Aedificatio: Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit 9783110961041, 9783484640276

The volume assembles the findings of an interdisciplinary symposium revolving around the concept of 'edification�

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German Pages 420 [424] Year 2005

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik zwischen 1650 und 1750. Ein Strukturvergleich
Erbauung und Autorschaft bei Johanna Eleonora Petersen (1644-1724)
Geistliches Totengedenken? Einige Thesen z u den mehr oder weniger erbaulichen Gebrauchsfunktionen frühneuzeitlicher Nachrufe
Lebendige Erkenntnis. August Hermann Franckes Lebenslauf
Für erbauliche Lektüre und höfische Feste geeignet. Die Verbindung von Erbauung und Bukolik in der Literatur des 17. Jahrhunderts
Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund
Vom Verzehr des Textes. Thesen zur Performanz des Erbaulichen
Erbauliche Melancholie. Zur Frage nach der Wirkung von Dürers Melencolia I in der deutschsprachigen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts
Instrumentale Andachtsmusik im 17. und 18. Jahrhundert. Beispiele und Überlegungen zum „Erbaulichen” in nicht-vokalen Kompositionen
Religiöse Affektmodellierung. Die heroische Versepistel als Typus der jesuitischen Erbauungsliteratur in Deutschland
Ermuntre dich, mein schwacher Geist (Johann Rist, 1641). Ein erbauliches Lied und seine Rezeptionsschicksale
Lutherische Anthropologie als Medium von Erbauung
Ein Spiegel rein und tugendklar. Die Biographie als Erbauung in der lutherischen Leichenpredigt
Bibelparaphrasen in der Volksdichtung der Frühen Neuzeit. Zur erbaulichen Machart und Tendenz einiger „Zeitungslieder” und „Ostermärlein” des 17. und 18. Jahrhunderts
Rezeption als Innovation. Zur Aktualisierung traditioneller geistlicher Texte durch die Musik im 17. und frühen 18. Jahrhundert
Erbauung in und an christlicher Sakralarchitektur
Literatur und Theologie in Nürnberg. Johann Michael Dilherr und der Pegnesische Blumenorden
Andreas Gryphius und der Straßburger Theologe Johann Conrad Dannhauer
„.. .des Lammes Kleid im Hertzen anziehen und nicht nur der Schäflein Wolle meinen...” Jacob Böhmes Theologie der Farben
Zur Volksläufigkeit aszetischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Lorenzo Scupolis Geistlicher Kampf und sein literarischer Nachhall
Bürgerliche Frömmigkeitskultur in Nürnberg. Abraham und Isaak auf der Bühne
Erbauung als jugendliterarische Aufgabe in Grimmelshausens Proximus und Lympida
Formation und Rezeption einer édification féminine. François de Sales, Mme. de Lafayette mit einem Ausblick auf Christian Thomasius
Erbauliche Vor-Bilder. Zur kommunikativen Funktion der aedificatio in politischer Bildpublizistik des 17. Jahrhunderts
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Aedificatio: Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit
 9783110961041, 9783484640276

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Aediflcatio Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit

Andreas Solbach (Hg.)

Aedificatio Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-64027-8 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http V/www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Vorwort Rainer Bayreuther Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik zwischen 1650 und 1750. Ein Strukturvergleich

IX

1

Barbara Becker-Cantarino Erbauung und Autorschaft bei Johanna Eleonora Petersen (1644—1724) ...

19

Ralf Georg Bogner Geistliches Totengedenken? Einige Thesen zu den mehr oder weniger erbaulichen Gebrauchsfunktionen frühneuzeitlicher Nachrufe

35

Ulrich Breuer Lebendige Erkenntnis. August Hermann Franckes Lebenslauf

49

Christiane Caemmerer Für erbauliche Lektüre und höfische Feste geeignet. Die Verbindung von Erbauung und Bukolik in der Literatur des 17. Jahrhunderts

65

Martin Disselkamp Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund

77

Franz M. Eybl Vom Verzehr des Textes. Thesen zur Performanz des Erbaulichen

95

Reinhard Heinritz Erbauliche Melancholie. Zur Frage nach der Wirkung von Dürers Melencolia I in der deutschsprachigen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts

113

VI Christoph Hust Instrumentale Andachtsmusik im 17. und 18. Jahrhundert. Beispiele und Überlegungen zum „Erbaulichen" in nicht-vokalen Kompositionen

127

Wilhelm Kühlmann Religiöse Affektmodellierung. Die heroische Versepistel als Typus der jesuitischen Erbauungsliteratur in Deutschland

143

Hermann Kurzke Ermuntre dich, mein schwacher Geist (Johann Rist, 1641). Ein erbauliches Lied und seine Rezeptionsschicksale

157

Andreas Lindner Lutherische Anthropologie als Medium von Erbauung

177

Cornelia Niekus Moore Ein Spiegel rein und tugendklar. Die Biographie als Erbauung in der lutherischen Leichenpredigt

193

Dietz-Rüdiger Moser Bibelparaphrasen in der Volksdichtung der Frühen Neuzeit. Zur erbaulichen Machart und Tendenz einiger „Zeitungslieder" und „Ostermärlein" des 17. und 18. Jahrhunderts

207

Markus Rathey Rezeption als Innovation. Zur Aktualisierung traditioneller geistlicher Texte durch die Musik im 17. und frühen 18. Jahrhundert

227

Hartmut Riemenschneider Erbauung in und an christlicher Sakralarchitektur

247

Ernst Rohmer Literatur und Theologie in Nürnberg. Johann Michael Dilherr und der Pegnesische Blumenorden

267

Peter Rusterholz Andreas Gryphius und der Straßburger Theologe Johann Conrad Dannhauer

285

Sibylle Rusterholz „.. .des Lammes Kleid im Hertzen anziehen und nicht nur der Schäflein Wolle meinen..." Jacob Böhmes Theologie der Farben

299

VII Marianne Sammer Zur Volksläufigkeit aszetischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Lorenzo Scupolis Geistlicher Kampf und sein literarischer Nachhall

319

Irmgard Scheitler Bürgerliche Frömmigkeitskultur in Nürnberg. Abraham und Isaak auf der Bühne

333

Andreas Solbach Erbauung als jugendliterarische Aufgabe in Grimmelshausens Proximus undLympida

357

Jörn Steigerwald Formation und Rezeption einer edification feminine. Francis de Sales, Mme. de Lafayette mit einem Ausblick auf Christian Thomasius

377

Silvia Serena Tschopp Erbauliche Vor-Bilder. Zur kommunikativen Funktion der aediflcatio in politischer Bildpublizistik des 17. Jahrhunderts

397

Vorwort

Das Phänomen der Erbauung ist den Kulturwissenschaften seit langem wohl bekannt: Erste grundlegende Arbeiten zur Deutung der Erbauung wurden von Theologen und Religionswissenschaftlern vorgelegt, und ein überwältigender Teil der Forschung auf diesem Gebiet widmet sich der Untersuchung des protestantischen Erbauungsbuches im engeren Sinn. Doch hier macht sich eine Entwicklung bemerkbar, die sich auch außerhalb der germanistischen Forschung beobachten läßt und sich zudem in den Fachlexika spiegelt: Durch eine Verengung der Fragestellung wird die Sache und der Begriff der Erbauung zunehmend auf die Gattung der Erbauungsliteratur im strengen Sinn begrenzt. Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung, die der Herausgeber in Zusammenarbeit mit dem Graduiertenkolleg Gesangbuchforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom 5. bis 7. April 2002 ausrichtete. Leitendes Erkenntnisinteresse war die Frage nach einer definitorischen wie inhaltlichen Konkretisierung des vielfaltigen und historischen Wandlungen unterworfenen Untersuchungsgegenstandes aus literaturwissenschaftlicher, musikwissenschaftlicher und kunsthistorischer Perspektive. Erbauung sollte nicht nur als Phänomen einer Gattungstradition verstanden werden, sondern im Anschluß an frömmigkeitsgeschichtliche Arbeiten in ihrer umfassenden Wirkungsweise analysierbar werden. Neben die Erbauungsliteratur tritt so die Bedeutung des Erbaulichen mit seinem ästhetischen Potential in kulturwissenschaftlicher und interdisziplinärer Hinsicht. Das Erbauliche wird demnach nicht nur als eine absolute Kategorie und als Gattungsbezeichnung verstanden, sondern auch als Realisationsbereich individueller Rezeption verschiedener Medien. Denn erst, wenn die Erbauung sich von der Erbauungsliteratur emanzipiert hat, lassen sich ihre Geschichte und ihre Metamorphosen bis in die Gegenwart verstehen. Mein besonderer Dank gilt dem Leiter des Graduiertenkollegs Gesangbuchforschung, Prof. Dr. Hermann Kurzke, fur seine Kooperation bei der Tagungsorganisation und Dr. Yvonne Wolf, die den Band redaktionell betreute. Herausgeber und Beiträger widmen diesen Band Prof. Dr. Hans-Henrik Krummacher zum 24.8.2001.

Mainz, 3. November 2003

Andreas Solbach

Rainer Bayreuther

Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik zwischen 1650 und 1750 Ein Strukturvergleich

Daß nicht nur die Bibellektüre oder das Lesen eines klassischen Erbauungsbuchs wie Johann Arndts Wahres Christentum zur geistlichen Erbauung beitragen kann, sondern auch das Hören von Musik, ist eine einerseits triviale Wahrheit, die sich schon alleine dadurch belegt, daß die Musik in allen Konfessionen mit der Liturgie eng, ja ursächlich verbunden ist. In der gesungenen Liturgie geht es um die sinnliche Präsenz und affektive Unmittelbarkeit des Bibelworts, und das Medium von Sinnlichkeit und AfFektivität ist, mehr noch als die Performanz des gesprochenen Worts, die Musik. Andererseits aber ist der Erbauungscharakter von Musik eine höchst komplexe Wahrheit. Das wird rasch sichtbar, wenn man sich die Frage stellt, was zum Beispiel an einer der großen Bachschen Präludien und Fugen erbaulich sein soll.1 Deren .erbauliche' Erklärung fallt bedeutend komplizierter aus. Das liegt daran, daß wir im ersten Fall einen legitimierten Gegenstand der Erbauung exakt angeben können nämlich das Bibelwort - , im zweiten aber ein solcher Gegenstand prima vista fehlt. Damit stellt sich die Frage, ob Präludium und Fuge per se erbaulich sind (und wenn ja, welche musikalischen Faktoren die Erbaulichkeit ausmachen, die in anderweitiger Instrumentalmusik nicht vorhanden sind), oder ob ihnen Erbauungscharakter nur eignet, insofern sie sich auf einen legitimen christlichen Gegenstand der Erbauung zurückführen lassen. Eine solche Rückführung, die im Rezeptionsvorgang allenfalls assoziierend und ahnungsweise vor sich geht, verläuft über mindestens drei Ableitungen: Erstens ist die Fuge als die abstraktere der beiden Formen bei Bach integral mit dem Präludium zur zweisätzigen Gattung verbunden; auf die .erbauliche' Relevanz dieser Integrität werden wir noch zu sprechen kommen. Zweitens ist das Präludium - nicht exakt gattungsgeschichtlich, aber seit dem späteren 17. Jahrhundert gottesdienstpraktisch und

Das ,Daß' ihrer Erbaulichkeit steht außer Frage - im deutschen Protestantismus zumindest bis vor ca. 30 Jahren, als ein Bruch erfolgte, der noch heute allenthalben sichtbar ist. Er hängt zusammen mit der jugendbewegten Pfarrergeneration post '68 und einem Übergang der emotionalen Wirkung auf populäre Musikformen. Die Bachfuge sedimentierte zum Traditionsrequisit im Gottesdienst, emotional wirksam und damit im eigentlichen Sinn erbaulich aber wurde christliche Bandmusik und deren Derivate im Laienbereich, die Lieder zur Gitarre. Damit verbunden war ein Wechsel des sozialen Orts musikalischer Erbauung, wofür symptomatisch die Konjunktur der Gemeindesäle in den 1970er und 80er Jahren mit klavier- oder gitarrebegleitetem Singen steht. Gegenwärtig zeichnet sich das Verschwinden der Gemeindesaalgeneration ab und eine Renaissance des Liturgischen, auch in musikalischer Hinsicht. Deren Erbauungsstruktur, die eng mit dem postmodernen Erlebnisprinzip zusammenhängt, wäre spannendes Thema einer eigenen Studie.

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Rainer Bayreuther

wahrnehmungsästhetisch - eine verselbständigte Weiterentwicklung des Improvisierens bei der Choralintonation.2 Drittens erst sind wir damit beim Gemeindechoral selbst, der im 17. Jahrhundert ein fragloser Gegenstand der Erbauung ist. Mit diesem knappen Problemaufriß stellen sich die Kernfragen des Erbauungscharakters geistlicher Musik: Welche Gegenstände der Erbauung intendiert die geistliche Musik, und welche Art von Unmittelbarkeit stellt sie zu ihnen her? Wie hängt die Art der Unmittelbarkeit mit dem sozialen Ort zusammen, in dem sie stattfindet? Wie schließlich läßt sich der Erbauungscharakter von Instrumentalmusik fassen?

1. Intendierte und unmittelbare Gegenstände der musikalischen Erbauung Im ursprünglichen, biblischen Sinn ist das Ziel der Erbauung die Stärkung der christlichen Tugenden wie Glaube, Hoffnung, Demut, Liebe (1 Thess 5, 8-11). Soll Musik erbaulich sein, dann muß sie zur Beförderung dieser Tugenden beitragen. Es stellt sich also die Frage, welche ihrer Faktoren und Parameter das zu leisten vermögen, bzw. genauer: welche Faktoren und Parameter gezielt aufgesucht werden, um sich zu erbauen. Jene Faktoren seien im folgenden Gegenstände der Erbauung genannt. Der traditionelle Gegenstand der Erbauung ist die Bibel bzw. das einzelne Schriftwort. Die mittelalterliche Erbauungsliteratur und noch Arndts Wahres Christentum oder Johann Gerhards Meditationes sacrae (Jena 1607) sind im weitesten Sinne Bibelparaphrase,3 allenfalls Katechismusparaphrase.4 Entsprechend ist die protestantische geistliche Musik um 1650 weitgehend Bibeltext-

Daß dies keine abstrakte Assoziationskette ist, sondern zeitgenössische Rezeptionstatsache, erhellt beispielsweise aus Johann Matthesons erster Orchestre-Schhfl (Das Neu-Eröfftaete Orchestre. Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein GalaiitHomme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren / die Terminos technicos verstehen und geschicklich von dieser vortrefflichen Wissenschaft raissonnieren möge [...]. Hamburg 1713): „Gleichwie inter Stylos Musicos, nemlich Ecclesiae, Theatri & Cameras, der erste den Platz und Rang hat / so stehet auch unter den vielfaltigen Arten der Composition der Choral [...] wol billig oben an [...]. Man siehet es genugsam aus denen in der Christlichen Kirchen eingeführten schönen Hymnis, Psalmen und andern Gesängen, was für Krafft ihre Componisten von oben herab gehabt haben / daß solche geistliche Melodien, wider alle Veränderung / so lange Zeit schon bewahret und erhalten worden sind; dadurch es geschiehet / daß dieselben eine beständige approbation bey uns finden; Jederzeit Trost / Freude und Vergnügen erwecken [...]. Man siehet ihre Vortrefflichkeit ferner aus der unabläßlichen ja unendlichen Mühe und Arbeit / die sich die Herren Organisten geben, diese ihre Themata in unzehlige Variationes und Fugen zu bringen / weil sie noch immer neue Materie dazu in sich haben; Endlich erhellet sonderlich auch ihre Excellentz daraus / daß die vornehmsten Compositeurs in Kirchen-Sachen den simplen Choral in die Figural-Stücke ein / und mit nicht geringer Approbation als Geschicklichkeit und Succes ausführen können / so daß den Effect davon mancher ruchloser Sünder mit wässerichten Augen empfindet." (S. 139-140). Ζ. B. die anonymen spätmittelalterlichen Meditationes vitae Christi und De imitatione Christi·, Martin Luthers Die Siebenpußpsalm mit deutscher außlegung [...] (1517). Ζ. B. Martin Luthers Eine kurze Erklärung der zehn Gebote (1518) und Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519).

Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik

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Vertonung (in den Gattungen Motette und Geistliches Konzert,5 das im späteren 17. Jahrhundert zur Kantate wird) oder Lieddichtung (in den Gattungen Kirchenlied und Geistliche Aria). Der Bibeltextprimat schlägt selbst in den heiklen Bereich der geistlichen Kontrafaktur weltlicher Madrigale durch: Der Breslauer Organist Ambrosius Profe unterlegt die Madrigale Claudio Monteverdis, deren Originaltexte intensivste Liebeslyrik eines Tasso oder Guarini sind, mit Bibeltexten.6 Das Wesen des Geistlichen Konzerts als Ineinander von Bibeltext und höchst affektreichem musikalischem Ausdruck zeigt sich kaum je symptomatischer als in Profes Kontrafakturen. Die Orgelmusik ist der gesondert zu betrachtende Sonderfall; mit Ausnahme der Orgeltoccata sind ihre Gattungen aber zum überwiegenden Teil choralgebunden. Das einschlägige Beispiel ist die Dominanz der Choralpartita im Orgeloeuvre Samuel Scheidts.7 In der Mitte des Betrachtungszeitraums, um 1700, verändern sich diese etablierten Gegenstände der musikalischen Erbauung. Philipp Jakob Spener etwa berichtet, wie die Lektüre von Gryphius' Catharina von Georgien auf ihn eine erbauliche Wirkung ausgeübt habe.8 Das Beispiel zeigt den Paradigmenwechsel an: Der Mensch tritt ins Zentrum der frommen Reflexion, Frömmigkeit wird zu einem erheblichen Teil Anthropologie. Damit nun tritt das ein, was ich als Auseinanderfallen von intendiertem und unmittelbarem Erbauungsgegenstand bezeichnen möchte. Der intendierte Gegenstand der Erbauung ist nach wie vor das Wort Gottes; gerade die Hermeneutik Speners und der Pietisten9 rekurrieren geradezu emphatisch auf das Wort, das sich freilich in realen (d. h. sozialen oder psychischen) Gegebenheiten erst ereignen muß. Als unmittelbarer Gegenstand der Erbauung kann damit aber der Mensch auftreten, und mit ihm die säkularen Künste, deren unmittelbarer Gegenstand der Mensch in einer Weise ist, daß in ihm geistliche Themen durchscheinen. An der Gattung der Kirchenkantate sei diese Entwicklung näher beleuchtet. Schon die ältere Kantate des Concerto-Aria-Typs spielt vielfach mit Mischungen biblischer und außerbiblischer Texte. Das Ineinander zweier heterogener 5

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Freilich gibt es auch hier die regelbestätigenden Ausnahmen, ζ. B. Heinrich Schütz, der in seinen Kleinen Geistlichen Konzerten pseudoaugustinische (aber eng an Bibeltexten angelehnte) Dichtung vertont. Ambrosius Profe: Erster Theil geistlicher Concerten und Harmonien, ä 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. vocibus, cum & sine violinis, & basso ad Organa, aus den berühmbsten Italienischen und andern Autoribus. Leipzig 1641. Drei Fortsetzungen erschienen bis 1649. Zu Profe vgl. ausführlich Peter Wollny: The distribution and reception of Claudio Monteverdi's music in seventeenth-century Germany, in: Claudio Monteverdi und die Folgen. Bericht über das Internationale Symposium. Detmold 1993, hg. v. Silke Leopold und Joachim Steinheuer. Kassel u.a. 1998, S. 51-75; Kristin Sponheim: Ambrosius Profe's sacred contrafacta of Monteverdi's madrigals, in: ebd., S. 338-358. Tabulatura nova( 1624ff.). Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666-1686, hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich und Markus Matthias. Bd. 2: 1675-1676. Tübingen 1996, S. 419 (Brief vom 30.6.1676 an einen unbekannten Empfanger). Beispielsweise Eleonora Petersen; vgl. hierzu Markus Matthias: .Enthusiastische' Hermeneutik des Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens „Gespräche des Hertzens mit Gott" (1689), in: Pietismus und Neuzeit 17 (1991), S. 36-61 und den Beitrag von Barbara Becker-Cantarino im vorliegenden Band.

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Rainer Bayreuther

Elemente wurde zum Ausgangspunkt, verschiedene musikalische Stile zu verwenden und produktiv neben- oder gegeneinanderzustellen. Die Divergenz von Intention und Unmittelbarkeit des Erbauungsgegenstands deutet sich hier allenfalls aus der Ferne an. Die Kantatenreform Erdmann Neumeisters, der in seinem ersten Zyklus10 provokant auf Dictum und Choral verzichtet und mit dem generalbaßbegleiteten Rezitativ ein aus der Oper stammendes Element aufnimmt, ist und bleibt ein Bruch jener Einheit von Intention und Unmittelbarkeit des Erbauungsgegenstands.11 Nicht die formale Tatsache des Rezitativs ist neu; seit der Renaissance bis hin zu Heinrich Schütz' späten Passionen wurde etwa die Passionsgeschichte in verteilten Rollen rezitativisch vorgetragen. Entscheidend ist, daß im Rezitativ nun nicht mehr Bibeltext rezitiert wird, sondern ein fiktionaler Text, der einer Rolle zugeordnet ist. Die Arie, die im alten Kantatentyp dem Bibeldictum im Concerto folgte und damit Meditation und Applikation des Bibelworts war, folgt nun auf das freie Rezitativ, ist also Reflexion menschlichen Verhaltens, nicht göttlichen Sagens.12 Wie prekär der Erbauungscharakter des neuen Kantatentyps war, zeigt der Streit, der nach den ersten komponierten Kantatenzyklen losbrach und sich bis in die 1720er Jahre zog. Er ist in allen Auseinandersetzungen um den opernhaften Stil, den die Kritiker nun in die Kirchen einziehen sahen, ein Streit um Präsenzcharakter und Verfügbarkeit der Erbauungsgegenstände. Johann Mattheson nimmt im Streit mit dem pietistischen Gymnasialprofessor Joachim Meier die Neumeistersche Kantate in Schutz. Meier hatte die Opernhaftigkeit und das Fehlen des biblischen Worts bemängelt.13 Er bringt also das Argument in Anschlag, daß der intendierte Gegenstand der Erbauung auch unmittelbar präsent sein müsse. Matthesons Antwort auf die Opernproblematik lautet: In Opem werden bisweilen gantze Scenen, absonderlich die Soliloquia, Cantaten-Weise gesetzet; allein in Cantaten wird darum ordentlich eben keine Opern-Art gebraucht: denn jene sind viel älter, als diese ist. Bey Opern agiren wirckliche Personen; Cantaten hingegen sind nur bloße Erzehlungen und Betrachtungen: das ist ein gar großer Unterschied [...]. 14

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Erdmann Neumeister: J. N. J.: / Geistliche / Canta- / Ten / Uber alle / Sonn- Fest- und Apo- / stel-Tage, / Zu einer, denen Herren Musicis sehr / bequemen / Kirchen-Music / In ungezwungenen Teutschen Versen / ausgefertiget. / Anno 1702. [o. O.]. Auch wenn sich die Musikforschung gegenwärtig bemüht, Neumeister als Glied einer längeren Entwicklung der Kantatenformen zu sehen. Bei Mattheson (Das Neu-eröflnete Orchestre, S. 177) werden Rezitativ und Arie als Kem der Kantate hervorgehoben: Es sei „die beste / kürtzeste und bequemste / auch am meisten approbirteste Art / wenn eine Cantate mit einer Aria angefangen / durch ein Recitativ vermittelt / und wieder mit einer Aria beschlossen wird." Vom Choral oder Chören, die ein Dictum ausfuhreten, schweigt Mattheson hier (nur Anetten, Arioso, Obligate „und sonst andere veränderliche Sätze" werden S. 177 genannt), obwohl Neumeister ab dem dritten Kantatenzyklus von 1711 wieder Dicta und Choräle verwendet und damit auf die breite Kritik am Zyklus von 1702 reagiert Joachim Meier: Unvorgreiffiiche Gedancken über die Neulich eingerissene Theatralische Kirchen-Music und Denen darinnen bishero üblich gewordenen Cantaten mit Vergleichung Der Music voriger Zeiten zur Verbesserung der Unsrigen vorgestellet von J. M. D. o. O. [Lemgo?] 1726. Johann Mattheson: Der neue Göttingische Aber Viel schlechter, als Die alten Lacedämonischen, urtheilende Ephorus, wegen der Kirchen-Music eines andern belehret von Io. Mattheson [...]. Hamburg 1727 (zit. nach Jürgen Heidrich: Der Meier-Mattheson-Disput. Eine

Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik

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Die Argumentation ist ein eindrücklicher Beleg dafür, wie bedeutsam das theologische meditatio-ldeal des frühen 17. Jahrhunderts nach wie vor ist (meditatio = Betrachtung). Auch für den Anwalt des neuen Kantatentyps hängt der Erbauungscharakter der Kantate daran, daß sie einen legitimierten geistlichen Gegenstand intendiert. Während jedoch für Meier die „Sprüche der heil. Schrifft und der Psalmen Davids [...] weit erbaulicher und vernehmlicher" seien als „Cantaten und Menschen-Worte", 15 hält Mattheson jene Menschenworte deshalb für geeignete Gegenstände der Erbauung, weil sie ebenso unmittelbar auf geistliche Themen rekurrieren, nur eben im Modus der „Betrachtung". Die reinmenschlichen Angelegenheiten dagegen, die immer gleichbedeutend mit der Sündhaftigkeit des Menschen gedacht werden, seien Sache der Opern und würden durch „wirckliche Personen" dargestellt. Der intendierte Erbauungsgegenstand, das ist der Kern von Matthesons Argument, muß nicht unmittelbar präsent sein. Es genügt oder ist sogar günstiger, wenn jener intendierte Gegenstand durch ein anthropologisches Medium vermittelt wird. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Behauptung, daß in Matthesons Theorie das menschliche Wort die größere Überzeugungskraft hat; die philosophischen Gründe hierfür liegen in Matthesons Verständnis von Natur und Naturnachahmung, die als mimesis der menschlichen Natur gedacht wird.16 Das med/tafto-Argument Matthesons ist natürlich schwach, denn es kam Meier nicht auf den Unterschied zwischen dramatischer Handlung und epischer Betrachtung an, sondern auf die problematische Mittelstellung des Menschenworts. Ein Verweis auf Neumeisters Mischform mit Dicta und Chorälen ab dem Kantatenjahrgang von 1711 hätte Meier wohl kaum zufriedengestellt, denn sobald eine Kantate die opernmäßige Abfolge Rezitativ-Arie enthält, rekurriert die Arie selbstverständlich auf das Rezitativ und erst über eine Ableitung auf das Dictum - und in der Arie eben als intimster und subjektivster Ausdrucksform, von der Mattheson behauptet, sie sei nicht geeignet zur Vertonung von Dicta,17 ereignet sich das Fürwahrnehmen des Gottesworts. (Im Neumeister-Text „Ein ungefärbt Gemüte"18 beispielsweise steht das Dictum Mt 7, 12 „Alles nun, das ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen" an dritter Stelle der fünf Sätze.

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Polemik zur deutschen protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Philologisch-Historische Klasse (Jg. 1995) Nr. 3., Göttingen 1995, S. 55-107, hier S. 17). So Mattheson in einem Beitrag in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. Göttingen 26.4.1728 (zit. nach Heidrich: Meier-Mattheson-Disput, S. 26). Zu den philosophischen Grundlagen Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie: Gottesched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966; Rainer Bayreuther: Struktur des Wissens in der Musik-Wissenschaft Lorenz Mizlers, in: Die Musikforschung 56 (2003) 1, S. 1-22. „Im Teutschen lassen sich die Biblische Sprüche lange so gut nicht singen, als im Lateinischen [...]. Die Teutschen dicta schicken sich, meines wenigen Erachtens, zu sonst nichts, als zum vollen Chor, zu Fugen; zur Moteten-Art und zum Recitativ." (Johann Mattheson: Critica Musica. Bd. 2. Hamburg 1725. [Repr. Amsterdam 1964], S. 302.) Ζ. B. von Georg Philipp Telemann vertont (TWV 1:434).

