scheitelpunkt die Kirche mit dem hohen, grünleuchtenden Turmhelm wie eine Bekrönung tragend. Ein Lebensstrom von Menschen und Dingen überflutet ihren Grund. Die unaufhörliche Wellenbewegung der Tausende auf den Gehsteigen bricht sich manchmal an dem Glanz der Schaufenster, staut sich an den Übergängen, zögert, um dann in den alles erfüllenden Rhythmus umso mächtiger fortgerissen zu werden. Tief und grell zugleich, durchdringen die Hupen
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und Motoren der Autos, dunkler, blitzender Wagen und müder, grauer Gefährte, die von den rasselnden, klingelnden, ungefügen, gelben Straßenbahn-Tieren überhöht werden. Da es Abend wird, flammen die ersten Lampen wie Geschmeide auf, droben, am Gespinst der Leitungsdrähte oder an den Häusern, dem Kino-Eingang. Aber sie vermögen noch nichts gegen den türkischen Schmelz des Himmels; Halbdunkel waltet unter ihnen, Zwielicht, in dem alles unbestimmt wird, formlos ineinanderfließend, ineinandertönend, leidenschaftliches Ausatmen der Stadt, das in die Ruhe der Nacht und des Schlafs zu münden begehrt." Skizze zu einem jungen Mann. In: Volker Wehdeking: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 166. Kirschen, S. 33. Vgl. Gespräch mit Alfred Andersch. In: Wehdeking: Nullpunkt. Volker Wehdeking: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 161-165. Kirschen, S. 64. Vgl. dazu: „Die mit dem blauen Schein". Über den antifaschistischen Widerstand in den 999er Formationen der faschistischen deutschen Wehrmacht. 1942—1945. Hg. von Hans Burckhardt, Günter Erxleben, Kurt Nettball. Berlin 1982. Alfred Andersch: Jahre in Zügen. In: Der Ruf, München 1946, 2, S. 11. Ebenda, S. 10. Seesack, S. 120. Ebenda, S. 118. Ebenda, S. 130-131. Vgl. dazu Jérôme Vaillant : Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945—1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung. München 1978. — Eine genaue pressegeschichtliche Darstellung, während Volker Wehdeking (Der Nullpunkt) mehr die literaturhistorische Seite der Ruf~ Problematik untersucht. Seesack, S. 118. Alfred Andersch: Gespräche am Atlantik. In: Der Ruf, München 1946, 1, S. 6—7. Alfred Andersch: Die Kriegsgefangenen. Licht und Schatten. In: Der Ruf, München 1946, 5, S. 3 - 4 . Alfred Andersch : Getty oder die Umerziehung in der Retorte. In : Frankfurter Hefte 2 (1947) 11, S. 1096. Ebenda. Alfred Andersch : Das junge Europa formt sein Gesicht. In : Der Ruf, München 1946, 1, S. 1, 12. Henry Ehrmann: Im Vorraum des Sozialismus. In: Der Ruf, München 1946, 2, S. 3 - 4 . Alfred Andersch: Die sozialistische Situation. Versuch einer synthetischen Kritik. In: Der Ruf, München 1947, 15, S. 4 - 6 . Ebenda, S. 6.
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34 [Alfred Andersch]: Jahrhundert der Furcht. In: Der Ruf, München 1947,16, S. 3. 35 Alfred Andersch: Linkes Tagebuch. T. 1. In: Neues Europa, München 3 (1948) 16, S. 9. 36 Alfred Andersch: Linkes Tagebuch. T. 1—3. In: Neues Europa, München. T. 1: 3 (1948) 16, S. 8 - 1 1 ; T . 2 : 3 (1948) 17, S. 8 - 1 0 ; T. 3 : 3 (1948) 18, S. 9 - 1 1 . 37 Alfred Andersch: Linkes Tagebuch, T. 2. In: Ebenda, S. 10. 38 Ebenda, S. 10-11. 39 Alfred Andersch: Das Unbehagen an der Politik. Eine Generation unter sich. In: Frankfurter Hefte 2 (1947) 9, S. 912. 40 Europäische Avantgarde. Hg. von Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 1949, S. 10. 41 Ebenda, S. 5. 42 Ebenda, S. 6. 43 Ebenda, S. 10. 44 Alfred Andersch: Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. In: Nach dem Protest. Literatur im Aufbruch. Frankfurt a. M. 1979, S. 88. 45 Alfred Andersch: Der Rauch von Budapest (Funkmanuskript). Zitiert nach: Hanjo Kesting: Die Flucht vor dem Schicksal. In: Text u. Kritik, 1979, 61/62, S. 11. 46 Vgl. Hans Werner Richter: Literatur im Interregnum. In: Der Ruf, München 1946, 8, S. 13. 47 Der Terminus „Nullpunkt" bzw. „Kahlschlag" entstand erst einige Jahre nach dem Kriegsende schon als Reaktion auf ausgebliebene Veränderungen. So spricht z. B. H. W. Richter 1947 in einem Beitrag im Ruf v. 15. 4. 1947 von den ausgebliebenen Veränderungen und versäumten Möglichkeiten, und von Wolfgang Weyrauch wird der Terminus vom „Kahlschlag" 1949 in der Anthologie Tausend Gramm als Versuch angeführt, innerhalb der schon wieder restaurierten Verhältnisse durch einen Schlag ins Dickicht Veränderungen herbeizuführen. Im übrigen hat die Forschungsliteratur (Frank Trommler: Der zögernde Nachwuchs. In: Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945. Hg. von Thomas Koebner. Stuttgart 1971; Natbkriegsliteratur in Westdeutschland 1945—49. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. Hg. von Jost Hermand, Helmut Peitsch u. Klaus R. Scherpe. Berlin (West) 1982; Nachkriegsliteratur. In: Literaturmagazin 7, 1977; Zur literarischen Situation 1945—1949. Hg. von Gerhard Hay. Kronberg 1977) differenzierte Ergebnisse über Neuansätze und Kontinuität in der Nachkriegsliteratur erbracht. Zum anderen sind zur nichtfaschistischen Literatur der inneren Emigration vor 1945 Nachweise zu den über 1945 hinweg wirkenden Elementen literarischer Produktion erbracht worden. [Vgl. dazu: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.): Exil und innere Emigration. I. Frankfurt a. M. 1972; Uwe Hohendahl/Egon Schwarz (Hg.): Exil und innere Emigration II. Frankfurt a. M. 1973; Horst Denkler/Karl Prümm (Hg.): Die deutsche Literatur im 3. Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen. Stuttgart 1976, darin besonders: Hans Dieter Schäfer: Die nichtfaschistische Literatur der „jungen Generation" im nationalsozialistischen Deutschland.]
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48 Vgl. dazu Klaus R. Scherpe: Erzwungener Alltag. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945-49. Argument-Sonderband 83. Berlin (West) 1982, S. 6 6 - 6 8 . 49 50 51 52 53
Deutsche Literatur, S. 5. Ebenda. Ebenda, S. 15. Abgedruckt in: Volk und Zeit 2 (1947) 12, S. 369-373. Sonntag, Berlin 1947, Nr. 52, S. 11. — Außerdem geht aus einem an Alfred Andersch gerichteten Brief von Johannes R. Becher hervor, daß dieser die Schrift gelesen hatte und sich zu einer Meinungsäußerung veranlaßt sah. Anknüpfend an eine Formulierung von Andersch, der Becher in die realistische Tendenz des deutschen Expressionismus eingeordnet hatte und von dem nach 1945 bekannt gewordenen Werk schreibt, daß „'wir vor dem uns nun zu Gesicht gekommenen Verswerk [Bechers] mehr mit Staunen als mit Bewunderung stehen' (S. 20)", begründet Becher ausführlich, „daß die Emigration für mich ein entscheidendes Erlebnis war, das mich selbst und meine Ansicht über Kunst grundlegend verändert hat. Überdies war aber diese Änderung bereits seit langem in mir vorbereitet und meine Produktion war seit meinem frühesten Beginn gewissermaßen zweischichtig. Aus der einen, der tieferen Schicht stammt alles, was Ihr Staunen erregt, die andere Schicht, oberflächlich, deklamatorisch, 'politisch' darüber gelagert, war das, was am meisten bemerkt wurde und mir in der Öffentlichkeit meinen Charakter verlieh." Johannes R. Becher in: Sinn und Form 36 (1984) 5, S. 1006 (Aus dem Nachlaß herausgegeben).
54 Seesack, S. 130. 55 Ebenda, S. 129. 56 Alfred Andersch : Die Existenz und die objektiven Werte. In : Die Neue Zeitung, München, v. 15. 8. 1947, S. 3. 57 Deutsche Literatur, S. 29. 58 Ebenda, S. 30/31. 59 Direkte Übernahmen von Sartres jQue est — ce que ¡a littérature? sind denkbar, da Sartres Essay vom Februar bis Juli 1947 in Les Temps Modernes erschien, 1948 bei Gallimard in Paris mit Erweiterungen unter dem Titel Situations II. Eine deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Was ist Literatur in einer Übersetzung von Hanns Georg Brenner erst 1950 im Rowohlt Verlag, aber Auszüge wurden in verschiedenen Zeitschriften schon ab 1947 vorgestellt. 60 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek 1981, S. 45. 61 Günter Birkenfeld: An die temporären Nihilisten. In: Horizont, Berlin 3 (1948) 7, S. 4/5. 62 Deutsche Literatur, S. 26. 63 Ebenda, S. 28. 64 Ebenda, S. 27. 65 Ebenda, S. 28. — Der Wortlaut des Manifestes ist folgender: „Zum erstenmal seit der Überwindung der Barbarei in Deutschland haben sich in Berlin Schriftsteller aus allen Teilen des Landes in Freiheit versammelt. Es sind Schriftsteller, 17»
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die, sei es in der Heimat, sei es in der Emigration, die Würde der deutschen Literatur gewahrt haben. Sie haben über viele grundsätzliche Probleme beraten, die als Fragen der deutschen Sprache und der deutschen Kultur Angelegenheiten des ganzen Volkes sind. Sie haben sie besprochen im Bewußtsein, die deutsche humanistische Tradition zu verwalten und fortzuführen. Sie sehen in unserer Sprache und unserer Kultur die Gewähr für die unveräußerliche Einheit unseres Volkes und Landes und das Bindeglied über alle Zonengrenzen und Parteiungen hinweg. Als Wortführer der freiheitsliebenden und friedensliebenden Deutschen erkennen wir Schriftsteller aller Zonen die Verpflichtung an, das moralische Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die Schäden und Leiden wachzuhalten, die das Hitlerregime den Völkern der Welt zugefügt hat. Wir hoffen, daß diese aufrichtige Bekundung helfen wird, unser Volk aus seiner politischen und geistigen Isolierung hinauszuführen. Diese Hoffnung wird bestärkt durch die Tatsache, daß zum erstenmal zu diesem Kongreß nicht nur deutsche Schriftsteller aus dem Ausland, sondern auch ausländische Schriftsteller zu uns gekommen sind. Inmitten des Trümmerfeldes von Berlin erkennen wir deutschen Schriftsteller, daß unser Volk nur in einem dauerhaften und aufrichtigen Frieden mit den anderen Völkern der Erde gesunden kann. Wir wissen, daß ein neuer Krieg den völligen Untergang unseres Landes nach sich ziehen würde. Wir deutschen Schriftsteller geloben, mit unserem Wort und unserer Person für den Frieden zu wirken — für den Frieden in unserem Lande und für den Frieden der Welt." Abgedruckt u. a. in: Sonntag. Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Unterhaltung. Berlin 1947, Nr. 41, S. 5. Zitat nach dieser Quelle. Alfred Andersch: Die neuen Dichter Amerikas. In: Der Ruf, USA, v. 15. 6. 1945, S. 7. Alfred Andersch: Der Anti-Symbolist. In: Frankfurter Hefte 3 (1948) 12, S. 1145. Ebenda. Alfred Andersch: Fabian wird positiv. In: Der Ruf, München 1946, 3, S. 8. Deutsche Literatur, S. 19. Ebenda, S. 22. Vgl. dazu Arno Hochmuth: Literatur und Dekadenz. Berlin 1963, S. 89/91. — Dort heißt es, daß Anderschs Schrift „zu den mehr getarnten Polemiken gegen eine echte Entlarvung der Ursachen der gesellschaftlichen Katastrophen" zu rechnen ist, in der zwar im „Gewände eines linken Standpunkts" noch gewisse Bedenken gegen eine reine l'art-pour-l'art-Literatur erhoben werden, die aber den Boden für „konsequent-reaktionäre Meinungen" vorbereite. Auch der Beitrag von Katharina Fuchs, Kosmopolitismus und Nationalbewußtsein, in: Neue Deutsche Literatur 2 (1954) 9, S. 107, ist ein Beispiel für diese Art Argumentation, wobei hier vor allem mit Unterstellungen gearbeitet wird. Anderschs Erlebnisbericht Die Kirschen der Freiheit wird in einen Zusammen-
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hang mit der durch die Amerikanisierung erfolgten Zerstörung der deutschen Muttersprache
gesetzt.
