Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik: Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten 9783631659410, 9783653053593, 3631659415

Seit den 1990er-Jahren werden regelmäßig Tagungen für junge Germanisten unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft unga

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Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung
I. Sprachwissenschaft
Temporaladverbiale und Tempusverwendung in zukunftsbezo-genen Sätzen (Eszter Kukorelli)
1 Einleitung
2 Erkenntnisse von Brons-Albert (1982)
3 Arbeitsmethode
4 Korpusanalyse
5 Zusammenfassung
6 Literatur
Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung im Deutschen und im Ungarischen (Bernadett Modrián-Horváth)
1 Perspektive in der Sprache und in der Informationsstruktur
2 Die Perspektivierung des Satzes
2.1 Das Subjekt als zentrale Kategorie der Perspektivierung
2.2 Perspektivierung und Wortfolge
2.3 Umperspektivierung
3 Perspektivierung im Text: die Topikkontinuität
3.1 Diskurstopik
3.2 Mittel der Topikkontinuierung im Deutschen und im Ungarischen: Eine Korpusanalyse
3.3 Die Untersuchungsmethode
3.4 Die Ergebnisse der Korpusanalyse
4 Zusammenhänge zwischen Satz- und Textperspektive: ein Ausblick
5 Fazit
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
Zellenmetaphern: Das metaphorische Wechselspiel zwischen (älteren) deutschsprachigen Fachtexten der Biologie und der Soziologie (Krisztián Majoros)
1 Einleitung und Zielsetzung
2 Gesellschaft, Organismus und Zelle
3 Leitmetapher: DIE FAMILIE IST (KEIM-)ZELLE DER GESELLSCHAFT
3.1 Theoretischer Rahmen
3.2 Grundlagen der konzeptuellen Metapherntheorie
4 ZELLE und FAMILIE in Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers... (1875)
5 Zusammenfassung
6 Literatur
EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten (Máté Tóth)
1 Problemstellung
2 Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN: eine kontrastive Analyse
2.1 Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN
2.2 Englische, deutsche und ungarische Daten
2.3 Daten aus weiteren Sprachen
3 Konklusion
4 Literatur
Eine korpuslinguistische Untersuchung von kommunikativen Routineformeln (Krisztina Mujzer-Varga)
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund – Begriffsbestimmung
3 Formale und funktionale Aspekte bei der Beschreibung von kommunikativen Routineformeln
4 Methode der Untersuchung
5 Die Ergebnisse einer empirischen korpuslinguistischen Untersuchung
5.1 Die syntaktische Einbettung der Wortverbindung
5.2 Funktion
6 Schlussbemerkungen
7 Literatur
Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich (Dóra Lócsi)
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund der Untersuchung
3 Materialbasis und Untersuchung
4 Ergebnisse
5 Zusammenfassung
6 Literatur
II. Literaturwissenschaft
Gattungsgeschichtliche und -theoretische Überlegungen zum Begriff des Reiseberichtes: Versuch eines aktuellen Überblicks (Barbara Kinga Hajdú)
Literatur
Rauminszenierung in Joseph Viktor von Scheffels Roman Ekkehard (Olga Surinás)
Literatur
Der Gleichmut der Natur: Eine dichtungstheoretische Parallele bei Rainer Maria Rilke und Raoul Schrott (Anna Zsellér)
1 Rilkes Schweizer Naturdichtung oder der unentrinnbare Todesgleichmut
2 Raoul Schrott: Gegen die Indifferenz der Natur dichten
3 Literatur
Medeas Erlösung?: Überlegungen zu Christa Wolfs Medea. Stimmen (Marcell Grunda)
Literatur
Opfernarrative im zeitgenössischen deutschen Generationen und Familienroman: Zu Ulla Hahns Unscharfe Bilder
1 Opfernarrative in der heutigen deutschen Literaturszene
2 Im Fokus die Erinnerung – Ulla Hahn: Unscharfe Bilder
3 Die Familie als ein Medium der Erinnerungskultur im deutschen Familienroman
4 Fazit
5 Literatur
Repräsentationen der ostmitteleuropäischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung in ungarischen Schulbüchern (Sándor Trippó)
1 Wende-Erfahrung aus heutiger Sicht
2 Zielsetzung
3 Schulbuch als Medium der Wirklichkeitskonstruktion
4 Erzählmuster der Wende in ungarischen Schulbuchnarrativen
5 Darstellung von Politikern
6 Zwischenstaatliche Bezüge und die deutsche Wiedervereinigung
7 Die Sowjetunion als Alteritätskonstruktion postsozialistischer Demokratien
8 Bilder und Zitate als Verifizierungsmittel
9 Fazit
10 Literatur
10.1 Primärliteratur
10.2 Sekundärliteratur
Autorenverzeichnis
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Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik: Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten
 9783631659410, 9783653053593, 3631659415

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Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.)

Tamás Kispál ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Szeged (Ungarn) und Lehrkraft am Seminar für Deutsche Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lexikographie, kognitive Linguistik, Textlinguistik, Wissenschaftssprache und Deutsch als Fremdsprache. Judit Szabó ist Assistentin am Lehrstuhl für Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Szeged. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Medientheorien sowie Dramatik der Zwischenkriegszeit.

www.peterlang.com

SSGL 05_265941_Kispal_GR_A5HCk PLE.indd 1

ISBN 978-3-631-65941-0

Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik

Seit den 1990er-Jahren werden regelmäßig Tagungen für junge Germanisten unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft ungarischer Germanisten organisiert. Der Band umfasst ausgewählte Aufsätze der ReferentInnen der Tagung von Nachwuchswissenschaftlern aus dem Jahr 2013. Die Veranstaltung mit dem Titel Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik fand an der Universität Szeged statt. Die sprachwissenschaftlichen Beiträge behandeln grammatische, metaphorische und aktuelle lexikologische Fragestellungen. Bei den literaturwissenschaftlichen Beiträgen liegt der Schwerpunkt auf Gattungstheorie, Narratologie, Ideologie und Kultur.

Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.) · Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik

5

Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten

Band 5

13.01.15 KW 03 11:19

Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.)

Tamás Kispál ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Szeged (Ungarn) und Lehrkraft am Seminar für Deutsche Philologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lexikographie, kognitive Linguistik, Textlinguistik, Wissenschaftssprache und Deutsch als Fremdsprache. Judit Szabó ist Assistentin am Lehrstuhl für Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Szeged. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Medientheorien sowie Dramatik der Zwischenkriegszeit.

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Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik

Seit den 1990er-Jahren werden regelmäßig Tagungen für junge Germanisten unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft ungarischer Germanisten organisiert. Der Band umfasst ausgewählte Aufsätze der ReferentInnen der Tagung von Nachwuchswissenschaftlern aus dem Jahr 2013. Die Veranstaltung mit dem Titel Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik fand an der Universität Szeged statt. Die sprachwissenschaftlichen Beiträge behandeln grammatische, metaphorische und aktuelle lexikologische Fragestellungen. Bei den literaturwissenschaftlichen Beiträgen liegt der Schwerpunkt auf Gattungstheorie, Narratologie, Ideologie und Kultur.

Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.) · Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik

5

Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten

Band 5

13.01.15 KW 03 11:19

Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik

SZEGEDINER SCHRIFTEN ZUR GERMANISTISCHEN LINGUISTIK Herausgegeben von Ewa Drewnowska-Vargáné und Péter Bassola

BAND 5

Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.)

Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2192-6859 ISBN 978-3-631-65941-0 (Print) E-ISBN 978-3-653-05359-3 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-05359-3 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2015 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Inhaltsverzeichnis Bandherausgeber Zur Einführung .................................................................................................... 7

I. Sprachwissenschaft .................................................................................... 11 Eszter Kukorelli Temporaladverbiale und Tempusverwendung in zukunftsbezogenen Sätzen ... 13 Bernadett Modrián-Horváth Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung im Deutschen und im Ungarischen ................................................................... 25 Krisztián Majoros Zellenmetaphern. Das metaphorische Wechselspiel zwischen (älteren) deutschsprachigen Fachtexten der Biologie und der Soziologie ....................... 39 Máté Tóth EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten ......................................... 55 Krisztina Mujzer-Varga Eine korpuslinguistische Untersuchung von kommunikativen Routineformeln 69 Dóra Lócsi Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich .......... 83

II. Literaturwissenschaft ............................................................................... 93 Barbara Kinga Hajdú Gattungsgeschichtliche und -theoretische Überlegungen zum Begriff des Reiseberichtes. Versuch eines aktuellen Überblicks ......................................... 95 Olga Surinás Rauminszenierung in Joseph Viktor von Scheffels Roman Ekkehard ............ 101

6

Inhaltsverzeichnis

Anna Zsellér Der Gleichmut der Natur. Eine dichtungstheoretische Parallele bei Rainer Maria Rilke und Raoul Schrott ...................................................... 111 Marcell Grunda Medeas Erlösung? Überlegungen zu Christa Wolfs Medea. Stimmen ............ 127 Edit V. Debróczki Opfernarrative im zeitgenössischen deutschen Generationen- und Familienroman. Zu Ulla Hahns Unscharfe Bilder ............................................ 141 Sándor Trippó Repräsentationen der ostmitteleuropäischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung in ungarischen Schulbüchern ........................................... 161

Autorenverzeichnis ...................................................................................... 175

Zur Einführung Seit Ende der 1990er Jahre werden Tagungen für junge Germanisten in Ungarn unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft ungarischer Germanisten regelmäßig organisiert. Zunächst fanden die Tagungen für junge Literaturwissenschaftler und Sprachwissenschaftler getrennt statt. Später wurden die Tagungen ungarischer Nachwuchsgermanisten zusammen abgehalten. Der vorliegende Band umfasst ausgewählte Aufsätze der ReferentInnen der dritten gemeinsamen Tagung von Nachwuchswissenschaftlern in der ungarischen Germanistik. Die Tagung fand vom 11.–12. April 2013 an der Universität Szeged statt. Sie hatte den Titel „Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik“, was die Präsentation eines breiten Spektrums von Forschungsthemen ermöglichte. Die ersten zwei sprachwissenschaftlich orientierten Beiträge in diesem Band behandeln aktuelle grammatische Fragestellungen. Eszter Kukorelli geht in ihrem Beitrag der Frage nach, ob Temporaladverbiale einen Einfluss auf die Wahl zwischen dem Präsens und dem Futur zum Ausdruck zukünftiger Ereignisse haben. Auf der Grundlage einer Korpusanalyse wird dabei der Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Temporaladverbialen einerseits und der Verwendung von Präsens und werden + Infinitiv in zukunftsbezogenen Äußerungen im Deutschen andererseits analysiert. Bernadett Modrián-Horváth untersucht die vielfältigen sprachlichen Ausdrucksmittel der textuellen Perspektivierung und der Topikkontinuierung im Deutschen und im Ungarischen. In ihrer empirischen Arbeit kommt sie zu dem Schluss, dass die primären Ausdrucksmittel der Topikkontinuierung in den beiden untersuchten Sprachen deutlich unterschiedlich sind: Im Deutschen sind es in erster Linie die Personalpronomina, im Ungarischen die Verbsuffixe. Im zweiten Teil der sprachwissenschaftlichen Beiträge geht es um Metaphern und Metonymien. Krisztián Majoros zeigt an einem konkreten Beispiel, wie sich das metaphorische Wechselspiel zwischen Biologie und Soziologie mit dem Instrumentarium der kognitiven Linguistik beschreiben lässt. Zunächst erläutert er den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Zellenmetapher in der frühen Soziologie. Anschließend rekonstruiert er metaphorische Ursprungs- und Zielbereiche, die in Schäffles Sozialtheorie durch die konzeptuellen Metaphern DIE GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS und DIE FAMILIE IST (KEIM-)ZELLE DER GESELLSCHAFT systematisch miteinander verbunden werden und daher die konzeptuelle Basis seiner Argumentation bilden.

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Inhaltsverzeichnis

Máté Tóth analysiert verschiedene Konzeptualisierungsstrategien des Idealisierten Kognitiven Modells MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN in mehreren Sprachen. Die achtzehn untersuchten Sprachen konzeptualisieren demnach das INSTRUMENTSPIELEN unterschiedlich. Einerseits verfolgen sie metonymische oder metaphorische Konzeptualisierungsstrategien, andererseits sind diese Metonymien und Metaphern sprach- und kulturabhängig weitgehend unterschiedlich ausgeprägt. Der dritte Block der linguistischen Beiträge thematisiert aktuelle lexikologische Fragestellungen. Krisztina Mujzer-Varga befasst sich mit formalen und funktionalen Aspekten von kommunikativen Routineformeln. Ziel ihres Beitrags ist es, kommunikative Routineformeln mit dem Verbum dicendi sagen einer gründlichen formalstrukturellen und pragmafunktionalen Untersuchung zu unterziehen. Am Beispiel der kommunikativen Formel wie man so schön sagt veranschaulicht sie ihre syntaktische Einbettung und ihre Funktion durch Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus. Dóra Lócsi analysiert aktuelle deutsche und ungarische Werbespots. Ziel ihrer Arbeit ist es festzustellen, in welchem Verhältnis und bei welchen Themen Anglizismen in deutscher und ungarischer Werbesprache vorkommen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass der Einfluss des Englischen in ungarischen Werbeslogans viel niedriger als in deutschen Werbeslogans ist. 20 % der 60 häufigsten Wörter in deutschen Werbeslogans sind Anglizismen, während die 60 häufigsten Wörter in ungarischen Werbeslogans keine Anglizismen enthalten. Anglizismen treten in den beiden Sprachen darüber hinaus in teilweise unterschiedlichen thematischen Bereichen auf. Die ersten drei literaturwissenschaftlichen Beiträge konzentrieren sich auf die aktuelle Neuorientierung in gattungstheoretischen Fragestellungen sowie auf die Erläuterung narrativ-rhetorischer Verfahren der poetischen Raumkonstitution und der daran anknüpfenden ästhetischen und ideologischen Fragestellungen. Barbara Kinga Hajdú stellt die Neuorientierung in der Reiseberichtsforschung und die damit im Zusammenhang stehenden Wandlungen des Genrebegriffs ins Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen. Ihr Aufsatz erläutert die Eigendynamik des Genreverständnisses am Beispiel des breit gefächerten Diskurses um den Reisebericht, der noch bis vor kurzem im Spannungsfeld zwischen Authentizitätsanspruch und Fiktionalisierung verortet war. Die Arbeit von Hajdú geht jedoch auch auf die sich aktuell vollziehende Wandlung in der Reiseberichtsforschung ein, die in Folge interdisziplinärer und imagologischer Annäherungen ein Umdenken im Gattungsverständnis erforderlich macht. Olga Surinás stellt einen populären historischen Roman des 19. Jahrhunderts (den Ekkehard von Joseph Viktor von Scheffel) in den Fokus ihrer Analyse, wobei sie das erzählte Geschehen und das umfangreiche – als Referenz und

Einführung

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Beweisquelle angeführte – Anmerkungsregister gegeneinander abwägt. Die Interpretation stellt erhebliche Abweichungen zwischen Erzähldiskurs und Paratext fest, die ein Labyrinth täuschender topologischer Verweise aufzeigen und darüber hinaus ein ganzes Bündel von Fragen aufwerfen: zum einen den Stellenwert der angeführten Anmerkungen, zum anderen den Authentizitätsanspruch der historisierenden Repräsentation bzw. ideologische und ästhetische Erwägungen, die für die ausgezeigten Diskrepanzen eine plausible Erklärung liefern. Anna Zsellér befasst sich in ihrem dichtungstheoretischen Aufsatz mit einer vergleichenden Untersuchung der ästhetischen und poetischen Naturbezüge in den Gedichten von Rainer Maria Rilke und Raoul Schrott. Die textnahe Analyse zeichnet ein präzises Bild vom breiten Spektrum der poetischen Auseinandersetzung und Selbstreflexion im Spiegel der Naturdarstellungen, die im Schaffen der beiden Dichter in ihrer vollen Bandbreite skizziert werden. Somit wird über die Interpretation über die poetisch konstituierten Naturbegriffe hinaus die Darlegung unterschiedlicher dichterischer Verfahren fokussiert. Im zweiten Teil der literatur- und kulturwissenschaftlichen Beiträge liegt der Schwerpunkt der Untersuchungen auf den sich wandelnden Tendenzen in den diskursiven Konstruktionen (kollektives Gedächtnis, Gender-Verständnis, Gesellschaftsbilder usw.), die unter anderem durch literarische Werke oder durch engagierte kulturelle Angebote entstehen. Marcell Grunda analysiert Christa Wolfs Romanadaptation des MedeaMythos unter diskurstheoretischem Aspekt, wobei in erster Linie die geschlechtsbezogene Machtdimension sowie die immanenten Sichtweisen des polyphonen Erzähldiskurses untersucht werden. Die Analyse legt als Erklärung für die mehrstimmige Narration und die radikale Umdeutung von Medeas Schuld eine ideologische Botschaft nahe, die Medea – entgegen traditioneller Geschlechterkonstrukte und im Sinne eines progressiven Gender-Verständnisses – eine souveräne Subjektposition und der Literatur eine konstruktive Rolle in der Wandlung von Gesellschaftsbildern zuweist. Edit V. Debróczki befasst sich mit aktuellen Tendenzen der Vergangenheitsbewältigung in zeitgenössischen deutschen Familien- und Generationsromanen, die im Vergleich zu früheren literarischen Erzählungen über die NS-Zeit auch die Perspektive der Täter und eine versöhnliche Auseinandersetzung nachfolgender Generationen mit den Sünden der Ahnen ins Blickfeld rücken. Der Aufsatz legt mit der Analyse ausgewählter Erzähldiskurse die Tendenz nahe, dass aktuelle Generationsromane – geprägt von einer kontinuitätsstiftenden Erinnerungsdynamik – zu einer Neuorientierung in der deutschen Erinnerungsliteratur beitragen. Sándor Trippó geht in seinem kulturwissenschaftlich und diskurstheoretisch ausgerichteten Aufsatz kritisch der Frage nach, wie kollektives Wissen über die

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Inhaltsverzeichnis

Vergangenheit übertragen bzw. wie Wissen über kulturelle Produkte mitgestaltet wird. Die Analyse konzentriert sich auf die Repräsentationen der Wendezeit in ungarischen Geschichtslehrbüchern, wobei die vermittelten Inhalte vor allem auf narrative Positionen, kausale Motivierungsstrukturen und Visualisierungstechniken hin geprüft werden. Der Beitrag weist in den analysierten und auch aktuell noch gebräuchlichen ungarischen Schulbuchnarrativen eine von ideologischen Konstruktionen und tradierten Ungarnbildern mitgeprägte Perspektive und Erzählposition der 1990er Jahre nach, die im Lichte laufender historiographischer Forschungen und des sich wandelnden Geschichtsbewusstseins in Zukunft zur Diskussion gestellt werden sollten. Den Gutachtern der Beiträge des Bandes gebührt besonderer Dank. Außer den Gutachtern möchten wir uns an dieser Stelle bei Charlotte Klein, Elisabeth Peschke und Andreas Nolda für die muttersprachliche Lektorierung bedanken. Für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik“ danken wir Ewa Drewnowska-Vargáné und Péter Bassola. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Gesellschaft ungarischer Germanisten für die finanzielle Unterstützung. Szeged, im November 2014 Die Herausgeber

I.

Sprachwissenschaft

Eszter Kukorelli Budapest

Temporaladverbiale und Tempusverwendung in zukunftsbezogenen Sätzen 1

Einleitung

Das Deutsche verfügt zwar über ein analytisches Futurtempus zur Versprachlichung zukünftiger Zeitreferenz, das einfache Präsens kann aber auch Zukunftsbezug haben und stellt dadurch einen starken Konkurrenten zum analytischen Futur dar. Aus dem Nebeneinander von Präsens und werden + Infinitiv zum Ausdruck von Zukünftigem ergibt sich die Frage, welche Faktoren die Tempuswahl motivieren, beeinflussen oder einschränken. 1 Verbreitet ist die Annahme, dass das Präsens nur zusammen mit einem zukunftsbezogenen Temporaladverbial die Zukunftsbedeutung zum Ausdruck bringen kann (vgl. u.a. Dudengrammatik 2005: 516, Hacke 2009: 21 und Welke 2005: 427f.). Die Bezeichnung Temporaladverbial2 bezieht sich auf sprachliche Elemente mit temporaler Bedeutung, deren Funktion hauptsächlich in der „Konkretisierung und weitere[n] Spezifikation der durch Tempus signalisierten Relationen“ (Pittner 1996: 76) liegt, wodurch sie „bei der zeitlichen Einordnung von Ereignissen mit dem Tempussystem zusammen[wirken]“ (ebd.). Die Analyse von Temporaladverbialen ist insofern notwendig, als dass sie für die temporale Fixierung eines Ereignisses verantwortlich sein können. Manchmal wird den Adverbialen eine wichtigere Rolle beigemessen als den Tempora selbst. Nach Radtke (1997) erfolgt die Lokalisierung der Zeit „keineswegs durch die Tempuskategorien […], sondern durch Temporalangaben oder den Kontext. Tempora [leisten; E.K.] keine Lokalisierung im Zeitraum, sondern eine Orientierung. Mit anderen Worten, Tempora sind keine ›Wegmarken‹, sondern ›Wegweiser‹“ (Radtke 1997: 136).

1

Das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Präsens und dem analytischen Futur ist eine komplexe Frage, die hier in ihrer Vollständigkeit nicht nachgezeichnet werden soll (vgl. dazu Leiss 1992, Thieroff 1992 und Hacke 2009); vielmehr wird hier nur eine Teilproblematik zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. 2 Im vorliegenden Beitrag werden die Termini Temporaladverbial und Temporaladverb verwendet. Andere konkurrierende Termini wie Zeitadverbial, Zeitadverb, Temporaladverbiale, Temporalangabe oder Zeitangabe stehen nur in Zitaten.

14

Eszter Kukorelli

Im vorliegenden Beitrag wird die Frage thematisiert, ob die Temporaladverbiale – aufgrund ihrer Eigenschaft, temporale Informationen zu vermitteln – einen Einfluss auf die Wahl zwischen dem Präsens und dem Futur zum Ausdruck zukünftiger Ereignisse haben. Nach der Vorstellung der wichtigsten Arbeit aus der einschlägigen Fachliteratur in Abschnitt 2 wird in Abschnitt 3 die Arbeitsmethode vorgestellt. Hier werden die untersuchten Temporaladverbialtypen beschrieben und die Arbeitshypothesen formuliert. Abschnitt 4 enthält den empirischen Teil der Arbeit: Auf der Grundlage einer Korpusanalyse wird der Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Temporaladverbialen und der Verwendung von Präsens und werden + Infinitiv in zukunftsbezogenen Äußerungen im Deutschen analysiert.3

2

Erkenntnisse von Brons-Albert (1982)

Eine umfassende Analyse der Vorkommenshäufigkeit von Temporaladverbialen mit zukunftsbezogenen Verbformen im Deutschen findet sich bei Brons-Albert (1982). Sie hat die „Bezeichnung von Zukünftigem in der gesprochenen deutschen Standardsprache“ (Brons-Albert 1982: 12) auf der Grundlage von Telefondialogen untersucht, um eine genaue Statistik der in zukunftsbezogenen Sätzen gebrauchten Verbformen bzw. der Korrelationen der gebrauchten Verbformen unter Berücksichtigung verschiedener Variablen aufzustellen. Bei der Analyse eines Korpus von 2000 zukunftsbezogenen Sätzen wurden alle Verbformen ausgewertet, die sich auf Zukünftiges beziehen: neben Präsens und Futur auch Konjunktiv, „Konditional“, ungrammatische Sätze, unvollständige Sätze (sofern nicht das Verb fehlte), „Zukunft mit Modalität“ und Imperative (ebd.). In der Korpusanalyse wurden – vor allem in Anlehnung an Wunderlich (1970) – drei Gruppen von Temporaladverbialen als Variablen berücksichtigt: x Gruppe 1 umfasst – hauptsächlich sprechzeitrelative – Temporaladverbiale, die eindeutig einen Zukunftsbezug haben, wie morgen, übermorgen. x Gruppe 2 besteht aus Temporaladverbialen, „von denen normalerweise angenommen wird, daß sie nur dann eindeutigen Zukunftsbezug herstellen können, wenn zumindest eine weitere Information aus dem Kontext erschlossen werden kann“ (Brons-Albert 1982: 36). Entscheidend sein kann die Frage, ob das Temporaladverbial sich auf die 3

Die Korpusanalyse wurde im Rahmen meines Dissertationsprojektes mit dem Titel „Kontrastiver Vergleich der indikativischen Tempora zur Bezeichnung von Zukünftigem im Deutschen und Ungarischen“ durchgeführt.

Temporaladverbiale und Tempusverwendung

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Sprechzeit bezieht oder nicht, wie im Falle von in 10 Minuten, gleich, oder ob der Zeitpunkt, auf den es referiert, zukunftsbezogen ist oder nicht, wie in Egon fährt übermorgen nach Rom. Dann besucht er den Papst. x Zur Gruppe 3 gehören die Heute-Adverbiale im Sinne von Wunderlich (1970), deren Zeitbezug allein das Tempus eindeutig macht: heute, dieses Jahr. Nach der Auswertung ihres mündlichen Korpus stellt Brons-Albert (1982) fest, dass nur in 39 % der Sätze, die sich auf Zukünftiges beziehen, ein Temporaladverbial auftritt und nur 6,1 % der analysierten Sätze ein Temporaladverbial enthalten, das sich eindeutig auf Zukünftiges bezieht. Aufgrund dieser Daten kommt Brons-Albert zur Schlussfolgerung: „Zeitadverbiale spielen bei der Bezeichnung von Zukünftigem nicht die Rolle, die man erwarten könnte“ (Brons-Albert 1982: 103). Interessant ist aber die Beobachtung, dass unter allen Verbformen die werden + Infinitiv-Konstruktion am häufigsten mit eindeutig zukunftsbezogenen Temporaladverbialen im gleichen Satz vorkommt.

3

Arbeitsmethode

In der vorliegenden Arbeit wurde ein Korpus aus dem Bereich der konzeptionellen Nähesprache im Sinne von Koch/Oesterreicher (1985) ausgewertet, das aus mündlichen Äußerungen (Interviews und Unterhaltungsgesprächen), Blogeinträgen und Kommentaren zu den Blogeinträgen besteht. In der Untersuchung werden also mündliche und computervermittelte Kommunikationsformen berücksichtigt, die – trotz ihrer unterschiedlichen medialen Realisierung – durch das gemeinsame Merkmal ‚nähesprachlich‘ geprägt sind. Nach der Interpretation von Koch/Oesterreicher (1985) sind für nähesprachliche Äußerungen im Wesentlichen folgende Kommunikationsbedingungen charakteristisch: Spontaneität, freie Themenentwicklung, involvement, Vertrautheit der Partner, Dialogizität, face-toface-Interaktion. Das Korpus der gesprochenen Sprache besteht aus eigenen Erhebungen; auf bereits vorhandene Korpora wurde nicht zurückgegriffen. Die Aufnahmen wurden bei familiären Zusammentreffen von Freunden oder Familienmitgliedern durchgeführt. Es handelt sich in diesen Fällen um spontanes Sprechen, währenddessen die Gesprächsteilnehmer sich unaufgefordert und uneingeschränkt zu beliebigen Themen äußerten. Die Aufnahmen erfolgten mit dem Einverständnis der Sprecher, die aber weder über den konkreten Zeitpunkt des Anfangs und des Endes der Aufnahme, noch über das Untersuchungsthema informiert wurden, um

16

Eszter Kukorelli

ihre Unbefangenheit nicht zu beeinträchtigen und die Spontaneität der Sprachproduktion so weit wie möglich zu bewahren. Aus dem Bereich der computerbasierten Kommunikationsformen wurden Blogs und Kommentare zu den Blogeinträgen als Korpus gewählt. Für diese Untersuchung wurden ausschließlich „private Tagebücher“ herangezogen, die meistens von Tag zu Tag über private Erlebnisse, Erfahrungen, eigene Interessen, Gedanken und Ansichten berichten. Es handelt sich also bei jedem untersuchten Blog um die Schilderung von persönlichen Themen, die das nähesprachliche Merkmal ‚involvement‘ besitzt. Des Weiteren haben auch die Merkmale ‚freie Themenentwicklung‘ und ‚Spontaneität‘ eine große Relevanz. Spontaneität liegt hier insofern vor, als es sich in den Blogs nicht um vorgeplante, vorformulierte Texte, sondern um spontanes Schreiben handelt, was häufig sogar von den Blogschreibern selbst betont wird. Die Kommentare sind spontane Reaktionen von namentlich bekannten oder unbekannten Lesern auf die Blogeinträge, die von wesentlich kleinerem Umfang als die Einträge sind und oft nur aus einem einzigen Satz bestehen. Sie werden meistens von den VerfasserInnen selbst beantwortet, so dass durch die mehrfachen Reaktionen eine dialogische Kommunikation entsteht. Aus dem Korpus wurden in einem ersten Schritt alle zukunftsbezogenen werden + Infinitiv-Konstruktionen und Präsensformen herausgesucht. 4 Nach der Auswertung konnte festgestellt werden, dass im Korpus 688 zukunftsbezogene Präsensformen und 372 werden + Infinitiv-Fügungen belegt sind. Danach wurden die zukunftsbezogenen Temporaladverbiale untersucht, die in den ausgewerteten Sätzen mit dem futurischen Präsens oder dem analytischen Futur vorkommen. Im Bereich der untersuchten Temporaladverbiale wurde zwischen kontextunabhängig und kontextabhängig zukunftsbezogenen Adverbialen unterschieden. Die kontextunabhängig zukunftsbezogenen Adverbiale signalisieren aufgrund ihres semantisch-lexikalischen Gehalts eindeutig und kontextunabhängig Nachzeitigkeit (vgl. Beispiel 1): (1)

4

habe grad mein handy verloren, aber irgendwie rege ich mich nicht wirklich auf. sehr lustig. bekomme nächste woche ne neue karte mit der alten nummer, weiß jemand ob das was kostet?5

Nicht-zukunftsbezogene Lesarten der analytischen Futurkonstruktion und des Präsens wurden bei der Analyse nicht berücksichtigt. 5 Alle Beispiele stammen aus dem Korpus. Die Beispiele aus dem Korpus sind wortwörtlich übernommen; eventuelle Tipp- oder Rechtschreibfehler, orthographische Besonderheiten und Eigenständigkeiten, die sich aus dem Individualstil ergeben, wurden nicht korrigiert.

Temporaladverbiale und Tempusverwendung

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Die kontextunabhängig zukunftsbezogenen Temporaladverbiale grenzen sich gegenüber den kontextabhängig zukunftsbezogen interpretierbaren Adverbialien ab. Letztere sind nämlich an sich nicht zukunftsbezogen, sondern erst vor dem Hintergrund des Kontextes zukunftsbezogen interpretierbar. Das Adverbial im Februar in Beispiel (2) hat eine temporal vorausweisende Bedeutung, wenn die Sprechzeit z.B. im Januar liegt. (2)

Im Februar kommt Jule her, weil sie soeben ihr erstes Vorstellungsgespräch klargemacht hat. Sie rief gerade hocherfreut an und berichtete vom Anruf einer Zahnärztin in Rottweil, die ganz begeistert von ihrer Bewerbung war und sie unbedingt sehen will.

Innerhalb der zukunftsbezogenen Adverbiale bilden die sog. Heute-Adverbiale und die Datumsangaben eine besondere Gruppe, von der in der Fachliteratur behauptet wird, dass ihr Vorkommen mit der Tempuswahl zusammenhängt. Es muss betont werden, dass es im Falle der Heute-Adverbiale und der Datumsangaben jeweils um eine Teilgruppe der zukunftsbezogenen Temporaladverbiale geht und Überlappungen zwischen den beiden Gruppen möglich sind. Die Gruppe der Heute-Adverbiale enthält laut Wunderlich (1970) Elemente, die eine die Sprechzeit umfassende Zeit in der Zukunft bezeichnen und deren Zukunftsbezug nur durch den Kontext hergestellt wird: (3)

Heute werde ich vom Deutschen ins Lateinische übersetzen und eigentlich mag ich das ganz gerne, v.a. wenn der Text nicht allzu exotisch ist.

Wunderlich (1970: 181) weist darauf hin, dass im Falle dieser Adverbiale nur das verwendete Tempus über deren Zukunftsbezug Aufschluss gibt. Das Präsens, das sich im Default-Fall auf die Gegenwart bezieht, signalisiert im Kontext eines Heute-Adverbials keinen Zukunftsbezug. Die Datumsangaben geben das konkrete Datum (Datum, Tag, Tageszeit) oder die Uhrzeit eines Ereignisses an: (4)

Am Dienstag kommt er aus dem Urlaub zurück. Er fehlt mir im Moment sehr, er, das was mir gut tut ...

Hinsichtlich der Frage der gegenseitigen Austauschbarkeit von Präsens und Futur zur Markierung zukünftiger Zeitreferenz wird oft auf die Präferenz des Präsensgebrauchs hingewiesen, wenn das zukünftige Geschehen „vorprogrammiert“ (Dudengrammatik 2005: 517) oder kalendarisch festgelegt ist (vgl. Hacke 2009: 26f., Thieroff 1994: 123, Vater 1975: 26 und Welke 2005: 435). Vater schließt

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Eszter Kukorelli

sogar die Verwendung des Futurs in den „Aussagen über die Zukunft, über deren Realisierung keine Zweifel bestehen“ (Vater 1975: 100) strikt aus. In der folgenden Korpusanalyse wird in einem ersten Schritt ein Überblick über die Korrelation der Tempora mit den zukunftsbezogenen Temporaladverbialen gegeben. Danach wird der Tempusgebrauch in den Sätzen untersucht, in denen ein kontextunabhängig zukunftsbezogenes Temporaladverbial bzw. ein Heute-Adverbial oder eine Datumsangabe vorkommt. Ziel der Analyse ist es festzustellen, ob Zusammenhänge zwischen dem Tempusgebrauch und dem Vorkommen eines (bestimmten) Adverbials im Satz zu beobachten sind. Dabei werden folgende Hypothesen aufgestellt: Hypothese 1: Das Präsens, das im Default-Fall gegenwartsbezogen ist, korreliert stärker mit Temporaladverbialen als mit der analytischen Futurkonstruktion. Hypothese 2: Kontextunabhängig zukunftsbezogene Temporaladverbiale werden überwiegend mit dem Präsens im gleichen Satz verwendet. Hypothese 3: Die Heute-Adverbiale kommen häufiger mit werden + Infinitiv als mit dem Präsens im gleichen Satz vor. Hypothese 4: Die Datumsangaben tendieren dazu, mit dem Präsens im gleichen Satz realisiert zu werden.

4

Korpusanalyse

Tabelle 1 führt die Vorkommenshäufigkeit von Präsens und werden + Infinitiv mit bzw. ohne Temporaladverbial im selben Satz auf.

zukunftsbezogenes TA im Satz kein zukunftsbezogenes TA im Satz ∑

Präsens 293

werden + Infinitiv 140

∑ 433

395

232

627

688

372

Tab. 1: Vorkommenshäufigkeit von Präsens und werden + Infinitiv mit bzw. ohne Temporaladverbial im selben Satz Tabelle 1 zeigt, dass 293 Belege, d.h. nur weniger als die Hälfte (42,6 %) der Präsensformen mit einem zukunftsbezogenen Temporaladverbial im selben Satz vorkommt, wie in Beispiel (5):

Temporaladverbiale und Tempusverwendung (5)

19

Zwei Jahre sind seit meinem letzen Eintrag vergangen. Wahnsinn. Da hab ich ja einiges nachzuholen. *g* warum so viel Zeit dazwischen liegt erzähl ich später.

Diese Belegzahl ist m.E. zu gering, um von der Annahme ausgehen zu können, dass das Präsens an sich unfähig wäre, einen eindeutigen Zukunftsbezug herzustellen. Das Ergebnis ist noch überraschender, wenn man sich bedenkt, dass zwischen der Korrelation von Präsens und werden + Infinitiv mit einem zukunftsbezogenen Temporaladverbial kein gravierender Unterschied besteht, da 140 Sätze, in denen eine werden + Infinitiv-Konstruktion vorkommt, ein Temporaladverbial enthalten, was 37,6 % aller Sätze mit werden + Infinitiv entspricht: (6)

Habe gestern noch von meiner Mom erfahren, dass Eva, meine Schwester, eine Stelle angeboten bekommen hat. Sie hatte dort schon ein Praktikum gemacht und sich gleich beworben. Die Stelle ist zwar erstmal auf 6 Monate befristet, aber daraus kann sich ja mehr entwickeln. Genaueres werde ich erst erfahren, wenn ich mit ihr gesprochen hab.

Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die Verteilung der kontextunabhängig zukunftsbezogenen Temporaladverbiale. kontextunabhängig zukunftsbezogene TA im Satz keine kontextunabhängig zukunftsbezogenen TA im Satz ∑

Präsens 142

werden + Infinitiv 43

∑ 185

546

329

875

688

372

Tab. 2: Verteilung der kontextunabhängig zukunftsbezogenen Temporaladverbiale in den Sätzen mit Präsens und werden + Infinitiv Insgesamt sind im Korpus 185 kontextunabhängig zukunftsbezogene Temporaladverbiale belegt. 142mal treten sie mit einer Präsensform, 43mal mit einer werden + Infinitiv-Fügung im selben Satz auf. Die Mehrzahl (77 %, d.h. 142) der Temporaladverbiale, die aufgrund ihres semantisch-lexikalischen Gehalts zukunftsbezogen sind, wird also mit dem Präsens realisiert. Am häufigsten wird mit 42 Belegen morgen verwendet: (7)

So, Weihnachten kann kommen. Der Gänsebraten liegt (noch) auf Eis, der Tannenbaum steht im Kühlen, alle Geschenke sind besorgt. Morgen gehe ich evtl. noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen, die, die ich heute vergessen habe.

20

Eszter Kukorelli

An zweiter Stelle steht das Temporaladverb bald mit 34 Belegen: (8)

Ich wünsch dir auch ne gute Besserung! Hoffentlich geht es dir bald wieder richtig gut.

31mal kommen Konstruktionen mit nächst- und dem Präsens im gleichen Satz vor: (9)

Nächstes Halbjahr fängt Erdkunde an.

Diese Temporaladverbiale haben auch in den Sätzen mit werden + Infinitiv die größte Vorkommenshäufigkeit, es liegen aber jeweils nur weniger als 10 Belege vor. Die Verteilung der Heute-Adverbiale in den Sätzen mit Präsens und werden + Infinitiv ist in Tabelle 3 aufgeführt. Heute-Adverbiale im Satz keine Heute-Adverbiale im Satz ∑

Präsens 51 637 688

werden + Infinitiv 39 333 372

∑ 90 970

Tab. 3: Verteilung der Heute-Adverbiale in den Sätzen mit Präsens und werden + Infinitiv Trotz unserer Erwartungen kommen die Heute-Adverbiale häufiger mit dem Präsens im selben Satz vor als mit werden + Infinitiv. 51 Belege, d.h. 57 % der Gesamtzahl der Heute-Adverbiale wird nämlich in präsentischer Umgebung realisiert: (10)

Heute hole ich hoffentlich unsere Katze aus dem Tierheim. Mia heißt sie und sowas von süß. Es war liebe auf den ersten Blick. Ich kann es kaum noch abwarten, so aufgeregt bin ich. Hoffentlich klappt das heute alles

Die Ergebnisse der vorliegenden Korpusanalyse geben demnach keinen Anlass anzunehmen, dass die Verwendung einer werden + Infinitiv-Konstruktion adäquater ist, um die Bedeutung der Heute-Adverbiale in die Zukunft zu projizieren. Die Verteilung der Datumsangaben in den Sätzen mit Präsens und werden + Infinitiv zeigt Tabelle 4.

21

Temporaladverbiale und Tempusverwendung Präsens Datumsangaben im Satz keine Datumsangaben im Satz ∑

170 518 688

werden + Infinitiv 49 323 372

∑ 219 841

Tab. 4: Verteilung der Datumsangaben in den Sätzen mit Präsens und werden + Infinitiv Die ausgewerteten Daten bestätigen die in der Fachliteratur verbreitete Meinung, dass das Vorkommen einer Datumsangabe im Satz die Verwendung des Präsens motiviert. Die Mehrzahl (78 %) der Datumsangaben steht nämlich in einem präsentischen Satz: (11)

Morgen erfahre ich auch die ergebnisse für linguistik

Die Datumsangaben weisen demnach eine stärkere Korrelation mit dem Präsensgebrauch auf als mit der Verwendung von werden + Infinitiv. Der größte Teil der Datumsangaben mit 91 Belegen besteht aus kontextunabhängig zukunftsbezogenen Temporaladverbialen, vgl. Beispiel (11). 57 Datumsangaben gehören zu den Heute-Adverbialen wie in Beispiel (12): (12)

Entrümpeln ist nicht das richtige Wort. Er bekommt diese Woche einen neuen Kleiderschrank und ich "sondiere" hier mal die Lage

Die weiteren Datumsangaben (71 Belege) sind als kontextabhängig zukunftsbezogene Temporaladverbiale zu interpretieren. In diesem Bereich sind Einzelbelege typisch: (13)

Am Freitag fahren wir mit unserer Süßen für ein paar Tage nach Berlin.

5

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Hypothese 1 – derzufolge das Präsens im Deutschen stärker mit Temporaladverbialen als mit der analytischen Futurkonstruktion korreliert – von der angeführten Korpusanalyse nicht eindeutig bestätigt wurde. Ein bedeutender Teil, aber bei weitem nicht die Mehrzahl der Vorkommen von futurischem Präsens wird mit einem Temporaladverbial im selben Satz realisiert. Auch die Beobachtung von Brons-Albert (1982: 50), dass

22

Eszter Kukorelli

zukunftsbezogene Temporaladverbiale überwiegend mit werden + Infinitiv realisiert werden, trifft auf das vorliegende Korpus nicht zu. Im Korpus gibt es darüber hinaus bei Heute-Adverbialen keine deutliche Präferenz für den Gebrauch von werden + Infinitiv; damit wurde auch Hypothese 3 nicht bestätigt. Die Hypothesen 2 und 4 wurden aber grundsätzlich bestätigt: Die kontextunabhängig zukunftsbezogenen Temporaladverbiale und die Datumsangaben kommen in der Mehrzahl der Fälle in präsentischen statt futurischen Sätzen vor. Auch in diesen Fällen kann man aber nur von tendenziellen Gebrauchsregelmäßigkeiten, nicht aber von allgemeingültigen Regeln sprechen. Aus diesem Grund lässt sich vermuten, dass die Verwendung der zukunftsbezogenen Tempora im Deutschen nicht nur und nicht unbedingt vom Auftreten eines Temporaladverbials abhängt. Weitere Faktoren, die die Tempuswahl motivieren können, sollten in eine zukünftige Untersuchung mit einbezogen werden, um ein vollständigeres Bild über den Tempusgebrauch bekommen zu können.

6

Literatur

BRONS-ALBERT, Ruth (1982): Die Bezeichnung von Zukünftigem in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Grammatik 17). DUDEN (72005): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim: Dudenverlag (1. Aufl.: 1998). HACKE, Marion (2009): Funktion und Bedeutung von werden + Infinitiv im Vergleich zum futurischen Präsens. Heidelberg: Winter. KOCH, Peter / OESTERREICHER, Wulf (1985): Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15–43. KUKORELLI, Eszter (2012): Kontrastiver Vergleich der indikativischen Tempora zur Bezeichnung von Zukünftigem im Deutschen und Ungarischen in nähesprachlichen Äußerungen. Dissertationsarbeit. Budapest: ELTE. LEISS, Elisabeth (1992): Die Verbalkategorien im Deutschen: ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Berlin: de Gruyter (= Studia linguistica Germanica 31). PITTNER, Karin (1999): Adverbiale im Deutschen. Tübingen: Stauffenburg (= Studien zur deutschen Grammatik 60). RADTKE, Petra (1997): Die Kategorien des deutschen Verbs. Zur Semantik grammatischer Theorien. Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 438). THIEROFF, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus – Modus – Distanz. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Grammatik 40). THIEROFF, Rolf (1994): Das Tempussystem des Deutschen. In: Thieroff, Rolf / Ballweg, Joachim (ed.): Tense Systems in European Languages. Tübingen: Niemeyer, 119– 134.

Temporaladverbiale und Tempusverwendung

23

VATER, Heinz (1975): Werden als Modalverb. In: Calbert, Joseph / Vater, Heinz (Hrsg.): Aspekte der Modalität. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Grammatik 1), 71– 148. WELKE, Klaus (2005): Tempus im Deutschen. Berlin: de Gruyter. WUNDERLICH, Dieter (1970): Tempus und Zeitreferenz im Deutschen. München: Hueber (= Linguistische Reihe 5).

Bernadett Modrián-Horváth Budapest

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung im Deutschen und im Ungarischen1 1

Perspektive in der Sprache und in der Informationsstruktur

Die Perspektive, allgemein als „Betrachtungsweise od[er] -möglichkeit von einem Standpunkt aus; Sicht, Blickwinkel“ verstanden (s. Duden 2001: 1198), ist ein immer häufiger verwendeter Begriff in der Linguistik. Seit der Erscheinung der funktionalen Ansätze in der Sprachwissenschaft zählt die perspektivische Natur der Sprache zum Gemeinwissen, auch wenn der „Perspektiviertheit sprachlicher Strukturen“ (Welke 2005) noch nicht auf jeder Ebene Rechnung getragen werden konnte. Bezüglich der Informationsstruktur gibt es auch einige Ansätze, die diese ausdrücklich als eine Erscheinung der Perspektiviertheit betrachten (Dürscheid 1999, Köller 2004, Welke 1993, 2005). Ein (von Starostá stammendes) Paradebeispiel hierfür wird u.a. in Welke (1993: 71f.) und Dürscheid (2012: 182) angeführt (hier adaptiert): Obwohl die Sätze Die Post ist neben der Sparkasse und Die Sparkasse ist neben der Post die gleichen Wahrheitsbedingungen haben, würde man die Frage Wo ist die Sparkasse? wohl kaum mit dem ersten Satz beantworten. Der Unterschied zwischen den ersten beiden Sätzen besteht in dem Ausgangspunkt der Sachverhaltsdarstellung; dieser Ausgangspunkt wird in dem Dialog von der Frage festgelegt und durch die ThemaRhema-Struktur (Informationsstruktur) zum Ausdruck gebracht. Das Ziel der informationsstrukturellen Untersuchungen ist allerdings nicht nur die Beschreibung einzelner Sätze/Äußerungen, sondern auch die Analysierbarkeit von realen Texten (wie etwa in Textkorpora), also die Möglichkeit empirischer Untersuchungen. Zahlreiche Modelle haben versucht, die Informationsstruktur, die bekanntlich auch mit der Textebene zusammenwirkt, durch die Analyse von Texten zu erfassen; als erster solcher Versuch gilt Daneš’ Konzept der thematischen Progression (Daneš 1974), gefolgt u.a. von der Centering Theory (Grosz et al. 1995) der Chaining Strategy (Lavid 1997) und dem QuaestioModell (Klein/Stutterheim 1992). Letzteres versucht dem oben erwähnten Bei1

Diese Forschung wurde mit der Unterstützung des Ungarischen Staates und der KoFinanzierung des Europäischen Sozialen Fonds, im Rahmen des Projekts TÁMOP 4.2.4. A/-11-1-1012-0001 ’Nationales Exzellenzprogramm’, verwirklicht.

26

Bernadett Modrián-Horváth

spiel ähnlich, die jeweilige Satz-Perspektive anhand von Fragesequenzen, die auf das globale Textthema bezogen sind, zu erfassen. Im Folgenden werden verschiedene Perspektivebegriffe auf der Satz- und Textebene unter die Lupe genommen (Abschnitt 2 und 3), und anschließend werden im Rahmen eines Ausblicks die grundlegenden Perspektivierungsstrategien angesprochen, bei denen auch die textuelle Perspektivierung, das Diskurstopik eine Rolle spielt (4). In Abschnitt 5 wird eine kurze Zusammenfassung gegeben.

2

Die Perspektivierung des Satzes

Auf den Satz bezogen (d.h. „Satz-Perspektive“ im wörtlichen Sinn) findet man zwei konkurrierende Ansichten in der Fachliteratur (vgl. auch Eroms 2007). Die eine räumt in der Perspektivierung vor allem dem Subjekt Priorität ein; die andere betont die Wichtigkeit der Reihenfolge bei der Perspektivierung, je nachdem, wie der ‚Ausgangspunkt‘, der für diese ausschlaggebend ist, definiert wird. Die kontroversen Interpretationen des für dieses Thema maßgeblichen Aufsatzes von Sanders/Spooren (1997), besonders hinsichtlich des neutralen Referenzpunktes (Ausgangspunktes), zeigen diese Deutungsrichtungen exemplarisch. In Sanders/Spooren (1997) wird der neutrale Ausgangspunkt als „the set of possible instantiations of an ‚I‘, a deictic centre, an origo“ (Sanders/Spooren 1997: 86) definiert und anhand der von Kuno (1987) stammenden Kamerametapher erläutert: der Satz wird aus der Perspektive einer der Figuren dargestellt, als wenn eine Kamera auf einen der Referenten in der Rekurssituation gerichtet wäre. Diese Perspektive schlägt sich nieder u.a. im Gebrauch der deiktischen Ausdrücke (kommen – gehen) oder der verwendeten Variante von Verbkonversen (kaufen – verkaufen). Allerdings geht mangels (quasi)deiktischer Ausdrücke nicht ganz deutlich hervor, mit welchen formalen Indikatoren der neutrale Ausgangspunkt zu verbinden ist: Kasusmarkierung und topologische Markierung kommen dafür gleichermaßen in Frage. Dieselbe Unsicherheit ergibt sich auch in Diks diesbezüglichen Feststellungen (1989), wenngleich Dik explizit das Subjekt als primären Ausgangspunkt bezeichnet: Ob intendiert oder nicht, alle Beispiele sind so gewählt, dass das Subjekt zugleich die Initialposition einnimmt (obwohl andere Wortstellungsvariationen auch im Englischen möglich sind). 2.1

Das Subjekt als zentrale Kategorie der Perspektivierung

An syntaktische Funktionen des Subjekts und des (direkten) Objekts als Realisierungen der im Sachverhalt am meisten involvierten Entitäten knüpfen mehrere

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung

27

Ansätze auch hinsichtlich des Begriffs der Perspektivierung an. So nennt u.a. Dik (1989: 58, 209ff.) das Subjekt „the primary vantage point“ und das direkte Objekt „the secondary vantage point“ bei der Repräsentation eines Sachverhalts. Laut Fillmore seien Subjekt und direktes Objekt „in the perspective“, andere Diskursreferenten hingegen außerhalb der Perspektive („out of perspective“ (Fillmore 1977, zitiert in Dürscheid 1999: 248)). Aus kasustheoretischen Überlegungen spricht sich Dürscheid (1999: 251) auch für die Interpretation des Subjekts als zentrale Kategorie der Perspektivierung aus: Halten wir fest: Der Sprecher macht sich in der sprachlichen Äußerung die Perspektive eines der Referenten zu eigen. Dabei handelt es sich i.d.R. um die Perspektive des Subjektreferenten. Beide Perspektiven dürfen nicht gleichgesetzt werden. Die Sprecherperspektive ist an die Origo der Äußerungssituation, die Perspektive des Subjektreferenten an die Origo der Rekurssituation gebunden. (Dürscheid 1999: 251)

Auch im Fall des erwähnten ‚neutralen Ausgangspunktes‘ von Sanders/Spooren (1997) ergibt sich die Interpretationsmöglichkeit, dass darunter die vom Verb festgelegte ‚primäre’ Perspektivierung zu verstehen ist – dies wird durch die Wahl von Beispielen, in denen das Subjekt den neutralen Ausgangspunkt repräsentiert (und insbesondere durch die Erwähnung von Verbkonversen wie buy – sell), nahe gelegt (vgl. folgendes Beispiel von Sanders/Spooren 1997: 87). Jan is going to Paris I am going to Paris.