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Rainer Bayreuther

Es folgt als Rezitativ quasi eine Predigt über das Bibelwort,19 die all die inhaltlichen Stichworte liefert, die in der abschließenden ermahnenden Arie zur Sprache kommen - und jene hat sich damit vom biblischen Habitus so weit entfernt, daß sie auch in einer zeitgenössischen Tugendlehre stehen könnte.)20 Im älteren Kantatentyp nahm die Musik der Arie unmittelbar die emotionalen Qualitäten des Bibelworts auf; ob ihr das Dictum im Concerto vorangeht oder ob sie selbst Vertonung eines Dictums ist, spielt dabei keine Rolle. Im Neumeister-Typus dagegen ist die Emotionalität der Arie sozusagen anthropologisch vorformuliert (nämlich im Rezitativ) und bezieht sich damit nur über diesen Umweg auf das geistliche Thema. Dieser Umweg und damit die Divergenz von intendiertem und unmittelbarem Erbauungsgegenstand ist die entscheidende Differenz in den Standpunkten Matthesons und Meiers. Im übrigen ist es symptomatisch, daß noch in den 1720er Jahren die Diskussion über den Erbauungscharakter der Kantaten primär über Text und Textgattung gefuhrt wird. (Der Streit um die pietistischen Liedmelodien hingegen, teilweise von denselben Protagonisten geführt, geht bereits um melodische Details wie Rhythmus und Metrum.) Impliziert wird damit stillschweigend, daß Musik und musikalische Wirkung stets im Schlepptau jenes primären Erbauungsgegenstands bleiben. Musikalische Faktoren als solche geraten nur selten in den Blick; statt dessen rutscht noch bei einem so progressiven Musikschriftsteller wie Mattheson gelegentlich das kosmologisch-mathematische Musikverständnis durch, eine Denkfigur, gegen die er sonst polemisch angeht.21 Im Forschenden Orchestre (1721) etwa unterstellt er, weit hinter die zuvor erreichte Ausdifferenzierung des Affektprinzips zurückfallend, der Musik schlechthin einen pauschalen Erbauungscharakter.22 Hier wird deutlich, daß der zeitgenössische Musiktheoriediskurs noch nicht in der Lage ist, die Trennung zwischen intendiertem und unmittelbarem Erbauungsgegenstand zu reflektieren und argumentativ umzusetzen. Indem nämlich die alte kosmologische Sphärenharmo-

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„Die Heuchelei ist eine Brut, die Belial gehecket: Wer sich in ihre Larve stecket, der trägt des Teufels Lieberei. Wie? lassen sich denn Christen dergleichen auch gelüsten? Gott seis geklagt! die Redlichkeit ist teuer. Manch teuflisch Ungeheuer sieht wie ein Engel aus. Man kehrt den Wolf hinein, den Schafspelz kehrt man raus. Wie könnt es ärger sein? Verleumden, Schmähn und Richten, Verdammen und Vernichten ist überall gemein. So geht es dort, so geht es hier. Der liebe Gott behüte mich dafür!" „Treu und Wahrheit sei der Grund aller deiner Sinnen, wie von außen Wort und Mund, sei das Herz von innen. Gütig sein und tugendreich macht uns Gott und Engeln gleich." Ζ. B. in Das Beschützte Orchestre (Hamburg 1717), in der die kosmologisch fundierte Musiktheorie Johann Heinrich Büttstedts (Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica. Erfurt / Leizpig o.J. [1716]) aufs Korn genommen wird. Zum epochalen Zusammenhang vgl. Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Köln 1967. „Gleich wie sich aber dieser [sc. der Maler] ganz andere Gründe und Rationes aus der Physica, aus der Natur / das ist / aus den objectis sensuum hernimmt [...]; also nimmt sich auch jener (der Compositeur) aus dem Göttlichen Wesen [...] selbst sein wahres / einiges / altes und ewiges [...] Fundament; nach welchem / als dem aller-vollkommensten Tugend-Muster / er die menschliche Natur [...] und Actiones nicht nur zu imitiren / oder nachzuahmen / sondern zu rectificiren / zu verbessern; schädliche Passiones zu dämpfen [...]; zur wahren / heiligen Erhebung / brünstigen Andacht / lieblichen Eintracht / seliger Vergnügung zu reitzen [...]." (Johann Mattheson: Das forschende Orchestre [...]. Hamburg 1721, S. 270-272).

Zum Erbauungscharakter geistlicher Musik

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nie im mathematischen Charakter der Musik noch dunkel mitschwingt, wird in unterschiedslos jeder Musik der intendierte Erbauungsgegenstand, die göttliche Ordnung, mit dem unmittelbaren identisch gedacht. Der eklatante Widerspruch zum Affektprinzip scheint überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. Denn das Affektdenken rechnet von vornherein damit, daß intendierte Wirkungen durch eine bestimmte Musik und nicht durch Musik pauschal erreicht werden.

2. Sozialer Ort der musikalischen Erbauung Im Verständnis des frühen Christentums und der Alten Kirche ist Erbauung stets gemeindezentriert. Die Erbauung des einzelnen ist kein Selbstzweck, sondern dient der Erbauung der Gemeinde.23 Das gilt grosso modo noch im 17. Jahrhundert, wenngleich sich bei Spiritualisten wie Jakob Böhme ein Bedeutungswandel des Erbauungsbegriffs andeutet. Ein Indiz dafür sind die Ausschlußkriterien, die die geistliche Musikästhetik der Zeit formuliert: Die Erbaulichkeit endet dort, wo die affektive Wirkung der Musik über die gemeindliche Integrierbarkeit hinausgeht und den Gläubigen zum ekstatischen Einzelnen macht. Andreas Werckmeister zieht die Mißbrauchsgrenze der Musik noch 1707 dort, wo „die Gemüter confundiret und wild gemachet [werden], bei denen denn der Satan einen freien Zutritt haben kann".24 Der vereinzelte Genuß und der ekstatische Bewußtseinszustand ist üppig oder eitel und damit der Vergänglichkeit preisgegeben. Und die erbauliche Musik soll ja gerade das Gegenteil bewirken, den unvergänglichen Teil des Menschen zu erbauen. Die Gemeinde ist im 17. Jahrhundert also nach wie vor der soziale Ort der musikalischen Erbauung. Die Triftigkeit dieser These bestätigt sich m. E. gerade an dem Beispiel, das am stärksten in die entgegengesetzte Richtung der Individualisierung zu zeigen scheint: am geistlichen Lied der Erbauungsgesangbücher. Natürlich waren Heinrich Müllers Geistliche Seelen Musik (Rostock 1659) oder Johann Schefflers Heilige Seelen-Lust (Breslau 1657) für den privaten Gebrauch bestimmt. Aber gerade aus diesen Liedern erwuchs im Pietismus ein geradezu emphatisches Gemeinschafts- und Gemeindeverständnis, freilich eines, das erst durch die emotionale Teilnahme des einzelnen Christen sich konstituiert und damit auf einer völlig anderen Basis steht als das reformatorische Gemeindekonzept. Die Doppelfunktion geistlicher Musik der Mitte des 17. Jahrhunderts zwischen Erbauung des einzelnen und gemeindlicher Anschlußfahigkeit möchte ich an zwei Beispielen sowie einem Gegenbeispiel erläutern. Die Johannespassion ist eines der Alterswerke von Heinrich Schütz und ohne konkreten gottesdienst-

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Neutestamentliche Nachweise bei Gerhard Friedrich: Art. „Erbauung", in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. X. Berlin u. a. 1982, S. 18-21. Andreas Werckmeister: Musicalische Paradoxal-Discourse oder Ungemeine Vorstellungen, wie die Musica einen hohen und göttlichen Ursprung habe und wie hingegen dieselbe so sehr gemißbrauchet wird. (Quedlinburg 1707).

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liehen Anlaß entstanden.25 Und trotzdem fügt sie sich einer liturgischen Funktion; sie ist nichts anderes als eine ausfuhrliche Epistel: Exakt dem Text des Johannesevangeliums folgend, wechseln sich die rezitierenden Evangelistenerzählungen bzw. Dialoge mit den figural gesetzten Turbachören ab. Der einzige nichtbiblische Text beschließt das Werk, es ist ein motettisch komponiertes schlichtes Gebet. Der erbauliche Charakter des Werks liegt schlicht darin, daß der reine Bibeltext in der Klanglichkeit unmittelbar präsent wird und sich in ihr emotional wiederholt. Die liturgische Präsenz des Bibelworts prätendiert den sozialen Ort der Erbauung, selbst wenn der konkrete Anlaß für das soziale Ereignis fehlt. Ein weiteres Alterswerk Schütz' ist die Vertonung des 119. Psalms in einer großangelegten Abfolge doppelchöriger Motetten (der sog. Schwanengesang SWV 482-494). Auch dies ein Werk ohne gottesdienstlichen Anlaß, nun auch ohne die Eindeutigkeit einer liturgischen Funktion. Und dennoch behält Schütz das liturgische Moment der responsorialen Alternatim-Praxis (choralfigural) bei. Auf eine kurze choraliter-Intonation folgt jeweils eine doppelchörige Motette. So wird der Charakter der musikalisch kommentierten und dadurch erbaulichen Epistel beibehalten, auch wenn die motettische Vertonung, die den überwiegenden Teil ausmacht, über die Epistelfunktion weit hinausgewachsen ist. Die Divergenz von intendiertem und unmittelbarem Erbauungsgegenstand durch den medialen Faktor des Anthropologischen verändert nun auch den sozialen Ort der Erbauung. In Carl Heinrich Grauns Oratorium Der Tod Jesu (1755) auf einen Text Ramlers treten Jesus und die Soliloquenten gar nicht mehr als Personen auf. Die unmittelbare Präsenz des Erbauungsgegenstands, hier des Passionsgeschehens, ereignet sich einzig durch die fingierte Augenzeugenschaft einer Erzählerperson, die mit dem Evangelisten des älteren Oratoriums nichts mehr gemeinsam hat. Der Erbauungscharakter der Musik stellt sich durch die Authentizität der Emotionen des Augenzeugen her, an der mittels der Musik der Hörer partizipiert. Das ,Emotionsoriginal', d. h. der Erbauungsgegenstand in Form von rezitiertem oder durch eine Rolle verkörpertem Bibelwort, muß an keiner Stelle mehr unmittelbar in Erscheinung treten. Die Ableitungskette hin zu jenem, im 17. Jahrhundert stets die Legitimation des Erbauungscharakters, ist durch den nicht mehr überbrückbaren Fiktionalitätssprung unterbrochen. Insofern hat die Graunsche Musik auch ihren festen sozialen Ort verloren. Die einzige Bedingung ihres Funktionierens ist die Anwesenheit empfindsamer Menschen, und Empfinden fallt dann mit Erbautwerden in eins. In der Struktur ihrer Erbaulichkeit liegen die Graunsche Passionskantate und die Kantate des Neumeister-Typs eng beieinander. Das entscheidende Strukturmerkmal ist bei beiden die nichtbiblisch formulierte Emotionalität als unmittelbarer Gegenstand der Erbauung. (Was beide voneinander unterscheidet, ist die Beschaffenheit dieser Emotionalität, aber diese Frage würde tief in die Theorieprobleme der Empfindsamkeit führen und sei daher ausgeklammert.) Alle Ge25

Eine erste Fassung war 1664 fertiggestellt. Schütz sandte sie, zusammen mit vielen anderen seiner Werke, als Manuskript 1665 Herzog August zum Aufbau der Wolfenbütteler Bibliothek. Wenig später hat er die Passion einer Bearbeitung unterzogen. Vgl. Hans Joachim Moser: Heinrich Schütz. Sein Leben und Werk. Kassel u. Basel 1954, S. 185.

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genstände, die in positive Emotionalität überführt werden können (sündige Affekte also ausgeschlossen) und insofern sie in Emotionalität überfuhrt werden, sind nun Gegenstände der Erbauung. Das gilt natürlich fur ästhetische Gegenstände in erhöhtem Maß, weil für diese die Emotionalität genuines Ausdrucksmedium ist - Speners Gryphius-Lektüre ad exemplum. Damit ist eine Reflexivität der musikalischen Erbauung erreicht, die prinzipiell nicht mehr lokalisierbar ist, weil der Ort der Reflexivität das Subjekt ist. Denn Musik ist - und niemand hebt das nachdrücklicher hervor als der Wirkungsästhetiker Mattheson - eine auf affektive und emotionale Wirkung ausgerichtete Kunst. Sie kann sich damit gleichsam selbst Gegenstand der Erbauung sein. Das erklärt beispielsweise, warum Nikolaus Zinzendorf in den 1730er und 1740er Jahren bemüht war, in seiner Brüdergemeine den jeweils allerneuesten musikalischen Geschmack zu pflegen,26 oder warum Johann Friedrich Fasch in den 1730er Jahren seine pietistischen Kantatentexte im neuen empfindsamen Stil vertonte. Diese neueste Musik brauchte nicht erst durch Tradition als angemessene geistliche Erbauungsmusik legitimiert sein; entscheidend war vielmehr, daß sie angemessener Ausdruck der aktuellen Emotionslage war. Mit der Reflexivität der Erbauung hängt eine weitere Entwicklung der geistlichen Musik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammen. Sie tendiert weg vom Einzelaffektprinzip, dem die Anwendung der rhetorisch-musikalischen Figuren bei Schütz verpflichtet ist, und hin zu einer in sich homogenen Emotionalität. Spätestens hier trennt sich der Erbauungscharakter der Musik von seiner ursprünglichen Schwesterfunktion, dem Unterweisungscharakter. Eine ganz in selbstreflexiver Emotionalität aufgehende Musik kann a priori nicht mehr katechetisch sein. Der Eingangschor „Herr unser Herrscher" von Bachs Johannespassion etwa schmilzt eine Fülle rhetorischer Details in einen völlig homogenen Gesamtcharakter der Musik ein. Man kann diese Details - v. a. Kreuz- und Leidensfiguren - als Affektatome des Gesamtcharakters entschlüsseln; intendierte Gegenstände der Erbauung indessen sind nicht mehr sie, sondern die erlebte Emotionalität des Gesamtcharakters.

3. Erbauungscharakter der Instrumentalmusik Im Licht der bisherigen Ausführungen könnte sich die Frage erheben, ob nicht in der geistlichen Instrumentalmusik - und das ist an erster Stelle die Orgelmusik - die Reflexivität der musikalischen Erbauung schon im 17. Jahrhundert erreicht ist; ob also die reflexive Struktur mit der Anthropologisierung der geistlichen Musik im frühen 18. Jahrhundert historisch gar nicht zusammenhängt. Denn wortungebundene Musik ist notwendigerweise selbstreflexiv, da ihr intendierter Inhalt von vornherein mit dem unmittelbaren auf engste Weise verbunden ist (wenn auch nicht umstandslos identisch mit jenem).

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Vgl. Anja Wehrend: Musikanschauung, Musikpraxis, Kantatenkompositionen in der Hermhuter Brüdergemeine. Ihre musikalische und theologische Bedeutung für das Gemeindeleben von 1727 bis 1760. Frankfurt a. M. 1995. [Zugl. Diss. Univ. Duisburg 1993],

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Reine Instrumentalmusik hatte im protestantischen Gottesdienst des 17. Jahrhunderts ohnehin keinen Platz. 27 Die Ausnahme bildete die Orgel - zumindest in Deutschland; im calvinistischen Holland war selbst gottesdienstliche Orgelmusik obsolet. Bei Athanasius Kircher ist die Orgel ein „Compendium und epitome, [...] nichts ist mit derselben zu vergleichen / nichts ist auch diser sichtbarn Welt ehnlicher / als ein Orgel".28 Gegenstand der Erbauung beim Erklingen reiner Orgelmusik ist demnach der Abbildcharakter der Orgel insgesamt, noch nicht die emotionale Qualität ihrer Musik selbst. Kircher bietet zwar in der Musurgia universalis selbst eine musikalische Affektenlehre, aber es kommt ihm dabei mehr auf kosmologische Vollständigkeit seiner Beschreibung an als auf die konkrete psychische Wirkung einer je konkreten Musik selbst. Auf der kosmologischen Argumentationshöhe dieser Musikauffassung, die bis ins frühe 18. Jahrhundert reicht, 29 bietet sich deshalb keine Einstiegsstelle für die Frage der Erbaulichkeit von Instrumentalmusik. So viel aber läßt sich sagen, daß die Orgel aufgrund ihres apriorischen Abbildcharakters einen gewissen Freiraum dafür hatte, was an konkreter Musik auf ihr musiziert wurde. Wirkungsästhetisch gesprochen ist Orgelmusik schlicht deshalb erbaulich, weil sie von der Orgel kommt. Aufgrund dieses Horizontes im protestantischen Bewußtsein der Zeit beschränke ich mich bei Diskussion des Erbauungscharakters von Instrumentalmusik auf Orgelmusik - womit nicht ausgeschlossen sei, daß ab dem 18. Jahrhundert auch anderweitige Instrumentalmusik in den Erbaulichkeitszusammenhang rücken kann. Im folgenden seien mit der Gattung ,Präludium und Fuge' 27

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Heinrich Bokemeyer, der in seiner theoretischen Schrift von der Melodie Der melodische Vorhof (erhalten durch den kommentierten Abdruck in Johann Mattheson: Critica musica. Bd. 2. Hamburg 1725, S. 239-368) sicherlich eine rückwärtsgewandte Position vertritt, schreibt: „Der Zweck der Music ist, g) die Zuhörer auf eine liebliche und angenehme Manier zu unterweisen. Diesemnach muß der Verstand erbauet, der Wille gelencket, und nicht nur das Ohr gekitzelt werden. Zwar eine blosse Melodey mit Instrumenten, ohne Text, hat allbereit grosse Gewalt über das menschliche Gemüth, wofern sie anders gehörig eingerichtet ist; h) allein so sehr sie auch afficirt, so wenig wird sie verstanden, i) wo nicht ein Text hinzu kömt, wodurch zugleich der Verstand überführet, und folglich die Wirkung um so viel kräfftiger gemacht wird, die eigentliche Absicht zu erreichen. Eine InstrumentalMusic, ohne Text, dienet nur bloß zum divertissement; k) aber eine mit einem Text ist erbaulich." Mattheson kommentiert hierzu: ,,g) Gott directe zu loben, sollte wohl hauptsächlich der Zweck der Kirchen-Music; indirecte aber aller andern Music Absicht seyn; hiernechst nicht nur die Zuhörer zu unterweisen, sondern vornehmlich dieselbe zu bewegen. [...]) Das ist, meines wenigen Erachtens, ein grundloser Satz, daß eine Instrumental-Music, ohne Text, nur bloß zum Zeit-Vertreib oder zur Lust diene. Denn, andrer Exempel zu geschweigen, so müste auch das Orgel-Spielen nur zum divertissement dienen; wovon aber so viele wackere Gottsgelehrten, in ihren Orgel-Predigten, ja David selbst, gantz anders reden und lehren. 1) Eine Instrumental-Music ist erbaulich; eine Vocal-Melodie aber erbaulicher. So ist alles gut, wenn der Text gut ist." (Bokemeyer: Vorhof, S. 297-299.) Philosophischer Extract und Aus- / zug / aus deß Welt-berühmten Teutschen / Jesuitens Athanasia Kircheri von Fulda / Musuigia Universali, / in Sechs Bücher verfasset [...] Ausgezogen und verfertiget [...] von Andrea Hirschen / Muso- Philo- Sopho- Theo- Philo, / Evangel. Pfarrern zu Bechlingen / in der Graf- / schafft Hohenloh [...]. Schw. Hall [...] 1662 [...], S. 115. Vgl. auch S. 252ff., wo der Schöpfeigott mit einem Organisten verglichen und der Abbildcharakter der Orgel ausgeführt wird. Ζ. B. Johann Kuhnau: Der musicalische Quacksalber (1700); Andreas Werckmeister: Harmonologia musica (1702); Johann Heinrich Büttstedt: Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica (1716). Auf die Rudimente kosmologischer Musikauffassung bei Mattheson wurde bereits hingewiesen (Anm. 22).

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(und ihren historischen Voraussetzungen der norddeutschen Orgeltoccata und des ,Stylus phantasticus') sowie zwei unterschiedlichen Arten der Choralbearbeitung drei bedeutende Stationen der protestantischen Orgelmusik der Zeit erörtert.

a. Strukturen des Erbaulichen in Bachs Präludien und Fugen Die Notiz eines Gottesdienstablaufs in der Leipziger Thomaskirche, die Bach sich auf dem Umschlag der Kantate Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61) vermerkte, zeigt, welchen Stellenwert das Präludieren auf der Orgel besaß.30 Bei Gottesdienstdauern von drei bis vier Stunden hat das Präludieren einen beachtlichen Raum eingenommen, und die unverbürgte Anekdote, Bach sei einmal wegen seines überlangen Präludierens gerügt worden, worauf der stets streitlustige Organist Choralvorspiele von nur noch ein paar Takten abgeliefert haben soll, weist darauf hin, daß das Präludieren im Mosaik der Gottesdiensterbauung ein besonders sensibles Steinchen war. Bachs Präludien und Fugen wurzeln gattungsgeschichtlich in der norddeutschen Orgelmusik. Die Toccatenkunst eines Bruhns und Buxtehude war Bach vertraut, nicht zuletzt durch seine persönliche Begegnung mit dem greisen Buxtehude in Lübeck. Die Toccata der Norddeutschen ist einsätzig, begreift aber mit präludierenden und fugierenden Abschnitten heterogene Elemente ein. Im Bachschen Orgelfrühwerk sind diese Spuren noch sichtbar, etwa den dreigliedrigen Experimenten der Weimarer Zeit (ζ. B. BWV 572 und 564). Mehr und mehr aber kristallisiert sich die Trennung in Präludium und Fuge heraus, in der der toccatenhafte Wechsel der Satzarten und Ausdruckscharaktere reguliert, systematisiert und die Stilebenen je für sich profiliert werden.31 Daß die zweisätzige Form für Bach keine ephemere Kollektion war, sondern geradezu mit Formemphase betrieben wurde, zeigen die 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Claviers (1722) und mehr noch der Dritte Theil der Ciavier Übung (1739), dessen Vielzahl von Einzelstücken von einem Präludium zu Beginn und einer Fuge zum Abschluß eingerahmt werden. In dieser zweisätzigen Gattung .Präludium und Fuge' fließen also mehrere Wahrnehmungsebenen ineinander, was nun zu seiner spezifischen, durchaus komplizierten Erbauungsstruktur führt. Einerseits fungiert das Präludium gewissermaßen als Intonation zu einem imaginären Choral,32 dessen Platz nun die Fu-

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„Praeludieret. Motetta. Praeludieret auf das Kyrie, so gantz musiciret wird. Intoniret vor dem Altar. Epistola verlesen. Wird die Litaney gesungen. Praeludieret auf den Choral. Evangelium verlesen. Praeludieret auf die Haupt-Musik [sc. die Kantate]. Der Glaube gesungen. Die Predigt. Nach der Predigt, wie gewöhnlich einige Verse aus einem Liede gesungen. Verba institutionis. Peaeludieret auf die Music. Und nach selbiger wechselweise praeludieret und Choräle gesungen bis die Communion zu Ende ist et sie porro." (Bach-Dokumente. Bd. 1-4, hg. v. Bach-Archiv unter Leitung von Werner Neumann. Leipzig 1963-1979, Dok. I, Nr. 178) Vgl. Friedhelm Krummacher: Bach und die norddeutsche Orgeltoccata, in: Bach-JB 71 (1985), S. 119-134. Wie wirksam diese Funktion ist, zeigt wiederum die Ciavier Übung III, in der dem Präludium tatsächlich eine Serie von Chorälen folgt (ohne daß es sich freilich in einem präzis liturgischen Sinn um deren Intonation handelte).

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ge eingenommen hat, nicht ohne dessen semantische Konnotate von Strenge, Rechtgläubigkeit und Nachfolge (im Comes und im Glauben) zu besetzen. Andererseits ist im Präludium nach wie vor die toccatenhafte Freude am Spiel an sich und an der Formfreiheit wirksam. Eingebundensein in die Liturgie und Tendenz zur Autonomisierung und Reflexivität halten sich die Waage. Schon in Lübeck, der gattungsgeschichtlichen Ahnstätte der Form, tendierte die große Toccata weg vom Gottesdienst, ohne daß sie aus dem Gottesdienst verbannt worden wäre. Die e-MollToccata von Nikolaus Bruhns oder Buxtehudes große Orgeltoccaten wurden nicht mehr fur den Hauptgottesdienst geschrieben, sondern fur die Abendmusiken in St. Marien, einer seit 1646 bestehenden und in ganz Deutschland singulären Erscheinung. Geistliche Erbauung und .Vergnügen' als deren säkulares Emotionsderivat fließen in den Abendmusiken ineinander.33 Hier ist die Musik schon vom unmittelbaren zum intendierten Erbauungsgegenstand geworden, wenngleich sie in letzterem nicht restlos aufgeht, da liturgische Rudimente noch als Verweisebene im Hintergrund stehen, deren Ausgestaltung die Musik leisten soll. Diese Struktur des Erbaulichen setzt sich in Bachs Präludien und Fugen fort, mit der Tendenz zur weiteren Reduzierung des liturgischen Hintergrundes in der Ciavier Übung III und zu ihrer vollständigen Eliminierung im Wohltemperierten Ciavier.

b. Die Choralnähe in Bachs „ Orgelbüchlein " Im Orgelbüchlein entwickelt Bach eine Choreiform, die sich von der Choralbearbeitungspraxis des 17. Jahrhunderts deutlich unterscheidet. War bisher, Traditionsrelikt der Parodiepraxis der Vokalpolyphonie, der Choral ein eher abstrakter Materialfundus, so wird nun die Melodie von Bach behandelt, als solle sie

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Im Rückblick Caspar Ruetz' aus dem Jahr 1752 wird der Doppelcharakter deutlich: „Es soll nemlich in alten Zeiten die Bürgerschafft, ehe sie zur Börse gegangen, den löblichen Gebrauch gehabt haben, sich in der St. Marien Kirche zu versammlen, da denn der Organist zu einigen Zeiten ihnen zum Vergnügen, und zur Zeit-Kürtzung, etwas auf der Orgel vorgespielet hat, um sich bey der Bürgerschafft beliebt zu machen. Dieses ist sehr wohl aufgenommen worden, und er von einigen reichen Leuten, die zugleich Liebhaber von der Music gewesen, beschencket worden. Der Organist ist dadurch angetrieben worden, erstlich einige Violinen, und ferner auch Sänger darzu zu nehmen, biß endlich eine starcke Musik daraus geworden [...]." Caspar Ruetz: Widerlegte Vorurtheile von der Beschaffenheit der heutigen Kirchenmusic und von der Lebensart einiger Musicorum. Lübeck 1752, S. 45. Zur Geschichte der Abendmusiken Kerala J. Snyder: Lübecker Abendmusiken, in: Studien zur Musikgeschichte der Hansestadt, hg. v. Arnfried Edler u. Heinrich W. Schwab. Lübeck u. Kassel u. a. 1989 (Kieler Sehr, zur Musikwissenschaft 31), S. 63-71. Der Titel einer Abendmusik aus dem Jahr 1700 deutet ebenfalls daraufhin, daß das „Vergnügen" an der reinen Instrumentalmusik durch den Ort und den semisakralen Charakter der Veranstaltung erbauliche Funktion hat: .Abdruck der Texte, / Welche / Zur Ehre Gottes / und / Vergnügung der Zuhörer / Bei den gewöhnlichen / Abend-Musicen, / In der Haupt-Kirchen St. Marien / sollen praesentiret werden / von Dieter. Buxtehuden / Comp, und Direct. / Lübeck [...] 1700." Anläßlich des Todes von Kaiser Leopold I. im Jahr 1705 veranstaltete Buxtehude eine außerodentliche Abendmusik, in der die übliche Instrumentalmusik mit dem von der Gemeinde gesungenen Choral „Ach wie nichtig ach wie flüchtig" abgeschlossen wurde, was wiederum den geistlichen Erbauungscharakter einer genuin weltlichen Veranstaltung dokumentiert

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mitgesungen werden können. In allen Stücken der unvollendet gebliebenen Sammlung bleibt der cantus firmus (im folgenden: c. f.) im Diskant, und es werden kaum Pausen zwischen den Melodiezeilen gemacht. Ausdeutung und innere Beseelung des Chorais findet in den Begleitstimmen statt. Der Choral selbst und sein mitgedachter Text, dessen figurenhafte Widerspiegelung in den Unterstimmen teilweise geradezu experimentell dicht ist, ist hier intendierter und unmittelbarer Gegenstand der Erbauung. Aber nicht nur die musikalisch-rhetorischen Figuren rekurrieren unmittelbar auf den Text. Zusätzliche Erlebnisbrücken zwischen Choralmelodie und Obligatstimmen schafft Bach durch kleine motivische Verzahnungen der beiden Ebenen, die unterhalb der Schwelle des Thematischen bleiben. In „Nun komm, der Heiden Heiland", dem ersten Choral des Orgelbüchleins, wird jene Erlebnisbrücke durch eine kleine Ornamentierung der Melodie in Τ. 1 und T. 8 (Kasten) hergestellt, die dem Diskantprinzip willkürlich hinzugefügt ist und auch nicht als Ausflug der Obligatstimmen in die Diskantlage gelesen werden kann. Der Sinn dieses Akzidenz besteht einzig darin, die motivische Verbindung zu den entsprechenden Wendungen im Unterstimmenbau herzustellen. Durch das Akzidenz, der die Wahrnehmung von Einheit in der Verschiedenheit der kompositorischen Ebenen vermittelt, haben die Obligatstimmen teil an der Erbauungswirkung des Chorais.