Andersch
verwende . . . „die
breiter
gesponnene
Reflexion des Periodenbaus und die harmonische Schönheit älterer Schulen", schreibt sie, Andersch zitierend, der an dieser Stelle seinen versponnenen Stil aus den dreißiger Jahren wiederaufnimmt und parodiert. Sie fährt f o r t : „ W a r u m ? Weil er, so sagt er selbst, eine Zeit der Langeweile zu schildern habe. Diese Zeit der Langeweile ist die E p o c h e von 1933—45!" „ F ü r Andersch langweilig, f ü r das deutsche Volk bis zum äußersten mit Spannung geladen." Anderschs selbstkritische Sicht auf diese Periode seines L e b e n s ignorierend, spricht sie von „Beziehungslosigkeit zwischen Subjekt und A u s s a g e " , „ n e g a tiven Beziehungen" Anderschs zu seiner Zeit, die der Sprache ihren „ F u n k tionscharakter" raubten. E b e n d a , S. 108—109. 73 Alfred Andersch: Nihilismus oder Moralität. I n : Horizont, Berlin, 3 (1948) 13, S. 9. 74 E b e n d a . 75 Alfred Andersch: Fabian wird positiv. I n : Der Ruf, München 1946, 3, S. 8. 76 Alfred Andersch: D e r Greis und der alte Mann. Über W o l f g a n g Borchert. I n : Frankfurter Hefte 3 (1948) 10, S. 929. 77 Alfred Andersch: A u s wessen H a n d ? Rezension zu Hans Werner Richters: Sie fielen aus Gottes Hand. I n : Frankfurter Hefte 7 (1952) 2, S. 148. 78 Alfred Andersch: D i e Kunst ist kein Schulzimmer. I n : Frankfurter H e f t e 7 (1952) 5, S. 377. 79 Alfred Andersch: Gedichte in strömendem Wasser. I n : E b e n d a , 7, S. 554. 80 Alfred Andersch: A u s wessen H a n d ? I n : E b e n d a , 2, S. 148. 81 E b e n d a . 82 D i e Literatur. H g . von Hans Werner Richter. München. D i e Zeitschrift w u r d e seit März 1952 in der Nymphenburger Verlagsanstalt herausgegeben.
Im
N o v e m b e r 1952 mußte ihr Erscheinen wegen finanzieller Schwierigkeiten des Verlages eingestellt werden. 83 Friedrich S i e b u r g : Kriechende Literatur. I n : D i e Zeit v. 14. 8. 1952. — S i e b u r g wähnt zu diesem Zeitpunkt Die Literatur bereits tot. 84 E b e n d a . 85 Alfred Andersch: Spaliere der Banalität. I n : Die Literatur, 1952, 14, S. 2, zitiert nach dem Wiederabdruck i n : D i e G r u p p e 47. Bericht, Kritik, Polemik. H g . v o n Reinhard Lettau. Neuwied 1967, S. 3 4 0 - 3 4 7 . 86 E b e n d a , S. 341. 87 E b e n d a , S. 342. 88 E b e n d a , S. 346/347. 89 Peter R ü h m k o r f : Lyrik und Politik. I n : Konkret, H a m b u r g 1963, 11, S. 18, wieder abgedruckt in: Jahre, die ihr kennt. Reinbek 1972. 90 Alfred Andersch: Spaliere der Banalität. I n : E b e n d a , S. 346. 91 Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. I n : Deutsche Rundschau 8 (1961) 1, S. 6 1 - 6 6 . 92 Alfred Andersch teilt in seiner Autobiografie Der Seesack mit, welche Bücher
261
er über den Atlantik gebracht hatte: Jeffersons Life and Selected Writings, Essays von E m e r s o n , Henry A d a m s ' Democracj und die R o m a n e und Erzählungen von Cabell, O . Henry, Henry James, Sherwood Anderson, H e m i n g way, Scott Fitzgerald, Faulkner, Wilder, Steinbeck, Erskine Caldwell, Ernst J ü n g e r s Auf den Marmorklippen („ich habe es zwischen zwei Kontinenten hin und her geschleppt"). I n : Seesack, S . 116. 93 Vgl. d a z u : Hansjörg G e h r i n g : Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland. 1 9 4 5 - 1 9 5 3 . Stuttgart 1976, S. 49. 94 Alfred K a z i n : D e r amerikanische Roman. Eine Interpretation moderner amerikanischer Prosaliteratur. N e w Y o r k 1944, S. 454. 95 Alfred Andersch: D i e neuen Dichter Amerikas. I n : Der Ruf, U S A , v. 15. Juni 1945, S. 7. 96 A d a m s J . D o n a l d : D a s Buch von Morgen. I n : Amerikanische Rundschau, Stuttgart 1 (1945) 1, S. 65. 97 Paul Alverdes: V o m Beruf des Dichters in unserer Zeit. I n : Umversitas, Stuttgart 1 (1946) 9, S. 1093. 98 Ernst Wiechert: Über die Kunst und die Künstler — Eine Rede. In: Aufbau 2 (1946) 1, S. 3 - 8 . 99 Herbert G o r s k i : Zeitbericht: Deutsche Literatur heute. I n : Stimmen der Zeit, Bd. 140, Juni 1947, S. 222. 100 Alfred Andersch: E i n e amerikanische Ezählung. I n : Frankfurter Hefte 2 (1947) 9, S. 940/41. 101 Bastian Müller: D i e verlorene Generation und wir. I n : Welt und Wort, Bad Wörbishofen, N o v . 1946, 6, S. 175. 102 Alfred Andersch: The real things. I n : Horizont, Berlin, 3 (1948) 17, S. 4. 103 Alfred Andersch: E i n e amerikanische Erzählung. I n : Frankfurter Hefte 2 (1947) 9, S. 940. 104 Außer der Schrift von Kahnert: Objektivismus.
Gedanken über einen neuen Literaturstil, erschien in der Reihe Erkenntnisse und Bekenntnisse noch als H e f t 2 Werner Steins Über das Ökonomische in der Kunst. Gedanken %ur Kunstkritik. Aus einem soziologischen Einstieg heraus wird das Verhältnis d e s A u f w a n d s künstlerischer Mittel zur Intensität der Wirkung zum Maßstab entwickelt. Heft 3 enthielt Hermann Riefstahls Schrift Sein und Existen Ein Beitrag yjir philosophischen Lage in Deutschland mit d e m charakteristischen Versuch, alle philosophischen Strömungen auf einer idealistischen Grundlage zu versöhnen.
105 Walter Kahnert: Objektivismus. G e d a n k e n über einen neuen Literaturstil. Berlin 1946, S. 9. 106 E b e n d a . 107 Alfred Andersch: Amerikanische Anarchisten. I n : Frankfurter Hefte 6 (1951) 10. Wiederabgedruckt i n : N o r d e n , Süden, rechts und links. 1951 bis 1971. Zürich 1972, S. 252. 108 Alfred Andersch: Eine amerikanische Erzählung. I n : Frankfurter Hefte 2 (1947) 9, S. 940.