2.2

Perspektivierung und Wortfolge

Eine andere Deutungsmöglichkeit für den ‚neutralen Ausgangspunkt’ von Sanders/Spooren (1997) ergibt sich durch die Korrelation des Subjekts mit den Elementen am Satzanfang. Wegen der grundsätzlichen Rigidität der englischen Wortstellung gerät meist das Subjekt an den Satzanfang, weshalb Tátrai (2011: 86ff.) die Beispiele – bezüglich des Ungarischen2 – hinsichtlich der Relevanz der Wortfolge auslegt. Sein Fazit lautet: ‚über Entitäten am Satzanfang kann im Allgemeinen behauptet werden, dass sie als neutraler Ausgangspunkt funktionie-

2

Da das Ungarische als eine Sprache mit weitgehend ‚pragmatisch’ (informationsstrukturell) geregelter Wortfolge (laut É. Kiss 1981 topic-focus-prominent) gilt, ist diese Deutung des ‚point of view’ für das Ungarische typologisch völlig berechtigt.

28

Bernadett Modrián-Horváth

ren‘3. Allerdings könne dieser Ausgangspunkt im Späteren wegen der grundsätzlichen Flexibilität der ungarischen Wortfolge (Tátrai 2011: 86f.) auf andere Entitäten des elementaren Satzes verlagert werden. Auch Tátrai (2005) und Tolcsvai Nagy (2006) sehen die satzeröffnende Entität als einen Ausgangspunkt der Referenzpunktstruktur an; sie eröffnet eine konzeptuelle Domäne und einen gemeinsamen Rahmen der Aufmerksamkeit (‚joint attentional scene‘, Tomasello 1999: 96ff.). Von einem anderen Ausgangspunkt gelangt auch Welke (1993, 2005) durch den Begriff der Perspektivierung zu den Wortfolgeerscheinungen: Er verbindet den Begriff des Satzgegenstandes mit Kunos (1987) Empathy-Perspektive4, und plädiert dafür, dass dieser immer am Satzanfang zu suchen ist. Auf diese Weise wird sowohl in Welke (1993, 2005) als auch in Tátrai (2011) ein Zusammenhang zwischen Perspektivierung (bzw. neutralem Ausgangspunkt) und dem satzeröffnenden Element (allerdings immer eine Figur) hergestellt. Der Feststellung eines solchen Zusammenhanges muss unbedingt zugestimmt werden, dieser beschränkt sich aber m.E. nicht auf Figuren oder Entitäten, sondern sind unter Perspektivierung in diesem Sinne ganzheitliche Strategien zu verstehen, die dem Rezipienten bereits am Satzanfang Interpretationsinstruktionen geben (s. Abschn. 4). 2.3

Umperspektivierung

In zahlreichen grammatischen Ansätzen wird versucht, eine ‚neutrale‘, ‚unmarkierte‘ Reihenfolge der Konstituenten zu finden (u.a. Höhle 1982, Lenerz 1977). Neutral heißt hier, dass diejenigen Wortfolge- (und Intonations-)Varianten erfasst werden sollen, die in den meisten Kontexttypen einsetzbar sind. Diese sind meistens die Satzformen, in denen die aktualisierte Informationsstruktur keine großen Abweichungen von der Reihenfolge der durch die Verbvalenz vorgegebenen Mitspieler aufzeigt. Über diese „Grundschemata“ hinaus gibt es allerdings viele Fälle, in denen die valenzielle und die informationsstrukturelle Gliederung des Satzes deutlich auseinanderklaffen. Dieses Phänomen nennt Welke (1993, 2005) sekundäre Perspektivierung, als Gegenstück zur – von der Verbvalenz bestimmten – primären Perspektivierung (zum Begriff der primären Perspektive s. Eroms 1998). 3

„A mondatkezdő helyzetben lévő entitásokról általában elmondható, hogy semleges kiindulópontként funkcionálnak” (Tátrai 2011: 86, Übersetzung der Verfasserin). 4 Als Empathy-Fokus bestimmt Kuno dasjenige Element im Satz, mit dem der Sprecher die meiste ’Empathie’, Identifizierung zeigt, im Sinne der Übernahme einer Perspektive. Diese Perspektive kann sich innerhalb eines Satzes nicht ändern.

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung

29

Aus Raumgründen verbietet sich eine eingehende Diskussion der Umperspektivierungsstrategien im Deutschen und im Ungarischen, doch kann in diesem Bezug Folgendes behauptet werden: Im Deutschen werden zwei Mittel der Umperspektivierung, die Passivierung (Diathesenwechsel) und die Wortfolge und Intonation (als syntaktische Ausdrucksmittel) verwendet; im Ungarischen können letztere, die Wortfolge und Intonation zur nuancierten Perspektivierung des Sachverhalts dienen. Allenfalls ist mit Leiss (1992: 98) auf Grund der obigen Überlegungen festzustellen, dass in den natürlichen Sprachen „eine einzige Perspektive […] nicht ausreicht“; die Möglichkeit zur Umperspektivierung scheint eine kognitionsbedingte funktionale Eigenschaft von Sprachen zu sein, die durch unterschiedliche formale Ausdrucksmittel realisiert wird.

3

Perspektivierung im Text: die Topikkontinuität

3.1

Diskurstopik

Der Begriff des Diskurstopiks (Topiks) kann ebenfalls mit der Perspektive, dem Ausgangspunkt einer Darstellung verbunden werden. Unter Topik verstehe ich diejenigen Figuren (Entitäten), die über längere Textpassagen hinweg im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Die Aufmerksamkeitslenkung ist implizit: die Salienz (Auffälligkeit) der betreffenden Figuren/Entitäten kann sich entweder aus der Äußerungssituation (deiktisch) ergeben, oder – und dies ist für geschriebene Texte vielmehr charakteristisch – sie hebt sich aus den zusammenhängenden Ereignisverkettungen, aus der Figur-Grund-Gliederung auf Textebene hervor. Mit der Übertragung der Kamera-Metapher (s. Abschn. 2) könnten wir die Topiks als Entitäten charakterisieren, die durch eine bewegliche Kamera aufgenommen/gezeigt werden. Die Lenkung der Aufmerksamkeit entspricht den Bewegungen der Kamera, die auf die Entitäten gerichtet ist und diesen ständig folgt. Deshalb zeichnet sich das Topik durch eine inhärente Kontinuität aus: Entitäten, die im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sind implizit oder explizit über längere Textteile meistens ununterbrochen präsent. Deshalb zeichnet sich das Topik durch eine inhärente Kontinuität aus. Die Topikkontinuität ist in Givóns (1983) Analyse zugleich eine empirisch nachweisbare Gegebenheit: sie kann u.a. durch die Zahl der unmittelbar aufeinander folgenden Teilsätze charakterisiert werden, in denen das Topik implizit oder explizit präsent ist (Persistenz). Im Fall der Topikkontinuierung kann also davon ausgegangen werden, dass der neutrale Ausgangspunkt in der Perspektive der ausgewählten Entität/der ausgewählten Entitäten fixiert ist. Dieser Referent als kontinuierliches Diskurstopik bleibt im Folgenden salient, so dass er syntaktisch oder sogar morpholo-

30

Bernadett Modrián-Horváth

gisch unmarkiert bleiben kann. Die Möglichkeit der syntaktischen Unmarkiertheit der dritten Person (wie es im Ungarischen der Fall ist)5 ist eine Voraussetzung hierfür, wobei zwischen sprachstrukturellen Möglichkeiten und Sprachgebrauch eine Interdependenz zu postulieren ist. Auf Grund der Zugänglichkeit, Identifizierbarkeit wurde in Givón (1983: 17f.) eine Hierarchie aufgestellt, laut der der Grad an Identifizierbarkeit mit dem Umfang der Markierung umgekehrt korreliert ist: most continuous/accessible topics zero anaphora unstressed/bound pronouns or grammatical agreement stressed/independent pronouns R-dislocated DEF-NP’s neutral-ordered DEF-NP’s L-dislocated DEF-NP’s Y-moved NP’s (‘contrastive topicalization’) cleft/focus constructions referential indefinite NP’s most discontinuous/inaccessible topics

Abb. 1: Skala zur Kodierung der Topikakzessibilitätshierarchie in Givón (1983: 17) Das dieser Hierarchie unterliegende Ikonizitätsprinzip lautet in Givón (1983: 18): „The more disruptive, surprising, discontinuous or hard to process a topic is, the more coding material must be assigned to it.” (Hervorhebung im Orig.). Die sprachliche Nichtrealisierung bedeutet also in diesem Fall nicht die Absenz, sondern im Gegenteil die höchste Akzessibilität des Diskurstopiks. Die Nichtmarkierung oder geringe Markierung soll laut Givón auf Grund der Markiertheitstheorien in der Natürlichen Morphologie (und Syntax) erklärt werden; dies beinhalte für geringere morphologische Markierung entweder eine geringere semantische Komplexität (vgl. Mayerthaler 1987) oder eine Unmarkiertheit, die aus der häufigen Verwendung resultiert (s. dazu Dik 1989: 38ff.). Häufig morphologisch merkmallos (und auf der Systemebene unmarkiert) seien aus typologischer Sicht u.a. folgende Flexionskategorien: Das Präsens, der Indikativ, die erste oder dritte Person in der Verbalmorphologie; der Nominativ und das Singular in der Nominalflexion (Mayerthaler 1987: 48). Auf Bühlers (1999) Modell 5

Siehe z.B. Sätze wie Jön. ‚(Er/sie/es) kommt‘, wobei das (als bekannt gesetzte) Subjekt weder syntaktisch noch morphologisch markiert ist; der Verbstamm jön- drückt ohne Suffix die 3. Person Singular und die übrigen Verbkategorien (Indikativ Präsens) aus.

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung

31

bezogen entsprechen diese größtenteils der Ich-Hier-Jetzt-Origo. Typologisch gesehen sind also diejenigen Kategorien unmarkiert, die sich als inhärent salient, d.h. aus der Situation / dem Kontext heraus zugänglich zeigen: Es kann also behauptet werden, dass Unmarkiertheit hochgradig mit (inhärenter) Salienz assoziiert werden kann. Dafür sprechen auch Auffassungen, denen zufolge implizite Themen (Analepsen) Extremfälle der Phorizität seien (so Halliday (1994: 275), Dik (1997: 220) oder Hoffmann (2013: 197)). Die Hierarchie der Topikmarkierung resultiert also aus der Zentralität und Salienz des als Diskurstopik erscheinenden Diskursreferenten über ein längeres Textsegment (typischerweise mindestens einen Absatz). 3.2

Mittel der Topikkontinuierung im Deutschen und im Ungarischen: Eine Korpusanalyse

In einer Korpusanalyse habe ich die sprachlichen Ausdrucksmittel der Topikkontinuierung untersucht, in Bezug auf die Hauptfiguren, die einerseits einen hohen Grad an Kontinuierlichkeit aufweisen, andererseits auch in der narrativen Struktur eine ausgezeichnete Rolle spielen, und somit im Text als ‚Leitmotive‘ (‚leitmotifs‘, Givón 1983: 8) gelten. Die Korpusanalyse bestand aus der manuellen Verarbeitung dreier Textausschnitte aus Erzähltexten (Romanen); die Ausschnitte wurden ab dem Textanfang entnommen, denn so konnte die Einführung der Diskurstopiks auch berücksichtigt werden. Die deutsch-ungarischen Paralleltexte stammen aus den Übersetzungen drittsprachiger Romane von José Saramago (im Weiteren: SA), Jonas Jonasson (JO) und Paulo Coelho (CO) (die Sprachen sind dementsprechend Spanisch, Schwedisch und Brasilianisch/es Portugiesisch) in einem Umfang von ca. 1250 Textwörtern pro Roman pro Sprache (insgesamt etwa 7500 Textwörter). Bei der Auswahl der Texte wurde ein weiterer Aspekt beachtet: die verschiedenen Kombinationen der Anzahl und des Geschlechts (Numerus und Genus) der Hauptfiguren: es wurde ein Roman mit einer Hauptfigur (JO), mit einer weiblichen und einer männlichen Hauptfigur (CO) und zwei Figuren mit dem gleichen Geschlecht (SA) ausgewählt, damit im Deutschen die grammatischen Auswirkungen des Genus auf die Topikkontinuität beobachtet werden können (bezüglich des Ungarischen ist nur der Aspekt des Numerus relevant). 3.3

Die Untersuchungsmethode

In der Analyse wurden die sprachlichen Ausdrucksmittel der ‚Leitmotive‘ (der herausragendsten Topiks) untersucht. Um die zwischensprachlichen Unterschiede auszugleichen (z.B. pronominale Markierung und Flexiv im Deutschen ge-

32

Bernadett Modrián-Horváth

genüber rein morphologischer Markierung im Ungarischen) wurde in jedem Teilsatz (Clause) nur ein Repräsentant des Topiks berücksichtigt; im Fall von Mehrfachmarkierungen wurde das kongruenzauslösende Element (z.B. Personaloder Possessivpronomen) gezählt. Durch die Analyse ergaben sich folgende Ausdrucksmittel für die Topikmarkierung: a) Verbsuffixe (im Ungarischen: auch Suffixe der objektiven Konjugation für direkte Objekte) - subjektive Konjugation: und kletterte mit knacksenden Kniegelenken aus der Rabatte. JO 10. / És kilépett rajta az előtte fekvő virágágyásba [und trat heraus in die vor ihm liegende Rabatte]6 JO 7 - objektive Konjugation (Ung.): A testmozgás amúgy sem vonzotta különösebben [die Bewegung zog ihn auch sonst nicht besonders an] JO 7 b) Personalpronomen: als Subjekt: er ist Töpfer von Beruf SA 6 / Kétszer annyi idős lehetek, mint ő [ich bin wahrscheinlich doppelt so alt wie sie] CO 13; Sonstiges: falls die Polizei uns fragt SA 9 / A Mágus intett neki [der Magier winkte ihr] CO 13 c) Possessiva: - Pronomen: seine Unruhe nur schlecht verbergend SA 8 - Suffix: rosszul leplezve nyugtalanságát SA 11 d) Infinitiv mit Personalsuffix: korán föl kellett kelnie CO 14 e) Lexikalische Ausdrucksmittel (meistens Substantive): sagte das Mädchen. CO 7 / mondta a lány. CO 13 - Eigennamen7: sagte Brida. CO 8 / mondta Brida. CO 13 f) Nullanapher: in Infinitivkonstruktionen: um ihn darum zu bitten CO 9; relationale Ausdrücke: dieser Schwiegersohn SA 8

6

Die Übersetzungen in den eckigen Klammern stammen von der Verfasserin; Korpus und Seitenzahl sind verkürzt angegeben. 7 Der korpuslinguistischen Praxis entsprechend wurden Eigennamen gesondert von anderen lexikalischen Ausdrucksmitteln ausgewertet. Dies wird auch durch die Feststellung von Hoffmann (2013: 87) unterstützt, derzufolge Namen „die bekannte Größe unmittelbar im Wissen abrufen“ – sie erlauben also im Gegensatz zu anderen lexikalischen Ausdrucksmitteln eine unmittelbare Zugänglichkeit der Referenten.

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung 3.4

33

Die Ergebnisse der Korpusanalyse

Aus Raumgründen werden die Daten der drei herausragendsten Topiks in der Tabelle summiert angeführt; das dritte kontinuierliche Topik ist in den Teilkorpora SA und CO die gemeinsame Erwähnung der beiden Hauptfiguren.

Verbsuff (Subj) Verbsuff (Obj) Perspron (Subj) Perspron (sonst) Posspron, -Suff + Infmark Eigenname Andere lex. Ausdr. Nullanapher

CO DEU 6 0 110 34 10 9 10 30

UNG 93 12 7 16 9+6 10 22 3

SA DEU 8 0 42 11 6 15 14 9

UNG 27 2 7 6 19 + 3 15 16 3

JO DEU 11 0 41 5 11 23 15 15

UNG 50 3 1 9 12 + 1 23 15 4

Tab. 1: Mittel der Topikkontinuierung in den Teilkorpora Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass die primären Ausdrucksmittel der Topikkontinuierung in den beiden untersuchten Sprachen deutlich unterschiedlich sind: Im Deutschen sind es in erster Linie die Personalpronomina (meistens in Subjektfunktion), im Ungarischen die Verbsuffixe. Im Deutschen beschränkt sich der Gebrauch der rein morphologischen Markierung auf die sog. Koordinationsellipse, trotzdem kommt dieses Phänomen – bis auf das eher dialogisch gestaltete Teilkorpus CO – mit einer relativ hohen Frequenz vor (8 morphologische Markierungen zu 42 pronominalen Subjekten im Teilkorpus SA; 11 Verbsuffixe zu 41 pronominalen Subjekten im Teilkorpus JO). Bemerkenswert ist die Möglichkeit der rein morphologischen Markierung von Topiks in Objektfunktion (insgesamt 17mal im ganzen ungarischen Korpusteil) bzw. die Markierungsmöglichkeit durch ein einziges Possessivsuffix im Ungarischen. Hinsichtlich der impliziten Präsenz (Nullmarkierung) des Bezugsnomens in relationalen Lexemen ist ein weiterer Unterschied zu beobachten: im Deutschen bleibt der Referenzpunkt der Relation oft unmarkiert (z.B. der Schwiegersohn ist jemandes Schwiegersohn, der Schwiegervater bleibt in diesem Fall implizit); im Ungarischen ist dagegen die Markierung des Referenzpunktes durch ein Suffix die Regel (veje – ‚sein Schwiegersohn‘). Der Unterschied ist im Teilkorpus SA sehr augenfällig, wo die beiden Hauptfiguren Schwiegervater und Schwiegersohn sind.

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Hinsichtlich der lexikalischen Ausdrucksmittel konnte im ungarischen Teilkorpus eine höhere Frequenz registriert werden, was durch das Fehlen der Kategorie des grammatischen Genus im Ungarischen zu erklären ist. Besonders auffällig sind die Unterschiede deshalb im Teilkorpus CO, in dem es um eine männliche und eine weibliche Hauptfigur geht: hier werden die Figuren im Deutschen bereits durch das Genus der Personalpronomina schematisch dargestellt, während in der Pro-Drop-Sprache Ungarisch die potenziellen Antezedenten für ein Verbsuffix nicht durch das Genus unterschieden werden können. Der Gebrauch lexikalischer Ausdrucksmittel ist allerdings in beiden Sprachen häufig am Satzanfang, beziehungsweise im Fall eines Topikwechsels; letzteres auch beim Wechsel zwischen mehreren kontinuierlichen Topiks: (1a)

Marçal Gacho diszkréten följebb húzta bal karján a kabát ujját, órájára pillantott, szorong, mert fokozatosan sűrűsödik a forgalom, és mert tudja, hogy innentől fogva, amikor az Ipari Övezetbe érnek, csak nehezebb lesz. Apósa észrevette a mozdulatot, […] (SA 10-11)

(1b)

Marçal Gacho schiebt diskret den linken Ärmel seiner Uniformjacke nach oben, um auf die Uhr zu sehen, er ist beunruhigt, weil der Verkehr immer dichter wird und er weiß, dass es von nun an, wenn sie erst in den Industriegürtel kommen, immer langsamer gehen wird. Der Schwiegervater bemerkt seine Geste […] (SA 8)

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Zusammenhänge zwischen Satz- und Textperspektive: ein Ausblick

Weitere empirische Analysen haben gezeigt, dass die Satzperspektivierung und die Topikkontinuität nicht voneinander unabhängige informationsstrukturelle Ebenen sind, sondern dass auch (Text-/Diskurs-)Topiks bei der informationsstrukturellen Gliederung der Einzelsätze mitspielen. Auf Grund des Zusammenspiels zwischen Topik (textuelle Perspektivierung) und Thema (Satzperspektivierung) ergeben sich drei grundlegende Schemata, die jeweils andere Aufgaben bei der Textorganisation haben, und dadurch in den verschiedenen Textsorten und – Typen in unterschiedlichem Maße vertreten sind. Diese Perspektivierungsmöglichkeiten entsprechen prinzipiell den zwei grundlegenden Konzeptualisierungsmöglichkeiten von Ereignissen (vgl. Sternberg/Sternberg 2012: 112): der ganzheitlichen Konzeptualisierung als Prozess (hier: ereigniszentrierte Perspektivierung) und der von den Teilen ausgehenden, analytischen Konzeptualisierung (figurzentrierte Perspektive), die auf grundsätzlichen Kognitions- und Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen basieren. Als dritte Möglichkeit kommt hier die Darstellung der Ereignisse aus der ‚fixierten‘ Perspektive der kontinuierlichen

Topik und Diskurstopik als Mittel der Perspektivierung

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Diskurstopiks hinzu: dies ist als eine Mischung der beiden Grundformen zu betrachten, die aber in der Sprache als ein Perspektivierungstyp für sich behandelt werden soll. Zum einen handelt es sich dabei um eine Aboutness-Beziehung: als Topik (in Hoffmans Terminologie: Thema) gilt „der kommunikativ konstituierte Gegenstand oder Sachverhalt, über den in einem Diskurs oder Text (-abschnitt) fortlaufend etwas gesagt wird“ (Hoffmann 2003: 99; vgl. auch Zifonun et al. 1997: 509), es besteht also eine Aboutness- (Worüber-)Relation zwischen dem Topik und der dargestellten Ereigniskette. Zum anderen wird aber diese Aboutness-Relation wegen der inhärenten Salienz und der daraus resultierenden Unmarkiertheit (i.S.v. Givón; geringer sprachlicher Markierung) selten expliziert, die Ereignisse werden – aus der Perspektive des kontinuierlichen Diskurstopiks – ganzheitlich dargestellt. Die Darstellung der drei Perspektivierungstypen schlägt sich in der Auswahl der Satzthemata nieder. Für die figurzentrierte Perspektivierung ist die Setzung eines (lexikalischen) Satzthemas typisch, für die Ereigniszentrierung ein rhematischer Satzanfang – im Deutschen auch Expletiva – und für den Typ mit Topikkontinuierung ein pronominaler (im Deutschen) oder ebenfalls ein rhematischer Satzanfang mit gleichzeitiger morphologischer Topikmarkierung.

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Fazit

Als Fazit bietet sich an, dass der für die Informationsstrukturierung relevanteste Faktor die Perspektivierung beziehungsweise die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Satz- und Textebene ist. In diesem Aufsatz wurden die vielfältigen Ausdrucksmittel der textuellen Perspektivierung, der Topikkontinuität empirisch untersucht. Durch das Zusammenspiel der satzbezogenen und textuellen Ausgangspunkte zeichnen sich drei grundlegende Perspektivierungstypen ab; dass diese Typen über komplexe grammatische Korrelate verfügen, konnte hier nur angedeutet werden.

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Krisztián Majoros Debrecen

Zellenmetaphern Das metaphorische Wechselspiel zwischen (älteren) deutschsprachigen Fachtexten der Biologie und der Soziologie „The flow of metaphors among science, politics, literature, and everyday discourses is continuous, recursive and selective.“ (Maasen 1995: 8) 1

Einleitung und Zielsetzung

Metaphern gelten als wichtige Werkzeuge des Wissenstransfers, die in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung finden. Boyd zufolge soll zwischen zwei großen Kategorien von Metaphern in der Wissenschaft, zwischen den sog. theoriekonstitutiven und den exegetischen oder pädagogischen Metaphern unterschieden werden. Ihm zufolge spielen also bestimmte Metaphern bei der Gewinnung neuer Kenntnisse eine bedeutende Rolle, während andere Metaphern wichtige Hilfsmittel der Weitergabe bereits existierenden Wissens sind (Boyd 1993). Gegenüber Boyd plädiert Knudsen dafür, dass diese funktionale Trennung theoriekonstitutiver und exegetischer Metaphern überflüssig sei, da im Allgemeinen zu beiden Zwecken dieselben metaphorischen Konzepte verwendet werden (Knudsen 2003). Der vorliegende Aufsatz hat nicht das Ziel, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, sondern vielmehr eine Hypothese in Bezug auf die Quelle bzw. den Status der Metaphern im Wissenstransfer zu präzisieren und empirisch zu untermauern. Solche Wissenstransfermetaphern lassen sich beispielsweise aus deutschsprachigen Hochschullehrbüchern der Zellbiologie rekonstruieren, d.h. man kann in diesem Bereich über ein metaphorisches Idealisiertes Kognitives Modell (IKM) im Sinne von Lakoff (Lakoff/Johnson 1980, Lakoff 1987) sprechen, das folgendermaßen zusammengefasst werden kann: DIE ZELLE IST EINE COMPUTERGESTEUERTE INDUSTRIESTADT (Majoros/Csatár 2011). In diesem metaphorischen Modell fungiert die Zelle – deren Funktionsweise, Organelle und die sich in diesen Organellen abspielenden biochemischen Prozesse mit Hilfe unterschiedlicher, sich allmählich verändernder Metaphern konzeptualisiert werden – als Zielbereich. Angesichts des Wandels der metaphorischen Ursprungsbereiche in

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einer Zeitspanne von etwa fünfzig Jahren kann darüber hinaus die Hypothese gewagt werden, dass die Metaphernverwendung eines bestimmten Wissenszweiges nicht nur von intradisziplinären Faktoren abhängig ist, sondern auch durch die allgemeinen Wissensbestände des gesellschaftlichen Kontextes bestimmt wird (vgl. Majoros/Csatár 2011: 155). Als Ergänzung zu dieser Hypothese kann ferner angenommen werden, dass Fachwissen, indem es popularisiert wird, zuerst Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurses wird und ausgewählte Konzepte dann bei der Versprachlichung anderer wissenschaftlicher Theorien als Ursprungsbereiche von Wissenstransfermetaphern dienen können sowie dass eine Rückwirkung in der Konzeptualisierung, d.h. ein metaphorisches Wechselspiel zwischen den Diskursbereichen auch nicht ausgeschlossen werden kann. Eine grundsätzlich ähnliche These zur Dynamik der Metaphern im wissenschaftlichen Bereich formuliert auch Maasen (1995): „I also claim that we cannot avoid scientific discourses becoming ‘infected’ by concepts of other disciplines and of nonscientific discourses, such as everyday communication, literary and political discourses.“ (Maasen 1995: 13). Maasen spricht sich ausdrücklich für die theoriekonstitutive Rolle der Metaphern aus und schlägt auch eine Differenzierung zwischen Transfer und Transformation von Metaphern vor (Maasen 1995: 22f.). Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, – ohne die Debatte über die theoriekonstitutive Rolle der Metapher zu thematisieren – ausgehend von der Untersuchung des konzeptuellen Bereichs ZELLE in der Soziallehre des 19. Jahrhunderts die oben dargelegte Hypothese empirisch zu stützen und an einem konkreten Beispiel zu zeigen, wie sich das metaphorische Wechselspiel zwischen Biologie und Soziologie mit dem Instrumentarium der kognitiven Linguistik beschreiben lässt. Zunächst muss aber der wissenschaftsgeschichtliche Kontext der Zellenmetapher in der frühen Soziologie kurz erläutert werden.

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Gesellschaft, Organismus und Zelle

In der Soziologie bzw. Gesellschaftphilosophie des 19. Jahrhunderts, die damals als aufkommende sozialwissenschaftliche Disziplin mit der Zellbiologie – was den Gegenstand betrifft – kaum Gemeinsamkeiten aufweist, war die Zellenmetapher auch vorhanden und sogar sehr produktiv gewesen. Kenntnisse über Aufbau der Gesellschaft, die Gliederung des Staates und in erster Linie über die Familie werden in Anlehnung an den konzeptuellen Bereich ZELLE transferiert. Diese Metapher wurzelt offensichtlich in dem organischen Weltbild des 19. Jahrhunderts, obwohl die Einheit des Staates schon in der Antike, z. B. von Pla-

Zellenmetaphern

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ton und Aristoteles mit der Einheit des biologischen Organismus verglichen wurde. Der Zellbegriff gewann aber besonders im 19. Jahrhundert an Bedeutung, als sich, wie Lüdemann (2004) allenfalls zu grob formuliert, die Soziologie als Wissenschaft konstituiert und legitimiert habe und die Biologie, die damals die Physik als Leitwissenschaft abgelöst habe, wichtige Denkmodelle der Gesellschaftslehre geliefert habe. Die Organismus-Metapher steht der sog. VertragsMetaphorik und der späteren mechanischen Metapher gegenüber und unterstreicht neben der Einheit auch die Natürlichkeit und die Selbstorganisation menschlicher Gesellschaften (Lüdemann 2004: 24ff., Schlechtriemen 2008: 75ff.). Bemerkenswert ist aber, dass in der Antike, in der kirchlichen Soziallehre und auch in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts die OrganismusMetapher auf unterschiedliche Art und Weise angewendet bzw. interpretiert und eingesetzt wurde. Nicht nur in den unterschiedlichen Epochen, sondern auch innerhalb einer wissenschaftsgeschichtlichen Epoche gebrauchen die einzelnen Denker dieselbe Metapher unterschiedlich. Lüdemann zufolge hebt Platon durch die Organismus-Metaphorik in erster Linie die Homogenität hervor, während Aristoteles die „Ungleichartigkeit“ der Teile der Gemeinschaft und die darauf basierende Hierarchisierung herausstellt (Lüdemann 2004: 81ff.). Levine betont die Rolle der organischen Metaphorologie auch in der Konzeptualisierung der Dynamik der Entwicklungsprozesse einer Gesellschaft in Begriffen der Ontogenese und der Differenzierung (Levine 1995: 245, Hejl 1995: 164). Lüdemann geht auch auf die Thesen zweier bedeutender Soziologen des 19. Jahrhunderts, Émile Durkheim und Ferdinand Tönnies, ein. In Durkheims Werk „Über die Teilung der Sozialen Arbeit“ wird durch die Organismus-Metapher nicht nur das Teil-Ganzes-Verhältnis akzentuiert, sondern neben dem Aufbau werden auch die Funktionen eines biologischen Organismus, die ‚Zusammenarbeit‘ der Organe, als Modell der gesellschaftlichen Ordnung vorgestellt: Das Buch über die Teilung der Sozialen Arbeit liest sich passagenweise wie eine biologische Abhandlung. Es ist darin vom Staat als dem „zerebrospinalen System des sozialen Organismus“ ebenso die Rede wie vom Recht als seinem „Nervensystem“. Die Wissenschaftsfunktionen werden mit den „Eingeweiden des individuellen Organismus“ verglichen und die untergegangenen Handwerkszünfte mit dem „Knoten des großen Sympathikus.“. (Lüdemann 2004: 115f.)

Neben den pathologischen Erscheinungen des gesellschaftlichen Körpers – wo der Soziologe etwa als ‚Arzt‘ der Gesellschaft erscheint (Levine 1995: 255) – taucht bei Durkheim auch der Zellbegriff auf, der einerseits einem Individuum,

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einem Arbeiter gleichgesetzt wird (Lüdemann 2004: 116ff.), andererseits aber selbst als eine größere soziale Einheit beschrieben wird, dessen Bestandteile bestimmte Individuen sind (Ahrens 2006: 221). Eindeutiger ist es bei Tönnies, der die Begriffe Gesellschaft und Gemeinschaft voneinander klar abzugrenzen versucht und diese als einen lebendigen Organismus, jene als ein „mechanisches Aggregat“ und Artefakt beschreibt (Lüdemann 2004: 127). Als „Keim“ der Gemeinschaften betrachtet er nicht das Individuum, sondern „das Verhältnis zwischen Mutter und Kind“, also die Familie (Lüdemann 2004: 136). Genau die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Begriffs ‚(Keim-)Zelle‘ steht im Aufsatz „Die Metapher der Keimzelle. Zur Analogie von sozialer und organischer Organisation“ von Jörn Ahrens im Mittelpunkt, der die Zellenmetapher aus soziologischer Perspektive ausführlicher analysiert. Seine Überlegungen leitet er mit der Schilderung der „somatischen Metaphorologie“ ein, deren Wegbereiter im Allgemeinen in Rudolf Virchow gesehen werde (Ahrens 2006: 218). In seinem grundlegenden Werk „Cellularpathologie“ parallelisiert Virchow, der Arzt und Politologe, die Konzepte ORGANISMUS und GESELLSCHAFT, um die Funktionen und den Stellenwert der organischen Zelle im Organismus beschreiben zu können: Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einheiten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines grösseren Körpers immer auf eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, eine Einrichtung socialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existenzen auf einander angewiesen ist, aber so, dass jedes Element für sich eine besondere Thätigkeit hat, und dass jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Thätigkeit von anderen Theilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich ausgehen lässt. (Virchow 1858: 12 f.; Hervorhebungen von mir, K.M.)

In dieser Passage werden der Aufbau des tierischen Organismus und die Rolle der Zelle im Organismus eindeutig aus der Perspektive und in Begriffen der Gesellschaftslehre konzeptualisiert und beschrieben. Die vitalen Einheiten, also die Zellen des Organismus, sind gewissermaßen autonom, aber trotzdem Teile einer höheren Organisation; das Konzept FAMILIE erscheint an dieser Stelle jedoch nicht.

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Leitmetapher: DIE FAMILIE IST (KEIM-)ZELLE DER GESELLSCHAFT

Eine der zentralen Thesen von Albert Schäffle ist die Gleichsetzung der Begriffe FAMILIE und ZELLE. In seinem vierbändigen Werk „Bau und Leben des socialen Körpers“ (1875) zitiert der Volkswirtschaftler und Soziologe unter anderem auch den obigen Abschnitt aus der „Cellularpathologie“. Wie auch durch den metaphorischen Titel der Arbeit angedeutet, verwendet Schäffle dieselben Konzepte zur Versprachlichung seiner Gesellschaftstheorie mit dem offensichtlichen Unterschied, dass hier eben die gesellschaftlichen Phänomene durch organische Begriffe konzeptualisiert werden. Allerdings kennt er sich auch in der Biologie gut aus und formuliert ausdrücklich die Absicht, die Analysemethoden der biologischen Forschung auf die Soziologie anzuwenden: Frühere, allerdings vereinzelte Versuche soziologischer Spezialanalyse, die ich wagte – z. B. die vergleichende Untersuchung der wirtschaftlichen Unternehmungsformen – befestigten in mir die Ueberzeugung, daß auch in der Gesellschaftslehre analog jene analytische Vorarbeit gethan werden müsse, welche für die Biologie durch Histologie, Anatomie und Physiologie großentheils gethan ist und täglich ergänzt wird. (Schäffle 1875: V)

Die organische ‚Analogie‘, wie er es bezeichnet, wird in seinem Werk ganz konsequent und bewusst angewendet, er entwickelt sogar eine Art ‚Sozialhistologie‘. Dementsprechend ist sein Sprachgebrauch in den meisten Fällen ganz explizit. In soziologischen Schriften, wie auch in den oben zitierten Beiträgen, ist typischerweise nicht von Analogie, sondern von Metapher die Rede. Die beiden Termini werden aber in diesen Arbeiten im alltäglichen Sinne und praktisch synonym verwendet. 1 Wie ich unten zu zeigen versuche, können auch die in Schäffles Werk gefundenen Belege mithilfe der konzeptuellen Metapherntheorie analysiert werden. 3.1

Theoretischer Rahmen

Im Rahmen der blending theory von Fauconnier und Turner (2002) werden nicht nur Metapher und Analogie, sondern praktisch alle kognitiven Vorgänge auf ähnliche Weise behandelt. Die Theorie stützt sich auf die Annahme von Fauconnier (1994), dass man über sogenannte mentale Räume (‚mental spaces‘) sprechen kann, die etwa partielle konzeptuelle Strukturen menschlichen Denkens sind. Zwischen diesen mentalen Räumen können sich gewisse Entsprechungen 1

Zum Verhältnis von Analogie und Metapher aus kognitionswissenschaftlicher Sicht siehe Gentner/Jeziorski 1993.

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herausbilden, was es ermöglicht, dass mentale Räume als Input eines ‚Online‘Verstehensprozesses fungieren können, indem sich einige ihrer Elemente integrieren. Dieser Online-Prozess der Bedeutungskonstruktion wird konzeptuelle Integration oder ‚blending‘ genannt. Die Blending Theory (BT) basiert gewissermaßen auch auf der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson und weist eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit ihrer konzeptuellen Metapherntheorie (CMT) auf, aber natürlich gibt es auch bestimmte Unterschiede zwischen den zwei Denkansätzen. Allerdings sind diese zwei Theorien miteinander gut verträglich. Sowohl die CMT als auch die BT betrachtet die Metapher nicht in erster Linie als ein sprachliches, sondern eher als ein konzeptuelles Phänomen, wobei eine Projektion zwischen diesen konzeptuellen Domänen stattfindet. Diese Projektion ist aber im Falle der CMT als ein unidirektionaler Vorgang definiert, während in der BT das Prinzip der Unidirektionalität nicht erscheint. Der gravierendste Unterschied zwischen den zwei Theorien ist, dass die CMT die Metapher als eine Mapping zwischen genau zwei konzeptuellen Domänen beschreibt, während die BT gewöhnlich mindestens mit vier mentalen Räumen arbeitet (Grady et al. 1999: 101f.). Zwei mentale Räume bilden die sogenannten Input-Räume, deren Elemente systematisch einander entsprechen und die im Falle einer metaphorischen Projektion mit dem Ursprungs- und Zielbereich assoziiert werden können. Die zwei restlichen Räume in einem minimalen Netzwerk sind der sogenannte generische Raum und der integrierte Raum (‚blended space‘ oder ‚blend‘). Dieser ist das Ergebnis des konzeptuellen Integrationsprozesses, das gegebenenfalls auch durch die ‚Verschmelzung‘ einzelner Elemente der Input-Räume zu einer Sonderbedeutung in der Online-Bedeutungskonstruktion bzw. interpretation führen kann; jener ‚enthält‘ die schematische Struktur, die die Input-Räume gemeinsam haben (Fauconnier/Turner 2002: 47). Fauconnier und Turner zufolge sind mehrere Typen von konzeptuellen Integrationsnetzwerken zu unterscheiden (simplex, mirror, single-scope und doublescope), von denen der dritte Typ, das ‚einseitige‘ Netzwerk, typischerweise auf konventionalisierten konzeptuellen Metaphern basiert. Dies bedeutet, dass die Struktur des integrierten Raumes nur von einem der Input-Räume bestimmt wird (Fauconnier/Turner 2002: 119ff.). An dieser Stelle wäre es überflüssig, die Theorie im Einzelnen darzustellen, umso mehr, weil ihre Anwendungsmöglichkeiten weit über die Zielsetzung dieser Arbeit, nämlich die Metaphernanalyse, hinausgehen; ein konkretes Beispiel soll dennoch herausgegriffen werden, das auch eindeutig zeigt, dass es hier um einen generellen kognitiven Prozess geht. Die von Fauconnier und Turner beschriebene XYZ-Konstruktion kann auch als eine alternative Analysemethode

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der metaphorischen Genitivkonstruktion die Familie ist die Zelle der Gesellschaft aufgefasst werden. Nach ihrer Annahme gibt es nämlich typische und rekurrente grammatische Muster, von denen immer dieselben Mapping-Schemata in Gang gesetzt werden, unabhängig von der konkreten Bedeutung der Elemente, sei sie figurativ oder nicht. Solch ein grammatisches Muster ist beispielsweise die Konstruktion XYZ, d.h. „X ist Y von Z“. Demnach rufen die Ausdrücke Paul ist der Vater von Sally, Kausalität ist der Zement des Universums (Fauconnier/Turner 2002: 142ff.) oder eben der metaphorische Ausdruck die Familie ist die Zelle der Gesellschaft im Grunde genommen dasselbe Mapping-Schema hervor. Aus dem oben ausgeführten kurzen Überblick wird klar, dass die Blending Theory weit über die Zielsetzung des vorliegenden Aufsatzes hinausgeht. Aus diesem Grund wird im Weiteren die konzeptuelle Metapherntheorie als theoretische und terminologische Basis der Analyse vorausgesetzt. 3.2

Grundlagen der konzeptuellen Metapherntheorie

Wie oben schon angedeutet, werden Metaphern in der konzeptuellen Metapherntheorie von Lakoff und Johnson (1980) als systematische, partielle MappingProzesse zwischen zwei konzeptuellen Domänen, dem konkreteren Ursprungsbereich (‚source domain‘) und dem abstrakteren Zielbereich (‚target domain‘), aufgefasst (s. auch Lakoff 1993). Als Solches sind Metaphern unabdingbare Bestandteile menschlichen Denkens und machen wichtige Erkenntnisprozesse sowohl im alltäglichen, als auch in dem wissenschaftlichen Bereich möglich. Dieser Theorie zufolge werden abstrakte Wissensbestände metaphorisch, in Anlehnung an konkrete Konzepte verstanden, die häufig, auch wenn nicht unmittelbar, auf physischer Erfahrung basieren. Zahlreiche Metaphern sind auch auf die sogenannten Bildschemata zurückzuführen. Bildschemata sind dynamische, sich wiederholende Muster unserer Perzeption und unserer motorischen Handlungen, die die Kohärenz unserer Erfahrungen sichern (Kövecses/Benczes 2010: 133, nach Johnson 1987). Eine der zentralen Thesen der konzeptuellen Metapherntheorie ist darüber hinaus das Prinzip der Invarianz, das besagt, dass gerade die bildschematische Struktur des Ursprungsbereichs, die bei einer metaphorischen Übertragung auf den Zielbereich projiziert wird, immer beibehalten werden muss (Lakoff 1993: 215). Lakoff (1997) beschreibt eine Reihe von Bildschemata, wie BEHÄLTER, ZENTRUM-PERIPHERIE oder TEIL-GANZES. Das Bildschema TEIL-GANZES, das auch in der vorliegenden Arbeit bei der Metaphernanalyse eine wichtige Rolle spielen wird, könnte in einer BT-basierten Analyse dem generischen Raum zu-

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geordnet werden. Nach Lakoff ist die Grundlage dieser Schemata immer eine Art alltäglicher, physischer Erfahrung. Jedes Schema verfügt über eine innere logische Struktur und über bestimmte Strukturelemente. Diese sind beim TEILGANZES-Schema beispielsweise das GANZE, die TEILE und ihre KONFIGURATION. Die Basis des Schemas ist die alltägliche physische Erfahrung, dass der menschliche Körper ein Ganzes ist, das aus unterschiedlichen Teilen besteht. Darüber hinaus ist uns auch bewusst, dass andere Objekte in unserer Umgebung ebenfalls eine TEIL-GANZES-Struktur haben. Das Schema ist asymmetrisch: Wenn A ein Teil von B ist, dann ist B kein Teil von A, bzw. A ist auch kein Teil von A. Wenn das Ganze existiert, dann existieren auch ihre Teile. Demgegenüber bedeutet die Existenz der Teile nicht gleich Existenz des Ganzen, außer wenn auch eine Konfiguration der Teile vorhanden ist usw. Als metaphorisches Beispiel für dieses Bildschema führt Lakoff Familien und andere soziale Institutionen wie das Kastensystem in Indien an (Lakoff 1987: 273f.): In India, society is conceived of as a body (the whole) with castes as parts-the highest caste being the head and the lowest caste being the feet. The caste structure is understood as being structured metaphorically according to the configuration of the body. Thus, it is believed (by those who believe the metaphor) that the maintenance of the caste structure (the configuration) is necessary to the preservation of society (the whole). The general concept of structure itself is a metaphorical projection of the CONFIGURATION aspect of PART-WHOLE structure. When we understand two things as being isomorphic, we mean that their parts stand in the same configuration to the whole. (Lakoff 1987: 274)

Wie der obige wissenschaftsgeschichtliche Überblick zeigt, ist bzw. war diese auf dem Teil-Ganzes-Schema basierende Körpermetaphorik auch in der europäischen Gesellschaftslehre vorhanden, und zwar nicht nur auf schematischer Ebene. Die Gesellschaft wird von detaillierten Wissensbeständen der Biologie her konzeptualisiert. Komplexe Sinnzusammenhänge aus dem biologischen Bereich werden auf den gesellschaftlichen Bereich projiziert. Im Folgenden wird dieses Phänomen anhand von Textbeispielen von Albert Schäffle im Rahmen der kognitiven Linguistik untersucht. Außerdem soll auch gezeigt werden, inwieweit die Konzepte ZELLE und FAMILIE miteinander verbunden sind und in welchem Sinne man über ein metaphorisches Wechselspiel zwischen der Biologie und der Soziologie sprechen kann.

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ZELLE und FAMILIE in Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers ... (1875)

Das metaphorische IKM DIE GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS, das unter anderen auch die Sozialtheorie von Schäffle bestimmt, und insbesondere die konzeptuelle Metapher DIE FAMILIE IST (KEIM-)ZELLE DER GESELLSCHAFT, die auch oft explizit auf der sprachlichen Ebene erscheint, basieren hinsichtlich der oben ausgeführten Überlegungen auf dem Bildschema TEIL-GANZES. Die Gesellschaft ist als lebendiger Organismus, als Ganzes, konzeptualisiert, dessen kleinste lebendige Einheiten die einzelnen Familien darstellen: (1)

(2)

Auch in dieser Hinsicht die Zelle analog ein organischer Elementarorganismus, wie die menschliche Familie socialer Elementarorganismus ist […]. (Schäffle 1875: 33) (Hervorhebungen in den Belegen von mir, K.M.) Die Familie ist einmal vegetative, ernährende und fortpflanzende Einheit. (Schäffle 1875: 57)

Wie die Textstellen (1) und (2) signalisieren, basiert zwar die Konzeptualisierung der Familie als „social Einfachste“ (Schäffle 1875: 34) auf dem TeilGanzen-Verhältnis, ist aber nicht bloß eine metaphorische Erweiterung dieses Bildschemas. Die Familie wird durch das biologische Zellkonzept verstanden und im Sinne der Metapher DIE FAMILIE IST ZELLE DER GESELLSCHAFT als eine lebendige, sich vervielfachende Zelle des sozialen Körpers dargestellt. Als ersten Schritt charakterisiert Schäffle jedoch nicht die soziale, sondern die organische Gewebezelle als „eine untheilbare Gemeinschaft zelliger Elemente“ (Schäffle 1875: 33) und zeigt so die biologischen Grundlagen seiner Argumentation. Auch dabei spielt das Konzept FAMILIE eine zentrale Rolle: (3)

Aus der Kernzelle regeneriert sich fort und fort die Gewebezelle, in einfacher oder mehrfacher (Zwillings-) Erneuerung. Wenn also A großmütterliche, B mütterliche Zelle ist, so wird D zu einer oder mehreren Tochterzellen, aus welchen weiter die Enkelgeneration E hervorgeht. Das Wachstum der Töchter und Enkelinnen wird stofflich bestritten einmal aus der Resorption der Bestandteile der großmütterlichen und namentlich mütterlichen Zelle […]. (Schäffle 1875: 35)

Durch die metaphorisch gebrauchten Verwandtschaftsbezeichnungen Töchter und Enkelinnen usw. wird in Textstelle (3) die Konzeptualisierung der Zellteilung in Begriffen des konzeptuellen Bereichs FAMILIE angedeutet. Die Tatsache, dass bei der Darlegung der Fortpflanzungsprozesse bzw. der Systematik der Zellen die weitgehend konventionalisierten metaphorischen Komposita Zellfamilie, Mutterzelle und Tochterzelle in der Zellbiologie auch heute gebräuchlich

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Krisztán Majoros

sind, ist ebenfalls ein Hinweis auf die enge konzeptuelle Verbundenheit der Domänen FAMILIE und ZELLE. Diese zwei konzeptuellen Bereiche werden an einer anderen Stelle ganz explizit gleichgesetzt. Bei Textstelle (4) stellt sich heraus, dass im 19. Jahrhundert den einzelnen Zellorganellen eine wichtige generative Funktion zugeschrieben wurde: sie wurden als Uranlagen neuerer Zellgenerationen betrachtet. Die Zelle wird bei Schäffle dementsprechend als eine „Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel umfassende Familie“ aufgefasst: (4)

Durch die Secretionszellen erweist sich die Zelle nicht bloß als generativer Organismus, als eine Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel umfassende Familie, sondern auch als ein productiver Elementarorganismus, als eine Art Laboratorium oder Fabrik, welche für die Zelle selbst und für den Austausch innerhalb des organischen Körpers specifische Erzeugnisse liefert. (Schäffle 1875: 35 f.)