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c. Choraltranszendierung und Autonomie in Bachs „Drittem Theilder Ciavier Übung" Im Spätwerk Bachs sind Choräle von der Gestaltungsart des Orgelbüchleins nicht mehr anzutreffen. Bach verwendet, oft im expliziten Rückgriff auf ältere stilistische Techniken, das Choralmaterial spröder, abstrakter, artifizieller. Musikalischer Sinn und - wenn überhaupt namhaft zu machen - theologischer Gehalt teilen sich nicht mehr affektiv-unmittelbar mit, sondern werden konstruiert. Wenn überhaupt noch von Erbaulichkeit dieser Musik im Sinn eines schlichten Erbauungsbuchs des 17. Jahrhunderts gesprochen werden kann, dann muß diese Erbaulichkeit komplexer strukturiert sein als die bisher diskutierten Fälle. Über Sinn und Gehalt des Dritten Theils der Ciavier Übung ist spekuliert worden wie sonst nur noch über die Kunst der Fuge.3* Anlaß ist der kühne Anspruch Bachs, sehr heterogene Formen und Stile zu einem Zyklus zusammenzufassen. So enthält der Zyklus eine Reihe unterschiedlichster Arten von Choralbearbeitungen, teilweise über dieselben Choräle, die sich teils dem lutherischen Katechismus, teils dem Meßordinarium zuordnen lassen. Er enthält zudem vier cantus-firmus-ungebundene Duette, von denen man lange annahm, sie seien nur zufallig in den Zyklus geraten.35 Der Zyklus wird durch zwei Faktoren zusammengehalten: musikalisch durch den Rahmen von Präludium und Fuge EsDur, sodann zahlensymbolisch durch die Anzahl von 14 Stücken in der ersten Fassung (14 als Quersumme des Namens BACH im Zahlenalphabet) und 27 in der schließlich veröffentlichten (27 als potenzierte Trinität: 3 x 3 x 3 ) . Wir haben es damit von vornherein mit zweierlei Erbauungscharakteren zu tun: der Erbaulichkeit des jeweiligen Einzelwerks und der Erbaulichkeit der zyklischen Anlage. Zunächst zu letzterem. Alle Anstrengungen, die Ciavier Übung III direkt auf den gottesdienstlichen Vollzug zu beziehen und in den Duetten Choralintonationen zu behaupten, scheitern an Widersprüchen. Mit einem Abbild der Gottesdienstliturgie haben wir es nicht zu tun, weil der Zyklus liturgisch einerseits unvollständig ist36 und andererseits Kasualien wie die Taufe berücksichtigt37 oder drei Kyrie- und drei Gloria-Gesänge enthält, aber nur einen zum Christe eleison. Das Gottesdienstliche wird als Aura zitiert, ohne konkret gottesdienstlich zu sein. Auch die vier Duette stehen zum liturgischen Vollzugscharakter quer; Christoph Wolffs Vorschlag, in ihnen Choralintonationen zu sehen,38 ist wenig plausibel, da sie aufgrund ihrer Artifizialität und für den Choral wenig gebräuchlicher Tonarten wie a-Moll diese Funktion kaum erfüllen können. Im Gegensatz zur Gottesdienstliturgie ist der lutherische Katechismus mit je zwei

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35 36 37 38

Vgl. die bei Andreas Jacob: Studien zur Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs Klavierübungen (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft XL). Stuttgart 1997, S. 171233 ausgewertete Forschungsliteratur. Albert Schweitzer: Johann Sebastian Bach. Leipzig 1908, 4/5 1922, S. 298. Es fehlt der ganze Bereich des Abendmahls. „Christ unser Herr zum Jordan kam". Diese und weitere Positionen sind zusammengetragen bei Jacob: Studien, S. 185-186.

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Chorälen zu Dekalog, Glaubensbekenntnis und Vaterunser komplett - eine insgesamt ebenfalls widersprüchliche Konstellation. Die Ciavier Übung III ist, man kann es drehen und wenden wie man will, kein Kompendium, sondern ein Sammelsurium des evangelischen Glaubens. Daß dieses inhaltliche Sammelsurium eine ganz andere Axt von Vollständigkeit beansprucht, liegt dennoch auf der Hand: aufgrund des Rahmens von Präludium und Fuge, aufgrund der Zahlensymboliken, aufgrund von Binnenreferenzen etwa zwischen den einzelnen Kyrie-Chorälen.39 Die Unsystematik im Äußeren und damit die Funktionslosigkeit der Stücke weist vielmehr auf den entscheidenden Gesichtspunkt hin: Die Choräle borgen sich den Erbauungscharakter des Gottesdienstes, ohne jedoch eine real stattfindende Liturgie zur Konkretisation dieses Erbauungscharakters zu benötigen. Der Gottesdienst, der sich in jedem einzelnen von ihnen feiern läßt, ereignet sich am und im Stück selbst. Entsprechend sind die Katechismuschoräle keine Explikationen des lutherischen Katechismus, sondern gleichsam autonome musikalische Katechismen, die den Anspruch erheben, daß Intention und Unmittelbarkeit von Erbauung in ihnen zusammenfallen. In diese selbstreflexive Erbaulichkeit lassen sich weitere Stücke beliebiger Faktur (wie etwa die Duette) integrieren, denn der autonome Gottesdienst kann sich - vorausgesetzt, der Charakter des Borgens bleibt erhalten - jederzeit seine eigene Liturgie definieren. Diese weitgehend autonome Erbauungsstruktur des Zyklus erklärt nun, warum auch die einzelnen Stücke eine von sozialen Orten und liturgischen Vollzügen unabhängige Erbaulichkeit entwickeln können. Der zyklische Rahmen und sein liturgisches Als-ob garantieren die Aura des Erbaulichen für jedes Stück innerhalb des Zyklus, ziemlich unabhängig davon, wie das einzelne Stück beschaffen ist. (Nach demselben Prinzip sind die Fugen der Kunst der Fuge oder die Sonate des Musikalischen Opfers ,erbaulich'.) Die Duette beispielsweise beziehen ihren erbaulichen Charakter ausschließlich aus der Erbauungsstruktur des Zyklus, Präludium und Fuge Es-Dur als Rahmenteile zu dem Teil, der über den diskutierten Erbauungscharakter der Gattung ,Präludium und Fuge' hinausgeht. Die Choräle bringen mit dem c. f. einen je eigenen Erbauungsgegenstand mit - zunächst auf der Materialebene, die jeweils unterschiedliche Arten der unmittelbaren Präsenz ausformt. Mit dem Lutherchoral „Vater unser im Himmelreich" BWV 682 möchte ich abschließend nicht nur auf das kompositorisch anspruchsvollste und stilistisch kühnste Stück der Ciavier Übung III eingehen, sondern auch auf eines, das den zyklischen Erbauungscharakter ins Stück hineinholt und in ihm noch einmal aktualisiert. Der c. f. als intendierter Erbauungsgegenstand ist im Choral auf zweierlei Art präsent. An der Oberfläche des Stücks, die die Wahrnehmung dominiert, ist ein rhythmisch zerrissenes Subjekt (T. 1—4), das bei seiner Beantwortung (Mittelstimme T. 5-8) in ein Kontrasubjekt übergeht, in dem die schon im Subjekt exponierte lombardische Bewegung (T. 2) mit dem neu hinzutretenden Element der Chromatik (T. 4—6) kombiniert wird.

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Jacob: Studien, S. 195.

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In das Subjekt sind die c. f.-Töne (mit gestricheltem Kasten markiert) kaum wahrnehmbar verwoben. Damit beinhalten Subjekt und Kontrasubjekt zwei semantische Schichten: das Vaterunser-Gebet und die recht eindeutige figürlichrhetorische Bedeutung der lombardischen Rhythmen und der Chromatik als menschliche Verstrickung in Sünde und Leid. Man kann daher Subjekt und Kontrasubjekt deuten als Beten des Vaterunser inmitten von Sünden- und Leidenserfahrung. Der kolorierte c. f. ist also der in menschliches Sagen und menschliche Umstände gefaßte Erbauungsgegenstand. Erst in einer zweiten Phase des Stücks kommt der unkolorierte c. f., im Gegensatz zur anthropologischen Formulierung gleichsam die reine liturgische Form, an die Oberfläche (T. 12ff., mit durchgezogenem Kasten markiert).

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Allerdings wird der c. f. schon T. 14, beim Einsatz der Kanonstimme, von den lombardischen Kontrapunktstimmen überwuchert und taucht in die weniger wahrnehmbare Mittellage ab.40 Die gleichzeitige Präsenz zweier konträrer Arten des Erbauungsgegenstands macht die Erbauungsstruktur des Chorais zu einer selbstreflexiven. Der c. f. blitzt als geheime unmittelbare Präsenz des intendierten Gegenstands auf. Zugleich aber erscheint er (im Subjekt) als das menschliche Fürwahrnehmen des Gegenstands. Im Fürwahrnehmen ereignet sich Erbauung, und indem sich das Fürwahrnehmen im Stück ereignet, ereignet sich auch die Erbauung schon in der Faktur des Stücks selbst, nicht erst beim Hören. Erbauung ist, mit anderen Worten, hier nicht Zweck des Stücks, sondern Inhalt. Damit wiederholt Bach im „Vaterunser"Choral die selbstreflexive Erbauungsstruktur des Zyklus. Der Choral ist nicht nur erbaulich, insofern er - wie etwa die Duette - Teil des Zyklus ist. Sein Thema ist das Erbautwerden selbst im zirkelhermeneutischen Ineinander von Erbauungsgegenstand und vollzogener applicatio. Zumindest in seinem Erbauungscharakter ist er damit aller konkreten Auffiihrungssituationen enthoben.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Bach-Dokumente. Bd. 1-4, hg. v. Bach-Archiv unter Leitung von Werner Neumann. Leipzig 1963-1979. Büttstedt, Johann Heinrich: Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica. Erfurt / Leizpig o.J. [1716]. [Buxtehude, Dieterich:] Abdruck der Texte, / Welche / Zur Ehre Gottes / und / Vergnügung der Zuhörer / Bei den gewöhnlichen / Abend-Musicen, / In der Haupt-Kirchen St. Marien / sollen praesentiret werden / von Dieter. Buxtehuden / Comp, und Direct. / Lübeck [...] 1700. [Kircher, Athanasius:] Philosophischer Extract und Aus- / zug / aus deß Welt-berühmten Teutschen / Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda / Musurgia Universali, / in Sechs Bücher verfasset [...] Ausgezogen und verfertiget [...] von Andrea Hirschen / Muso- Philo- SophoTheo- Philo, / Evangel. Pfarrern zu Bächlingen / in der Graf- / schafft Hohenloh [...]. Schw. Hall [...] 1662. Mattheson, Johann: Das Neu-Eröffnete Orchestre. Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein GalantHomme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren / die Terminos technicos verstehen und geschicklich von dieser vortrefflichen Wissenschaft raissonnieren möge [...]. Hamburg 1713. - Das Beschützte Orchestre. Hamburg 1717. - Das forschende Orchestre [...]. Hamburg 1721. - Critica Musica. Bd. 2. Hamburg 1725 (Repr. Amsterdam 1964). - Der neue Göttingische Aber Viel schlechter, als Die alten Lacedämonischen, urtheilende Ephorus, wegen der Kirchen-Music eines andern belehret von Io. Mattheson [...]. Hamburg 1727. Meier, Joachim: Unvorgreiffliche Gedancken über die Neulich eingerissene Theatralische Kirchen-Music und Denen darinnen bishero üblich gewordenen Cantaten mit Vergleichung

40

Andreas Jacob (Studien, S. 204) hat aufgezeigt, daß Bach im Subjekt moderne, d. h. galante Stilelemente aufgreift. Der menschlichen Formulierung des Erbauungsgegenstands im modernen Stil steht damit die liturgische in der alten kanonischen Technik gegenüber.

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Rainer

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Der Music voriger Zeiten zur Verbesserung der Unsrigen vorgestellet von J. M. D. o. O. [Lemgo?] 1726. Neumeister, Erdmann: J. N. J.: / Geistliche / Canta- / Ten / Uber alle / Sonn- Fest- und Apo- / stelTage, / Zu einer, denen Herren Musicis sehr / bequemen / Kirchen-Music / In ungezwungenen Teutschen Versen / ausgefertiget. / Anno 1702. [o. O.]. Profe, Ambrosius: Erster Theil geistlicher Concerten und Harmonien, ä 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. vocibus, cum & sine violinis, & basso ad Organa, aus den berühmbsten Italiänischen und andern Autoribus. Leipzig 1641. Ruetz, Caspar: Widerlegte Vorurtheile von der Beschaffenheit der heutigen Kirchenmusic und von der Lebensart einiger Musicorum. Lübeck 1752. Spener, Philipp Jakob: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666-1686, hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich und Markus Matthias. Bd. 2:1675-1676. Tübingen 1996. Werckmeister, Andreas: Musicalische Paradoxal-Discourse oder Ungemeine Vorstellungen, wie die Musica einen hohen und göttlichen Ursprung habe und wie hingegen dieselbe so sehr gemißbrauchet wird. Quedlinburg 1707.

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Barbara

Becker-Cantarino

Erbauung und Autorschaft bei Johanna Eleonora Petersen (1644-1724)

Religiöse Erbauung, innerliche Stärkung und Läuterung wurden besonders in den Schriften der Pietisten im ausgehenden 17. Jahrhundert wiederbelebt, die in ihrer unorthodoxen, individualistischen Frömmigkeit oft im Gegensatz zur etablierten Kirche standen. So schrieb der Kieler Theologe Christian Kortholt in seiner Vorrede zu Johanna Eleonora Petersens Gespräche des Hertzens mit GOTT, daß er ihre Schrift mit „sonderbarem Vergnügen gelesen, und [sich] darüber im HErrn ergetzet habe. Zweiffeie auch nicht an anderer Gottliebenden Hertzen kräfftiger Erbauung, welchen solch Wercklein mit Fleiß durchzulesen belieben wird".1 Kortholt beschreibt seinen eigenen Lesegenuß und Gewinn als Erbauung und fahrt dann fort, die Autorin für ihren erbaulichen Lebenswandel, der sich in ihrer Schrift spiegele und ihr Authentizität verleihe, zu loben: Was von Hertzen kommet, das gehet zu Hertzen. So ist es ein weit anders, wenn der, welcher seinen Nechsten in der Gottesfurcht unterrichten will, selbst einen gottgefälligen Wandel führet, u. also mit seinem eigenen Exempel erbaulich andern vorgehet, als da er selbst nicht thut, wozu er andere ermahnet. (Petersen: Gespräche, S. 5r)

Kortholt hatte in seiner Vorrede die (damals) kontroverse Aufgabe, die Publikation einer Frau, dazu noch einer religiösen, zu verteidigen, was er mit dem Argument ihres vorbildlich-erbaulichen Lebens und dem „bey Christlich-gesinneten Lesern sonderbaren Nutzen und Erbauung" tun konnte, Argumente, die keineswegs die beruhigten, die das Paulinische Schweigegebot für Frauen in religiösen Fragen überwachten. Johanna Eleonora Petersen, geb. von Merlau (1644—1724), war die wohl bekannteste und schriftstellerisch produktivste Frau des deutschen Pietismus. Unter dem Aspekt der Erbauung möchte ich im folgenden 1.) Johanna Eleonora Petersens äußeren Lebenslauf kurz skizzieren, 2.) ihrer inneren Biographie und religiösem Werdegang anhand ihrer Autobiographie nachgehen, 3.) ihre erste Publikation Gespräche des Hertzens mit GOTT (1689), in der auch ein Teil ihrer Autobiographie erstmals erschienen ist, als Erbauungsbuch in literarhistorischer Hinsicht betrachten und 4.) auf die Bedeutung und Funktion von Erbauung als werk- und autororientierte Kategorie aus moderner Perspektive eingehen. Dabei ist auch das Problem der

Gespräche des Hertzens mit GOTT. / Auffgesetzet Von Johanna Eleonora Petersen, Gebohme von und zu Merlau. PLOEN / verlegts Siegfried Ripenau. Gedruckt durch Tobias Schmidt. 1689. 2 Teile, S.*5r. - Das Werk enthält im Anhang zum zweiten Teil ihre Autobiographie.

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.Autorschaft' zu behandeln, das sich Frauen angesichts des Paulinischen Dictums, die Frau habe in der Kirche zu schweigen, als Rede- und Publikationsverbot nicht nur in theologischen Fragen immer wieder gestellt hat. Zu fragen sein wird auch danach, was .Erbauung' in Johanna Eleonora Petersens Schrift und Werk bedeutete, denn im deutschen Protestantismus wird der Begriff ,Erbauung' vornehmlich als kirchlicher Terminus, vom Pietismus hergeleitet, verstanden: „Der kirchliche Terminus E. hat seine Prägung nicht so sehr vom NT als vom Pietismus erhalten, wo er die Pflege des religiösen Innenlebens ausdrückte." Erbauungsliteratur enthält „Hilfen zur Stärkung und Wachstum persönlichen Christseins", heißt es in dem Standardwerk Die Religion in Geschichte und Gegenwart.2

1. Skizze der äußeren Biographie: Johanna Eleonora Petersen (1644—1724)3 Verglichen mit anderen Frauen des 17. Jahrhunderts in Deutschland ist das Leben Johanna Eleonoras als Adelige und Ehefrau eines prominenten Theologen einigermaßen gut dokumentiert. Ihre bereits 1689 veröffentlichte und 1717 noch ergänzte Autobiographie enthält wichtige Anhaltspunkte, dazu sind eine Reihe von Briefen (u. a. an August Hermann Francke und an prominente, zumeist adelige Pietistinnen) erhalten.4 Johanna Eleonora wandelte sich von der verarmten Adeligen im Hofdienst zur erweckten Pietistin, Autorin religiöser Schriften und Mitstreiterin ihres Ehemannes Johann Wilhelm Petersen. Als eine geborene von Merlau stammte Johanna Eleonora aus altem, hessischem Adel, verlor früh (1653?) die Mutter und verlebte eine freudlose, ärmliche Kindheit in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges und der Nachkriegszeit auf der (1631 von den Schweden teilweise zerstörten) Burg Philippseck (im heutigen Frankfurter Vorort Heddernheim gelegen). Der Vater Georg Adolph von Merlau war Hofmeister beim Landgrafen Wilhelm-Christian von HessenHomburg; er engagierte Haushälterinnen aus dem Dorf, um die vier Mädchen zu versorgen. Mit zwölf Jahren wurde Johanna Eleonora in den Hofdienst bei der

Doerne, M.: Erbauung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. v. Kurt Galling u. a. Bd. 2. Tübingen 31958, Sp. 538547, hier Sp. 538, 539. Zwei theologische Arbeiten haben die Lebensumstände des Ehepaares Petersen, besonders die Johann Wilhelms, aufgearbeitet: Stephan Luft: Leben und Schreiben fur den Pietismus. Der Kampf des pietistischen Ehepaares Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen gegen die lutherische Orthodoxie. Herzberg 1994 und Markus Matthias: Johann Wilhelm Petersen und Johanna Eleonora. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 30), zum Lebenslauf S. 79-95. Matthias' ausgezeichnet dokumentierte, kirchengeschichtliche Arbeit behandelt zumeist Johann Wilhelm Petersen, hat aber auch die Briefe und Archivquellen zu Johanna Eleonora weitgehend erforscht. Die Habilitationsschrift (Universität Hamburg) von Ruth Albrecht Johanna Eleonora Petersen als theologische Schriftstellerin wird demnächst veröffentlicht. Archivangaben für beide Petersens bei Matthias: Petersen, S. 341-346; Johanna Eleonoras erhaltene Briefe stammen alle aus der Zeit, als sie Spener kennengelernt und sich dem religiösen Leben zugewandt hatte.

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Gräfin von Solms-Rödelheim gegeben, die an Schwachsinn litt und bei ihren Anfallen aggressiv gegen ihre Untergebenen wurde. 1659, im Alter von 15 Jahren, kam Johanna Eleonora als Hofjungfer zu Anna Margarethe von HessenHomburg, die mit Philipp Ludwig von Holstein-Sonderburg verheiratet war, an deren Hof nach Wiesenburg bei Zwickau in Sachsen. Von einem Schulbesuch oder Unterricht durch Tutoren ist nichts bekannt; jedoch erhielt Johanna Eleonora früh Religionsunterricht, lernte lesen und schreiben, beschäftigte sich mit religiöser Literatur und war als Hofjungfer wohl auch mit Vorlesen beschäftigt. Eine standesgemäße Verlobung mit dem Sohn eines kursächsischen Oberstleutnant von Bretewitz wurde nach einigen Jahren wieder gelöst, weil für ihn eine reichere Partie und Johanna Eleonoras Abneigung gegen den Lebenswandel des Soldaten eine Heirat verhinderten. Johanna Eleonora verstärkte ihre quietistischen, religiösen Neigungen; sie erhielt die Erlaubnis der Herzogin, sich aus den Hoffestlichkeiten und Vergnügungen zurückzuziehen und versuchte ihren Vater dazu zu bewegen, den Hofdienst verlassen zu können. Auf einer Schiffsreise von Frankfurt nach Mainz als Begleiterin der holstein-sonderburgischen Prinzessin Sophie Elisabeth, die Bad Ems aufsuchen wollte, lernte Johanna Eleonora im Sommer 1672 Philipp Jakob Spener (1635-1705) kennen, der damals als Pfarrer an der Barfiißerkirche in Frankfurt tätig war, trat mit ihm in ein geistliches Gespräch ein und dann in einen Briefwechsel. 5 Durch Spener und den Frankfurter Juristen Johann Jakob Schütz kam Johanna Eleonora mit fuhrenden Persönlichkeiten protestantisch-sektiererischer Frömmigkeit in Kontakt. 1674 machte ein hoher evangelischer Geistlicher, der Diakon und Spenerfreund Johann Winckler, ihr ein Heiratsangebot; die Heirat kam aber durch den Einspruch ihres Onkels Albert Otto von Merlau nicht zustande. 1675 konnte Johanna Eleonora den Hofdienst aufgeben und nach Frankfurt zu der Witwe Maria Juliane Baur von Eyseneck geb. von Hynsberg (1641—1684)6 in den Saalhof ziehen, wo sie einen kleinen, privaten Kreis zu frommen Gesprächen und gegenseitiger Erbauung um sich versammelte, bei dem auch Frauen anwesend waren und bei der Bibelarbeit mitreden durften, was bei den seit etwa 1670 bestehenden, größeren öffentlichen Versammlungen Speners, den Collegia pietatis, nicht der Fall war. Fünf Jahre lang versammelte Johanna Eleonora schwärmerisch-pietistische Freunde in dem Saalhofkreis um sich. Unter den Besuchern war u. a. 1677 William Penn (1644—1718), der zusammen mit führenden Persönlichkeiten der Quäker auf seiner zweiten Deutschlandreise Johanna Eleonora aufsuchte, im Saalhof eine Predigt und einen Tag später ein spezifisch

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Spener druckte zehn seiner Briefe von 1672-1674 unter dem Titel Schreiben an eine adelige Jungfer (Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle 1701) ab, die auf 14 (nicht erhaltene) Briefe von Merlaus antworteten. Speners Briefe wollen von Merlaus Glauben stärken und sie in ihrem frommen Leben ermutigen; Neudruck in: Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666-1686, hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Udo Sträter u. Markus Matthias. Bd. 1. Tübingen 1992. Vgl. Gottfried Arnold: Das Leben der Gläubigen. Halle 1701, S. 1121-1132 und Johann Heinrich Reitz: Historie der Wiedergebohrenen (1698-1701), hg. v. Hans-Jürgen Schräder. Bd. 3. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Barock 29), S. 112-123 [1717].

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quäkerisches „silent meeting" hielt. Penn notierte am 21. August 1677 in sein Reisetagebuch: Of these Persons there were two women, one a virgin, the other a widow, both of noble birth; who had a deep sense of that power and presence of god, that accompanyed our Testimony: & their hearts yearned strongly towards us. The virgin giving us a particular Invitation to her house the next morning: where we had the most blessed opportunity of the three.7

Penn beschreibt die Erweckung eines jungen Theologiestudenten und eines Doktors durch seine Predigt und zitiert die Worte Johanna Eleonoras: Sayd the young Virgin, „Our quarters are free for you, let all come that will, & lift up your voices without fear: for (sayd she) it will never be well with us, till persecution come, & some of us be lodged in the Stadthouse", that is, „the prison".8

Penns Bericht unterstreicht die herausragende Rolle Johanna Eleonoras unter den Saalhofpietisten, ihre religiöse Begeisterung fur den Quietisten („their hearts yearned strongly toward us") und ihre anstehenden Konflikte mit der Obrigkeit. Diese Zusammenkünfte wurden vom Rat wie von anderen Theologen als sektiererische, gegen die Obrigkeit gewandte Vereinigungen beargwöhnt. Im Winter 1676/77 fand eine Untersuchung durch den Frankfurter Stadtmagistrat statt, die dem Gerücht nachging, daß eine Freundin Speners in ihrem Haus verbotene Zusammenkünfte abhalte und dabei predige; 1677 wurde Johanna Eleonora die Ausweisung aus der Stadt in Aussicht gestellt, worauf sie eine selbst verfaßte, geharnischte Supplikation durch ihren Anwalt Schütz einreichen ließ.9 1680 willigte Johanna Eleonora von Merlau, damals bereits 36 Jahre alt, in die Ehe mit dem mit Spener befreundeten Theologen Johann Wilhelm Petersen (1649-1727) 1 0 ein, nachdem ihr Vater schließlich sein Einverständnis zu der nicht standesgemäßen Ehe gegeben hatte. Petersen hatte 1678 das Hofpredigeramt in Eutin und die damit verbundene Superintendentur über das protestantische Fürstbistum Lübeck erhalten.11 Spener traute das Paar, das nach einer län7

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The Papers of William Penn (1644-1679), hg. v. Mary Maples Dunn u. Richard S. Dunn. Bd. 1. Philadelphia 1981, S. 447^148. Ebd., S. 448. Vgl. Matthias: Petersen, S. 90, 93. Petersen wurde in Osnabrück geboren, wuchs in Lübeck auf, studierte in Gießen und Rostock, und erhielt 1672 ein Stipendium des Lübecker Rates zur Habilitierung an der philosophischen Fakultät in Gießen. Er hielt dort Vorlesungen über Naturrecht und Rhetorik und veröffentlichte 1675 im Streit zwischen Marburger und Gießener Theologen zwei polemische Abhandlungen über die reformierte Prädestinationslehre. Nach dem Frankfurter Aufenthalt 1775, bei dem er sich mit Spener anfreundete, ging Petersen auf Wunsch seines Vaters nach Lübeck zurück, um dort durch dessen Beziehungen Geistlicher zu werden, was zunächst durch den Einspruch von zwei katholischen Lübecker Domherren (Petersen hatte in einem Gelegenheitsgedicht die Keuschheit der katholischen Priester angegriffen) vereitelt wurde. 1677 erhielt er eine Professur in Rostock, bald darauf eine Predigerstelle an der Aegidienkirche in Hannover, 1678 das Amt des Superintendenten des Bistums Lübeck und Hofpredigers in Eutin. Spener publizierte seine Hochzeitspredigt, die den Spruch „Das Geheimnis ist groß, ich sage aber von Christo und der Gemeinde" theologisch erläutert, jedoch keine biographischen Details oder zeitgenössischen Anspielungen enthält. Vgl. Philipp Jakob Spener: Bey Gelegenheit der Ehelichen

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geren Reise über Holland nach Eutin übersiedelte. Aus der Ehe ging 1782 ein Sohn hervor, der das Erwachsenenalter erreichte. Johanna Eleonora führte mit Johann Wilhelm eine ,Streiterehe' für den Pietismus, publizierte ab 1689, oft gleichzeitig mit ihm, 10 religiöse Schriften,12 davon 7 unter ihrem eigenen Namen und drei anonym. Darunter sind Erbauungsbücher wie die oben erwähnten Gespräche des Hertzens mit Gott (Ploen 1689), die zum rechten Glauben und individueller Frömmigkeit anleiten sollen, Johann Wilhelms Auslegungen der Offenbarungen des Johannes, Darstellungen des Chiliasmus, die große von beiden 1685 während ihrer Eutiner Zeit gleichzeitig gemachte Entdeckung der Zukunft des tausendjährigen Reiches. Besonders der Prachtdruck Anleitung zu gründlicher Verständnüß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi (Frankfurt und Leipzig 1696) mit emblematischem Frontispiz, großer Tabelle und seinen über 500 Quartseiten scheint aufmerksame Leserinnen im Adel gefunden zu haben.13 Als Vertreter des Chiliasmus wurden beide Petersens von der lutherischen Orthodoxie bekämpft, die den Chiliasmus als Rebellion gegen die gute alte Ordnung verurteilte. 1688 zogen die Petersens nach Lüneburg, als Johann Wilhelm vom Rat der Stadt zum Superintendenten gewählt worden war. Bald geriet Petersen wegen seiner unorthodoxen theologischen Meinungen mit jenem in Streit und wurde wegen seiner Unterstützung der Visionärin Rosamunde Juliane von der Asseburg 1690 seines Amtes enthoben. Ab 1692 lebten die Petersens auf dem Gut Niederdodeleben in der Nähe von Magdeburg unter dem Schutz des Kurfürsten von Brandenburg, den der Berliner Kammerpräsident Bodo von Knyphausen zusammen mit einer Pension und der Freiheit, ihre religiösen Meinungen zu publizieren, vermittelt hatte. Johanna Eleonora begleitete ihren Mann zumeist auf seinen Reisen, u. a. nach Berlin, Stuttgart, Tübingen, Frankflirt und Nürnberg, wo beide 1705 in die Pegnitzschäfer - Johanna Eleonora unter dem Namen ,Phoebe'- aufgenommen wurden,14 nach Schlesien (1708) und nach Weida/Sachsen (1718), wo Johann Wilhelm den katholisch geworde-

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Ttauung [...] Heim Johann Wilhelm Petersen [...] und [...] Johanna Eleonora von und zu Merlau [...] So geschehen zu Frankfurt am Mayn/ den 7. September 1680. Frankfurt a. M.: David Zunner, 1680. Vgl. meine Bibliographie in: Pietismus und Autobiographie. Das .Leben' der Johanna Eleonora Petersen (1644-1724), in: „Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig". Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff, hg. v. James Hardin. Bern 1992, S. 930936. Eine erweiterte Fassung des Schriftenverzeichnisses erscheint in Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Johanna Eleonora war wahrscheinlich auch an der Abfassung der Schriften Johann Wilhelm Petersens beteiligt, dessen Publikationsliste, die er seiner Autobiographie angefügt hat, 1719 (in der 2. Ausgabe) 67 gedruckte und 101 ungedruckte Werke (!) enthält. Wo und wie die beiden eventuell kollaboriert haben, darüber geben die beiden Autobiographien keinen Aufschluß. Ein Exemplar findet sich in einer Reihe von (ehemaligen) Adelsbibliotheken; das Wolfenbütteler Exemplar hat Exlibri und Lesespuren von Elisabeth Sophia Maria, der verwitweten Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Die Anleitung erschien nochmals 1706 (im Oktavformat) und 1717 (gekürzt). Fast alle 10 geistlichen Werke Johanna Eleonoras wurden mehrfach aufgelegt. Johann Herdegen: Historische Nachricht. Nürnberg 1744, S. 590ff. Johann Wilhelm wurde im Mai 1705, Johanna Eleonora erst auf Betreiben ihres Mannes gegen Ende 1705 aufgenommen; freundliche Auskunft von Irmgard Scheitler.