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109 F. A. [Alfred AnderschJ: Thomas Mann. In: Der Ruf, USA, v. 1. Juli 1945, S. 4. — Volker Wehdeking hat in seiner Publikation Der Nullpunkt Pseudonyme gelüftet. 110 Alfred Andersch: Deutscher Geist in der Sicht Thomas Manns. In: Der Ruf, USA, v. 15. Juli 1945, S. 2. 111 Zuschrift von Thomas Mann. In: Der Ruf, München, 1947, 15, S. 1 - 2 . 112 Vgl. Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hg. und bearb. von J. F. G. Grosser. Hamburg 1963. 113 Deutsche Literatur, S. 16. 114 Ebenda, S. 18. 115 Ebenda. 116 Diese für den Rowohlt-Verlag geplante Ausgabe mit den politischen Essays von Thomas Mann kommt nicht zustande. 117 Werner Steinberg in: Die Kultur, Stuttgart 3 (1955) 47, S. 14. 118 Vgl. dazu: Andersch: Brief. — Der Brief liegt ebenso vor in der Ausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin, aus dem Jahre 1978: Alfred Andersch. Konstantin Simonow. Ein Briefwechsel. 119 Geäußert in der durch den Artikel von Fritz J. Raddatz, Sie werden rniterdicbten, wenn alles in Scherben fällt, ausgelösten Debatte über die westdeutsche Nachkriegsliteratur. In: Die Zeit v. 9. 11. 1979, Nr. 46, S. 59. 120 Alfred Andersch: Thomas Mann als Politiker. Erstveröffentlicht in: Texte und Zeichen, Neuwied, 1 (1955) 1, S. 98; wiedergedruckt in: Alfred Andersch: Norden, Süden, rechts und links. 1951-1971. Zürich 1972. 121 Ebenda, S. 91. 122 Ebenda, S. 96. 123 Ebenda, S. 100. 124 Ebenda. 125 In Arno Hochmuths Buch: Literatur und Dekadenz, Berlin 1963, S. 101, werden Kirschen der Freiheit und Sansibar oder der letzte Grund in die thematische Linie 'Renegatenliteratur' eingeordnet. Darin heißt es: „Der Renegat der revolutionären Arbeiterbewegung wird zum Helden hochgespielt: einstmals begeisterte Kommunisten verlassen die Reihen der marxistischen Arbeiterparteien, um Menschen bleiben zu können." 126 Heinrich Boll: Ein Trompetenstoß in schwüle Stille. In: Die Welt der Arbeit v. 28. 11. 1952, wo es weiter heißt: „Angesichts der dräuenden Remilitarisierung ist eine schwüle Stille entstanden um jene Bücher der seit 1945 Schreibenden, die sich eindeutig gegen den Krieg entschieden haben, während die milde Kriegsliteratur der Romantiker, die Memoiren der Generäle heftig begehrt werden und der Wüstenfuchs im 'Sturm die Herzen erobert hat'." 127 Hans Georg Brenner: Die Kirschen der Freiheit. In: Die Literatur, München 1952, 15, v. 15. 10. 1952. - In der Nr. 13, 1952, erschien ein Vorabdruck. 128 Armin Möhler: Die Kirschen der Freiheit. In: Das historisch-politische Buch, Göttingen 1953, 2, S. 55.
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129 Manfred Lütgenhorst: Einet warf die Waffe weg und lief über. In: Münchener Merkur v. 29./30. 11. 1952. 130 Hans Egon Holthusen: Reflexionen eines Deserteurs. In: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München 1954, S. 208. 131 Vgl. dazu Fritz Krause: Antimilitaristische Opposition in der BRD 1949—55. Frankfurt a. M. 1971, S. 33/34. 132 In: Die neue Zeitung vom 24. 1. 1951. 133 Alfred Andersch in einem Brief an die Deutsche Studenten^eitmg, 1952, 12, abgedruckt in: Johannes Hirzel: Wenn ein Deserteur spricht. Die Kirschen der Freiheit in der deutschen Kritik. Ein Bericht. In: Frankfurter Hefte S (1953) 8, S. 714. 134 Alfred Andersch: Aus Torheit? Gedenkblatt zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. In: Frankfurter Hefte 9 (1954) 8, S. 579. 135 Kirschen, S. 52. 136 Heinrich Boll: Wo sind die Deserteure? Tausende hingen an den Bäumen. Die Henker hauen auf die Pauke. Warum schweigen die Überlebenden? In: Aufwärts (Jugendzeitung des DGB), Köln, v. 5. 2. 1953, S. 1. 137 Albert Kesselring war Generalfeldmarschall. Er wurde wegen 335 Geiselerschießungen zum Tode verurteilt, später freigelassen. 138 Zit. nach Franz Fühmann: Die Literatur der Kesselrings. Pamphlet. Berlin 1954, S. 43. 139 Ebenda, S. 46. 140 Kirschen, S. 46. 141 Walter Warnach: Die Kirschen der Freiheit. In: Wort und Wahrheit, Wien 1953, 3, S. 221. 142 Ebenda, S. 220. 143 Anonym: Die Spätausreißer melden sich. In: Deutsche Soldatenzeitung v. 27. 11. 1952. 144 Kirschen, S. 88. 145 Ebenda, S. 59/60. 146 Ebenda, S. 88/89. 147 Ebenda, S. 26. 148 Ebenda, S. 52/53. 149 So spricht z. B. Alfons Bühlmann von „der Faszination eines absoluten Freiheitsaktes" als eines „Zustandes absoluter Bindungslosigkeit". In: In der Faszination der Freiheit. Berlin (West) 1973, S. 7. 150 Kirschen, S. 32. 151 Ebenda, S. 64. 152 Ebenda, S. 52. 153 Ebenda, S. 25. 154 Im November 1951 bildete sich eine „Notgemeinschaft für den Frieden Europas". Dieses Aktionsforum gegen die Wiederaufrüstung wurde von Gustav Heinemann und Helene Wessel geleitet. Die KPD hatte bereits 1949 die Wiederaufrüstungspläne im Bundestag enthüllt. 1950 wurden auf ihre
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Initiative hin in der B R D 2 Millionen Unterschriften für den Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe gesammelt. Auf dem Essener Friedenskongreß vom 28. Januar 1951 trat sie mit dem Vorschlag einer Volksabstimmung auf, weshalb im November des gleichen Jahres der Antrag auf Verbot der K P D beim Bundesverfassungsgericht durch die Bundesregierung gestellt wurde. 155 Veröffentlicht in: Die Kultur, München, v. 1. 4. 1958. - Am 10. März 1958 ging von Frankfurt a. M. aus der Aufruf des Arbeitsausschusses „Kampf dem Atomtod", der u. a. den Verzicht auf atomare Aufrüstung durch die beiden deutschen Staaten, Begrenzung auch für die konventionellen Waffen und Austritt aus den jeweiligen Militärbündnissen forderte. Viele Aktionen der folgenden
Jahre
(u. a. auch
die
Ostermarschbewegung)
nahmen
diese
Forderungen auf. 156 Kirschen, S. 50. 157 Ebenda, S. 13/14. 158 Ebenda, S. 33. 159 Ebenda, S. 36. 160 Ebenda, S. 60. 161 Ebenda, S. 59. 162 Ebenda, S. 61. 163 James Burnham: Die Rhetorik des Friedens. I n : Der Monat, Berlin (West) 2 (1950) 22/23, S. 451. 164 Ebenda. 165 Arthur Koestlcr: Eröffnungsrede. I n : Der Monat 2 (1950) 22/23, S. 356. 166 Vgl. dazu: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 12. Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1983, S. 111 ff. 167 Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten. Frankfurt a. M. 1962, S. 116. Darin: Bildung als Konsumgut. 168 Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Hg. von H. A. Neunzig. München 1979, S. 101. 169 Berichtet i n : Die Ehre des Deserteurs. I n : Der Spiegel v. 15. 10. 1952, S. 3. 170 Zitiert n a c h : Marbacher Magazin für Alfred Andersch. Marbach 1980, 17, S. 12. 171 Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Hg. von H. A. Neunzig. München 1979, S. 101. 172 Andersch arbeitete 1948—1950 als Gründer und Leiter des Abendstudios im Sender Frankfurt, 1951—1953 als Leiter der gemeinsamen Feature-Redaktion der Sender Hamburg und Frankfurt, 1955—1958 als Gründer und Leiter der Redaktion radio-essay des Senders Stuttgart. 173 Vgl. daau Hans Bausch (Hg.): Rundfunk in Deutschland. Bd. 3 : Rundfunkpolitik nach 1945. T. 1: 1 9 4 5 - 1 9 6 2 . Stuttgart 1980. 174 Zitat nach: Ebenda, S. 88. 175 Vgl. die Autobiographie von Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. B d . 1, Frankfurt a. M. 1982. Abschnitt Radio Frankfurt. 176 Andersch-Nachlaß. Funk- und Fernsehtexte. Kasten 4, Mappe 3.
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177 Alfred Andersch in: Frankfurter Rundschau, Radiobeilage v. 7.—13. 8. 1949. 178 Alfred Andersch: Ein intellektuelles Ghetto. Erinnerungen am 25. Jahrestag seiner Gründung. In: Frankfurter Rundschau v. 1. 12. 1973, S. VIII. 179 In: Andersch-Nachlaß. Dramatische Funkmanuskripte, Kasten 4, 1952/53. 180 In der Reihe studio frankfurt erschienen in einer kleinen Auflage Bücher von Heinrich Boll, Arno Schmidt, Ingeborg Bachmann, Ernst Schnabel, eine Funkoper von Hans Werner Henze und Wolfgang Hildesheimer, Werke von Wolfgang Weyrauch, Richard Ott u. a. Die Bücher mit Umschlagzeichnungen von Gisela Andersch waren als ein verlegerisches Experiment für die junge Literatur gekennzeichnet. 181 Aufschlußreich ist hierfür ein Brief, den Andersch an Armin Möhler schrieb, mit dem er einen Artikel über Hans Henny Jahnn vereinbart hatte: „Wichtig vor allem ist, daß ich mich Ihrer weiteren Mitarbeit an der Zeitschrift versichere. Sie sagten mir vor einiger Zeit, daß sie dieses Thema [Hans Henny Jahnn — U. R.] in der Tat behandeln wollten. Ich halte aber eigentlich Texte und Zeichen doch für das geeignetere Forum. Gleichzeitig bitte ich Sie zu überlegen, ob Sie das Thema nicht auch in dem von mir geleiteten Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks übernehmen wollen. Auch wenn das eine Manuskript mit dem anderen vielleicht nichts zu tun haben wird, so würde damit der Auftrag für Sie doch finanziell interessanter werden, denn Texte und Zeichen kann nun einmal nur geringe Honorare bezahlen. Und die Vorarbeit ist für Sendung und Aufsatz wohl die gleiche." (Marbacher Magazin für Alfred Andersch. Marbach 1980, 17, S. 16/17). 182 Marbacher Magazin für Alfred Andersch. Marbach 1980, 17, S. 18/19. 183 Alfred Andersch: Anmerkungen zu Biologie und Tennis. In: Andersch-Nachlaß. Funk- und Fernsehtexte, Kasten 4, Mappe 3. 184 Ebenda. 185 Alfred Andersch: Geister und Leute. Ölten - Freiburg 1958, S. 42. 186 Vgl. Brief an die Münchener Uraufführungsbühne e. V. vom August 1951. In: Andersch-Nachlaß. Funk- und Fernsehtexte, Kasten 4, Mappe 3. 187 Alfred Andersch: Anmerkungen zu Biologie und Tennis. In: Andersch-Nachlaß. Funk- und Fernsehtexte, Kasten 4, Mappe 3. 188 Ebenda. 189 Heinz Schwitzke. Das Hörspiel. Köln 1963, S. 271. 190 Veröffentlicht in Hörspiele. Zürich 1973. — Die Ausgabe bringt einige der zwischen 1957 und 1961 entstandenen Hörspiele. Als Prosafassung abgedruckt in: Geister und Leute. Ölten — Freiburg 1958. 191 Alfred Andersch: Geister und Leute. Ölten - Freiburg 1958, S. 116. 192 Ebenda, S. 84. 193 Marbacher Magazin für Alfred Andersch. Marbach 1980, 17, S. 29. 194 Alfred Andersch: Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend. In: Alfred Andersch. Konstantin Simonow. Ein Briefwechsel. Berlin 1978, S. 14.