Die Konzeptualisierung der organischen Zelle als Familie tritt hier zusammen mit dem Konzept PRODUKTION auf, das auch in zellbiologischen Fachtexten anzutreffen ist (Majoros/Csatár 2011: 141) und in Schäffles Werk auch in einem anderen Kontext als Produktion des Kapitals erscheint. Das führt zu weiteren Entsprechungen, die auch mit anderen Elementen des metaphorischen IKMs DIE GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS kohärent sind: (5)

Man könnte vom vegetativen Zellenreich der Pflanze, vom vegetativen System des Thierkörpers sagen, dass es eine aus Millionen zelliger Privatwirthschaften zusammengesetzte Volkswirthschaft darstelle. (Schäffle 1875: 37)

(6)

Jedes Gewebezell-Individuum […] giebt an die Körperflüssigkeit sein spezifisches Product ab. (Schäffle 1875: 38)

(7)

[…] jede Zelle hat ihren eigenthümlichen Einkommens- Haushalts- und Consumtionsprozeß. Eine vollendete Analogie mit den Hauptphasen der Familienwirtschaft! ( Schäffle 1875: 38)

In den obigen Textstellen geht es immer noch um die Beschreibung der biologischen Zelle, um deren Funktionsweisen und Rolle im Organismus, aber mit Hilfe soziologischer Begriffe. Dieselben metaphorischen Entsprechungen werden bei der Erörterung soziologischer Zusammenhänge verwendet und zum Teil weiter ausgearbeitet: (8)

Analoges werden wir am socialen Körper und seiner geistigen Organisation des Stoffwechsels (der Volkswirtschaft) wahrnehmen. (Schäffle 1875: 44)

Zellenmetaphern

49

(9)

All diese Beobachtungen werden wir Wort für Wort in der Physiologie und Pathologie des Gesellschaftslebens in viel großartigerer Wiederholung wieder vorfinden, bis auf die Erblichkeit der Berufsfähigkeiten herab. (Schäffle 1875: 49)

(10)

Also schon für die organische Selbsterhaltung tritt im socialen Körper ein Stoffwechsel ganz neuer Art auf, die Wirtschaft, wovon umfassend die Rede sein wird. (Schäffle 1875: 55)

Bei den Textstellen (8) und (10) zeigt sich eine explizite Gleichsetzung der Begriffe Stoffwechsel und (Volks-)Wirtschaft, während in der Textstelle mit dem metaphorischen Ausdruck Pathologie des Gesellschaftslebens die Konzeptualisierung gesellschaftlicher Probleme im organischen konzeptuellen Rahmen als Krankheit angedeutet wird. In diesem Mapping spiegelt sich die innere Logik des Bildschemas TEIL-GANZES wider, nämlich dass das Ganze ohne die Teile nicht existieren kann (Textstelle (11)). Die Metapher wird auch als soziale Erbkrankheit, Hypertrophie, Atrophie und krebsartige Wucherung ausgeführt bzw. spezifiziert (Textstellen (12), (13) und (14)): (11)

Massenerkrankung der einzelnen Zellen, z. B. durch Proletarisierung oder Ueppigkeit, Verkümmerung oder sexuelle Ausschweifung, ist das Uebelste, was einem socialen Körper begegnen kann. Der ganze Körper ist schwer bedroht, wenn die Zelle allgemeiner erkrankt. In der umgekehrten Richtung ist freilich zu bemerken, daß keine einzige große Anstalt civiler oder militärischer Art, materiellen oder idealen Wirkens erkranken und von Unfällen ergriffen werden kann, ohne daß daraus secundär Cellularerkrankungen, d.h. Familienleiden aller Art, entstehen. (Schäffle 1875: 257)

(12)

Viel gefährlicher ist die Massenverarmung der Familien, die das Proletariat als eine sociale Erbkrankheit herbeiführt. (Schäffle 1875: 259)

(13)

Auf diesem ganzen Gebiete socialer Cellularpathologie erweist sich, man kann es nicht oft und nachdrücklich genug sagen, der wachsende Gegensatz cellulärer Hypertrophie der einen und cellulärer Atrophie aller anderen Zellen, d.h. das Verschwinden des Mittelstandes […]. (Schäffle 1875: 262)

(14)

Schon einzelne Familien, welche in dieser Beziehung der Auflösung verfallen, […] stecken in krebsartiger Wucherung größere Theile der Gesellschaft an […]. (Schäffle 1875: 269)

Neben den Störungen der gesellschaftlichen Ordnung werden auch die innere Struktur (Textstelle (15)) und die Funktionen der Familie sowie ihre Rolle und ihr Stellenwert im Gesellschaftssystem (Textstellen (17) und (18)) bis in die

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Krisztán Majoros

Einzelheiten metaphorisch beschrieben, und zwar von dem Ursprungsbereich ZELLE her. Den Familienmitgliedern entsprechen beispielsweise die Organellen der Zelle (Textstelle (15)), während die Intra- und Interzellularsubstanz im Modell als Familien- bzw. Volksvermögen identifiziert werden können (Textstelle (16)): (15)

Auch im socialen Körper sind die äußeren Güter nur Material und Werkzeug activer Elemente, wie es im organischen Körper die Zwischenzellstoffe für die Zellen und geformten Zellelemente sind. Diese activen Träger des sozialen Lebens sind die Personen, welche wie die Bläschen und Körnchen zur Zell-so zur untheilbaren vitalen Socialeinheit der Familie zusammengehören. (Schäffle 1875: 56)

(16)

Das Volksvermögen, – theils Intercellularsubstanz, soferne es den socialen Verband den Personen zu collectiver Lebensthätigkeit vermittelt, theils Intracellularsubstanz, soferne seine Substanz inneres Hausvermögen der Familien und Individuen ist – erweist sich in demselben Grad vielseitiger, zweckmäßiger, mehr vergeistigt und gegliedert, als die organische Intercellularsubstanz. (Schäffle 1875: 56)

(17)

[…] wie die sociale Einheit Familie und Haus ist. Die Familie hat alle Züge der Gewebezelle. Als soziale Gewebezelle stellt auch sie ein Ganzes von Generationen und Berufspersonen mit einem zugehörigen Güterganzen (Hausvermögen) dar. Ohne eigenes oder von außen dargebotenes Vermögen kann sie nicht sich erhalten und regenerieren, weder für sich noch für den sozialen Gesamtorganismus wirken, und der Einzelne ist nach Entstehung, Erhaltung und Fortpflanzung nur denkbar als Theil des socialen Elementarorganismus, als Familienglied. (Schäffle 1875: 57)

(18)

Personen sind mit ihrem Privathaushalt auf die Ernährung aus dem Collectiveinkommen desjenigen Organs angewiesen, welchem sie eingegliedert sind […]. (Schäffle 1875: 60)

Die Familie wird also zu einer Produktionseinheit, einer Keimzelle der Gesellschaft, die Kapital produziert und „Anfang und Keim der Volkswirtschaft, des Staates, der Kirche, der Schule […]“ (Schäffle 1875: 237) ist. Die Keimzelle ist eine spezifische Zelle, die in der Biologie als totipotent bezeichnet wird, d.h. aus dieser Zelle können sich ganze Organismen bzw. Individuen ausdifferenzieren. Das bildet die Grundlage des letzten hier thematisierten Aspekts, nämlich dass die Familie als Keimzelle auch die Basis von soziologischen Entwicklungsprozessen ist und dass der Differenzierungsprozess selbst der beruflichen Spezialisierung entspricht:

51

Zellenmetaphern (19)

Mit fortschreitender geschichtlicher Entfaltung des socialen Körpers differenziiren sich alle Urfunctionen der Familie zu arbeitstheiligen Sonderverrichtungen, deren jede eine große Anzahl beruflich specialisirter Familien in sich aufnimmt, wie die pflanzlich thierischen Organismen in ihren Gliedern specielle Untergemeinschaften von Abkömmlingen der aus der Keimzelle hervorgegangenen Zellen ausbilden. (Schäffle 1875: 237)

5

Zusammenfassung

Im Hinblick auf die oben aufgeführten Textstellen, von denen nur die klarsten behandelt wurden, können die folgenden Ursprungs- und Zielbereiche rekonstruiert werden, die in Schäffles Sozialtheorie systematisch miteinander verbunden werden und daher die konzeptuelle Basis seiner Argumentation bilden. Ursprungsbereich (KEIM-)ZELLE INTERZELLULARSUBSTANZ INTRAZELLULARSUBSTANZ STOFFWECHSEL GEWEBE ORGAN

Zielbereich FAMILIE ÄUSSERE GÜTER/VOLKSVERMÖGEN

HAUSVERMÖGEN DER FAMILIE WIRTSCHAFT EINFACHE SOZIALE ANSTALT ZUSAMMENGESETZTE SOZIALE INSTITUTION

ORGANISMUS KRANKHEIT ORGANELLE ZELLDIFFERENZIERUNG

GESELLSCHAFT GESELLSCHAFTLICHE PROBLEME

FAMILIENMITGLIEDER BERUFLICHE SPEZIALISIERUNG

Tab. 1: Ursprungs- und Zielbereiche in Schäffles Sozialtheorie Die in Tabelle 1 aufgelisteten konzeptuellen Domänen, die als Bestandteile möglicher metaphorischer Mapping-Prozesse angesehen werden können und miteinander kohärent sind, stellen ein beweiskräftiges Beispiel der konzeptuellen Verbundenheit zweier wissenschaftlicher Diskursbereiche dar. In der Metaphernverwendung der Soziologie des 19. Jahrhunderts, die mit dem metaphorischen IKM DIE GESELLSCHAFT IST EIN ORGANISMUS beschrieben werden kann, ist das Konzept ZELLE von besonderem Belang und spielt eine zentrale Rolle bei der Konzeptualisierung der Familie als „letzte vitale Einheit“ der Gesellschaft. Auf der anderen Seite beschreibt Virchow die organische Zelle als vitale Einheit einer sozialen Einrichtung, und bestimmte Elemente des FAMILIE-IKMs werden in der Zellbiologie auch heute, besonders im Kontext der Zellteilung bzw. Fort-

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Krisztán Majoros

pflanzung und Systematik der Zellen verwendet. Dieses metaphorische Wechselspiel zwischen Soziologie und Biologie lässt sich am besten im terminologischen Rahmen der konzeptuellen Metapherntheorie beschreiben und stützt die in der Einleitung formulierte Hypothese zur Funktion ausgewählter Konzepte popularisierten Fachwissens als Ursprungsbereich von Wissenstransfermetaphern bei der Versprachlichung anderer wissenschaftlicher Theorien.

6

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Máté Tóth Debrecen

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten1 1

Problemstellung

Die holistische kognitive Linguistik betrachtet die Metonymie als einen kognitiven Prozess, während dessen eine konzeptuelle Entität, die sog. Quelle (der sog. Ursprung) zu einer anderen konzeptuellen Entität, zum sog. Ziel, einen mentalen Zugang gewährt, wobei die Quellenentität und die Zielentität Bestandteile desselben Idealisierten Kognitiven Modells (IKM) sind: „Metonymy is a cognitive process in which one conceptual entity, the vehicle [source], provides mental access to another conceptual entity, the target, within the same idealized cognitive model“ [Hervorhebung von mir, M. T.] (Radden/Kövecses 1999: 21). Um diese Definition besser interpretieren zu können, lohnt es sich, uns näher anzusehen, was unter mentalem Zugang bzw. IKM verstanden wird. Im Ansatz von Langacker (1993, 1999) dient der metonymische Ausdruck als Referenzpunkt, d.h. als Anknüpfungspunkt an verschiedene mentale Inhalte: „The entity that is normally designated by a metonymic expression serves as a reference point affording mental access to the desired target (that is, the entity actually being referred to)“ [Hervorhebung von mir, M.T.] (Langacker 1993: 30). Anders gesagt, funktioniert der metonymische Ausdruck als Zugang zu bestimmten Wissensstrukturen, innerhalb deren er indirekten mentalen Zugang zur Zielentität gewährt. Die Wissensstruktur, zu der sowohl die explizit ausgedrückte, als Referenzpunkt funktionierende Ursprungsentität, als auch die zu erreichende, implizit bleibende Zielentität gehören, wird von verschiedenen Autoren unterschiedlich konzipiert und mit verschiedenen Termini bezeichnet, wie zum Beispiel „Domäne“, „Dominium“, „Skript“, „Rahmen“, „Bildschema“, „mentaler Raum“ oder „IKM“. In dieser Arbeit verwende ich den Terminus „IKM“, der ursprünglich von Lakoff (1987) geprägt wurde und von dem Kövecses und Radden (Kövecses/Radden 1998, Radden/Kövecses 1999) auf die Metonymie bezogen Gebrauch machen. Vereinfacht ausgedrückt, sind unsere IKMs geordnete Wissensstrukturen über die Welt: „The main thesis of this book is that we organize our knowledge by means of structures called idealized cognitive models, or 1

Der vorliegende Beitrag entstand mit Unterstützung der MTA-DE Research Group for Theoretical Linguistics und des Projekts TÁMOP-4.2.2/B-10/1-2010-0024.

56

Máté Tóth

ICMs, and that category structures and prototype effects are by-products of that organization“ [Hervorhebung von mir, M.T.] (Lakoff 1987: 68). Im Einklang mit dem bisher Gesagten eröffnet im folgenden metonymischen Ausdruck: (1)

Der Raum 126 ist immer gutgelaunt. [diejenigen, die dort arbeiten/wohnen]

die Nominalphrase Raum 126 ein IKM. Sie aktiviert ein Element dieses IKMs, nämlich den RAUM, das als Referenzpunkt für ein anderes Element des IKMs dient, die Zielentität, nämlich diejenigen PERSONEN, DIE DORT ARBEITEN/WOHNEN (Abbildung 1). M.a.W. gewährt der durch den metonymischen Ausdruck bezeichnete Begriff einen indirekten mentalen Zugang zu einem anderen Begriff innerhalb desselben IKMs, wobei Ursprung (RAUM) und Ziel (BEWOHNER/ARBEITER) durch eine pragmatisch-funktionale Beziehung miteinander verbunden sind (Barcelona 2002, 2011)2.

Abb. 1: Metonymie als Referenzpunkt: Der Raum 126 ist immer gutgelaunt. Die prototypischen und am meisten untersuchten Instanzen der Metonymie stellen die dem Beispiel (1) ähnlichen, durch Nominalphrasen ausgedrückten, nicht konventionalisierten, referenziellen Metonymien dar. Zahlreiche Autoren haben aber dafür plädiert, dass sich das Phänomen der konzeptuellen Metonymie nicht auf die referenziellen Fälle beschränken lässt, sondern sie eher eine motivierende bzw. inferentielle Funktion hat und ihre Wirkung auf allen Ebenen und Gebieten 2

Für eine detaillierte Darstellung der Kontiguitätsbeziehung zwischen dem metonymischen Ursprung und Ziel s. Peirsman/Geeraerts (2006).

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten

57

sowohl der konzeptuellen Strukturierung als auch der sprachlichen Beschreibung ausübt (z.B. Thornburg/Panther 1997, Panther/Thornburg 1999, Barcelona 2002a, 2002b, 2011a, 2011b, Kövecses/Radden 1998, Radden/Kövecses 1999, Ruiz de Mendoza 2000). Dementsprechend wird von einigen Autoren zwischen referenziellen und propositionellen Metonymien (Warren 1999, 2002, 2006), zwischen illokutionären und propositionellen Metonymien (mit referenziellen und prädikativen Subtypen; Thornburg/Panther 1997, Panther/Thornburg 1999) bzw. zwischen referenziellen Metonymien und EREIGNIS-Metonymien (Radden 2012) unterschieden. Andernorts habe ich auch selbst dafür argumentiert, dass sich Metonymien danach klassifizieren lassen, was für ein kognitiver Inhalt mithilfe des metonymischen Referenzpunktes mental zugänglich gemacht wird (vgl. Tóth in Vorbereitung). Dieser Klassifikation zufolge können DING-, EREIGNIS-, EIGENSCHAFT-, PROPOSITIONS-Metonymien sowie illokutionäre Metonymien unterschieden werden. Dieser Klassifizierung entsprechend verstehe ich unter „EREIGNISMetonymie“ eine Metonymie, deren Zielbegriff oder -entität ein EREIGNIS ist. Hier wird der Terminus ‚Ereignis’ der Einfachheit halber sehr grob, d.h. prätheoretisch und präexplikativ verwendet; z.B. er bezieht sich auch auf Handlungen, Tätigkeiten oder Zustandsveränderungen. Zugänglich wird ein EREIGNIS durch seine Teilnehmer, d.h. DINGE, seine Umstände oder seine EIGENSCHAFTEN oder durch seine TEILEREIGNISSE, Voraussetzungen oder Folgen. Allerdings können – worauf auch Radden (2012) hingewiesen hat – bezüglich der EREIGNIS-Metonymien zahlreiche Probleme auftauchen. In den nachfolgenden Abschnitten gehe ich der Frage nach, von welchem Element eines komplexen Ereignisses von verschiedenen Sprachen als Quelle/Ursprung Gebrauch gemacht wird. Anders formuliert: Welche Elemente eines EREIGNIS-IKMs können während der Konzeptualisierung und Verbalisierung dieses Ereignisses als metonymischer Referenzpunkt dienen? Einschlägige Untersuchungen dieser Frage deuten darauf hin, dass Sprachen diese Vielfalt der konzeptuell möglichen Referenzpunkte oft nicht nutzen, obwohl bestimmte Elemente eines Ereignisses aufgrund ihrer konzeptuellen Eigenheiten dazu geeignet sein können, das Ereignis mental zugänglich zu machen. Sprachen dieser Art wählen eher nur bestimmte Elemente zu diesem Zweck aus, während sie andere außer Acht lassen. Die Beantwortung dieser Frage kann aber auch zur Lösung eines von Radden aufgeworfenen Problems beitragen, nämlich zur Lösung des Problems, ob ein Ausdruck als metonymisch betrachtet werden kann, der zwar ein metonymisches Verhältnis zwischen einem EREIGNIS und einem seiner TEILEREIGNISSE nutzt, der aber in einer Sprache keine Alternative hat, weil das EREIGNIS in dieser Sprache nur mithilfe eines metonymischen Verhältnisses sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Diese schwerwiegende

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Máté Tóth

Frage kann vereinfacht so gestellt werden, dass es unentschieden ist, ob EREIGNIS-Metonymien konzeptuell oder sprachlich bedingte Phänomene sind. Mein Beitrag geht diesen Fragen anhand des Beispiels des IKMs MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN nach.

2

Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN: eine kontrastive Analyse

2.1

Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN

Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN besteht aus folgenden Elementen: der Spielende; das Musikinstrument; die Tätigkeit, die der Spielende am Instrument ausübt; und das Produkt dieser Tätigkeit, also Musik. Neben diesen zentralen Elementen hat es – wie jedes EREIGNIS – eine zeitliche Ausdehnung, Räumlichkeit, eine Art und Weise usw.; darüber hinaus kann es auch über ein Publikum und weitere weniger zentrale Elemente verfügen (Abbildung 2). Die Sprecher einer Sprache wählen aus diesen Elementen aus und legen während der Konzeptualisierung und Verbalisierung des IKMs einen unterschiedlichen Akzent auf sie.

Abb. 2: Das IKM MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN Unser Augenmerk wird hier auf die Handlung gerichtet, die der Spielende ausführt. Diese Handlung ist äußerst komplex: Der Spielende macht sehr komplizierte Bewegungen mit vorbestimmter Geschwindigkeit und Intensität. Es ist leicht einzusehen, dass es hier um ein EREIGNIS geht, das in seiner Gesamtheit und Komplexität weder mental repräsentiert noch verbal begriffen werden kann;

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten

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deswegen ist es nicht erstaunlich, dass fast jede Sprache metonymische und/oder metaphorische Strategien verfolgt, um darüber sprechen und denken zu können. Ich untersuche also die Frage, welche Aspekte des Ereignisses von verschiedenen Sprachen während seiner Konzeptualisierung hervorgehoben werden. Meine Analysen habe ich in zwei Schritten durchgeführt. Zuerst nahm ich die mir vertrauten Sprachen unter die Lupe, dann habe ich eine größere Gruppe von Sprachen mithilfe der Befragung von Muttersprachlern untersucht. 2.2

Englische, deutsche und ungarische Daten

Die englischen und deutschen Konzeptualisierungen des Instrument-Spielens weisen keine bedeutenden Unterschiede auf. Wie die Bespiele zeigen, stimmen sie, abgesehen vom Artikelgebrauch, überein: (2) (3)

He can play the piano. Er kann Klavier spielen.

Formal und semantisch gesehen, stellen sowohl der englische als auch der deutsche Ausdruck ein Beispiel für marginale transitive Konstruktionen dar. Sie verfügen über zahlreiche der von Taylor (1995: 206ff.) aufgezählten Eigenschaften prototypischer transitiver Konstruktionen nicht, z.B. fungiert die zweite Nominalphrase eher als Instrument denn als Objekt 3. Beide Sprachen verwenden das Verb play/spielen im Fall fast aller Instrumente und auch im Fall des Sammelbegriffs Instrument, um die vom Spielenden ausgeübten Tätigkeit zu verbalisieren. Die beiden Sprachen betrachten also diese Tätigkeit in ihrer Gesamtheit und drängen seine Einzelheiten in den Hintergrund. Kein Aspekt des EREIGNISSES wird metonymisch hervorgehoben; insbesondere machen diese Sprachen keinen Unterschied zwischen den grundsätzlich unterschiedlichen Handlungen, die der Spieler im Fall z.B. der Gitarre, der Flöte oder der Trommel ausführt. Anstatt z.B. die Art und Weise der Tonbildung hervorzuheben und dadurch einen Unterschied zwischen den verschiedenen Instrumenten zu machen, begreifen sie eher die gemeinsamen Elemente des InstrumentSpielens. Diese Strategie ist eher metaphorisch als metonymisch. In diesen Sprachen wird die vom Spielenden ausgeführte komplexe Handlung mithilfe des IKMs oder der konzeptuellen Domäne SPIELEN verstanden; dadurch werden die Übereinstimmungen zwischen den beiden Domänen hervorgehoben. Das Instrument-Spielen geschieht nach Regeln, genauso wie andere 3

Wegen des beschränkten Umfangs des vorliegenden Beitrags kann ich leider diese Eigenschaften hier nicht im Einzelnen anführen und detailliert darstellen.

60

Máté Tóth

Spiele. Diese Regeln können recht kompliziert sein. Ein Spiel kann nur von denjenigen gespielt werden, die diese Regeln kennen. Genauso kann man nur dann Musik spielen, wenn man mit den Regeln und der Art und Weise dieser Handlung vertraut ist. Darüber hinaus kann Musik-Spielen genauso unterhaltsam sein wie ein Spiel. Das IKM INSTRUMENTE SPIELEN verfügt also über zahlreiche Eigenschaften der Domäne SPIELEN, aber nicht über alle; es gibt z.B. keinen Sieger und keine Preise. In dieser Hinsicht kann die Verwendung der Verben play bzw. spielen während der Konzeptualisierung des INSTRUMENT-SPIELENS als die metaphorische Erweiterung der Kategorie SPIEL aufgrund der von Wittgenstein (1953) wohl bekannten Familienähnlichkeiten betrachtet werden. Im Gegensatz dazu weist das Ungarische auffällige Unterschiede auf. Im Ungarischen werden im Fall aller Instrumente Denominative verwendet, die aus dem Instrument eine Handlung bilden: (4)

Ungarisch Tudsz gitározni/zongorázni/fuvolázni/dobolni? können-2SG-Präs-Ind Gitarre/Klavier/Flute/Trommel-verbal Suff.-Inf. Kannst du Gitarre/Klavier/Flute/Trommel spielen?

Das Suffix verrät aber nichts über die komplexe Handlung des SPIELENS. Diese Strategie ist eindeutig metonymisch motiviert: Das Ungarische versteht die komplexe, schwer zu begreifende Handlung des INSTRUMENT-SPIELENS durch die metonymische Hervorhebung des INSTRUMENTS; infolgedessen kann es einen Unterschied zwischen den Handlungen im Fall aller Instrumente machen, verrät aber über diese Handlungen weiter nichts. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass das Deutsche und das Englische einerseits und das Ungarische andererseits das INSTRUMENTE-SPIELEN unterschiedlich konzeptualisieren. Sie haben aber gemeinsam, dass das INSTRUMENT als zentrales Element erscheint bzw. dass sie die tatsächliche Handlung nicht im Einzelnen darstellen. Der Unterschied steckt also darin, dass die ersten zwei Sprachen neben dem INSTRUMENT auch die Komplexität, die Regelmäßigkeit und die Unterhaltsamkeit der Handlung mithilfe einer metaphorischen Abbildung in den Vordergrund stellen, während die dritte diese Aspekte außer Acht lässt und das INSTRUMENT mithilfe einer metonymischen Abbildung in den Vordergrund stellt. Der ersten Konzeptualisierungsstrategie liegt die konzeptuelle Metapher INSTRUMENTE SPIELEN IST SPIELEN zugrunde, während der zweiten die konzeptuelle Metonymie INSTRUMENT FÜR DIE HANDLUNG zugrundeliegt, also eine DING-EREIGNIS-Metonymie.

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten 2.3

61

Daten aus weiteren Sprachen

Weil die bisher behandelten Sprachen nur wenige Elemente des IKMs – das Ungarische ein einziges zentrales Element, und das Deutsche und Englische ein zentrales Element und mehrere periphere Elemente – bei seiner Konzeptualisierung verwendet haben, war es erforderlich, weitere Sprachen in meine Untersuchungen mit einzubeziehen. Um meine Analyse erweitern zu können, benötigte ich Daten von Muttersprachlern, die ich mithilfe eines Fragebogens erhoben habe. Ich bat die Informanten darum, Beispiel (2) in ihre Muttersprache zu übersetzen und ihre Übersetzungen mit einer englischen Wort-für-Wort-Glossierung zu versehen, damit die verschiedenen Konzeptualisierungsstrategien erkennbar werden. Schließlich habe ich ihnen die Frage gestellt, ob sich ihre Übersetzungen verändern, wenn Gitarre durch folgende Instrumentbezeichnungen ersetzt wird: Instrument, Flöte, Klavier, Geige, Trommel, Horn und Vuvuzela. Bei der Auswahl dieser Bezeichnungen habe ich darauf geachtet, dass die Liste Bezeichnungen für Blas-, Saiten- und Schlaginstrumente sowie prototypische als auch weniger prototypische Instrumente enthält. Diese Frage diente dem Zweck zu eruieren, ob die jeweilige Sprache die Handlungen mit Instrumenten unterschiedlicher Art unterscheidet. Dank der Befragung habe ich Daten aus 17 Sprachen erheben können: Tschechisch, Finnisch, Französisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch (einschließlich brasilianisches Portugiesisch), Rumänisch, Japanisch, Italienisch, Spanisch (einschließlich mexikanisches Spanisch), Thai, libanesisches Arabisch, Georgisch, Singalesisch, Schwedisch, Litauisch und Russisch. Die georgischen und die singalesischen Daten musste ich aber außer Betracht lassen, weil die Befragten keine englischsprachige wortwörtliche Transkription angegeben haben. Die Analyse der übrigen 15 Sprachen kann folgenderweise zusammengefasst werden. Keine der untersuchten Sprachen verfolgte eine dem Ungarischen ähnliche Strategie. Das Niederländische, das Schwedische, das Russische und das Tschechische verfolgen dieselbe Strategie wie das Englische und das Deutsche, mit dem Unterschied, dass das Russische und das Tschechische den Ausdruck spielen an etw. gebrauchen, also nicht die erwähnte marginale transitive Konstruktion:

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Máté Tóth

(5)

Russisch: Вы можете играть на гитаре? (höflich) Ты можешь играть на гитаре? (informell) du/Sie kannst/können spielen an Gitarre4

(6)

Tschechisch: Umíš hrát na kytaru/flétnu/klavír/housle/roh/vuvuzelu? kannst (du) spielen an Gitarre

Das Französische und das Polnische zeigen einen kleinen Unterschied im Vergleich zur vorerwähnten Strategie auf: (7)

Französisch: Est-ce que tu sais jouer de la guitare? Fragewort du kannst spielen von bestimmter Artikel Gitarre

(8)

Polnisch: Czy potrafisz grać na gitarze? Fragewort (du) kannst spielen an Gitarre

Diese Sprachen verwenden das Verb ‚spielen‘ aus dem Bereich des SPORTS und nicht aus dem Bereich der KINDERSPIELE. Diese metaphorische Abbildung des INSTRUMENT-SPIELENS weicht von der englischen und deutschen Strategie insofern ab, als dass hier während der Konzeptualisierung des INSTRUMENTSPIELENS ein Verb aus dem IKM der SPORTBETÄTIGUNGEN erscheint. Dieser Unterschied lässt sich aber auf die von Sprache zu Sprache unterschiedlichen metaphorischen Erweiterungen der Kategorie SPIEL zurückführen. Ein viel merkwürdigeres Bild zeigen diejenigen Sprachen, die das Element des TONS in den Vordergrund stellen. Zu dieser Gruppe gehören das Finnische, das Italienische, das libanesische Arabisch und das Rumänische: (9) (10) (11) (12)

4

Finnisch: Soitatko jotain soitinta? (= ‚klingeln‘) Italienisch: Sai suonare la chitarra? (= ‚erschallen‘) libanesisches Arabisch: ‚klopfen an‘ Rumänisch: Poti sa canti la chitara? (= ‚singen‘)

Die angegebenen wortwörtlichen Übersetzungen im Fall der fremdsprachlichen Beispiele stammen von den befragten Informanten; deshalb können sprachwissenschaftliche Ungenauigkeiten vorkommen, die aber meine Argumentation hoffentlich nur in geringerem Maße stören.

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten

63

Alle vier Sprachen verwenden dasselbe Verb im Fall aller Instrumente, folglich sind diese auch nicht besonders spezifisch bezüglich der tatsächlich ausgeführten Handlung. Sie konzeptualisieren den komplexen Vorgang dadurch, dass sie den TON, also das Produkt der Handlung in den Vordergrund stellen, aber dieser TON ist nicht instrumentspezifisch, er ist sogar nicht unbedingt musikalisch. Das Finnische gebraucht das Verb soitta, das ungefähr ‚klingeln‘, ‚klingen‘ oder ‚anrufen‘ bedeutet. Das Italienische bezeichnet die Handlung mit dem Verb suonare, wortwörtlich ungefähr ‚erschallen‘, ‚anklingen‘. Das libanesische Arabisch benutzt genauso wie das Finnische ein Verb, das einen TON ausdrückt: die Libanesen ‚klopfen‘ an allen Instrumenten. Am merkwürdigsten erscheint vielleicht die vom Rumänischen verfolgte Strategie, das das Verb ‚singen‘ gebraucht. Es macht eine komplexe, nur schwer zu begreifende Weise der Tonbildung, genauer gesagt des MUSIK-SPIELENS, mithilfe einer einfacheren, für jeden Menschen erreichbaren Tonbildungsweise, nämlich mithilfe des SINGENS verständlich. Diese Strategien können als metaphorisch betrachtet werden, weil sie sich bestimmter Elemente bedienen, die im strengeren Sinne keine Bestandteile des IKMs INSTRUMENTE SPIELEN darstellen. Diese Elemente sind nur ähnlich insofern, als dass das Produkt auch im Fall des Klingelns, des Erschallens, des Klopfens und des Singens ein Ton ist. Betrachten wir aber die verschiedenen Weisen der Tonbildung als Elemente desselben taxonomisch strukturierten IKMs, so ist es leicht einzusehen, dass die metonymische Interpretation auch stichhaltig ist, da diese Sprachen eine komplizierte Tonbildungsweise mithilfe einer einfacheren, einfacher zugänglichen (z.B. klingeln, klopfen, erschallen) oder mithilfe einer jedem bekannten Tonbildungsweise (singen) zugänglich machen. Das Portugiesische und das Spanische machen von einer EREIGNIS-EREIGNISMetonymie Gebrauch: (13)

Portugiesisch: Sabes tocar guitarra? kannst (du) berühren Gitarre

(14)

Spanisch: Puedes tocar la guitarra? kannst (du) berühren die Gitarre

Beide Sprachen wählen ein greifbares, aber sehr wichtiges TEILEREIGNIS des komplexen EREIGNISSES als Quelle aus: das Berühren des Instruments. Sie benutzen das Verb ‚berühren‘ im Fall aller Instrumente, weil es unabhängig vom Instrumententypus ein TEILEREIGNIS des INSTRUMENT-SPIELENS darstellt, dass der Spielende das Instrument berührt.

64

Máté Tóth

Die litauische Konzeptualisierungsstrategie ist eine merkwürdige Mischung der spanischen und der englischen Strategie, weil sie den Aspekt des Berührens mit den Fingern und die Elemente des SPIELEN-IKMs gleichzeitig verwendet. (15)

Litauisch: Ar moki groti gitara5? Fragewort kannst (mit den Fingern) spielen mit der Gitarre

Das Verb groti bedeutet ‚spielen‘, genauer ‚spielen mit den Fingern‘ oder ‚herumfingern‘. Das Litauische verwendet also gleichzeitig die SPIELEN-Metapher und die BERÜHREN-Metonymie. Das Japanische und das Thai schließlich drücken die Handlung des INSTRUMENT-SPIELENS am spezifischsten aus. Diese Sprachen differenzieren zwischen den Handlungen, die an verschiedenen Instrumententypen ausgeführt werden. Das Japanische differenziert sogar im Fall des Sammelbegriffs Instrument; hier wird das Verb ‚tun/machen‘ benutzt. Im Fall der Saiteninstrumente (Gitarre, Klavier, Geige) wird das Verb ‚Saiteninstrumente spielen‘, im Fall der Blasinstrumente das Verb ‚blasen‘, und im Fall der Trommel das Verb ‚schlagen‘ benutzt: (16)

Japanisch: Gakki ga dekiru (ka)? Instrument Topikpartikel kannst tun/machen (optionelles Fragewort) Kannst du ein Instrument spielen?

(17)

Japanisch: Gitaa wo hikeru (ka)? Gitarre Objektpartikel kann Saiteninstrument spielen (optionelles Fragewort) Kannst du Gitarre spielen?

(18)

Japanisch: Fue wo fukeru? Flute Objektpartikel kannst blasen Kannst du Flute spielen?

(19)

Japanisch: Taiko wo tatakeru? Trommel Objektpartikel kannst schlagen Kannst du Trommel spielen?

5

Mein Informant machte mich darauf aufmerksam, dass das Substantiv gitara im Litauischen dieselbe Form in den Kasus Nominativ und Instrumental hat.

EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten

65

Das Thai – ähnlich wie das Japanische – gebraucht verschiedene Verben im Fall verschiedener Instrumente: (20)

Thai: Gitarre und Klavier: คุณเล่ นกีตาร์เป็ นไหม Geige: สี (= ‘geigen’) Blasinstrumente: เป่ า ( = ‘blasen’) Trommel: ตี ( = ‘schlagen’)

In diesen zwei Sprachen wird also die grundlegende Art und Weise des Spielens hervorgehoben und metonymisch für die komplexe Handlung gebraucht. Die Ergebnisse der kontrastiven Analyse der untersuchten 18 Sprachen werden tabellarisch in Tabelle 1 dargestellt. Die Tabelle ordnet die untersuchten Sprachen in Gruppen je nach der Konzeptualisierungsstrategie und der metonymischen und/oder metaphorischen Quelle, mit Hilfe deren sie das Ziel MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN begreifen und verbalisieren.

MUSIKINSTRUMENTE SPIELEN

Ziel

Quelle INSTRUMENT SPIELEN

Strategie Metonymie (Das INSTRUMENT FÜR DAS EREIGNIS) Metapher

SPIELEN/SPORT TON

Metapher Metonymie/Metapher (?)

BERÜHREN

Metonymie (TEILEREIGNIS

FÜR

Sprache Ungarisch Englisch, Deutsch, Niederländisch, Russisch, Tschechisch, Schwedisch Französisch, Polnisch Finnisch, Rumänisch, Italienisch, Libanesisch-Arabisch Spanisch, Portugiesisch

DAS EREIGNIS)

SPIELEN/BERÜHREN MIT DEN FINGERN ART UND WEISE

Metapher/Metonymie Metonymie (ART/TEILEREIGNIS EREIGNIS)

Litauisch Japanisch, Thai

FÜR

DAS

Tab. 1: Konzeptualisierungsstrategien des IKMs INSTRUMENTE SPIELEN

66 3

Máté Tóth Konklusion

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass verschiedene Sprachen über das INSTRUMENT-SPIELEN unterschiedlich denken und sprechen. Die untersuchten Sprachen haben aber gemeinsam, dass keine von ihnen diese komplexe Handlung in ihrer Gesamtheit und Komplexität erfassen kann; deshalb verfolgen sie ausnahmslos metonymische und/oder metaphorische Konzeptualisierungsstrategien. Obwohl diese Strategien von Sprache zu Sprache unterschiedlich sind, sind sie konzeptuell wohl motiviert – im Sinne des Motivationsbegriffs bei Panther und Radden (Radden/Panther 2004, Panther/Radden 2011). Die Frage, warum die einzelnen Sprachen jeweils eine bestimmte Strategie bevorzugen, bleibt aber offen. Dabei ist nicht vorhersagbar, welche Strategie eine Sprache verfolgt. Meine Untersuchungen zielten vielmehr darauf ab zu zeigen, dass diese Strategien nicht völlig zufällig oder arbiträr sind, sondern dass sie im Einklang mit den generellen Mechanismen der menschlichen Begriffsbildung stehen. Folglich muss also eingeräumt werden, dass die Metonymie in gewissem Maß sprach- und kulturabhängig ist. Im Licht meiner Ergebnisse widerspricht aber diese Folgerung nicht der Annahme, dass die konzeptuelle Metonymie eine universale Erscheinung ist, die eng mit der körperlichen Verankerung der Erfahrung und des Denkens verbunden ist. Die Ergebnisse meiner Untersuchung der verschiedenen Strategien, von denen während der Konzeptualisierung komplexer Ereignisse Gebrauch gemacht wird, sprechen eher dafür, dass die Metonymie ein Phänomen von konzeptueller Natur ist, das aber sprach- und kulturabhängig weitgehend unterschiedlich verwendet werden und ausgeprägt sein kann.

4

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EREIGNIS-Metonymien im Licht kontrastiver Daten

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Máté Tóth

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Krisztina Mujzer-Varga Budapest

Eine korpuslinguistische Untersuchung von kommunikativen Routineformeln 1

Einleitung

Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen einer interdisziplinären Untersuchung, deren Hauptziel die Untersuchung von sog. Routineformeln ist. Das Ziel des Aufsatzes ist eine Charakterisierung der Grundzüge meiner Untersuchung. Erste Schritte wurden unternommen, Ergebnisse liegen aber noch keine vor. Gegenstand meiner Untersuchung sind die pragmatischen Funktionen der Routineformeln (RF). Daher muss im Rahmen dieses Beitrags zuerst geklärt werden, was die Fachliteratur generell unter diesem Begriff versteht; die Begriffsklärung dient dann als Ausgangspunkt meiner eigentlichen Arbeit. Trotz der relativen großen Verbreitung des Terminus „Routineformel“ habe ich mich in Anlehnung an Hyvärinen (2011) entschlossen, die formelhaften Ausdrücke in meiner Arbeit „kommunikative Routineformeln“ (KRF) zu nennen, da ich mich in meiner Untersuchung auf gesprächsspezifische Formeln in der Schriftsprache beschränke. Phraseologismen stellen ein komplexes Forschungsfeld dar. Im Folgenden konzentriere ich mich jedoch auf ein konkretes Gebiet innerhalb dieses Bereichs: auf die Routineformeln, die in der einschlägigen Fachliteratur fast gar nicht oder lediglich am Rande erwähnt und untersucht werden. Ihre Beschreibung ist und bleibt auch in der ungarischen Sprachwissenschaft weiterhin ein Desiderat. Zum Thema der Routineformeln bin ich durch die Übersetzungswissenschaft gekommen, wo neben der Kreativität die Routine ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Beim Problematisieren rücken kommunikative Formeln, die das verbum dicendi sagen enthalten, immer wieder ins Blickfeld. Zu differenzieren wäre als Erstes zwischen der wörtlichen Bedeutung des Verbs (im Sinne von ‚äußern‘, ‚ausdrücken‘, ‚mitteilen‘, ‚artikulieren‘) und der oft im übertragenen Sinne verwendeten Bedeutung in usuellen Wortverbindungen wie z.B. in dem Ausdruck ich sag mal so. In Anlehnung an die Auffassung von Koch/Oesterreicher (1994) soll auch das Konzept der konzeptionellen Mündlichkeit und der medialen Schriftlichkeit verwendet werden, da das Auftreten bestimmter gesprächsspezifischer Formeln – wie die Formel wie man so schön sagt – vor allem in der Schriftsprache untersucht wird. Im zweiten Teil

70

Krisztina Mujzer-Varga

meines Beitrages sollen die Ergebnisse einer korpuslinguistischen Untersuchung dargestellt werden. Die Textbelege stammen aus dem „Deutschen Referenzkorpus“, die Suchanfragen wurden mithilfe von COSMAS II durchgeführt. Die Untersuchung ist weder repräsentativ noch umfassend, es sollen lediglich erste Ergebnisse eines Probedurchlaufs präsentiert werden.

2

Theoretischer Hintergrund ˗˗ Begriffsbestimmung

In der deutschsprachigen Fachliteratur hat sich kein einheitlicher Standpunkt zur Terminologie durchsetzen können, es gibt eine Vielzahl an Bezeichnungen. Aus Platzgründen werden hier jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit nur einige ausgewählte vorgestellt: ‚Routineformel‘ (Coulmas 1981), ‚pragmatischer Phraseologismus‘ (Burger et al. 1982) sowie ‚gesprächsspezifische Formel‘ (Stein 1995); andere Termini werden eher am Rande erwähnt: ‚kommunikative Formel‘, ‚kommunikative Phraseologismen/Wendungen‘ sowie ‚vorgeformte Ausdrücke/Konstruktionen/Strukturen‘ oder ‚formelhafte Wendungen‘. 1 Der Inhalt der Bezeichnungen deckt sich bei den verschiedenen Bezeichnungen jedoch nicht vollständig. In diesem Aufsatz sollen auch Beschreibungsversuche aufgeführt werden; dabei habe ich die vielfältige Terminologie der jeweiligen Autoren (Burger et al. 1982, Coulmas 1981, Stein 1995, Hyvärinen 2011, Heltai 2002 sowie Fiehler 2004 und Schildt/Viehweger 1983) beibehalten. Im Allgemeinen geht die Phraseologie von drei grundlegenden Eigenschaften der Phraseologismen aus: Festigkeit, Reproduzierbarkeit und Idiomatizität. Die Autoren des Nachschlagewerks „Handbuch der Phraseologie“ (Burger et al. 1982) erwähnen allerdings in Kapitel 2 bei den pragmatischen Phraseologismen eine Randerscheinung, die ausschließlich aufgrund kommunikativ-pragmatischer Kriterien klassifiziert werden. Sie gehen von der Behauptung aus, dass die meisten pragmatischen Phraseologismen hinsichtlich ihrer kommunikativen, funktionalen oder auch pragmatischen Verwendbarkeit nicht festgelegt sind. Dazu kommt noch, dass bestimmte Typen mit bestimmten pragmatischen Funktionen vorkommen können oder mit statistisch nachweisbarer, auffallender Häufigkeit vorkommen, so fordert die KRF sagen wir mal … nicht zum Sprechen auf, son-

1

Vgl. auch ‚pragmatisches Idiom/Phrasem/Phraseologismus/Prägung oder Stereotype‘, ‚Redewendung‘, ‚Redensart‘, ‚feststehender Ausdruck‘, ‚sprachliches Fertigteil‘, ‚Phrase‘, ‚Frasmus‘, ‚Idiom‘, ‚Floskel‘, ‚Klischee‘, ‚frozen expression‘, ‚pragmatische Prägungen‘ sowie ‚situative Schematismen‘ oder ‚phraseologische Formel‘.

Kommunikative Routineformeln

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dern kennzeichnet einen bestimmten Ausgangspunkt, im Sinne von „Gehen wir doch mal von folgender Annahme aus …“. Diese besondere Gruppe von Phraseologismen wird bei Burger et al. (1982) nicht aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit, sondern hinsichtlich ihrer pragmatischen Eigenschaften angeführt: Es sind die gesprächsspezifischen Phraseologismen, die nur in einem kommunikativ-funktionalen Rahmen vollständig beschrieben werden können. Als Unterscheidungsmerkmal dienen die folgenden Charakteristika. Diese pragmatischen Phraseologismen kommen in erster Linie in Texten gesprochener Sprache, also in Gesprächen vor (und zwar mit großer Häufigkeit). Außerdem geht die eigentliche Bedeutung zugunsten einer Funktion verloren, die generell auch als metakommunikativ anzusehen ist (d.h. als phraseologisch im engeren Sinne). Wir sprechen hier von Desemantisierung, d.h. die eigentliche Bedeutung wird ganz oder vollständig durch diese Funktion verdrängt, wie bei der KRF Was du nicht sagst!, die in erster Linie Erstaunen ausdrücken soll. Das Kriterium der Textproduktion (d.h. ob diese in geschriebenen oder gesprochenen Texten (Gesprächen) vorkommen) ermöglicht Burger et al. (1982) die Unterscheidung von zwei Gruppen innerhalb der pragmatischen Phraseologismen, nämlich der ‚gesprächsspezifischen Phraseologismen‘ (wie die im Rahmen dieses Beitrages untersuchte Formel wie man so schön sagt) und der ‚schreibspezifischen Phraseologismen‘ (wie die in Briefen geläufige Abschiedsformel mit freundlichen Grüßen …). Wie oben angeführt, können gesprächsspezifische Phraseologismen nicht allein aufgrund ihrer Form beschrieben und abgegrenzt werden; ein wesentlicher weiterer Aspekt ist ihre Funktion. Formal erscheinen sie oft als ganze Sätze (in syntaktischer Hinsicht sprechen wir hier von ‚festen Phrasen‘, z.B. Ich muss schon sagen!), können aber ebenso syntaktisch in einen komplexen Satz eingebaut werden (wie der Matrixsatz Ich darf zunächst sagen, …). In diesem Fall geht es um die phraseologische Desemantisierung und syntaktische Einschränkung auf einige Formen und Positionen (die Formel …, das muss man schon sagen steht z.B. ausschließlich in Endposition), so dass diese Formeln semantisch und syntaktisch nicht mehr frei verwendet werden können. Zusammenfassend lässt sich sagen: KRF sind als feste Wortverbindungen zu betrachten, die von bestimmten Situationen und Themen abhängig sind, eine funktionale Leistung erbringen und stark idiolektal gebunden sind. Coulmas (1981: 69) definiert in seinem Werk „Routine im Gespräch“ formelhafte Sprache als „funktionsspezifische Ausdrücke mit wörtlicher Bedeutung zur Realisierung rekurrenter kommunikativer Züge“ und hebt neben den sozialen auch die diskursiven Funktionen der Routineformeln hervor. Da in meiner Arbeit die pragmatischen Funktionen der KRF ins Zentrum des Interesses gerückt wer-

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Krisztina Mujzer-Varga

den, kann man nicht umhin, anhand der Aufteilung von Coulmas (1981) kurz jene vier Funktionen zusammenzufassen, die Routineformeln unabhängig von der Äußerungssituation haben können: (a)

(b)

(c)

(d)

Die gesprächssteuernde Funktion: Gespräche sind kooperative Tätigkeiten, sie manifestieren sich als strukturierte Mengen von Äußerungen, deren Elemente aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind. Sie erfüllen Bedingungen, die durch vorausgegangene Äußerungen entstanden sind und ihrerseits derartige Bedingungen einführen. Bei den strategischen Mitteln der Gesprächssteuerung spielen auch RF eine wichtige Rolle; diese bringen den Inhalt nicht unbedingt weiter, weil die Steuerung selber einen Teil der Sprechtätigkeit absorbiert. Eröffnungs- und Einleitungsformeln fungieren als Strukturierungssignale, die das Gespräch für den Sprecher und den Hörer steuern. Mithilfe von sog. Interpellationsformeln kann man Aufmerksamkeit erlangen und das Rederecht streitig machen, Rederechtsverteidigungsformeln im Sinne von jetzt spreche ich üben eine ähnliche Funktion aus. Andere RF dienen als Verzögerungsformeln, damit der Sprecher Zeit bekommt, seinen Beitrag zu formulieren; sie orientieren die Aufmerksamkeit, fungieren als evaluative Operatoren und bewerten dadurch den Redebeitrag und ordnen ihn ein (z.B. Ich muss dir leider sagen, …). Die metakommunikative oder metasprachliche Funktion der Sprache spielt beim Erwerb der Muttersprache oder der Fremdsprache eine außerordentlich wichtige Rolle; sie ist quasi als eine Strategie zu verstehen, bei der man z.B. nachfragen kann, ob man denn das Gesagte auch richtig verstanden hat, oder bei der man sich der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit des Hörers vergewissert. Die sog. metakommunikativen Floskeln der Verständnissicherung beziehen sich immer auf den Redebeitrag und verfolgen das Ziel, es zu klären. In der Regel handelt es sich um Kommentare, Beschreibungen, Korrekturen oder Präzisierungen. Dank der Entlastungsfunktion der RF erkauft sich der Sprecher eine zeitliche Verzögerung, um eigene Gedanken sortieren zu können.

Coulmas betont bezüglich der Funktionen, dass bei den einzelnen Äußerungstypen keine Monofunktionalität vorherrscht. Bei vielen RF lässt sich zwar eine sehr starke Funktionsspezialisierung feststellen, zur dominanten Funktion treten jedoch weitere Funktionen hinzu. Stein fasst in seinem Werk „Formelhafte Sprache“ (1995) das Wesen der Routineformeln wie folgt zusammen: Die Textproduktion unter Bedingungen konzeptioneller Mündlichkeit basiert – nicht nur im bevorzugt untersuchten Alltagsgespräch – auf einer ganzen Reihe von Routinen. Kompetente Sprecher können ohne größeren Verbrauch von Planungsressourcen auf mehr oder weniger feste Äußerungsteile und -strukturen zu-

Kommunikative Routineformeln

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rückgreifen, um bestimmte kommunikative Aufgaben und Handlungen (wie Eröffnung und Beendigung von Gesprächen, Themenbearbeitung und Themenwechsel, Durchführung von Korrekturen/Reparaturen, Kommentierung von Äußerungen usw.) auf bewährte und angemessene Weise zu bewältigen. (Stein 1995: 50)

In einem weiteren Werk zu „Formelhaftigkeit und Routinen in mündlicher Kommunikation“ vergleicht Stein (2003) Routineformeln mit gesprächsspezifischen Phraseologismen und nennt grundlegende Unterschiede. Demnach lassen sich gesprächsspezifische Phraseologismen keinen bestimmten Sprechakttypen eindeutig zuschreiben, sie eignen sich aber zum Vollzug rekurrenter sprachlicher Handlungen bzw. zur Bewältigung rekurrenter kommunikativer Aufgaben, also „kommunikativer Routinen“ (2003: 265, vgl. Burger 1998: 52). Sie sind in der Regel nicht selbständig, sondern erscheinen innerhalb eines Gesprächsbeitrags und bilden keine Formelpaare. Gesprächsspezifische Phraseologismen können mehrere Funktionen annehmen (sie sind polyfunktional); auch formal gesehen sind sie viel weniger fixiert. Stein fügt hinzu, dass sich in der Phraseologie aufgrund der Situationsgebundenheit der Formeln bei den sog. pragmatisch festen Phraseologismen eine grobe Zweiteilung durchgesetzt hat. Die von mir zu untersuchenden Formeln sind situationsungebunden; ihre Verwendung wird in erster Linie durch die Bewältigung einer oder mehrerer kommunikativer Aufgaben gerechtfertigt. Sie sind keine selbstständigen Äußerungseinheiten, sondern nur Teile von Äußerungen. Was ihre funktionalen Eigenschaften betrifft, definiert Stein (2003: 266) sie folgendermaßen: Gesprächsspezifische Phraseologismen bzw. Formeln „sind auf den unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation wirksam und auf bestimmte Facetten des Kommunikations- und Formulierungsprozesses bezogen (wie Gesprächssteuerung, Verständnissicherung, Themenbearbeitung, Beziehungsgestaltung usw.)“. Stein betont immer wieder – wie auch andere Autoren –, dass die Untersuchung formelhafter sprachlicher Einheiten über die Grenzen der Phraseologie hinausgeht. So müssen dank der Vielfältigkeit ihrer Formen neben einfachen Wortschatzeinheiten, die dann als funktionale Äquivalente zu mehrgliedrigen RF auftreten, auch satzwertige Einheiten, d.h. satzwertige RF, in die Untersuchung mit einbezogen werden, wie zum Beispiel Gemeinplätze (Was zu viel ist, ist zu viel), Sprichwörter (Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen), Slogans (Citroën fahren ohne Gefahren)2 oder geflügelte Worte. Hyvärinen (2011) argumentiert für ein Hyperonym, das dann ‚RF i.e.S.‘ und ‚gesprächsspezifische Formeln‘ bzw. ‚Gesprächsformeln‘ vereinigt und das 2

Die hier genannten Beispiele stammen von Hyvärinen (2003).