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nen Herzog von Sachsen-Zeitz zum lutherischen Glauben zurückbekehren konnte. Nach Streitigkeiten mit den lokalen Pfarrern zogen die Petersens 1708 auf das Gut Thymer bei Zerbst in der Provinz Magdeburg-Halberstadt, wo Johanna Eleonora 1724 starb. Der Funktionsverlust des alten Landadels zeigt sich bei Johanna Eleonora von Merlau; durch die Kriege und die Konzentration auf die großen Höfe war die Familie verarmt und ohne festen Familienbesitz. Johanna Eleonora konnte ohne standesgemäße Mitgift nicht repräsentieren, keine standesgemäße Heirat finden und war auf den Hofdienst (eine untergeordnete, arbeitsreiche Position für junge oder unversorgte, ältere Adelige) angewiesen. Sie konnte, dank ihres Namens und ihrer (wenn auch bescheidenen) finanziellen Ressourcen, sich in der städtischen Gesellschaft selbständig machen und mit Hilfe der neuen Frömmigkeitsbewegung, deren Geistliche besonders an adeligen Frauen interessiert waren, die neuen religiösen Formen des Miteinanders erproben und ein neues Leben aufbauen.

2. Zur inneren Biographie: Religiöse Erbauung und Autorschaft In ihrer Autobiographie Eine kürzte Erzehlung / Wie mich die leitende Hand GOttes bißher gefiihret / und was sie bey meiner Seelen gethan hatis gibt Johanna Eleonora eine Rechtfertigung ihres religiösen Lebens, ihres inneren Wandels von den Äußerlichkeiten des Hoflebens, das sie kritisiert und ablehnt, zum gottgewollten, frommen Leben. Sie stellt ihre religiöse Entwicklung in einer Kette von Begebenheiten dar und beginnt ganz gezielt mit ihrer frühesten Kindheitserinnerung an ein Kriegserlebnis: Sie berichtet davon, wie in ihrem vierten Lebensjahr (im Sommer 1648) die Mutter einmal „ohne Magd" mit ihren drei Kindern zu Fuß nach Frankfurt flüchtete, vor dem Tor der Stadt Gott für die Errettung aus Kriegsgefahr dankte und sie selbst „mit brünstiger Liebe" (Petersen: Leben, S. 8) das Dankgebet sprach. Eine zweite Begebenheit geschah, als sie mit zehn Jahren durch ihre klugen, von Gott ihr eingegebenen Antworten erreichte, am Religionsunterricht der älteren Schwester teilnehmen zu können - ihre einzige

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So lautet die Überschrift der Autobiographie der Johanna Eleonora Petersen, die sie selbst zunächst 1689 ihrem ersten Erbauungsbuch Gespräche des Hertzens mit GOTT mf S. 235295 angefugt hat. 1718 hat sie eine um 30 Seiten erweiterte Version in Druck gegeben: Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen / Gebohrnen von und zu Merlau, Hrn. D. Jo. Wilh. Petersen Eheliebsten; Von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet, und vieler erbaulicher Merckwürdigkeiten wegen zum Druck übergeben, daher es als ein Zweyter Theil Zu Ihres Ehe=Herrn Lebens=Beschreibung beygefüget werden kann. Auf Kosten guter Freunde, 1718. Eine zweite Auflage erschien 1719. Sie hat ihre Autobiographie bescheiden jeweils im Anhang an die ihres Mannes Johann Wilhelm veröffentlicht, dessen Autobiographie jedoch mit 376 Druckseiten etwa funfinal so lang ist wie Johanna Eleonores und nur wenige Male, aber immer herzlich und zustimmend seine Ehefrau erwähnt. - Johanna Eleonoras frühe, kurze Version von 1689 hat keine Paragraphen-Unterteilung und ist fast textgleich mit der späteren (ab und an lautet ein Füllwort anders, ohne jedoch den Sinn zu verändern). - Alle Zitate aus der Ausgabe von 1718. - Ein Neudruck ist in Vorbereitung von Prisca Gugliemetti für die Reihe: Kleine Texte des Pietismus (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt).

Erbauung und Autorschaft

bei Johanna Eleonora

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formelle Unterweisung und drittens konnte sie die „Tück" des Teufels, als eine Verwandte sie verleumdete, durch ihre „Devotion" g e g e n den „gesegneten Kelch, welcher die Gemeinschaft Christi ist" (Petersen: Leben, S. 13), besiegen. Der eigentliche Durchbruch kam auf einer Schiffsreise, w o sie v o n einem Sturm, ihrem Gebet, der Todesfurcht aller Mitreisenden und der glücklichen Errettung erzählt und Sturm und Errettung gleichnishaft auf ihre persönliche religiöse Stärkung w i e auf die pietistische Gemeinde bezieht: „Ist auch manche S e e l e in Gott gestärket worden" (Petersen: Leben, S. 37). 1 6 Der Aufbau der inneren Kraft gegen die äußerlichen Kalamitäten ist wichtig. Johanna Eleonora stattet j e d e s äußerliche Ereignis mit einer Sinngebung zur göttlichen Fügung aus, w i e sie ζ. B. die nach einer Hofintrige aufgekündigte Verlobung als den Beginn einer inneren Freiheit zu religiöser Praxis und Frömmigkeit versteht. So schreibt sie: Ich aber kehrete mich an nichts mehr, sondern erkennete, daß durch solche Gelegenheit, GOtt meinem streitenden Gemüthe Freyheit gegeben, da ich immer sorgete, ich möchte mich an ihn [sie] irren, oder möchte dieses oder jenes nicht wahr seyn; Also wurde ich der Last loß, und war unterdessen so gestärckt, daß andere Heyrathen nicht mehr bey mir statt funden, sondern läge mir immer in Sinn, daß unter Edelleuten so grosser Mißbrauch wäre, so dem Christenthum gantz und gar zuwieder. (Petersen: Leben, S. 23) D i e mißglückte Verlobung und das weitere Fehlschlagen aller Heiratspläne werden mit H o f - und Adelskritik verbunden und dann so zum Willen Gottes erklärt: „Es waren nur lauter heilsame Prüfungen, meiner Seele in die Gelassenheit Gottes einzukehren" (Petersen: Leben, S. 25). D i e s e Prüfungen stärken den A u f bau ihrer Frömmigkeit und eines christlichen Lebenswandels fern v o m „Mißbrauch" der „Edelleute". Ihre späte Ehe (sie war 1680 immerhin 3 6 Jahre alt) mit einem Bürgerlichen, also „außer Stande", verteidigt Johanna Eleonora unter Berufung auf ihren Vater und auf Gottes Willen: Aber mein Sei. Vater anwortet ihn [sie; gemeint ist der Schwager, ein Herr von Darfelt, Hofmeister am Hanauischen Hof] sehr Christlich, daß es nicht fein wäre, daß wir in der Evangelischen Religion die Geistlichen so geringe achteten, da die in der Päbstischen falschen Kirchen ihre Geistliche so hoch hielten, imgleichen, so schickete sich seine Tochter 16

Das Fehlen konkreter Informationen und Namen läßt sich vielleicht mit der sektiererischen Zirkeln eigenen hermetischen Abkapselung nach „außen" hin und einer gewissen elitären Haltung erklären. Die „Saalhofpietisten" nahmen unter der Führung der Merlau und Schütz nach dem Vorbild der labadistischen Gemeinschaft „immer deutlicher die Form eines geschlossenen Personenkreises" an (Wallmann, in: Spener, Briefe, S. 298). Konkrete Informationen über diese Gruppe empfand Johanna Eleonora bei der Abfassung 1689 wohl als Interna, die einer breiten Öffentlichkeit, die sektiererischen Gruppen vielfach ablehnend gegenüberstand, nicht mitgeteilt werden sollten. Die Ereignisse, die sie breiter ausführt, sind die Abberufung vom Hof, dessen erneutes Angebot einer Hofineisterin-Stelle, die Aufnahme ihrer Nichte bei sich, Petersens Heiratsantrag und die Hochzeitsfeier. Es sind „äußerliche", gesellschaftliche Ereignisse, die ostentativ ihre soziale Rolle und Pflichterfüllung dokumentieren sowie der breiten Öffentlichkeit gegenüber ihren guten Ruf verteidigen oder etablieren sollen; sie richten sich gegen den „Lästei=Teufel, [der] seine Tück nicht lassen konnte" (Wallmann, in: Spener, Briefe, S. 40), gegen eine ihr feindliche, verleumderische Öffentlichkeit.

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Barbara Becker-Cantarino vor keinen Weltmann, sie heyrathete nicht aus Leichtsinnigkeit aus ihrem Stande, das wäre jedermann bekannt, GOtt hätte mich zu solchen Stande beruffen. Damit musten sie stille seyn und mein seliger Vater gab das Ja von sich (Petersen: Leben, S. 39-40).

Die Verteidigung der „Heirat aus dem Stande" nimmt einen breiten Raum in der Autobiographie ein. Das läßt neben der bewußten Abgrenzung gegen die offene Ablehnung und Kritik durch ihre Standesgenossen auch darauf schließen, daß sie nun andere, neue Werte aufbietet, um einerseits die engen Standesgrenzen zu umgehen und andererseits nicht gegen das Gebot des Vaters zu verstoßen. Neben der Verteidigung der Mesalliance in der ausführlichen Darstellung von Heiratsantrag und Begründung der Heirat steht der Glaube an den göttlichen Willen und an menschliche Werte, die in Johanna Eleonoras Autobiographie zunehmend wichtig werden; sie gibt die Heirat als ein Bündnis gleichgesinnter und gleichgläubiger Menschen aus. Immerhin ist der Bräutigam ein angesehener, gut bestallter Theologe, dessen geistliche Anschauungen sie aus seiner Teilnahme an dem Saalhof-Kreis kennt. Allerdings verlegt Johanna Eleonora die Entscheidung dahin, woher auch der Anstoß zu diesem Schritt kam: in die Instanzen der patriarchalen Gesellschaft, auf Gott und den eigenen Vater als Träger des göttlichen Willen; sie war „dabey so still als obs mir nichts angienge" (Petersen: Leben, S. 39). Dieser Qietismus ist eben keine Selbstaufgabe, sondern eine Stärkung, eine erbauliche Übung zur christlichen Lebenshaltung. Johanna Eleonoras Autobiographie stellt (in dem erst 1718 veröffentlichen Anhang) 17 deutlich heraus, daß sie von ihrem 18. Lebensjahr an Träume und Visionen hatte, daß ihr schon „im ledigen Stande" Geheimnisse aufgeschlossen wurden, wie die „Erlösung aus der Hölle", die „künfftige Bekehrung der Juden und Heiden" (Petersen: Leben, S. 49), die „Rechtfertigung aus den Schriften des Apostels Pauli durch Erweckung und Gelegenheit" (Petersen: Leben, S. 51). Und in ihrem „Ehestande" kamen dazu das Verständnis der Apokalypse, das sie auf die Hugenottenverfolgungen im Jahr 1685 (Aufhebung, des Ediktes von Nantes) hin deutete, dann das Geheimnis „der Wiederbringung aller Dinge" (Petersen: Leben, S. 56ff.) und die Erkenntnis vom „himmlischen Gott= Menschen, dem Erstgebohmen aller Creatur" (Petersen: Leben, S. 61ff.). 18 Johanna Eleonora Petersen war eine Pietistin in der Nachfolge des mystischen Spiritualismus. Sie sah sich als erweckte, visionäre Frau, als „Thäterin des Wortes". Sie beendet ihre Autobiographie mit Visionen und Bildern der an

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Petersen: Leben, S. 47 bis Ende; diesen Anhang mit 20 Seiten Visionen hat sie erst in der späteren Version und im Rückblick auf ihr religiöses Leben angefügt, als sie etwa 74 Jahre alt war. Zur theologischen Interpretation vgl. Walter Nordmann: Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. Geschichtliche Grundlagen der Eschatologie bei dem pietistischen Ehepaar Petersen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 50 (1931), S. 145-185; ders.: Die theologische Gedankenwelt in der Eschatologie des pietistischen Ehepaares Petersen. Diss. Berlin. Teildruck: Naumburg a. d. Saale 1929 und Kurt Lüthi: Die Erörterung der Allversöhnungslehre durch das pietistische Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, in: Theologische Zeitschrift 12 (1956), S. 362-377. - Die wissenschaftliche Theologie hat sich zumeist mit den Thesen des „polemischen Außenseiters" Petersen beschäftigt, die Frau als „die geistig bedeutendere Persönlichkeit" (Lüthi) bezeichnet, jedoch ihr Werk unter seinem Werk, das Johanna Eleonora so nachdrücklich als „gleichzeitig" darstellt, subsumiert.

Erbauung und Autorschaft bei Johanna Eleonora Petersen

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Jacob Böhme und Jane Lead erinnernden „himmlischen Sophia" und ihrer eigenen Rolle als der einer Nachtigall: Als ich aber so zu GOTT seuffzete, fiel mirs wieder ins Gedächtniß, daß ich eine Nachtigal im Bilde gesehen, und aus dem Bilde erlernet, daß ich meine Stimme erheben müste, wie eine Nachtigal; da ich nun anfieng und meine Stimme immer stärcker und stärcker erhub, da gieng die Thür auf, und mir wurde sehr wohl, worauf ich gleich aus dem Schlaff erwachete (Petersen: Leben, S. 67).

Damit ist sie dem Ruf der inneren Stimme gefolgt, die alles Äußere verdrängt hat; es ist weder ihre individuelle Leistung noch ihre eigene Stimme im (modernen) Sinne einer selbständigen Person, sondern ein Bild religiöser Erweckung und frommer Lebensdeutung. So haben denn auch in den seit 1689 neu dazu gekommenen Abschnitten der Autobiographie konkrete Ereignisse aus der sozialen Umwelt und Gesellschaft keinen Platz mehr; es findet sich keine Bemerkung oder Reflexion über ihre Ehe, ihre Kinder oder über andere Pietisten, wie etwa die aufregende Geschichte mit der Asseburg; es fehlt jeglicher Hinweis auf die Ausweisimg aus Lüneburg, auf das Landgut bei Magdeburg oder die Reisen. Diese Äußerlichkeiten sind im späteren Teil vom Lebens =Lauff nicht mehr wichtig, sondern erst die „erbaulichen Merkwürdigkeiten", so das Titelblatt von 1718,19 machen ihre Geschichte druckwürdig. Das Erlebnis von religiöser Erbauung und ihre Autorschaft von religiösen Texten haben die äußere Welt völlig verdrängt, sind zum Zentrum von Johanna Eleonoras innerer, religiöser Autobiographie geworden.

3. Erbauung und Autorschaft: Gespräche des Hertzens mit Gott (1689) Johanna Eleonora Petersens eigene Erbauung (eine Art Quietismus in persönlichen Lebensentscheidungen) geht Hand in Hand mit ihrer Autorschaft, einem missionarischen Eifer zu bekennen und zu bessern (in ihren publizierten Schriften). Sie betont die Gleichzeitigkeit der von Gott ihr und ihrem Mann eingegebenen Erleuchtungen (Lesarten bestimmter Bibelstellen). So berichtet sie in ihrer Autobiographie, wie sie 1685 ihrem Mann ihre Aufzeichnungen gezeigt habe: Er nahm den Bogen in die Hand zu lesen, und entsetzte sich darüber, reichete mir seinen geschriebenen Bogen auch so dar, so noch naß, und eben derselben Stunde war geschrieben worden, darinnen alle die Fundamenta zu finden, so in meinem Bogen stunden, und sprach zu mir: Der Herr hats dir so wahrhafftig aufgeschlossen, als er mir gethan (Petersen: Leben, S. 55).

Dieses Erlebnis - nicht als individuelles, sondern als göttliche Eingebung - und ihre visionäre Deutung wird einer breiteren Öffentlichkeit durch die Publikation offeriert. Das erzählerische Medium sind Gespräche, Bilder und Visionen, die ausgewählte „dunkle" Bibelstellen erhellen. Der wissenschaftlich-theologische Ballast der Gelehrsamkeit, der Johann Wilhelms Publikationen oft breit aufschwellen läßt, behindert Johanna Eleonora nicht; weitschweifige, theologische 19

Vgl. das Titelblatt v. Petersen: Leben.

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Gelehrsamkeit mußte fehlen, weil sie als Frau nicht in dieser Tradition aufgewachsen und darin nicht denken bzw. argumentieren durfte oder auch wollte, da Frauen ausdrücklich dafür die Befugnis abgesprochen und es ihnen verboten war. (Das bedeutet jedoch nicht, daß sie nicht in der protestantischen religiösen Literatur, besonders auch in Luthers Schriften sehr belesen war.)20 An die Stelle gelehrter Dogmatik und rationaler Theologie tritt eine persönliche, erbauliche, in biblischen Bildern das Leben deutende Frömmigkeit, eine tiefe, selbst erfahrene und anderen mitgeteilte Frömmigkeit, ein sicheres Gottvertrauen und -verlangen. Es ist die Berufung auf das Herz als Sitz der gefühlten Erkenntnis, einer Art der religiösen Erbauung, die für Eleonoras späteres Leben und ihre Schriften bestimmend wurde. Johanna Eleonora Petersens erstes Werk Gespräche des Herzens mit Gott (1689)21 trägt die literarischen Züge eines Erbauungsbuches, denn in den Gesprächen wird eine direkte Beziehung zu Gott gesucht ohne die Vermittlung durch einen kirchlichen Amtsträger.22 Es enthält eine Sammlung von Meditationen über jeweils einen, den gebetsartigen Passagen von zwei bis drei Seiten vorangestellten Bibelvers, der zumeist aus den Bußpsalmen und dem Hohen Lied stammt. Der erste Teil enthält 50 „Gespräche", deren Bibelverse auch in der Anordnung (mit Ausnahme der letzten vier) einer Vorlage entnommen sind, Hermann Hugos (1588-1639) immens populärem Emblembuch Pia DesideriaP Der zweite Teil enthält 24 „Gespräche", die mit dem emblematischen Bilderzyklus aus der Tradition des Cor Jesu Amanti Sacrum von Anton Wierix in Verbindung stehen, den sie wahrscheinlich über eine erweiterte Bearbeitung durch Christian Hoburgs Lebendige Herzens-Theologie (Amsterdam 1661) benutzt hat. Jedenfalls erschien die erste Ausgabe der Herzens-Gespräche (in Plön bei Ripenau) noch ohne Bilder, die zweite Ausgabe von 1695 und die dritte von 1715 (beide in Frankfurt und Leipzig bei Johann Heinichen) mit zahlreichen Kupferstichen (51 in Teil I, 26 in Teil II), die als Nachstiche der Embleme von Hugo und Wierix leicht erkenntlich sind.

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Petersens Bibliothek war umfangreich, wie der Katalog ausweist: Bibliotheca Petersenia (Berlin 1731), die nach Johann Wilhelms Tod bei Küster, Berlin Friedrichsstraße, versteigert wurde. Darunter dürften sich auch Johanna Eleonoras Bücher befunden haben, und sie hat sicher auch von der Bibliothek ihres Mannes Gebrauch gemacht. SieheAnm. 1. Vgl. hierzu den wichtigen Artikel von Markus Matthias: .Enthusiastische' Hermeneutik des Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens Gespräche des Hertzens mit Gott (1689), in: Pietismus und Neuzeit 17 (1991), S. 36-61. Matthias erläutert besonders die theologischen und religionsgeschichtlichen Aspekte. Das Emblembuch erschien 1624 und erreichte über 50 lateinische Ausgaben bis 1757. 16 deutsche Übersetzungen, einige mit mehreren Auflagen, wurden ermittelt; vgl. Michael Schilling: „Der rechte deutsche Hugo." Deutschsprachige Übersetzungen der „Pia Desideria" Hermann Hugos SJ, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 283-300. Petersen könnte eventuell die Übersetzung von Christian Hoburg: EMBLEMATA SACRA. Das ist / Göttliche Andachten / Voller Flammender Begierden / einer Bußfertigen / geheiligten und libreichen Seelen... (Amsterdam / Frankfurt 1661) benutzt haben. Sie dürfte das beliebte Erbauungsbuch selbst besessen oder in der Bibliothek ihres Mannes, der als Professor in Rostock 1677 über die Pia Desideria Vorlesungen gehalten hatte, gefunden haben.

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Statt der Dreigliederung der Embleme in Inscriptio, Bild und Subscriptio (zumeist Verse), betont Johanna Eleonora das Bibelwort, von dem sie ausgeht. Das Bibelzitat wird vorangestellt und mit einem gebetsartigen Kommentar von jeweils 2 bis 3 Seiten Prosa erweitert (erst in der Ausgabe von 1694 sind die Kupferstiche - nicht immer ganz passend - eingefugt, die wohl 1689 zum Druck noch nicht fertig waren). Das Bibelzitat (mit Stellenangabe) wird wie eine Inscriptio im Großdruck hervorgehoben, dann in direkter Anrede oder Frage an Gott wiederholt, erweitert, umschrieben, zu erklären versucht und zum menschlichen Leben in Beziehung gesetzt. Es sind gesprochene Meditationen des Ich, der Seele, mit Gott, in individueller, direkter Beziehung, die jedoch auch für andere Seelen, für ,uns' Menschen, spricht. Dabei werden alle Gefühlsregister von höchster Verzückung bis zu tiefstem Jammer gezogen. In einem Begleitbrief zum Manuskript dieses Werkes, den Petersen 1686 an Kortholt wohl mit der Bitte um eine Vorrede schickte, schrieb sie: Ich bin fast 2. Jahr her von einem guten freund dazu angetrieben worden über die Kupffer des bekannten Hermanni Hugonis einige Hertzensgespräche zu machen, wofür ich mich lange gewehret, weil mich gedäucht, keine Gnade dazu zu haben, als ich mich aber vergangenen Herbst dazu bereden laßen, in betrachtung daß bey meinen vielen haußgeschäfften, noch einige Erquickung in Gott mir machen konte, habe ich nichts anders schreiben können noch mögen, als das was ich in meiner Praxi erfahren habe und wie solche Schrifftörter mir sind empfmdl. worden. 24

Neben den topischen Hinweisen auf ,gute Freunde', die zum Schreiben antreiben, auf angeblich fehlende ,Gnade' bzw. Gabe zum Schreiben und auf die für Frauen obligaten Hausgeschäfte enthält diese Briefstelle Johanna Eleonoras Konzept von Autorschaft: die Berufung auf die eigene Erfahrung und die .Empfindung' (auf eigenes Erfühlen gegründete Auslegung) von Bibelstellen. Diese von dem modernen Theologen (Matthias) als .Erfahrungstheologie', als ,enthusiastische Hermeneutik' bezeichnete Art der Autorschaft steht jenseits von Dogmatik und theologischer Gelehrsamkeit, eine Haltung, die Johanna Eleonora Petersen auch in ihrer Autobiographie immer wieder (indirekt) betont hat. Auf die damals umstrittene Autorschaft einer Frau geht dann die Vorrede von Kortholt ein. Er wirft dort die Frage auf, ob „unter dem Männlichen oder Weibl. Geschlecht es Gottsfürchtigere Personen gebe?",25 wie ein französischer Gelehrter und der niederländische Theologe Gisbert Voetius behauptet haben; in den Niederlanden gebe es mehr Frauen bei der Predigt wie auch bei den Privat-Übungen, Jesus sei von Frauen beweint worden; der Joachimsthaler Pfarrer habe in seiner Predigt über den 130. Psalm ausgeführt, wie fromme Frauen ihn getröstet hatten und habe ein „Ehren-Gedächtnniß heiliger Frauen und Jungfrauen aus der Bibel" zusammengestellt.26 Eine Frau sei Jesus nachgefolgt und habe ihm Handreichungen getan, Frauen hätten oft Männer bekehrt, und den ersten Christen sei vorgeworfen worden, daß sie meistens nur Frauen

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Zitiert nach Matthias: Hermeneutik, S. 41. Petersen: Gespräche, S.):( lr. Petersen: Gespräche, S.):(2r.

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bekehrten. Was sollen Männer dazu sagen? Sie werden aufgefordert, es den Frauen gleich zu tun. Er habe durch den Tod einer frommen Matrone veranlaßt in den sog. weiblichen Tugend-Spiegeln Beispiele vorgestellt. Ein noch größeres Exemplum sei Johanna Eleonora für die Frauen, was auch die Widmungen (des ersten Teiles) an Christine von Schleswig Holstein,27 der Gemahlin von Petersens Landesherrn, und (des zweiten Teiles) an die als Pietistin bekannte Benigna von Solms-Laubach28 unterstreichen. Kortholt legitimiert Petersens Autorschaft mit der Einreihung in die Tradition frommer Frauen, deren erbauliche Frömmigkeit jenseits theologischer Gelehrtheit liege. Zum Thema Autorschaft nahm Johanna Eleonora später mehrmals wieder Stellung, ein Zeichen, daß sie sich vor anderen verteidigen mußte und ihre eigene Position erläutern wollte. In ihrer Schrift Glaubens-Gespräche mit GOTT (Frankfurt und Leipzig 1691)29 widmet sie in der „Zuschrift" das Buch ihrem Mann, weil er mit ihr „über demselben theuren Glauben gekämpfet" (Petersen: Leben, S. *2 v) habe. Sie betont, daß er nicht der Anstifter ihrer Publikation sei, sondern vergeblich versucht habe, sie davon abzuhalten, aber die religiöse Veröffentlichung erfolge auf göttliche Eingebung hin; trotz Gerede und möglicher Verfolgungen will sie publizieren: Du [Johann Wilhelm] würdest mir auch nicht zugelassen haben / wenn ich dich nicht in der Wahrheit versichert hätte / daß es nicht durch eignes Gutdüncken / sondern durch solchen Trieb und Überzeugung meines Hertzens / in öffentlichen Druck von mir gegeben würde / den ich wahrhafftig vor Göttlich erkennet habe; Deswegen ich auch einen solchen Muth dabey gehabt / daß ich / wo es möglich wäre / das gesegnete tausend-jährige Reich [...] mit einer Posaune in der gantzen Welt auszublasen gewünschet habe (Petersen: Glaubens-Gespräche, S. *4 v).