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195 Zitiert nach: Franz Schonauer: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 21. Literatur nach 1945. T . 1. Wiesbaden 1979 S. 134/135. 196 Texte und Zeichen, Neuwied 1 (1955) 1, S. 1 - 2 . 197 Die Auflage bewegte sich zwischen 1000 und 3000 Exemplaren. Die höchste Abonnentenzahl betrug ca. 2500. Vgl. Marbacher Magazin für Alfred Andersch. Marbach 1980, 17, S. 45. 198 Brief an H. M. Enzensberger. I n : Ebenda, S. 46. 199 Der Herausgeber teilt mit. I n : Texte und Zeichen, Neuwied 3 (1957) 16, S. 661. 200 Redaktioneller Hinweis. I n : Ebenda, 2 (1956) 5, S. 103. 201 Hans Magnus Enzensberger: Was die Deutschen leider nicht lesen wollten. I n : Die Zeit v. 2. Febr. 1979. 202 Ebenda. 203 Alfred Andersch: Die Blindheit des Kunstwerks. In: Texte und Zeichen, Neuwied 2 (1956) 5, S. 74. 204 Günther Cwojdrak: Halbierte Texte und hoffnungsvolle Zeichen. I n : Neue Deutsche Literatur 4 (1956) 5, S. 1 5 2 - 1 5 4 . 205 Ein solcher Bericht über „die zweite deutsche Literatur" hatte im restaurativen Klima der fünfziger Jahre Seltenheitswert. In der D D R wurde er kritisch aufgenommen, weil er in Anlage und Überschrift gegen das Konzept der Einheit der deutschen Literatur gerichtet schien. 206 Alfred Andersch: öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftstellei, das Überholte betreffend.
I n : Alfred Andersch. Konstantin Simonow.
Ein
Briefwechsel. Berlin 1978, S. 11/12. 207 Ebenda, S. 13. 208 Ebenda. 209 Vgl. Klaus Schuhmann: Weltbild und Poetik. Berlin 1979, S. 49ff. 210 Max Horckheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1948, S. 15. 211 Theodor W. Adorno: Die Wunde Heines. I n : Texte und Zeichen, Neuwied 1 (1955) 7, S. 291/292. 212 Vgl. Dieter Kliche: Lukäcs und Adorno. I n : Weimarer Beiträge 23 (1977) 7, S. 132. 213 Theodor W. Adorno: Die Wunde Heines. I n : Texte und Zeichen, Neuwied 1 (1955) 7, S. 292. 214 Theodor W . A d o r n o : Rückblickend auf den Surrealismus. I n : Texte und Zeichen, Neuwied 2 (1956) 10, S. 621. 215 Jean-Paul Sartre: Nationalisierung der Literatur. In: Ebenda 1 (1955) 2, S. 220. 216 Ebenda, S. 232. 217 Ebenda, S. 234. 218 Alfred Andersch: Antwort auf eine Provokation. I n : Ebenda 2 (1956) 7, S. 319. 219 Harry Pross: Gegen eine völkische Literaturgeschichte. I n : Ebenda, S. 331.
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220 Alfred Andersch: D i e Blindheit des Kunstwerks, I n : E b e n d a 2 (1956) 5, S. 7 0 - 7 1 . 221 Ebenda, S. 67. 222 E b e n d a , S. 72. 223 E b e n d a , S. 73. 224 E b e n d a , S. 75. 225 T h e o d o r W . A d o r n o :
N o t e n zur Literatur. Bd. 3. F r a n k f u r t a . M . 1966,
S. 128. 226 E b e n d a . 227 E b e n d a , S. 129. 228 Alfred Andersch: Choreographie des politischen Augenblicks. I n : Texte und Zeichen, N e u w i e d 1 (1955) 2, S. 2 5 5 - 2 5 6 . 229 Alfred Andersch: D i e Arbeitswelt als Versäumnis der modernen Literatur. I n : Berichte und Informationen des österreichischen
Forschungsinstituts
für Wirtschaft und Politik 18 (1960) 882, S . 1 3 - 1 4 . A b g e d r u c k t auch unter dem Titel: D i e moderne Literatur und die Arbeitswelt. I n : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. 7. 1959. — In Texte und Zeichen ergibt sich ein solcher Zusammenhang zwischen Kultur und Arbeiterklasse nur ein einziges Mal durch den Abdruck einer Rede von Ernst Schnabel, die dieser zur E r ö f f n u n g der Ruhrfestspiele in Recklinghausen gehalten hat und in der er an die N o t wendigkeit erinnert, Kultur und Arbeiterklasse zu verbinden. In den derzeitigen Verhältnissen in der B R D sieht er dafür keinerlei Voraussetzungen, holt aber mit der Erinnerung an die Geschichte der Ruhrfestspiele eine wichtige Erfahrung und Forderung der Nachkriegszeit in die Gegenwart. 230 Hans Werner H e n z e : Undine. Tagebuch eines Balletts. Vorwort von Alfred Andersch. München 1959, S. 8. 231 E l i o Vittorini: Offenes T a g e b u c h 1 9 2 9 - 1 9 5 9 . Freiburg 1959. Einleitung v o n Alfred Andersch: Nachrichten über Vittorini, S. 19. 232 E b e n d a , S. 21. 233 Texte und Zeichen, Neuwied 2 (1956) 8, S. 343. 234 E b e n d a . 235 Walter J e n s : Plädoyer für die abstrakte Literatur. I n : E b e n d a , 1 (1955) 4, S. 514. 236 Hans M a g n u s E n z e n s b e r g e r : D i e K u n s t und das Meerschweinchen o d e r : Was ist ein Experiment? I n : E b e n d a 2 (1956) 6, S. 214. 237 Ebenda, S. 215. 238 E b e n d a . 239 Arno S c h m i d t : Berechnungen I und II. I n : E b e n d a 1 (1955) 1, S. 112; 2 (1956) 5, S. 130. 240 I n : Augenblick. H g . von Max Bense. 3 (1958) 1, S. 1. 241 Alfred Andersch: Franz Schonauer und der literarische Instinkt. I n : A u g e n blick 3 (1958) 5, S. 63. 242 Friedrich S i e b u r g : E i n e ungeheure A h n u n g . I n : Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. Okt. 1957, Literaturbeilage.
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243 Beda AUemann: Die Flucht nach Sansibar. In: Die Tat v. 12. 10. 1957. 244 Friedrich Sieburg: Eine ungeheure Ahnung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. Okt. 1957, Literaturbeilage. 245 Die Gegenwart. Abt. Literarischer Ratgeber, v. 2. 11. 1957, S. 697. 246 Arno Schmidt: Das Land aus dem man flüchtet. In: Die Andere Zeitung v. 24. 10.1957, S. 12. 247 Ebenda. 248 Sansibar oder der letzte Grund wurde im Jahre 1961 von Leopold Ahlsen für das Fernsehen bearbeitet, wobei die inneren Vorgänge weitgehend in filmische Episoden und Situationen umgesetzt wurden. In den siebziger Jahren gab es in Zürich den Versuch einer Stückfassung unter dem Titel Esther, in der der Regisseur als Erzähler auftrat, um den epischen Charakter der Gesamtstruktur zu erhalten. Im Andersch-Nachlaß befindet sich außerdem noch das Fragment einer englischen Dramatisierung unter dem Titel F/igbt to Afar von Michael und Lotte Bullock. Es konnte nicht ermittelt werden, inwieweit sie öffentlich bekannt geworden ist. 249 Max Bense: Porträt Alfred Andersch. 1962. In: Bense: Die Realität der Literatur. Köln 1971. 250 Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970, S. 134. 251 Vgl. die Kritiken von Manfred Delling. In: Die Welt v. 22. 9. 1960; H. Jaesrich: Gehobener Zeitvertreib. In: Neue deutsche Hefte 7 (1960) 76, S. 747 bis 748; Wilfried Berghahn: Mestre oder der letzte Grund. In: Frankfurter Hefte 16 (1961) 3, S. 2 1 0 - 2 1 3 ; Rudolf Härtung: Das Klischee drängt sich vor. In: Der Tagesspiegel v. 2. 10. 1960; Hans Egon Holthusen: Venezianisches Abenteuer einer rothaarigen Dame. In: Neue Züricher Zeitung v. 19. 10. 1960; Karl August Horst: Film ohne Leinwand. In: Merkur 14 (1960) 11, S. 1091-1094; K.-H. Kramberg: Saure Früchte der Freiheit. In: Süddeutsche Zeitung v. 17./18. 9. 1960; Karl Alfred Wolken: Das weite Herz und die Harmonika. In: Christ und Welt, Stuttgart, v. 31. 2. 1961. 252 Die Gesamtauflage des Romans betrug bis Mitte der siebziger Jahre 40000 Exemplare. Der Walter Verlag hatte noch 1960, im Erscheinungsjahr, drei Auflagen produziert, das Buch wurde in seiner Erstfassung von der Deutschen Buchgemeinschaft (Wien, Darmstadt, Berlin 1962), von der Büchergilde Gutenberg (Frankfurt, Wien, Zürich 1962), vom Züricher Buchclub ex libris (1962), vom Deutschen Taschenbuchverlag (München 1963), vom Deutschen Bücherbund (Stuttgart, Hamburg 1963), von der Wiener Buchgemeinschaft Donauland (1967) und schließlich vom Bertelsmann-Lesering (1966) wegen seiner außerordentlichen Publikums Wirksamkeit übernommen. Die Neufassung von 1972 bekam schon im Jahre 1974 eine Taschenbuchausgabe im Züricher Diogenes Verlag, der das Werk von Andersch seit Ende der sechziger Jahre verlegt hatte. Dazu kamen Übersetzungen in verschiedene europäische Sprachen und Buchausgaben, z. B. in Italien und in Frankreich. 253 In: Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1969, S. 148.