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Krisztina Mujzer-Varga

Bezeichnungselement ‚Formel‘ enthält. Als Terminus schlägt sie dafür ‚kommunikative Formel‘ vor – einen Terminus, den auch ich in der vorliegenden Arbeit verwenden werde. Die Klassifikation von kommunikativen Formeln stützt sich bei Hyvärinen (2011: 23ff.) in erster Linie auf die Klassifikation von Routineformeln im engeren Sinne, dies betrifft vor allem satzwertige Routineformeln. Heltai (2002) bezieht sich in seinem Artikel über die Rolle von Routine und Kreativität beim Übersetzen, bei der Definition und Klassifizierung routinehafter Sprache in erster Linie auf die englischsprachige einschlägige Literatur und unterstreicht vor allem ihren psycholinguistischen Charakter, die Eigenschaft, dass sie im mentalen Lexikon als Einheiten gespeichert werden und auch so abgerufen werden können. Ungarische Phraseologen untersuchen diese sprachlichen Einheiten – falls überhaupt – eher aus der Perspektive der Lexikologie und betonen, dass bestimmte Wörter oft und typischerweise nebeneinander, also in sog. Clustern auftreten. Schildt/Viehweger (1983) beschreiben ebenfalls die Formelhaftigkeit der Sprache und stellen fest, dass durch den Gebrauch äußerungskommentierender Gesprächsformeln der Sprecher sicherstellen will, dass seine Äußerung so verstanden wird, wie er ihn gemeint hat; d.h. der Sprecher will unbeabsichtigte, aber vorhersehbare negative Konsequenzen seiner Äußerung ausschließen, indem er die Voraussetzungen, Geltungsbedingungen, Ziele und Konsequenzen seiner Äußerung benennt, beschreibt und bewertet: Mit äußerungskommentierenden Gesprächsformeln und formulierungskommentierenden Ausdrücken will der Sprecher die Kommunikationskonflikte, die aufgrund alternativer, konkurrierender oder auch konfliktärer Normen eingetreten sind, beseitigen und die Übereinstimmung zwischen den Kommunikationspartnern auf der Beziehungsebene wieder herstellen. (Schildt/Viehweger 1983: 62)

Im Folgenden sollen die wichtigsten Merkmale der kommunikativen Routineformeln zusammengefasst werden. KRF – sind feste Wortverbindungen; – können nur in einem kommunikativ-funktionellen Rahmen beschrieben werden; – kommen in erster Linie in Gesprächen vor, werden aber auch oft in schriftlichen Texten gebraucht; – sind polyfunktional und situationsungebunden; – sind aus syntaktischer Sicht vielseitig.

Kommunikative Routineformeln 3

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Formale und funktionale Aspekte bei der Beschreibung von kommunikativen Routineformeln

Es gehört zu den Zielen der Forschungsarbeit, KRF mit dem verbum dicendi sagen einer gründlichen formal-strukturellen und pragmafunktionalen Untersuchung zu unterziehen. Die Fachliteratur unterscheidet bei der Gruppierung von KRF zwischen dem strukturellen und dem phraseologischen Aspekt: Demnach treten KRF u.a. als vollständige Sätze, als Satzstrukturen mit Leerstellen oder auch als unvollständige Sätze auf (wie in den Ausdrücken wie man so schön sagt oder wie man zu sagen pflegt). Unter dem syntaktischen Aspekt sind kommunikative Formeln in verschiedenen Positionen innerhalb eines Satzes (oder auch als selbständiger Satz) anzutreffen. In der Regel kommen die bisher von mir untersuchten und dokumentierten KRF a) als Matrixsätze vor, wie auch die folgenden Beispiele: ich kann euch nur sagen, dass ..., ich habe mir sagen lassen, dass ... sowie was ich noch sagen wollte. Auch Nachstellung ist möglich: …, das muss man schon sagen oder …, würde ich mal sagen. Kommunikative Formeln, wie die folgenden, können auch b) als Finalsätze auftreten: um es freiheraus/annäherungsweise/differenziert/ treffender/deutlich zu sagen oder c) als Konditionalsätze: wenn ich das (mal so) sagen darf. d) Vergleichssätze wie wie ich bereits gesagt habe, ... oder wie man so schön sagt kommen ebenfalls oft vor; damit befasst sich der empirische Teil meiner Untersuchung. Partizipialgruppen wie ehrlich gesagt und offen gesagt, die unter dem Terminus ‚Operator-Skopus-Strukturen‘ oder ‚-Konstruktionen‘ zusammengefasst werden, wurden von Fiehler eingehend beschrieben (Fiehler et al. 2004). Nach der eingangs dargestellten Einteilung der pragmatischen Funktionen von Coulmas (1981) soll nun auch zusammenfassend die Auffassung von Dobrovol'skij/Lûbimova (1993) erörtert werden. Meines Erachtens sind die metakommunikativen Funktionen immer noch nicht zureichend erfasst worden; der Grund dafür liegt u.a. darin, dass es schwierig ist, metakommunikative Funktionen von anderen abzugrenzen. Dobrovol'skij/Lûbimova (1993) arbeiten mit dem Terminus ‚metakommunikatives Mittel‘3 und haben die metakommunikative Umrahmung von Idiomen untersucht. Sie bemerken bezüglich ihrer Funktionen: Metakommunikative Mittel leiten die entsprechenden Idiome, Sprichwörter und geflügelten Worte ein und vermitteln die Informationen darüber, mit welcher Wertung oder in welcher Funktion diese gebraucht werden (vgl. auch die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in 3

Coulmas verwendet den Begriff ‚metakommunikativ‘ innerhalb der diskursiven Funktionen als Hyponym, während er hier als Hyperonym auftritt.

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Kapitel 5). Außerdem markieren sie, wie der Sender die entsprechenden Einheiten selbst aufnimmt bzw. interpretiert und geben einen Kommentar zu den gebrauchten Einheiten. Sie appellieren an den Initiator eines Diskurses und aktivieren die phraseologische Komponente seines persönlichen Lexikons. Die beiden Autoren typologisieren metakommunikative Mittel wie folgt (aus Platzgründen werden hier lediglich die Textbeispiele angeführt, die das Verb sagen beinhalten): Sie erscheinen als einleitende Bemerkungen, als Kontaktsignale (seitens des Sprechers und des Hörers) oder auch als Redeübernahme: ich wollte noch etwas anderes sagen … sowie als Mittel der Redeübergabe. Möglich ist auch eine Antwortverweigerung wie darüber möchte ich lieber nichts sagen oder die Rederechtsverteidigung, eine Widerrede oder eine Unterbrechung. Weitere Funktionen werden durch Verlegenheitsfloskeln wie na ja, was soll ich dazu sagen? ausgedrückt, andere Mittel präzisieren (genauer/besser gesagt) oder kommentieren das Gesagte: Man kann alle metakommunikativen Äußerungen (wie auch: wie man so schön sagt), die Konstruktionen umrahmen, unter dem Begriff der Kommentierung zusammenfassen, weil der Sprecher mit ihrer Hilfe seinen eigenen Sprachgebrauch kommentiert. Dobrovol'skij/Lûbimova (1993) fügen hinzu, dass die primäre Aufgabe dieser Äußerungen darin besteht, der darauf folgenden Aussage die Modalität des Zitierens zu verleihen: So signalisiert der metakommunikative Vorspann (in diesem Fall: wie man so schön sagt) das Code-switching vom eigenständigen Formulieren zum Zitieren allgemein bekannter Ausdrücke, im Sinne von ‚Achtung, ich zitiere …‘. Dieses sog. Code-switching muss für den Rezipienten erleichtert werden, damit er sich zeitlich und kognitiv darauf vorbereiten kann: Diesem Ziel dienen sog. metakommunikative Mittel zum Diskursmanagement, die als Steuerungseinheiten fungieren, im Sinne von wie wir vielleicht sagen ..., sozusagen, um nicht zu sagen, andersherum gesagt oder auch der Volksmund sagt da so: …

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Methode der Untersuchung

Die Erforschung von kommunikativen Formeln greift auf die Erkenntnisse verschiedener linguistischer Disziplinen zurück. Routineformeln oder kommunikative Formeln werden in der relevanten Fachliteratur als komplexe Elemente der Sprache aufgefasst, die im mentalen Lexikon als Einheiten gespeichert und herausgesucht werden. Leider lässt sich diese Behauptung ohne größeren Aufwand nicht überprüfen (aus psycholinguistischer Sicht lassen sich KRF durch das Messen der Denkpause nachweisen: im

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Fall von KRF reagiert der Sprecher etwas schneller); deshalb muss eine andere Methode zu Hilfe gezogen werden: Als Ausgangspunkt dienen die Lexikologie und die Korpuslinguistik, da im ersten Forschungsschritt geprüft werden muss, wie fest die aufgezählten Ausdrücke überhaupt sind und ob sie als usuelle Wortverbindungen aufgefasst werden können. Dabei liefert die Korpuslinguistik die Untersuchungsmethode für den ersten Teil der Untersuchung. Die quantitative Erhebungsmethode untersucht die Eröffnung von Leerstellen und deren Besetzung. Mit dieser Methode soll nachgeprüft werden, ob ein Cluster wirklich eine usuelle Wortverbindung ist und ob jede usuelle Wortverbindung gleichzeitig auch eine RF ist. Dazu soll die Korpuslinguistik zu Rate gezogen werden. Das Deutsche Referenzkorpus des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim), dessen fünf Milliarden Textwörter aus belletristischen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten sowie aus Zeitungen die Grundlage für die korpuslinguistische Untersuchung meines Forschungsthemas bilden, kann mithilfe der Recherchesoftware COSMAS II (IDS) korpuslinguistisch durchsucht werden. Die im empirischen Teil des Aufsatzes angeführten Textbelege stammen alle aus dem Deutschen Referenzkorpus. Auch syntaktische Probleme müssen bei der Untersuchung des Auftretens von KRF angesprochen werden. Dementsprechend gebe ich bei der formalen Typologisierung eine Übersicht über die Einbettung der KRF im Satz (ob als Matrixsatz oder eventuell in Parenthesen usw.) sowie darüber, welche Satzzeichen sie in erster Linie begleiten. Da diese Formeln letztendlich in Texten auftreten, soll auch bestimmt werden, welche (mündlichen oder schriftlichen) Textsorten eine höhere Häufigkeit an KRF aufweisen (wie z.B. Kommentare). Bei der qualitativen Untersuchung treten Probleme der Pragmatik in den Vordergrund. Meine Arbeit thematisiert in erster Linie die Pragmafunktionalität. Nicht zu vergessen wäre auch der translatorische Aspekt, denn ein Ziel der Untersuchung ist auch die Beantwortung der Frage, inwiefern die Übersetzungswissenschaft von den Ergebnissen dieser Untersuchung in der Praxis profitieren kann.

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Die Ergebnisse einer empirischen korpuslinguistischen Untersuchung

Nach der Thematisierung des Untersuchungsgegenstandes und der kurzen Darstellung relevanter Fachliteratur sollen an dieser Stelle einige erste Ergebnisse einer korpuslinguistischen Untersuchung dargelegt werden. Untersucht wurde mit korpuslinguistischen Mitteln die kommunikative Formel wie man so schön sagt sowie deren mögliche Varianten. Die Forschungsmethode muss ebenfalls noch weiterentwickelt und präzisiert werden. Im ersten Schritt

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Krisztina Mujzer-Varga

habe ich die KRF wie man so schön sagt auf ihre Festigkeit und Häufigkeit hin geprüft, indem ich zwischen wie man und sagt ein Maximum von zwei Lücken gelassen habe. Dieser Probedurchlauf ergab das folgende Ergebnis: Mögliche Slotbesetzungen bei dieser Suchanfrage sind: so + harmlos/einfach/oft/(un)schön /leichthin/landläufig/fein/gern(e)/pathetisch/leichtfertig/blöde/beschönigend/häss lich/salopp/optimistisch. Meines Erachtens handelt es sich nicht in jedem Fall um eine feste Verbindung: um eine Kollokation ja, aber nicht unbedingt um einen festen Phraseologismus; es geht eher darum, dass sich die einzelnen Adjektive (die hier als Adverbien gebraucht sind) auf einer Skala nach ihrer Gebrauchsfrequenz angeordnet sind. Zum Beispiel wird wie man so einfach sagt als eher fest angesehen (auch in Analogie an einfach gesagt) als die Formel wie man so pathetisch sagt. Selbstverständlich kann diese Aussage auch korpuslinguistisch nachgewiesen werden. Neben der Wortverbindung wie man so schön sagt treten auch andere Wörter oder Ausdrücke als Lückenfüller auf (ohne quantitative Angaben, nur typische Beispiele): [...] wie man bei uns sagt; mit Ortsangabe: [...] wie man in Norddeutschland/in St. Gallen sagt; mit Geltungsbereich: [...] wie man in Fussballerkreisen sagt. Zahlreiche falsche Treffer, in denen die wörtliche Bedeutung ‚mitteilen‘ im Vordergrund steht (wie im Beleg Von meinem Vater habe ich gelernt, wie man Fleisch zubereitet», sagt die neue Wirtin und [...]) müssen in der Regel manuell eliminiert werden, da sie sonst die Resultate verfälschen. Aufgrund meiner sprachlichen Kompetenz und Erfahrung bin ich von der Annahme ausgegangen, dass diese Wortverbindung fast ausschließlich im Mittelfeld eines Satzes, quasi als Parenthese, auftritt. Die korpuslinguistische Analyse konnte diese Annahme nur zum Teil bestätigen. Tatsache ist, dass die KRF am häufigsten als Parenthese auftritt; doch auch andere Positionen sind möglich, wie die folgenden Beispiele aus dem Deutschen Referenzkorpus zeigen sollen. 5.1

Die syntaktische Einbettung der Wortverbindung

Das Auftreten der kommunikativen Formel im Satz ist ebenfalls mit korpuslinguistischen Mitteln erfasst worden. Untersucht wurden insgesamt 654 Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus. Es zeigte sich, dass sie tatsächlich a) vor allem im Mittelfeld auftritt (463 Belege; nur in 23 Belegen trat sie am Ende eines Satzes bzw. in 168 Belegen am Anfang eines Satzes auf). Die Einbettung erfolgt im Mittelfeld – zwischen zwei Gedankenstrichen – ohne Einfluss auf den

Kommunikative Routineformeln

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Hauptsatz. Nach der Entfernung der KRF wie man so schön sagt bleibt der Satz grammatisch und pragmatisch korrekt. Im Mittelfeld kann die Formel auch zwischen zwei Kommas oder Gedankenstrichen gesetzt sein (die in Klammern angegebenen Siglen stammen aus COSMAS): (1)

Da ist, wie man so schön sagt, für jeden etwas dabei. (A09/MAI.0245)

b) Am Satzanfang mit folgendem Komma oder Doppelpunkt: (2)

Wie man so schön sagt, aus solchen Niederlagen werden Sieger oder in diesem Falle eben Siegerinnen geboren. (A08/APR.11992)

Die feste Wortverbindung hat bei (3) die Form eines Nebensatzes mit Verbletztstellung, gefolgt von einem Hauptsatz mit Verbinversion. Die beiden Teilsätze erwecken das Gefühl der Zusammengehörigkeit, als ob es sich hier um einen einfachen Satz handeln würde; prosodisch muss auch keine Pause zwischen sagt und dem folgenden Wort eingefügt werden: (3)

Und wie man so schön sagt, ist die Mutter natürlich immer die beste Köchin. (A08/MAI.03460)

Diese Wortverbindung leitet eine andere feste Wortverbindung ein, ohne dabei im Vorvorfeld zu stehen: (4)

Wie man so schön sagt, Derbys haben eigene Gesetze, in diesem Fall aber setzten sich die favorisierten Mannschaften souverän durch. (BVZ10/JUN.00436 NÖN)

Die Wortverbindung fungiert im nächsten Beispiel als weiterführender Relativsatz zum darauffolgenden Hauptsatz: (5)

Wie man so schön sagt, aus solchen Niederlagen werden Sieger oder in diesem Falle eben Siegerinnen geboren. (A08/APR.11992)

Die Wortverbindung (hier mit Doppelpunkt) wird gefolgt von einem selbständigen einfachen oder zusammengesetzten Satz; der Satzanfang wird meistens mit einem großen Anfangsbuchstaben markiert: (6)

Wie man so schön sagt: Ein Ausverkauf der Heimat ist nicht in Frage gekommen. (E98/FEB.02967)

Oft steht die Formel auch nach einer koordinierenden Konjunktion (‚und‘, ‚aber‘):

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Krisztina Mujzer-Varga Aber wie man so schön sagt: Ohne Moos nix los. (NON08/OKT.14755)

c) Am Satzende: Das Satzzeichen richtet sich nach der Satzart des Hauptsatzes, in diesem Fall nach der Entscheidungsfrage: (8)

Sind Sie mit der Südheide Gifhorn nicht längst auch überregional eingebunden, vernetzt, wie man so schön sagt? (BRZ10/OKT.01396)

Am Satzende steht die Formel immer nach einem Gedankenstrich oder Komma: (9)

Davon profitiert auch Maj, das Leben wird zum Hit, wie man so schön sagt. (I99/NOV.48166)

d) Als selbständiger Satz: In diesem Fall steht die untersuchte KRF nach dem Satz, worauf sie sich bezieht: (10)

Das Ende vom Lied war, dass der Kontrakt in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst wurde. Wie man so schön sagt. (BRZ07/MAR.05104)

Quantitativ wurden die Ergebnisse nicht weiter erfasst, aber es ergab sich folgendes Bild: Die Wortverbindung wie man so schön sagt tritt am häufigsten im Mittelfeld auf, vor allem zwischen zwei Kommas oder Gedankenstrichen. 5.2

Funktion

Wie oben dargelegt, können kommunikative Formeln eine Reihe von pragmatischen Funktionen haben; an dieser Stelle möchte ich kurz auf jene eingehen, die mit der Formel wie man so schön sagt verbunden sind. Dabei ergab sich folgendes Bild: Die Aufmerksamkeit soll einerseits auf die Äußerung gelenkt werden; nebenbei soll die eigene Rolle, d.h. die Rolle des Sprechers/Schreibers, in den Hintergrund treten. Der Sprecher möchte mit der Wortverbindung angeben, dass die Formulierung der Äußerung nicht von ihm selbst stammt. Aus diesem Grund stehen vor oder nach der Routineformel wie man so schön sagt bevorzugt Sprichwörter, Sprüche oder andere feste Wortverbindungen, wie Redensarten oder Gemeinplätze, eventuell auch andere Routineformeln: (11)

Phraseologismen allgemein: Ich will mein Leben zuerst noch geniessen und mir die Hörner abstossen, wie man so schön sagt. (A08/SEP.03565)

Kommunikative Routineformeln

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(12)

Regionale Phraseologismen: Die beiden Lagerwochen sind «zFade gschlage», wie man so schön sagt. (A99/MAR.19529)

(13)

Modifizierte Variationen von Phraseologismen: Ein fremder Besen wäre auch gut gewesen, wie man so schön sagt. A10/JUN.03399)

(14)

Redensarten: Ich bin erst 20 Jahre alt und habe noch, wie man so schön sagt, mein ganzes Leben vor mir. (BRZ13/APR.00520)

Die Lücke zwischen wie und so schön wird in fast allen Fällen mit dem Indefinitpronomen man gefüllt, andere Lückenfüller sind selten. Diese Variationen haben allerdings keinen Einfluss auf die Funktion der Wortverbindung: Auch hier soll betont werden, dass es sich eigentlich nicht um die eigenen Worte des Sprechers handelt. In der Lücke kann dann eventuell auch die ursprüngliche/eigentliche Quelle der Äußerung angegeben werden: (15) (16)

6

Übrigens war das Konzert gesponsert worden, wie man heute so schön sagt. (A00/SEP.63074) [...] nicht nur die Perfektion, oder wie Frau Gerstenmaier so schön sagt "eine höhere Stelle" die [...]. (BZK/W64.00872)

Schlussbemerkungen

In diesem Aufsatz wurde der Versuch unternommen, anhand der Werke von relevanten Autoren die Problematik metakommunikativer Ausdrücke – in meiner Terminologie: kommunikativer Formeln – kurz anzuschneiden. In Übereinstimmung mit Schildt und Viehweger (1983) sowie Dobrovol'skij und Lûbimova (1993) gehe ich bei der kommunikativen Formel wie man so schön sagt von einer Art metakommunikativen Umrahmung aus, mit deren Hilfe wörtliche Zitate, aber auch geflügelte Worte, Redewendungen, Sprichwörter usw. mit einer Verständnisanweisung versehen werden können.

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Literatur

BURGER, Harald / BUHOFER, Annelies / SIALM, Ambros (1982): Handbuch der Phraseologie. Berlin: de Gruyter.

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Krisztina Mujzer-Varga

BURGER, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt. COULMAS, Florian (1981): Routine im Gespräch: zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden: Athenaion (= Linguistische Forschungen 29). DOBROVOL'SKIJ, Dmitrij / LÛBIMOVA, N. (1993): „Wie man so schön sagt, kommt das gar nicht in die Tüte“ – Zur metakommunikativen Umrahmung von Idiomen. In: Deutsch als Fremdsprache 30, 151–156. FIEHLER, Reinhard / BARDEN, Birgit / ELSTERMANN, Mechthild / KRAFT, Barbara (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen: Narr. HELTAI, Pál (2002): Rutin és kreativitás a szakfordításban. In: Alkalmazott Nyelvtudomány II.1, 19–40. HYVÄRINEN, Irma (2003): Kommunikative Routineformeln im finnischen DaF-Unterricht. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 30.4, 335–351. HYVÄRINEN, Irma (2011): Zur Abgrenzung und Typologie pragmatischer Phraseologismen – Forschungsüberblick und offene Fragen. In: Hyvärinen, Irma / Liimatainen, Annikki (Hrsg.): Beiträge zur pragmatischen Phraseologie. Frankfurt am Main: Lang, 9–44. KOCH, Peter / OESTERREICHER, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Günther, Hartmut / Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbbd. Berlin: de Gruyter, 587–604. SCHILDT, Joachim / VIEHWEGER, Dieter (Hrsg.) (1983): Die Lexikographie von heute und das Wörterbuch von morgen. Analysen – Probleme – Vorschläge. Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. STEIN, Stephan (1995): Formelhafte Sprache. Untersuchungen zu ihren pragmatischen und kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt am Main: Lang. STEIN, Stephan (2003): Formelhaftigkeit und Routinen in mündlicher Kommunikation. In: Steyer, Kathrin (Hrsg.): Wortverbindungen – mehr oder weniger fest. Berlin: de Gruyter, 262–288.

Dóra Lócsi Veszprém

Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich 1

Einleitung

Auswirkungen der Globalisierung treten in der ganzen Welt auf, und keine Sprache ist frei von äußeren Einflüssen (Raffay 2005: 8). Eine Fremdsprache kann einen symbolischen Wert vermitteln. Es geht nicht primär um die wortwörtliche Verständlichkeit der Botschaft, sondern um die durch die Fremdsprache ausgelösten Assoziationen – die Sprachwahl ist die Botschaft. So steht meist Französisch für Eleganz, Italienisch für Lebensfreude und -genuss. Die englische Sprache hat ein weites Assoziationsfeld: international, modern, jung, dynamisch, weltoffen, erfolgreich und trendbewusst. Diese bestimmten Werte und Eigenschaften werden auch in der Werbung reproduziert. Sie vermittelt Gedanken und Werte eines Unternehmens oder eines Produkts. Werbung ist ein häufiges Phänomen in der heutigen Alltagskultur und wird von Wissenschaftlern auch als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet (Sowinski 1998: 22). So ist es kein Wunder, dass die Werbung von so unterschiedlichen Disziplinen wie Marketing, Soziologie, Psychologie, Sprachwissenschaft usw. untersucht wird. Zu einer Analyse der Werbung gehören linguistische Fragen unbedingt dazu, weil „die Sprache das wichtigste Medium zur Vermittlung von Werbebotschaften ist. Die Sprache der Werbung hat daher das größte Interesse philologischer Arbeiten zur Werbung gefunden“ (Sowinski 1998: 41). Mein Untersuchungsgegenstand sind Werbeslogans, die auf den zehn populärsten TV-Kanälen in Deutschland und Ungarn laufen. Die Forschungsarbeit basiert auf Werbeslogans aus deutschen und ungarischen Fernsehspots laut Einschaltquote nach Nielsen Media Research. Nielsen Company ist ein Informations- und Medien-Unternehmen mit Hauptsitz in den Niederlanden und gilt als Marktführer bei Marketing- und Medieninformationen sowie bei Verbraucherund Bildungsinformationen. Die Vorteile der Werbung im Fernsehen sind die höchsten Zuwachsraten aller Werbeträger oder ihr großer Wirkungsgrad. Nachteile sind hohe Schalt- und Produktionskosten und keine klare Abgrenzung zwischen Inhalten und Marken. Ziel der Forschungsarbeit ist es, aktuelle Werbespots einer sprachwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in

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Dóra Lócsi

deutscher und ungarischer Werbesprache zu finden und festzustellen, in welchem Verhältnis Anglizismen in deutscher und ungarischer Werbesprache vorkommen. Meine Untersuchungsmethoden sind die sprachliche Analyse und die statistische Auswertung sowie die Untersuchung des Auftretens von Anglizismen in der ungarischen und deutschen Werbesprache. Die Anzahl der analysierten Werbespots beträgt 216. Das Beispielmaterial stammt vom Januar 2011 bis zum Juni 2013. Die untersuchten Bereiche sind die populärsten Branchen nach Nielsen Media Research (1. Kosmetik, 2. Genussmittel, 3. Mode, 4. Technologie, Computer, 5. Autos, 6. Lebensmittel, 7. Finanzen und Versicherung, 8. Medikamente und Gesundheit).

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Theoretischer Hintergrund der Untersuchung

Die Linguistik hat die Werbung als Korpus für linguistische Untersuchungen in den letzten drei Jahrzehnten zu betrachten begonnen, und das linguistische Interesse für die Werbesprache erweist sich als beständig. So ist es nicht verwunderlich, dass immer weiter neue Literatur zu diesem hochrelevanten Thema erscheint oder bereits erschienene Literatur aktualisiert wird. Werbung ist eine spezielle Kommunikationsform. „Werbesprache“ ist eine Kommunikationsform, die in der Werbung eingebettet ist. Bausteine der Werbung sind Schlagzeile, Fließtext, Slogan, Produktname, besondere Formen und Elemente sowie Bildelemente. Die Schlagzeile ist neben dem Bild der wichtigste Blickfang und wichtig für die Aufmerksamkeitssteuerung. Sie besteht im Idealfall aus fünf bis acht Wörtern und unterstützt die bildliche Darstellung. Der Fließtext soll zusätzliche Informationen zum beworbenen Produkt bieten. Allerdings wird er nur von etwa 5 % der Rezipienten gelesen bzw. gesehen. Ein Slogan ist als kurze Textsequenz Teil der Bewerbung eines Produktes. Die Hauptfunktion des Werbeslogans ist die Produktpositionierung, d.h. ein Produkt ist von anderen auf dem Markt abzugrenzen und wiedererkennbar zu machen. Der Produktname hat im Allgemeinen die Funktion, sein jeweiliges Denotat (das Produkt) zu benennen und von anderen Gegenständen abzugrenzen. Ein Logo ist ein Baustein, der sowohl sprachlichen als auch graphischen Charakter hat. Textelemente sagen zusätzliche Informationen über ein Produkt aus (Janich 2010: 18ff.). Laut Janich kann man Werbeslogans in drei Kategorien einteilen, je nachdem, ob der Slogan das Werbeobjekt, den Werbenden oder den Konsumenten thematisiert. Im Folgenden ist zu den drei Kategorien jeweils ein Beispiel zu sehen (Janich 2010: 47):

Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich

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Produktbezogener Slogan: Red Bull verleiht Flügel (Red Bull) Unternehmensbezogener Slogan: Wohnst du noch oder lebst du schon? (Ikea) Konsument wird in Slogan mit eingebunden: Bin ich schon drin? (AOL)

In der Fachsprache der Werbemacher bezeichnet man den Werbeslogan oft auch als ,,Claim“. Als Werbesprache bezeichnet man alle verbalen und nonverbalen Kommunikationsmittel, die in der Werbung verwendet werden. Damit wird der Kontakt zwischen den Produzenten und den potentiellen Kunden hergestellt. Ein Anglizismus ist ein sprachliches Zeichen, das ganz oder teilweise aus englischen Morphemen besteht, unabhängig davon, ob es mit einer im englischen Sprachgebrauch üblichen Bedeutung verbunden ist oder nicht (Bohmann 1996). „Anglizismus ist ein dem Englischen eigener (in einer anderen Sprache nachgebildeter oder verwendeter) Ausdruck. Er dient als Oberbegriff für Entlehnungen aus dem amerikanischen Englisch, aus dem britischen Englisch sowie den übrigen englischen Sprachbereichen wie Kanada, Australien, Südafrika“ (Janich 2010: 40). Mit Anglizismen werden lexikalische Lücken im deutschen Wortschatz geschlossen (allgemeinsprachlich T-Shirt, fachsprachlich PC, Software). Außerdem vermitteln sie zusätzliche Informationen (work station ist ein Arbeitsplatz, aber am Computer). Oder sie dienen sprachökonomischen Zwecken, etwa, weil sie kürzer sind (Team – Arbeitsgruppe, Test – Prüfung). Fast immer aber ist mit der Wahl eines englischen Ausdrucks auch eine konnotative Veränderung verbunden (Janich 2002: 56). Um Anglizismen in der Werbung besser erkennen und deuten zu können, sollen zunächst die wichtigsten Erscheinungsformen vorgestellt werden. Bohmann unterscheidet vier Typen: 1. Konventioneller Typ: Diese Anglizismen sind im Sprachgebrauch integriert und deshalb auch allgemein bekannt und akzeptiert. Sie unterscheiden sich manchmal in Orthographie oder Phonetik von ihren englischen Ursprungswörtern. Beispiele hierfür sind: Computer, Keks, cool usw. 2. Die dem deutschen Phonem-Graphem-System angepassten Anglizismen werden mit deutschen Präfixen und Suffixen versehen; dies betrifft vor allem Verben. Beispiele sind z. B. gestylt, gemanagt, stoppen usw. 3. Unter anglizistischen Kombinationstypen versteht Bohmann die Kombination von englischen und deutschen Wörtern. Dabei behalten die englischen Wörter meist ihre ursprüngliche Orthographie und werden an ein deutsches Wort angehängt. Beispiele hierfür sind stütz-soft Effekt, open-air-Knopf oder PumpHairlack. 4. Neue Anglizismentypen werden meist zuerst von der Werbung verwendet und können sich durchsetzen oder ein einmaliger Werbegag bleiben. So nutzte zum Beispiel der Uhrenhersteller Swatch die Neubildung geswatcht, um sich damit farbig bzw. für junge Leute passend auszudrücken. Ein Hosenhersteller

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Dóra Lócsi

bildete den Begriff five-pocket-jeans, um seine Jeans als etwas Einzigartiges, Besonderes darzustellen (Janich 2010: 41ff.). Durch Toneffekte sowie durch sprachliche und bildliche Gestaltung werden Zielgruppen angesprochen und beeinflusst. Es gibt kein einheitliches Wirkungsmodell für Werbung. Das klassische verhaltenswissenschaftliche Konzept der Werbung ist die sogenannte AIDA-Formel (Attention – Interest – Desire – Action). Zunächst muss die Aufmerksamkeit der Zielpersonen geweckt werden, bevor sie sich für das Werbeobjekt interessieren können. Ist einmal Interesse für das Produkt oder für die Dienstleistung da, besteht bei den Konsumenten der Wunsch, das Objekt zu erwerben. Der Kaufwunsch löst eine Kaufhandlung aus (Kothler/Keller 2006: 564).

3

Materialbasis und Untersuchung

Mein Untersuchungsgegenstand sind 216 Werbeslogans, die auf den zehn populärsten TV-Kanälen in Deutschland und Ungarn laufen, gemäß Einschaltquotendaten von Nielsen Media Research. Eine Untersuchung des gesammelten Materials zeigt interessante statistische Verteilungen. Abbildung 1 illustriert die Verteilung der Werbeslogans nach thematischen Bereichen. In diesem Diagramm ist ersichtlich, dass die ungarischen Werbeslogans in den thematischen Bereichen Medikamente und Gesundheit dominieren. Stark vertreten sind die ungarischen Slogans auch in den Bereichen Lebensmittel und Kosmetik. Die Slogans aus Deutschland zeigen ganz gegensätzliche Ergebnisse. Die Werbespots herrschen in den Bereichen Kosmetik, Mode, Technologie und Genussmittel vor.

Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich

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Abb.1: Verteilung der untersuchten Werbeslogans in thematischen Bereichen

4

Ergebnisse

Laut der größten Marktforschungsfirmen wählen heute immer mehr Unternehmen Englisch als Sprache für ihre Markenslogans. Werbeslogans werden internationaler und öffnen sich gemeinsam mit ihren Marken für die Globalisierung der Märkte. Es geht darum, dass eine Werbebotschaft global verstanden wird. Ein zusätzlicher Vorteil ist die Kostenreduzierung. Die Slogans werden von Unternehmen immer häufiger durch englischsprachige Slogans ersetzt, um regionale Grenzen zu überwinden und um ihre Marken auch für potenzielle Zielgruppen in anderen Nationen einheitlich und verständlich zu positionieren. Ein Beispiel dafür ist die Coca-Cola Werbung. Weitere Beipiele, die in beiden Ländern mit Anglizismen vorkommen: Garnier: Garnier body intensive, intensive, Vichy: liftactiv, LG: life’s good McDonalds: I’m lovin it, Ford: feel the difference, KFC: so good. Damit eine Kampagne international funktioniert, kann es erforderlich sein, dass spezifische Eigenheiten der Gesellschaft berücksichtigt werden, weil Humor und Moral europaweit nicht immer gleich verstanden werden. Zum Beispiel im Fall der Marke Axe Deodorant: Der Werbefilm wurde nach einem Misserfolg für jedes Land neu gedreht und die letzten drei Sekunden des Spots ausgetauscht. Weitere Beispiele, die mindestens in einem Land übersetzt wurden:

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Dóra Lócsi Cheetos chips: ung. Megáll az eszed, ha eszed.; dt. Take a cheetos, break a cheetos. Garnier: ung. Törődj magaddal!; dt. Take care!/Everyday everyskin./Every body statisfied. Vodafone: ung. Csak rólad szól!; dt. Power to you!

Bei meiner Untersuchung habe ich die häufigsten Wörter in den gesammelten Slogans gesucht. (Abb 2 und 3). Die Ergebnisse stehen thematisch im Zusammenhang mit der Verteilung der Slogans in thematischen Bereichen (Abb. 1), aber sie zeigen einen großen Unterschied in der Verwendung von Anglizismen. Die 60 häufigsten Wörter in ungarischen Werbeslogans enthalten keine Anglizismen. 20 % der 60 häufigsten Wörter in deutschen Werbeslogans sind Anglizismen. 1. mehr

2. leben

3. wir

4. neue

5. Sie

6. your

7. deine

8. einfach

9. you

10. gut

11. ihr

12. ich

13. dich

14. du

15. hier

16. immer

17. Zeit

18. alles

19. Natur

20. mein

21. Ihre

22. Welt

23. we

24. beste

25. Energie

26. style

27. Zukunft

28. uns

29. Liebe

30. anders

31. all

32. natürlich

33. erleben

34. besser

35. kann

36. unwiederstehlich

37. Macht

38. Tag

39. zu Hause

40. man

40. sehen

41. Fernsehen

42. perfect

44. heute

44. life

45. Deutschlands

46. Lernen

48. feel

49. Erfolg

50. Willkommen

51. power

52. Magazin

53. best

54. oder

55. nie

56. world

57. pure

58. Spaß

59. home

60. unser

Abb. 2: Die 60 häufigsten Wörter in den untersuchten deutschen Werbeslogans Im deutschen Material werden ziemlich viele Anglizismen (20 %) verwendet. Anglizismen bleiben im Werbetext oft bewusst oder wegen der Übersetzungsschwierigkeiten. Übersetzungsschwierigkeiten können vorkommen, wenn aus-

Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich

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gangssprachliches Textverständnis nicht vorausgesetzt ist oder eine lexikalische, syntagmatische oder syntaktische Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen ausgangs- und zielsprachigem Textsegment nicht möglich ist. Andererseits sind die Englischkenntnisse in Deutschland größer als in Ungarn. Der neue Trend ist Denglisch. Denglich ist „Deutsch mit [zu] vielen englischen Ausdrücken vermischt“ (Duden 2014). Die englischen Wörter sind kürzer, jugendlicher und auffälliger in Werbesports. Mit englischen Elementen soll die Aufmerksamkeit der Rezipienten geweckt werden, aber es kann vorkommen, dass sie englischsprachige Werbesports kaum verstehen und richtig interpretieren können. 1. világ = Welt

2. jó = gut

3. több = mehr

5. nő = Frau

6. élet = Leben

7. minőség = Qualität

9. cukor = Zucker 13. egészség = Gesundheit 17. természetes = natürlich 21. egészséges = gesund 25. bank = Bank 29. friss = frisch

10. te = du 14. bőr = Haut

11. haj = Haar 15. szép = schön

18. ön = Sie

19. fáj(-dalom) = Schmerz/weh tun 23. íz = Geschmack

33. biztonság = Sicherheit 37. orvos = Arzt 40. otthon = Zuhause 44. minden nap = täglich 49. család = Familie 53. fehér = weiß 57. élvez(-et) = Genuss/genießen

22. magyar = ungarisch 26. téged = dich 30. ennyi/annyi = soviel 34. újra = wieder

27. gyerek = Kind 31. idő = Zeit 35. érez = fühlen

4. mindig = immer 8. nekünk = uns 12. sok = viel 16. csak = nur 20. szabad = frei 24. jobb = besser 28. autó = Auto 32. víz = Wasser 36. új = neu

38. nagyon = sehr

39. érték = Wert

41. joghurt = Yoghurt 45. gyors = schnell 50. magas = hoch/groß 54. természet = Natur 58. fog = Zahn

42. különleges = eigen

40. közelebb = näher 44. sör = Bier

46. Magyarország = Ungarn 51. biztos = sicher

48. nagy = groß 52. tiszta = rein

55. ország = Land

56. boldog = glücklich 60. nyer = gewinnen

59. kéz = Hand

Abb. 3: Die 60 häufigsten Wörter in den untersuchten ungarischen Werbeslogans

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Dóra Lócsi

In der Tabelle ist ersichtlich, dass keine Anglizismen bei den 60 häufigsten Wörtern der Werbespots in Ungarn vorkommen. Es ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: In Ungarn sind die Englischkenntnisse einerseits nicht so groß wie in Deutschland, deshalb werden die Werbetexte meist ins Ungarische übersetzt. Andererseits ist der Einfluss des Englischen in Ungarn – dank des Gesetzes LVIII von 1997 zum Schutz der ungarischen Sprache – im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum eingeschränkt. Im nächsten Schritt zeigt Abbildung 4 die Verteilung der Anglizismen der untersuchten Werbeslogans in den verschiedenen thematischen Bereichen.

Abb. 4: Verteilung der Anglizismen in den untersuchten Werbeslogans auf verschiedene thematische Bereiche Aus dieser Statistik ist ersichtlich, dass die Anglizismen meist in den Slogans aus Deutschland dominieren, dass aber die Branchen Kosmetik, Mode, Genussmittel, Technologie und Autos große Englischanteile in beiden Sprachräumen haben. Anglizismen sorgen dafür, dass die aus Amerika stammenden Produkte ihre Original-Bezeichnung bewahren und ein bestimmtes amerikanisches Lebensgefühl vermitteln. Die Werbung in den Bereichen Finanz und Medikamente weist meist keine Anglizismen oder Fremdwörter auf. Bei dieser Werbung sind vielmehr Werte wie Vertrautheit und Tradition oder Heim und Heimat wichtig.

Anglizismen in der deutschen und ungarischen Werbung im Vergleich

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Auch das ist mit dem eingeschränkten Einfluss des Englischen in Ungarn im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum zu erklären.

5

Zusammenfassung

Unter Werbesprache versteht man alle verbalen und nonverbalen Kommunikationsmittel, die in der Werbung verwendet werden. Damit wird der Kontakt zwischen den Produzenten und den potentiellen Kunden hergestellt. Ein Anglizismus ist ein sprachliches Zeichen, das ganz oder teilweise aus englischen Morphemen besteht. Anglizismen bleiben im Text nicht wegen der Übersetzungsschwierigkeiten. Laut der Ergebnisse meiner Untersuchung weisen die thematischen Bereiche Kosmetik, Mode, Genussmittel, Technologie und Autos große Englischanteile in beiden Sprachräumen auf. Anglizismen dominieren meist in den Slogans aus Deutschland. „Denglisch“ wird zumeist in der Werbesprache der Mode benutzt. Die Anglizismen haben einen „Überraschungseffekt“, damit die Aufmerksamkeit des Empfängers geweckt wird; außerdem verschwinden die Anglizismen nicht so einfach, sie bleiben im Gedächtnis und prägen die Sprache.

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Literatur

BOHMANN, Stephanie (1996): Englische Elemente im Gegenwartsdeutsch der Werbebranche. Marburg: Tectum. DUDEN (2014): Duden online URL: http://www.duden.de/woerterbuch (gesichtet am 24.11.2014) JANICH, Nina (2002): Probleme und Perspektiven interkultureller Werbesprachenforschung. In: Schmidt, Christopher M. (Hrsg.): Wirtschaftsalltag und Interkulturalität. Wiesbanden: DUV, 43–64. JANICH, Nina (52010): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. KOTHLER, Philip / KELLER, Kevin Lane (2006): Marketingmenedzsment. Budapest: Akadémiai Kiadó. NIELSEN (2012): A reklámok világa – 2012. éves reklámadatok. Budapest. URL:http://www.agbnielsen.com/Uploads/Hungary/stat_reklamokvilaga_havi_reklam adatok_2012.pdf (gesichtet am 26.02.2013) RAFFAY, Klára (2005): Interkulturális szemléletmód a marketingben. In: e-tudomány 2005/3, 1–12. SLOGOMETER (2013): Die Datenbank der Werbung. URL: http://www.slogans.de/slogometer (gesichtet am 13.09.2013) SOWINSKI, Bernhard (1998): Werbung. Tübingen: Niemeyer.

II. Literaturwissenschaft

Barbara Kinga Hajdú Budapest

Gattungsgeschichtliche und -theoretische Überlegungen zum Begriff des Reiseberichtes Versuch eines aktuellen Überblicks Untersucht man innerhalb der Reiseberichtsforschung den reichen Ertrag literatur-wissenschaftlicher Arbeiten der letzten 20–25 Jahre, vor allem aber der letzten 10 Jahre, so wird man in vielen dieser Werke unweigerlich auf die fast schon zur Faustregel gewordene Definition Peter Brenners stoßen, demnach „der Reisebericht [eine] erzählende Darstellung einer realen Reise“ (Brenner 1990: 1) sei. Dass oder ob diese Aussage ihre Berechtigung hat, sei vorerst dahingestellt. Gewiss aber birgt sie offensichtlich die zentrale Problematik der Gattungskonstitution in sich, um die sich die Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten ringt. Die aus dieser Diskussion entstehenden Fragestellungen scheinen immer dieselben zu sein. So begegnet man häufig den Fragen der Textsorte oder gar der literarischen Qualität des Reiseberichtes. Oft geht es zudem um die Problematik der literaturgeschichtlichen Grenzziehung bei der Gattungskonstitution und darum, inwiefern die Rede von einem literarischen und einem nicht-literarischen Reisebericht sein kann und wo die Übergänge von Authentizität und Fiktionalität festzusetzen sind. Dieses Referat verfolgt nicht das Ziel, adäquate Antworten auf diese Fragen zu geben oder den ewigen Diskussionen ein Ende zu setzen, noch erhebt es den Anspruch eines detaillierten aktuellen Forschungsüberblicks.1 Vielmehr erscheint es wichtig, einstige und aktuelle Tendenzen der Reiseberichtsforschung aufzuzeigen, aus denen sich womöglich ein neuer Trend und somit ein neuer wissenschaftlicher Verständnishorizont für das Phänomen Reisebericht abzeichnet. Die neuere Literaturwissenschaft war Jahrzehnte lang bemüht, den Reisebericht in ein gattungstheoretisch konstruiertes Korsett zu stecken, wobei eine interdisziplinäre Sichtweise lange vernachlässigt wurde. Erst mit dem Beginn der achtziger Jahre ist eine langsame Öffnung in Richtung mentalitätsgeschichtlicher und sozialpsychologischer Forschungen zu beobachten. In seinen Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung thematisiert Hans-Günter Funke (1982: 686) die 1

Der von Peter Brenner geleistete Beitrag zur Übersicht der Forschungsergebnisse bis 1990 ist meines Erachtens als Meilenstein der Reiseberichtforschung zu werten, und es wäre erfreulich, wenn dieser Forschungsüberblick in dem Sinne fortgeführt bzw. ergänzt und ggf. überarbeitet würde.

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Auswirkungen der Fremdwahrnehmungen auf deren Darstellungen. Auch er wagt noch den Versuch der literaturwissenschaftlichen Gattungseinordnung, klärt die Begriffe voyages und relations (Funke 1982: 94), und führt Untergattungen des Reiseberichtes auf. Weitaus interessanter aber ist seine Bemerkung über eine außerliterarische Eigenschaft der hier als authentisch bezeichneten Berichte: Ein wesentliches Merkmal der authentischen Reiseliteratur des 17. Jahrhunderts ist das kritische Potential, das sie – von den Verfassern durchaus nicht immer beabsichtigt, von den Lesern in unterschiedlichem Maße wahrgenommen – in sich barg, von der Fülle arglos vorgetragener Erfahrungstatsachen, die der vertrauten Welt Europas widersprachen, über die lobreiche Darstellung fremder Kulturen, die kritische Vergleiche suggerieren konnte oder sollte, bis hin zur expliziten Kritik an den Sitten, Anschauungen und Institutionen Frankreichs und Europas. (Funke 1982: 99, vgl. auch 24)

Wichtig ist, dass hier das Fremde als solches überhaupt thematisiert wird, zwar nicht in dem vollen Umfang eines kritischen Definitionsversuches, aber immerhin mit dem Hinweis darauf, dass Fremdes wahrgenommen, und dieses Wahrgenommene wiederum sprachlich dargestellt wird, und zwar auf eine mehr oder minder bewusst kritische Weise. Einen etwas anderen Ansatz wählt Michael Harbsmeier in seiner erhellenden Arbeit zu historisch-anthropologischen Untersuchungen frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen (Harbsmeier 1982: 1ff.). Mit seiner an die Literaturwissenschaft formulierten Kritik bring er das Problem auf den Punkt: Diese bemühe sich, so Harbsmeier, nur um jene Reiseberichte, die ein hohes Maß an sprachlicher Eigentümlichkeit aufweisen, woraus sich zwangsläufig ergebe, dass sie sich lieber fiktiven Texten, Robinsonaden zuwende. Harbsmeier dagegen bezeichnet die Eigenart der Reiseberichte als eigentliches Erkenntnisobjekt und schlägt vor, diese […] nicht als Quellen zu den beschriebenen Ländern oder der literarischen Phantasie ihrer Autoren [zu betrachten], sondern ganz einfach als Zeugnisse für die spezifische Denkungsart des Verfassers und indirekt für die Mentalität seines Heimatlandes (Harbsmeier 1982: 1).

Der wahre Ertrag sei demnach laut Harbsmeier durch die Darstellung soziokultureller Andersartigkeit eine Art unfreiwillige kulturelle Selbstdarstellung, die sich in dualen oder binären Grundmustern und Gegenüberstellungen, bzw. asymmet-

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rischen Gegenbegriffen2 abzeichnet. Der Autor sei hier der Bastler, der aus der Palette dieser Oppositionen ein möglichst vollständiges Bild darzustellen vermag, das er mit den Begebenheiten seiner Reise in einen angemessenen Rahmen setzt. Die Aufgabe der Forschung sei es also, eine Vollständigkeit dieser Muster zu erreichen, wobei Harbsmeier feststellt: Eine solche Annahme eines geschlossenen Totalhaushalts utopischethnographischer Vorstellungskomplexe und Bilder kann weder falsch noch richtig sein, weil dies nie zu beweisen ist. Aber sie hat den strategischen Vorteil, unsere Aufmerksamkeit auf den Umsatz solcher Vorstellungen innerhalb des weitverzweigten Netzes der verschiedenen Branchen, Sektoren, Gattungen und Medien zu richten, und uns damit beim Aufdecken der geheimen Bastelei der Reisebeschreiber behilflich zu sein. (Harbsmeier 1982: 18)

Machen wir nun einen zeitlichen Sprung zu dem zu Beginn zitierten Peter Brenner, dem große Ehre gebührt für seine unglaublich umfassende, weichenlegende Vorstudie zum Reisebericht (Brenner 1990: 741) als Gattung. Brenner geht es – wie dies auch aus seiner Definition zu dem Begriff selbst herausklingt – darum zu verdeutlichen, dass der Reisebericht zum einen einer gewissen Authentizitätsverpflichtung seines Verfassers unterworfen ist. Hiermit erklärt er sich auch, wie sich literarische Ansprüche erst allmählich entwickeln konnten, und sie zuvor hauptsächlich die Funktion der Vermittlung authentischer Informationen innehatten. Zum anderen seien diese Berichte eben erzählende Darstellungen, d. h. das literarische Moment der Erzählung finde hier zweifelsohne statt. Brenner stellt gleich zwei Forderungen in seinem Werk an die Literaturwissenschaft. Hinsichtlich der Gattungsproblematik stellt er fest, dass die poetologische Komponente des Reiseberichtes bislang nur spärlich untersucht wurde. Zu viele sinnlose Bemühungen gab es um die Terminologie und die „Frage nach der Möglichkeit einer Abgrenzung von literarischen und nicht-literarischen Formen des Reiseberichts” (Brenner 1990: 20). Ein weiterer Punkt, der daran anknüpft, sei die Analyse der literarischen Darstellung der Fremderfahrung und zunächst auch die des Fremden selbst, die es zu definieren gelte. Mit dem Ansprechen des imagologischen Aspekts erwähnt Brenner auch Harbsmeiers Aufsatz, dessen

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Bei dem Begriff der binären Grundmuster verweist Harbsmeier auf eine Arbeit Nikolas Troubetzkoys über die altrussische Beschreibung einer Reise von Afanassi Nikitine nach Indien. An Reinhard Koselleck anlehnend führt H. Harbsmeier den Begriff der asymmetrischen Gegenbegriffe ein. Im Weiteren verwendet er zudem den Begriff der binären Oppositionen.