Natürlich wurde ihre Autorschaft als Frau vehement bestritten, u. a. von dem Danziger Prediger Friedrich Christian Bücher in dem Pamphlet Treuhertzige Warnung für den Auffrührerischen Quacker-Geist (Danzig: Simon Reiniger, 1700)30 und von Johann Heinrich Feustking, Gynaeceum Haeretico Fanaticum [...] (Frankfurt und Leipzig: Gottfried Zimmermann, 1704), der in einem langen Kapitel ihre Rechtgläubigkeit vom lutherischen Standpunkt aus angriff und ihre weibische Schwachheit, Halsstarrigkeit, Eigensinn und den verderblichen Einfluß auf ihren Mann tadelte. 27

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Christine von Schleswig Holstein hatte sich als Gemahlin von Petersens Landesherrn bei Johanna Eleonoras Vater als Vermittlerin für die nicht standesgemäße Heirat eingesetzt. Johanna Eleonora hatte die als Pietistin bekannte Benigna von Solms-Laubach kennengelernt, als sie 10 Jahre von etwa 1659 bis 1669 in Wiesenburg (bei Zwickau in Sachsen) gedient hatte, nur eine halbe Meile von Wildenfels entfernt, wo Benigna ihre Hofhaltung gehabt hatte, ehe sie nach Laubach zog. Glaubens-Gespräche mit GOTT In Drey unterschiedliche Theile abgefasset / Also daß der I. Theil / Das Werck des Glaubens in der Krafft / Der Π. Theil / Das Zeugniß / die Macht und Herzlichkeit des Glaubens / Der ΠΙ. Theil / Das Ende des Glaubens / welches ist der Seelen Seligkeit / vorstelle / In dieser letzten Glaublosen Zeit zur Auffmunterung und Erweckung des Glaubens auffgesetzet von JOHANNA ELEONORA Petersen / Gebotene von und zu Merlau (Frankfurt und Leipzig: Michael Brodhagen, 1691). - Die vom 11. Juli 1691 datierte „Zuschrift" ist auch wieder in den späteren Ausgaben der Herzens-Gespräche von 1694 und 1715 mit abgedruckt. Exemplar in der UB Göttingen: Th. thet. I 812/47-21; vgl. hierzu Luft: Leben, S. 112-118.

Erbauung und Autorschaft bei Johanna Eleonora Petersen

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Johanna Eleonora fühlte sich jedoch als Stimme, als „Nachtigall" des Gotteswortes. Sie war fest überzeugt von der „Gabe", die sie „vom Herrn empfangen habe"; davon, daß „nach Austheilung der Gnade und des Geistes weder Mann noch Weib etwas gilt"; daß sie „bei aller Unterthänigkeit" die Gabe empfangen habe, „damit zu wuchern / und dieselbe zu seinen ehren und zu Nutz des Nechsten anzuwenden"; daß ihr Ehemann „es billich und gar gerne zugelassen /" habe; und dass sie sich nicht „mit Versäumung" ihres „weiblichen häußlichen Beruffs" dieser Sache anmaße, sondern daß sie die übrige Zeit, die ihr Gott gönne, „von den Zeugnissen [ihres] Gottes zu schreiben anwende; daran thue ich nicht unrecht".31 Johanna Eleonoras Insistenz auf ihre Autorschaft spricht von starkem Selbstbewußtsein; ihr missionarischer Eifer gründet sich in die feste Überzeugung, die rechte Erkenntnis und Lesart der Bibel zu haben, in den Glauben an die Liebe als Ordnungsmacht und an das Geheimnis des himmlischen Gottmenschen, Gedanken, die von chiliastischen Vorstellungen besserer Zeiten gespeist wurden.

4. Erbauung, Autorschaft und Frauen im Pietismus Erbauung, das mystisch-spirituelle Aufgehen in Gottes Wort, war ein Kennzeichen des Pietismus als Laienbewegung, die besonders auch Frauen als theologisch Ungebildete bzw. nicht Verbildete anzog. Die Erarbeitung und Bestätigung von lebenswichtiger Orientierung und die affektiven Dispositionen standen Frauen offen, wurden in den erbaulichen Übungen der Privatzusammenkünfte gefordert. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß Frauen qua Weiblichkeit eher emotional, gefühlvoll und fromm veranlagt waren (oder sind), sondern lediglich, daß sie nicht das logische, rhetorische, philologische und rationale Training auf der Lateinschule und Universität erhalten hatten und daß sie statt dessen die mit den Gefühlen assoziierten Denkformen eher und besser in religiösen Gesprächen nutzten. „Was von Hertzen kommet, das gehet zu Hertzen", stand in Petersens Vorrede. Kommunikation wurde wichtig, ging über die familiären Grenzen hinaus, in denen gerade Frauen eingegrenzt waren. Petersens Saalhofkreis zeigt die neue Öffnung über die Familiengrenzen hinaus, auch wenn die meisten Teilnehmer Frauen waren. Es waren neue Formen der Geselligkeit, der Verbindung mit anderen Frauen, einer, wenn auch auf Gleichgesinnte beschränkten Öffentlichkeit, die dann im 18. Jahrhundert weitere Kreise umfassen sollte. Die Erbauungsschriften zirkulierten in diesen Kreisen, vielfach auch als Handschriften oder Abschriften, wie denn Petersen in ihrer Autobiographie Schriften aus England und Korrespondenz erwähnt und sich ihr Abschiedsbrief an ihre Schwestern, der ihre Hinwendung zum religiösen Leben erklärt und verteidigt, auch in einer gedruckten, englischen Übersetzung erhalten hat.32

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Aus der „Vorrede", in: Petersen: Anleitung, S. b 4v und c lr. Joanna Eleonora de Merlau: The Nature and Necessity of the New Creature in Christ, Stated and Described According to Heart's Experience and True Practice. Übers, v. Francis Okely, A. B. Formerly of John's College Cambridge. London: Lewis, 2 1772. Die Überset-

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Petersens Lebensweg zeigt eine gewisse Selbstbestimmung (das ist nicht mit dem modernen Begriff der Emanzipation zu verwechseln), eine wichtige Rolle als selbständig publizierende Autorin und in ihrer partnerschaftlichen StreiterEhe für den Pietismus. (Allen schriftlichen Zeugnissen nach pochte Johann Wilhelm in Sachen Publikation nicht auf „seiner männlichen Autorität" und ließ zu, daß „die Wahrheit des HERRN auch von einem schwachen und geringen Werkzeug verkündiget" werde.)33 Johanna Eleonora bezeichnete sich als „Thäterin des Wortes", eine wichtige Wirkungsform der verarmten Adeligen, die jedoch an dem Beruf, bzw. der Berufung ihres Ehemannes, aktiv teilnahm. Auch ihr gesellschaftlicher Stand als Adelige - auf den Titelblättern ihrer Schriften erscheint immer „geborene von Merlau" - dürfte ihr Autorität verliehen haben; neben ihrem Namen hatte sie Kontakte zu Fürstenhäusern und sozialen Status von ihrer Tätigkeit im Hofdienst her. Von den adeligen Frauen neigten viele dem Pietismus zu, weil die neue Frömmigkeitsbewegung sinnvolle Beschäftigung und Orientierung, ein Lebensziel der Selbstvervollkommnung und auch eine Art utopische, neue Gemeinde versprach. Frauen im Pietismus betätigten sich als Zuhörerinnen, Gönnerinnen und Autorinnen. Johanna Eleonora, deren Autobiographie die erste gedruckte einer Frau in deutscher Sprache ist, gehört zu den einflußreichen pietistischen Autoren von Erbauungsschriften. Hier traten Frauen hervor wie ζ. B. die Patrizierin Anna Maria van Schurman (1607-1678) in den Niederlanden, die ihre religiöse Konversion zum Labadismus und ihre Abkehr von weltlicher Gelehrsamkeit in ihrer (lateinisch abgefaßten) Autobiographie Eukleria seu melioris partis election4 (Die Erwählung des besseren Teils, 1673) dargestellt hatte. Wie Antoinette Bourignons Le nouveau Ciel (1688) und die Schriften der Marie Bouvier de la Mothe-Gyon (1648-1717) wurden sie in deutschen Pietistenkreisen viel gelesen.35 Die 14 Erbauungsschriften der Engländerin Jane Lead (1623-1704) und ihr über dreißig Jahre sich hinziehendes, geistliches Tagebuch A Fountain of Gardens (London 1697-1701) erschienen schon ab 1694 alle auch in deutschen Übersetzungen der Philadelphischen Gemeinde und zirkulierten unter deutschen Pietisten. Von Jane Leads Schriften wurde auch Johanna Eleonora Petersen nach

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zung beruht auf einer Abschrift von 1741. Mehr dazu in meinem Aufsatz: Wilhelm und Johanna Petersen und England: Die Philadelphian Society, Jane Lead und die Böhmisten, in: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, hg. v. Markus Matthias u. Udo Sträter. Tübingen 2003. Petersen: Anleitung, S. c lr. Tractatus brevem religionis ac vitae eius delinationem exhibens. Altona: Cornelius van der Meulen, 1673. 206 pp. 8*. Ein zweiter Teil erschien 1685 erst nach dem Tod der Schurman: Α. M. ä Schurman. Eukleria seu melioris partis electio. Pars secunda, Historiam vitae ejus usque ad mortem persequens... Amsterdam: Jacob van de Velde, 1685. 206 pp. 8*. Eine holländische Übersetzung des ersten Teils erschien 1684, eine holl. Teilübersetzung des zweiten Teils erst 1754. - Vgl. Becker-Cantarino: ,Erwählung des besseren Theils': Zur Problematik von Selbstbild und Fremdbild in Anna Maria Schurmans Eukleria (1673), in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. v. Magdalene Heuser. Tübingen 1996, S. 24-48. Ihre Lebensbeschreibung wurde 1709 abgeschlossen und die Sammlung ihrer Schriften (in 45 Bänden), die noch Moritz und Jung-Stilling so beeinflußten, erschien erst 1712-1720.

Erbauung und Autorschaft

bei Johanna Eleonora

Petersen

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eigener Aussage in den 1690er Jahren angeregt und herausgefordert, ihre religiösen Erlebnisse niederzuschreiben und zu publizieren. 3 6 D i e s e ,Autorschaft' war ohne jegliche Ansprüche auf individuelle Originalität oder Genialität w i e die der Romantiker, aber ebenso unter Berufung auf göttliche Eingebung. D o c h war die Kultivierung v o n ,Erbauung', die v o n dem ,Wort' der Bibel ausging und in der literarischen Form der Erbauungsliteratur und erbaulichen Autobiographie ihren Niederschlag fand, ein wichtiger Schritt für diese Frauen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Arnold, Gottfried: Das Leben der Gläubigen. Halle 1701. Bücher, Friedrich Christian: Treuhertzige Warnung für den Auffrührerischen Quacker-Geist. Danzig: Simon Reiniger, 1700. Feustking, Johann Heinrich: Gynaeceum Haeretico Fanaticum [...]. Frankfurt und Leipzig: Gottfried Zimmermann, 1704. Herdegen, Johann: Historische Nachricht. Nürnberg 1744. Hoburg, Christian: EMBLEMATA SACRA. Das ist / Göttliche Andachten / Voller Flammender Begierden / einer Bußfertigen / geheiligten und libreichen Seelen... Amsterdam u. Frankfurt 1661. [Übers, v. Hermann Hugo SJ: Pia Desideria] - Lebendige Herzens-Theologie. Amsterdam 1661. Lead, Jane: The Revelation of Revelations Particularly as an Essay Toward the Unsealing, Opening and Discovering of the Seven Seals, the Seven Thunders, and the New Jerusalem State. London 1683. Merlau, Joanna Eleonora de: The Nature and Necessity of the New Creature in Christ, Stated and Described According to Heart's Experience and True Practice. Übers, v. Francis Okely, A. B. Formerly of John's College Cambridge. London: Lewis, 21772. [Penn, William:] The Papers of William Penn (1644-1679), hg. v. Mary Maples Dunn u. Richard S. Dunn. Bd. 1. Philadelphia 1981. Petersen, Johanna Eleonora: Gespräche des Hertzens mit GOTT. / Auffgesetzet Von Johanna Eleonora Petersen, Gebohme von und zu Merlau. PLOEN / verlegts Siegfried Ripenau. Gedruckt durch Tobias Schmidt. 1689. - Glaubens-Gespräche mit GOTT In Drey unterschiedliche Theile abgefasset / Also daß der I. Theil / Das Werck des Glaubens in der Krafft / Der II. Theil / Das Zeugniß / die Macht und Herzlichkeit des Glaubens / Der III. Theil / Das Ende des Glaubens / welches ist der Seelen Seligkeit / vorstelle / In dieser letzten Glaublosen Zeit zur Auffmunterung und Erweckung des Glaubens auffgesetzet von JOHANNA ELEONORA Petersen / Gebohrne von und zu Merlau. Frankfurt u. Leipzig: Michael Brodhagen, 1691. - Anleitung zu gründlicher Verständnüß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi. Frankfurt u. Leipzig 1696 (21706; 31717). - Das ewige Evangelium der allgemeinen Wiederbringung aller Creaturen. o. O. 1698. - Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen / Gebohrnen von und zu Merlau, Hrn. D. Jo. Wilh. Petersen Eheliebsten; Von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet, und vieler erbaulicher

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Vgl. ihre Schrift Das ewige Evangelium der allgemeinen Wiederbringung aller Creaturen [o. O., 1698], die sie unter dem Einfluß von Leads The Revelation of Revelations Particularly as an Essay Toward the Unsealing, Opening and Discovering of the Seven Seals, the Seven Thunders, and the New Jerusalem State (London 1683) schrieb, die die Petersens gemeinsam lasen.

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Barbara

Becker-Cantarino

Merckwürdigkeiten wegen zum Druck übergeben, daher es als ein Zweyter Theil Zu Ihres Ehe=Herrn Lebens=Beschreibung beygefüget werden kann. Auf Kosten guter Freunde, 1718 (21719) (Ein Neudruck ist in Vorbereitung von Prisca Gugliemetti für die Reihe: Kleine Texte des Pietismus [Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt]). Reitz, Johann Heinrich: Historie der Wiedergebohrenen (1698-1701), hg. v. Hans-Jürgen Schräder. Bd. 3. Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Barock 29). Schurman, Anna Maria van: Eukleria seu melioris partis electio. Die Erwählung des besseren Teils. Tractatus brevem religionis ac vitae eius delinationem exhibens. Altona: Cornelius van der Meulen, 1673. 206 pp. 8*. (Holländische Übersetzung 1684). - Eukleria seu melioris partis electio. Pars secunda, Historiam vitae ejus usque ad mortem persequens... Amsterdam: Jacob van de Velde, 1685. 206 pp. 8* (Holl. Teilübersetzung 1754). Spener, Philipp Jakob: Bey Gelegenheit der Ehelichen Trauung [...] Herrn Johann Wilhelm Petersen [...] und [...] Johanna Eleonora von und zu Merlau [...] So geschehen zu Frankfurt am Mayn / den 7. September 1680. Frankfurt a. M.: David Zunner, 1680. - Schreiben an eine adelige Jungfer. Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle 1701, Neudruck, in: ders.: Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666-1686, hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Udo Sträter u. Markus Matthias. Bd. 1. Tübingen 1992.

Sekundärliteratur Albrecht, Ruth: Johanna Eleonora Petersen als theologische Schriftstellerin. [Habil. Univ. Hamburg, 1999] Becker-Cantarino, Barbara: Pietismus und Autobiographie. Das .Leben' der Johanna Eleonora Petersen (1644-1724), in: „Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig". Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff, hg. v. James Hardin. Bern 1992, S. 930-936. ,Erwählung des besseren Theils': Zur Problematik von Selbstbild und Fremdbild in Anna Maria Schurmans Eukleria (1673), in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. v. Magdalene Heuser. Tübingen 1996, S. 24-48. - Wilhelm und Johanna Petersen und England: Die Philadelphiaη Society, Jane Lead und die Böhmisten, in: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, hg. v. Markus Matthias u. Udo Sträter. Tübingen (in Vorbereitung) Doerne, M.: Erbauung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. v. Kurt Galling u. a. Bd. 2. Tübingen 31958, Sp. 538-547. Luft, Stephan: Leben und Schreiben für den Pietismus. Der Kampf des pietistischen Ehepaares Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen gegen die lutherische Orthodoxie. Herzberg 1994. Lüthi, Kurt: Die Erörterung der Allversöhnungslehre durch das pietistische Ehepaar Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, in: Theologische Zeitschrift 12 (1956), S. 362-377. Matthias, Markus: .Enthusiastische' Hermeneutik des Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens Gespräche des Hertzens mit Gott (1689), in: Pietismus und Neuzeit 17 (1991), S. 36-61. - Johann Wilhelm Petersen und Johanna Eleonora. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 30). Nordmann, Walter: Die theologische Gedankenwelt in der Eschatologie des pietistischen Ehepaares Petersen. Diss. Berlin. Teildruck: Naumburg a. d. Saale 1929. - Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. Geschichtliche Grundlagen der Eschatologie bei dem pietistischen Ehepaar Petersen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 50 (1931), S. 145-185. Schilling, Michael: „Der rechte deutsche Hugo." Deutschsprachige Übersetzungen der „Pia Desideria" Hermann Hugos SJ, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 283-300.

Ralf Georg Bogner

Geistliches Totengedenken? Einige Thesen z u den mehr oder weniger erbaulichen Gebrauchsfunktionen frühneuzeitlicher Nachrufe*

I. D i e neuere Forschung zur frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur respektive z u erbaulichen Texten der frühen Neuzeit ist v o n einer e b e n s o eigenwilligen w i e sinnfälligen Ambivalenz geprägt gewesen. 1 A u f der einen Seite ist immer wieder - und z w a r mit v o l l e m Recht - betont worden, daß die Grenzen des Gebiets der Erbauungsliteratur präziser abgesteckt, j a durchaus auch enger g e z o g e n werden sollten. S o hat m a n beispielshalber gefordert, nur solche Texte als erbaulich z u qualifizieren, die in der zeitgenössischen Rezeptionssituation ganz spezifische, das heißt nicht bloß allgemein ,geistliche' Gebrauchsfünktionen erfüllt haben dürften. D e m g e m ä ß wären etwa mystische Quellensammlungen nicht als Erbauungstexte zu kategorisieren, weil sie über keinen B e z u g zur Gestaltung der alltäglichen Lebenspraxis qua Weitergabe v o n ethisch-religiösen Regeln verfügten. Oder es ist darauf hingewiesen worden, daß für als erbaulich bezeichnete und somit zu einer christlichen Lebensführung anleitende Texte eine bestimmte Form der Lektüre, nämlich der z w e c k s Einübung der dadurch vermittelten N o r m e n mehrfach wiederholten Lektüre, konstitutiv sei.

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1

Leicht überarbeitete und um Anmerkungen ergänzte Fassung eines Vortrags, gehalten am 06.04.2002 auf der von der Universität Mainz veranstalteten Tagung „Erbauung in der Frühen Neuzeit in Literatur, Kunst und Musik". Der mündliche Duktus der Ausführungen wurde vollständig beibehalten. Vgl. zur frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur zusammenfassend: Die beiden neueren Überblicksartikel: Ute Mennecke-Haustein: Art. Erbauungsliteratur, in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden, hg. v. Volker Meid. Gütersloh U.München 1992, S. 233-239. Susanne Schedl / Dietz-Rüdiger Moser: Art. Erbauungsliteratur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, hg. v. Klaus Weimar. Berlin u. New York 1997, S. 484-488. Vgl. femer u. a. die folgenden neueren Arbeiten: Eva-Maria Bangerter-Schmid: Erbauliche illustrierte Flugblätter aus den Jahren 1570-1670. Frankfurt a. M., Bem u. New York 1986 (Mikrokosmos 20). Italo Michele Battafaiano: Armenfursorge bei Albertinus und Drexel. Ein sozialpolitisches Thema im erbaulichen Traktat zweier Schriftsteller des Münchner Hofes, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), Η. 1, S. 141-180. Ralf Georg Bogner: Übersetzung als EntDistanzierung. Johann Gerhards Erbauungsbuch „Meditationes sacrae" in der deutschen Version von Johannes Sommer (Olorinus Variscus), in: Jahrbuch für Internationale Germanistik (1997) Η. 1, S. 59-75. Wolfgang Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Bd. 2, hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 499-507. Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert, in: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 26 (1984), S. 145-162.

Ralf Georg Bogner

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Soweit die Theorie. Andererseits jedoch läßt sich eine nachgerade inflationäre Verwendung des Terms ,erbaulich' zur Beschreibung von Texten der frühen Neuzeit feststellen, sofern diese in Zusammenhang mit im weitesten Sinne geistlichen Wirk- und Gebrauchsfunktionen gestellt werden. Da dies bei vielen, wenn nicht nahezu allen Texten der frühen Neuzeit in irgendeiner Weise möglich ist, drängt sich fast die böse Vermutung auf, als ob manche Forscher/innen gesonnen seien, das gesamte und verheerende Ausmaß an Fremdartigkeit, das selbst einem jähre- oder jahrzehntelang geübten, gegenwärtigen Rezipienten aus diesen Texten stets entgegenschlägt, in dem scheinbar so vielsagenden Etikett der .Erbaulichkeit' zu komprimieren und zu kompensieren.

II. Der Nachruf des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts mag ein geeigneter Kandidat dafür sein, um die mehr oder weniger .erbaulichen' Wirkfunktionen von Texten einer Gattung, welche überwiegend zur geistlichen Gebrauchsliteratur gerechnet zu werden pflegt, beispielhaft zu rekonstruieren. 2 Denn zweifelsohne werden mit dieser literarischen Gattung spezifische Muster der Textherstellung und -gestaltung, bestimmte Distributionskanäle und spezifische Rezeptionsmodi assoziiert, welche durchaus typisch für Texte sind, die primär im Zeichen der Vermittlung ethischer und religiöser Normen - und zwar unter Einsatz diverser emotionalisierender rhetorischer Mittel - gestanden haben. Bekanntlich ist das in seinem Überlieferungsumfang verbreitetste Genre des frühneuzeitlichen Nachrufs, die protestantische Leichenpredigt, gerade durch seine von Luther initialisierte Ent-Personalisierung und Dogmatisierung in Richtung auf eine Präsentation zentraler Lehrpunkte von einem christlichen Tod, von den letzten Dingen und der Tröstlichkeit des Glaubens im Angesicht der Endlichkeit gekennzeichnet. 3

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Eine umfassende Studie zur Geschichte des neulateinischen und deutschsprachigen Nachrufs von der Reformation bis zum Vormärz bereitet der Verf. vor. Vgl. zur Gattungsbestimmung: Ralf Georg Bogner: Der Nachruf als literarische Gattung. Möglichkeiten und Grenzen einer Definition, in: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999, hg. v. Franz Simmler. Bern u. a. 2002, S. 39-51. Vgl. zur protestantischen Leichenpredigt zusammenfassend die beiden neueren Überblicksartikel: Rudolf Lenz: Art. Leichenpredigt, in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 13: Begriffe, Realien, Methoden, hg. v. Volker Meid. Gütersloh u. München 1992, S. 509-511. F[ranz] M[ichael] Eybl: Art. Leichenpredigt, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5, hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2001, Sp. 124-145. Vgl. ferner u. a. Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. [Bd. 1], hg. v. Rudolf Lenz. Köln u. Wien 1975. Rudolf Lenz (Hg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 2. Marburg a. L. 1979. Ders. (Hg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften (Drittes Marburger Personalschriftensymposion, Forschungsgegenstand Leichenpredigten). Bd. 3. Marburg a. L. 1984. Ders.: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte. Sigmaringen 1990 (Marburger Personalschriften-Forschungen 10). Ders. (Hg.): Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Marburg a. L. 1981 (Marburger Personalschriften-Forschungen 4). Johann Anselm Steiger / Ralf Georg

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Und nicht ohne guten Grund haben sich unterschiedliche Studien zur Geschichte der Gattung etwa mit der Instrumentalisierung von Trauerreden für die Weitergabe der lutherischen ars moriendi an das Publikum 4 oder mit den von ihr an die Hand gereichten Verhaltensstrategien für die Verarbeitung plötzlicher Todesfalle beschäftigt. 5 Die Thematisierung des Ablebens scheint ja in einer theologisch basierten und gleichzeitig durch extrem hohe Sterblichkeitsraten geprägten Kultur an sich schon einen literarischen Verarbeitungsprozeß .erbaulicher' Art herauszufordern. Gegenstand der folgenden, kursorischen Überlegungen sollen allerdings, dies zur Klärung vorab, nicht bloß Leichenpredigten der frühen Neuzeit, sondern das gesamte Spektrum an Nachrufen sein. Die Gattung läßt sich anhand zweier spezifischer Merkmale eingrenzen. Erstens muß es sich bei einem Nachruf, alternativ und synonym zur Vermeidung allzu häufiger Wortwiederholungen auch Nekrolog genannt, um eine literarische Reaktion auf das Hinscheiden eines einzelnen Menschen handeln. Allgemeine Anleitungen zur Kunst des Verbleichens oder abstrakte Reflexionen über die Zeitlichkeit des Menschen fallen damit aus dem Bereich von nekrologischen Texten heraus, anders gesagt, bei Nachrufen handelt es sich um Gelegenheitstexte. Zweitens sollen keine Dokumente privaten Charakters zu dieser Gattung gezählt werden, also zum Beispiel Kondolenzschreiben, sondern ausschließlich Texte, die für eine, wie auch immer beschaffene, lesende oder hörende Öffentlichkeit verfaßt und in diese auch transportiert wurden, sei es die Trauergemeinde bei einem Begräbniskondukt, sei es der Kreis der Verwandten, Freunde und Kollegen eines Verstorbenen, an welchen ein Kasualdruck weitergegeben wurde, seien es die räumlich verstreuten, aber eng miteinander korrespondierenden Humanistenzirkel, welche in elegischen Gedichten einen verblaßten Dichterfreund beklagten. Es eröffnet sich also mit der Gattung des Nachrufs ein breites Feld der frühneuzeitlichen Memorialkultur, das von der als Flugblatt oder Broschüre gedruckten Todesmeldung über Leichenpredigt, Leichabdankung und Leichengedicht bis hin zur nekrologischen Biographie reicht.

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Bogner: Nachwort, in: Johann Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner und Alexander Bitzel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001 (Doctrina et Pietas I, 10), S. 317-363. Vgl. dazu ζ. B. Heike Düselder: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17. und 18. Jahrhundert. Hannover 1999 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34; Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 20). Luise Klein: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den reformatorischen Sterbebüchern. Göttingen: Diss, theol. [masch.] 1958. Werner Friedrich Kümmel: Der sanfte und selige Tod. Verklärung und Wirklichkeit des Sterbens im Spiegel lutherischer Leichenpredigten des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften (Drittes Marburger Personalschriftensymposion, Forschungsgegenstand Leichenpredigten). Bd. 3, hg. v. Rudolf Lenz. Marburg a. L. 1984, S. 199-226. Johann Anselm Steiger: Schule des Sterbens. Die „Kirchhofgedanken" des Andreas Gryphius (1616-1664) als poetologische Theologie im Vollzug. Heidelberg 2000. Vgl. dazu v. a. Rudolf Mohr: Der unverhoffte Tod. Theologie- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu außergewöhnlichen Todesfallen in Leichenpredigten. Marburg a. L. 1982 (Marburger Personalschriften-Forschungen 5).

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Ralf Georg Bogner III.

Als erstes Beispiel für die punktuelle Überprüfung der ,erbaulichen' Gebrauchsfunktionen eines Nachrufs aus dem 17. Jahrhundert sei ein besonders prominenter Text gesichtet, die umfangreichste unmittelbare literarische Auseinandersetzung mit dem Hingang des wirkungsmächtigsten deutschsprachigen Schriftstellers und Dichtungstheoretikers des Barock, Martin Opitz. Die Totenklage mit dem Titel „Lob= Trawr= vnd Klag=Gedicht / Vber gar zu frühzeitiges / jedoch seliges Absterben / Des weiland Edlen / Großachtbaren vnd Hochgelahrten Herren Martin Opitzen" stammt aus der Feder von Johann Rist,6 und schon allein dieser Autorname erscheint zusammen mit der Kategorisierung als Nekrolog sozusagen wie eine .Garantie' für einen erbaulichen Text. Der Holsteiner wirkte nicht nur beinahe seine gesamte berufliche Laufbahn lang als Pastor in dem kleinen Flecken Wedel nahe Hamburg, sondern er machte sich selbst als Autor insbesondere mit seinen .erbaulichen' Publikationen bekannt. Den Schwerpunkt seines Schaffens bildeten die mehr als 650, in zehn Sammlungen veröffentlichten geistlichen Lieder, von denen viele bereits zu Lebzeiten in die protestantischen Gesangbücher aufgenommen wurden. Jenen gegenüber konnten die vor allem aus den jüngeren Lebensjahren datierenden Dramen nur geringe Aufmerksamkeit bei den Zeitgenossen einheimsen. In der Forschung bekannt geworden sind sie jedoch vor allem durch ihre niederdeutschen Dialekteinlagen und ihre vielen - in dem hier angezogenen Zusammenhang wichtigen - geradezu bußpredigtartigen, zur geistlichen Besinnung und zur Abkehr vom irdischen Jammertal mahnenden Textpassagen. Der vorliegende Kasualdruck enthält neben der einleitenden Dedikation und einer Vorrede „An den guthertzigen Leser" ein 620 paargereimte Alexandrinerverse umfassendes Leichengedicht und dazu einen vom Autor selbst verfaßten, biographische, mythologische, geographische und andere erklärende Informationen zum lyrischen Text nachreichenden Stellenkommentar. Das Poem selbst ist in seiner rhetorischen Gestaltung primär auf die Wirkfunktionen des docere und des movere hin angelegt. Die Emotionen, die in den Rezipienten hervorge-

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Johann Rist: Lob= Trawr= vnd Klag=Gedicht / Vber gar zu frühzeitiges / jedoch seliges Absterben / Des weiland Edlen / Großachtbaren vnd Hochgelahrten Herren MARTIN OPITZEN, Königlicher Majestät zu Pohlen wolbestalten Raths vnd Secretary, Des allerberühmtesten Poeten zu vnseren Zeiten / Vnd in allen vortrefflichen Wissenschafften vnd Künsten hocherfahrnen Mannes / Welcher am 6. Tage Septembris, des 1639. Jahres / in der Königlichen Stadt Dantzig / diß eitle Leben hat verlassen / vnd in die Ewigkeit ist versetzet worden / Auß hertzgründlichem mitleiden vnd zu Bezeugung vnverfalschter Liebe vnd Trewe auch nach dem Tode / in höhester Eil auffgesetzet vnd auff vieler / vnserer Teutschen Poeterey vernünftigen Liebhaber / freundlichs Begehren hervor gegeben. Hamburg: Jakob Rebenlein, Zacharias Hertel 1640. Vgl. zu den Nachrufen auf Opitz: Klaus Garber: Martin Opitz - „der Vater der deutschen Dichtung". Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Stuttgart 1976, S. 37-43. Theodor Hansen: Johann Rist und seine Zeit. Aus den Quellen dargestellt. Halle/Saale 1872, S. 47f. Marian Szyrocki: Martin Opitz. Berlin 1956 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 4), S. 129-131. Erich Trunz: Nachwort, in: Martin Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Zweiter Teil. Mit einem Anhang: Florilegium variorum epigrammatum, hg. v. Erich Trunz. Tübingen 1975 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 3), S. 96-103.