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254 In: Ulrich Bosshard: Interview mit Alfred Andersch. In: Sprachrohr, Oktober 1962, S. 1 0 - 1 3 . 255 Alfred Andersch: Plädoyer für den Trivialroman. In: Welt und Wort, Wörbishofen 1972, 1, S. 6 0 - 6 1 . 256 Zum Programm des Bertelsmann-Leserings siehe Abschnitt über Massenliteratur. In: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 12. Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1983, S. 137ff. 257 Eine solche Wertung findet sich in einer großen An2ahl von Kritiken, z. B. auch i n : Manfred Delling: Getrieben von der Unruhe des Gewissens. I n : Die Welt v. 22. 9. 1960, S. 15. 258 Vgl. Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 12. Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1983, S. 137. 259 Alfred Andersch: Die Rote. Ölten - Freiburg 1960, S. 21. 260 Hellmut Jaesrich: Gehobener Zeitvertreib. In: Neue Deutsche Hefte 7 (1960) 76, S. 748. 261 Vgl. dazu die Darlegungen in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung (Berlin 1956, S. 428ff.), wo dieser in der Kolportage das utopische Potential analysiert, das, aus den Wünschen der Menschen nach Gerechtigkeit und aktiver Lebensbewältigung geboren, in den Erzeugnissen der Massenkultur schemhafte Erfüllung findet. 262 Alfred Andersch: Wie trivial ist der Trivialroman? In: Süddeutsche Zeitung v. 13. 2. 1971, wiederabgedruckt i n : Alfred Andersch: Die Blindheit des Kunstwerks. Literarische Aufsätze und Essays. Zürich 1979, S. 121. 263 Hellmut Jaesrich: Gehobener Zeitvertreib. In: Neue Deutsche Hefte 7 (1960) 76, S. 748. 264 Alfred Andersch: Die Rote. Ölten - Freiburg 1960, S. 174. 265 Ebenda, S. 140. 266 Ebenda. 267 Ebenda, S. 175. 268 Ebenda, S. 140/141. 269 Ebenda. 270 Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1969, S. 151/152. 271 Der Rezensent wertet die Figuren „als journalistische Pappkameraden, brauchbar vielleicht im kulturkritischen Feuilleton, aber nicht im Roman". Franziska bezeichnet er als „Modellgeschöpf aus der Retorte des Kulturkritikers, ersonnen als Paradebeispiel f ü r die Korruption der Freiheit in der zynisch genießenden Wohlstandsgesellschaft". In: Wilfried Berghahn: Mestre oder der letzte Grund. In: Frankfurter Hefte 16 (1961) 3, S. 210. 272 Ebenda, S. 213. 273 Peter Hamm: Immer noch draußen vor der Tür. In: Geist und Zeit, Darmstadt 1960, 5, S. 19. 274 Ebenda. 275 Ebenda, S. 19/20.
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276 Karl Alfred Wolken: Das weite Herz und die Harmonika. In: Christ und Welt v. 31. 3. 1961, S. 22. 277 Als Beispiel für diese Änderungen: „Sie kostete das Getränk, es schmeckte heiß und süß wie das Leben selbst. Wie das Leben, wenn es heiß und süß ist." In der Neuausgabe von 1972 heißt es dagegen: „Sie kostete das Getränk. Es schmeckte heiß und süß." 278 Alfred Andersch: Die Rote. Neuausgabe. Zürich 1972, S. 203. 279 Der Kritiker Karl August Horst hat seine Kritik ausschließlich auf diesen Aspekt der filmischen Struktur ausgerichtet: Film ohne Leinwand. In: Merkur 14 (1960) 11, S. 1091-1094. 280 Vgl. dazu Roland Beyer: Interview mit A. A.für ring-press. In: AnderschNachlaß. Dramatisches. Filme. Die Rote. Kasten 8, Mappe 1. 281 Alfred Andersch: Süße, gekaufte Größe. Zu Fellinis La dolce vita. In: Merkur 14(1960)6, S. 696. 282 Ebenda, S. 696. — Das Ergebnis ist ein „Riesenfresco der Sittenverwilderung, dem kein moralisches Wollen und keine ästhetische Größe anzumerken ist, dem nur Peinlichkeit und Langeweile entströmt". 283 Alfred Andersch: Für ein Fernsehen der Autoren? In: Merkur 17 (1963) 5, S. 511. 284 Ebenda, S. 512, als Antwort auf die für eine Tagung der Inter-Television GmbH von Joachim Kaiser formulierten Fragen: „Was bietet das Fernsehen der Dramaturgie? Befeuert es nur die technische oder auch die AutorenPhantasie?" 285 Alfred Andersch: Das Kino der Autoren. In: Merkur 15 (1961) 4, S. 344. 286 Ebenda, S. 348. 287 Alfred Andersch: Für ein Fernsehen der Autoren? In: Merkur 17 (1963) 5, S. 511. 288 So in verschiedenen Gesprächen, z. B. mit H. M. Enzensberger: Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Ein Gespräch. In: Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Hg. von W.Martin Lüdke. Frankfurt a. M. 1979, S. 85ff.; Gero Hartlaub im Gespräch mit Alfred Andersch. In: Sonntagsblatt, Hamburg, v. 20. 8. 1967, S. 23. 289 Theodor W.Adorno: Kultur und Verwaltung. In: Merkur 14 (1960) 2, S. 111. 290 Utz Riese: Zwischen Verinnerlichung und Protest. Berlin 1982, S. 46 (Literatur und Gesellschaft). 291 Zitiert nach: Die Kultur v. 1. 10. 1959, S. 2. 292 Heinz von Cramer: Die Literatur auf leisen Sohlen. Kritische Anmerkungen zu Selbstkontrolle und Selbstzensur. In: Die Kultur, München, Sept. 1960, S. 3/5. 293 Gero Hartlaub sprach mit Alfred Andersch in: Sonntagsblatt v. 20. 8. 1967, S. 23. 294 Alfred Andersch: Über das Wohnen von Künstlern heute. In: Merkur 27 (1973) 1, S. 109.
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295 Andersch läßt in dieser Zeit seine Beiträge unter verschiedenen Titeln mehrfach abdrucken. 296 Alfred Andersch: Über das Wohnen von Künstlern heute. In: Merkur 24 (1973) 1, S. 110. 297 Andersch hat diese Polemik in Form epigrammatischer Zueignung in seinen Gedichtband empört euch der Himmel ist blau aufgenommen. Es heißt dort unter dem Titel An Walter Benjamin: hinsichtlich des kunstwerks / im Zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit / haben Sie sich geirrt / benjamin // die originale bleiben geheimnisse / auratisch vor ever // wie die herzogin von guermantes / in Ihrer Übertragung // Ihre rätselhafte schrift / kann jetzt nur noch gretel adorno lesen / sagt man // brecht war nicht ganz auf der höhe / Ihrer Zuneigung / er hielt Sie bloß für einen besonders intelligenten analytiker;/an der spanischen grenze wußten Sie: daß Ihre Zeit zu ende war // jenseits des meeres gab es nur noch: das institut // die zensierten texte/ die abgelehnten dissertationen / wie damals in frankfurt // das war kein ziel für Sie / benjamin / Sie wären gern in paris geblieben / in den blaugrauen Straßen / zusammen mit baudelaire // ein weicher bürgerlicher berliner jude / lenin erwartend und / den heiligen geist. 298 Hans Vetter sprach mit Alfred Andersch über Kirschen der Freiheit. In: Kölner Stadtanzeiger v. 2./3. 1. 1971, S. 11. 299 Vgl. dazu: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 12. Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1983, S. 290ff. 300 Vgl. dazu Christoph Burgauner: Alfred Andersch und seine Kritiker. In: Neue Rundschau 84 (1973) 1, S. 190. — Die kritischen Stellungnahmen zu dieser Frage resümiert Burgauer folgendermaßen: „Bei anderen mag ein solcher Humanismus hingenommen werden, bei Andersch nicht. Er ist ein Abtrünniger, einer, der es fertigbringt, so ganz nebenbei von 'Wirtschaftsfeudalismus' unserer Gesellschaft zu reden, einer, der aus den Fronten der literarischen und politischen Kämpfe desertiert ist, um in einem der hinteren Täler des Tessins den Negationen seiner selbst zu frönen und einer neuen Innerlichkeit Vorschub zu leisten — ein rechtes Ärgernis." 301 Alfred Andersch: Hohe Breitengrade. Zürich 1969. Einleitung, S. 6. 302 Alfred Andersch/Hans Magnus Enzensberger: Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Ein Gespräch. In: Nach dem Protest. Literatur im Umbruch. Hg. von W. Martin Lüdke. Frankfurt a. M. 1979, S. 99. 303 Vaterland. Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Hg. Klaus Wagenbach u. a. Berlin (West) 1980, S. 199. 304 Die Welt v. 31. 10. 1962. 305 Abgedruckt in: Telegraf v. 5. 2. 1963. 306 Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung v. 12. 12. 1962. 307 Etwa zur gleichen Zeit regten auch Heinz von Cramer, Hans M. Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Robert Jungk und Hans Werner Richter eine ähnliche Erklärung an, die sich ebenfalls mit dem „Manifest der 121" französischen Intellektuellen zum Kolonialkrieg in Algerien solidarisierte und
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das Recht auf freie Meinungsäußerung gegenüber der Kampagne französischer Mediengegen die Unterzeichner forderte. In: Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Berlin (West) 1980, S. 176. 308 Das Manifest der 121 „Über das Recht auf Gehorsamsverweigerung im algerischen Krieg" wurde in: Die Kultur, München, Nov. 1960 abgedruckt und damit in der BRD bekanntgemacht. 309 Andersch-Nachlaß. Publizistik, Kasten 10. 310 Alfred Andersch: Exkurs über den bürgerlichen Ungehorsam. In: Süddeutsche Zeitung v. 13./14. 2. 1965, Feuilleton. 311 Ebenda. 312 Alfred Andersch: Notiz über den Schriftsteller und den Staat. In: Merkur 20 (1966) 4, S. 398. 313 Ebenda. 314 Ebenda. 315 Günter Grass: Gespräch mit Alfred Andersch. Arbeit an den Fragen der Zeit. In: Tagesspiegel v. 15. 3. 1967, S. 4. 316 Antwort auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung „Was hat sich für mich 1968 verändert?" v. 31. 12. 1968. Feudleton. 317 Ullrich Bosshard: Gespräch mit Alfred Andersch. In: Sprachrohr 1962, Okt., S. 10. 318 Alfred Andersch: Efraim. Selbstrezension. In: Andersch-Nachlaß. Kasten 9, Mappe 1. 319 Ebenda. 320 Ebenda. 321 Zit. nach: Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Neuwied 1968, S. 108. 322 Alfred Andersch: Efraim. Selbstrezension. In: Andersch-Nachlaß. Kasten 9, Mappe 1. 323 Alfred Andersch: Efraim. Zürich 1967, S. 258. 324 Ebenda. 325 Ebenda. 326 Ebenda, S. 229. 327 Gero Hartlaub : Gespräch mit Alfred Andersch. In : Sonntagsblatt v. 20. 8. 1967, S. 23. 328 Alfred Andersch: Giorgio Bassani oder vom Sinn des Erzählens. Laudatio zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises. Dortmund 1969, S. 11. 329 Ebenda. 330 Ebenda. 331 Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Neuwied 1968, S. 12. 332 Argumente für die Krise des Romans hatte bereits Walter Jens mit Deutsche Literatur der Gegenwart (München 1961) gebracht. Zu den in den fünfziger Jahren geführten Debatten um die Krise des Romans vgl. Hans-Joachim Bernhard: Die Romane Heinrich Bolls. Berlin 1970, S. 79, 345, Anm. 110. 18