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Versuch zur Begriffserläuterung des Fremden und Eigenen er zwar für nicht ganz ausgereift, durchaus aber für diskutabel hält. Er sagt: Mit derartigen Überlegungen weiten die „Imagologie” und überhaupt die diesen Theorien der Fremderfahrung die genuin literaturwissenschaftliche Fragestellung aus und lenken den Blick auf einige grundsätzliche Probleme. (Brenner 1990: 26)

Der Trend hin zum interdisziplinären Arbeiten oder zumindest zu interdisziplinären Ansätzen der Reiseberichtforschung scheint sich hin zum Ende der 90er Jahre deutlich zu etablieren. Umso erstaunlicher ist es, dass noch zu dieser Zeit Arbeiten entstehen, die nach wie vor um die Typisierung der Textsorten, die literaturgeschichtliche Ab- oder Eingrenzung und die terminologische Festnagelung des Reiseberichtes bemüht sind. Hierbei ergeben sich offensichtliche literaturgeschichtliche wie rezeptionsästhetische Probleme. So stellt auch Albert Meier in seiner Studie zum Reisebericht des späten 18. Jahrhunderts (Meier 1999: 237ff.) zwar eine Poetisierung desselben fest, markiert diese jedoch erst zu dem genannten Zeitpunkt und führt den Grund dafür – ähnlich wie Brenner – auf den Funktionswandel der Gattung zurück. Dabei kommt er zu dem m.E. falschen Schluss, dass der Reisebericht erst in der Spätaufklärung als literarisches Genre aufgefasst wird. Ausgehend vom heutigen Forschungsstand könnte man sogar vorsichtig behaupten, dass der Reisebericht stets einem Funktionswandel unterworfen war, bzw. dass dieser Funktionswandel, wenn er denn einer war oder ist, nicht historisch bedingter, sondern vielmehr rezeptionsästhetischer Natur war. Einen imagologisch äußerst wertvollen und inventiven Ansatz wählt Tanja Hupfeld (2007: 486) in ihrer unlängst erschienenen Dissertation zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in ausgewählten französischen Reiseberichten des 16. bis 18. Jahrhunderts. Peter Brenners Definition weiterdenkend vermutet sie in den Reiseberichten einen Metadiskurs, der „fremde Wirklichkeit in authentischen Reiseberichten” darstellt. Den Begriff Metadiskurs erläutert Hupfeld wie folgt: Als Diskurs gelte hier die Darstellung des Fremden, als Metadiskurs das Schreiben über die Wahrnehmung des Fremden (vgl. Hupfeld 2007: 12). In allen der fünf ausgewählten Reiseberichte kann Hupfeld diesen Metadiskurs nachweisen, stellt jedoch fest, dass dieser unterschiedlicher Intensität ist (abhängig von der Person des Autors, seiner Intention, der Reisemotivation usw.). Auch Hupfeld behauptet hier, dass die Reflexion über die Fragen von Wahrnehmung und Darstellung fremder Wirklichkeit keiner zwingenden chronologischen Entwicklung unterliegt. Zur literarischen Einordnung des Reiseberichtes hat sie folgende Gedanken:

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Insgesamt gehören ohne Zweifel auch die authentischen Reiseberichte zu den literarischen Werken. Sie sind per definitionem zwar nicht-fiktional, enthalten aber durchaus Ausschmückungen und fiktionale Passagen; darüber hinaus weisen sie jeweils auch eine gewisse sprachkünstlerische Gestaltung auf, werden vom Leser als ästhetische Texte rezipiert und erfüllen mithin das literarisch ausschlaggebende Kriterium der Poetizität oder Literarizität. (Hupfeld 2007: 21)

Zum einen leistet Hupfeld mit ihrer gewiss mutigen Aussage eine längst fällig gewordene Rehabilitation des Reiseberichtes, und das unabhängig von seinem literarischen Zeitalter, fast schon, als wolle sie damit sagen, dass jegliche Diskussionen dazu überholt und überflüssig seien. Zum Anderen verlagert sie den Fokus des Erforschten, nämlich vom Fremden hin zur Analyse der Wahrnehmung des Fremden und zeigt der Reiseberichtsforschung hiermit einen neuen Aspekt auf. Diesen Aspekt gilt es nun, in das interpretatorische Inventar imagologischer, interdisziplinärer Arbeit aufzunehmen und somit eine neue Leseweise des Reiseberichtes zu entwickeln. Zudem verlangt dieser Ansatz geradezu nach seiner evidenten Umkehrung, nämlich der Untersuchung einer Reflexion über die Fragen von Wahrnehmung und Darstellung eigener Wirklichkeit, womit sie gleichzeitig dem vor drei Jahrzehnten formulierten Wunsch Harbsmeiers nach der Erforschung soziokultureller Selbstdarstellungen in den Berichten gerecht wird. Betrachtet man nun die zu Beginn dieses Aufsatzes aufgegriffenen Problemstellungen der Literaturwissenschaft hinsichtlich des Reiseberichtes nun aus den zuletzt beleuchteten Aspekten, so wird klar, dass sowohl bezüglich der Textsortenproblematik als auch bezüglich der Fragestellung um Authentizität und Fiktionalität der Texte verdeutlicht werden muss, dass diese Fragestellungen bei der Forschungsarbeit an Reiseberichten stets eine zweitrangige Rolle spielen dürfen. Möchte man einen tatsächlichen wissenschaftlichen Ertrag verbuchen, so muss der Fokus hin zur Imagologie verlagert werden. Dem folgt zweifelsohne auch eine Neudefinition der Begriffe authentisch und fiktional.

Literatur BRENNER, Peter J. (1990): Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer. FUNKE, Hans-Günter (1982): Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung. Fontenelles „Histoire des Ajaoiens. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 24). HARBSMEIER, Michael (1982): Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen. Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitli-

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cher deutscher Reisebeschreibungen. In: Maçzak, Antoni / Teuteberg, Hans Jürgen (Hrsg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Wolfenbüttel (= Wolfenbütteler Forschungen 21), 1–32. HUPFELD, Tanja (2007): Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in ausgewählten französischen Reiseberichten des 16. bis 18. Jahrhunderts. „Il les faut voir et visiter en leur pays“. Göttingen: Universitätsverlag (= Universitätsdrucke im Universitätsverlag Göttingen). MEIER, Albert (1999): Textsorten-Dialektik. Überlegungen zur Gattungsgeschichte des Reiseberichtes im späten 18. Jahrhundert. In: Maurer, Michael (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin: Akademie Verlag, 237–245.

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Rauminszenierung in Joseph Viktor von Scheffels Roman Ekkehard „…der zugleich als Historiker im Einzelnen immer nur den Teil eines großen Ganzen sieht” (Scheffels Brief an Wilhelm Meyer-Ott vom 30.11.1854, in: Klinke 1947: 109)

Über Joseph Viktor von Scheffel hört man oft unglaubliche, legendäre Geschichten: Im Scheffel-Jahrbuch 1903 steht die erstaunliche Angabe, dass von der damaligen deutschen Bevölkerung jede hundertste Person ein Buch von ihm besaß (Pach 1903: 119), oder dass er den Stoff seines berühmten Romans Ekkehard ursprünglich in der Form einer rechtswissenschaftlichen Habilitationsschrift (eines Vergleichs des altalemannischen Volksrechts mit den Rechtsanschauungen schwäbischer Klöster) (Proelß 1887: 289) gestalten wollte. Seine Hauptquelle war die vom Stiftsbibliothekar Ildefons von Arx 1829 herausgegebene Klosterchronik Casus Sancti Galli (vgl. Rupp 2003: 121), aber er kannte sich in den Sagen und Legenden der Gegend auch bestens aus (vgl. Rupp 2003: 121), und beobachtete auch weitere Felder, wie z. B. die dialektalischen Besonderheiten des Bodenseeraums (vgl. Wunderlich 2003: 78). Die 1855 erschienene Geschichte spielt in dieser Gegend im 10. Jahrhundert, wie es auch im Untertitel angekündigt ist. Die Hauptprotagonistin, die verwitwete Fürstin Hadwig lädt den St. Gallener Mönch Ekkehard zu ihrem Hof nach Hohentwiel ein, um auf Lateinisch gelehrt zu werden. In den Helden erwacht – allerdings mit einer gewissen Zeitverschiebung – platonische Liebe gegeneinander, währenddessen sich die Leser durch Episoden, wie der Ungarneinfall, Der Alte in der Heidenhöhle (Legende über Karl den Dicken), Wiborada Reclusa über kulturelle Eigentümlichkeiten und Legenden der deutschen Vergangenheit unterrichten können. Den erwünscht-unerwünschten Konflikt der Handlung führen dann die unterdrückten Gefühle herbei, die in Ekkehards unglücklichem Versuch, die Fürstin zu küssen, eskalieren. Während der Verbannung tritt schließlich Ekkehards künstlerische Begabung hervor: Er wird zum Dichter des berühmten Walthari-Liedes. Die travestierte Übersetzung der lateinischen Heldendichtung verfasste Scheffel bereits zwischen 1853–54 (Scheffel 2000, Bd. 1: 10), aber die erste Aufzeichnung über den Roman trug er schon 1852 während

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einer Reise nach Italien unter dem Arbeitstitel Ekkehard von St. Gallen auf Hohentwiel in sein Notizbuch ein (Wunderlich 2009: 128). Er stellte Erinnerungen an diese Fahrt in einem Gleichnis im Vorwort des Romans Ekkehard voran, das meines Erachtens sein Konzept über die Strukturierung des Werks verbildlicht. Er berichtet über einen Vorfall, währenddessen er und zwei Freunde (ein Archäologe und ein Historiker) auf der römischen Campagna „die Reste eines alten Grabmals, und unter Schutt und Trümmern […] ein[en] Haufe[n] auseinandergerissener Mosaiksteine” entdeckten. Der Archäologe wollte den Stoff der Steine bestimmen, der Geschichtsforscher erzählte über die alten Grabdenkmale, aber der Dritte zeichnete ein vollständiges Bild in sein Notizbuch: Ihm „stand das Ganze klar vor seiner Seele und er warf's mit kecken Strichen hin, derweil die andern in Worten kramten” (Scheffel 1897: IX). Mehrere Vertreter der ScheffelForschung beziehen sich auf die auch in diesem Bild angedeutete spezifische Methode seiner historischen Romane, die darin bestehe, dass er seine Figuren durch „Kombination und Weiterdichten” (Schupp 2004: 1101) gestaltet, zu dem die historischen Quellen, wie zu einem „entstehende[n] Puzzle vom Mittelalter“ (Wunderlich 2003: 78) lediglich mit einzelnen Details/Bruchstücken/Fragmenten beitragen. Mit anderen Worten: Scheffel gehe es darum, „aus den Quellen fragmentarisch rekonstruierbare Fakten vermittels der Dichtkunst zu einem lebendigen Bild der idealen Vergangenheit [zu] verbinde[n].” (Rupp 2003: 128) Dieses Schaffensprinzip gilt jedoch auch für die wissenschaftlich sein wollenden Anmerkungen des Werkes: Scheffel präsentiert insgesamt 285 nummerierte Endnoten zum Text, die lediglich den Raum der Fiktion erweitern, da sie gegenüber des im Vorwort Versprochenen größtenteils nur bedingt als Beweisstellen funktionieren. Die Rezipienten gelangen stattdessen in ein literarisches Labyrinth, in dem die weiterleitenden Hinweise oft in Sackgassen enden oder auf einen falschen Weg führen. Diese Anmerkungen und ihre unterschiedlichen Funktionen sind der erste zu untersuchende Aspekt meines Vortrags. Den zweiten Gesichtspunkt entnehme ich der topografischen Strukturierung des Ekkehard. Die leitende Frage ist dabei, wie der Autor die Schauplätze im Vergleich zu den Quellen systematisch durch Ausfüllung der Leerstellen und durch Kompilation der Quellen gestaltet. Eine bedeutende Frage der Scheffel-Forschung ist, welche Funktionen die Anmerkungen in Ekkehard erfüllen. Sind sie literarisch oder wissenschaftlich, spielerisch-ironisch oder demonstrativ zu nehmen? Sind sie Verständnishilfen oder Mittel der Blendung von Lesern mit vermeintlichen wissenschaftlichen Ansprüchen; können sie überhaupt Faktizität einbringen oder sind ein bloßer Scherz mit den Lesern. Eins ist sicher: Man kann sie nicht außer Acht lassen. Hier möchte ich auf Gerard Genettes wohlbekannte Bemerkung über die bedeutungstragende Funktion der Fußnoten innerhalb literarischer Texte hinweisen:

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Sie tragen, so Genette, „unter dem Deckmantel der mehr oder weniger satirischen Simulation des Paratextes zur Fiktion des Textes [bei], wenn sie ihn nicht sogar [...] vollständig bilden” (Genette 1989: 326). Die Fußnoten in einem historischen Roman galten und gelten einigen Rezipienten vielleicht immer noch als Beweise historischer Geschehnisse, aber für die Autoren dienen sie eher als Instrument zu ihren dichterischen Vorstellungen, als Bindeglied zwischen der Narration und der historischen Überlieferung (Aust 1994: 29ff.). Scheffel äußert sich über die Bedeutsamkeit der Fußnoten ambivalent: Dem Wunsche sachverständiger Freunde entsprechend, sind in den Anmerkungen einige Zeugnisse und Nachweise der Quellen angeführt, zur Beruhigung derer, die sonst nur Fabel und müßige Erfindung in dem Dargestellten zu wittern geneigt sein könnten. Wer aber auch ohne solche Nachweise Vertrauen auf eine gewisse Echtheit des Inhalts setzt, der wird ersucht, sich in die Noten nicht weiter zu vertiefen, sie sind Nebensache... (Scheffel 1897, Bd.1: XVI-XVII)

Auch wenn er im Vorwort des Romans auf den wissenschaftlichen Wert der Anmerkungen hindeutet, gehört das offenbar auch zur Ironisierung, er glaubte nicht ernst an ihrer wissenschaftlichen Beweiskraft. Das ergibt sich, wenn wir einen Brief an seinen Vater aus dem Erscheinungsjahr des Romans zitieren. Hier schreibt er, dass sie nur eine „rohe Zusammenstapplung zusammengelesener Notizen” sei, die „in den Augen eines wirklich gelehrten Mannes ganz ohne Werth sind, und das Publicum sich verblüffen läßt...” (Scheffels Brief an den Vater vom 28.08.1855. In: Zentner 1934: 50) Und es spricht für ein bewusstes Konzept genauer Bearbeitung, dass aus seinem Nachlass ein Konvolut zum Vorschein gekommen ist, in dem seine Notizen zum Anmerkungsapparat aufbewahrt sind (Wunderlich 2003: 127). Der 171 Blätter enthaltenden Dokumentsammlung – Konzepte zu den Anmerkungen im Ekkehard (Scheffel 2000, Bd. 2: 420) – lässt sich entnehmen, dass Scheffel aus seinen Noten mit dem Romantext verbunden einen literarischen Spielraum ausbaut. Zur Beleuchtung der literarischen/poetischen Ziele dieses Hinweisungssystems möchte ich hier einige Erscheinungen und Beispiele aus dem Text der Anmerkungen und den damit zusammenhängenden Teilen und Elementen des Romans hervorheben. Einige Noten ziehen den Leser in ein Katze-Maus Spiel hinein (Jan 1949: 576). Die Anmerkung 21 bezieht sich auf die fiktive (nicht aus den Quellen stammende) Episode der Waldfrau, in der ein alter Brauch erwähnt wird. Die Funktion dieses Hinweises enttäuscht die gewöhnlichen Lesererwartungen: Nachdem das alte Recht beschrieben und die Geschichte und Etymologie des Ausdrucks Chrene Chruda ziemlich detailliert entwickelt wurde, fügt der Autor hinzu, dass dieses Verfahren übrigens nicht auf dem geschilderten histori-

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schen Gebiet und im Zeitalter der fiktiven Geschehnisse gebräuchlich war. Scheffel provoziert in der Anmerkung 208 diejenigen Leser weiter, die er schon im vornhinein von der Vertiefung in die Noten abraten wollte: Er bemerkt satirisch: „Wiewohl wir nicht hoffen, dass einer der Leser sich versucht fühle, Gunzos pomphaftes Werk nachzuschlagen, sei doch der Ort angegeben, wo es zu finden.” (Scheffel 1897, Bd. 2: 303) Über die Leserinnen ironisiert er in der Note 69 mit Hervorhebung ihrer vermutlichen Unkundigkeit des Althochdeutschen. Und auch des Weiteren treibt er ein „ironisches Spiel mit dichterischer Freiheit und der philologischen Verpflichtung zur Genauigkeit” (Rupp 2003: 126). Er spottet die Faktengier der Historiker in Endnote 152, in der er durch die geheimnisvolle Figur des Alten in der Heidenhöhle die Anwesenheit Karl des Dicken im Roman legitimieren will, aber da markiert er seinem Publikum zugleich, dass es hier wieder um einen historischen Abweg handelt: „Die Gestalt des Alten in der Heidenhöhle möchte historisch etwas anzuzweifeln sein. Alle Merkmale deuten auf Karl den Dicken, aber der war eigentlich längst gestorben, bevor die erste Stunde des zehnten Jahrhunderts schlug.” (Scheffel 1897, Bd. 1: 303) Auch der Hauptprotagonist ist eine völlig unhistorische, erfundene Figur, nicht nur in seiner Schilderung, sondern auch im Spiegel der zitierten Quellen: In der Sankt Gallener Klostergeschichte kommt der Name Ekkehard bei vier Personen vor: Ekkehard I. war Dekan und Verfasser der Vita Waltharius manufortis, Ekkehard II. war Höfling, Lehrer von Hadwig, sein Neffe war Ekkehard III., und Ekkehard IV. war einer von den Autoren der Chlosterchronik Casus Sancti Galli. Im Roman fließen die Taten und Eigenschaften der historischen Figuren zusammen. Scheffel bringt für seine einzige literarische Ekkehard-Figur Quellennachweise aus den unterschiedlichen Lebensgeschichten der historischen Gestalten (Mulert 1909: 31f.). Der Autor ironisiert wieder über die Verwissenschaftlichung der Romane seiner Zeit, als er im letzten Kapitel des Romans gesteht, dass er die historischen Ekkehard-Figuren vermischt hat: „Es ist unbekannt, ob dies derselbe Ekkehard war, von dem unsere Geschichte erzählte.“ (Scheffel: 1897, Bd. 2: 295) Über die Anordnung der Anmerkungen schreibt Mulert kritisch, dass sie den Lesern, die dem Vorwort folgend die Beweisstellen durchblättern, einen falschen Anschein der Geschehnisse vermittelt (Mulert 1909: 37). Da im Vorwort vor allem auf die demonstrative Funktion der Noten verwiesen wird, können sie wohl nur von den „genügsameren Lesern” wahrgenommen werden. Scheffel möchte eigentlich durch die Noten, die unrealistischen Teile mit Beweisstellen unterstützen, die die Fiktion ebenso legitimieren, wie ironisch auszeichnen. So vergeht er auch in der Beschreibung der Ungarn bzw. Hunnen, die er in der Anmerkung 139 zusammenschnürt. Hier passen sehr gut die Gedanken von Wolfgang Iser über den historischen Roman: „Die verbürgte Wirklichkeit wird in imaginäre Situationen umgesetzt, um durch fiktive Beziehungen die

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Streuung historischer Ereignisse zu überwinden und so Bedeutsamkeit für den subjektiven Nachvollzug herzustellen.” (Eckstein 2001: 167) Scheffel erdichtet im Laufe des Romans mehrere Pseudodokumente, worauf er auch in den Anmerkungen anspielt. Als Beispiel kann man einen gewissen irischen Priscianus in der Anmerkung 112 nennen, auf dessen Existenz laut der Untersuchungen Volker Schupps überhaupt keine Spuren hinweisen (Schupp 2004: 1101). Evelyn Eckstein ergänzt die Liste der möglichen Funktionen durch Verbindung des Werkes mit den derzeit modischen Professorenromanen (Eckstein 2001: 170), wobei die Fußnoten zu unverzichtbaren Elementen des Werkes wandeln (Selbmann 1982: 74). Auch in Professorenromanen wird der wissenschaftliche Anspruch und das professionelles Wissen relativiert und gleichsam gegen sich selbst eingesetzt. In diesem Sinne sind die Noten in Ekkehard auch als gattungsspezifische Merkmale eines die Gattung reflektierenden historischen Romans zu verstehen. Dasselbe poetische und literarische Konzept, in dessen Dienst die Fußnoten stehen, trifft auch auf die topografische Ordnung des Romans zu. Charakteristisch scheint bei der Rauminszenierung im Werk Scheffels nämlich, dass die Topografie stark symbolisch gestaltet wird und die reale Karte umzeichnet. Scheffel verfolgt im Roman die typische Raumgestaltung der deutschen historischen Romane seiner Zeit, was die kulturellen Relationen betrifft. Das 19. Jahrhundert hatte Deutschland als einen mit Geschichte gesättigten Raum konzipiert, als Raum, der die – sichtbaren, lesbaren, fühlbaren – Spuren der Vergangenheit gespeichert hat, die sich seinen Bewohnern mitteilen: Spuren, in denen sich eine die Zeiten überdauernde Identität manifestiert und in der Gegenwart geltend macht, oder auch Spuren, die von einem beunruhigenden Anderen zeugen, dass es gleichermaßen zu erkennen und zu bannen gilt; es kommt auf die Perspektive an, aus der die monumentalen Spuren zu Dokumenten eines vergessenen, verdrängten und doch auf beruhigende oder beunruhigende Weise noch gegenwärtigen Sinns werden. (Struck 2010: 66)

Zu dieser Arbeit am fiktiven Raum gehören die symbolischen Höhen-TiefenVerhältnisse der Schauplätze des Romans. Scheffel ändert die Schauplätze der historischen Quellen, so können die geschilderten Ereignisse und Figuren in diesem bipolaren Raum des Romans ihren Stellenwert erhalten. Je höher eine Stätte ist, desto positiver werden selbst der Raum und der moralische Wert seiner Bewohner geschildert. Es gibt mindestens sieben Berge des Bodenseeraums, die als Schauplätze der Handlung dienen, und alle haben irgendeine sakrale Bedeutung. Am Hohenkrähen wohnt die Waldfrau, die regelmäßig mit den alten Göttern kommuniziert. Später will Ekkehard hier ein Sanktuarium der heiligen

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Hedwig widmen. Auf dem Hohentwiel ist Hadwigs Hof, wo die Handlung größtenteils spielt. Beim Ankommen in der Burg von Hohentwiel wählt Ekkehard ein Zimmer in einem hohen vereinsamten Turm. Später stiftet hier Hadwig ein Kloster unter der Leitung von Burkhard, Ekkehards Neffen. Hohenstoffeln wird das Zuhause eines frisch verheirateten Ehepaars. Der Mann wird direkt vor der Hochzeit am Ufer der Aach getauft, und für das Christentum bekehrt. Das Heidengebiet wird nur in Scheffels Erzählung zum Wohnsitz des alten verbannten Königs (Karl der Dicke), der laut der fiktiven Handlung in einer Höhle lebt, und mit seinen taktischen Empfehlungen und mit seiner Hingebung das Christentum vor den Heiden, den Ungarn rettet. Ähnlich zum König muss auch Ekkehard ins Exil gehen, er flieht auf den Ebenalp, zum Gipfel Wildkirchlein. Und auch wenn er sich hier gottverlassen fühlt, findet er die Heiligkeit der Natur vor, und widmet sich ständig an die Säntis, als eine höchste Macht, die kein Fuß jemals betreten darf. Aus all diesen Beispielen ergibt sich, dass der Erzähler die Leser überwiegend in die Position eines statischen hinaufschauenden Blicksubjekts1 versetzt. (Die Wörter wie oben, hoch, hohen, Höhe etc. also das Wortfeld, das zur hinaufschauenden Blickführung gehört, kommt im Roman um zweihundertmal vor.) Viel niedriger liegt der Wohnsitz der verdorbenen Reichenauer Mönche, die immer mit den Sanktgallenern verglichen werden. Dies mag auch eine Ursache dafür sein, warum Scheffel den Tatort des historischen Ungarneinfalls ändert. Laut der Chronik Casus Sancti Galli brechen die Ungarn in Sankt Gallen ein, hier finden sie den närrischen Heribald, der das Treffen mit leichteren Demütigungen überlebt. Aber da die verschmolzenen Hunnen/Ungarn auch laut der Scheffelschen Schilderung Geißeln Gottes sind, passt ihr Angriff im konstruierten Raum nicht zu dem idealisierten Kloster in Sankt Gallen. Um die einheitlichen symbolistischen Verhältnisse aufzubewahren, müssen die Ungarn das wenig idealisierte, sogar sündhafte Kloster Reichenau aufsuchen. Während der Umverlagerung der Geschichte zur anderen Stätte begeht Scheffel den Fehler, dass er den intellektuellen Humor verloren gehen lässt, der dem Casus Sancti Galli, bei der eigentlichen Hauptquelle typisch ist: Als die Ungarn das Kloster ausplündern, wollen sie den steinernen Hahn vom Dach holen: Sie denken, er mag mindestens aus Gold sein, weil das zur Huldigung des vermeintlichen Schutzgottes (‚gall‘ bedeutet lateinisch Hahn) dienen soll. Im Scheffelschen Text, in Reichenau bleibt dieser Handlungsverlauf unmotiviert. Ähnlicherweise setzt Scheffel im Kapitel Die Hunnenschlacht die Ereignisse der Schlacht bei Riade (933, Merseburg) nach Hohentwiel um, aber das kann auch nur dann enthüllt werden, wenn man seinem Quellennachweis nachgeht (s. Anm. 187). Alles zusammengenommen gibt es jedenfalls eine klar umrissene Gruppe von Prota1

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gonisten, die immer von oben betrachtet werden, ohne Ausnahme aus der Tiefe kommen, die immer in den Tälern lagern: die Ungarn/Hunnen. Die barbarischen Invasoren (Wunderlich 2003: 86) bedrohen die Herausbildung eines gestaltenden einheitlichen kulturellen (christlichen) Raums mit den ständigen Einfällen. Sie benutzen die typischen kulturellen Bedeutungsträger dysfunktional: das Buch von Boethius als Feueranzünder, die Messgewänder als Pferdedecken. Sie zwingen den einfältigen Heribald zur Aufnahme ihrer Bräuche, wie z. B. dazu, auf dem Boden zu essen, die Kirchenmusik zu profanieren oder den eigenen Göttern zu huldigen. Die Barbaren beweisen in mehreren Szenen, dass sie überhaupt keinen Hang zur Kunst, Religiosität oder zum Wissen haben. Für die beiden Seiten ist auch die Unterschätzung ihrer Gegner charakteristisch. Als die Ungarn in das Kloster Reichenau einbrechen, lachen sie den einfältigen Mönch aus, sie machen Scherze über seine Tonsur, über die Schriftlichkeit und über die Intellektualität. Aber auch die Deutschen unterschätzen den Gefangenen ungarischen Cappan, wenn sie glauben, vor solchen Dummköpfen keine Angst haben zu müssen. Er ist eine der interessantesten Figuren des Werks, er bleibt in Hohentwiel und versucht sich in die christliche Kultur zu integrieren. Zur Taufe bringt ihn der Wunsch, eine Magd aus dem Hof zu heiraten. Ekkehard beginnt ihm die unverzichtbaren Lehren des Christentums beizubringen und seine Beichte abzunehmen, was aber fast ganz ohne sprachliche Mittel, mithilfe von Bildern und Gebärden erfolgt. Derweil Cappan eine echte Sorgfalt und ernsten Willen zur Integration zeigt, muss man einen anderen interessanten Protagonisten erwähnen, der sich in das andere Lager passen will. Ein äußerlich widriger, zahnlückiger Deutsche, der wegen seiner Verstoßung aus der Gesellschaft seines Dorfes zu den Ungarn geflohen ist. Aber auch wenn er anscheinend ihre Gelegenheiten aufnimmt, kann er sich mit ihnen nie identifizieren, so erfolgt hier keine echte Wandlung der Figur, wie beim christianisierten Cappan. Die großen Wandlungen erleben die Figuren während der Bewegung in diesem bipolaren Romanraum (Wunderlich 2003: 88; Selbmann 1982: 49), dem folgt meistens auch ein dynamisches Blicksubjekt2 in der Narration. „Jetzund, vielteurer Leser, umgürte deine Lenden, greif' zum Wanderstab und fahr' mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des Bodensees zieht unsere Geschichte ins helvetische Alpenland hinüber.” (Scheffel 1897, Bd. 2: 203) Ekkehard wird dreimal in seiner Wanderung bergauf gezeigt, immer in anderen Rollen: bei der Waldfrau tritt er in die Rolle des Exekutors, beim Alten in der Heidenhöhle wandelt er zu einem Strategen, auf den Ebenalp zum Dichter. Das gilt auch für die Situationen Neigen/Fälle. Bevor Ekkehard in die Rolle der besessenen Verliebten tritt, erlebt er einen imaginären Fall: 2

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kommt, laßt sie uns tun, die Geschichte! Droben von des Turmes Zinnen schaut sich's so weit in die Lande und so tief hinunter, so süß und tief und lockend, was hat die Herzogsburg uns zu halten? Keiner braucht mehr zu zählen als drei, der hinunter will... und wir schweben und gleiten in den Tod, dann bin ich kein Mönch mehr und darf den Arm schlingen um Euch. (Scheffel 1897, Bd. 2: 187)

Wenn er fliehen muss, nimmt er die Sündnerrolle an sich, und er muss zum Ablass eine symbolische Taufe in einem Bergsee erleben. Er kann nur danach zu gesellschaftlichen Diensten zurückkehren. Zusammenfassend: Auch wenn Scheffels Anmerkungen als wissenschaftliche Belegstellen erscheinen, ergibt sich aus einer tieferen Untersuchung, dass sie den wissenschaftlichen Stil lediglich imitieren und ironisch versetzen. Sie führen die Leser zu solchen Daten und Fakten, die entweder in der angegebenen Form nicht existieren, oder keine Beweiskraft für die betreffende Textstelle besitzen. Die Ereignisse seiner Quellen bettet er in den symbolischen Raum des Romans ein, in dem die Höhen und Tiefen ein bipolares System bilden. Er setzt die historischen Ereignisse aus dem originalen Kontext auf eine imaginäre Landkarte. Scheffel nennt den Text offiziell zwar einen „strengen” historischen Roman, dieser dichterischen Selbstbestimmung widersprechen nicht nur die Tatsachen, sondern auch der Autor selbst. Literatur AUST, Hugo (1994): Der historische Roman. Stuttgart: Metzler. ECKSTEIN, Evelyn (2001): Fussnoten, Anmerkungen zu Poesie und Wissenschaft. Münster: Lit Verlag. GENETTE, Gérard (1989): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Campus-Verlag. JAN, Helmut von (1949): Joseph Viktor von Scheffels Verhältnis zur Historie. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 97, 539–606. KLINKE, Willibald (1947): Joseph Viktor von Scheffel. Ein Lebensbild in Briefen. Zürich: Verein Gute Schriften. LECHNER, Manfred (1962): Joseph Victor von Scheffel. Eine Analyse seines Werks und seines Publikums. München: UNI-Druck, 146–148. MULERT, Gabriele (1909): Scheffels Ekkehard als historischer Roman. Ästhetischkritische Studie. Münster: H. Schöningh. PACH, Oskar (Hrsg.) (1903): „Nicht rasten und nicht rosten.” Jahrbuch des Scheffelbundes. Wien: Verlag des Scheffelbundes. PROELß, Johannes (1887): Scheffels Leben und Dichten. Berlin: Freund & Jeckel.

Rauminszenierung in Joseph Viktor von Scheffels Roman Ekkehard

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Anna Zsellér Budapest

Der Gleichmut der Natur Eine dichtungstheoretische Parallele bei Rainer Maria Rilke und Raoul Schrott 1

Rilkes Schweizer Naturdichtung oder der unentrinnbare Todesgleichmut

Die folgenden Ausführungen stehen im Zusammenhang einer größeren wissenschaftlichen Arbeit, die dichtungstheoretische Parallele im Lebenswerk der beiden österreichischen Autoren ausarbeitet und darstellt. Der Gleichmut der Natur und die kosmische ‚sympatheia‘ der Natur erscheinen in den Briefen, in den reflexiven Texten, in den ‚ars poetischen‘ und in den immanent poetischen (poetologischen) Gedichten der beiden Dichter als zwei Extreme des dichterischen Naturbezugs. Diese zwei logischen Endpunkte bilden sich in den Rahmen des dichterischen Denkens in verschiedenen Stadien der beiden Lebenswerke aus, aber sie nehmen bei keinem der zwei Dichter die Form eines logischen Widerspruchs an. Vielmehr sind sie Beweise dafür, dass der Naturbezug einen existenziellen Problemkomplex darstellt, innerhalb dessen alle möglichen Variationen des ästhetischen Naturbezugs sowohl im Werk Rilkes, wie auch im Werk Raoul Schrotts durchgespielt werden. Im vorliegenden Aufsatz wird der erste Aspekt, die gleichmütige Natur im Zusammenhang der spätesten Lyrik Rilkes und des Gedichtbandes Tropen (Schrott 1998) von Raoul Schrott erörtert. Ob die Entwicklungsbedingungen von Rilkes deutsch-französischer Lyrik aus der Walliser Zeit wirklich „die Entdeckung Paul Valérys, die Schaffenskrise nach dem Abschluss der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus, der Wunsch vor dem Schrecken der sich immer deutlicher manifestierenden Krankheit nach einer Verjüngung, um nicht zu sagen Gesundung durch den Gebrauch einer neuen dichterischen Sprache“ (Luck 2005: 57) sind, wie der Übersetzer der gesamten französischen Spätlyrik, einer der besten Kenner von Rilkes Schweizer Jahren, Rätus Luck bündig zusammenfasst, sei dahingestellt. Diese sind gewiss notwendige, doch wahrscheinlich nicht alle hinreichenden Bedingungen einer die Postmoderne vorwegnehmenden dichterischen Leistung. Die „reine und großgeartete Landschaft“ (An Eduard Korrodi, 20.03.1926. In: Rilke 1992: 486) im schweizerischen Wallis wurde zum wichtigsten Anlass einer – der sprachlichen Gestaltung nach – neuartigen Dichtung, da die gedanklich-poetologischen Vo-

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raussetzungen zu einer „kosmozentrischen Naturlyrik“1 bereits vorlagen. Ich mache einen erneuten Versuch, die Voraussetzungen der Walliser Naturdichtung Rilkes zusammenfassend vorauszuschicken. Rilkes Poesie ist seit Langem durch die Entwicklung von kosmologischen Gedanken bewegt, die einerseits als Nebenleistung seiner großen Zyklen Duineser Elegien und Sonette an Orpheus, andererseits auch als Leistung seiner ganzen dichterischen Laufbahn – Versuche und Bruchstücke inbegriffen – entstanden sind. Diese Gedankenwelt ist aber aus dem Grund auf absolute Weise poetisch, da ihr mit jedem neuen Gedichttext (potenziell) Veränderung und Entwicklung widerfahren kann. Wie immer in Rilkes Dichtung sind auch hier poetische Struktur einerseits und die im Gedicht vermittelte Weltsicht andererseits untrennbar miteinander verbunden, denn Erkenntnis und ästhetische Gestaltung bedingen bei Rilke einander wechselseitig. (Lauterbach 2005: 31)

Die Grundstruktur von Rilkes reflektiert vorliegender Poetik (in den oft auch ‚ars poetisch’ gestalteten Gedichten) lässt sich am besten anhand der Analyse der Magie(r)-Gedichte Rilkes zeigen.2 Die eigentliche Frage seiner spätesten dichterischen Welt sehe ich aber nicht am Deutungsbedarf von Rilkes Kosmologie, sondern darin, wie diese (nur scheinbar harmlose) Naturlyrik sich in die allgemeinen Entwicklungstendenzen der europäischen Lyrik und Kunst einfügt. Die Poetik von Rilkes spätem Werk wurde oft als eine Poetik gedeutet und dargestellt, die sich an den bildenden Künsten orientiert. 3 Damit wird das Postulat der Anschaulichkeit in den Mittelpunkt der Rilke-Deutung gestellt. Es bleibt zu betonen, dass die Abstraktionsbewegungen, die in Rilkes Dichtung zur Periode der Schweizer Naturdichtung bereits vollzogen waren, ihre vielschichtigen Motivationen aus dem Bereich der bildenden Künste und der Musik geschöpft haben. Hier seien die wichtigsten Merkmale der Periode 1924-1926 nochmals zusammengefasst: (A) Rilkes späte Schweizer Dichtung ist im bedeutenden Maße eine französischsprachige Naturdichtung. (B) Die späte Naturlyrik Rilkes vollzieht Reflexionsbewegungen (oft auch sogleich Metareflexionen), die den „bildspendenden“ Bereich (Natur) aus dem Gedicht letztlich beinah vollständig 1

Dieser Begriff ist eine Begriffsprägung von Dorothea Lauterbach. Vgl. Lauterbach 2005: 41. 2 Die Titel dieser Gedichte sind von Manfred Engel im Rilke-Handbuch wie folgt aufgelistet worden: Der Magier; Berühre ruhig mit dem Zauberstabe; Sterne, Schläfer und Geister; Magie; Unser ist das Wunder; Le Magicien. Vgl. Engel/Lauterbach 2004: 428. 3 Ich denke hier vor allem an die einsichtsvollen Ergebnisse von Herman Meyer (1988) in seinem Aufsatz. S. auch Por (2010).

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auslöschen. (C) Die lyrische Sprache, durch die der späteste Rilke produktiv wird, ist die vielschichtige, ausgereifte Sprache eines alternden Dichters. Diese Sprache verweist mit allen ihren Worten auf einen eigenartigen dichterischen Zusammenhang, der die ganze frühere Poesie als Verweisungszusammenhang mit einbezieht. (D) Rilkes Hinwendung zum Organischen, zum Natürlichen in dieser Periode kann mindestens auf vier unterschiedlichen Ebenen gedeutet werden. (D.1) Auf der biografischen Ebene als Erlebnislyrik, die auf dem neuen schweizerischen Boden durch die Sensibilisierung des dichterischen Wahrnehmens entstand. (D.2) Motivgeschichtlich kann diese Wendung durch das ständige Zurückgreifen auf einen früheren Motivschatz, z. B. die Rose, das Wasser, der Vogelruf, der Baum, der Himmel etc. charakterisiert werden. (D.3) Sprachlich kann sie mit Bernhard Böschenstein als ‚jeu de langage‘ gedeutet werden.4 Hier wäre die nivellierende Kraft einer neuen Sprache zu betonen, die die Wirrnisse der stürmischeren Produktionsphase der Sonette und Elegien jetzt psychologisch wieder einebnet. (D.4) Erkenntnistheoretisch: Nach der Grundkategorien bewegenden Krise,5 die in den Elegien ausgetragen wurde, bedeuten die naturmagischen Gedichte dieser Periode einen erneuten Glauben an die Wirkungs- und Konstruktionsmöglichkeiten der dichterischen Sprache. Am wichtigsten bleibt dennoch zu betonen, dass sich die Naturgedichte Rilkes in der schweizerischen Periode im „Reich des Unsichtbaren“ bewegen.6 Der biografische Rilke, der von Muzot aus folgenden Brief an Lou AndreasSalomé verfasst, scheint im lyrischen Werk nur noch selten im Bild zu sein. Was das Ich im lyrischen Sprechen Rilkes ersetzt, ist ein anthropologisierendes „Wir“, das manchmal das individuelle Erleben unter allgemeinen Gesetzen formuliert darstellt, noch häufiger aber die Möglichkeit des Auftauchens einer individuellen Subjektivität – wie man sie in einem Brieftext problemlos detektieren kann – im Vorhinein leugnet oder auslöscht: Ich bin im Valais: erinnerst Du den großen Eindruck, den’s mir machte vorigen Herbst durch seine Verwandtschaft mit Spanien und mit der Provence?; diesmal, 4

„Le plaisir de pouvoir user d’un matériau inhabituel en écrivant des poèmes en français pouvait eintraîner le poète vers une attitude expèrimentale proche de celle qui pouvait régner dans un atelier de peinture contemporaine.“ (Böschenstein 1992: 112). 5 „[D]ie Krise scheint wesentlich im vorsprachlichen Bereich zur Erfahrung zu wurzeln. Nicht etwa das Mitteilen innerer Vorgänge ist problematischer geworden, sondern vielmehr die Grundstruktur der Erfahrung selbst [...].“ (Stephens 1978: 38f.) 6 Die Auslegung dieses viel umrätselten Begriffs leiste ich in meiner Dissertationsschrift ausführlicher. Herman Meyer gibt einen ganzen Katalog der frühen Fehldeutungen, mit denen die Kategorie des Unsichtbaren beim späten Rilke von Bollnow bis Romano Guardini angegangen wurde. Vgl. Meyer (1957).

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Anna Zsellér länger, erlebt ich es um seiner selbst willen (es wird darüber nicht weniger erstaunlich) und von einer alten einheimischen Stelle aus, die es mit sich brachte, daß man plötzlich im Bilde wohnte, zugehörig, statt ihm aufnehmend gegenüber zu sein. [...] Eigentlich sollte dieses alte Manoir von Muzot ausgeprobt werden, ob es mir für den nächsten Winter eine Zuflucht sein könnte: es ist, fürcht ich, zu hart für mich, drin wohnen ist etwa, als stünde man in einer schweren rostigen Rüstung. Und durch die harten Helmspalten schaut man hinaus in ein herausfordernd heroisches Land. [...] Die Karte von Muzot giebt nicht den rechten Eindruck: einmal ist das nächste Dorf, Miège, nicht so nah, wie es den Anschein hat; es ist nichts in der Nachbarschaft, als eine kleine weißgetünchte Skt. Annen-Kapelle (nicht im Bild!). Dann hat die Karte keine Ahnung von den Farben der großartig abgewandelten Landschaft und sie zeigt auch nicht ihr Modelé, – hervorgerufen durch das unbeschreiblich mitwirkende Licht, das in allen Zwischenräumen Ereignisse schafft und die Distanz zu einem Ding zum anderen mit so eigenthümlichen Spannungen erfüllt, daß sie (Bäume, Häuser, Kreuze, Kapellen und Thürme) zueinander mit der gleichen reinen Bezogenheit konstelliert erscheinen, die, für unsern Anschaun,7 die einzelnen Sterne zum Sternbild8 zusammennimmt. Als würde durch die großmüthige und gespannte Vertheilung der Dinge, Raum erzeugt,9 – so wirkt dieses Thal, von dem man kaum glauben will, daß es noch zur Schweiz gehöre. (Rilke an Lou Andreas-Salomé, Château de Muzot sur Sierre, Valais, am 10. September 1921 (Rilke/Salomé 1975: 432f.) (Hervorhebungen A. Zs.)

Die Karte von Muzot, die Ansichtskarte, die Rilke dem Brief beilegt, gibt den Ausgangspunkt für die Beschreibung, mit der Rilke seine aktuelle unmittelbare Umgebung für seine Freundin schildert. Diese Briefstelle ist für die Beobachtung der spätesten lyrischen Produktion von Bedeutung, da sie Themenkonstanten und Sichtweisen dieser Dichtung in Prosafassung unmittelbar und auf engstem Raum wiedergibt, abgefasst in dem kommunikationsspezifischen Idiolekt, den Rilke im Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé entwickelt und benutzt hat. Die Auslöschung des biografischen Ichs aus dem „Bild“ der Gedichte kann auch als die verabsolutierte Dazugehörigkeit, als ein Sich-Auflösen-Wollen in der Sprach7

Siehe dasselbe Wort in derselben Schreibweise im wichtigen Gedicht Wendung: „Lange errang ers im Anschaun...“ (Rilke 1996-2003, Bd. 2: 100) (Im Folgenden: Rilke KA II). 8 Die Reflexion über die Sternbilder als (menschlich erzeugte) Konstellationen ist Gegenstand mehrerer Gedichte im Spätwerk. Das Wichtigste darunter ist vielleicht das XI. Sonett an Orpheus aus dem I. Teil (Rilke KA II: 246). 9 Raum, reiner Raum ist bei Rilke poetisch erlebter und erzeugter Raum; als solcher bildet er eines der wichtigsten Reflexionsthemen des Spätwerks. Siehe z. B. „Atmen“ als „rein eingetauschter Weltraum” (I. Sonett an Orpheus im 2. Teil); und umgekehrt „Innres, was ists? / Wenn nicht gesteigerter Himmel, durchworfen mit Vögeln [...]“ (Rilke KA II: 392).

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Landschaft gedeutet werden („daß man plötzlich im Bilde wohnte, zugehörig“). Wenn das hier beschriebene Bild der Walliser Landschaft analog zu dem von den Gedichten erzeugten Landschaftsbild verstanden wird, hören wir dann in diesem langen Briefzitat den zustimmend gestimmten Rilke, etwa wie in der Neunten Elegie, der die Verwandlung der Landschaft in Innenwelt, in Dichtung für möglich und für wünschenswert hält. Doch wir kennen von früher zudem einen anderen Rilke, der in seiner Einleitung zur Monografie Worpswede eine scheinbar gegensätzliche Einstellung formuliert. Wir sind gewohnt, mit Gestalten zu rechnen, – und die Landschaft hat keine Gestalt, wir sind gewohnt aus Bewegungen auf Willensakte zu schließen, und die Landschaft will nicht wenn sie sich bewegt. […] Wir pflegen, bei den Menschen, vieles aus ihren Händen zu schließen und alles aus ihrem Gesicht, in welchem, wie auf einem Zifferblatt, die Stunden sichtbar sind, die ihre Seele tragen und wiegen. Die Landschaft aber steht ohne Hände da und hat kein Gesicht, – oder aber sie ist ganz Gesicht und wirkt durch die Größe und Unübersehbarkeit ihrer Züge furchtbar und niederdrückend auf den Menschen, etwa wie jene ’Geistererscheinung’ auf dem bekannten Blatte des japanischen Malers Hokusai. (Rilke: Worpswede. Einleitung. In: Rilke KA IV: 308)

Die beiden Vorstellungen sind in Rilkes schriftstellerischem wie auch in seinem lyrischen Werk auch in zeitlich einander nahe liegenden Texten nebeneinander, einander ergänzend als die zwei Extreme eines dichterischen Naturverhältnisses vorzufinden. Bernd Stenzig rekonstruiert in seinem Artikel über die Monografie Worpswede zwei Argumente Rilkes, die die radikale Fremdheit der Natur gegenüber dem Menschen betonen. Das erste Argument könnte man als Kommunikations-Argument bezeichnen: „Das ganz Andere der Natur zeigt sich zum einen darin, daß sie den Menschen nicht wahrnimmt und nicht mit ihm kommuniziert [...].“ (vgl. Stenzig 2002: 111ff.) Laut Stenzig „zitiert und dementiert“ Rilke in diesem Argument zugleich die utopische Vorstellung von der Verbrüderung von Mensch und Natur. Das zweite Argument behauptet, dass die Natur sich auch den menschlichen Versuchen, Macht über sie zu gewinnen, entzieht. Stenzig kritisiert diese zweite Vorstellung aus dem Blickpunkt eines etwas naiv gesetzten, heutigen Betrachters: ... – [D]as ist eine Vorstellung, die nichts weiß und noch nichts wissen kann von einer Zukunft, in der der Mensch die Natur einerseits an den Rand der Zerstörung gebracht hat und andererseits zu ihrem ‚großen Herrn’ sich aufschwingt, der sie neu erfindet und damit auch den alten, auch für Rilkes Denken konstitutiven Gegensatz von Natur und Kultur zum Einsturz bringt. (Stenzig 2002: 111ff.)

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Diese Kritik hat meines Erachtens nur eine beschränkte Gültigkeit. Das Maß der Naturbeherrschung des Menschen ist durch die technologische Entwicklung des 20–21. Jahrhunderts radikal weiter gestiegen, aber aus dem anthropologischen Gesichtspunkt, den Rilke bereits im Aufsatz Worpswede vertritt, und den wir auch aus seiner wallisischen Dichtung herausarbeiten werden, ist die bisher gewonnene Herrschaft des Menschen über die (Natur)Landschaft, verglichen mit den allgemeiner gültigen Naturgesetzen, unbedeutsam: Was bedeutet es, daß wir die äußerste Oberfläche der Erde verändern, daß wir ihre Wälder und Wiesen ordnen und aus ihrer Rinde Kohlen und Metalle holen, daß wir die Früchte der Bäume empfangen, als ob sie für uns bestimmt wären, wenn wir uns daneben einer einzigen Stunde erinnern, in welcher die Natur handelte über uns, über unser Hoffen, über unser Leben hinweg, mit jener erhabenen Hoheit und Gleichgültigkeit, von der alle ihre Gebärden erfüllt sind. Sie weiß nichts von uns. (Rilke: Worpswede. Einleitung. In: Rilke KA IV: 309)

Für ein Denken in den konventionellen Begriffen der abendländischen Metaphysik sind Rilkes Schriften nur schwer zugänglich: „Hoheit und Gleichgültigkeit“ der Natur werden nämlich in einem Rahmen sprachlich-gedanklich erfasst, in dem auch der sehr früh konzipierter Gedanke Platz hat, dass der Mensch integraler Bestandteil der Natur ist. Die Integrität des Menschen mit der Natur wird aus der Hinsicht seiner Vergänglichkeit mehr als deutlich. Die Wandlungen von Rilkes Naturkonzeption sind Schattierungen und Akzente innerhalb einer Weltsicht, betreffen aber nicht „das ästhetische Einheitskonzept“10 – wie Torsten Hoffmann dies treffend formuliert.11 Den Sprung von dieser Schaffensphase um 1902 zum späten und spätesten Rilke kann der Leser leisten, wenn er die früheren Konzeptionen von Rilkes Naturbetrachtung nicht aus dem Sinn verliert; vielmehr ist es nützlich, sich diese als palimpsestartig überschriebene Variatio10

„Aufgegeben wird damit zunächst jedoch ’nur‘ eine Weltsicht, nicht aber das ästhetische Einheitskonzept. Für Rilke besteht die zentrale Aufgabe des Künstlers jetzt darin, die in der Wirklichkeit getrennten Sphären im Schein der Kunst zu vereinigen. Die Einheit von Mensch und Natur ist der Kunst also nicht mehr als Tatsache vorgegeben, vielmehr wird das Kunstwerk erst zum Medium, ’in welchem Mensch und Landschaft, Gestalt und Welt sich begegnen und finden‘.“ (Hoffmann 2009: 252). 11 „Während sich der zeitgemäße Künstler in ‚Moderne Lyrik‘ noch ’Eines fühlte mit allen Erscheinungen der Welt‘, ist nun die Rede von der ’erhabenen Hoheit und Gleichgültigkeit der Natur‘ gegenüber dem Menschen. Wie das genaue Gegenmodell zu seinen früheren Ansichten lesen sich Passagen [des Werkes Worpswede], in denen der Autor den Kontakt mit der Natur als eine irritierende Konfrontation mit ’dem Fremden, dem Unverwandten, dem Unfaßbaren‘ bezeichnet. […] Nicht Einheit, sondern Differenz und Distanz prägen nun Rilkes Naturvorstellungen.“ (Hoffmann 2009: 251f.).

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nen der Rilkeschen Naturbetrachtung vorzustellen. Der unwandelbare Kern der Konzeption ist ein Einheitsgedanke, den Rilke in seinem Werk immer wieder dichterisch (re)formulierte, der Gedanke von der Einheit von Leben und Tod. Eine kurze Widmung aus dem Jahr 1922 operiert mit der organischen Baummetapher (Widmung in einem Exemplar des „Cornets“ für Max Nußbaum. In: Rilke KA II: 788). Der Mensch wird hier als ‚Baum‘, als ‚Wein‘ und als ‚Feuer‘ symbolhaft figuriert, mit der Voraussetzung, dass er das eigene Wesen als Sterbliches im großen Zusammenhang der Natur wahrnehmen kann. Leben und Tod: sie sind im Kerne Eins. Wer sich begreift aus seinem eignen Stamme, der preßt sich selber zu dem Tropfen Weins und wirft sich selber in die reinste Flamme. (Rilke KA II: 286)

Die Natur- und Todesästhetik Rilkes wäre jedoch ästhetisch uninteressant, wenn sie nur diese beruhigende Meinung ausdrücken würde. Der beunruhigende Aspekt des Themas kommt in der Form der gleichmütigen Natur in den späteren Zusammenhängen zu einer erneuten Anwendung und Tragweite, zum Beispiel in den einzelnen Stücken des Zyklus „Im Kirchhof zu Ragaz niedergeschriebenes“. Der Gedanke von der Einheit von Leben und Tod im größeren Zusammenhang der Natur mischt sich hier mit der rationalen Unvorstellbarkeit ihrer ‚Hoheit und Gleichgültigkeit‘ angesichts der Erfahrungen menschlichen Leidens. Wir könnten wissen. Leider, wir vermeidens; verstießen lange, was uns nun verstößt. Befangen in den Formen unsres Leidens, begreifen wir nicht mehr, wenn Leid sich löst und draußen ist: als blasser Tag um Schemen, die selber nicht mehr leiden, sondern nur gleichmütig mit der schöpfenden Figur, das Maß des herrenlosen Leidens nehmen.