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rufen werden sollen, folgen dabei der für die Gattung des Nachrufs seit der Antike konstitutiven und kanonisierten Affekterregungstektonik von der einleitenden lamentatio über die breit ausgeführte laudatio bis hin zur abschließenden consolatio, genug an Spielraum also, um beispielsweise im ausführlichen lobenden Mittelteil anhand des prototypischen Exempels des Verstorbenen die zentralen Tugenden eines Christenmenschen zu durchlaufen und dem Publikum am eindrücklichen, sinnfällig-aktuellen Beispiel zu illustrieren. Rist kaprizierte sich in seiner Verbeugung vor dem Hingeschiedenen aber keineswegs auf dessen besondere ethische oder religiöse Vorzüge, sondern pries ganz allgemein die herausragenden Eigenschaften eines vorbildlichen Dichtergelehrten, ζ. B. hohe Bildung, Eifer, die Pflege von kollegialen Freundschaften u. ä. Aber mehr noch: Diese Würdigung erschöpfte sich nicht in einer Aufzählung der einzelnen Tugenden des Verstorbenen. Dem Lob einer jeden seiner virtutes korrespondierten auf höheren Ebenen jeweils eine Facette des Ideals eines zeitgenössischen deutschsprachigen Dichters, ferner ein Teil von Opitz' Oeuvre und zuletzt ein Lehrpunkt des poetologischen Reformkonzepts. So steht zum Beispiel am Anfang von Rists laudatio der große „fleiß", den der Hingeschiedene dem Studium der „Sprach", die „auß Gott geflosse[n]" sei, also dem Hebräischen einschließlich der „tuncklen Schrifft [... der] Juden vnd Rabbinen [...] im Thalmudt", gewidmet habe. Damit waren gleichzeitig die allgemeine Forderung nach einer umfassenden Ausbildung eines Dichters auf dem Gebiet der alten Sprachen und Opitz' Übersetzung des Psalters von 1637 angesprochen, welche Rist hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualität als dem Original gleichrangig bewertete und polemisch von den früheren Versuchen von Ambrosius Lobwasser und Paul Schede Melissus, die beide „viel hundertmal gejrret" hätten, absetzte. Das Thema der Psalmendichtung bot dem Autor schließlich einen willkommenen Anlaß, um kurz das von Opitz vertretene Postulat einer semantisch und syntaktisch möglichst äquivalenten Reproduktion des Ausgangstextes bei der Translation zu skizzieren.7 Die Gebrauchsfunktionen von Rists Nachruf auf Opitz liegen demnach weit abseits jedweder Erbaulichkeit. Der Text steht im Dienste der literarisierten Informationsvermittlung über den Verstorbenen, im Dienste der Propagierung, ja Popularisierung eines neuen, offenkundig noch immer nicht gänzlich durchgesetzten Literaturprogramms - und schließlich auch im Dienste der Selbstvermarktung seines Autors. So artikuliert er mehrfach im Stellenkommentar den großen Stolz auf sein bisheriges Werk, verweist die Rezipienten an einigen Stellen nachdrücklich auf seine bisher erschienenen Schriften, fordert in einem kühnen Akt der Selbstkanonisierung die künftige Poetengeneration dazu auf, ihm nach seinem Ableben ein ebenso würdiges literarisches Denkmal zu setzen, wie er es für Opitz errichtet habe, und verewigt den eigenen Namen mit dem schlechten Kalauer „Es preiset dich [sc. Opitz] dein RIST, / So lang ein Tröpflein Bluts vnd Odem in jhm ist" im letzten Verspaar des Textes.8

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Rist: Lob= Trawr= vnd Klag=Gedicht, Bl. [B4]r v. Rist: Lob= Trawr= vnd Klag=Gedicht, Bl. Eij*.

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Ralf Georg Bogner IV.

Nun ist das deutschsprachige Leichengedicht nicht gerade dasjenige der nekrologischen Genres, von dem am ehesten eine Instrumentalisierung für erbauliche Zwecke zu erwarten wäre; steht es doch metrisch-formal, dispositorisch und inventorisch-topisch in der Tradition des pagan-antiken und des christlich-humanistischen Epicediums.9 Es mag daher von einigem Vorteil und Interesse sein, einen etwas weniger prominenten, jedoch in der Frühneuzeithistoriographie nicht gänzlich unbeachteten Nachruftext auch auf seine möglichen Gebrauchsfunktionen hin zu befragen. 1560 erschien in Wittenberg die „Brevis Narratio Exponens Quo Fine Vitam In Terris Suam Clauserit [...] Philippus Melanthon",10 eine ausführliche Darstellung des letzten Lebensmonats, der letz9

Vgl. zur Geschichte von Epicedium und Leichengedicht u. a. Ingeborg Gräßer: Die Epicedien-Dichtung des Helius Eobanus Hessus. Lyrische Totenklage zur Zeit des Humanismus und der Reformation. Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 40). Olan Brent Hankins: Leibniz as Baroque Poet. An Interpretation of his German Epicedium on the Death of Queen Sophie Charlotte. Bern u. Frankfurt a. M. 1973 (Stanford German Studies 2). Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147. Frank Liemandt: Die zeitgenössische literarische Reaktion auf den Tod des Königs Gustav II. Adolf von Schweden. Frankfürt a. M. u. a. 1998 (Europäische Hochschulschriften I, 1662). Walther Ludwig: Die Epikedien des Lotichius für Stibar, Mycillus und Melanchthon, in: Lotichius und die römische Elegie, hg. v. Ulrike Auhagen u. Eckart Schäfer. Tübingen 2001 (NeoLatina 2), S. 153-184. Hans Dieter Schäfer: „Sagt nicht frühvollendet". Zur Geschichte des Totengedichts, in: Almanach für Literatur und Theologie 4 (1970), S. 119-138. Wulf Segebrecht (Hg.): Tübinger Epicedien zum Tod des Reformators Johannes Brenz (1570). Kommentiert v. Juliane Fuchs und Veronika Marschall unter Mitwirkung v. Guido Wojaczek. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Helicon, Beiträge zur deutschen Literatur 24). Elisabeth Springer: Studien zur humanistischen Epicedienforschung. Wien: phil. Diss, [masch.] 1955. Christian v. Zimmermann: „Mit allen seinen Saiten schlaff geweint?" Zur poetischen Form und politischen Funktion der dichterischen Denkmäler auf den Tod Maria Theresias, in: Oratio Funebris. Die katholische Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Zwölf Studien. Mit einem Katalog deutschsprachiger katholischer Leichenpredigten in Einzeldrucken 1576-1799 aus den Beständen der Stiftsbibliothek Klosterneuburg und der Universitätsbibliothek Eichstätt, hg. v. Birgit Boge u. Ralf Georg Bogner. Amsterdam u. Atlanta/GA 1999 (Chloe 30), S. 275-315.

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BREVIS NARRATIO EXPONENS QVO FINE VITAM IN TERRIS SVAM CLAVSERIT REVERENDUS VIR D. PHILIPPVS MELANTHON, Vnä cum praecedentium proxime dierum & totius morbi, quo confectus est breui descriptione. CONSCRIPTA A PROFESSORIBVS ACADEMIAE WITEBERGENSIS, qui omnibus quae exponuntur interfuerunt. Wittenberg: Petrus Seitz 1560. Der Text wird im folgenden nach der zeitgenössischen Übersetzung zitiert: Kurtzer Bericht / Wie der Ehrwirdig vnser lieber Vater vnnd Praeceptor PHILIPPVS MELANTHON sein Leben hie auff erden geendet / vn[d] gantz Christlich beschlossen hat / Mit kurtzer erzelung / was sich etliche tage zuuor mit Jm in seiner Schwacheit zugetragen hat. Geschrieben von den Professoribus der Vniuersitet Witteberg / die alles / was hie bericht wird / selbs gesehen vnd angehört haben. Wittenberg: o. D. 1560. Die Texte finden sich ediert in: Nikolaus Müller: Philipp Melanchthons letzte Lebenstage, Heimgang und Bestattung nach den gleichzeitigen Berichten der Wittenberger Professoren. Zum 350. Todestage Melanchthons. Leipzig 1910. Vgl. zu den Nachrufen auf Melanchthon u. a. Joseph B. Dallett: Melanchthoniana fünebria in the Cornell University Library, in: The Cornell Library Journal 4 (Winter 1968), S. 13-71. Karl Hannemann: Melanchthon im Urteil seiner Zeitgenossen und der Nachwelt, in: Philipp Melanchthon 1497-1560. Gedenkschrift zum 400. Todestag des Reformators 19. April 1560/1960, hg. v. Georg Urban. Bretten 1960, S. 159-177, hier

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ten Krankheit und des Sterbens des Reformators, welche im nächsten Jahr ins Deutsche übertragen wurde und bald beachtliche Verbreitung finden sollte - immerhin sind sechs rasch aufeinanderfolgende zeitgenössische Auflagen nachzuweisen. Der Text, von den Professoren der Wittenberger Universität unter der Leitung des Theologen und Physikprofessors Esrom Rüdinger ausgearbeitet, rekurriert auf gänzlich andere Gattungstraditionen als das Leichengedicht Rists. Zum einen orientiert sich die Darstellung des Ablebens Melanchthons an den Mustern der Biographistik respektive der Hagiographie. Zum anderen sind allenthalben die Darstellungskonventionen der Ars-moriendi-Literatur erkennbar. Der Bericht über Melanchthons Krankheit und Sterben präsentiert sich als bis in alle Einzelheiten detailgetreue Chronik seiner Handlungen, Äußerungen und - soweit von ihm mitgeteilt oder aus seinem Verhalten ablesbar - Gedanken und Empfindungen vom Tag des ersten Fieberanfalls bis zu seinem Hinscheiden, wobei die Informationsdichte mit sukzessiver Annäherung an die Sterbestunde deutlich zunimmt. Reziprok dazu zeichnet der Text gleichzeitig die stetige und gegen Ende rapide Einengung des Lebenskreises, innerhalb dessen sich der kränkelnde Gelehrte eben noch zu bewegen vermag. Präzise wird protokolliert, wann Melanchthon das letzte Kollegium gelesen, das letzte Mal außer Haus geweilt, das letzte Mal am Schreibtisch gesessen, das letzte Mal sein Bett verlassen und die letzte Mahlzeit zu sich genommen hat. Der Sterbende fugt sich in mustergültiger Weise seinem Schicksal, ohne dabei aber gleich völlig zu resignieren. Im Bewußtsein des nahenden Todes versucht er dennoch weiterhin seinen Aufgaben (Vorlesungen, Korrespondenzen, Korrekturlektüre von Druckfahnen) nachzukommen, soweit er dazu jeweils noch in der Lage ist. Natürlich läuft der gesamte Text auf den Höhepunkt und den in der lutherischen Dogmatik besonders bedeutsamen Abschluß der individuellen Heilsgeschichte des Sterbenden zu, auf den Todeskampf. Dieser Teil der Erzählung führt sämtliche Elemente eines gelungenen Übergangs von dieser Welt in jene vor. Dazu zählen unter anderem die Bitte des Hinscheidenden um die Gewährung von Vergebung durch alle Anwesenden, das in wörtlicher Rede wiedergegebene letzte Gebet, die Verlesung von Bibelsprüchen (sie werden konkret im Text bezeichnet) und die Rezitation des Glaubensbekenntnisses, ferner der Dank an die Freunde und die Bitte an diese, Sorge für die Kinder zu tragen, und nicht zuletzt die Regelung der Erbschaftsangelegenheiten. Zudem konnte die Schrift anhand einer knappen Schilderung von Melanchthons Aufbahrung und Beisetzung Handlungsnormen für das Verhalten beim Besuch an der Bahre eines Verstorbenen und beim Begräbnis vermitteln. Insoweit präsentiert sich die „Brevis Narratio" somit als .klassische', geradezu idealtypische Erbauungsschrift. Am mustergültigen, mit allen anschaulichen, teils auch unappetitlichen Details erzählten Beispiel des verblichenen Reformators wird den Rezipienten ein rundum gelungener Übertritt von der ImmaS. 161-168. Günther Wartenberg: Melanchthonbiographien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Tagung anläßlich seines 500. Geburtstages an der Universität Leipzig, hg. v. Günther Wartenberg. Leipzig 1999 (Herbergen der Christenheit Sonderbd. 2), S. 179-194, hier S. 181-183.

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nenz in die Transzendenz vorgeführt. Die Lektüre konnte demnach als Anweisung zur eigenen, künftigen Gestaltung des Lebensendes bzw. zum Verhalten während des Hinscheidens eines nahen Verwandten oder Freundes dienen. Dabei wurden dem Leser/der Leserin aber nicht allein am konkreten Exempel die abstrakten Regeln der lutherischen ars moriendi vorexerziert. Vielmehr war diese Vermittlung von Verhaltensleitlinien für Sterben und Sterbebegleitung in vielfacher Hinsicht durch den moderaten Einsatz diverser rhetorisch-affekterregender Mittel emotionalisierend gestaltet. Die Einübung der Gläubigen in die Kunst des Ablebens funktionierte demnach auch über eine Ansprache von deren Gefühlen. Soweit scheint es sich in jeder Hinsicht um eine ganz und gar charakteristische Erbauungsschrift mit einer eindeutigen, einschlägigen Gebrauchsfunktion zu handeln. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, daß der Text gewiß auch mehrfach von einem Rezipienten gelesen respektive von einem Kreis von Zuhörern aufgenommen werden konnte, also durchaus für eine wiederholte Lektüre zur verstärkten und vertieften Memorialisierung der weitergegebenen geistlichen Handlungsmaximen verwendet zu werden vermochte. Doch gegen diese ebenso eingängige wie einlinige Interpretation sprechen zum mindesten zwei gewichtige und eigenartige Indizien. Erstens ist der Text von diversen, bis zur enervierenden Penibilität gesteigerten Beglaubigungsstrategien durchsetzt. Ort, Datum und Uhrzeit aller Vorkommnisse werden peinlich genau protokolliert, ebenso die an den jeweiligen Geschehnissen Teilnehmenden respektive die hierbei Anwesenden. Die letzten eineinhalb Seiten des gedruckten Textes füllt sogar eine testierende Liste mit den Namen, Titeln und teilweise sogar den Funktionen der bei Melanchthons Sterben Anwesenden und an der Ausarbeitung der „Narratio" Beteiligten. Die Textproduktion scheint mithin nicht allein von einem nachdrücklichen geistlich-erbaulichen Wirkungsinteresse geleitet gewesen zu sein, sondern auch unter massivem Verifikationsdruck gestanden zu haben. Es liegt nahe, an die bösen Gerüchte über den unseligen Tod des fünfzehn Jahre zuvor hingeschiedenen Martin Luther zu denken, und dies in einer Konfession, wo gerade das letzte Stündlein theologisch so extrem aufgewertet worden war. Zumindest an die Seite der erbaulichen Gebrauchsfunktionen treten also identifikatorische und defensorische. Diese These wird durch das bereits angekündigte, zweite wichtige Indiz unterstrichen. In der Einleitung zu dem Text legen die Autoren ihre Motivation für die Publikation der „Narratio" offen. Viele fromme Christen, so teilen sie mit, hätten sich an die Professoren in Wittenberg mit der Bitte gewandt, sie, das heißt die Anfragenden, „wolten gern von allen dingen bericht wissen / wie es vmb seine [sc. Melanchthons] kranckheit gelegen gewest / was er geredt / wie er sich getröstet / vnd wie er endlich aus diesem jamerthal geschieden sey."11 Hier werden auf den ersten Blick deutlich die Erwartungen der Leser an die erbaulichen Funktionen des von ihnen eingeforderten Ars-moriendi-Traktates erkennbar. Doch die Autoren fügen dem als eigene Rechtfertigung fur die Veröffentlichung das Argument hinzu, daß „etliche boshafftige / hessige / vnd gifftige leute [...] von dem Ab-

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[Rüdinger u.a.:] Kurtzer Bericht, Bl. Aiij r .

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schied dieses tewren fromen Mannes [...] hessige vnd vnuerschampte wort" in Umlauf gesetzt hätten, denen zur Ehrenrettung desselben mit einem „gründlichen vnd warhafitigen bericht"12 entgegengehalten werden müsse. Der Nachruf stand also im Dienste der Polemik, und zwar anders als nach dem Tode Luthers, nicht der inter-, sondern der innerkonfessionellen Polemik. Die Wittenberger traten nicht den Gerüchten der Katholiken, sondern denjenigen der protestantischen Widersacher, vor allem der Flacianer, entgegen, die gerade nach dem Tode Melanchthons gegen die zunehmend schwächer werdende Fraktion der Philippisten eiferten. Mit der Beschreibung von Melanchthons ruhigem und gefaßtem Sterben sollte hingegen die Richtigkeit der von ihm und den Wittenbergern vertretenen theologischen Positionen sozusagen göttlich beglaubigt werden. Wenn mithin manche philippistisch gesinnte Leser danach verlangten, ausfuhrliche Informationen über das Hinscheiden Melanchthons zu erhalten, wünschten sie sich einen erbaulichen Text, aber in dem Sinne, geistliche Unterstützung in ihrer aktuellen, extrem bedrängten innerkonfessionellen Situation zu erhalten. Anders gesagt, Erbauung in diesem Falle wäre nur zum einen Teil als Vermittlung von christlichen Regeln und Normen für einen spezifischen Bereich des Verhaltens, nämlich das Sterben, zu begreifen, und zum anderen, damit eng verquickten Teil als fast sektiererischer Selbstbehauptungs-, Selbstbeglaubigungs- und Verteidigungsakt einer bestimmten Strömung innerhalb der lutherischen Kirchen.

V. Die Frage, ob und inwiefern ein Nachruf mit solchen Gebrauchsfunktionen als ,erbaulich' zu klassifizieren wäre, mag abschließend und kurz noch anhand eines Textes erörtert werden, der dem bekanntesten, dem am weitesten verbreiteten und dem auf den ersten Blick am ehesten der Erbauungsliteratur zuzurechnenden Genre des Nekrologs angehört, der protestantischen Leichenpredigt. Es sei ein Beispiel gewählt, das zeitlich etwa aus der Mitte zwischen den Würdigungen Melanchthons und Opitz' datiert, eine oratio junebris auf Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg, den Wolfenbüttler Herzog und Dramatiker, der den größeren Teil seiner Regierungszeit in Prag zugebracht hatte und ebendort auch verstorben war. Nach der Überführung des Leichnams in die Heimatund eigentliche Residenzstadt hielt ebendort am 4. Oktober 1613 der Hofprediger Basilius Sattler eine Leichenrede, welche uns durch einen Druck im Umfang von sieben Bogen überliefert ist.13 Es handelt sich bei dem Text in jeder Hinsicht um eine typische Leichenpredigt. Am Anfang steht die Verlesung des biblischen Themas, hier 1 Tim 2, 1-6,

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[Rüdinger u.a.:] Kurtzer Bericht, Bl. Aij v -Aiij r . Basilius Sattler: Eine Predigt / Von der Oberkeit / Gethan bey der Begräbnuß Des Weyland Hochwürdigen / Durchleuchtigen / Hochgebomen Fürsten vnnd Herrn / Herrn Heinrich Julij / Postulirten Bischoffen des Stiffts Halberstadt / vnd Hertzogen zu Braunschweig vnd Lüneburg / hochlöblicher gedechtnuß / den 4. Octobr. 1613. zu Wolffenbüttel. Wolfenbüttel: Julius Adolf von Söhne [1613].

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es folgt die einleitende Klage um den Verstorbenen samt Begründung des Zusammenhangs zwischen Einzelfall und Thema, hierauf gibt der Prediger dem Publikum eine partitio zur Gliederung des Stoffes, dann legt er die gewählte Bibelstelle ausfuhrlich exegetisch vor den Rezipienten auseinander, um sie schließlich in einem kürzeren Schlußteil biographisch auf den Verstorbenen zu applizieren und nach dem Bericht über dessen Ableben seinen Sermon tröstlich zu endigen. Sattler beherrscht die Mittel der Sakralrhetorik brillant und souverän. Die kunstvolle Verquickung von abstrakter, durchaus theoretisch anspruchsvoller argumentatio und der Anwendung auf die Lebensgeschichte des konkreten Einzelfalls zeigt großes dispositorisches Geschick. Die topische inventio liefert ihm in großer, aber wohldosierter Zahl Beweise aus der Bibel wie auch aus der Profangeschichte für seine Thesen. Die elokutionäre Ausstattung der im hohen Stil vorgetragenen Rede ist vielfaltig, reich und auf jeden Fall effektvoll und wirkungsmächtig, der Orator weiß die Affekte seiner Zuhörer/innen zu erregen, zu lenken und auch wieder zu besänftigen. Dennoch fallt es schwer, diesen Text, der in vielerlei Hinsicht eine geradezu prototypische Leichenpredigt darstellt, als ,erbaulich' zu bezeichnen. Sein Gegenstand ist nämlich die „Oberkeit",14 und abgehandelt werden die Fragen, „ob der Stand der Oberkeit Gott gefalle", „was der Oberkeit Ampt sey", „wie man zum guten vnd glückseligen Regiment kommen könne" und „ob Gott die Oberkeit auch wolle selig machen / und im Himmel haben".15 Diese Probleme werden in der argumentatio in der Manier einer Bibelexegese abgehandelt und im Schlußteil auf das Leben und die Regentschaft des verstorbenen Heinrich Julius positiv appliziert. Der Hof- und Leichenprediger Sattler handelte mithin ein geistliches Thema - die lutherische Obrigkeitslehre - in geistlicher Manier ab, er stellte Richtlinien für christliches Wohlverhalten auf - die freilich höchstens von einem einzigen der anwesenden Zuhörer beachtet und eingehalten werden konnten, nämlich vom Thronfolger und er appellierte an das Gefühl der Rezipienten, aber nicht zum Zwecke der Bekräftigung der Vermittlung spezifischer Normen und Werte, sondern im Dienste einer letzten emotionalen Memorialisierung des verblichenen Fürsten. Es ist eine Frage der Definition und der Konvention, einen solchen Text im besonderen und das Genre, dem er zugehört, im allgemeinen unter der Kategorie des ,Erbaulichen' zu subsumieren. Doch spricht einiges, wenn nicht gar sehr vieles dagegen.

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Sattler: Predigt, Titeibl. Sattler: Predigt, Bl. B[l] v .

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Rist, Johann: Lob= Trawr= vnd Klag=Gedicht / Vber gar zu frühzeitiges / jedoch seliges Absterben / Des weiland Edlen / Großachtbaren vnd Hochgelahrten Herren MARTIN ΟΡΓΓΖΕΝ, Königlicher Majestät zu Pohlen wolbestalten Raths vnd Secretary, Des allerberühmtesten Poeten zu vnseren Zeiten / Vnd in allen vortrefflichen Wissenschafften vnd Künsten hocherfahrnen Mannes / Welcher am 6. Tage Septembris, des 1639. Jahres / in der Königlichen Stadt Dantzig / diß eitle Leben hat verlassen / vnd in die Ewigkeit ist versetzet worden / Auß hertzgründlichem mitleiden vnd zu Bezeugung vnverfälschter Liebe vnd Trewe auch nach dem Tode / in höhester Eil auffgesetzet vnd auff vieler / vnserer Teutschen Poeterey vernünfftigen Liebhaber / freundlichs Begehren hervor gegeben. Hamburg: Jakob Rebenlein, Zacharias Hertel 1640. [Rüdinger, Esrom, u.a.:] BREVIS NARRATIO EXPONENS QVO FINE VITAM IN TERRIS SVAM CLAVSERIT REVERENDUS VIR D. PHILIPPVS MELANTHON, Vnä cum praecedentium proxime dierum & totius morbi, quo confectus est breui descriptione. CONSCRIPTA A PROFESSORIBVS ACADEMIAE WITEBERGENSIS, qui omnibus quae exponuntur interfuerunt. Wittenberg: Petrus Seitz 1560. - Kurtzer Bericht / Wie der Ehrwirdig vnser lieber Vater vnnd Praeceptor PHILIPPVS MELANTHON sein Leben hie auff erden geendet / vn[d] gantz Christlich beschlossen hat / Mit kurtzer erzelung / was sich etliche tage zuuor mit Jm in seiner Schwacheit zugetragen hat. Geschrieben von den Professoribus der Vniuersitet Witteberg / die alles / was hie bericht wird / selbs gesehen vnd angehört haben. Wittenberg o. D. 1560. Sattler, Basilius: Eine Predigt / Von der Oberkeit / Gethan bey der Begräbnuß Des Weyland Hochwürdigen / Durchleuchtigen / Hochgebomen Fürsten vnnd Herrn / Herrn Heinrich Julij / Postulirten Bischoffen des Stiffts Halberstadt / vnd Hertzogen zu Braunschweig vnd Lüneburg / hochlöblicher gedechtnuß / den 4. Octobr. 1613. zu Wolffenbüttel. Wolfenbüttel: Julius Adolf von Söhne [1613].

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Geistliches Totengedenken?

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Ulrich Breuer

Lebendige Erkenntnis August Hermann Franckes Lebenslauf

And he came to a door ... and he looked inside The Doors

Während der Frühaufklärung vollzieht sich im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein grundsätzlicher, erfahrungsorientierter Wandel der Kommunikationsverhältnisse. Er verändert auch die Erbauungsliteratur, die neue Funktionen im Kontext der Selbstwahrnehmung des Individuums übernimmt.1 Obwohl Paulus im Römerbrief die antike Selbstsorge durch die aedificatio des Kosubjekts ersetzt hatte,2 wird vor allem im Pietismus und gerade im Zusammenhang mit neuen Gesellschaftsmodellen erneut die Frage nach dem Subjekt aufgeworfen. Es beobachtet sich selbst - besonders über die Rezeption und Produktion von Texten. In dem Maße, in dem sich der Sinn dieser Texte von ihrer buchstäblichen Bedeutung trennt und als Leistung der Rezipienten erscheint,3 wird die Erbauungsliteratur invertiert, privatisiert und ästhetisiert. Die These des vorliegenden Beitrags lautet, daß die Transformation der Erbauungsliteratur um 1700 diese Literaturform für neue literarische Funktionskontexte freistellt, die dann das 18. Jahrhundert bis hin zur deutschen Klassik entfalten wird. Dazu fundiert der Pietismus die Erbauung in einem gnostisch getönten Evidenzerlebnis, das die Zeitgenossen als .lebendige Erkenntnis' bezeichnen. Diese Erkenntnisform, die wir heute eher als ästhetische Rationalität begreifen würden, verleiht den erbaulichen Texten, der Sprache und letztlich auch dem Subjekt einen Sinnüberschuß, hebt dadurch letzteres aus der politischen Ständeordnung heraus und ermöglicht ihm den Umbau dieser Ordnung zu einer neuen, moralgesteuerten Form von Gemeinschaft. Damit wird die Erbauungsmetapher zu einem unscharfen und allmählich entbehrlichen Oberbegriff entweder fur die Konstruktion sozialutopischer, politikkritischer Modelle oder für den Rückzug ins Private.4 Zugleich generiert das Verlangen des Individu-

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Vgl. Franz M. Eybl: Predigt / Erbauungsliteratur, in: Die Literatur des 17. Jahihunderts, hg. v. Albert Meier. München 1999 (Hansens Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2), S. 401-419, hier S. 418. Röm 15, 2. Vgl. zum Problemkontext Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 58), S. 5-37. Zu den Folgen vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973 (stw 36).