Reinhold, Andersch
273
333 Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft. Neuwied 1968, S. 108. 334 Ebenda. 335 Was er2ählt der Roman und wem erzählt er es? Antwort auf eine Umfrage der Stuttgarter Zeitung. In: Andersch-Nachlaß. Publizistik, Kasten 9, Mappe 3, S. 108. 336 Ebenda. 337 Alfred Andersch: Auf der Suche nach dem englischen Roman. In: Die Blindheit des Kunstwerks. Literarische Essays und Aufsätze. Zürich 1979, S. 104. 338 Ebenda. 339 Alfred Andersch: Rezension zu: Alain Robbe-Grillet: Die blaue Villa von Hongkong. In: Ebenda, S. 168. 340 Ebenda. 341 Ebenda, S. 170. 342 Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1969, S. 146. 343 Alfred Andersch: Anzeige einer Rückkehr des Geistes als Person. In: Die Blindheit des Kunstwerks. Literarische Essays und Aufsätze. Zürich 1979, S. 134. 344 Plädoyer für eine neue Literatur. Mit Beiträgen von Wladimir Weidlé, Nathalie Sarraute, Michel Butor, Alain Robbe-Grillet, Gustave Flaubert. München 1969, S. 46. 345 Vgl. Lesebuch. 346 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1. 8. 1967, S. 14. — In der Werbung des Diogenes Verlages wird der Roman als wichtigste deutschsprachige Neuerscheinung bezeichnet und auf die Lizenznachfragen aus 15 Ländern hingewiesen. In: Stuttgarter Zeitung v. 11. 10. 1967, S. 32. 347 Rolf Becker : Schickissimo, mon dieu. In : Der Spiegel 21 (1967) 46, S. 194 bis 197 Vgl. auch [anonym] in : Konkret, Hamburg 1967, 10, S. 58. 348 Lesebuch, Vorwort S. 9. 349 Ebenda, S. 8. 350 Brigitte Burmeister : Streit um den Nouveau Roman. Eine andere Literatur und ihre Leser. Berlin 1983, S. 110-111 (Literatur und Gesellschaft). 351 Lesebuch, Vorwort S. 8. 352 Ebenda, S. 14. 353 Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung. Berlin 1956, S. 430. 354 Alfred Andersch: Wanderungen im Norden. Mit 32 Farbtafeln nach Aufnahmen von Gisela Andersch. Zürich 1962. Nachwort, S. 218. 355 Alfred Andersch: Von Reisen lesend, 1970. In: Aus einem römischen Winter und andere Reisebilder. Berlin 1979, S. 290. 356 Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung. Berlin 1956, S. 430. 357 Vgl. dazu die Untersuchung von Klaus R. Scherpe : Erzwungener Alltag. In : Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945—1949. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. Hg. von Jost Hermand, Helmut Peitsch, Klaus R. Scherpe. Berlin (West). Argument-Sonderband 83, 1982, S. 35ff. 274
358 Alfred Andersch: Aus einem römischen Winter und andere Reisebilder. Berlin 1979, S. 186. 359 Alfred Andersch: Wanderungen im Norden. Zürich 1962, S. 60. 360 Ebenda. 361 Alfred Andersch: Aus einem römischen Winter und andere Reisebilder. Berlin 1979, S. 279. 362 Ebenda, S. 275. 363 Ebenda. 364 Alfred Andersch: Meine Himbeeren und Peter Paul Zahl. In: Text und Kritik, 1979, 61/62, S. 23. 365 Alfred Andersch : Ein Liebhaber des Halbschattens. Zürich 1963. Motto. 366 Ebenda, S. 20. 367 Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Zürich 1980, S. 130. 368 Ebenda, S. 131. 369 Ebenda, S. 136. 370 Alfred Andersch: Geister und Leute. Ölten - Freiburg 1958, S. 24. 371 Alfred Andersch. Mein Verschwinden in Providence. Zürich 1971, S. 239. 372 Ebenda, S. 242. 373 Ebenda, S. 255. 374 Lesebuch, S. 8. 375 Alfred Andersch: Mein Verschwinden in Providence. Zürich 1971, S. 272. 375a Koeppen/Améry, S. 1175. 376 Vgl. Helmut Kaiser : Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers. Berlin 1962; Hans Joachim Bernhard: Die apologetische Darstellung des Krieges im Werk Ernst Jüngers. In: Weimarer Beiträge (1963) 2. 377 Wolfgang Weyrauch: Die germanische Unschuld Ernst Jüngers. In: Tägliche Rundschau v. 25. 6. 1946. 378 Paul Rilla: Der Fall Jünger. In: Die Weltbühne 1 (1946) 3. 379 Deutsche Literatur, S. 13. 380 Ebenda. 381 Alfred Andersch in Mainzer Zeitung v. 25. 1. 1949. 382 Alfred Andersch in: Neue Woche v. 27. 11. 1948. 383 Erich Fried - Bemerkungen zu einem Kult. In: Streit — Zeit — Schrift. Hg. von Horst Bmgel. Frankfurt a. M. 6 (1968) 2, S. 65. 384 Peter Rühmkorf : Das lyrische Weltbild des Nachkriegsdeutschen. Wiederabgedruckt in: Peter Rühmkorf: Die Jahre, die ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Reinbek 1972, S. 89. 385 Ebenda, S. 94. 386 Alfred Andersch: Die Blindheit des Kunstwerks. In: Texte und Zeichen, Neuwied, 2 (1956) 5, S. 74. 387 Telegramm von Heinrich Lübke, dem damaligen Bundespräsidenten. In: Streit - Zeit - Schrift. Hg. von Horst Bingel. Frankfurt a. M. 6 (1968) 2, S. 45. —Darin heißt es: „Ihre Erlebnisse als tapferer Offizier und Stoßtrupp18*
275
388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416
führer sowie die Haltung Ihrer Generation haben Ihr Gesamtwerk nachhaltig beeinflußt. Zwischen Stellungen, Gräben und Verhauen, die Völker und Menschen unseres Jahrhunderts auch im Geistigen voneinander trennen, gehen Sie auf Erkundungen aus. Nie suchten Sie die relative Sicherheit derer, die sich in einer großen Gemeinschaft geborgen wissen. Auf sich allein gestellt, mit scharfer Beobachtungsgabe und mit dem Mut, auch schwere Entschlüsse kompromißlos zu treffen, schrieben Sie Ihre Gedanken in Bildern ungewöhnlicher Ausdruckskraft nieder. Auch wer zu anderen Ergebnissen gelangt als Sie, empfindet hohe Achtung vor Ihnen und Ihrem Schaffen." Nikolaus Sombart: Jünger in uns. In: Streit — Zeit — Schrift. Hg. von Horst Bingel, Frankfurt a. M. 1968, S. 7. Helmut Heißenbüttel: Selbstkritik in Sachen Jünger. In: Streit — Zeit — Schrift. Hg. von Horst Bingel. Frankfurt a. M. 6 (1968) 2, S. 10. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15. Alfred Andersch: Rezensionen zu Ernst Jüngers: Über die Linie. In: Frankfurter Hefte (1952) 12, S. 978. Alfred Andersch: Achtzig und Jünger. In: Andersch: Brief, S. 88. Alfred Andersch: Amriswiler Rede. In: Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 73. Alfred Andersch: Aus der grauen Kladde. In: Kürbiskern (1975) 2, S. 166. Alfred Andersch: Amriswiler Rede. In: Andersch: Brief, S. 77. Alfred Andersch: Achtzig und Jünger. In: Ebenda, S. 104. Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. Hamburg 1939, S. 96. Alfred Andersch: Amriswiler Rede. In: Andersch: Brief, S. 80, 81. Ebenda, S. 93. Deutsche Literatur, S. 14. Johannes R. Becher: Der Krieg. In: Der Krieg. Das erste Volksbuch vom großen Krieg. Berlin, Wien, Zürich 1929, S. 8. Alfred Andersch: Achtzig und Jünger. In: Andersch: Brief, S. 91. Ebenda, S. 96. Alfred Andersch: Amriswiler Rede. In: Ebenda, S. 78. Alfred Andersch: Achtzig und Jünger. In: Ebenda, S. 101. Seesack, S. 124. Unveröffentlichte Widmungsvarianten. In: Andersch-Nachlaß. Handschriften. Kasten 2, Prosa, Mappe 1. Winterspelt. Winterspelt, S. 5. Ebenda, S. 14/15. Ebenda, S. 15. Seesack, S. 125. Koeppen/Amery, S. 1178. Ebenda. Marcel Reich-Ranicki: Ein Kammerspiel inmitten der Katastrophe oder Sandwüste mit Oase. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. 10. 1974.
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417 Rolf Michaelis: Ein Erzähler in der Sackgasse zwischen Zettelkasten und Sandkasten. Höheres Indianerspiel. In: Die Zeit v. 4. 10. 1974. 418 Wolfram Schütte: Sachbuch über Denkweisen im Möglichkeitsfall. In: Frankfurter Rundschau v. 12. 10. 1974, S. IV. 419 Rolf Becker: Widerstand im Sandkasten. In: Der Spiegel 1974, 41, S. 204. 420 Max Walter Schulz: Mehr als 'polyphon umgrenztes Weiss'. In: Sinn und Form 28 (1976) 6, S. 1319-1327, abgedruckt auch in: Max Walter Schulz: Pinocchio und kein Ende: Notizen zur Literatur. Leipzig — Halle 1978. 421 Alfred Andersch: Alte Peripherie. Berlin 1972. — Mit einem aufschlußreichen Nachwort von Frank Beer. 422 Max Walter Schulz: Mehr als 'polyphon umgrenztes Weiss'. In: Sinn und Form 28 (1976) 6, S. 1326. 423 Koeppen/Amery, S. 1175. 424 Vgl. Jean Amery in: Koeppen/Amery, S. 1182, u. Jean Amery: Der Denkspieler und der Krieg. In: Die Weltwoche v. 20. 11. 1974, S. 35. 425 Zitiert nach Friedrich Hitzer: Winterspelt. In: Kürbiskern 1975, 2, S. 125. 426 Koeppen/Amery, S. 1178. 427 Ebenda, S. 1179. 428 Jean Amery: Die Leute von Winterspelt. In: Merkur 28 (1974) 12, S. 1181. 429 Ebenda. 430 Koeppen/Amery, S. 1179. 431 Jean Amery in: Koeppen/Amery, S. 1182. 432 Gerd Fuchs: Hainstock weist den Weg. In: Deutsche Volkszeitung v. 10. 10. 1974. 433 Seesack, S. 124. 434 Koeppen/Amery, S. 1180. 435 Friedrich Hitzer: Winterspelt. In: Kürbiskern 1975, 2, S. 124. 436 Winterspelt, S. 53/54/55. 437 Ebenda, S. 564. 438 Ebenda, S. 88. 439 Alfred Andersch: Fallengelassenes und andere Vorsätze, datiert v. 20. 12. 1971. In: Andersch-Nachlaß. Handschriften. Kasten 2, Prosa, Mappe 1, Winterspelt. 440 Winterspelt, S. 52/53. 441 Ebenda, S. 261. 442 Alfred Andersch: Fallengelassenes und andere Vorsätze, datiert v. 20. 12. 1971. In: Andersch-Nachlaß. Handschriften. Kasten 2, Prosa, Mappe 1, Winterspelt. 443 Winterspelt, 1. Motto. 444 Ebenda, 2. Motto. 445 Interview mit Alfred Andersch in: Pardon 1975, 10, S. 177. 446 Jean Amery in: Koeppen/Amery, S. 1175. 447 Winterspelt, S. 23. 448 Deutsche Volkszeitung v. 21. 7. 1977.