„Wir könnten wissen.“ Gegenstand dieses Wissens wäre die oben genannte, organische Einheit: „Leben und Tod: sie sind im Kerne eins.“ Die gleichmütige Umgebung, die zugleich Natur- und Kulturumgebung darstellt, zeigt eine seltene Form von sympatheia mit dem menschlichen Leiden: „wenn Leid sich löst // und draußen ist.“ Wenn der Mensch seinem eigenen Leiden gegenüber gleichgültig bleiben könnte, könnte er erleben, wie die Natur dieses Leiden in sich aufnimmt: also sympatheia zeigt. Wie sind aber Gleichmut und sympatheia der Umgebung miteinander vereinbar?

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Der Ort der Abfassung, der Kirchhof zu Ragaz stellt einen traditionellen, um die Kirche des Ortes lokalisierten Friedhof dar. Diese Tatsache prägt auch die Titelgebung des Zyklus. Bereits das erste Stück, das den kleinstmöglichen Gegenstand, einen Falter zum Mittelpunkt seines poetischen Aufbaus macht, gibt preis, dass der bedichtete Ort der Friedhof ist. Der Falter trinkt „aus den Blumen der Trauer, / die vielleicht unerschöpflicher sind...“. Die Verwurzelung der Pflanzen im Boden, in einer „Unterwelt”, die sich mit dem physikalischen Körper der Toten mischt, ist in diesem Gedicht in seiner widerlichen Konkretisierung mitgedacht. Nicht das Widerliche als Stilmittel ist es aber, was diese Metapher motiviert. Wie auch das zweite Stück, Toten-Mahl ist womöglich auch dieses Bild von der „Unterwelt“ in Rilkes Schuler-Erlebnis verwurzelt. Tatsache ist, dass Rilke 1915 in einem Brief an Marie von Thurn und Taxis von einem Vortrag – gehalten von Alfred Schuler in München – berichtet, an dem er teilgenommen hat. Der Ton des Berichtes an die Herzogin zeugt davon, dass Rilke vom Gehörten sehr bewegt war. Schuler, „der seltsame Sonderling“ hielt einen Vortrag, über dessen Inhalt der Brief berichtet: „[S]tellen Sie sich vor, dass ein Mensch, von einer intuitiven Einsicht ins alte kaiserliche Rom her, eine Welterklärung zu geben unternahm, welche die Toten als die eigentlich Seienden, das Totenreich als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere kleine Lebensfrist aber als eine Art Ausnahme davon darstellte…“ (Rilke 1950: 566). Diese Sicht beeinflusste und motivierte Rilkes Ästhetik nachhaltig, da sie den Einheitsgedanken von Leben und Tod bekräftigt. Im Gegensatz zu Schuler wird aber Rilke nicht Richtung eines Todeskults, vielmehr in die Richtung einer eigenartigen Lebensästhetik bewegt. Im dritten Stück bieten Lichteffekte – „das unbeschreiblich mitwirkende Licht“ – die Anregung zum Vergleich, in dem der Mensch bei den Toten genauso „in ein ausgespartes Licht gestellt, / langsam schwankend“ erscheint, wie die „hohe Glockenblume“ im Kirchhof. Die teils naturgegebenen, teils menschlich gemachten Dinge (Grabsteine, Kindergrab mit dem Ball) und „Figuren“ (Falter, Glockenblume) des Kirchhofs nennt das Gedicht „Schemen“. Man kann hier an Silhouette denken, die durch die besonderen Lichteffekte verursacht worden sind, aber die andere Bedeutung des Wortes (‚Gespenst‘) schwingt unvermeidbar und – denkt man an den Schuler-Einfluss Rilkes – auf wesentliche Weise mit. Die „Schemen“ funktionieren hier als ästhetisch-sensuelle Gegenstände, die den Gleichmut des Todes objekthaft ausdrücken. Dieser Gleichmut der Abwesenden und der Abwesenheit im Tod wird den im Leben erfahrenen Leiden gegenübergestellt. Es handelt sich hier um eine Gegenüberstellung, die im EinheitsGedanken („Leben und Tod: sie sind im Kerne eins.“) verwurzelt den logischen Widerspruch im Vorhinein ausschließt. Genau diese Gegenüberstellung gipfelt in den zwei Gedichten IV und V. Das vierte Stück verhindert systematisch eine Lesart, die eine einfache In-

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nen-Außen-Struktur vor Augen hätte. Die Lichteffekte und friedhöfliche Figuren sind in einem hohen Grad mit dem Einheits-Gedanken verwoben dargestellt. In diesem „Licht“ sind die Blumen-Verwurzelung in die Körper der Toten und die Geisterseherei ebenfalls verständlich. „Befangen in den Formen unsres Leidens“ sind Lebende schuldig, dass sie die Lösung ihrer Leiden (immer sogleich konkret verstanden, wie die Lösung des Pulvers im Wasser, wie auch abstrakt als Loslösung von dem eigenen Leiden) im Draußen (in der physischen Umgebung) nicht als Er-lösung entgegennehmen können. Es ist einer solchen Unfähigkeit der Lebendigen zuzuschreiben, wenn sie „die ruhige Waage des Todes“ nicht schätzen können.12 Eine Umkehrung könnte geschehen – und vollzieht sich sprachlich-sensuell in einem Bild des V. Gedichts im Zyklus –, wenn man die „Gewichte des Gleichmuts“ für sich brauchbar machen könnte. So „glänzen“ sie jedoch „geordnet“ und „ungebraucht” neben der Waage des Todes. Der Gedanke des Todesgleichmuts, der zugleich den Gleichmut der Natur bedeutet, hat also den ihn denkenden Menschen überfordert. Der Mensch scheitert an dem tröstenden Gedanken der Einheit von Leben und Tod, weil der andere, der schwierigere Gedanke in seiner Menschennatur kaum „löslich“ ist. Deshalb „glänzen“ die „Gewichte des Gleichmuts“, das Gewicht eines viel zu schweren Gedankens, „geordnet“ und „ungebraucht“. Der Gleichmut des Todes, der hier als Figuration der äußeren, friedhöflichen Natur dargestellt wird, erscheint an dieser Stelle als Indifferenz gegenüber den Schmerzen und den Leiden, die das anthropologisch-allgemeine Subjekt im Angesicht seiner Sterblichkeit erfährt. In der schwer zu verarbeitenden „Hoheit und Gleichgültigkeit“ der Natur, die durch die Erfahrung des Todes – als Einbruch der Naturgesetze in das Menschenleben – gipfelt, kann man einen konstanten Punkt im Textzusammenhang der spätesten Gedichte orten. Der Gleichmut der Dinge und Erscheinungen, der die kosmische Indifferenz einer nach widersprüchlichen Gesetzen ordnenden Natur ausdrückt, ist das poetische Thema, das Rilkes späteste Gedichte als Naturgedichte in einem neuen, spezifischen Sinne vereinigt. Mitzudenken ist aber zugleich die Tatsache, dass die Naturgedichte Rilkes aus einer Poetik der Naturbetrachtung heraus entstehen, die die Kunst als zweite Natur „aus Menschlichem gemacht“ interpretiert. 12

„Der Mensch ist dagegen als der vorsätzlich Sichdurchsetzende in das Schutzlossein gewagt. Die Waage der Gefahr ist in der Hand des so gewagten Menschen wesenhaft ungestillt.“ (Heidegger 1994: 289). Die komplexe, seine eigene Spätphilosophie an wesenhaften Stellen berührende Deutung Martin Heideggers über Rilkes „gültige Dichtung“ (d. h. ungefähr die Duineser Elegien, die Sonette an Orpheus und einige ausgewählte späte Gedichte) kann hier nicht eigens erörtert werden, da sein Kommentar in Form einer Meta-Auslegung das Format einer eigenen Abhandlung annehmen würde.

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Anna Zsellér Das Kunst-Ding kann nichts ändern und nichts verbessern; sowie es einmal da ist, steht es den Menschen nicht anders als die Natur gegenüber, in sich erfüllt, mit sich beschäftigt (wie eine Fontäne), also, wenn man es so nennen will: teilnahmslos. Aber schließlich wissen wir ja, daß diese zweite, zurückhaltende und von dem sie bestimmenden Willen zurückgehaltene Natur gleichwohl aus Menschlichem gemacht ist, aus den Extremen des Erleidens und Freuens–, und hierin liegt der Schlüssel zu jener Schatzkammer unerschöpflicher Tröstung, die im künstlerischen Werk angesammelt erscheint und auf die gerade der Einsame ein besonderes, ein unaussprechliches Recht geltend machen darf. (Rilke an Lisa Heise am 02.08.1919. In: Rilke KA IV: 1050)

„In sich erfüllt, mit sich beschäftigt“ sind auch die „Schemen“ des Kirchhofs zu Ragaz. Infolge der Verwandlung in das sprachliche Kunstwerk sind sie ein „Draußen“, das aber nur im Rahmen einer transzendental gedachten und wirkenden Raumpoetik verständlich ist.13 Mit Rilkes Bestrebungen zur poetischen Schau von allgemeinen Naturgesetzlichkeiten, und mit seiner Bestrebung, diesen „gleichmütig“ wirkenden Naturgesetzen, die ohne die humane Möglichkeit einer Ausdeutung bleiben, dichterisch trotzdem einen paradoxen Sinn zu verleihen, kann durch die Analyse von Texten Raoul Schrotts eine zeitgenössische Parallele gezogen werden. Diese Parallele versuche ich im Folgenden aufzuzeichnen.

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Raoul Schrott: Gegen die Indifferenz der Natur dichten

Das Thema der indifferenten Natur konstituiert den Mittelpunkt der poetischen Reflexion des Bandes Tropen durch die voran- und nachgestellten reflexiven Prosaschriften Inventarium I und Inventarium II. Durch eine quasiwissenschaftliche Beschreibung versuchen diese komprimierten Essays zugleich einen Umriss und eine Rechtfertigung der immanenten Poetik der Gedichte im Band Tropen zu geben. Nach der Beschreibung der algerischen Wüste stützt sich der Autor auf eigentümliche Weise auf und distanziert sich zugleich von den auch als literarisches Vorbild gelesenen Schriften Charles Darwins. Der Sinn ihrer beider Bestrebungen zur Erfassung eines (literarischen) Gesichts der Landschaft entwickelt das Inventarium zunächst parallel, dann aber in diametral gegensätzliche Richtungen:

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Über die ’Transzendentalität’ dieser Raumpoetik spreche ich in meiner Dissertationsschrift ausführlicher.

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In den Impressionen eines sublimen und majestätischen Urwaldes, wie sie Darwin in der „Reise um die Welt“ beschrieb, in seiner feindlichen Unzugänglichkeit, die jener der Wüste auf ihre Weise entspricht, ist die Natur allein auf sich gestellt, als wollte sie demonstrieren, wie offen die Erde eigentlich zu Tage liegt und wie ausgesetzt sich das Leben darauf findet. Zwischen den Polen des Organischen und des Anorganischen vollzieht sich so auch noch ein anderer Kreislauf, der in seinen Extremen am Äquator und den ihn einfassenden Wendekreisen kulminiert. / Landschaften feindlich und unzugänglich zu nennen, heißt bereits, sie unter einem humanen Blickwinkel zu denken; doch wenn die Natur einer ist, dann indifferent. (Schrott 1998: 8)

Was bei Rilke als ‚Hoheit und Gleichgültigkeit‘ der Natur im Aufsatz Worpswede zum ersten Mal erscheint, wird von Raoul Schrott an dieser Stelle in die ästhetische Reflexion einbezogen. Als eigentliche Bedingung des Ausdrucks einer fundamentalen Gleichgültigkeit zwischen Mensch und Natur wird die „Hoheit“ (das Sublime, das Erhabene) angegeben. Um diese Gleichgültigkeit trotzdem irgendwie faßbar zu machen, müßte man imstande sein, von den Kategorien des menschlichen Denkens zu abstrahieren. Da uns aber kein anderer Ausgangspunkt zur Verfügung steht, wird sie uns eigentlich nur als Differenz bewußt – darin besteht das Paradoxon, dem man mit dem Begriff des Erhabenen Ausdruck zu verleihen sucht. […] Das Erhabene ist so letztlich Ausdruck einer existentiellen Haltung, die immer wieder an der Unantastbarkeit der Natur scheitert, eine Haltung, die sich gerade an diesem unüberwindlichen Bruch orientiert – das wäre die knappste denkbare Annäherung. Und sie gilt zugleich auch für das Gedicht, das die Topographie des Erhabenen mit dem Raster seiner Tropen entwirft.

Das Erhabene wird als die Differenzvorstellung zwischen Mensch und Natur erkannt; es ist eine gefährliche Gratwanderung, ein „Ausdruck einer existenziellen Haltung“, möchte man sich im Bereich dieser „Kategorie“ aufhalten – behauptet der Text. Die ästhetische Kategorie des „Erhabenen“ stand für den Literaturwissenschaftler Schrott zur Verfügung, deren reflektierte Form er im Inventarium II an den Beispielen von Pseudo-Longinus, Burke und Kant ausbuchstabiert. Das ausgesprochen Neue an seiner Position besteht in der Verbindung der Dichtung mit dem naturwissenschaftlichen Blickwinkel:14 Die ästhetische Ent-

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„If the collection [Tropen] can be said to have a thesis, it posits a profound complementarity between science and poetry. But aside from some historical poems, the science represented in the collection is a very particular science. It is emphatically that of the Goodalls’ Third Science – ushered in by the Copenhagen statements of 1927 – where the

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wicklungsgeschichte des Begriffs vom Erhabenen wird mit der wissenschaftsarchäologischen Beschreibung einer „physikalischen Optik“ gekreuzt. Die „physikalische Optik“ kann als Metapher für die Betrachtungsweise der Tropen-Gedichte gelesen werden: Als Metapher für die Herausdifferenzierung einer Poetik, die bereits über die eigene Sprachlichkeit und über die Voraussetzungen einer (dichterisch-wissenschaftlichen) Erkenntniskritik aufgeklärt ist. Als Entwurf negiert Schrotts Erhabenes eine vormoderne Auffassung vom Erhabenen, die metaphysische Jenseitsvorstellungen (Ewigkeit, Gott, Todesreich, etc.) impliziert. Über die eigentliche Bildebene hinaus, waren sich die Orthogonalen des Sublimen [früherer Zeiten] eines Fluchtpunktes im erahnbaren Jenseits sicher. Was eine moderne Definition [des Erhabenen] jedoch betrifft, so bleibt dieser Blickwinkel ausgeklammert. Eine Zentralperspektive besteht nicht mehr, die Projektionslinien verlaufen parallel und schneiden sich nur, weil es dem Auge und dem Kalkül der Mathematik so erscheint. Die Leerstelle dahinter skizzieren die Naturwissenschaften, die Lichtstrahlen aufeinanderprallen lassen, bis dabei Materie entsteht, ein sich ewig weiter ausdehnendes Universum prognostizieren und aus dem Nichts sich bildende Elementarteilchen errechnen. (Schrott 1998: 212)

Die Welt existiert nunmehr im Auge des Betrachters und manifestiert „sich bei jedem Blick andersartig“ (Schrott 1998: 10), was auch bedeutet, dass das Lesen des Gedichts als Voraussetzung enthält, dass man das sprachliche Kunstwerk als „Ort“ der Entstehung einer (jeweils neuen), nicht mehr im früheren Sinn objektivierbaren Dinghaftigkeit wahrnimmt. Die Erstrebung dieser neuen Dimensionen des „Objekthaften“, aber eigentlich nie in seiner Objekthaftigkeit fassbaren Gegenübers trägt auch eine Paradoxie, wie Wendy Skinner sie im Zusammenhang mit der Ästhetik Raoul Schrotts bereits formulierte: Der Begriff des Erhabenen strukturiert die Natur in die für den Menschen fassbare Natur seines subjektiven Blickwinkels (schöne oder hässliche Weltphänomene) und die unfassbare Natur, die ‚per definitionem’ nicht zu beschreiben ist (Erhabenheit). Das Ergebnis hat jedoch weiterhin dualistischen Charakter: die Natur, die wir kennen, und die Natur, die uns verborgen bleibt. In diesem Sinn verweist Schrotts Theorie des Erhabenen selbstironisch auf etwas, das gerade durch keine Theorie zu fassen ist. (Skinner 2007: 19)

Man kann aber keineswegs davon ausgehen, dass der hier rekonstruierte, paradoxe Mechanismus der poetischen Reflexion mit dem Produktionsschema der Geapparent hierarchies and certainties of classical science have dissolved into the esoteric uncertenties of quantum mechanics and relativity.” (Leeder 2002: 150).

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dichte deckungsgleich ist. Was der Theoretiker Raoul Schrott betont (die paradoxe Unannäherbarkeit der Natur mit der Sprache), wird in dem durch das Gedicht verwirklichten Erhabenen als ein einigermaßen „gezähmtes“ Paradoxon erscheinen. In der künstlerischen Sprache wird die radikale Fremdheit der Natur als teilweise überwunden konstruiert. Was demnach durch die selbstironische Theorie nur der Gegenstand einer paradox-unmöglichen Beschreibung sein kann, realisiert sich im selbstreflexiven Vollzug des Gedichts. Betrachten wir eines von vielen Beispielen für den Mechanismus einer lyrisch angewandten „physikalischen Optik“ von Raoul Schrott, wie sie das Phänomen des Erhabenen angesichts einer Morgendämmerung darstellt. Physikalische Optik V die pinien auf dem fels lodern schwer auf in grünen schwaden · dann ist das meer ein ölgetränkter fetzen stoff von dem die gischt sich ihre streifen reißt während das wasser gegen den geradelauf der sonne zurück zur hafenmauer brennt ein tanker unter der brücke einer dämmerung · es greift über auf die gestapelten stämme der wolken und wirft ihre schatten tief in den osten · eine wand die langsam aus dem blick wächst je weiter alles ins rutschen kommt · es ist als sähe man die erde in der drehung feuerfangen und in ihrem blaken in die nacht auch den umriß eines armes einer hand – eos der mythos ist genauer noch als die metrie von sphären die mit ihren trajektorien den untergang der erde zeichnet · ein sich anders in die leere sagen · vergleiche die sich unmerklich zur figur verschieben · vom anfang abgelenkt streut das licht bis es zu bildern bricht – den hologrammen einer ohnmacht camoglie, 28. 07. 96

Die ersten drei Strophen des Gedichtes Physikalische Optik V beschreiben das in der vierten Strophe genannte „feuerfangen“ der Erde in einzelnen Erscheinungen. „[D]ie pinien [...] lodern auf“; „das wasser [...] brennt“; „es greift über auf die [...] wolken“. Die Morgendämmerung wird für das Gedicht auf eine Weise

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neu entworfen, die diese Erfahrung aus einem speziellen Blickwinkel analysiert, später aber durch Vergleiche mit verschiedenartigen Erfahrungen relativiert wird. Das neuzeitliche, kopernikanische Wissen um die „drehung der erde“ kann nicht verhindern, dass der antike Mythos von Eos, von der Göttin der Dämmerung, die aus dem Meer hinaufsteigt, durch das verfeinerte Wahrnehmen wiederbelebt, das heißt wieder wahrgenommen wird („auch den umriss eines armes einer hand“). Die Anthropomorphisierung des Dämmerungsvorgangs, die durch den Mythos geleistet wurde, kann aus dem Bild deshalb nicht ausgespart werden, weil die Genauigkeit der Beschreibung durch das Negieren des Menschlichen nichts an Glaubwürdigkeit gewinnt. „[D]er mythos ist genauer noch als die metrie von sphären“ – die naturwissenschaftliche Darstellung von Morgendämmerung beschreibt das Phänomen auch nicht „besser“, als die antike Darstellungsweise es tat. Schrott schließt die Möglichkeit einer Objektivierung auf diese Weise prinzipiell aus. Das Gedicht behauptet implizit, dass der Mythos und die Wissenschaft beide nur ein beliebiges Bild unter zahlreichen möglichen Bildern über dieselbe Sache bieten. Keiner der beiden Zugänge haben einen Vorrang und sie sind im gleichen Maße gültig. Die Poesie ist mit diesen beiden Bereichen (Mythos und Wissenschaft) verwandt, indem sie das beschreibende Subjekt nicht ins Bild rücken lässt. Die sprechende Stimme, das Medium des Mythos oder der Betrachter des Phänomens sind angesichts der Erhabenheit der Natur letztlich beliebig: „ein sich anders in die leere sagen“. Der Betrachter hat mit dem majestätischen Bild der Morgendämmerung nichts gemeinsam, sie steht ihm indifferent gegenüber. Weder der Betrachter noch die so (dämmernd) wahrgenommene Natur zeigen irgendeine Form der ‚sympatheia‘ füreinander. Mag der Anfang der Dämmerungserscheinung eine Möglichkeit zur (psychischen) Erschütterung bieten („vom anfang abgelenkt streut das licht / bis es zu bildern bricht“), erfolgt die „Ablenkung“ von einem möglichen psychischen Nebeneffekt dennoch schnell. Die anfängliche Illusion einer Einheitsdarstellung des Phänomens „Morgendämmerung“ zerbricht, indem der Schreiber die einzelnen Phänomene sprachlich feststellt und dazu die verstreichende Zeit benötigt. Die Zeit treibt das Beschriebene zugleich voran und vernichtet es letztendlich. Als Abwehr gegen dieses allmähliche Verschwinden wird die im 20. Jahrhundert erfundene technologische Methode der Holografie mit der Gebärde der Hoffnungslosigkeit heraufbeschwört („hologramme einer ohnmacht“). Im Zug der Anfertigung eines Hologramms werden die von einem Objekt kommenden Lichtstrahlen so fixiert, dass das belichtete Objekt in seiner Abwesenheit für ein optisches System (für die menschlichen Augen oder für eine Kamera) wieder dreidimensional erscheinen kann. Die ‚Optik‘, die die Dämmerung fixiert, ist eine sprachliche. Die Sprachlichkeit wird in diesem Gedicht Raoul Schrotts explizit in der letzten Strophe thematisiert („vergleiche die sich unmerklich zur figur / verschieben“).

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Das Gedicht bietet ein Beispiel für die nur paradox mögliche Beschreibung eines erhabenen Naturphänomens, wobei auch die wichtige These des Begleitessays demonstriert wird: „Eine Zentralperspektive besteht nicht mehr, die Projektionslinien verlaufen parallel und schneiden sich nur, weil es dem Auge und dem Kalkül der Mathematik so erscheint.“ (Schrott 1998: 212) Das sprachliche Kunstwerk wurde sowohl bei dem spätesten Rilke als auch bei Schrott im Zeichen der indifferenten Natur konzipiert. Solange aber bei Rilke der Versuch gemacht wird, diesen Gleichmut mit dem Gleichmut des Gedichts auszugleichen und den Menschen zu „trösten“, sind Schrotts Inventarien und das oben vorgestellte Gedicht darum bemüht, den Menschen schon im Vorhinein über die Indifferenz der Natur aufzuklären, um bei dem Leser eine ähnliche Indifferenzeinstellung zu erzielen.

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Literatur

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Medeas Erlösung? Überlegungen zu Christa Wolfs Medea. Stimmen

Im Laufe der wissenschaftlichen Diskussion um den Roman Medea. Stimmen von Christa Wolf (1996) sind zahlreiche Beiträge veröffentlicht worden. Die manchmal heftigen Debatten über die Art und Weise der Bearbeitung des Medea-Stoffes sind wegen der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten des Textes zustande gekommen. Dank Büchern wie Marianne Hochgeschurz' Christa Wolfs Medea – Voraussetzungen zu einem Text oder Christa Wolfs Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra bietet sich die Möglichkeit, mehr über die Entstehungsgeschichte des Romans und die ursprüngliche Intention der Autorin zu erfahren. Wolf äußert sich unter anderem über die Aufgabe und die Rolle der Literatur: „Die Ästhetik, sage ich, ist, wie Philosophie und Wissenschaft […] zu dem Zweck erfunden, sich die Wirklichkeit vom Leib zu halten, sich vor ihr zu schützen, wie zu dem Ziel, der Wirklichkeit näher zu kommen.“ (Wolf 2008a: 150) Diese Wirklichkeit und auch die Wahrheiten, die die Autoren, Künstler vermitteln wollen, seien aber immer subjektiv. Nach ihrer Meinung sei jede Form künstlerischer Aussage der „Selektion“ (Wolf 1987a: 926) unterworfen. Was man aber für „wahr“ hält, schließt andere „Wahrheiten“ aus. So wird Literatur für Christa Wolf zu einem Vermittlungsmittel für Vertreter bestimmter Gesellschaftsschichten, das jede alternative Denkweise übertönt (Wolf 1987a: 926). Diese Gedanken gelten als mögliche Antwort auf die Frage, warum Christa Wolf „das Recht“ hatte, an einem Mythos, der seit Euripides zahlreiche Bearbeitungen erlebt hatte, und an deren bisher für grundsätzlich gehaltenen Motiven Änderungen durchzuführen. Nach der Ansicht des ungarischen Mythenforschers Karl Kerényi ist „[d]as Urphänomen Mythos […] eine Bearbeitung der Wirklichkeit. Keine abgeschlossene Bearbeitung! […] Abgeschlossen wäre der Mythos tot und nicht der Mythos.“ (Kerényi 1967: 240) Obwohl Christa Wolf den Medea-Mythos aus einer neuen Perspektive betrachtet, setzt sie ihn damit fort und hält ihn lebendig. Ellen Biesenbach und Franziska Schößler meinen auch, dass Christa Wolf mit ihrem Roman den Medea-Mythos „nicht einfach in eine ganz andere Geschichte umschreibt, was unhistorisch wäre, sondern ihn als Mythos aufgreift, ihn thematisiert und reflektiert, ohne in seinen Strukturen gefangen zu bleiben.“ (Biesenbach/Schössler 1988: 49).

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Die größte Änderung am Mythos wird durchgeführt, indem Christa Wolf ihre Protagonistin nicht mehr als Kindermörderin oder Mörderin ihres Bruders Absyrtos darstellt. Sie „erlöst“ damit Medea von einem Stempel, der sie mehr als 2500 Jahre lang bestimmte. Dass sie ihre Kinder tötet, wird auf folgende Weise beschrieben: Das konnte ich nicht glauben. Eine Heilerin, Zauberkundige, die aus sehr alten Schichten des Mythos hervorgegangen sein musste, aus Zeiten, da Kinder das höchste Gut eines Stammes waren und Mütter, eben wegen ihrer Fähigkeit, den Stamm fortzupflanzen, hoch geachtet – die sollte ihre Kinder umbringen? – Wie immer, wenn man konzentriert mit einer Frage beschäftigt ist, hilft einem der Zufall; mir verhalf er zu der Verbindung mit einer Altertumswissenschaftlerin in Basel, die unter anderem den Medea-Sarkophag des dortigen Museums betreut mir den von ihr geschriebenen Medea-Artikel aus dem Lexikon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) zuschickte, aus dem hervorgeht, dass erst Euripides der Medea den Kindermord zuschreibt, während andere, frühere Quellen Rettungsversuche der Kinder ins Heiligtum der Hera bringt, ,wo sie sie geschützt glaubt, doch die Korinther töteten sie.‘ (Wolf 1998a: 15)

Der Roman Medea. Stimmen ist durch einen sowohl politischen, als auch gesellschaftlichen Kontext seiner Entstehungszeit geprägt, 1 in dieser Arbeit wird das aber nicht thematisiert. Hier wird zunächst bezüglich der Narratologie die multiperspektivische Erzählweise thematisiert, ferner auf den Gender-Aspekt der Geschlechter eingegangen, in dessen Rahmen auch die Täter-Opfer- bzw. Subjekt-Objekt-Rolle als Projizierungs- und Funktionalisierungsgegenstand der Macht untersucht. Christa Wolf lässt die Erzählung von sechs Stimmen in elf Monologen vortragen. Warum die Autorin diese Erzählweise gewählt hat, erklärt sie im Folgenden: Diese für mich neue Form hat sich aus Versuchen mit anderen Erzählweisen herausentwickelt. Erst spät hörte ich dann diese Stimmen und sah, dass sich mir dadurch eine Möglichkeit eröffnete, ein Erzählgewebe herzustellen, in dem jede der Figuren literarisch zu ihrem Recht kommt, in dem auch Medea von verschiedenen Seiten gesehen werden kann, in ihrer Widersprüchlichkeit. So kann ich es vermeiden, sie als ungebrochene Heroine darzustellen. (Wolf 1998b: 52)

Im Roman weben sechs Figuren durch ihre verschiedenen Sichtweisen ein Netz von Beziehungen, evozieren verschiedene Wirklichkeitsebenen, transportieren 1

Hier wird erstens an die Wiedervereinigung und an das Verhältnis Ost- und Westdeutschlands gedacht.

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die Handlung und ergeben zusammen die Geschichte. Es ist also keine Vermittlung einer Erzählfigur vorhanden, nur die Figuren sprechen, und sogar für sich selbst. Diese Art von Annäherung an die dramatische Sprache bewirkt eine größere Authentizität: Die Rede bewegt sich im Erfahrungshorizont des Aussagesubjekts, sie bleibt stets figurengebunden, d. h. die Ich-Perspektive ist zwangsläufig subjektiv. Christa Wolf eröffnet mehrere Stimmen, um die Subjektivität zu entschärfen, die Ich-Perspektive zu relativieren. Diese Vielstimmigkeit erzeugt einen kommunikativen Raum, in dem die einzelnen Stimmen in eine dialogische Beziehung zueinander treten. Das sind eben die Merkmale eines multiperspektivischen Erzählens. Wie es im Buch von Ansgar und Vera Nünning Multiperspektivisches Erzählen zu finden ist, Multiperspektivität oder multiperspektivisches Erzählen könne als eine Form der narrativen Vermittlung definiert werden, bei der ein und derselbe Sachverhalt aus zwei oder mehreren Sichtweisen bzw. von individuellen Standpunkten unterschiedlich dargestellt wird. Der Perspektivenbegriff beziehe sich also auf die jeweils individuelle Wirklichkeitssicht der fiktiven Gestalten (Figuren und Erzählinstanzen) in narrativen Texten. Demzufolge habe ein Roman nicht eine bestimmte Erzählperspektive, sondern präsentiert vielmehr ein Ensemble von Figurenperspektiven (Nünning/Nünning 2000: 13). Die Montage verschiedener Sprachen bedingt den dialogischen und polyphonen Charakter des Romans. Die unterschiedlichen Sprachen grenzen sich durch die ihnen eigenen Wert- und Normvorstellungen voneinander ab. Wie Michael Bachtin feststellt, ist jede Stimme „ein Standpunkt, ein sozioideologischer Horizont realer Gesellschaftliche[r] Gruppen und ihrer Repräsentationen“ (Bachtin 1979: 290). Sie steht also für eine bestimmte Art der Wirklichkeitskonstruktion, durch die sie sich von anderen unterscheidet, andere ergänzt, ihnen widerspricht oder dialogisch auf sie bezogen ist. Die stilistische Besonderheit des Romans besteht in diesem Fall darin, dass er nicht als direkte Umsetzung der ‚Stimme‘ des Autors zu verstehen ist, sondern eine Vielzahl von Stilen, Reden, Stimmen und Sprachen umfasst, die ihn zu einem dialogischen, polyphonen Gebilde machen.2 Zudem zeigt dieses Verfahren, dass es eine unvermittelte Wiedergabe des Wirklichen nicht gibt, sondern nur subjekt- und perspektivenabhängige Beobachtungen und Versionen. Marie-Luise Erhard stellt fest: Damit wird in der Aussageform ein markantes, polyperspektivisches Geflecht wechselnder Subjektivitäten erzeugt, die je einzelne Wirklichkeiten ermitteln, insgesamt jedoch die Erkenntnis des „wahren“ Geschehens, d.h. der „Wahrheit“ der 2

Es gibt bei Bachtin eine unklare Umsetzung zwischen Autor und Erzähler, Stimme und Rede, sowie keine klare Definition der Begriffe ‚Polyphonie‘ und ‚Dialogizität‘.

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Marcell Grunda Medea erlauben. Wir können uns so –gewissermaßen „objektiv“ mit dem Standpunkt und Erfahrungshorizont des Opfers identifizieren. (Erhardt 2000: 34)

Dementsprechend argumentiert auch Christa Wolf auf folgende Weise: Ich brauchte ein Ensemble, aus Männern und aus Frauen bestehend, deren jeder und jede ernst genommen wird, das Medea ergänzt, in Frage stellt, das geeignet Seiten und Eigenschaften zum Klingen zu bringen […] (Wolf 1998b: 53).

Durch die Verwischung von verschiedenen Sprachpositionen ermöglicht die Autorin die Erzeugung der Heterogenität ihrer Figuren. Zum anderen tendieren die Romancharaktere zu einer Verbalisierung ihrer Subjektivität, das heißt, ihre Weltanschauungen werden vor allem durch ihr Sprechen mitgeteilt. „Der grundlegende spezifizierende Gegenstand der Romangattung […] ist der sprechende Mensch und sein Wort.“ (Beyer 2007: 220). Die Schriftsteller vor Christa Wolf haben die der Figur Medea zugeteilte Sünde (den Brudermord, Kindsmord und die Ermordung der zukünftigen Braut Jasons, Glauke) entweder verurteilt oder unter den gegebenen Umständen als zumindest teilweise nachvollziehbar dargestellt (Atwood 1998: 70). Solange Medea in früheren Bearbeitungen aus Zorn, Rachsucht oder verletztem Ehrgefühl ihre schreckliche Tat durchführte, werden ihr diese Motive bei Wolf genommen. Ihre Liebe gegenüber Jason wird im Roman relativiert und vielschichtig dargestellt. Am Anfang ist Jason für sie ein Mittel zum Zweck, vor dem blutbeladenen Kolchis zu fliehen. Wie es Margaret Atwood herausstellt, „[ist] Medea keine Sklavin sexueller Leidenschaften.“ (Atwood 1998: 72) Medea hat also eindeutig ihre eigene Stimme und wird als eine charakterstarke, selbstbewusste und intelligente3 Figur dargestellt. Korinth aber ist mit Christa Wolfs Worten „durchpatrialisiert“ (Wolf: 1998b: 50). Die „Frauen spielen dort keine bestimmende Rolle mehr, sie sind keine selbstbestimmten Menschen mehr.“ (Wolf: 1998b: 50) Medea sagt einmal: „Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere.“ (Wolf 2008b: 18) Die Position der Korintherinnen in ihrer Heimstadt ist in jeder Beziehung untergeordnet, was sie akzeptieren. Als Oberstes Gebot für die Frauen gilt, sowohl in ihrem Aussehen, als auch in ihrem Verhalten, möglichst unauffällig zu bleiben.4 Medea passt aber nicht in dieses Bild. Sie ist nach Evelyn Berger „ein außerhalb der geordneten Welt stehendes Wesen“ (Berger 2007: 102). Sie stammt aus einem Stadtstaat, „in dem noch matriarchale Verhältnisse erinnert werden.“ (Wolf 1998b: 50) Kolchis und Korinth sind bei Christa Wolf Über3 4

Ihr Name bedeutet: „den guten Rat Wissende”. In: Wolf 1998b: 55. Sie müssen z.B. ihr Haar binden, um kein Aufsehen zu erregen. In: Wolf 2008b: 72.

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gangsgesellschaften zwischen Matriarchat und Patriarchat. Medea ist die oberste Heilerin in Kolchis und deshalb begegnen ihr die Mitbürger mit höchster Achtung und Ehrerbietung (Wolf 2008b: 187). Medeas Verhalten ist eine Regelverletzung für die Korinther. Ihr Benehmen ist subversiv, es untergräbt die griechische Ordnung, weil es zeigt, dass geschlechtsspezifisches Verhalten nicht gottgegeben und unabänderlich ist, sondern eine kulturelle Übereinkunft, die zwischen den Geschlechtern ausgehandelt werden kann. Medea wird aus diesem Grund in Korinth eine Projektionsfigur für inkommensurable, nicht integrierbare Bestandteile und somit eine sich definitiv draußen befindliche Andere. Wie es Inge Stephan auch sagt: „Medea repräsentiert das Andere“ (Stephan 1997: 203). Das Andere und das Fremde ruft Ängste hervor. Medea gefährdet die Korinthische Ordnung, und deshalb wird die Konstruktion ihres Fremdseins von der Macht funktionalisiert. Dadurch wird sie zum Objekt gemacht. Die Figur Akamas, der der erste Astronom und der Ratgeber des Königs ist, verfügt über die eigentliche Macht durch die Manipulation des Königs, und repräsentiert dadurch selbst die Macht. Er erklärt Medea, wie Korinth „funktioniert“. Er sagt, dass „das Wohlleben meiner lieben Korinther direkt davon abhängt, dass sie sich für die unschuldigsten Menschen unter der Sonne halten können.“ (Wolf 2008b: 187) Dafür sind immer wieder Sündenböcke nötig, und das weiß Akamas auch. Dafür ist Medea sehr geeignet. Ihr ganzes Wesen ist für Korinth sowieso eine Art Provokation. Medea ist nie mit, sondern über den Dingen, was ihre Sonderstellung, aber auch ihre Gefährdung ausmacht. 5 Laut Marketta Göbel-Uotila geht es im Roman also um Macht, um gesellschaftliche und um private Macht. Christa Wolf zeigt, dass das Spiel um die Macht ihren Missbrauch vorprogrammiert, dass es keine Moral kennt, oft ein tödliches Ende nimmt und ihm stets die Menschlichkeit geopfert wird. Es infiltriert das Denken, unterwirft alles seinem Diktat und funktionalisiert im Sinne seiner Begehrlichkeiten. (Göbel-Uotila 2005: 281)

Durch ständige Reflexion ist Medea in der Lage, zwischen der Macht, ihrem Instrumentarium und ihren Verwaltern zu differenzieren. Sie verweigert damit den Objektstatus, will sich den Machtinstanzen entziehen, ohne diese ihrerseits wiederum zum Objekt der Gewalt zu machen. Doch das gelingt ihr nicht. In Zusammenhang mit dem Objektstatus von Medea sind die Gedanken Christa Wolfs bezüglich des „weiblichen Schreibens“ hervorzuheben: 5

Sie wird fast von jeder Figur für „hochmütig” gehalten.

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Marcell Grunda Inwieweit gibt es wirklich „weibliches“ Schreiben? Insoweit Frauen aus historischen und biologischen Gründen eine andere Wirklichkeit erleben als Männer. Wirklichkeit anders erleben als Männer, und dies ausdrücken. Insoweit Frauen nicht zu den Herrschenden, sondern zu den Beherrschten gehören, jahrhundertelang, zu den Objekten der Objekte, Objekte zweiten Grades, oft genug Objekte von Männern, die selbst Objekte sind, also ihrer sozialen Lage nach, unbedingt Angehörige der zweiten Kultur; insoweit sie aufhören, sich an dem Versuch abzuarbeiten, sich in die herrschenden Wahnsysteme zu integrieren. Insoweit sie, schreibend und lebend, auf Autonomie aus sind. (Lindemann 2000: 146)

Als Ursache gewaltimmanenter gesellschaftlicher Strukturen und Quelle destruktiver Handlungsmuster sieht Christa Wolf in erster Linie die Subjekt/ObjektProblematik. Die bestehenden Herrschaftsstrukturen prägend liegt sie allen zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde und produziert verschiedene Arten von Entfremdung. Wie solche Mechanismen funktionieren, demonstriert die Autorin an der Korinthischen Gesellschaft. Ein wichtiges Element des Ausschließungsprozesses der Medea ist gerade darin zu sehen, dass sie für die inneren und äußeren Missstände in Korinth verantwortlich gemacht wird. Auf sie richtet sich schließlich der Wunsch nach Vergeltung für erlittenes Unheil. Sie wird dadurch objektiviert. Diese Subjekt-Objekt Beziehung, die eine grundsätzliche Asymmetrie in sich birgt, ist ein Instrument der Macht, das schon von seinem Ansatz her inhuman ist und unweigerlich Gewalt produziert. Eine Besonderheit in Christa Wolfs Medea-Roman ist – so Martin Beyer –, dass dieser Prozess der Selektion eines Opfers und seiner Bestrafung ganz gezielt von den Machthabern in Korinth ausgeübt wird (Beyer 2007: 111). Das können sie tun, weil sie den Diskurs beherrschen. Diskurse sind nicht nur Vermittlungsinstanzen, sondern auch und vor allem Objekte von Machtkämpfen. Es ist der Wille zur Macht, der die Diskurse ordnet. Ihr Ziel ist die Fixierung bestimmter Machtsysteme (Jünke 2003: 25). Die Methode der Diskursanalyse nach Michel Foucault bietet ein Instrumentarium, um die Rolle der Macht im Roman zu untersuchen. In Die Ordnung des Diskurses beschreibt Foucault sehr präzise die Ausschlussmechanismen und Regelwerke von Diskursen, die von einem Sprecher beachtet werden müssen, wenn er gehört werden will. Denn wer die Regeln der Diskurse beeinflusst, der kann bestimmen, wie über einen bestimmten Sachverhalt gesprochen werden darf oder ob darüber überhaupt Äußerungen zulässig sind. Akamas beeinflusst im Roman die Regeln und macht Medea zum Sündenbock, um das System, in dem er herrscht, stabil zu halten. Als anschauliches Beispiel für die fehlende Autonomie der korinthischen Frauen gilt die Königstochter, die von allen weniger mitleidig, als vielmehr geringschätzig nur die „arme Glauke“ genannt wird. Glauke wird von den Vertretern des korinthischen

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Patriarchats derart manipuliert, dass sie, da ihr Minderwertigkeitskomplexe regelrecht eingeredet werden, körperlich und seelisch erkrankt und ihre Autonomie vollständig aufgibt (Berger 2007: 103). Die Ursache des Leidens ist das traumatische Erlebnis der Opferung ihrer Schwester Iphinoe. Sie wird von Kreon aus Machtgier, Besitzstandswahrung, Stärkedemonstration gegen seine vormals gleichberechtigte Partnerin (zugleich Mutter des geopferten Kindes) geopfert. Diese Tat diente ihm als Vorwand für die Sicherung der eigenen Position und die Entmachtung der Königin. Ihre Mutter wird genauso gebrochen, wie Idya und will sich vor Angst nicht mehr Glauke annähern. Sie hat aber deswegen keine weiblichen Lebensmodelle. Wegen negativen Selbstwertgefühls 6 hat sie einen masochistischen Charakter. Medea hilft ihr therapeutisch, Schritt für Schritt die schreckliche, aber auch heilsame Erinnerung an den Opfertod ihrer Schwester hervorzubringen und so an die Wurzeln ihrer psychosomatisch bedingten Krankheit zu gelangen. Das wird aber von Turon und Kreon zunichte gemacht. Ihr wird nie eine eigene Stimme zuerkannt. Medea versucht Glauke zum Erinnern und zum Sprechen zu bringen. Ihre Tragödie ist, dass sie es nicht erkennt, dass Medeas Bemühungen um sie zur Selbstfindung verhelfen sollen (Berger 2007: 136). Glauke ist von klein an systematisch sich selbst entfremdet und permanent fremdbestimmt worden, ohne die Möglichkeit, sich als Subjekt des eigenen Wollens und Handelns zu erfahren. Daher kann sie weder zu sich selbst, noch zu ihrer Umwelt eine vertrauensvolle, stabile Beziehung aufbauen. Sie springt am Ende, als Medea verurteilt und verbannt wird, in den Brunnen, was „den Sturz in die Abgründe ihrer verdrängten Vergangenheit und damit die eigentlich heilsame Auseinandersetzung mit den Ursachen ihres psychosomatischen Leidens symbolisiert.“ (Berger 2007: 136) Glauke hat ihre Stimme nicht gefunden und gibt in der Stunde ihres Todes keinen Laut von sich (Berger 2007: 138). Es gibt in Korinth ein Artemisfest, in dessen Rahmen Stierhoden an die Statue der Göttin gehängt werden, was – nach dem Glauben der Korinther – eine immerwährende Fruchtbarkeit leistet. Medea empfindet beim Anblick dieses Rituals Ekel. Sie spuckt sogar darauf. Der Stier gilt als ein Symbol für die Fruchtbarkeit, die Stierhoden sind also demzufolge Fruchtbarkeitssymbole, die über Lebensspenderkraft verfügen. Da es naheliegt, die Geburt in erster Linie in Verbindung mit der Frau zu setzen, kann dieses Ritual als Opferung des weiblichen Leibs verstanden werden. Der Leib der Frau ist nämlich eine Quelle der Fruchtbarkeit. Stiertötungsszenen erscheinen öfter in patriarchalen Kontexten. In manchen patriarchalen Schöpfungsmythen kommen diese Taten sogar als Symbole für die Erschaffung der patriarchalen Welt vor. Die bis heute tradierten 6

Sie hält sich dumm und hässlich und betrachtet sich selbst als minderwertig. Berger 2007: 135

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Legenden von Heroen, die mit Stieren kämpfen und Stiere töten, erinnern an die Unterdrückungs- und Vernichtungskämpfe patriarchaler Herrschaften gegen matri-zentrische Kulturen und die wilden Frauen dieser Kulturen (Hochgeschurz 1998: 7). Medea sagt, als sie die Opferung der Stiere erlebt: „Ich habe viel Ungeheures gehört, niemals zuvor Ungeheuerlicheres als dieses Brüllen der geopferten Kreaturen, es war, als schrien so unser aller Not und Schmerz und unsere Anklage in den Himmel.“ (Wolf 2008b: 186) Man kann den Schmerz dieses Vernichtungsvorgangs im Roman also spüren. Georgina Paul meint, dass Medea bei Christa Wolf eindeutig zum Opfer wird: „Ein Schock ist es angesichts dieser Tradition, in Wolfs zentraler Figur eine Medea vorzufinden, die von jeglicher Schuld gereinigt worden ist […] Nicht Täter ist Medea, sondern Opfer.“ (vgl. Georgina 1997: 227f.) Auf den ersten Blick ist es wirklich so, da die Protagonistin weder ihren Bruder, noch ihre Kinder oder Glauke tötet. Wie schon erwähnt wurde, der Staat macht sie zum Sündenbock, worauf Medea im Gespräch mit Jason Folgendes reflektiert: „Sie haben aus jedem von uns den gemacht, den sie brauchen. Aus dir den Heroen, und aus mir die böse Frau.“ (Wolf 2008b: 54) Die durch männliche Werte definierte Kultur braucht also das Bild der wilden, bösen, von ungezähmten Trieben beherrschten Frau. Jason nennt Hekate, die oft als Göttin der Unterwelt, als Todesgöttin bezeichnet wird, die Göttin ihrer Frau. Sie ist mit magischen Fähigkeiten begabt und dadurch eine Art „Prototyp“ aller späteren Hexen. Die Schriftstellerin formuliert genau mit diesem Prototyp eine Gesellschaftskritik, denn eine Kritik an der Ausgrenzung und Substitution des ‚Anderen‘ besonders Weiblichen, ist immer zugleich auch eine Kritik an der Gesellschaft und ihren kulturellen Produkten (Berger 2007: 9). Sie sagt einmal: „Ich kann Geschichte nicht anders sehen, als aus der Perspektive derjenigen, die unterdrückt werden und derjenigen, die jeweils Verlierer sind.“ (Berger 2007:106) Die „neue“ Medea-Figur wurde aber heftig von Literaturkritikern bemängelt. Volker Hage schreibt im Spiegel, dass er in einer derartig ‚gutgeschriebenen‘ Medea keine Medea mehr erkennen will (Hage 1996). Nicola Westphal „verteidigt“ hingegen die Entscheidung Christa Wolfs, als sie behauptet, dass es irrelevant zu sagen ist, dass Medea bei Christa Wolf nicht Medea ist, weil im Roman nicht die Figur selbst im Zentrum steht, sondern die Erinnerung an die Opferfiguren und die Brüche in der Tradition der kollektiven Identität (Westphal 2000: 238). Doch die Figur Medea bei Christa Wolf trägt nicht eindeutig eine Opferrolle. Medea ist deshalb Täterin, weil sie in Korinth die „wilde Frau“ bleibt, die ihre Individualität gegen die Konventionen des Patriarchats auslebt und so zur gesellschaftlichen Außenseiterin wird (Berger 2007: 246). Medea fühlt sich schuldig wegen des Todes ihres Bruders Absyrtos: „Sie hatten Korinth retten wollen. Wir

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hatten Kolchis retten wollen. Und ihr, dieses Mädchen Iphinoe und du, Absyrtos, ihr seid die Opfer. Sie ist mehr deine Schwester, als ich es je sein kann.“ (Wolf 2008b: 106) Ihre Auflehnung gegen die patriarchale Gesellschaftsform in Korinth endet auch mit dem Tod ihrer eigenen Kinder. Wie Evelyn Berger betont, unterscheide sich Medea am Ende des Romans nicht eindeutig von den Vertretern der patriarchalen Gesellschaft. Sie verflucht die Kolcher und Korinther und wünscht wegen ihres Leidens ihre Zerstörung(Wolf 2008b: 248). Medea ist also wie ihr Feind geworden. Sie wird, trotz oder gerade wegen ihres Widerstandes, zu dem, was die Kolcher aus ihr machen wollten. Medea sieht sich einem Dilemma gegenüber: entweder handelt oder handelt sie nicht, sie macht sich aber ebenso schuldig. Es scheint für sie kein Weg aus der Dialektik der Schuld zu führen (Georgopoulo 2001: 163). Medea weiß außerdem, dass auch sie selbst als Gegnerin des Systems diesem System angehört und an dessen Schuld beteiligt ist: „In diesem großen Getriebe spielt auch der seine Rolle, der es verwöhnt.“ (Wolf 2008b: 19) Diesen Gedanken zu veranschaulichen ist eine Szene aus dem Roman sehr geeignet. Eine aufgebrachte Menge von Menschen will beim korinthischen Artemisfest eine Gruppe von Gefangenen opfern. Medea rettet die Gruppe dadurch, dass sie die Menschen in Ekstase überredet, nur einen einzigen Menschen zu opfern. Obwohl sie handelt und vielen das Leben rettet, bleibt diese Tat für sie wertlos, da sie sich an diesem einen schuldig fühlt. Sie hat aber den entscheidenden Vorteil gegenüber den Korinthern, dass sie immer bewusst handelt und sogar auf solche Art und Weise, dass es ein möglichst geringes Übel zur Folge hat. Medea findet zu der für die Autonomie eines Menschen unumgänglichen Selbsterkenntnis. Das ist ihr das höchste Ziel (Berger 2007: 261). Doch die Ausbildung subjektiver Autonomie, das „Zu-sich-selberKommen des-Menschen“ (Berger 2007: 264) hat keine positive Wirkung in Korinth: „Es ist dahin gekommen, dass es für meine Art, auf der Welt zu sein, kein Muster mehr gibt, oder dass noch keines entstanden ist, wer weiß.“ (Wolf 2008b: 177) In der Forschungsliteratur gilt als allgemeiner Konsens, dass die Oppositionen zwischen Männern und Frauen in Medea. Stimmen wesentlich sind. Die Verteilung der Täter-Opfer-Strukturen auf Männer und Frauen ist einerseits bestimmt da, aber an einigen Punkten wird sie durchbrochen. Man kann also auf keinen Fall behaupten, dass Christa Wolfs Roman ein Appell an die Menschheit ist, die „gute“ Weiblichkeit an die Stelle der „schlechten“ Männlichkeit zu setzen. Wie Thomas Anz in seiner Rezension zu Medea. Stimmen feststellt, sind in Medea die Frauen nicht grundsätzlich die besseren Menschen (Anz 1996). Es gibt auch z. B. die Figur Agameda, die versucht, ihre eigenen Ziele über eine Angleichung an ‚männliche‘ Wertsysteme und gezielte Instrumentalisierung patriarchaler Verhaltensnormen durchzusetzen.