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ums nach subjektiver Evidenz 5 ein neues Textfeld, zu dem unter anderem die pietistische Bekenntnisliteratur gehört.6 Sie verankert den Anspruch auf absolute Gewißheit autobiographisch in Raum und Zeit und hat entscheidend zur deutschen Kultur und Literatur des 18. Jahrhunderts mit ihrem Privatheits- und Innerlichkeitskult beigetragen.7 Zu den Gründungsakten dieses Textfelds gehört der Lebenslauff August Hermann Franckes, ein Bekenntnistext, der 1690/91, vermutlich zur Verteidigung gegen Vorwürfe der lutherischen Orthodoxie und zum Zweck der Selbstvergewisserung, niedergeschrieben 8 und dessen letzter Teil wenig später gegenüber Philipp Jacob Spener als erbauliches, antiatheistisches Exempel ausgegeben wurde. 9 Nur dieser letzte Teil, der den eigentlichen Bekehrungsbericht enthält, wurde kurz nach Franckes Tod gedruckt,10 während der vollständige Text erst 1861 von Gustav Kramer publiziert worden ist.11 Die vorliegenden Ausführungen stützen sich auf die kritische Edition des Textes, die Markus Matthias vorgelegt hat.12 Analog zu Franckes eigener Auftrennung des Lebertslauffs und zur frühen Rezeption sieht man besonders in der theologischen Forschimg bis heute den Text in zwei Teile zerfallen. 13 Der erste wird als Gelehrtenautobiographie

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Vgl. Hans R. G. Günther: Psychologie des deutschen Pietismus, in: DVjs 4 (1926), S. 144176, hier S. 150. Zu den theologiegeschichtlichen Hintergründen vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte 4, Lfg. Ο 1), S. 64. Vgl. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1977, S. 6-14 sowie Hans-Jürgen Schräder: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reiz' Historie Der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra 283). Vgl. Gerhart von Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher „bürgerlicher" Literatur im frühen 18. Jahrhundert, in: DVjs 49 (1975), Sonderheft, S. l*-82*. Kurt Aland: Bemerkungen zu August Hermann Francke und seinem Bekehrungserlebnis, in: ders.: Kirchengeschichtliche Entwürfe. Alte Kirche - Reformation - Pietismus. Gütersloh 1960, S. 543-567, hier S. 548, spricht von „einer Rechenschaftsablegung vor sich selbst", die „als Beichte, als confessio" angelegt sei. Zum biographischen Hintergrund vgl. Wallmann: Pietismus, S. 65f. Zu den Schreibmotiven Franckes vgl. Petra Kurten: Umkehr zum lebendigen Gott. Die Bekehrungstheologie August Hermann Franckes als Beitrag zur Erneuerung des Glaubens. Paderborn u. a. 1985 (Paderborner Theologische Studien 15), S. 38-42. Francke an Spener am 15.3.1692; vgl. Walter Wendland: Die pietistische Bekehrung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 38 (1920), S. 193-238, hier S. 197. Des seel. Herrn Professoris Franckens zu Halle Bekehrungs=Historie, in: [Johann Jacob Moser:] Altes und Neues aus dem Reich Gottes [...]. Bd. 3. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1733, S. 56-69. Zuvor war der Bekehrungsbericht, transformiert in die dritte Person, in einer anonym publizierten Kompilation erschienen: Kurtze, iedoch gründliche Nachricht, von dem sehr merckwürdigen und erbaulichen Lebens=Lauffe Des weyland Hoch=Ehr-würdigen, in GOtt Andächtigen und Hochgelehrten Herrn, Herrn August Hermann Franckens [...]. Büdingen 1728. Zum Funktionswert und zur Publikation pietistischer Autobiographien vgl. Graevenitz: Innerlichkeit, S. 39f. Francke selbst hat seinen Lebenslauff wiederholt erzählt; vgl. Jürgen Henningsen: Leben entsteht aus Geschichten. Eine Studie zu August Hermann Francke, in: Neue Zeitschrift fur systematische Theologie und Religionsphilosophie 19 (1977), S. 261-283, hier S. 274-279. Gustav Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's enthaltend den Briefwechsel Francke's und Spener's. Halle 1861, S. 28-55. Markus Matthias (Hg.): Lebensläufe August Hermann Franckes. Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus 2). Im laufenden Text künftig zitiert als: Matthias: Lebensläufe Franckes. Vgl. etwa Kurten: Umkehr, S. 26-68.

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kategorisiert, der zweite als Bekehrungsgeschichte. Sieht man sich den Text jedoch genauer an, dann wäre eher von einer einheitlichen Komposition zu sprechen, bei der spätere Passagen sehr bewußt vorbereitet und motiviert werden.14 Erkennbar ist das Bemühen um stufenweise Übergänge, um das Vermeiden schroffer Brüche, um die innere Einheit des eigenen Lebens und den Nachweis seiner Übereinstimmung mit den Grundlagen reformierter Religiosität. Die Fragen, die in diesem Beitrag beantwortet werden sollen, lauten: Was versteht Francke in seinem Lebenslauff unter Erbauung, wie hängt sein Erbauungsbegriff mit dem Konzept der lebendigen Erkenntnis zusammen und in welcher Weise läßt sich vor diesem Hintergrund Franckes „pietistische Autobiographie par excellence"15 in die Geschichte der Bekenntnisliteratur einordnen? Den Fragen entsprechen drei Argumentationsschritte. Der erste besteht in einer grammatischen Interpretation der Verwendung des Ausdrucks ,Erbauimg' in Franckes Lebenslauff, der zweite arbeitet das diese Verwendung fundierende Konzept der lebendigen Erkenntnis heraus und der dritte widmet sich der Stellung des Lebenslauffs in der Gattungsgeschichte der Bekenntnisliteratur.

1. Zur Erbauungssemantik des Lebenslauffs Das Substantiv .Erbauung', das Adjektiv .erbaulich' und das Verb .erbauen' treten in Franckes Lebenslauf insgesamt sechsmal auf, wobei das Substantiv mit vier Belegen am häufigsten verwendet wird. In allen sechs Fällen erfolgt Erbauung im Medium von Texten, wobei der Problemdruck, der die Semantik des Ausdrucks verändert, erkennbar von Drucktexten ausgeht. Denn während im ersten Beleg noch die Funktion der Erbauung durch Reden, also durch mündliche Texte, dominiert, geht es in den Belegen zwei bis fünf vorrangig um die Korrelation von (Schrift)Text und Erbauung und im sechsten Beleg um diejenige von Autor, Text und Erbauung. Dabei verlagert sich in der Reihenfolge der Belege das Interesse von Fragen der Rezeption auf solche der Produktion erbaulicher Texte. Der erste Beleg findet sich in der Kindheits- und Jugendschilderung zu Beginn des Lebenslaufs. Francke hatte sich in Gesellschaft anderer Jugendlicher erstmals von Gott abgewandt und war durch die erbaulichen Reden seiner frommen Schwester Anna kurzzeitig zum Guten zurückgeführt worden.16 Das hat für den gesamten Text Modellcharakter. Erbauliche Texte haben demnach die Funktion, die Rezipienten an eine verlorene Sinnfülle zu erinnern und sie dadurch zu besseren Menschen zu machen. Das scheint besonders gut im intimen Kreis der Familie zu gelingen.17

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Zur Struktur des Textes vgl. die Hinweise von Ingo Bertolini: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus. Diss. Wien 1968, S. 118-120, sowie Kurten: Umkehr, S. 4 5 ^ 9 . Bertolini: Studien, S. 119. Daß hinter den erbaulichen Reden wiederum erbauliche Texte stehen (die Bibel und Johann Arndts Wahres Christentum), vor allem aber der ,,erbauliche[n] Wandel" der Schwester, verdeutlicht die Kurtze Nachricht (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 38). Kurten: Umkehr, S. 63f., weist auf den vorbereitenden Charakter der Passage hin. Vgl. Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 134.

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Die Belege zwei bis fünf lösen sich vom erbaulichen Reden ab und diskutieren verschiedene Aspekte des Zusammenhangs von (Schrift)Text und Erbauung. Der zweite Beleg geht auf einen von Luther inspirierten Vorschlag Philipp Jakob Speners zurück, den dieser dem Collegium Philobiblicum unterbreitet hatte.18 Die Mitglieder griffen ihn auf und beschlossen, „daß wir nicht so große texte auff einmahl, und dieselbe zu unserer mehren Erbauung tractiren wolten" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 17). Hier ist die Qualität der Erbauung - und zwar diejenige von künftigen Predigern - zu einer Funktion des Umfangs der Predigtvorlage geworden, wobei mit der Kürze der Vorlage die Erbauungsintensität steigt. Es ist festzuhalten, daß die Erbauungsfünktion im Pietismus von den Rezipienten auf die Produzenten übergreift und dabei zur Instrumentalisierung und Fragmentierung von Texten beiträgt. Das hat auch Franckes Lebenslauff zu spüren bekommen. Der dritte, vierte und fünfte Beleg greifen auf den zweiten zurück und hängen eng zusammen. Nun rechtfertigt Francke seine von der lutherischen Orthodoxie kritisierte Übersetzung zweier erbaulicher Schriften des Miguel de Molinos. Zunächst stellt Francke klar, daß er niemals die Lektüre aller Schriften Molinos' angeraten habe. Vielmehr habe er immer nur „die h. Schrifit und andere zur Erbauung durch einen lautern Grund der H. Schriffi führende Schrifften zu lesen" empfohlen (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 19f.). Zwar wird damit die Erbauungsfunktion nach dem lutherischen Schriftprinzip an den Bibeltext zurückgebunden, es werden aber auch andere Schrifttexte zulässig, sofern sie mit dem spirituellen Sinn der Bibel, der hier von ihrem buchstäblichen Sinn abgetrennt wird, übereinstimmen.19 Indem Francke diese hermeneutische Maxime mit dem Fragmentierungspostulat kombiniert, kann er die Lektüre einzelner Texte und Textteile Molinos' mit der Behauptung empfehlen, „daß viel nützliches und zur Erbauung höchst vorträgliches" in ihnen zu finden sei (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 20). Die Bedingung der Übereinstimmung mit dem Sinn der Bibel und das Fragmentierungspostulat fuhren daraufhin im Kontext des fünften Belegs zu einer Entgrenzung des erbaulichen Textfelds. Jetzt können Texte von Angehörigen aller Konfessionen den Leser erbauen (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 21). Die Entgrenzung wird möglich, weil Erbauung nicht länger als Leistung bestimmter Texte, sondern als Leistung der Rezipienten verstanden wird. Als Leser habe ich nach Francke „selbst zuzusehen, was ich aus einem ieglichen text fur einen deutlichen verstand fassen" kann (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 18). Damit wird die Erbauungsfunktion zum Effekt einer Lektürepraxis, die tendenziell alle Texte liest, als ob sie über einen sakralen, vom sensus litterae ablösbaren Sinn verfugten.

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Vgl. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bomkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 151-237, hier S. 230: „Die Zahl der Bücher müßte man auch vermindern und die besten auswählen. Denn viele Bücher machen nicht gelehrt, vieles Lesen auch nicht, sondern gute Dinge und oft lesen, wie wenig es auch ist, das macht gelehrt in der Schrift und fromm dazu." Zu Speners Vorschlag vgl. Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 95. Im Collegium Philobiblicum hat Francke als Protophänomenologe gelernt, wie man „die großen Schätze, welche uns in der H. Sch. dargereichet werden besser erkennen, und aus der h. Sch. selbst herfürsuchen lernete", so daß man am Ende nicht nur die Schale, sondern „den kem und die Sache selbst" zur Verfügung hat (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 18).

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Im letzten Beleg für die Erbauungsmetapher rückt daraufhin konsequent die Produktion erbaulicher Texte in den Blick. Sie muß zum Problem werden, wenn Erbauung tatsächlich ein reiner Rezeptionseffekt sein sollte. Denn auch dann, wenn die unwahrscheinliche Voraussetzung der Produktion göttlichen Sinns durch einen Menschen erfüllt wäre, könnte sich dieser Sinn niemals in eindeutiger Weise textuell befestigen lassen. Francke findet sich mit dem Problem konfrontiert, als er in Lüneburg eine Predigt halten soll und dabei nicht länger „die bloße Übung im predigen, sondern furnemlich die Erbauung der zuhörer" anstrebt (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 25f.). Er reagiert mit einer Rückkopplung der Produktion an die Rezeption, die sich an Luthers Fundierung guter Werke in der „frommen guten Person" zu orientieren scheint.20 Entsprechend wird nach Francke ein Text dann erbaulich wirken, wenn er der Text eines Erbauten ist. Als Autor eines solchen Textes darf man, so heißt es im Lebenslauff, gegen sein „eigen hertz nicht predigen, und die leute also betriegen" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 28). Man könnte das die Geburt des Autors aus der Inversion der Erbauungsfunktion nennen. Erbauung ist nicht nur zu einem Rezeptionseffekt geworden, sondern der beliebigen Texten entnommene Sinn soll sich unmittelbar produktiv in erbaulichen Texten niederschlagen.

2. Lebendige Erkenntnis: Funktion - Subjekt - Verfahren Die Inversion des Erbauungsbegriffs in Franckes Lebenslauf ist in einer ebenso engen wie problematischen Verknüpfung von Hermeneutik und Poetik fundiert. Problematisch ist ihr Nexus deshalb, weil er die Einheit des erbaulichen Sinns voraussetzt, der als pneumatischer von allen buchstäblichen Manifestationen abgekoppelt sein und dennoch in ihnen sich manifestieren soll. Besonders in poetologischer Perspektive entsteht daraus eine Aporie.21 Ihre Lösung verspricht in Franckes Lebenslauff das Konzept der lebendigen Erkenntnis, das an der Schnittstelle von Poetik und Hermeneutik angesiedelt ist und beide in der Ästhetik fundiert. Was ist die Funktion, das Subjekt und die Prozeßform dieses Konzepts? Die Frage nach der Funktion der lebendigen Erkenntnis läßt sich durch einen Seitenblick auf weitere Verwendungen der Kategorie beantworten. Diese ist vor allem in der Kirchenkritik der Spiritualisten verbreitet und findet sich etwa im Titel von Christian Hoburgs Theologia mystica, das ist: Verborgene Krafft-Theologie der Alten, anweisend den Weg, wie auch der einfeltigste Mensch zum lebendigen Erkentnis,ja zur Gemeinschqfft seines Gottes [...] kommen kan.22 Der Titel verdeutlicht, daß die lebendige Erkenntnis der lutherischen Orthodoxie und ihrer rationali-

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Martin Luther Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd.l. Frankfurt a. M. 1990, S. 239-263, hier: S. 255. Im Kontext des Lebenslauffs ist die Stelle durch den Hinweis auf die „schwere Verantwortung eines Predigers" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 11) vorbereitet, den Francke Christian Kortholt verdanken will. Diese Aporie ist ein Spezialfall jener paradoxen Semiotik, die den Pietismus generell kennzeichnet; vgl. Graevenitz: Innerlichkeit, S. 8f. 3 Bde. Amsterdam 1655-56.

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stischen Theologie kritisch gegenübersteht.23 Sie artikuliert den Anspruch aller Christen auf einen immittelbaren Zugang zu Gott und auf ein in ihm begründetes, gefuhlsbestimmtes Sozialmodell.24 Die kirchenkritische, individualisierende und emotionalisierende Funktion der lebendigen Erkenntnis steht zudem im Kontext zeittypischer Innen/Außen-Dichotomien,25 die auf Luthers Anthropologie mit ihrer Unterscheidung zwischen innerem (geistigem) und äußerem (leiblichem) Menschen zurückgehen. Das demonstriert etwa der Titel eines 1720 erschienenen Buches von Tobias Eisler: Unterschied zwischen der Innerlichen lebendigen und Aeuserlichen buchstäblichen Erkäntniß Jesu Christi, Als des Einigen, wahren und selbständigen Worts Gottes, Das allen Menschen nahe ist in ihrem Mund und Herzen: nach Rom 10.16 Eislers Titel bestätigt, daß die lebendige Erkenntnis im Kontext der hermeneutischen Differenz von sensus literalis und sensus spiritualis steht. Vier Jahre später, noch zu Franckes Lebzeiten, bezeugt Christoph Starcke den pietistischen Gebrauch der Formel und ihre heilsgeschichtliche Bedeutung durch die Publikation seiner Broschüre Eine sechsfache Ordnung des Heyls [...] Nebst angehängter Ordnung der Biblischen Historien, zu Beförderung der lebendigen Erkaentniß.21 Der Text erschien im Buchladen des Halleschen Waisenhauses. Die hermeneutische Wendung der Formel findet sich systematisiert in Johann Martin Chladenius' 1742 erschienener Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schrifflen.2% Der § 474 definiert: „Die Erkäntniß der Wahrheit eines Satzes, in so ferne sie einen Einfluß in den Willen, und in unser Thun hat, heisset eine lebendige Erkäntniß".29 Chladenius verallgemeinert damit den pietistischen Nexus von Auslegung und praktischer Anwendung.30 Er entwickelt daraufhin eine Stufenfolge unterschiedlich intensiver Wirkungen der lebendigen Erkenntnis, aus der die ästhetische Fundierung des Konzepts hervorgeht.31 Auf der untersten Stufe löst sie lediglich flüchtige Modifikationen des Geschmacks,

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Vgl. Wendland: Bekehrung, S. 205. Franckes „Anspruch, in einem bestimmten Moment oder fur die Dauer über einen Gefühlseindruck von der Gnade Gottes zu verfügen, welcher sich von der allgemeinen Lebensstimmung vollständig abheben soll", kritisiert erstmals Albrecht Ritsehl: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 2. Tl. 1. Bonn 1884 (Photomech. Nachdr. Berlin 1966), S. 252. Vgl. Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1993 (stw 1903), S. 149-258. O. O. 1720. Berlin 1724. Leipzig 1742. Zitiert nach Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. Jean Bollack u. Helen Stierlin. Frankfurt a. M. 1975 (stw 124), S. 56. Zu Johann Jakob Rambachs Institutiones hermeneuticae sacrae (1723) und ihrer Ergänzung der subtilitas intelligendi und der subtilitas explicandi durch die subtilitas applicandi vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 61990 (Gesammelte Werke 1), S. 312. Bereits 1735 hatte der pietistisch erzogene Baumgarten die philosophische Ästhetik begründet: Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (lat./dt.), übers, und hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 352).

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oder, bei größerer Intensität, heftige, phänotypisch sichtbare Affekte aus. Auf der mittleren Stufe kann sie zur Ausbildung einzelner Handlungsmaximen fuhren oder gar die Einstellung eines Menschen umorientieren. Auf der höchsten Stufe aber bewirkt sie eine Bekehrung, die den Betroffenen aus einem natürlichen in einen geistlichen Menschen verwandelt. Aus den angeführten Belegen folgt, daß die lebendige Erkenntnis erstens auf Luthers Anthropologie zurückgeht, daß sie zweitens im kirchenkritischen Spiritualismus weiterentwickelt wurde, daß sie drittens mit der Inversion der Erbauungsmetapher koinzidiert und daß diese Wendung viertens im Kontext applikativer Problemstellungen steht. In der lebendigen Erkenntnis soll sich ein spiritueller Sinn ungeschmälert allen Sinnen des Individuums mitteilen, damit er unmittelbar die soziale Praxis bestimmen kann. Insofern hat der enge Nexus, der Hermeneutik, Poetik und Ästhetik verklammert, eine sozialutopische Ausrichtung. Franckes Lebenslauff bestätigt den Befund. Dort findet sich die Kategorie der lebendigen Erkenntnis im Kontext eines kritischen Rückblicks auf die theologischen Studien in Kiel (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 12). Die Reflexion ist entlang der Opposition von Rationalität und Emotionalität strukturiert, die durch die Ausdrücke Kopf und Herz repräsentiert werden.32 Dabei ist dem negativ konnotierten Kopf die Theologie als tote Wissenschaft und dem positiv konnotierten Herzen die lebendige und beseligende Erkenntnis Gottes zugeordnet. Während das rein kognitiv betriebene Studium sich in Mitschriften auf dem Papier niederschlägt, hätte sich, nach einem Paulus-Wort, die lebendige Erkenntnis ins Herz einschreiben müssen.33 Nur so hätte der Umgang mit Gott zum „habitus practicus" (12) werden können, der das gesamte Handeln zu bestimmen hat. Lebendige Erkenntnis ist demnach als ständige, anwendungsorientierte Lektüre konzipiert: .gelesen' werden die von einer fremden Instanz beschriebenen sogenannten niederen Seelenvermögen. Gott offenbart sich dem einzelnen Menschen, der Person, in der Chiffrenschrift seiner Affekte, und er wirkt dadurch unmittelbar auf die soziale Praxis ein.34 Wenn aber die lebendige Erkenntnis einen nicht von Menschen erzeugten Sinn zutage fordert, der als entscheidende Voraussetzung gelingender sozialer

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Franckes Bevorzugung semantischer Oppositionen belegt Henningsen: Leben, S. 272f. Zum Dualismus von Denken und Glauben im Lebenslauff und zu seiner Fundierung in Johann Arndts Wahrem Christenthum und in Molinos' Manuductio spiritualis vgl. Erhard Peschke: Die Bedeutung der Mystik für die Bekehrung August Hermann Franckes, in: Theologische Literaturzeitung 91 (1966), Sp. 881-892, hier Sp. 883, 885f., 888f. Speziell zum Einfluß Molinos' vgl. Friedrich de Boor: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis Α. H. Franckes als Grundlage für den Kampf des Hallischen Pietismus gegen die Aufklärung, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, hg. v. Heinrich Bornkamm. Bielefeld 1975, S. 120-138, hier S. 131-134. 2 Kor 3, 2f. Zum diskursiven Kontext vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München u. Wien 1986, S. 9-48, sowie Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992 (Communicatio 1), S. 195-208. Zugleich wird damit die Gesellschaft zum Raum der Selbsterhaltung. Günther: Psychologie, S. 153, hat darauf hingewiesen, daß im Pietismus Reflexion von der Subjektivität auf „das praktische Leben" verlagert wird, wo sie „der Sicherung des eigenen Selbst" dient.

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Praxis zu begreifen ist, wie kann man sie dann erlangen? Ist sie ausschließlich vom unerforschlichen Willen Gottes abhängig oder kann man sie auch - pelagianisch aus eigener Kraft herbeiführen? Es hat den Anschein, als ob für Francke die moralische Praxis zu wichtig geworden wäre, als daß er sie länger ausschließlich der Gnade Gottes hätte anheimstellen wollen. Das geht aus einem Zusatz am Rand seines Lebenslauffs hervor.35 In ihm werden zwei okkassionelle Ursachen genannt, die ein nicht näher bezeichnetes und zweifellos entscheidendes Ereignis in Franckes Leben veranlaßt haben. Sie sind erneut nach der Innen/Außen-Dichotomie angeordnet. Die erste, interne Ursache ist die „Gnade Gottes", die zweite, externe Ursache ist das Theologiestudium (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 23), das an anderer Stelle auch als „Studium textuale" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 18) bezeichnet wird. Philologisch-theologische Studien, die ihrerseits das Philosophiestudium abgelöst haben,36 treten damit in ein Ergänzungsverhältnis, ja in eine latente Konkurrenz zur Gnade Gottes. Die Kunst des Lesens (im Text/in sich) entschärft und exekutiert zugleich die irrationale Willkür Gottes. Was aber wird nun eigentlich durch die Beschäftigung mit Texten und/oder durch Gottes Gnade veranlaßt? Textkritisch verantwortbar ist die Antwort, daß es sich - in Anknüpfung an Luther und unter Verwendung einer bekannten Metapher Hamanns - um die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis handelt, die den Weg zur Vergötterung bahnen soll.37 1687, mit 24 Jahren, beginnt Francke nach eigenen Worten „in mich zu schlagen, meinen Elenden zustand tieffer zu erkennen, und mit größerem Ernst mich zu sehnen, daß meine Seele davon möchte befreyet werden." (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 23) Man kann daraus schließen, daß die lebendige Erkenntnis göttlicher Sinnfülle sich durch ein philologisches Studium zumindest vorbereiten läßt. Chladenius geht ein halbes Jahrhundert später den entscheidenden Schritt weiter und koppelt in seiner Hermeneutik die lebendige Erkenntnis von der göttlichen Gnade ab. In Franckes Lebenslauf ist die lebendige Erkenntnis dagegen noch eine besondere Form der Selbsterkenntnis, oder besser der Selbstbesinnung im Kontext einer vormodernen Poetik. Sie durchläuft ein bestimmtes Prozeßschema, das Franckes Lebenslauf wirkungsmächtig etabliert hat. 38 Es ist unter dem Titel des Halleschen Bußkampfs systematisiert und mehrfach dargestellt worden, 39 wobei es jedoch, aufgrund der Auftrennung des Textes, vornehmlich psychologisch verstanden und seine Verknüpfung mit dem Studium textuale zumeist übersehen

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Vgl. de Boor: Erfahrung, S. 126, sowie den textkritischen Apparat der Edition von Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 108. Zu den Gründen vgl. de Boor: Erfahrung, S. 127f. Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Josef Nadler. Bd. 2. Wien 1950, S. 164; vgl. Immanuel Kant: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 11. Frankfurt a. M. "1982, S. 324 sowie Bd. 8, S. 576. Mit der These von der Selbstbesinnungsfunktion des Lebenslauffs widerspreche ich Wendland: Bekehrung, S. 199. Vgl. ζ. B. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 2. Gütersloh s1975, S. 157— 159. Zu den Phasen der Bekehrung Franckes vgl. Kurten: Umkehr, S. 49. Nach Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 136, läßt sich die Bußkampftheologie nicht direkt aus dem Lebenslauffableiten.

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wurde. Doch nur wenn ,wir Philologen' diese Verknüpfung im Auge behalten, läßt sich das philologische Studium als Voraussetzung einer Hermeneutik und Poetik synthetisierenden ästhetischen Rationalität rekonstruieren. 40 Eine zentrale Rolle spielt in diesem Studium ein Aspekt, der hier, gestützt auf die „traurigen gedancken" sowie auf „unruhe und zweiffei" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 26), die nach der Einsicht in den fehlenden Glauben in Francke ausgelöst werden, als deijenige der Melancholie bezeichnet werden soll. 41 Die Melancholie führt zu einer stufenweisen Ausschaltung aller äußerlichen, im Studium textuale tradierten Sinnangebote. Zunächst wird die systematische Theologie als nichtssagend beiseite gelegt, dann verliert die Bibel ihren Status als „Gottes Wort" und schließlich kommt es zur Leugnung der Existenz Gottes - „damit war alles aus" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 26). Auch die Sprache verliert im Abgrund der Melancholie ihren Sinn und mit ihr die Kommunikation, so daß von einer umfassenden Sinn- und Kommunikationskrise gesprochen werden muß. 42 Was sie übrig läßt, kann als Individualität bezeichnet werden, die sich auf der Körperoberfläche manisch-melancholisch in einer Symptomreihe äußert, zu der Tränen- und Zornausbrüche, ziellose Bewegungen sowie , sinnlose' Sprachhandlungen gehören (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 27). Komplementär zur sukzessiven Tilgung jedes tradierten und kommunikativ vermittelten Sinns ist Franckes Bekehrungserlebnis als Einschießen eines nur für das Individuum relevanten Sinns in die entleerten Kammern des Herzens angelegt. 43 Operator der Entleerung ist die Melancholie, die im Inneren des Individuums alle Traditionsbestände löscht, um die Subjektivität für den Zugriff Gottes neu zu formatieren. 44 Sobald es ernst wird und der Sinnverlust lebensbe-

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Zum Begriff der ästhetischen Rationalität vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983. Ohne Hinweis auf Paetzold wird der Begriff aufgenommen von Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität Kunstwerk und Werkbegriff. München 1997 (Bild und Text 1). Wendland: Bekehrung, S. 213-235, thematisiert den Sachverhalt, den er mit zahlreichen Quellenbefunden belegt, mit Hilfe des Depressionsbegriffs. Die Bedeutung des Melancholiebegriffs für die lutherische Orthodoxie rekonstruiert Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg 1996, S. 90: „Die Melancholie ist [...] teuflische Anfechtung und gleichzeitig Ausdrucksform der göttlichen Traurigkeit nach 2 Kor 7, 10, die eine der höchsten Auszeichnungen des Glaubenden ist, weil ihr alle Verheißungen des eschatologischen Heils gegeben sind." Zum pietistischen Trauergebot und seiner Nähe zur Melancholie vgl. HansJürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 75-81. Fritz Blanke: Die Gottesstunde: Franckes Bekehrung, in: Die Furche 20 (1934), S. 371-385, hier S. 385, spricht sogar von „einer großen europäischen Geisteskrise [...], die uns heute noch in Atem hält." Bei Johann Arndt findet sich der Gedanke, daß Gott keine leere Stätte duldet und daher ein leeres Heiz sofort mit Liebe, Weisheit und Erkenntnis auffiillt; vgl. Peschke: Bedeutung, Sp. 886. Zur Typik der Erfahrung Franckes vgl. Ferdinand van Ingen: Durchbruchserfahrungen. Martin Luther, Jacob Böhme, August Hermann Francke. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Lauftütte zum 60. Geburtstag, hg. v. Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 89-100. Daß die melancholische Anfechtung das Herz zur tabula rasa macht, hätte Francke ζ. B. bei Simon Musäus nachlesen können; vgl. Steiger: Melancholie, S. 37; zur Bedeutung Musäus' für Francke vgl. Matthias: Lebensläufe Franckes, Nachwort, S. 142.