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449 Jean Améry in: Koeppen/Améry, S. 1283. 450 Alfred Andersch: empört euch der himmel ist blau. In: Gedichte 1946 bis 1977. Berlin 1980, S. 100. 451 Ebenda, S. 101-106. 452 Ebenda, S. 133. 453 Ebenda, S. 14. 454 Ebenda, S 128. 455 Alfred Andersch: Papier, das sich rot färbt. In: Kürbiskern 1979, 2, S. 6. 456 Alfred Andersch: Erklärung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15. 10. 1965, S. 32. 457 Alfred Andersch: Worauf warten wir noch. In: Deutsche Volkszeitung v. 21. 7. 1977, S. 2. 458 Ebenda. 459 Ebenda. 460 In: Frankfurter Rundschau v. 3. 1. 1976. 461 Alfred Andersch: artikel 3 (3). In: empört euch der himmel ist blau. Gedichte 1946-1977. Berlin 1980, S. 107. 462 Die gesamte Dokumentation dieser öffentlichen Kontroverse beträgt 40 Seiten. Abgedruckt in: Alfred Andersch Lesebuch. Hg. v. Gerd Haffmans. Zürich 1980. 463 Alfred Andersch: Papier, das sich rot färbt. In: Kürbiskern 1979, 2, S. 6. 464 Zum Tode A. A. In: Christ und Welt. Rheinischer Merkur v. 29. 2. 1980. 465 Alfred Andersch: Meine Himbeeren und Peter Paul Zahl. In: Text und Kritik, 1979, 61/62, S. 26. 466 Paul Kersten: Gespräch mit Alfred Andersch. In: Deutsche Volkszeitung v. 1. 2. 1979, S. 2. 467 Alfred Andersch: Neue Hörspiele. Zürich 1979, S. 159. 468 Seesack, S. 132. 469 Alfred Andersch: Papier, das sich rot färbt. In: Kürbiskern 1979, 2, S. 6. 470 Zit. nach Friedrich Hitzer: Fragmente zu einem großen Plan. In: Kürbiskern 1981, 1, S. 103. 471 Alfred Andersch: Autobiographische Skizzen. In: Andersch-Nachlaß, Nr. 80574. 472 Alfred Andersch: Wie man widersteht. (Rezension zu Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands, Bd. 1.) In: Frankfurter Rundschau v. 20.9. 1975, S.II, Feuilleton. 473 Alfred Andersch: Leserbrief zu Jean Amérys Für eme nene Volksfront dieser Zeit. In: Frankfurter Rundschau v. 24. 8. 1874, S. III, Feuilleton. 474 Seesack, S. 126. 475 Ebenda. 476 Ebenda, S. 127. 477 Alfred Andersch: Disposition zu einem Hans-Beimler-Hörspiel. In: AnderschNachlaß, Nr. 80558, S. 3.
278
Zeittafel
1914 geboren am 4. Februar in München 1920—1928 Besuch der Volksschule und des Wittelsbacher Gymnasiums in München 1928-1930 Buchhandelslehre 1931—1933 Arbeitslosigkeit. Politische Arbeit im Kommunistischen Jugendverband (KJV), ab 1932 dessen Organisationsleiter für Südbayern 1933 Nach dem Reichstagsbrand Häftling im KZ Dachau, im Mai entlassen, im Herbst wiederholt inhaftiert, danach unter Gestapo-Aufsicht. Beschlagnahme seiner Bücher 1933—1940 Büroangestellter in München, ab 1937 in Hamburg in einer Fotopapierfabrik tätig 1940 Bausoldat in der Wehrmacht, Besatzungssoldat in Frankreich 1941 Aus der Wehrmacht entlassen, bis 1943 Büroangestellter in Frankfurt a. M. 1943 Erneut zur Wehrmacht eingezogen. Sein Text Erste Ausfahrt erscheint in der Kölnischen Zeitung 1944 Desertion zu den Amerikanern am 6. Juni in Etrurien. Ab Oktober Sanitäter im Lagerhospital Ruston (Louisiana) 1945 Mitarbeit am Ruf in Fort Kearney, danach Verwaltungslehrgang in Fort Getty, Überfahrt nach Le Havre, in Darmstadt entlassen. Redaktionsassistent bei Erich Kästner in der Neuen Zeitung 1946—1947 Ab 15. 8. 1946 zusammen mit Hans Werner Richter Herausgeber der Zeitschrift Der Ruf 1947 Im September Teilnahme an der ersten Tagung der Gruppe 47 1948 Erste Buchpublikation: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation 1948—1950 Gründung und Leitung des Abendstudios im Sender Frankfurt 1951—1953 Leiter der Feature-Redaktion der Sender Hamburg und Frankfurt, Herausgeber der Buchreihe studio frankfurt. Die Kirschen der Freiheit erscheinen 1952 1955—1957 Herausgeber der literarischen Zeitschrift Texte und Zeichen, Gründet und Leiter der Redaktion radio-essay des Senders Stuttgart (bis 1958) 1957 Der Roman Sansibar oder der letzte Grund
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1958
1960 1962 1963 1964 1965
1966 1967 1968 1969 1971 1972
1974 1975 1976 1977
1978
1980
Übersiedlung in die Schweiz (Berzona in Tessin). Deutscher Kritikerpreis für den Roman Sansibar oder der letzte Grund. Die Geschichtensammlung Geister und Leute Der Roman Die Rote Die Rote wird verfilmt. Der Reisebericht Wanderungen im Norden Die Geschichtensammlung Ein Liebhaber des Haibscbattens Drei Monate in Berlin Leitung einer Filmexpedition nach Spitzbergen. Die erste Hörspielsammlung Fahrerflucht und die erste Essaysammlung Die Blindheit des Kunstwerks Die Reiseessays Aus einem römischen Winter Der Roman Efraim Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund f ü r das Gesamtwerk, CharlesVeillon-Preis f ü r Efraim Der Reisebericht Hobe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze Der Erzählungsband Mein Verschwinden in Providence Reise nach Mexiko. Verleihung der Schweizer Staatsbürgerschaft. DDR-Ausgabe einer Auswahl von Erzählungen unter dem Titel Alte Peripherie Der Roman Winterspelt Reisen nach Portugal und Spanien Das Gedicht artikel 3 (}) löst in der BRD rege Diskussionen aus. DDR-Ausgabe des Romans Winterspeit öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend, Einige Zeichnungen und die gesammelten Gedichte und Nachdichtungen unter dem Titel empört euch der bimmel ist blau. Andersch erkrankt, Nierentransplantation Studienausgabe von Anderschs Werken (15 Bände, darunter ein Band mit neuen Hörspielen) erscheint zum 65. Geburtstag des Autors. DDR-Auswahl der Reiseessays unter dem Titel Aus einem römischen Winter und andere Reisebilder Andersch stirbt am 21. Februar in Berzona. Im Herbst erscheint die
kurz vor dem Tod vollendete Erzählung Der Vater eines DDR-Ausgabe der Gedichtsammlung empört euch der bimmel 1981-1985 In der D D R erscheinen: Der Vater eines Mörders (1981) und auf deutsche Art (1985), eine fast vollständige Sammlung derschs Erzählungen
280
Mörders. ist blau Weltreise von An-
Personenregister
Adamic, Louis 61 Adamov, Arthur 103 Adams, Henry 262 Adenauer, Konrad 34 69 74 158 160 169 190 Adorno, Theodor W. 92 102 106 bis 108 112-114 117-118 157 167 Ahlsen, Leopold 153 269 Albers, Josef 20 Alberti, Rafael 252 Amery, Carl 139 Améry, Jean 10 219-221 234 250 Andersch, Gisela 157 185 2 1 4 - 2 1 5 266 Anderson, Sherwood 49 60—63 262 Anouilh, Jean 45 Antonioni, Michelangelo 148 Aragon, Louis 103 Arndt, Fritz 252 Augstein, Rudolf 162 Babel, Isaak 98 Bachmann, Ingeborg 91 117 266 Barbusse, Henri 14 Barlach, Ernst 19 124 Bassani, Giorgio 176 Baudelaire, Charles 103 107 206 Baumgart, Reinhard 176 Beauvoir, Simone de 31 35 37 Becher, Hubert 78 Becher, Johannes R. 210 259 Beckett, Samuel 100 103-104 114 116
Beimler, Hans 14 96 244 250-253 278 Bellow, Saul 103 Benjamin, Walter 98 160 185 212 Benn, Gottfried 102 105 111 113 121 202 204-205 207 Bense, Max 92 102 106 108-109 118 121 Bernhard, Hans-Joachim 202 Bienek, Horst 136 Binding, Rudolf Georg 20 Bingel, Horst 125 Birkenfeld, Günter 48 Blank, Theodor 74 Bloch, Ernst 186 Boll, Heinrich 54 59 73 77 84 88 91 117 134 138 193 266 Bonin 75 Borchert, Wolfgang 41 43 52 54 57 59 192 Borges, Jorge Luis 100 Bosshard, Ulrich 166 Brecht, Bertolt 20 39 43 51 103 114-115 207 243 Brehm, Bruno 57 Brenner, Hans Georg 91 Britting, Georg 20 Bucharin, N . I. 14 20 Büchner, Georg 52 Bühlmann, Alfons 10 Bullock, Lotte 269 Bullock, Michael 269 Burckhardt, Jacob 20
281