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Bezüglich der Opferrolle Medeas betont Christa Wolf: „Es geht nicht mehr darum, ob diese Frau nun Opfer ist oder nicht. Es geht nicht mehr nur um unsere Frauenrolle als Frauen, sondern es geht nun darum, herauszutreten aus dem System als Frauen, das immer wieder Menschenopfer forderte.“ (Hochgeschurz 1998: 7) In Medea stehen Ratio und Emotion im Einklang und sie verkörpert damit sowohl die Kultur als auch die Natur (Berger 2007: 255). Mit dieser Synthese scheint Christa Wolf die Aufhebung ‚Entweder-Oder‘ zu beabsichtigen und eine Figur schaffen zu wollen, die als ‚Drittes‘ dazu geeignet ist (Berger 2007: 255). Christa Wolf denkt nicht Schwarz-Weiß: „Matriarchat und Patriarchat schließen die Hälfte der Welt aus.“ (Wolf: 1998b: 52) Sie betont, dass „nicht der Mann das Modell für den Menschen ist, sondern Mann und Frau“ (Wolf 1987b: 800) – damit bezeichnet Christa Wolfs Diskurs kein anti-männliches, sondern ein auf Gleichwertigkeit beruhendes Gesellschaftsmodell: „Es ist kein polarisierender, sondern integrierender Feminismus, der die konstruktive Komplementierung der Geschlechter zum Ziel hat.“ (Steskal 1997: 330) Was im Roman eigentlich fehlt, dient als Lösung: Nicht nur die gegenseitige Anerkennung der Geschlechter, sondern auch die Akzeptanz anderer Lebens- und Sichtweisen. Die Schriftstellerin stellt diese Theorie als mögliche Antwort auf ihre Grundfrage nach den Möglichkeiten und Chancen von weiblicher und männlicher Individualität und Subjektivität damals und heute vor (Berger 2007: 55). Im Roman hofft und sucht Medea eine Welt, in der keine Sieger oder Opfer existieren. „Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“ (Wolf 2008b: 224) Außer der Autorin kommt nur der Leser in Betracht, der eine Antwort geben könnte. Nach Steskal fordere Christa Wolf den Leser auf, Selbst- und Gesellschaftskritik zu üben und die utopische Vision Medeas zu verwirklichen (Steskal 1997: 235). Es muss also immer selbstverständlicher werden, dass der männliche und der weibliche Blick gemeinsam erst ein vollständiges Bild von der Welt vermitteln und dass Männer und Frauen sie auf ihre je eigene Weise gleichgestellt gestalten. […] Wir sitzen doch alle in einem höchst gefährdeten Boot und können es nur gemeinsam retten, wenn überhaupt. (Wolf 1998b: 52)

Christa Wolf schafft mit ihrem Roman ein neues Werk in der Rezeptionsgeschichte des Medea-Mythos. Doch es ist viel mehr, als eines unter vielen. Margaret Atwood hat im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Medea. Stimmen zum Ausdruck gebracht, dass Medea eigentlich die Lage der gegenwärtigen Frauen symbolisiert (Hochgeschurz 1998: 7). Genau an dieser Meinung ist Gerda Lepke, die auch die Aktualität der Probleme, mit denen sich der Roman beschäf-

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tigt, betont (Hochgeschurz 1998: 7). Wie es am Anfang dieser Arbeit Erwähnung gefunden hat, außer den Hinweisen der aktuellen politischen Verhältnisse der Entstehungszeit des Romans, wurden auch universelle Fragestellungen thematisiert. Medea kann den Dialog mit den Männern aufnehmen und wie es Rita Calabrese betonte: „[n]ach der Überwindung der tödlichen Unbeugsamkeit der Einsamkeit kann die Welt auf Grund der Zweisamkeit und der Vielfalt neugeschrieben werden. Von den Monologen zur Polyphonie.“ (Calabrese 1998: 93) Diese Polyphonie ist durch die mehrstimmige Erzählweise im Roman vorhanden. Man kann feststellen, dass Christa Wolf mit der Neu-Interpretierung des MedeaMythos eine Gesellschafts- und Geschlechterkritik vornimmt, besonders wenn man an die untergeordnete Rolle der Frau denkt. Die Männer haben die Frauen dadurch, dass sie sie zu einem „Idol“ gemacht haben, versachlicht. Die Frau wird damit zum Bild des Mannes, das er degradiert (Berger 2007: 56). Die Folge ist die „Verdinglichung, Versteinerung am eigenen Leib.“ (Wolf 2008: 148) Diese Objektmachung ist eine Hauptquelle der Gewalt. Christa Wolf sieht die Frau als Opfer einer Kolonisation durch das Patriarchat. Wie es Gerhard Neumann auch bezüglich der „Archäologie der weiblichen Stimme“ betont, das Ziel „nein zu jenen Systemen männlichen Wissens zu sagen, die Gewalt ausüben – la volonté de savoir – und die Frauen zu Objekten machen, ihre Stimme so lange überformen, bis sie sich in die männliche Heldengeschichte einschreiben lässt.“ (Neumann 1985: 255) Mit der Figur Medea stellt also Christa Wolf eine Frau dar, die in einer patriarchalen Gesellschaft (und gleichzeitig in einer patriarchalen Überlieferungsgeschichte) ihre Autonomie und einen Weg aus dem „Objektsein“ sucht. Was die Autorin tut, ist ein Versuch, als Frau selbst die Subjektposition zu besetzen, mit eigener Stimme zu sprechen und nicht bloß als ein Anderes des Männlichen, als sein verzerrtes Spiegelbild gesetzt zu werden. (Göbel-Uotila 2005: 282) Ihre Subjektwerdung scheitert aber an äußeren Umständen. Die Autorin nimmt an, dass die Frau den natürlichen Zusammenhängen – und damit dem Leben selbst – näher steht, als der Mann, sie wurde jedoch durch die patriarchal geprägte Geschichte kolonisiert und domestiziert (Berger 2007: 41). Ganzheitlichkeit kann nur durch die Gleichberechtigung der Geschlechter entstehen; jedoch in der Form, dass sich die Frauen nicht den Männern angleichen, sondern mit ihren Eigenschaften akzeptiert werden. Die patriarchalische Gesellschaft ist für eine derartig autonome, weibliche Identität nicht reif genug. Für Christa Wolf ist aber der Einfluss der Kunst und Literatur auf eine Gesellschaft unumstritten und so „versucht sie, die Integration des (weiblichen) Subjekts über das ihr zugängliche Medium der Literatur voranzutreiben und so dem ‚Subjektwerden des Menschen‘ Vorschub zu leisten.“ (Berger 2007: 59)

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Opfernarrative im zeitgenössischen deutschen Generationenund Familienroman Zu Ulla Hahns Unscharfe Bilder

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Opfernarrative in der heutigen deutschen Literaturszene

Die Opferproblematik ist in den letzten Jahrzehnten in den Mittelpunkt des literarischen, historischen, theologischen, juristisch-kriminologischen, soziologischen wie politikwissenschaftlichen Interesses geraten. Das lässt sich auf vielfache Weise erklären. Neben der durch das allmähliche Verschwinden der Holocaust-Überlebenden entstandenen historischen Schwellensituation soll im Hintergrund von der Aufwertung der Opferperspektive vor allem auf den Paradigmenwechsel hingewiesen werden, der nach Aleida Assmann als eine ethische Wende in der Geschichte und der Erinnerungskultur zu charakterisieren ist.1 In dem säkularisierten Opferbegriff hat sich nämlich eine Bedeutungsverschiebung vollzogen, in welcher der Akzent von der aktiven, bewussten, über einen Sinn verfügenden, aufopfernden sacrifice-Opferschaft auf die passive, sinnlose, erleidende Opferschaft der victims gelegt wurde. Es scheint noch angebracht zu erwähnen, dass die ethische Wende nicht nur aus dieser postheroischen, viktimologischen Wende besteht. Ihre andere Dimension sieht Assmann darin, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr über Sieger und Verlierer, sondern über Täter und Opfer spricht (s. Assmann 2006: 72ff.), d. h. ethisch, juristisch konnotierte Begriffe erscheinen in den Interpretationen der Erinnerung an die historische Vergangenheit. Die viktimologischen Formen der Erinnerung schließen die heroische Semantik aus (vgl. hierzu Assmann 2006: 68). Die seit den 1990er Jahren bestehende Dominanz des postheroischen Opferdiskurses kann mit vielen Beispielen veranschaulicht werden. Eines von diesen ist die bekannte, skandalöse Erfolgsgeschichte eines Romanschriftstellers, eines Schein-Holocaust-Überlebenden, der unter dem Pseudonym Wilkomirski berüchtigt gewordenen ist.2 Im Falle der deutschen Erinnerungskultur ist die Entwicklungsgeschichte der Opfernarrative besonders komplex. In der um die Jahrtausendwende wieder 1

Im Bezug auf den Ausdruck „ethische Wende“ s. Assmann 2006: 76ff. Binjamin Wilkomirskis Roman erschien 1999 beim Jüdischen Verlag mit dem Titel: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948.

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blühenden Erinnerungsliteratur, beziehungsweise in bestimmten Familien- und Generationenromanen der 1990er Jahre können wir eine Art Konjunktur der Opferperspektive beobachten: Nach der Universalisierung der Narrative der Holocaustopfer (vielleicht zufolge dessen) konnte die Aufmerksamkeit auf die Geschichten der deutschen Opfer gelenkt werden. So Aleida Assmann: […] unmittelbar nach dem Krieg war es die Selbsterfahrung der Deutschen als Opfer gewesen, die ihnen den Blick für die Leiden der anderen, insbesondere der jüdischen Opfer verstellte, dann waren es nach Etablierung eines weltweiten Holocaustgedächtnisses die jüdischen Leiden, die die Leiden der nichtjüdischen Deutschen verdrängten, und jetzt sind es womöglich wieder die deutschen Leiden, die die Erinnerung an den Holocaust und mit ihr das Bewusstsein deutscher Schuld verdrängen. (Assmann 2006: 199)

Zur Herausbildung eines „deutschen Opfergedächtnisses“ mögen nach Assmann vor allem drei historische Traumata beigetragen haben. Das erste ist ein tabuisiertes Trauma: die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen am Kriegsende (es lebt zum Beispiel auf den Seiten von Anonymas Tagebuch Eine Frau in Berlin auf) (Assmann 2006: 184). Das zweite ist ein politisiertes Trauma: die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung nach dem Krieg (ein BestsellerBeispiel für die literarische Verarbeitung dieses Traumas ist das Buch Im Krebsgang von Günter Grass) und schließlich die jahrelang bestehende Flächenbombardierung deutscher Städte durch die Alliierten (es wird am besten in Jörg Friedrichs Der Brand illustriert) (Assmann 2006: 184). Gleichzeitig damit inszenieren aber einzelne literarische Texte auch neuartige Mechanismen der Konfrontation mit der Tätergeneration. Neben den dominanten Erzählungen über die deutsche Täterschaft, welche die öffentlichen Diskussionen und das kulturelle Gedächtnis weiterhin bestimmen, ist im Familiengedächtnis auch der Mythos von der deutschen Opferschaft lebendig geblieben: Die Betonung der Schuldlosigkeit der bloß Befehle befolgenden Wehrmachtsoldaten, der von den „wirklichen“ Verbrechern verführten Augenzeugen gehört immer noch zu den effektiven Abwehrmechanismen der Erlebnisgeneration (vom Soziologen Harald Welzer wurde dieses Phänomen in mehreren seiner Bände untersucht). 3 In meinem Beitrag konzentriere ich mich in erster Linie nicht auf die sogenannte viktimologische Wende in der Erinnerung an die NS-Vergangenheit, d.h. auf die Aufwertung der Perspektive der deutschen zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs, sondern auf den hinterher erwähnten, als Selbstentlastungsstrategie funktionie3

Zum erwähnten Phänomen s. beispielsweise die folgenden Schriften des Soziologen und Sozialpsychologen: Welzer/Moller/Tschuggnall 2002; Welzer 2007; Welzer/Giesecke 2012.

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renden (obwohl fragilen und schon öfters widerlegten) Opfermythos, der im zeitgenössischen deutschen Generationen- und Familienroman wiederbelebt worden ist.4 Die Mosaikstücke der Erinnerung an die Vergangenheit stellen sich aus den Vergangenheitsbildern dreier Generationen zusammen. 5 Die einzelnen Generationen werden durch ihren gemeinsamen Erfahrungsraum aneinander gekoppelt, der zugleich auch identitätsbildend ist. Auch die Hauptdarsteller der Generationen- und Familienromane gehören denselben drei Generationen an: also der aus dem Krieg noch über persönliche Erfahrungen verfügenden ersten Generation (Erlebnisgeneration), der zweiten Generation der Söhne bzw. der 68er und der dritten Generation der heute etwa 30jährigen Enkelkinder.6 Im vorliegenden Beitrag wird ausgehend von den kurz zitierten soziologischen und gedächtnistheoretischen Überlegungen und mit Hilfe von einem repräsentativen Textbeispiel (Ulla Hahn: Unscharfe Bilder) der Versuch unternommen, die generationsspezifischen Zusammenhänge der Opfernarrative in dem deutschen Generationen- und Familienroman näher zu betrachten. Die intergenerationelle Tradierung von historischen Erfahrungen im Roman wird dabei in den Kontext der neueren Erinnerungstrends gestellt, um zu beleuchten, wie der veränderte Umgang der deutschen Erinnerungskultur mit der eigenen nationalen Vergangenheit in Hahns Roman ihren Niederschlag findet.

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Im Fokus die Erinnerung – Ulla Hahn: Unscharfe Bilder

Ulla Hahns Familienroman Unscharfe Bilder (2003) inszeniert ein intergenerationelles Gespräch zwischen Vater und Tochter, das das ganze Werk durchzieht. Der inzwischen schon alt gewordene Vater gehört der Tätergeneration an und nahm damals am Krieg aktiv teil. Katja will den Kriegsverbrechen ihres Vaters nachgehen, wobei der ehemalige Wehrmacht-Soldat von seiner Tochter eher verhört als gefragt wird. Vielsagend zu sein scheint zunächst einmal, wie die Handlung und damit auch der Erinnerungsprozess des Vaters angestoßen werden, wobei Katjas Rolle von ausschlaggebender Bedeutung ist.

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Der Begriff „Familienroman“ geht auf Sigmund Freud zurück. S. dazu Freud 1966: 227ff. 5 Die jüngere Geschichte der Literaturwissenschaft wird immer mehr unter dem Aspekt des Generationenwechsels geschrieben. S. dazu Erhart 2000. 6 Die Unterscheidung der drei Generationen erfolgte laut Aleida Assmann und Harald Welzer.

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Nachdem Katja ihren Vater Musbach auf einem Foto in der Wehrmachtsausstellung erkannt haben will, das ihn bei der Erschießung eines russischen Gefangenen zeigt, bringt sie den Katalog der Ausstellung mit ins Seniorenheim. Selbst die Art und Weise, wie sie den Fotoband „auf den Schreibtisch legte, dem Vater vor die Augen“ (Hahn 2010: 17) und wie sie es ihm kurz darauf wieder „auffordernd“ (Hahn 2010: 19) – und später sogar „herrisch“ (Hahn 2010: 26) – „wie eine längst fällige Rechnung“ (Hahn 2010: 19) zuschob, wirkt ziemlich rechenschaftsfordernd. Die Reaktion des 82-Jährigen, der den Sinn seines Lebens nach dem Krieg darin sah, Nachkriegsgenerationen in der Hoffnung der NichtWiederholung über die NS-Ära und den Krieg zu belehren,7 deutet darauf hin, dass die Anklage seiner Tochter von ihm schon einigermaßen als verspätet ja als verjährt eingeschätzt wird und somit nicht nachzuvollziehen ist: Verärgert lehnte Musbach sich in seinen Sessel zurück, warf einen zweiten Blick auf das Buch […]. „Wir wissen doch wirklich, was war. Jahrzehntelang […] hab ich das mit meinen Schülern diskutiert. Ein halbes Jahrhundert. Was soll ich damit? Hier in meiner Ruhe?“ „Ruhe für wen?“ gab die Tochter zurück und zog den Katalog wieder zu sich heran. Ihre grauen Augen verengten sich in einer eigentümlichen Spannung, als wolle sie einen Kampf mit ihm aufnehmen. […] „ […] Dein Bild wirst du da ja nicht drin finden.“ (Hahn 2010: 18f.)

Diese nur für den Leser bekannte und so etwas ironische, versteckte Anspielung an das Foto leitet schon eine Entfernung zwischen den beiden Protagonisten des Romans ein. Die hier erwähnte „Ruhe“ ist – nach der Meinung des Vaters – letzten Endes als das Ergebnis langer Jahrzehnte der Auseinandersetzung seiner Generation mit der schuldhaften deutschen Vergangenheit anzusehen. 8 Hans Musbach wird im Werk doch noch gezwungen, „[den] lange[n] Satz seines Lebens“ „zu Ende [zu sprechen]“ (Hahn 2010: 28).9 7

In Bezug auf Musbachs Leben und Unterrichtstätigkeit nach dem Krieg s. Hahn 2010: 27. 8 Hierzu s. das folgende Zitat: „Er hatte doch nichts versäumt! […] Warum sollte er heraus aus diesem inneren Frieden mit seiner Zeit, den er sich in vielen Jahren erarbeitet und verdient zu haben meinte? Altersfrieden.“ Hahn 2010: 27f. 9 Merkwürdig ist dabei, dass diese aufgedrängten Gespräche von ihm trotzdem wie Befreiung empfunden werden, worüber sich auch er wundert – so eine Interpretationsmöglichkeit des oben angeführten Zitates. Es heißt nämlich an einer anderen Stelle im Buch, dass Katjas „Beharrlichkeit ein Gefühl hervorrief, für das er nur das eine Wort fand: Erleichterung“. Hahn 2010: 89. Nur am Ende der Romanhandlung wird für den Leser deutlich, warum sich der Vater an diesen Textstellen so äußert, wenn er das große Geheimnis seines Lebens verrät, dass er nämlich desertierte und eine Liebesbeziehung zu einer Partisanin hatte. Deshalb beginnt er sich auch schon an dieser Stelle erleichtert zu

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Mit dem Vorrücken der Handlung versucht Katja Wild, ihren Vater mit steigender Intensität dazu zu bringen, sich zu erinnern. Es erhebt sich die Frage, warum sie ihn nicht direkt auf das Thema anspricht. 10 Hierbei bieten sich mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Sie befürchtet vielleicht, den hochgeschätzten Vater zu beschämen bzw. zu diskreditieren. Oder sie mag vor der Wahrheit und somit vor der eigenen Familiengeschichte Angst haben, da sich die Identität eines Menschen ja teilweise über die Elternidentität definiert. Sie selbst sagt ihrem Psychologen, dass sie dem Vater ermöglichen möchte, die Schuld freiwillig zuzugeben.11 Vielleicht möchte sie ihm – ob bewusst oder unbewusst – auch die Chance einer Beschönigung der schrecklichen Wahrheit geben. Oder sie will einfach den Konflikt nicht auf sich nehmen, das Vermeiden der großen Frage mag also für sie auch eine Ausweichmöglichkeit darstellen. Hier, am Anfang des Erzählprozesses, liegt daneben ohne Zweifel auch ein Unverständnis der Tochter aufgrund ihrer Erwartungshaltung vorhanden: sie glaubt ihren Vater zu kennen und erwartet Kontinuität von ihm bzw. seinem Verhalten, deshalb hat sie Zweifel an seiner Schuld. Außer den genannten Vermutungen scheint auch wahrscheinlich zu sein, dass das Nicht-Ansprechen der Mordtat ein bewusster Griff der Romankonstruktion ist, der im Laufe des Romans mit der Gesprächsdynamik zusammen die Spannung aufrechterhalten soll. Der Vater wollte in seinem Leben über persönliche Erfahrungen im Krieg, z.B. über seinen besten Freund Hugo, der an der Ostfront gefallen war, nicht sprechen, nur einige Worte waren aus ihm „herauszubringen“ (Hahn 2010: 18). Widerwillig und zögernd fängt er nun an zu erzählen, denn er hat „diese Jahre in [sich] abgekapselt wie die Splitter in [seinem] Bein“ und „will nicht noch einmal hinein, zurück in diese verlorenen, gestohlenen Jahre“ (Hahn 2010: 30). Dieser „Splitter i[m] Bein“ ist als eine Metapher der in den Körper „hineingeschriebenen“ traumatischen Erinnerung zu interpretieren: diese Erinnerung lässt sich weder sprachlich vermitteln noch verblasst sie mit der Zeit und bleibt als Verletzung, als Wunde immer gegenwärtig. In ihm leben ganz andere Bilder über den Krieg als welche Katja erwarten würde. Die Bilder im Katalog sind scharf und

fühlen, denn sein bisher verdrängtes Kriegsgeheimnis bzw. Kriegstrauma kann endlich jemandem erzählt und von jemandem (Katja) angehört werden. 10 Im Falle vom Hahn-Roman erachtet Andrea Geier für die Generationenromane der Jahrtausendwende als charakteristisch, dass „die Vergangenheits-’Bewältigung’ für Katja Wild keine Fragen mehr aufzuwerfen schien und erst eine unvermutete Entdeckung zum Anlass wird”, sich mit der eignen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. S. Geier, 2008: 12. 11 Darüber erfährt der Leser aus einem Brief des Arztes. S. Hahn 2010: 262.

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eindeutig, die im Gedächtnis des Vaters hingegen mehrdeutig und unklar; sie braucht nicht diese Bilder: „Ein Krieg ist […] keine Bilderfolge […]. Nur das Dabeigewesensein kann es aufnehmen und – vielleicht und wie unvollkommen – erinnern. Dort habe ich meine Bilder. Im Kopf. Und nicht in solchen Fotos. […] Deswegen sind solche Bilder“, Musbach schob den Katalog noch weiter weg, „wohl wichtig. Ich weiß das doch. Aber sie sind unvollständig ohne meine Bilder.“ (Hahn 2010: 70ff.)

– kündet Musbach an. Diese Textstelle lässt sich m.E. auch textübergreifend interpretieren: Sprache und Erinnerung können demgemäß in Bezug auf Geschichtsschreibung etwas ganz Anderes leisten als Fakten und Bilder. Der HahnText mag hier eine Berücksichtigung all dieser Komponenten beim Konstruieren von Vergangenheitsbildern und zugleich den Übergang zur Kommunikation bei der Repräsentation von Erinnerung befürworten. Katja versucht das väterliche Erzählen immer wieder auf die Frage nach seiner individuellen Schuld und seiner eigenen Handlungsverantwortung zurückzuführen. Aber Hans Musbach spricht über ganz Anderes: über die Leiden der deutschen Soldaten, seine eigenen Ängste, den Verlust seiner Kameraden, über Liebe, Briefe (geschrieben an die Witwe eines gefallenen Freundes) und „Schamgefühle über nicht verschenkte Schokolade“ an einen Jungen, aber auch von Kälte, vom Anblick der Toten und vom „Geruch des Krieges“: „Benzin, Staub, Pulver, Rauch“, „doch dazu diese Wolke aus Brand, Schweiß, Urin und Scheiße“, „[g]lühende[m] Eisen, verwesende[m] Fleisch“ (Hahn 2010: 39ff., 44ff., 82, 105). Die Kriegserinnerungen von Musbach repräsentieren verschwiegene bzw. sprachlich nicht kommunizierbare Primärerfahrungen der Erlebnisgeneration, die im Buch gegenüber dem nachträglichen (historisch-politischen) Sekundärwissen des bundesrepublikanischen kulturellen Gedächtnisses eindeutig vorwiegen. Sie scheinen viel menschennaher und zugleich viel schrecklicher zu sein als das in Bildern, Geschichtsbüchern, Katalogen oder Ausstellungen festgehaltene Wissen vom Krieg.12 Letzteres wird im Text einerseits durch individuelle Erinnerungs12

Hierzu s. auch noch die folgenden Zitate: „[…] du wirst bald verstehen, warum ich über diesen Krieg, über meinen Krieg nicht reden will und nie reden wollte. […] in deinem Buch finde ich von dieser Erinnerung nichts.“ (Hahn 2010: 31). „Die starren Bilder. Stilleben. Stilles totes Leben. Bilder, kein Blut.“ (Hahn 2010: 177). Im Text wird auch Kunst und Literatur als defizitär markiert (bis auf Autoren der Antike wie Sulla oder Livius – mindestens nach der Meinung von Musbach), wenn es um die Wiedergabe bzw. Veranschaulichung vom Gräuel des Krieges geht; es heißt im Text z.B.: „jedes ästhetische Heraufbeschwören von Grauen, Schrecken, Schmerz“ sei „zwangsläufig auch seine Ver-

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momente anschaulich gemacht, emotionalisiert, anderseits aber stark modifiziert und sogar verändert und nicht einfach nur ergänzt. Durch die Figur des Vaters mag der Text einen differenzierteren Blick auf Vergangenes vorzeichnen. Todesnahe Erlebnisse, an die eine Erfahrung der „Nicht-Mitteilbarkeit“ knüpft und die den Menschen völlig überfordern, verfügen über eine tiefe, traumatisierende Wirkung. Dass der Krieg ein echtes Trauma für Hans Musbach darstellt, wird am besten auf der Ebene der Narration klar, denn eine Art Erstarrung lässt sich bei ihm während des Erzählens beobachten: […] da saß der Vater, hoch aufgerichtet, starr, die Hände um die Lehnen gekrampft, das Gesicht versteinert, die Pupillen weit auf die Wand […], die Vergangenheit gerichtet. Es sprach aus ihm, es rann aus ihm heraus wie Eiter aus einer schmutzigen Wunde. Es strömten ihm die Bilder, die Sätze zu. Das Vergessene drängte herauf, überschwemmte die Gegenwart. […] Nichts war in seinen Gesichtszügen zu lesen. Vorwärts sprechen. […] Vorwärts auf Befehl. (Hahn 2010: 40ff.)

Hier lässt sich eben jenes ausdruckslose Gesicht auffinden, das in Günter Grass‘ Novelle Im Krebsgang bei der Überlebenden der Schiffskatastrophe Tulla Pokriefke ein „Binnichtzuhauseblick“ (Grass 2002: 23, 74, 79, 90f.) genannt wird. Im Fall des Protagonisten des Hahn-Romans wird es anders zum Ausdruck gebracht: „Der Vater blieb verstummt […], sein Blick der eines Menschen, der nicht begreift, was ihm geschehen ist“ (Hahn 2010: 264). Der Grund dafür, warum das Schiff in Tullas Erinnerungen ewig sinkt, warum sie immer noch „nach einem anderen Kalender“ (Grass 2002: 2) lebt, ist, dass sie die Momente des Schiffsuntergangs in einer Kreisbewegung immer wieder neu durchlebt. Auch den ehemaligen Soldaten lassen die Bilder des Krieges nicht los; er sagt beispielsweise an einer Textstelle: „ich hab genug zu tragen. Und für das, was ich immer noch vor Augen habe, brauch ich das [Fernglas] nicht“ (Hahn 2010: 152). Der Krieg hielt also noch lange danach in den Köpfen an wie auch in Musbachs Träumen: „da wurde noch lange geschossen“ (Hahn 2010: 38). Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie sich Vater und Tochter und deren Verhältnis zueinander charakterisieren lassen, und hierbei wird auch untersucht, ob es im Verlauf des Romans eine Annäherung zwischen den beiden gibt. Am Anfang der Handlung, vor der Auseinandersetzung mit dem Ausstellungskatalog, wird festgestellt, dass „ihre Liebe zum Vater“ „fraglos“ (Hahn 2010: 17) harmlosung“, „Schrecken in Schönheit aufgelöst“. (Hahn 2010: 158). An einer anderen Stelle nennt Katja die Kunst eine „wortgewaltige Ästhetisierung des Entsetzens“. (Hahn 2010: 73). Nicht zu übersehen ist dabei das Paradoxartige, nämlich dass diese Aussage sich in einem literarischen Text befindet.

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ist, dies stellt also die emotionale Ausgangssituation dar. Auch in Bernhard Schlinks Der Vorleser ist– schon vor der Konfrontation mit der Vergangenheit – eine Art gefühlsmäßige Verpflichtung zwischen dem Vertreter der 68er Generation (Michael Berg) und der Angehörigen der Erlebnisgeneration (Hanna Schmitz) vorhanden. Vater und Tochter haben im Werk von Hahn ein sehr inniges Verhältnis, enger als Katja und ihr Mann, denn dieser bekam damals beim Vertrauensbruch nicht die Chance, sich zu rechtfertigen, wie der Vater. Er war für Katja in ihrer Kindheit ihr „beste[r] Freund“ (Hahn 2010: 87) und sie hatte auch später grenzenloses Vertrauen zu ihm.13 Sie spielen beide auch zur Zeit der Romanhandlung eine äußerst wichtige Rolle im Leben des anderen, treffen jeden Tag, sogar für Stunden. Nach der Trennung von ihrem Ehemann Albert fühlte sich Katja noch enger an dem Vater gebunden: „Wäre die Mutter noch am Leben, hätte das wenig geändert. Der Vater war schon immer ihr Held und nun ihre zuverlässige Stütze. Ihm mußte sie nichts erklären.“ (Hahn 2010: 22) Musbach wird also von ihrer Tochter ebenso heroisiert wie der Bruder Karl-Heinz von der ganzen Familie in Uwe Timms Roman Am Beispiel meines Bruders. In beiden Romanen werden diese Heldenbilder später zerstört, jedoch im Werk von Hahn eher nur mit „Schattenseiten“ ergänzt. Im Gegensatz zu Timms Text trägt nämlich der Hahn-Roman eher dazu bei, die Perspektive der ehemaligen Wehrmacht-Soldaten (praktisch jene der Täterseite) zu legitimieren: „[…] Was konnten wir, Soldaten im Krieg, denn sein? Hitler hatte die Befehlsgewalt, […] wir folgten […]. Wie willst du da die Nazis und Nicht-Nazis unterscheiden? Um zu überleben, brauchst du Kameradschaft. […]“ „[…] Wäre das nicht tapferer gewesen zu desertieren, als sich immer weiter am Morden zu beteiligen? […]“ […] „Das sagt sich heute leicht. Ihr seid alle so oberschlau. Der schlechte ,Gute‘ wäre auch der tote Soldat gewesen. Wer abhaute, mußte doch vor den eigenen Leuten so viel Angst haben wie vor dem Feind!“ (Hahn 2010: 82f.)

Das Zitat weist u.a. auch auf den entlastenden Umstand hin, dass der Soldat im Krieg Befehl ausführte und somit unter Zwang handelte. 14 Im Laufe des Erzählprozesses über die Kriegsvergangenheit des Vaters verändert sich alles zwischen Vater und Tochter. Schon vor dem Beginn des ersten 13

Mehr zu ihrem Verhältnis s. Hahn 2010: 85ff. Auch das Gefühl wahrer Geborgenheit fühlte sie in den Armen des Vaters besser wie in denen von Albert. Dazu s. Hahn 2010: 85. Katjas Psychologe spricht sogar von „eine[r] ödipale[n] Fixierung an den Vater“. (Hahn 2010: 262). 14 Diesen verbreiteten Selbstentlastungsmechanismus erklärten auch schon die Nürnberger Prinzipien für juristisch ungültig.

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Gesprächs „küßte sie ihn“ „entfernter als sonst“ „auf die Wange“ (Hahn 2010: 19). Hans Musbach findet sich immer mehr „einer veränderten Tochter gegenüber“: sie wird „unnachgiebig, fast hart“ (Hahn 2010: 44), ungeduldig und sogar aggressiv. Sie nimmt eine typische, alte Haltung der ersten Nachkriegsgeneration auf und wendet sich anlässlich ihrer Aussprache weder mit wahrem Interesse noch mit ehrlicher Offenheit an ihren Vater, sie will nur und ausschließlich sein Eingeständnis hören: Die Bilder, die sie dem Vater gebracht hatte, waren nun auch in ihr überschattet von den seinen, den blutigen Bildern seiner Erinnerung. Sie durfte das nicht zulassen. Wo waren die Mörder geblieben? Auf diese Frage suchte sie Antwort. Der Vater durfte nicht ausweichen. (Hahn 2010: 43)

Katja will nur über nichtdeutsche Opfer hören, aber die scharfen Trennlinien zwischen den Kategorien Täter und Opfer verfließen für sie mit der Zeit immer mehr. Die Bilder des Katalogs haben für sie die Funktion, „sich emotional gegen die Opferrhetorik des Vaters zu immunisieren“ (Geier 2008: 13). Musbach wusste ihre Tochter früher immer mit seinen Geschichten zu fesseln, wobei das Erzählen für ihn – so im Buch – einen Weg darstellte, „seine Liebe zu zeigen“ (Hahn 2010: 81).15 Aber während ihrer derzeitigen Gespräche schätzt sie sein Erzählen –, das „die Dinge“ nicht „klarer“ wie erwartet, sondern eher „verworrener“ (Hahn 2010: 105) machte, – so ein, als würde er versuchen, sie zu „fangen“ (Hahn 2010: 81). Sie unterbricht ihn an einer Stelle beispielsweise „ungerührt“ mit den folgenden Worten: „Eine schöne Geschichte“, […] „du redest noch immer nur über eine Seite […], ihr wart in ein anderes Land marschiert, um zu erobern und zu morden. Kannst du nicht endlich zur Sache kommen?“ (Hahn 2010: 81) Und der Vater erzählt „[s]chutzlos“ und „[e]rgeben“ (Hahn 2010: 84) weiter, „als müsse er die Sätze der Erinnerung abtrotzen“ (Hahn 2010: 264). Der Familienroman stellt in Frage, ob Katja das Recht dazu habe, ihren Vater für etwas zur Rechenschaft zu ziehen, was er auch schon sowieso zeitlebens als eine schwere Bürde zu tragen hat (S. Welzer 2004: 56): „Ich denke“, sagte Musbach, jedes Wort abwägend, „wir haben ein Recht zu reden, aber auch zu schweigen über unser Leben. Ihr habt ein Recht zu fragen, aber nicht immer ein Recht auf eine Antwort. Jeder hat ein Recht auf sein Lebensgeheimnis. Vielleicht ist das der Grund, warum ich, wie du meinst, von ‚uns‘ und ‚wir‘ gesprochen habe und fast nie von mir. […]“ (Hahn 2010: 66) 15

In scharfem Gegensatz zu diesem Bild des Vaters als „großer Geschichtenerzähler“ steht seine (schon erwähnte) Unwilligkeit, über Persönliches im Krieg zu sprechen.

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Der Text setzt sich also auch mit Fragen des Aufklärungsdiskurses auseinander. Katja traut sich mehrmals nicht, ihrem „gebrechlich[en], krank[en], verstört[en]“ (Hahn 2010: 151) Vater ins Auge zu sehen, wenn sie angesichts ihres Rechts zum Erfahren immer wieder unsicher wird (Hahn 2010: 105, 150f.). Sie wird jedoch durch das Erzählen ihres Vaters auch Trägerin seiner persönlichen Erinnerung und zugleich Erbin seiner traumatischen Leiderfahrungen bzw. seiner vermeintlichen Schuld,16 denn „Familien tragen ihre Lasten über Generationen“ (Hahn 2010: 87) – wie es im Roman formuliert wird.17 „Ich habe meine Bilder! Bilder, die du auch kennen mußt“ (Hahn 2010: 39) – , so Musbach an einer Stelle. Katja versucht ebenso vergebens, sich von dem erzählten Kriegstrauma ihres Vaters zu distanzieren wie Paul Pokriefke in der schon erwähnten Grass-Novelle von seinem Geburtstrauma und dem daraus resultierenden Zwang, „Zeugnis ab[zu]legen“ (IK: 6): „Aus dem Schlaf fuhr sie hoch, hörte einen Schrei, ihren Schrei, den Schrei des Vaters, den Schrei der Sterbenden. Zitternd, als habe eine heiße Wunde sie geweckt“ (Hahn 2010: 177). Durch diese Übernahme vom Erinnerungsschatz ihres Vaters –, wobei geteiltes Leid als eine Brücke zwischen Vater und Tochter anzusehen ist, – gerät Katja während des Erzählprozesses an ihren Vater in bestimmtem Sinne näher, 18 ob16

Familiäre Last betrifft nämlich nicht nur Leid, sondern auch Schuld. Hierbei ist jenes „Tätertrauma“ gemeint, das der Soziologe Bernhard Giesen schon in mehreren seiner Bände thematisiert hat. Er erörtert in diesen, dass, obwohl die Täter der Erlebnisgeneration (hier Musbach) durch ihre Schuld nicht unbedingt traumatisiert sind, erben die nachgeborenen Generationen (hier Katja) dennoch die Last der Frage von der Verantwortung ihrer (Groß)Eltern in Form einer Art „Tätertrauma“. Giesen bemerkt ferner, dass dieses Trauma, das auch heute den traumatischen Kern der deutschen nationalen Identität bildet, nicht im Täterbewusstsein jener engen Schicht von Tätern wurzelt, die sich direkt, aktiv und willig an der Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt haben, sondern im Täterbewusstsein jener, die an den nationalsozialistischen Verbrechen „nur“ mitgewirkt haben: gemeldet, dem System beigestanden oder die Schrecken nur passiv beobachtet, erduldet und dagegen nichts unternommen haben („bystander“). Ihnen wurde nach dem Krieg bewusst, dass sie praktisch nur durch Zufall nicht zu Mördern geworden sind. Diese Täterschaft der deutschen Mehrheitsgesellschaft besteht also laut Giesen darin, dass sie mit ihrer moralischen Beeinflussbarkeit konfrontiert werden: „Die willigen Vollstrecker […] sterben langsam aus, die Schuld der Zuschauer ist hingegen das entscheidende generationsübergreifende latente und damit identitätsstiftende Element.“ (Giesen 2004: 22f.). 17 Dazu s. auch noch das folgende Zitat: „[…] diese[r] Sturzbach an Erinnerungen […], diese Flut, die längst beide mitriß, den Vater und sie, der sie beide ausgeliefert waren […]. Eine Insel der Gemeinsamkeit für Vater und Tochter? Das wäre schon viel, für zwei Generationen.“ (S. Hahn 2010: 105). 18 In Bezug auf ihre geteilte Erinnerung s. das folgende Zitat: „Nun wurde aus dem Vergangenen, dem Vorbeisein ein Mit-Dabeisein.“ (Hahn 2010: 121). Bei einem gemeinsa-

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wohl die Gespräche über die Vergangenheit ihr Verhältnis irreversibel verändern, sodass es „eine Zeit davor“ und „eine danach“ (UB 150) gibt. Dieses „Kramen in den Fächern seines Gedächtnisses“ (Hahn 2010: 28) hat keine Mauer zwischen ihnen gefällt, sondern eher eine aufgebaut.19 Es erübrigt sich hier auch nicht, das einleitende Zitat des vorherigen Absatzes (Hahn 2010: 39) als Anlass zu nehmen, um davon ausgehend über die Problematisierung der Medialität des Gedächtnisses im Werk zu reflektieren. Im Text erscheinen verschiedene mediale Varianten der Erinnerung an die historische und persönliche Vergangenheit, die im Werk einander gegenüberstehen. Dem Medium des Bildes kommt schon im Titel des Werkes und auch bei der Fotoausstellung eine entscheidende Rolle zu, aber das Bildmotiv begleitet die ganze Aussprache von Vater und Tochter bis zum Ende des Romans, wie es auch zahlreiche Zitate des vorliegenden Beitrags belegen. Beim Vater wird mit seinen immer wieder angesprochenen Bildern „[i]m Kopf“ (Hahn 2010: 71, 121, 135, 160) auf sein unaussprechliches Kriegstrauma hingewiesen, wobei das Wort „Bild“ eine Sprachbildfunktion erfüllt. In der Wehrmachtausstellung fungieren die Bilder dahingegen als unhinterfragbare Dokumente der Vergangenheit, als „Beweismittel“, wie an Kriegsverbrecherprozessen (und im allgemeinen bei Gerichtsverhandlungen) oder wie es früher bei den im Laufe der „Entnazifizierung“ ausgehängten Fotomaterialien aus den befreiten KZs der Fall war. Die Sprache als Medium wird durch den Erzähltext selbst repräsentiert: durch das literarisierte Gespräch zwischen Vater und Tochter und alle anderen narrativen Reflexionen. Das Medium des menschlichen Körpers verbirgt bzw. vermittelt nur auf nonverbalem Weg, durch Sinnesorgane Erfahrbares wie Gerüche, Stimmen und andere unartikulierbare Inhalte, die wie „Splitter i[m] Bein“ (Hahn 2010: 30) im Gedächtnis des Vaters fortleben und zum traumatischen Kern seiner Erinnerung beitragen. Katja gelingt es nicht, all dem nachzuspüren:

men Spaziergang, gegen die Mitte der Handlung, findet sich im Text eine weitere Stelle, die eine Metapher für ihre seelische Annäherung sein kann: „[…] ihre Körper warfen einen langen, schwachen vereinigten Schatten“. (Hahn 2010: 151). 19 Selbst Katja denkt über die Frage nach, ob durch das Erfahren eine Brücke oder eher eine Kluft zwischen den Menschen hergestellt wird: „Wiegt geteilte Schande doppelt? Oder nur noch halb – wie geteiltes Leid?“ (Hahn 2010: 151). Dies bleibt aber eine offene Frage im Werk und Katja will auch im Bewusstsein dessen erfahren, dass es wahrscheinlich zu Distanz führt. Auf ihre innere Entfernung – oder sogar Entfremdung – wird z.B. an der folgenden Stelle im Text hingewiesen: „Lieber Vater“ […]. Es wäre ihr nicht über die Lippen gekommen.“ (Hahn 2010: 152). Auch auf den letzten Seiten des Romans, nachdem sich die fraglichen Sachen geklärt haben, „nahm sie ihn nicht“ „[i]n die Arme“. (Hahn 2010: 275f.).

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Edit V. Debróczki […] wie sah ein Schwerverletzter aus? Auch das kannte sie nur von Bildern […]. Eine schwerverletzte, junge Frau also hatte sie sich vorzustellen. Katja versuchte es, sie wollte es fühlen, wollte diese verwundete Frau erleben, ihre Nähe spüren, ihr Flehen hören. Aber das Bild in ihrem Kopf blieb ein Bild, stumm, geruchlos. Unscharf. (Hahn 2010: 175)

Die am Ende des Romans an Musbach gestellte Frage über das Bild in der Ausstellung sollte den Vater in Katjas Augen „entheroisieren“, aber es geschieht nicht. Es stellt sich heraus, dass der Mann auf dem betreffenden Foto nicht der Vater sein kann, denn er war im Winter 1943, als das Foto gemacht wurde, schon bei den Partisanen. Aber Musbach erwidert trotzdem: „Doch! […] Ich habe geschossen“ (Hahn 2010: 275), und bittet seine Tochter um Verzeihung. Er gibt damit quasi ebenso eine nicht verübte Tat zu wie Hanna Schmitz im Schlinks Roman Der Vorleser. Der Leser wendet sich mit dem Vorrücken der Rückerinnerungen mit immer größerer Empathie und Sympathie an die Figur von Musbach, während die ihn verhörende, sich ihm gegenüber steif, lieblos verhaltende Tochter schon wie erbarmungslos wirkt. Dafür ist einerseits die Wortwahl, der sich der HahnRoman bedient, verantwortlich, anderseits jedoch die jetzt erwähnte Figurenzeichnung bzw. die Handlungskonstruktion, in der vor allem die Perspektive des Vaters dominiert und durch die der Text die Kriegsverantwortung des Vaters auf vielfache Weise abschwächt.20 All dies suggeriert dem Leser, eher das Verhalten des Vaters als das seiner Tochter zu verstehen. In den Figuren von Tochter und Vater findet jedoch keine Gegenüberstellung von „gut“ und „böse“ statt, obwohl dies naheliegen könnte. Durch die sympathische Zeichnung von Musbachs Charakter und Katjas unliebsame Art mag der Text versuchen, eine Denkweise vor-

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Das lässt sich am besten bei der starken Vernebelung um Musbachs fraglicher Mordtat beobachten (Hahn 2010: 264ff.). Harald Welzer befasst sich in einer seiner Studien eingehend mit dieser Problematik, die sich kurz wie folgt zusammenzufassen ist: Die auf dem Foto festgehaltene „Untat“ war die Erschießung eines Kriegsgefangenen, die Musbach auf Befehl von seinem Vorgesetzten auszuführen hatte. Nachdem der Schuss aber losgegangen war, fiel er zusammen und verlor das Bewusstsein. Ungeklärt bleibt einerseits, ob das Geschoss das Opfer überhaupt traf, also ob wirklich Mord geschah. Die letzten Worte („Verdammter Idiot!“), die der Soldat vor seiner Ohnmacht hörte, lassen uns im Weiteren laut Welzer darauf folgen, dass er den Erwartungen nicht entsprach und die Tat wahrscheinlich nicht ausgeführt hat. Die Erinnerung an die Tat wird also im Roman von der Schleier der Bewusstlosigkeit verhüllt, wodurch das Verbrechen in einen moralisch neutralen Raum gewiesen wird. S. Welzer 2004: 55f.

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zuzeichnen: der Leser wird dazu angeregt, über einseitige Geschichtsbilder und eventuell über die eigenen Vorfahren nachzudenken.21 Der Roman läuft vor allem auf die Aussage hinaus, dass einzelne herausgegriffene, entkontextualisierte Bilder bzw. Details vom Gesamtbild der deutschen Vergangenheit notwendigerweise irreführend sein müssen. Bei Bildern besteht nämlich laut des Textes eine Verallgemeinerungsgefahr: Ein Bild prägt sich mit einer eventuell falschen Aussage ein und dadurch werden Berichte, die etwas anderes aussagen, zurückgewiesen: War es denn niemals möglich, auch das ganze Bild zu sehen? Das Unheil des Ersten Weltkriegs, das Terrorregime der Nazis zunächst gegen die deutschen Demokraten, gegen die Juden und schließlich gegen ein Europa, das sich nach Frieden sehnte? Und dann auch noch das, was er am eigenen Körper erfahren hatte, ohne jemals selbst etwas entscheiden zu können; er, ein Teil der deutschen Kriegsmaschine und ihr Opfer zugleich. Mußte man aus dem Mosaik immer nur die Steine einer Farbe auswählen? Gab nicht erst das ganze Bild einen Sinn? (Hahn 2010: 27)22

Der Musbach hier unübersehbar zugeschriebene Opferstatus – jedoch ohne Verleugnung seiner Kriegsverantwortung – sowie das vollständige Fehlen seiner 21 Ohne die Rezeptionsgeschichte des Romans hier erschöpfend vorführen zu können, sollen hier jedoch einige symptomatische Meinungen benannt werden. Die Mehrheit der Rezensionen (u.a. auch die von Hans Christian Kosler – Neue Zürcher Zeitung vom 10.09.2003) berührt den Kritikpunkt, dass das Buch keine gelungene Auseinandersetzung mit der Schuldfrage sei und darin die deutsche Opferperspektive vorwiege. Nach der Meinung von Martin Lüdke, dem Rezensenten der Zeit (09.10.2003), sei Hahns Absicht vor allem gewesen zu zeigen, dass „selbst Mörder noch gute Menschen sein“ können. Gelobt wurde von ihm die „dokumentarisch[e] Genauigkeit“ des Romans, den Begriff „Unschärfe“ sowie die Atmosphäre des inszenierten Gesprächs zwischen den beiden Protagonisten habe er jedoch nicht für zweckmäßig gehalten. Hans-Herbert Räkel (Süddeutsche Zeitung vom 18.09.2003) war hingegen vom Buch und von seiner bis zum Ende aufrechterhaltenen Spannung einfach fasziniert, obwohl er bei der Vaterfigur bemängelt hat, dass er sich als Vertreter seiner Generation nicht besonders eigne. 22 Kurz vor der zitierten Stelle nimmt Musbach im Text auf Günter Grass‘ Werk Im Krebsgang Bezug und nimmt daneben Stellung, dass „Günter Grass mit seinem „Krebsgang“ nicht die Nazimorde gegen deutsches Unglück aufrechnen wollte.“ (Hahn 2010: 27). Diese Anspielung indiziert nach Andrea Geier die Aktualität der um 2002-2003 (zur Zeit der Erscheinung beider erwähnten Romane) kulminierenden Debatte um die Erinnerung und öffentliche Thematisierung von Leiderfahrungen nichtjüdischer Deutscher. Die beiden Protagonisten des Hahn-Romans verkörpern „konfligierende Perspektiven“ in dieser Debatte (S. Geier 2008: 12).

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Entscheidungskraft zeichnen ein Bild vom ehemaligen Soldaten, das ihn zu entlasten beziehungsweise zu entschuldigen vermag. Harald Welzer macht auch darauf aufmerksam, dass die Opferschaft vom Vater am Ende des Romans durch die Umstände seiner zweifelhaften Tat weiter verschärft wird, denn er wird hier nicht einmal zum Täter, sondern er führt viel mehr eine Heldentat durch, denn er richtet einen wirklichen Täter hin. 23 Der Bestseller-Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink geht in dieser Hinsicht noch weiter, da er im Rahmen von einer Art Bildungsgeschichte ein moralisches Dilemma inszeniert: „die Läuterung“ der im juristischen Sinne als Verbrecherin verurteilten Täterin und trotzdem – so ein häufig wiederholtes Argument der Kritik ‒ für eine Kriegsverbrecherin schlechthin Sympathie zu wecken vermag. An diesem Punkt ist kurz darauf einzugehen, wie die verschiedenen Formen und Rahmen des Gedächtnisses im Text ineinandergreifen. Was im deutschen kollektiven (nationalen) Gedächtnis über Krieg, Nationalsozialismus und NSVernichtungspolitik „fortlebt“, manifestiert sich auf der Ebene der individuellen Geschichte des Vaters als seine zu bewältigende Schuld und persönliche Verantwortung, mit denen er im Werk konfrontiert wird. Der Familienroman von Hahn veranschaulicht am Beispiel einer Einzelbiografie die Unterschiede zwischen den offiziellen Täternarrativen und dem Familiengedächtnis, der privaten Erinnerung des Einzelnen, wo immer noch Opfermythen und Selbstentlastungsmechanismen fortwirken (davon zeugen u.a. Musbachs Berufung auf den Befehlsnotstand oder auf das Fehlen seiner Entscheidungskraft und die Betonung seiner Leiden und somit einer Opferperspektive).24 Obwohl Musbach unabhängig davon, ob sich bei ihm individuelle Schuld beweisen lässt oder nicht, einen Angehörigen der Tätergeneration darstellt, folgt die Entschuldung des Vaters bei Katja der Logik: wenn kein Bild, dann keine Schuld (Hahn 2010: 275). Die Mechanismen vom Wissen und Verdrängen funktionieren also vor dem Hintergrund familiärer Loyalitätsverpflichtungen, die im Falle von Musbach und Katja ohne Zweifel bestehen, parallel, wie es der Roman aufzeigt. Im Laufe des Hahn-Romans lässt sich durchaus nachvollziehen, dass Katja die verbrecherischen Taten oder schlechten Entscheidungen ihres Vaters im

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Wenn Musbach nach seiner „Ohnmacht“ (s. Anm. 20) zur Besinnung kommt, merkt er, dass sein Vorgesetzter Katsch gerade eine Gefangene zu vergewaltigen beabsichtigt. Nachdem er den Täter mit seinem Gewehr umgebracht hat, verlässt er mit der Frau den Schauplatz der Tat. Mehr dazu s. Welzer 2004: 56. 24 Harald Welzer erläutert in seiner schon erwähnten Studie Opa war kein Nazi (s. Anm. 3), dass man über die Nazizeit gut informiert sein und zugleich die Partizipation der eigenen Angehörigen daran verdrängen kann.