Burghardt, Max 89 Burmeister, Brigitte 182 Burnham, James 39
Enzensberger, Hans Magnus 10 38 92 100-101 103 117 119-120 160 bis 162 164 166 174 205 272 Euringer, Richard 57
Cabell, James Branch 60 262 Caldwell, Erskine 6 0 - 6 1 67 262 Camus, Albert 35 37 Carossa, Hans 20 59 Carter, Jimmy 240 Celan, Paul 91 117 Chaplin, Charles Spencer 53 Clark, Mark 77 Clarke, Bruce C. 233 Cocteau, Jean 206 Cramer, Heinz von 139 272 Cummings, Edward Estlin 61 Cwojdrak, Günther 103 111 Dahlem, Franz 252 Dean, James 98 193 234 Devilliers, Philippe 97 Döblin, Alfred 20 43 64 103 Donald, Adams J. 63 Döpfner, Julius 245 Dos Passos, John Roderigo 50 61 63 67 98 Dreiser, Theodore 49 61—63 Drewitz, Ingeborg 10 Dufhues, Josef Hermann 162 Dutschke, Rudi 193 Dwinger, Edwin Erich 57 75 Ebbinghausen, Julius 44 47 Egel, Karl Georg 89 Eggebrecht, Axel 96 Ehrmann, Henry 30 Eich, Günter 42 54 92 117 Eichmann, Adolf 206 Eisenhower, Dwight David 74 Eisenstein, S. M. 153 Eliot, Thomas Stearns 103-104 Eluard, Paul 70 Emerson, Ralph Waldo 262 Engels, Friedrich 188
Fabri, Albert 113 Farteli, James T. 61 Fast, Howard 61 103 Faulkner, William 50 6 1 - 6 3 100 104 116 215 232 262 Fechner, Eberhard 153 Fechter, Paul 111-112 Feininger, Lyonel 20 Fellini, Federico 153 Feuchtwanger, Lion 43 Fitzgerald, Francis Scott Key 60 262 Flake, Otto 68 Franco-Bahamonde, Francisco 245 Freud, Sigmund 238 Fried, Erich 203-204 206-207 209 Friedrichs 252 Frisch, Max 10 157 163-164 168 Frost, Robert 62 Fuchs, Gerd 219 221 Fühmann, Franz 74 Gaulle, Charles de 97 199 Gehring, Hans Jörg 60 Geißler, Christian 217 Giacometti, Alberto 102 Gide, André 72 104 Ginsberg, Allen 98 Goethe, Johann Wolfgang 85 121 Golon, Anne 181 Grass, Günter 92 100 117 138 161 164 166 174 205 240 Greulich, Emil Rudolf 26 Grimm, Hans 20 57 Gropius, Walter 20 Habe, Hans 24 162 Haffmans, Gerd 11 Hahn, Assi 57 Hamm, Peter 150
282
Kahnert, Walter 65 Kaiser, Helmut 202 269 Kandinsky, W. W. 20 Kästner, Erich 24 50 53 Käutner, Helmut 153—154 Kazin, Alfred 6 1 - 6 4 Kennedy, John F. 169 Kesselring, Albert 74 77 264 Kesten, Hermann 149 Kesting, Hanno 10 Keynes, John Maynard 30 King, Martin Luther 193 Klee, Paul 116 229 Koeppen, Wolfgang 10 57 9 1 - 9 2 100 104 114 117-118 138 142-143 145 202 216 218-222 Koestler, Arthur 3 0 - 3 1 35 37 39 Kogon, Eugen 3 5 - 3 6 38 92 99 Kolbenhoff, Walter 26 34 41 43
Hamsun, Knut 20 Harig, Ludwig 120 Hartlaub, Felix 117 Hausenstein, Wilhelm 68 Hebbel, Friedrich 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 106 Heine, Heinrich 106-107 Heinemann, Gustav 264 Heißenbüttel, Helmut 10 92 109 120 125 206-207 209 Hemingway, Ernest 50 59-67 103 bis 104 178 187 193 212 231-232 262
Henry, O. 60 Henze, Hans Werner 92 102 116 266 Hermlin, Stephan 89 209 Hesse, Hermann 197 Hicks, Granville 61 Hikmet, Nazim 103 Hildesheimer, Wolfgang 91 266 272 Hitler, Adolf 34 42 74 204 209 220 bis 221 223 Hitzer, Friedrich 219 221 223 Ho chi Minh 97 Hochmuth, Arno 134 Hocke, Gustav René 41 50 53 Hofmannsthal, Hugo von 20 Holthusen, Hans Egon 55 73 78 Holz, Hans Heinz 206 Huch, Ricarda 20 Jaesrich, Helmut 145 Jahnn, Hans Henny 266 James, Henry 60 262 Jefferson, Thomas 262 Jens, Walter 100 117-119 135 Joyce, James 55 103-104 137 Jünger, Emst 20 64 202-214 262 Jungk, Robert 272 Kafka, Franz 20 207 Kahler, Erich von
54-55 35 37
103-104
52 57 59 68 84 134 Korn, Karl 118 Krämer-Badoni, Rudolf 162 Kreuder, Ernst 53 Krolow, Karl 5 4 - 5 5 88 Kuby, Erich 139 Lange, Horst 41 53 Lautréamont, Comte de (d. i. Isodore Ducasse) 103 Lawrence, Thomas Edward 103 Laxness, Halldór 103 Ledig, Gert 117 Lehmann, Julius Friedrich 13 Lenin, W. I. 14 20 Lenz, Siegfried 92 117 134-135 Lewis, Sinclair 50 61—63 Lübke, Heinrich 205 Ludendorff, Erich 13 Lukäcs, Georg 48 McCarthy, Joseph 60 Maisei, Kirti 253 Majakowski, W. W. 103 Mallarmé, Stéphane 101
283
Malpass, Eric Lawson Malraux, André Mann, Golo
106
Plievier, Theodor
43 57 84
Porter, Katherine Anne
89
Pound, Ezra Loomis
Mann, Heinrich Mann,
181
35 37 1 6 3 - 1 6 4 20 43 197
Thomas
18
143
211-212
207
20
Pross, Harry
43
67-71 230-231
61 67
103 105
111
Proust, Marcel
1 0 3 - 1 0 4 116
Pudowkin, W . I.
153
263 Mannzen, Walter
26 34
Manteuffel, Hasso von Mareks, Gerhard Marx, Karl
Ranke, Leopold von 233
Rehn, Jens
20
Reich-Ranicki, Marcel
14 20 45 158 188 221 63
197
Mayer, Hans
Rhee, Syngman
69
Richter,
Werner
Meckel, Christoph
Rilke, Rainer Maria
183
Mies van der Rohe, Ludwig
20
Rilla, Paul
203
Minssen, Friedrich
Moeller van den Bruck, Arthur 78 266 103
Mounier, Emmanuel
37
Münzenberg, Willi Muschg, Walter
14
92 121 20
20
Rommel, Erwin
Roosevelt, Franklin Delano Röpke, Wilhelm
27 30
158
Rossellini, Roberto
153
Rougement, Denis de Rühle, Günter
35
242
Rühmkorf, Peter
58 117 205
Rundstedt, Gerd von
103
Niekisch, Ernst
Sachs, Nelly
203
Nietzsche, Friedrich
57 215
70
98
Salomon, Ernst von 206-207
92 102
Opitz, Karlludwig Ott, Richard
177 180
20
Neruda, Pablo
Nono, Luigi
81
57 77
Rüssel, Bertrand Nadler, Josef
20
190
68
Montherlant, Henri de
Musil, Robert
19
84
Robbe-Grillet, Alain
26 34
Molo, Walter von
15
203
Rimbaud, Arthur
103 105
Möhler, Armin
28
85
218
Milch, Werner
25-26
bis 92 134 193 272
205
Merleau-Ponty, Maurice Michaelis, Rolf
Hans
170
3 2 - 3 4 4 0 - 4 2 5 3 - 5 7 59 84 88 91
89
Miller, Henry
10 181 218
Reifferscheid, Eduard 99 Rembrandt, Harmensz van Rijn
2 2 9 - 2 3 0 238 Masters, Dexter May, Karl
20
100 117
117
57 75
Sandburg, Carl August Saroyan, William Sarraute, Nathalie
177
Sartre,
7
44-46
266
61
63
Jean-Paul
31
35
102 104 1 0 6 - 1 0 7
37-38 109-111
230 235 Pavese, Cesare
Perse, Saint John Picasso, Pablo
Schallück, Paul
103 103
70 116
Plessen, Elisabeth
134-135
Schlemmer, Oskar Schmidt,
Arno
20 54-55
1 2 0 - 1 2 1 125 266
10
284
88
91-93
Schnabel, Ernst 88 91 96 162 266 268 Schnitzler, Karl Eduard von 89 Schnurre, Wolfdietrich 41 52 59 88 91 162 192 Scholochow, M. A. 103 Schonauer, Franz 121 Schröder, Rudolf Alexander 20 59 Schulz, Max Walter 219 Schütte, Wolfram 218 Schütz, Erhard 11 Schweitzer, Albert 70 Seebohm, Hans-Christoph 75 Seghers, Anna 20 43 57 103 Servan-Schreiber, Jean-Jacques 97 Shakespeare, William 85 Shaw, George Bernard 70 Sieburg, Friedrich 56-57 122 124 Silone, Ignazio 30—31 35 37 Simmel, Johannes Mario 181 Simonow, K. M. 247 Sinclair, Upton Beali 14 20 63 Solshenizyn, A. J. 100 Sombart, Nikolaus 206 Speidel, Hans 76 81 Spender, Stephen 31 35 37 Spinoza, Baruch 238 Steinbeck, John 50 6 0 - 6 3 65 67
Valdes, Miguel 252 Valentin, Thomas 197 Vargas, Getulio 14 Vega 252 Vercors (d. i. Jean Bruller) 35—38 Verlaine, Paul 84 Vinz, Kurt 26 Vittorini, Elio 100 103-104 116 Walser, Martin 92 117, 139 161 bis 162 165-166 168 174 Warnach, Walter 78 Weber, Werner 10 Wehdeking, Volker 9 - 1 0 17 Weiss, Peter 80 162 166 174 217 249-250 Wellershoff, Dieter 119 Wessel, Helene 264 Weyrauch, Wolfgang 37 39 43 57 71 84 88 9^-92 117 192 203 206 266 Whitman, Walt 61 Wiechert, Ernst 151 Wilder, Thornton Niven 62 66 262 Wolf, Friedrich 95 Wolfe, Thomas 50 6 1 - 6 2 Wright, Richard 62 Yorck von Wartenburg, Ludwig, Graf 220
69 103 212 262 Stifter, Adalbert 5 3 - 5 4 121 Strauß, Franz Josef 162 Stülpnagel, Karl Heinrich 204
Zahl, Peter Paul 241 243 Zehm, Günter 242 Ziesel, Kurt 163 Zweig, Arnold 20 43 Zweig, Stefan 20 Zwerenz, Gerhard 206
Thieß, Frank 68 Timmermann, Felix 20 Tolstoi, Lew N. 223 Twain, Mark 128
285