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Krieg zu hören erwartet.25 Da im Roman gar keine von diesen erwähnt werden, geschieht hier keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Erlebnisgeneration, dem Nationalsozialismus oder mit der Frage der Täterschaft, denn Katja hat eigentlich nichts Anderes zu verzeihen, als dass ihr Vater an dem Krieg als Soldat teilnahm. Auch die SS-Partisanaktionen und Untaten von SS-Offizieren werden im Werk nur beiläufig erwähnt, in den Reihen der Wehrmacht finden sich jedoch – nach Musbachs Erzählung – keine „wirklichen“ Täter. Hahns Text lässt sich so letztendlich als ein Opfernarrativ, ein wiederbelebter Opfermythos mit Entlastungsfunktion lesen.26 Nur die erzwungene Antwort des Vaters auf die Frage, was er „von den Ghettos und Massenerschießungen der Juden“ (Hahn 2010: 206) wusste, vermag seinen Opferstatus einigermaßen zu relativieren: „Gewußt? Ja und nein. Gemunkelt wurde viel. Von Erschießungsaktionen der Einsatztruppen und der SS“ (Hahn 2010: 206f.)27. Dies vermag aber die Proportionen eines ausbalancierten Täter-Opfer-Narrativs nicht zurechtzurücken. Vielsagend ist in dieser Hinsicht das dem Roman vorangestellte Wittgenstein-Zitat.28 Hahns Text zeigt ein ambivalentes Verhältnis zwischen verschiedenen Bildern auf: in der Romanhandlung erscheinen private, mündliche Erinnerungen bzw. Bilder des kommunikativen Gedächtnisses im Gegensatz zu handgreiflichen Fotografien als verlässlicher. Bilder haben nur Beweiskraft, wenn sie kontextualisiert werden, sonst zeigen sie nur eine Teilwahrheit. Das Zitat wie auch das ganze Werk plädiert nämlich für Unschärfe im Interesse der Vermeidung einer „Schwarz-Weiß-Malerei“ und unterstützt gegenüber der Haltung des Verurteilens jene des Verstehens, denn nur so kann man „[d]er Wahrheit so nah wie möglich“ (Hahn 2010: 276) kommen: 25

Dazu s. das folgende Zitat: „Wer hat denn diese Menschen hier, Russen, Polen, Juden, Frauen und Kinder, erschossen und aufgehängt? Sind die deutschen Soldaten auf diesen Fotos Phantome? […] Wo waren denn die Nazis? Wo warst du selbst? Wieder dagegen und doch dabei?“ (Hahn 2010: 82). 26 Gemeint ist hier die Wiederbelebung der Opferlegende der Nachkriegszeit, welche die Schuldfrage auf eine Minderheit der Führerschicht um Hitler bzw. der Mitglieder der Waffen-SS und SA beschränkte und die Mehrheit der einfachen Soldaten und des verführten deutschen Volkes freisprach. 27 Musbach versucht mehrmals vor dieser Frage auszuweichen mit Sätzen wie: „[…] Wie konnten wir das zulassen? Aber denk auch daran: Als Hitler an die Macht kann, war ich noch keine dreizehn. Und danach … war es zu spät! […]“ (Hahn 2010: 59). S. auch ein anderes Beispiel: „An der Front waren Juden kein Thema.“ (Hahn 2010: 95). 28 Das Zitat von Ludwig Wittgenstein lautet wie folgt: „Ist eine unscharfe Fotografie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ (Hahn 2010: 7).

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Edit V. Debróczki „[…] Wie viele Seiten hat die Wahrheit? So viele, wie wir Bilder für sie haben. Oder Worte.“ „Bilder“, sagte die Tochter. „Sind Bilder immer wahr?“ „Ja, sicher“, sagte Musbach, „jedenfalls für den Augenblick, den sie festhalten […]. Aber für jedes Bild gibt es ein Bild dahinter, für jeden Augenblick eine Geschichte, davor und danach.“ (Hahn 2010: 63)

Die Unschärfe wird also vom Roman positiv bewertet, weil sie für das Nichtvorhandensein von gegebenen Wertungsperspektiven spricht und immer die Möglichkeit offen hält zu hinterfragen. In der Wirklichkeit fokussiert das Buch von Hahn in erster Linie nicht auf die Haltung des Vaters, sondern auf die von Katja, der Vertreterin der ersten Nachkriegsgeneration. Der Text reflektiert immer wieder, was die geteilte Erinnerung in Katja leistet, welche Veränderungen sich in ihrem Schwarz-Weiß-Denken vollziehen. Wie es auch Harald Welzer annimmt, illustriert das Werk somit eine immer symptomatischer werdende Tendenz der deutschen Gedächtnisgeschichte: Die verständnisvollere, empathischere Haltung der einstigen 68er-Generation gegenüber den Vergangenheitsbewältigungsschemas der Täter- und Augenzeugengeneration (s. Welzer 2004: 56f.).

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Die Familie als ein Medium der Erinnerungskultur im deutschen Familienroman

Im Gegensatz zur Väterliteratur29, der BRD-Literatur der 1970er-80er Jahre, schreiben die zeitgenössischen Familienromane über dieselbe historische Epoche aus einem größeren zeitlichen Abstand schon ganz anders, in den meisten von ihnen tritt die anklagende Stimme deutlich zurück und an deren Stelle erscheint die Wiederversöhnungsbereitschaft. Die Aufmerksamkeit des deutschen Familienromans von heute erfasst – im Gegensatz zur Väterliteratur – nicht nur den Gegenstand seiner Erzählung: die Eltern oder Großeltern, sondern auch den Erzähler (bzw. Erzählerin) aus der zweiten oder dritten Generation. Die Erzähler sind nicht darum bemüht, sich von der Kriegsgeneration abzugrenzen, sondern sie interpretieren ihre eigene Identität als Teil einer genealogischen Kette und nicht die Ablösung von der vorausgehenden Generation bildet für sie den Ausgangspunkt der Identitätssuche.30 Diese „Sehnsucht nach genealogischer Kontinuität“ wird auch von drei autobiografischen Familienromanen signalisiert, bei 29

Mehr zur Väterliteratur und zu ihren Merkmalen s. Assmann 2007: 159ff. Die Konjunktur des Generationenbegriffs hat für heute auch schon die Kulturwissenschaften erreicht. Mehr dazu s. Anz 2009: 16ff.

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denen es sich ohne Ausnahme um Romandebüts handelt: um das Buch Herkunft (2011) von dem Filmregisseur Oskar Roehler, um den Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) von dem Drehbuchautor Eugen Ruge und um das Mittelreich (2011) von dem Schauspieler und Landwirt Josef Bierbichler. All diese Werke zielen auf „die Eröffnung eines gemeinsamen Erinnerungsraumes jenseits von Schuld und Sühne“ (Radisch 2011). Die Texte sind als eine Reflexion auf die Vergangenheit der Vorfahren anzusehen. Die Attitüde, die Gedächtnisbilder des Familien- und Generationengedächtnisses werden – durch die Nachkriegsgenerationen – notwendigerweise ergänzt, umgearbeitet, modifiziert von der einen Generation auf die andere tradiert. Der Familienroman strebt also nicht nach einer Externalisierung der negativen historischen Erfahrungen des Nationalsozialismus aus dem Familiengedächtnis. Das fiktive oder autobiografische Ich versucht, sich in einen Familienund Geschichtszusammenhang zu integrieren (Assmann 2007: 159f.), um die genealogische Kontinuität wiederherzustellen, welche die Konfrontation der 68er mit der 45er-Generation abgebrochen hat. Musbach, der Protagonist des HahnRomans aus der Erlebnisgeneration bietet für die beiden Nachkriegsgenerationen die Möglichkeit der Identifikation, so erfüllt die literarische Kommunikation zwischen den Generationen im Familienroman ihre identitätsbildende, kontinuitätsstiftende Funktion. Auch schon deshalb ist die erinnerungsgeschichtliche Bedeutung der Gattung so außergewöhnlich. Es scheint aber durchaus bemerkenswert zu sein, dass diese Bereitschaft der 68er zu einer Aussöhnung mit der Tätergeneration nicht die einzig dominierende Perspektive in der heutigen deutschen Literaturszene darstellt, es gibt nämlich auch konfrontativere Generationen- und Familienromane. Tanja Dückers Familienroman Himmelskörper (2003) stellt zum Beispiel das Verhältnis einer Angehörigen der dritten Generation zu ihren Großeltern in den Mittelpunkt. Die Perspektive der Enkelin ist aber ganz anders als in den Unscharfen Bildern (oder im Schlink-Roman), weil hier keine Spuren der Wiederversöhnungsbereitschaft gegenüber der Tätergeneration zu finden sind; die Enkelin muss sich von ihren immer noch Nazi-Rhetorik gebrauchenden Großeltern abgrenzen. Auch der als „Familienroman“ apostrophierte Text Ein unsichtbares Land (2003) von Stephan Wackwitz basiert auf der unauflösbaren Fremdheit dem Großvater gegenüber. Der Protagonist von Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003) enthält sich im Weiteren auch der Äußerung des moralischen Urteils nicht. Er lässt die Mythen und Bilder, die im Zusammenhang mit dem verstorbenen Bruder Karl-

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Heinz im Familiengedächtnis fortleben, nicht im Zustand der „wohltätigen Verschwommenheit beziehungsweise Unschärfe“ bleiben. 31

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Fazit

In Hahns Roman werden die neuesten, in den vergangenen beiden Jahrzehnten bestimmenden Trends der Entwicklungsgeschichte der deutschen Erinnerungskultur thematisiert. Während bis zu den 70er-90er Jahren das Leiden der Holocaustopfer beziehungsweise Holocaustüberlebenden die dominante Narrative des kulturellen Gedächtnisses darstellte, etablierten sich nach der Jahrtausendwende auch die Perspektive der deutschen zivilen Opfer und die drei anfangs erwähnten, bisher tabuisierten deutschen Leidensgeschichten in der deutschen Erinnerungskultur –, natürlich existieren diese nur neben der Stimme der deutschen Täter und der jüdischen Opfer. Gleichzeitig sind aber auch die Familienromane äußerst populär, in denen der Vertreter der Täter- und Augenzeugengeneration nicht eine der zivilen Opfer des Krieges ist (wie in Im Krebsgang von Günter Grass), sondern in den Operationen des Kriegs (wie im Hahn-Roman) oder in den Konzentrationslagern (wie im Schlink-Roman) eine aktive Rolle spielte. Die Aufwertung der Perspektive der victim-Opfer hat nämlich die Wiederversöhnungsbereitschaft gegenüber den Tätern nicht ausgeschlossen. Hahns Roman beschreibt die generationsspezifischen Unterschiede in der Erinnerung an den Krieg, die Konfrontation von geschichtlichem Wissen und Familiengedächtnis und inszeniert den Versuch, diese miteinander in Einklang zu bringen. Durch das Opfernarrativ von Musbach lässt sich seine Kriegsvergangenheit mitempfinden und sogar entschuldigen (wie es auch kritisiert wurde), denn er ist fähig, im Leser Mitgefühl und Mitleid zu wecken. Die Leistung des Opfernarrativs, die sich an diesem Punkt offenbart, besteht darin, dass sie aufzeigt: Das Verhältnis zur eigenen nationalen Vergangenheit und deren Bewertung bzw. Beurteilung sind nicht gegeben, sondern ihre Modifizierung und Neubewertung ist möglich und nötig. In diesem Sinne leistet der Hahn-Roman – wie auch andere Generationen- und Familienromane – eine Art Erinnerungsarbeit. Die Erinnerung ist Teil des Erzählvorgangs, das wirkliche Thema des Werkes bilden weniger die historischen Ereignisse und Erfahrungen, sondern vielmehr der Prozess der Erinnerung selbst. Durch die Generationen- und Familienromane wird die fortwährende (Neu)Interpretierung der historischen Vergangenheit im Familiengedächtnis fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. 31

Im Bezug auf die im Absatz vorgeführten literarischen Beispiele s. Welzer 2004: 59, 61ff.

Opfernarrative im zeitgenössischen deutschen Generationenroman 5

159

Literatur

ANZ, Thomas (2009): Generationenkonstrukte. Zu ihrer Konjunktur nach 1989. In: Geier, Andrea / Süselbeck, Jan (Hrsg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen: Wallstein, 16–29. ASSMANN, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck. ASSMANN, Aleida (2007): Geschichte im Familiengedächtnis. Private Zugänge zu historischen Ereignissen. In: Historische Stoffe. Neue Rundschau 118.1, 157–176. ERHART, Walter (2000): Generationen – zum Gebrauch eines alten Begriffs für die jüngste Geschichte der Literaturwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 30, 82–107. FREUD, Sigmund (1966): Der Familienroman der Neurotiker. In: Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd. VII. Hrsg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt/Main: Fischer. GEIER, Andrea (2008): Erfahrung vs. Erinnerung? Umkämpfte Geschichte in der Literatur nach der Jahrtausendwende. In: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur 68, 7–21. GIESEN, Bernhard (2004): Das Tätertrauma der Deutschen. In: Giesen, Bernhard et. al (Hrsg.): Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz, UVK (=Historische Kulturwissenschaft 2), 11–53. GRASS, Günter (22002): Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl. HAHN, Ulla (52010): Unscharfe Bilder. München: Deutscher Taschenbuch (1. Aufl.: 2003). RADISCH, Iris: Die elementare Struktur der Verwandtschaft. In: Zeit online, 06.10.2011. http://www.zeit.de/2011/41/Literatur-Familienromane (gesichtet am 10.09.2013). WELZER, Harald (2004): Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1, 53–64. WELZER, Harald (Hrsg.) (2007): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. Frankfurt/Main: Fischer. WELZER, Harald / GIESECKE, Dana (2012): Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg: Edition Körber-Stiftung. WELZER, Harald / MOLLER, Sabine / TSCHUGGNALL, Karoline (2002): „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch.

Sándor Trippó Debrecen

Repräsentationen der ostmitteleuropäischen Wende und der deutschen Wiedervereinigung in ungarischen Schulbüchern 1

Wende-Erfahrung aus heutiger Sicht

Im Vorwort des 2010 veröffentlichten Sammelbandes Die Ostdeutschen in den Medien, der sich mit der diskursiven Konstruktion der Ostdeutschen in westdeutschen und österreichischen Medien auseinandersetzt, stellt der Historiker Wolfgang Schmale fest, dass seit dem Umbruch von 1989–1990 inzwischen eine neue Generation herangewachsen sei. Deswegen „[…] [bedeutet] für zunehmend mehr Menschen die deutsche Teilung eine Erzählung von etwas nicht selbst oder kaum bewusst Erlebtem.” (Ahbe 2010: 7). Diese Beobachtung fasst kurz und bündig zusammen, was in den letzten Jahren zu einer Neuorientierung geschichts- und kulturwissenschaftlicher, sowie soziologischer Fragestellungen führte: Während kurz nach der Wende und auch in den späten 90er Jahren vorwiegend die öffentliche Konfrontation mit den Erfahrungen der Vor- und frühen Nachwendezeit (wie Bespitzelung, soziale Unstabilität, kollektive Identitätskrise) im Brennpunkt von Diskussionen standen, scheinen heute eher Fragen nach Konstruktion und Tradierung von Erinnerungen an diese Epoche in den Vordergrund wissenschaftlicher Debatten gerückt worden zu sein. Dass nicht nur literarische und filmische Erzählungen sowie Ausstellungen, sondern auch Schulbücher eine zentrale Rolle dabei spielen, wie sich die Vorwendezeit und die Wende ins kollektive Gedächtnis fortpflanzen, wird in den verstrichenen Jahren in Deutschland immer öfters betont. Nach historiografischen Auseinandersetzungen über die Perspektivierung ostdeutscher Geschichte hat Anfang der 2000er Jahre die Bundesstiftung für Aufarbeitung der SEDDiktatur zahlreiche Studien veröffentlicht, welche die Darstellungen der jüngsten deutschen Geschichte in den Lehrplänen und Schulbüchern zum Untersuchungsgegenstand hatten. Unter den ersten berichtete Ulrich Arnswald in einer Expertise über den Stellenwert des Themas DDR-Geschichte und konstatierte, […] dass die Herausbildung von Widerstand und Opposition in der DDR in den Lehrplänen nur unsystematisch widerspiegelt wird […] und die komplexeren Einflüsse anderer endogener und exogener Kräfte bei der friedlichen Revolution […] nicht in ihrer Gesamtheit und wechselseitigen Verflechtung reflektiert und den Schülern nahegebracht [werden.] (Arnswald 2004: 34)

Sándor Trippó

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In Anlehnung an diese Kritikpunkte wurde spezifisch auch die Darstellung der friedlichen Revolution untersucht: während Carsten Schröder 13 ausgewählte Schulbücher analysierte, befragte Oliver Igel die Lehrpläne der alten und neuen Bundesländer. Auch wenn Schröder einige positive Entwicklungstendenzen vorzeigen konnte, scheinen die Feststellungen früherer Expertisen – wie die von Arnswald – auch auf die heute gebräuchlichen Lehrbücher zuzutreffen, indem sowohl Schröder, als auch Igel das Fehlen einer problemorientierten Thematisierung bemängeln und die inkonsequente Handhabung der Terminologie (friedliche Revolution vs. Wende) als symptomatisch für den unsicheren Umgang mit der Zeitgeschichte im Schulunterricht diagnostizieren (vgl. Schröder 2004). Diese Diskussionen über die Tradierungsproblematik im Bildungsbereich zeugen auf jeden Fall davon, dass in Deutschland eine rege Auseinandersetzung mit der über 40 Jahre währenden Systemkonkurrenz voll im Gange ist, während für andere postsozialistische Länder wie Ungarn die Bewältigung dieser Epoche und ihrer vielfältigen politischen, gesellschaftlichen und ethischen Konsequenzen immer noch eine große Herausforderung darstellt. Obwohl eine tief greifende und differenzierte Auseinandersetzung sowohl auf kollektiver, als auch auf individueller Ebene in den meisten ehemaligen Ostblock-Ländern ausblieb, wurden Ereignisse, Personen und Positionen der Wendejahre – ebenso wie in Deutschland – in systematischer Form zum ersten Mal in den ersten Geschichtslehrbüchern der Nachwendezeit festgehalten. Die Lehrwerke haben demnach mit ihrem leicht verständlichen, populärwissenschaftlichen Register zur Kanonisierung und Verbreitung der neuen Positionen und Inhalte wesentlich beigetragen. Was jedoch diesbezüglich zu bedenken gibt, ist, dass zum Beispiel in Ungarn viele dieser ersten Lehrbücher – zwar in überarbeiteten Versionen – immer noch Anwendung finden und so eigentlich weiterhin die Sichtweisen und Deutungsmuster des Anfangs der 1990er Jahre tradieren. Über zwanzig Jahre nach der Wende, wo Ungarn mit anderen ehemaligen Ostblock-Ländern EU-Mitglied ist, stellt sich daher die Frage, wie die Herausbildung demokratischer Herrschaftsstrukturen durch die vereinfachten Schulbuchrepräsentationen der Wandelprozesse positioniert wird, welche Deutungsmuster diesbezüglich als akzeptabel und kollektiv relevant hervorgehoben werden.

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Zielsetzung

Zur vorliegenden Analyse wurden Lektionen aus vier Lehrbüchern (Bihari/Doba 2006: 230ff.; Dupcsik/Répárszky 2009: 255ff.; Salamon 2010: 273ff.; Száray/Kaposi 2009: 172ff.) ausgewählt, die im offiziellen, ungarischen Lehrwerkverzeichnis 2013–2014 (vgl. Közoktatási Tankönyvjegyzék 2013–2014.

Wende und Wiedervereinigung in ungarischen Schulbüchern

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tanévre) zu finden sind, somit thematisch gesehen allen Vorgaben des aktuellen Rahmenlehrplans Genüge entsprechen und in der 12. Klasse von Gymnasien und Fachmittelschulen eingesetzt werden. Unbeachtet bleiben Text- und Aufgabensammlungen, sowie Prüfungsvorbereitungsmaterialien und Lehrwerke, die nicht verzeichnet sind oder in anderen Schultypen verwendet werden. Es werden hier weder geschichtswissenschaftliche, noch didaktische Aspekte beleuchtet, die von Fachgremien teilweise schon ausdiskutiert worden sind (vgl. Borsodi 2010). Des Weiteren werden die Inhalte nicht auf ihre faktische Richtigkeit hin geprüft, was konspirativ eine Geschichtsverfälschung nahelegen würde. Untersucht wird stattdessen, aus welcher Perspektive die Ereignisse und Entscheidungen der internationalen Politik dargestellt und welche Kausalitätsverhältnisse dadurch in diesen Schulbüchern festgehalten werden. Weiterhin soll auch der Frage nachgegangen werden, wie Deutschland in diesen Narrativen positioniert wird. Um diese Fragestellungen beantworten zu können, folgen zunächst einige theoretische Vorüberlegungen zur kritischen Schulbuchforschung.

3

Schulbuch als Medium der Wirklichkeitskonstruktion

Dass Schulbücher jeglicher Art nicht nur in totalitären Gesellschaftsstrukturen über eine zentrale Sozialisierungsfunktion verfügen, sondern auch in Demokratien als (Re)produktionsstelle politischer und kultureller Machtverhältnisse zu verstehen sind, gilt sowohl im soziologischen, als auch im kulturwissenschaftlichen Diskurs als Gemeinplatz. In den vergangenen Jahrzehnten sind nämlich zahlreiche Publikationen erschienen, welche die narrative Konstruktion einer gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Lehrbuchrepräsentationen betonen und infolgedessen Schulbücher zwangsläufig als latent politische Statements über Geschlechterrollen, Fremdheit und gesellschaftliche Normen interpretieren. Diese Analysen setzen sich mit Lehrbüchern nicht vorrangig aus einer methodisch-didaktischen Perspektive auseinander, sondern wollen solche Erzähl- und Repräsentationsstrategien zu Tage fördern, welche die bestehende Machtstruktur entweder als natürliche Gegebenheit oder als logische Konsequenz historischer Entwicklungen darzustellen versuchen, um dadurch Hierarchien und Wertesysteme zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Nach Allan Luke seien Lehrbücher in diesem Sinne als eine Schnittfläche zwischen Schülern und dem offiziell propagierten Kulturgut zu konzeptualisieren. Kinder und Jugendliche würden mit den Schulbucherzählungen in die Funktionsmechanismen der eigenen Kultur eingeweiht (Luke 1988: 64). Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Lehrbüchern eng mit den Friedens- und Sozialbewegungen des 19. Jahrhun-

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derts sowie mit späteren egalitaristischen Bestrebungen verflochten waren und die Schwerpunkte jener Untersuchungen wesentlich mit den zentralen Kategorien der Gleichberechtigungsbewegungen wie class, gender und race korrelierten (vgl. F. Dárdai 1999: 44). Die theoretische Fundierung dieser kulturkritischen Studien ist vor allem in den Einsichten des angelsächsischen Social Constructivism zu verorten. Besonders einflussreich waren weiterhin die Thesen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und des amerikanischen Medienwissenschaftlers John Fiske, die sich der Erforschung diskursiver Praktiken gewidmet haben, durch die Differenzen und infolgedessen Machtverhältnisse im gesellschaftlichen Milieu zustande kommen. Während Bourdieu das Verhältnis zwischen dem ökonomischen, symbolischen und kulturellen Kapital darlegte (vgl. Bourdieu 1996), räumte Fiske der Wissensproduktion und -zirkulation eine zentrale Rolle in den sozialen Machtverteilungsmechanismen ein (vgl. Fiske 1989 149f.). Im Anschluss an diese Ausführungen merkt Michael W. Apple unter Rekurs auf den englischen Philosophen Herbert Spencer an, dass die Fragestellung, die oft im Mittelpunkt von Debatten der Bildungspolitik steht, eigentlich verfehlt sei (Apple 2004: 180). Nach Apple sei nämlich die Frage „Wessen Wissen wird gelehrt?“ viel wichtiger, als die Frage nach den Inhalten und Kompetenzen, die unterrichtet werden. Er plädiert somit für eine kritische Kompetenz (critical literacy) und hält die funktionalistische Ausprägung des Bildungswesens (functional literacy) für fehlgeleitet (Apple 2004: 180). Apples Thesen, die Lehrbücher eindeutig als Artefakte der Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gesellschaft und dementsprechend als Austragungsort symbolischer Machtverteilungskämpfe identifizieren, benötigen jedoch eine leichte Präzisierung. Es ist zwar durchaus nachvollziehbar, dass Lehrbücher mit ihren Repräsentationsstrukturen eine selektive Tradition (selective tradition) (vgl. Williams 1961) vermitteln, folglich mit Ex- und Inklusion verschiedener Inhalte und Perspektiven operieren, um soziale Kategorien und Verhältnisse herzustellen (Apple 2004: 182f.), bleiben in Apples Ausführungen einige makrosoziale und kulturelle Dimensionen nicht thematisiert. Dies ist größtenteils der Tatsache zu verdanken, dass sich Apple allzu sehr auf das Schulbuch konzentriert, auch wenn er immer wieder die didaktische Kontextualisierung und die Rolle des Lehrers mitbetont. Aus den größeren Zusammenhängen hebt Apple nämlich lediglich die vielfältige Verflechtung von kulturellen und wirtschaftlichen Präferenzen hervor, indem er die Marktorientierung von Schulbüchern als eine regulierende Kraft festhält. Nach ihm würden die Nachfrage und die Schulbuchherstellung in einer wechselseitigen Beziehung stehen (Apple 2004: 184f.). Apples Einsichten beschränken sich vorwiegend auf das amerikanische Bildungsmilieu. Um seine

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Annäherungsweise auch auf andere Lehrbuchkorpora aus kulturwissenschaftlicher Sicht produktiv übertragen zu können, soll man die spezifisch regionalnationalen Ausprägungen der Traditionen im Bereich der Schulausbildung nicht aus dem Auge verlieren. Im ungarischen Kontext ist demzufolge zum Beispiel festzuhalten, dass sich der Geschichtsunterricht nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich (1867) etabliert hat, folglich von Anfang an die Ausgestaltung eines einheitlichen nationalen Bewusstseins anstrebte und somit die ethnische und soziale Heterogenität des Landes zu verschleiern versuchte, so der Bildungstheoretiker György Jakab (vgl. Jakab 2009). Diese Ausprägung sei in einer einigermaßen veränderten Form auch im 20. Jahrhundert erhalten geblieben, wo die vielen politischen Wandelprozesse (nicht nur die Wende von 1989–1990) durch die Akzentuierung der Sonderstellung ungarischer Geschichte und der nationalen Interessen die Problematik der ethnisch-kulturellen und sozialen Teilung immer wieder verdrängt hätten (vgl. Jakab 2009). Dass Schulbücher der Nachwendezeit in den postsozialistischen Ländern in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten aufweisen und mit ihrem monolithischen Kulturkonzept und oft intoleranten Annäherungsweisen eigentlich die frühere sozialistische/kommunistische Ideologie mit einer national-patriotischen austauschen, sei nach Jan Germen Janmaat und Edward Vickers höchst problematisch (vgl. Janmaat/Vickers 2007: 267ff.). Joseph Zajda führt diese Überlegungen fort und behauptet in ihrer Abhandlung, dass neben Fragen einer ausgeglichenen Vergangenheitsdarstellung hauptsächlich Patriotismus und Nationenbildung die Debatten über Lehrbuchinhalte in postsozialistischen Ländern dominieren würden (vgl. Zajda 2009: 373ff.). Die hier skizzierte Komplexität dieses Forschungsgebiets kann als möglicher Grund dafür angesehen werden, dass die Lehrbuchforschung über keine einheitlichen Forschungsmethoden verfügt, wie es oft bemängelt wird. Im europäischen Kontext sind jedoch drei maßgebende Ansätze festzuhalten: das Analysemodell von Joseph Thonhauser legt Wert vor allem auf die praktische Nutzbarkeit solcher Erkundungen und unterscheidet kritisch-analytische und konstruktivsynthetische Interpretationsweisen (vgl. Sams/Thonhauser). Nach Peter Weinbrenner sollen dagegen eher die Multidimensionalität und Multiperspektivität von Lehrbüchern akzentuiert werden und er schlägt dementsprechend eine umfassende Prozess-, Produkt- und Rezeptionsforschung vor, die jedoch eben wegen ihrer Ausführlichkeit oft als unbrauchbar abgestempelt wird (vgl. Weinrenner 1992: 33ff.). Die diskursanalytisch geprägte Annäherung des vorliegenden Beitrages steht dem dritten, von Gerd Stein entwickelten Modell am nächsten, da Stein vorwiegend auf die (latent) politische Natur von Schulbuchnarrativen fo-

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kussiert und Lehrmaterialien als Untersuchungsgegenstand zwischen Medienund Gesellschaftsforschung verortet (vgl. Stein/Wolfgang-Eisfeld 1976). Dass trotz des Fehlens fester Interpretationsrahmen die Schulbuchforschung doch eine wichtige Position im heutigen kritischen Diskurs einnimmt, beweisen nicht nur die Publikationen mit einer solchen thematischen Ausrichtung, sondern auch die großangelegten Projekte des Europarats zum Geschichtsunterricht. Relevant für die vorliegende Analyse ist von diesen Forschungsprojekten die unter Koordination des Braunschweiger Georg-Eckert-Instituts für internationale Lehrbuchforschung durchgeführte Studie, die sich mit den Repräsentationen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert befasst. Nach dem Herausgeber Falk Pingel würden gegenwärtige Lehrbücher die neuere europäische Geschichte vorwiegend aus einer politisch-ökonomischen Perspektive thematisieren, wobei Europa (und die EU) zumeist als ein geografisch transparentes Konstrukt erscheine, mit dem fast ausschließlich negative Ereignisse (Weltkriege, Kalter Krieg, Teilung) assoziiert würden. Da länderübergreifende kulturelle und politische Zusammenhänge nur wenig deutlich gemacht würden, werde in den untersuchten Lehrwerken kein Europakonzept entwickelt, das eine gesamteuropäische Zusammengehörigkeit betonen würde (vgl. Pingel/Boitsev 2000: 48). Um feststellen zu können, ob sich die Lektionen der ausgewählten ungarischen Lehrbücher diesbezüglich ähnliche Tendenzen aufweisen, soll zuerst analysiert werden, wie der Verlauf der Wendeereignisse in den Schulbuchnarrativen strukturiert wird. Schließlich soll auch auf die Bildrepräsentationen und auf die Darstellung der Sowjetunion näher eingegangen werden.

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Erzählmuster der Wende in ungarischen Schulbuchnarrativen

Wenn es um die Beschreibung ostmitteleuropäischer Ereignisse von 1989-1990 in den analysierten Schulbuchnarrativen geht, erweist sich Parallelität eindeutig als ein zentrales Ordnungsprinzip. Auch wenn es partiell auch auf einige länderspezifische, innenpolitische Faktoren hingewiesen wird, haben die Transformationsprozesse in den einzelnen Ländern diesen Schulbuchnarrativen zufolge scheinbar voneinander unabhängig, aber fast gleich vollzogen. Der Verlauf der Demokratisierungsprozesse wird nämlich immer wieder nach demselben Muster beschrieben: gesellschaftliche Unzufriedenheit, gepaart mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden als Ursachen angesehen; hochrangige Politiker und oppositionelle Bewegungen sind als Träger der Wandelprozesse identifiziert und die freien Wahlen werden als positives Ergebnis hervorgehoben. Während in drei von den vier Schulbüchern die Ereignisse plakativ nach derselben Logik, in separaten Absätzen quasi nur aufgelistet werden, zeichnet sich das Buch von

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Bihari-Doba durch eine engere narrative Verflechtung der Wandelprozesse aus (Bihari/Doba 2006: 230). Die Entwicklungen in den einzelnen Ländern werden hier miteinander verkoppelt, indem diese Schulbucherzählung jedoch nicht die wechselseitigen politisch-diplomatischen Interaktionen, sondern die grob eingeschätzte Dauer der politischen Transformation (10 Jahre/ Monate/ Wochen/ Tage) als Vergleichsaspekt betont. Das legt nicht nur eine Sequenzialität von Vorgängen, sondern zusätzlich auch eine zwangsläufige Intensivierung politischer Veränderungen nahe. Als Ausgangspunkt der Transformationsprozesse im ostmitteleuropäischen Raum identifizieren alle ausgewählten Lektionen tendenziell die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion. Dass bei Bihari-Doba sogar der Untergang rechtsradikaler Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal in die Erzählung integriert wird (Bihari/Doba 2006: 230), trägt nicht nur zu einer größeren Kontextualisierung der Wendeereignisse bei, sondern diese thematische Ausweitung impliziert ungeachtet der politischen Lager auch eine gewisse Parallelität gesamteuropäischer Entwicklungen – auch wenn keine direkten Zusammenhänge zwischen Süd- und Ostmitteleuropa hergestellt werden. Dass die Veränderungen scheinbar vorrangig durch die Krise der Sowjetunion in Gang gesetzt wurden und die einzelnen Nationalgeschichten als parallele Vorgänge wahrgenommen werden, hängt teilweise mit dem Erzählschema dieser Schulbuchnarrative zusammen: Dadurch, dass die Reformen von Michail Gorbatschow immer an erster Stelle beschrieben und die Entwicklungen in den anderen Ostblock-Ländern in beliebiger Reihenfolge thematisiert werden, erscheint die sowjetische innenpolitische Krise als der wichtigste Auslöseimpuls, wobei die Beziehungen zwischen den Ostblock-Ländern als unwichtig und irrelevant eingestuft werden.

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Darstellung von Politikern

Dass bis auf einen einzigen Exkurs zur politischen Laufbahn von Václav Havel bei Száray/Kaposi (2009: 177) die nicht-sowjetischen Politiker nicht näher beschrieben und sogar auf den Bildern fast in der gleichen Pose bei verschiedenen Pressekonferenzen gezeigt werden, führt ebenfalls zur Ausblendung der Länderspezifik und der multilateralen politisch-diplomatischen Bezüge der Wende. Ostblock-Politiker werden demnach nicht unbedingt als Mitgestalter der Ereignisse dargestellt, sondern wegen der aus didaktischen Gründen simplifizierten Darstellungen scheinen sie eher austauschbar zu sein. Nicht einmal Michail Gorbatschow erscheint in den Schulbüchern als ein tatkräftiger Politiker, da er, wie diese Schulbuchnarrative behaupten, aus sozialen

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und ökonomischen Gründen keine andere Wahl hatte, als mit den USA einen Kompromiss einzugehen. Ausschließlich die US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush, die bei der Thematisierung der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen auftauchen, scheinen das Potenzial aufzuweisen, das zur Ausgestaltung einer neuen weltpolitischen Szene erforderlich ist. Bekräftigt scheint diese Annahme auch dadurch, dass die Lektionen vorwiegend auf innenpolitische Ablehnung von Gorbatschow fokussieren und den Zerfall der Sowjetunion eindeutig mit seinen politischen Fehlentscheidungen assoziieren.

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Zwischenstaatliche Bezüge und die deutsche Wiedervereinigung

Die internationalen diplomatischen Entscheidungen betreffend ist des Weiteren augenfällig, dass neben den diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA nur Ungarns Beitrag, die Eröffnung seiner Westgrenze als einziges Ereignis mit internationaler Tragweite eingeschätzt wird. In allen Lehrbüchern wird dieses Moment der Wende als entscheidender und unerlässlicher Impuls zur deutschen Wiedervereinigung und zur europäischen Integration aufgewertet. Dadurch, dass Ungarn so eine wichtige Rolle in den Transformationsprozessen zugeschrieben wird, werden indirekt seine Zugehörigkeit zum europäischen Wertesystem und seine eindeutige demokratische Verpflichtung vorausgesetzt und betont. Deutschland wird folglich aus diesem mit parallelen Vorgängen konstruierten Narrativ nur deswegen einigermaßen ausgerahmt, weil dadurch Ungarn als wichtiger Mitgestalter der Entwicklungen der internationalen Politik positioniert werden kann. Sonst fügt sich die Beschreibung der deutschen friedlichen Revolution in das erwähnte schematische Muster von Parallelitäten ein: Bei der Darstellung der deutschen Ereignisse wird nur die DDR-Geschichte skizzenhaft dargelegt, ihre Beziehungen zur BRD werden gar nicht klar gemacht. Wie im Falle anderer Ostblock-Länder sind auch hier auf der sprachlichen Ebene meistens unpersönliche verbale Konstruktionen zu finden, d.h. Akteure werden nicht deutlich identifiziert, ein quasi automatischer, zielgerichteter Ablauf von Ereignissen wird nahegelegt. Landesweite Demonstrationen werden nur spärlich erwähnt und wenn schon, dann als Konsequenz der österreichisch-ungarischen Grenzöffnung gedeutet. Die SED wird nicht beim Namen genannt und erscheint als eine verjährte und unwissende Instanz, welche die Spannungen innerhalb der Gesellschaft nicht wahrzunehmen vermag. Bei Bihari/Doba (2006: 230) und bei Salamon (2010: 274) wird zusätzlich ironisch auf die Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestages der DDR hingewiesen, was ebenfalls als Beweis dafür angeführt

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wird, dass die SED die politisch-gesellschaftliche Lage realistisch einzuschätzen unfähig war. Erwähnenswert ist außerdem, dass die deutschen Entwicklungen am Ende der analysierten Lektionen, wo die ersten Nachwendejahre thematisiert werden, nicht mehr präsent sind. Deutschland wird anscheinend nicht mehr als Ostblockland behandelt. Es fehlen folglich Hinweise auf die Politikgeschichte nach den ersten freien Wahlen. Pingels früher erwähnte Bemerkungen zur Behandlung des 20. Jahrhunderts im Schulbuch sind in diesem Sinne auch für diese Lektionen stichhaltig. Die Bezeichnung Europa werde in den gegenwärtigen Schulbüchern je nach Argumentationsziel unterschiedlich gehandhabt (vgl. Pingel/Boitsev 2000: 45ff.): das vereinte Deutschland gehört schon zu West- und nicht zu Osteuropa.

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Die Sowjetunion als Alteritätskonstruktion postsozialistischer Demokratien

Mit Ausnahme von Deutschland werden postsozialistische Länder also durchgehend als eine zusammengehörende Einheit behandelt. Ihre scheinbar geradlinigen, demokratischen Entwicklungen werden den konfliktreichen Ereignissen der postsowjetischen Republiken gegenübergestellt. In allen Schulbüchern werden nämlich die innenpolitischen Machtkämpfe mit den vielfältigen ethnischen Konflikten in der (ehemaligen) Sowjetunion ausführlich besprochen, was schlussendlich als die Demontage eines Vielvölkerstaates gedeutet wird. Während bei der Beschreibung von Ostblock-Ländern die Metaphorik eher auf Themenbereichen wie Aufbau, Umbruch beruht, also eher positiv konnotiert ist, liegt der Fokus bei der Sowjetunion eher auf Abstieg und Zusammenbruch. Dass die Wandelprozesse im ostmitteleuropäischen Raum als eine Erfolgsgeschichte mit nur einigen negativen Folgeerscheinungen erzählt werden können, ist auch der narrativen Konstruktion eines funktionsunfähigen, zerfallenden sowjetischen Staatsgebildes zu verdanken. Das Bild der Sowjetunion ist daher einigermaßen als Alteritätskonstruktion junger postsozialistischer Demokratien zu interpretieren. Nicht nur die textuell-rhetorische Ebene unterstreicht diese Annahme, sondern auch die Bilder und Diagramme. Bei Salamon zum Beispiel erscheint das Foto von den Überresten des Kernkraftwerkes Tschernobyl neben dem Absatz über die innenpolitische Krise der Sowjetunion – quasi als Sinnbild für die Dysfunktion sozialistischer Gesellschaftsstrukturen (vgl. Salamon 2010: 273). Das bedeutet, dass diese Schulbuchnarrative nicht nur die Funktionstüchtigkeit eines totalitären Regimes, sondern zugleich auch eines ethnisch und kulturell heterogenen Staatsgebildes verwerfen. Gleichzeitig wird mit der Wende in den Ostblock-Ländern eine Art Neugründung von Nationalstaaten impliziert.

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Demokratisierung und Nationalstaatlichkeit werden voneinander nicht deutlich abgegrenzt: dass der demokratische Umbruch scheinbar Multikulturalität ausschließt, wird letztendlich auch durch den Jugoslawienkrieg und die Auflösung der Tschechoslowakei nahegelegt.

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Bilder und Zitate als Verifizierungsmittel

Neben dem Autorentext nehmen Zitate, Bilder und Abbildungen einen großen Anteil in den ausgewählten Schulbuchnarrativen ein, wobei Bilder und Zitate tendenziell als Belege instrumentalisiert oder zu bloßen Illustrationen des Autorentextes degradiert werden. Sogar typographisch wird meistens die von den Autoren verfasste Beschreibung der politisch-gesellschaftlichen Ereignisse in den Mittelpunkt gestellt: Das Bildmaterial und die Zitate, Zeitungsausschnitte und Kommentare befinden sich bei Dupcsik-Répárszky und Salamon am Rande der Seiten und enthalten wenige Anregung zur kritischen Auseinandersetzung oder zur Infragestellung der im Autorentext vermittelten Inhalte. Obwohl diese Bilder und Zitate bei Száray/Kaposi und Bihari/Doba etwas abgekoppelt, eine selbstständige Einheit bilden, dienen sie ebenfalls zur Verifizierung des Autorentextes. Die unterschiedliche didaktische Annäherung suggeriert zwar eine offene Erzählstruktur, die scheinbar eine aktive Teilnahme an Wissenskonstruktion ermöglicht. Diese Einheiten orientieren sich jedoch nicht nur nach den thematischen Schwerpunkten des Autorentextes, sondern anhand der Textquellen und Graphiken lassen sich auch eigentlich dieselben Positionen rekonstruieren, die vorher von den Autoren festgelegt wurden. So werden beispielsweise bei Száray/Kaposi und Bihari/Doba mit Aufgaben zu Zitaten und Statistiken Mikhail Gorbatschows Bestrebungen – ebenso wie im Haupttext – als verfehlt positioniert. Die Annahme des Autorentextes, dass die wirtschaftliche Krisensituation die politischen Entwicklungen von Anfang an eindeutig in Richtung Demokratisierung steuerte, wird ebenfalls durch die Diagramme bekräftigt. Was das Verhältnis zwischen dem Autorentext und den Fotos anbelangt, ist anzumerken, dass die Bilder die Ähnlichkeiten mit Pressekonferenzfotos unterstreichen, während der Text die scheinbare Parallelität der Vorgänge vorwiegend mit der beliebigen Reihenfolge schemenhafter Einzelbeschreibungen herstellt. Auf den Bildern sind, wie schon angemerkt, vor allem Staatsmänner in beinahe derselben Pose zu sehen; allein die Überschriften verraten, um welches Land es geht. Die Wandelprozesse werden demnach als Ergebnis von diplomatischen Verhandlungen dargestellt. Die Vielfalt endogener und exogener Antriebskräfte wird vernachlässigt, Politiker erscheinen wegen der fast übereinstimmenden Körperhaltung und der teilweise schlechten Bildqualität als austauschbar.

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Nicht zu übersehen ist diesbezüglich weiterhin, dass sich die Bilder von den deutschen Ereignissen in dieses Repräsentationsmuster nicht einfügen, indem sie immer die Volksmenge bei der deutsch-deutschen Grenzöffnung und nicht zwei Politiker abbilden. Diese Fotos sind jedoch nicht die einzigen, auf denen eine Masse zu sehen ist: Es gibt Bilder von einem Streik in der Sowjetunion, von Leuten vor dem Kreml und vor einem McDonald’s-Imbiss in Moskau. Diese Fotos sind aber nicht mit den Wandelprozessen verbunden, sondern illustrieren eher die Krise und Schwerfälligkeit des sowjetischen Regimes. Der deutschen Geschichte wird demnach nicht nur im Autorentext, sondern auch auf der visuellen Ebene der Schulbuchnarrative eine Sonderposition zugeschrieben. Dadurch, dass die deutschen Ereignisse auf der Bildebene vom parallelen Erzählmuster abweichen, wird die Wiedervereinigung – im Gegensatz zu Entwicklungen anderer Länder – als eine Volksinitiative dargestellt. Darüber hinaus wird die von den Schulbuchnarrativen entworfene parallele Struktur durch diese unterschiedliche Perspektive indirekt verstärkt. Die Betonung von Massen lenkt nämlich die Aufmerksamkeit mittelbar darauf, dass laut diesen Schulbuchnarrativen die Entwicklungen in den anderen Ländern fast identisch vollzogen.

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Fazit

In diesem Beitrag wurde eine Analyse von aktuellen, ungarischen Geschichtslehrbüchern unternommen, indem die Repräsentationsstrukturen der Wendejahre im ostmitteleuropäischen Raum anhand bildungstheoretischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze kritisch befragt wurden. Untersucht wurden neben thematischen, auch kompositionelle Aspekte der ausgewählten Schulbuchnarrative. Parallelität wurde sowohl auf der textuell-rhetorischen, als auch auf der visuellen Ebene als wichtigstes Ordnungsprinzip dieser Vergangenheitserzählungen identifiziert, wobei zwischenstaatlichen Beziehungen und innenpolitischen Entwicklungen keine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Arnswalds Kritik über die Schulbuchrepräsentationen der Zeitgeschichte scheint in diesem Sinne auch für diese ungarischen Lehrbücher gültig zu sein: Die Repräsentationen reflektieren kaum die wechselseitige Verflechtung internationaler Entwicklungen. Neben der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise der Sowjetunion und den amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen, die diesen Narrativen zufolge als Ausgangspunkt aller ostmitteleuropäischen Umwandlungen von 1989–90 anzusehen sind, wird nur noch Ungarns Beitrag zur deutschen Einheit als ein Ereignis mit internationaler Tragweite positioniert. Die deutsche Wiedervereinigung wird dadurch indirekt zur Akzentuierung der Sonderstellung Ungarns und zugleich zur Konstruktion eines demokratischen, „europäischen“ Ungarnbildes instrumen-

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talisiert. In diesem Sinne schließt sich die Annäherung dieser Lektionen an die dominante, vom Theoretiker György Jakab beschriebene, ungarische Schulbuchtradition an. Die vom parallelen Muster abweichende Darstellung der deutschen Geschichte auf der visuellen Ebene kann als ein indirekter Hinweis auf die Ähnlichkeiten in den einzelnen Nationalgeschichten gedeutet werden. Die visuell und textuell-rhetorisch implizierte Parallelität und die aus didaktischen Gründen zwangläufig simplifizierten Beschreibungen erwecken schlussendlich den Eindruck einer fortwährenden Zusammengehörigkeit ehemaliger Ostblock-Länder. Diese aus Parallelitäten verwobenen Erzählungen beinhalten demnach eine symbolische Grenzziehung zwischen den scheinbar funktionsunfähigen, multikulturellen postsowjetischen Staaten und den neu gegründeten Demokratien. Da Bezüge zu Gesamteuropa in diesen Lektionen gar nicht aufgeklärt werden und die Sonderstellung postsozialistischer Länder durchgehend betont wird, erscheint die Vorwendezeit eher als ein Exkurs in der Nachkriegsgeschichte. Aus der Perspektive dieser Schulbücher kommt dementsprechend die Wende im ostmitteleuropäischen Raum eigentlich der Wiederherstellung der Kontinuität demokratischer und nationalstaatlicher Traditionen gleich. Ob Fragestellungen nach eventuellen Zusammenhängen zwischen den Positionen dieser aus schulpraktischen Gründen vereinfachten Vergangenheitserzählungen und den Funktionsmechanismen heutiger Zivilgesellschaften in ehemaligen Ostblock-Ländern sinnvoll sind, könnte Gegenstand komplexer bildungssoziologischer und politologischer Forschungsprojekte sein.

10

Literatur

10.1

Primärliteratur

BIHARI, Péter / DOBA, Dóra (2006): Történelem a 12. évfolyam számára. [Geschichte für die 12. Klasse] Budapest: Műszaki Kiadó. DUPCSIK, Csaba / RÉPÁRSZKY, Ildikó (2009): Történelem IV. Középiskolák számára. [Geschichte IV für Mittelschulen] Budapest: Nemzeti Tankönyvkiadó. Közoktatási Tankönyvjegyzék 2013–2014. tanévre [Lehrwerkverzeichnis für Grund- und Mittelschulen – Schuljahr 2013–2014] URL: http://tankonyv.kir.hu/ (gesichtet am 14.09.2013). SALAMON, Konrád (2010): Történelem IV. [Geschichte IV.] Budapest: Nemzeti Tankönyvkiadó. SZÁRAY, Miklós / KAPOSI, József (2009): Történelem IV. Középiskolák. 12. évfolyam. [Geschichte IV. für Mittelschulen. 12. Klasse] Budapest: Nemzeti Tan-könyvkiadó.

Wende und Wiedervereinigung in ungarischen Schulbüchern 10.2

173

Sekundärliteratur

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Sándor Trippó

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Autorenverzeichnis Edit V. Debróczki Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4032 Debrecen Marcell Grunda Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4032 Debrecen Kinga Barbara Hajdú Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Dr. Eszter Kukorelli Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Dóra Lócsi Institut für Germanistik und Translationswissenschaft, Pannonische Universität Veszprém; Füredi utca 2, H-8200 Veszprém Krisztián Majoros Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4032 Debrecen Bernadett Modrián-Horváth Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Dr. Krisztina Mujzer-Varga Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Olga Surinás Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem utca 2, H-6722 Szeged

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Autorenverzeichnis

Máté Tóth MTA-DE Research Group for Theoretical Linguistics / Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4032 Debrecen Sándor Trippó Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4032 Debrecen Anna Zsellér Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest

Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik Herausgegeben von Ewa Drewnowska-Vargáné und Péter Bassola Band

1

János Németh: Buchstabengebrauch in der Ödenburger Kanzleischriftlichkeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (1510–1800). 2012.

Band

2 Gabriella Gárgyán: Der am-Progressiv im heutigen Deutsch. Neue Erkenntnisse mit besonderer Hinsicht auf die Sprachgeschichte, die Aspektualität und den kontrastiven Vergleich mit dem Ungarischen. 2014.

Band

3 Péter Bassola / Ewa Drewnowska-Vargáné / Tamás Kispál / János Németh / György Scheibl (Hrsg.): Zugänge zum Text. 2014.

Band

4 Attila Péteri: Satzmodusmarkierung im europäischen Sprachvergleich. Interrogativsätze im Deutschen und im Ungarischen mit einem typologischen Ausblick auf andere europäische Sprachen. 2015.

Band

5 Tamás Kispál / Judit Szabó (Hrsg.): Aktuelle Tendenzen in der Gegenwartsgermanistik. Symposium ungarischer Nachwuchsgermanisten. 2015.

www.peterlang.com