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drohliche Ausmaße annimmt, überflutet plötzlich Gott den vereinsamten Melancholikus mit seiner Sinnfulle und die Sehnsucht nach lebendiger Erkenntnis kommt - wiederum in Fortfuhrung von Überlegungen Luthers - schon zu Lebzeiten in der „überschwengliche[n] Erkentniß Jesu Christi unsers herrn" (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 31) zur Ruhe. 45 Es ist leicht zu sehen, daß man das auch anthropologisch wenden und von der Selbstbesinnung eines von Sprachlosigkeit bedrohten und dadurch radikal auf sich selbst reduzierten Subjekts sprechen kann. 46 Es generiert einen enthusiastischen 47 Sinntyp mit individualisierenden Funktionen. Das stimmt zur Rückkehr der Sprachlichkeit in Franckes Lebenslauf, die in .hymnischen', gewissermaßen prälyrischen Artikulationen wiedergewonnen wird. 48 Im 18. Jahrhundert verdichtet sich das zum Konnex von Muse Melancholie und Therapeutikum Poesie, einem zentralen poetologischen Topos der literarischen Moderne. 49 Hier kommt es vor allem darauf an, daß Franckes Stigmatisierung jedes kommunikativ tradierten oder erzeugten Sinns und seine Option fur einen innovativen und privativen Sinntyp eine ganz bestimmte Vorstellung dessen voraussetzt, wie Kommunikation auf der Basis einer das Individuum erbauenden Sinnfülle funktionieren könnte und müßte. Die privative Sinnerwartung ist insofern aufs engste mit einer Sozialutopie verknüpft, wie sie wenig später zum Beispiel der pietistisch erzogene Johann Gottfried Schnabel in der Insel Felsenburg entwickeln wird. 50 Diese sozialutopische und ästhetische Erwartung vermittelt das Studium textuale,51 vor allem das Collegium Philobiblicum. Im Ablaufschema von sozialutopischer Erwartung, persönlicher Enttäuschung und praxisorientier45

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Auch nach Johann Muehlmanns Flagellum Antimelancholicum von 1618 ist nur in Christus die letztgültige Heilung der Melancholie zu erwarten; vgl. Steiger: Melancholie, S. 71. Bereits Ritsehl: Geschichte, S. 253, hat Francke vorgeworfen, „durch eine eigene Leistung" seine Bekehrung herbeigeführt zu haben. Günther: Psychologie, S. 166, spricht vom Streben des Pietisten nach ,Selbsterlösung' und deckt die im Anspruch auf unmittelbare Gotteserkenntnis angelegte Konkurrenz zum historischen Jesus auf (ebd., S. 171-174). Blanke: Gottesstunde, S. 383, urteilt: „Franckes Vorsehungsglaube ist subjektivistisch verflacht." Nach Hirsch: Geschichte, S. 160, leiten Franckes „psychologische Bestimmungen" des Glaubens zum Frömmigkeitskonzept der Aufklärung über. Zur Relativierung dieses Urteils vgl. de Boor: Erfahrung, S. 137f. Peschke: Bedeutung, Sp. 891, stellt im Lebenslauff wiederholt auftretende „synergistisch deutbare Wendungen" fest, die er vor allem auf Franckes Molinos-Lektüre zurückführt. Vgl. auch Markus Matthias: .Enthusiastische' Hermeneutik des Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens Gespräche des Hertzens mit Gott (1689), in: Pietismus und Neuzeit 17 (1991), S. 36-61, hier S. 4 3 ^ 9 . Für de Boor: Erfahrung, S. 136f., ist die Bildlichkeit Folge des existentiellen Charakters der durch sie repräsentierten Erfahrung. Sie werde aber sofort wieder in die traditionellen Formeln mystischer Frömmigkeit umgedeutet. Zur lyrischen Produktivität des Halleschen Pietismus vgl. Gudrun Busch / Wolfgang Miersemann (Hgg.): „Geistreicher" Gesang. Halle und das pietistische Lied. Tübingen 1997 (Hallesche Forschungen 3). Vgl. Ludwig Völker: Muse Melancholie - Therapeutikum Poesie. Studien zum MelancholieProblem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978. Steiger: Melancholie, S. 46, deckt einen der historischen Kontexte auf: „Die Melancholietherapie der lutherischen Orthodoxie verlangt geradezu nach dichterischer Versprachlichung". Vgl. Ulrich Breuer: Melancholie und Reise. Studien zur Archäologie des Individuellen im deutschen Roman des 16.-18. Jahrhunderts. Münster u. Hamburg 1994 (facies nigra 2), S. 248-275. Vgl. Henningsen: Leben, S. 281-283.

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ter Erfüllung ist schließlich auch die Einheit des Lebenslauffs begründet. Sobald nur der zweite Teil, der die Phasen der Enttäuschung und Erfüllung thematisiert, rezipiert wird, geht der Zusammenhang mit der ästhetisch und sozialutopisch motivierten Erwartung lebendiger Erkenntnis als dem spezifischen Effekt philologischer Studien verloren. Insofern überdies die Erfüllung dieser Erwartungen den Übergang von der Rezeption zur Produktion eines enthusiastischen Sinntyps mit erbaulicher Wirkung ermöglichen und begründen sollte, droht die Auftrennung des Textes auch den engen Nexus zu zerstören, der im Begriff der lebendigen Erkenntnis Hermeneutik, Poetik und Ästhetik verknüpft und sozialutopisch ausrichtet.

3. Franckes Lebenslauff im Bekenntnisdiskurs Wie fügt sich schließlich der Lebenslauff in die Geschichte der Bekenntnisliteratur ein? Als Ausgangspunkt kann Franckes eigene Bestimmung der Intention des Textes dienen, mit der er von der Darstellung seiner Kindheit zu deqenigen seiner philologisch-theologischen Studien überleitet. Sie beginnt mit dem Satz: „Dieses muß ich Gott zum preiß von meinem gantzen Leben bekennen." (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 6) Der Satz kennzeichnet den Rückblick auf das ganze bisherige Leben, der es allererst zur Einheit ausformt,52 als Bekenntnis, das sich aber, anders als Augustins Confessiones, nicht an Gott und die Menschen sondern ausschließlich an letztere wendet.53 Das Bekenntnis Franckes besteht letztlich in der Präsentation eines exemplarischen, auch aus der Perspektive lutherischer Autoritäten sinnvollen und erfolgreichen Theologiestudiums mit philologischer Ausrichtung.54 Es setzt nach Francke voraus, daß die eigene Seele zwischen den Polen Gott und Welt immer wieder neu adäquat positioniert wird. Francke hat erlebt, daß sie nur in der schwer durchzuhaltenden Zuwendung zu Gott unschuldig und mit sich identisch blieb, während sie immer dann, wenn sie ihrer natürlichen Trägheit folgte und sich dem negativ besetzten Welt- und Gesellschaftspol zuwandte, mit Orientierungsverlusten, gescheiterten Erwartungen und Selbstverkennung bestraft wurde. Das soll sein Lebenslauf zeigen. Das Bekehrungserlebnis hat lediglich die Funktion, die Ausrichtung der Seele auf Gott dauerhafter als bisher zu etablieren und sie mit einem unüberbietbaren Evidenzgrad auszustatten.55

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Vgl. zu dieser Formulierung ebd., S. 274. Sie ist nicht zufallig Bestandteil der Autobiographie-Definition von Günter Niggl: Autobiographie, in: Literatur Lexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 13. Gütersloh u. München 1992, S. 58-65, hier S. 58. Zur Mehrfachadressierung der Confessiones vgl. Ulrich Breuer: Bekenntnisse. Diskuis Gattung - Werk. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Finnische Beiträge zur Germanistik 3), S. 177f. Francke kennt durchaus das Bekenntnis gegenüber Gott (Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 22), so daß man von einer bewußten Entscheidung gegen die dreifache Adressierung der Bekenntnisse Augustins sprechen kann. Zu Franckes Reform des Theologiestudiums und zu ihren Folgen vgl. Wallmann: Pietismus, S. 72-75. Vgl. Graevenitz: Innerlichkeit, S. 14*: „Die Welt ist dabei Schauplatz der Öffentlichkeit, auf die das Franckesche Private auch bezogen blieb, als es sich vorübergehend aus ihr zurückzog."

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Franckes Bekenntnis erweist sich damit als Variante des gnostischen Mythos.56 Auch dieser erzählt von der Seele, die ihre göttliche Heimat verlassen hat und in die böse Welt verbannt worden ist. Nur die Rückkehr zu Gott kann sie daraus wieder erlösen. Voraussetzung der Erlösung ist nach Auffassung der Gnosis, wie auch nach Franckes Lebenslauff, die lebendige Erkenntnis. Sie ist nicht nur das zentrale Thema dieses Textes, sondern umschreibt auch die von ihm beabsichtigte Wirkung. Ebenso wie Francke im autobiographischen Rückblick erkennt, daß sein Leben erst durch die Zuwendung zu Gott sinnvoll wurde, sollen die Leser des Textes durch die Lektüre belebt und erbaut werden. Unter den intendierten Lesern ist besonders August Hermann Francke selbst zu vermuten, der durch die Niederschrift seines literarischen Bekenntnisses die Geschichte seiner Selbstbesinnung memorierbar macht und dadurch die Evidenz im Augenblick auf Dauer stellt.57 Das markiert zugleich die Differenz des Lebenslauffs zum gnostischen Mythos. Denn im Unterschied zu diesem geht es Francke nicht um die Zerstörung und Vernichtung der bösen Welt, sondern um die Erbauung und Stabilisierung58 des Subjekts in ihr und um dessen optimale Ausbildung,59 die allerdings unter einem generellen Weltvorbehalt steht. Das wird vor allem im Einsatz der Gelehrtenautobiographie deutlich, die den ersten Teil des Lebenslauffs strukturiert.60 Sie empfiehlt die philologischen Studien und in ihrem Zentrum die Sinnflage als besonders geeignete Mittel, in höchste Not zu geraten. Erst die Not des Lesers veranlaßt Gott zum Eingreifen und davon erzählt Francke im Rückgriff auf das erbauliche Bekenntnismodell Augustins und dessen Bekehrungserlebnis im Mailänder Garten.61 Vor allem der Einsatz des etablierten Schemas der Gelehrtenautobiographie fuhrt in Franckes Lebenslauff zu einer Betonung persönlicher Leistungen und Verdienste62 und verhindert dadurch, daß die Tendenz zur Selbstauslöschung, die fur Augustins Confessiones charakteristisch ist, auch Franckes Bekenntnis dominiert. Als Bekenntnistext steht der Lebenslauff vielmehr im Zeichen der Selbstbesinnung, wobei das Subjekt als eine Art Sinnfabrik fungiert. Der gnostische Mythos wird dadurch invertiert. Am Ende des Lebenslauffs zeichnet sich aber auch bereits schemenhaft das Bekenntnismodell Rousseaus ab. Francke weist dort darauf hin, daß seine Lebensführung nach der Bekehrung in hohem Maße den Haß und die Feindschaft

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Vgl. zum Kontext Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt a. M. 1987, S. 352-365. Für Blanke: Gottesstunde, S. 382, gilt: „Francke kommt von seinem subjektiven Erleben her und sucht ihm nachträglich ein objektives Rückgrat zu geben." Zur Adressierung des Lebenslauffs vgl. auch Matthias: Lebensläufe Franckes, S. 138-141. Henningsen: Leben, S. 280, spricht von der .Stabilisierungsfunktion' des Lebenslauffs. Zur pädagogischen Leistung Franckes und ihrem Kontext vgl. Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 46-56. Vgl. zu ihren Voraussetzungen Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1995 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29). Zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden vgl. Aland: Bemerkungen, S. 555-559. Vgl. Graevenitz: Innerlichkeit, S. 19*f.

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der Welt erregt hat. Er sieht in dieser Paratheorie den wichtigsten Beweis für die Wahrheit seines Erlebnisses und die Gnade Gottes. Eben diese Figur der verfolgten Unschuld werden Rousseaus Confessions zum Selbstgericht steigern. Rousseau macht sich literarisch selbst den Prozeß, in dessen Verlauf er die gesamte (europäische) Schriftkultur anklagt und schuldig spricht.63 Hier erst werden die sozial-, literatur- und kulturkritischen Potentiale vollends hervorgetrieben, die in Franckes Lebenslauff nur erst angelegt sind.

4. Fazit Am Beispiel von Franckes Lebenslauff wurde die Transformation der Erbauungsliteratur um 1700 untersucht. Erbauung wird in diesem Zeitraum zu einer Leistung der Rezipienten, wobei sich der Sinn der Texte von der Materialität der Zeichen ablöst. Die Produktion von Texten mit erbaulichem Sinn wird dadurch zum Problem. Francke löst es durch die Verbindung von Textverstehen und Textproduktion in der Person des Autors. Dazu benötigt er das Konzept der lebendigen Erkenntnis. Es geht auf Luthers Anthropologie und den reformatorischen Spiritualismus zurück, fundiert Hermeneutik und Poetik in der Ästhetik und übernimmt kirchenkritische und sozialutopische Funktionen. Durch philologische Studien läßt sich diese Erkenntnisform partiell befördern. Sie erzeugen einen unabweisbaren Bedarf an privativem, individuellem Sinn, dessen Abwesenheit in Phasen der Melancholie schmerzlich bewußt wird und der nur ,νοη außen' gewährt werden kann. Sobald das Subjekt diesen Sinn erfahrt, artikuliert es sich in hochgradig individualisierten, protolyrischen Mitteilungsformen. Ausgehend von der zentralen Bedeutung des Sinnproblems in Franckes Lebenslaufftieß sich dieser abschließend in den Bekenntnisdiskurs einfügen. Während Augustins Confessiones die Figur der Selbstauslöschung und Rousseaus Confessions die des Selbstgerichts exponieren, geht es in Franckes Bekenntnissen um einen Versuch der Selbstbesinnung, der das lesende Subjekt zur Sinnfabrik werden läßt und dadurch den gnostischen Mythos invertiert. Das scheint zugleich die Figur zu sein, in der die Erbauungsliteratur an das 18. Jahrhundert weitergereicht wird. In dem Maße, in dem ihre hermeneutischen, poetologischen, ästhetischen und sozialutopischen Komponenten ausdifferenziert werden, verliert sie an spezifisch religiöser Geltung. Insofern gestattet Franckes Lebenslauff einen ersten Blick durch eine Tür, hinter der seit dem 18. Jahrhundert vor allem ,wir Philologen' sitzen.

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Vgl. Breuer: Bekenntnisse, S. 181-219.

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (lat./dt.), übers, und hg. v. Heinz Paetzold. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 352). Chladenius, Johann Martin: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften. Leipzig 1742 (Nachdr. Düsseldorf 1969). Eisler, Tobias: Unterschied zwischen der Innerlichen lebendigen und Aeuserlichen buchstäblichen Erkäntniß Jesu Christi, Als des Einigen, wahren und selbständigen Worts Gottes, Das allen Menschen nahe ist in ihrem Mund und Herzen: nach Rom 10.0.O. 1720. [Francke, August Hermann:] Des seel. Herrn Professoris Franckens zu Halle Bekehrungs= Historie, in: [Johann Jacob Moser:] Altes und Neues aus dem Reich Gottes [...]. Bd. 3. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1733, S. 56-69. Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Josef Nadler. Bd. 2. Wien 1950. Hoburg, Christian: Theologia mystica, das ist: Verborgene Krafft-Theologie der Alten, anweisend den Weg, wie auch der einfeltigste Mensch zum lebendigen Erkentnis, ja zur Gemeinschafft seines Gottes [...] kommen kan. 3 Bde. Amsterdam 1655-56. Kant, Immanuel: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 8 u. 11. Frankfurt a. M. 41982. Kurtze, iedoch gründliche Nachricht, von dem sehr merckwürdigen und erbaulichen Lebens= Lauffe Des weyland Hoch=Ehrwürdigen, in GOtt Andächtigen und Hochgelehrten Herrn, Herrn August Hermann Franckens [...]. Büdingen 1728. Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 151-237. Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bomkamm u. Gerhard Ebeling. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 239-263. Matthias, Markus (Hg.): Lebensläufe August Hermann Franckes. Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus 2). Starcke, Christoph: Eine sechsfache Ordnung des Heyls [...] Nebst angehängter Ordnung der Biblischen Historien, zu Beförderung der lebendigen Erkaentniß. Berlin 1724.

Sekundärliteratur Aland, Kurt: Bemerkungen zu August Hermann Francke und seinem Bekehrungserlebnis, in: ders.: Kirchengeschichtliche Entwürfe. Alte Kirche - Reformation - Pietismus. Gütersloh 1960, S. 543-567. Bertolini, Ingo: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus. Diss. Wien 1968. Blanke, Fritz: Die Gottesstunde: Franckes Bekehrung, in: Die Furche 20 (1934), S. 371-385. Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart Wetzlar 1982. Boor, Friedrich de: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis Α. H. Franckes als Grundlage für den Kampf des Hallischen Pietismus gegen die Aufklärung, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, hg. v. Heinrich Bornkamm. Bielefeld 1975, S. 120-138. Brenner, Peter J.: Das Problem der Interpretation. Eine Einfuhrung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 58). Breuer, Ulrich: Melancholie und Reise. Studien zur Archäologie des Individuellen im deutschen Roman des 16.-18. Jahrhunderts. Münster u. Hamburg 1994 (facies nigra 2). - Bekenntnisse. Diskurs - Gattung - Werk. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Finnische Beiträge zur Germanistik 3). Busch, Gudrun / Wolfgang Miersemann (Hgg.): „Geistreicher" Gesang. Halle und das pietistische Lied. Tübingen 1997 (Hallesche Forschungen 3). Eybl, Franz M.: Predigt / Erbauungsliteratur, in: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, hg. v. Albert Meier. München 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2), S. 401-419.

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Erkenntnis

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Für erbauliche Lektüre und höfische Feste geeignet Die Verbindung von Erbauung und Bukolik in der Literatur des 17. Jahrhunderts

„Astrea schön! / ich laß dich stehn: den Seelen-Hirt zu lieben. [...] Liebhaber / weicht! Dann keiner gleicht | dem Herren Christ / im Lieben". So schreibt Catharina Regina von Greiffenberg in ihrer Andachtbereitung / zur Betrachtung des H. Leidens Christi mit dem Untertitel: Als ich die französische Astree - also den großen französischen Schäferroman von Honore d'Urfe - beyseit gelegt.1 Die den Nürnberger Pegnitzschäfem assoziierte Autorin hatte ihr ganzes Leben und Dichten unter die Annäherung an Gott gestellt. Mit ihren Zeilen wendet sie sich gegen die französischen Liebes- und Gesellschaftsromane der Zeit und setzt an deren Stelle die Hinwendung zu Gott.2 Sie verwendet dabei ein Vokabular, das wir auch in einem Liebesgedicht mit schäferlichem, bukolischem Dekorum finden könnten.3 Der Gedichtausschnitt beschreibt in nuce die Situation, die uns im folgenden beschäftigen wird: die Engführung von bukolischem Decorum / bukolischen Handlungselementen mit einer kontemplativen Innenschau zur „Stärkung des persönlichen Christseins", wie die RGG unter Rückgriff auf Spener Erbauung beschreibt.4 Eine Engführung, die wir in der religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts von Opitz über Zesen bis Angelus Silesius, Friedrich Spee von Langenfelde Laurentius von Schnüffis, Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Konrad Heinrich Viebing, Johann Khuen u. a. m. immer wieder finden. Dabei sind die bukolische und die der Erbauung dienende Literatur auf den ersten Blick zwei Bereiche, die entgegen-

Catharina Regina von Greififenberg: Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte. München 1662. Nachdruck mit einem Nachwort von Heinz-Otto Burger. Darmstadt 1967, S. 265-266. Vgl. zu diesem Themenkreis auch Peter M. Daly: Catharina Regina von Greiflenbeig und Honori d'Urfe. Einige Bemerkungen zur Frage von Calharinas Rezeption der Schäferdichtung, in: Schäferdichtung. Referate der fünften Arbeitsgruppe beim zweiten Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur vom 28.-31. August 1976 in Wolfenbüttel, hg. v. Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977 (Dokumente des internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 4), S. 67-84. Ihr als „Deoglori" definiertes Lebenskonzept, die „Bemühung um ein Leben in möglichst vollkommener kontemplativer Gemeinschaft mit Christus, das alles, Freude, Bedrängnis, als von ihm gesandt oder um seinetwillen an- und aufnimmt", beschreibt Laufhütte an Hand ihrer Korrespondenz mit Birken. Vgl. hierzu: Hartmut Laufhütte: Die religiöse Dimension der Freundschaft zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. v. Dieter Breuer. Bd. 2. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 455-466, hier S. 458. Sigmund von Birken argumentiert mit einer ähnlichen Mischung aus mystischem und bukolischem Liebesvokabular, wenn er in seiner Vor-Ansprach zu Greiffenbergs Gedichtsammlung von 1662 formuliert: „Sie flammet in himmlischer Liebesglut gegen ihrem ewigen Seelen-Liebhaber." (v. Greiffenberg: Sonnette, S. P.). Martin Doeme: Erbauung 2. a), in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2., 3., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 1958, Sp. 539-540, hier Sp. 539.

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gesetzter gar nicht sein könnten. Ist doch einer der Kernbereiche der bukolischen Literatur die Erotik, die „fleischliche Lust", und einer der Kernbereiche der Erbauung die Übung gerade in der Abkehr von den Affekten. Dennoch dienen bukolische Kontexte im 17. Jahrhundert immer wieder der Beschreibung religiöser Prozesse.

Antike Eklogen als Heilsgeschichte und biblische Geschichten als bukolische Dichtung Nun ist, seit Konstantin I. die vierte Ekloge Vergils, die die Geburt eines Knaben feiert, heilsgeschichtlich interpretierte, die Eklogendichtung der Antike offen für eine christliche Allegorese.5 Möglich war dies, da der Schauplatz der Eklogen (eine frühlingshafte Naturlandschaft) und seine Bewohner (Hirten) eine große Nähe zu dem Schauplatz der Geschichten aus dem Alten Testament und seiner ebenfalls agrarischen Bevölkerung haben. So griffen die jeweiligen Autoren fur die Reminiszenzen an die goldene Zeit und die Präfiguration des Paradieses zur Beschreibung dieser utopischen Orte auf einen vergleichbaren Schatz frühlingshafter Naturdarstellungen zurück. Es sind im Alten Testament die Autoren der Psalmen und im Neuen Testament die Beschreibungen der Weihnachtsgeschichte mit den Hirten auf dem Felde bei den Schafen und der Geburt im Stall bei Ochs und Esel, die das bukolische Ambiente verstärkt aufnehmen. Nicht nur antike Vorbilder, auch der bäuerliche Kreis der Rezipienten dieser Texte führten dazu, daß das Verhältnis von Gott zu seinem Volk und Jesus zu seiner Gemeinde als ein Verhältnis zwischen Hirt und Schafherde beschrieben wurde. Für die meisten Autoren des 17. Jahrhunderts waren die biblischen Geschichten durch die Rezeption der antiken Eklogenliteratur so überlagert, daß sie sich bei der zum Teil aus diesen Geschichten hergeleiteten geistlichen Dichtung, wo immer es möglich war, einer Bildlichkeit bedienten, die der bukolischen Dichtung entstammte. Der Gute Hirte, der Pastor bonus der Bibel, und der Treue Hirte, der Pastor fido6 der bukolischen Dichtung der italienischen Renaissance, wurden so in der literarischen Darstellung miteinander verbunden.

Bukolische Dichtung und mystische Traditionen Allerdings definiert sich bukolische Dichtung nicht allein über ihren Schauplatz, sondern auch über eine Reihe von Handlungs- und Argumentationselementen. Dies ist neben dem Stadt-Land-Gegensatz und einer damit verbundenen Friedensutopie im amoenen Raum hauptsächlich der Liebesdiskurs und seine litera-

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Hans-Joachim Mähl: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung 7), S. 103f. Vgl. auch Rolf Bachem: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn 1956, S. 19-33. So die Bezeichnung des Titelhelden des zweiten vorbildhaften italienischen Schäferspiels, das von Battista Guarini Ende des 16. Jahrhunderts geschrieben wurde.

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rischen Formen der Liebesklage, der Schönheitsbeschreibung und des Streitgesprächs. Für diese Formen wurden zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert vor allem im italienischen Raum poetische Muster entwickelt, die außer durch das bukolische Decorum durch petrarkistische Argumentationen und neuplatonische Diskurse geprägt sind. Mit dem Themenkomplex der Partnerwahl, diesen „thörichten Liebesfantzen" - wie Harsdörffer sie nennt7 - allerdings geraten die Schäferromane und Schäferspiele, die sich aus der antiken Eklogenform ausdifferenziert hatten und im 17. Jahrhundert auch in Deutschland den literarischen Markt eroberten, unter das Verdikt von Teilen der Literaturkritik der Zeit. Dies wird aus den Worten des protestantischen Pfarrers Konrad Heinrich Viebing deutlich, der im folgenden Zitat seine eigene geistliche Schäfferey von den profanen Texten absetzt: Sie [die Schäfertexte; d. Verf.] handeln gemeiniglich von Weltlicher / das ist / törichter : Liebe. [...] Es dienet die Zeit (ach die teure Zeit) zu verkürtzen / Fleisch und Blut zu kützeln / die Liebe und Lust zu lokken / die sich doch ohngebehten / mehr alß zu frühe von sich Selbsten einstelltet.8

Die Liebesthematik hat jedoch durchaus auch eine religiöse Komponente. Gerade der Bereich der Erbauungsliteratur, der sehr stark auf das kontemplative Zwiegespräch setzt, bedient sich seit Bernhard von Clairvaux für die Beschreibung der Annäherung an Gott, der mystischen Erhöhung und Verschmelzung eines Liebes-und Werbungsvokabulars, wie es aus der profanen Dichtung bekannt ist. Grund dafür ist, daß es an einer adäquaten Begrifflichkeit für die Beschreibung des nicht Beschreibbaren fehlt. Für die Darstellung der Annäherung zwischen Seele und Christus übernimmt auch die auf religiöse Erbauung setzende Literatur des 17. Jahrhunderts - unabhängig von der jeweiligen Konfession - die aktuellen und beliebten rhetorischen Mittel der Gestaltung, die in dieser Zeit Liebe fast ausschließlich in einem bukolischen Ambiente darstellt. So hatten es ζ. B. die großen spanischen Mystiker des 15. Jahrhunderts Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz vorgemacht, und hieran orientierten sich auch Autoren wie Laurentius von Schnüffis und Angelus Silesius.9 In Silesius' heilige[r] Seelenlust / Oder Geistliche Hirten-Lieder / Der in ihren Jesum verliebten Psyche (Breslau 1657) ruft die Seele ihrem Bräutigam zu: Jesu du mächtiger Liebes=Gott | Nah dich zu mir: | Denn ich verschmachte fast bis in Tod | Für Liebs=Begiehr: | Ergreiff die Waffen / und in Eil | Durchstich mein Hertz mit deinem Pfeil /1 Verwundt mich.10

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Philipp Georg Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, hg. v. Irmgard Böttcher. IV. Tl. Nürnberg 1644. Tübingen 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 16), S. 76. So Viebing in der Vorrede zum ersten Band seiner eigenen geistlichen Schäferei: Der Unvergleichen / Wunderschönen aller Tugend Vollenkommesten Weisemunden Lebens= und Leidens=Geschicht. Helmstedt 1680, S. a5v. Vgl. Guillaume van Gemert: Teresa de Avila und Juan de la Cruz im deutschen Sprachgebiet. Zur Verbreitung ihrer Schriften im 17. und im 18. Jahrhundert, in: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, hg. v. Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 2), S. 77-107. Angelus Silesius: „Sie begehret verwundet zu seyn von jhrem Geliebten". Zitiert nach: Albrecht Schöne (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. München 1963 (Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 3), S. 169.

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Hier wird Christus zum Cupido und begehrten Mann gleichzeitig gemacht und eine Fülle von zum Teil widersprüchlichen Bildern evoziert, die ihre Herkunft in der Tradition der bukolischen Literatur haben und die unter dem Aspekt der Paradoxic der mystischen unio hier zusammengeführt werden können. Weltliche und himmlische Lust werden vereint. Spee von Langenfelds Brautmystik in seiner Trutz Nachtigal, Oder Geistlichs-Poetisch Lust-Waldlein (1649) dagegen geht wahrscheinlich nicht auf die Spanier zurück," sondern auf eine andere Quelle, die für die bukolische Bildlichkeit offen war: Das Hohe Lied. Die Salomon zugeschriebenen Liebesgesänge der Sulamith und des Salomon spielen in einem ländlichen Raum und waren damit prädestiniert für eine stärkere Annäherung an die Schäferliteratur. Für die christlichen Theologen spricht der Text von der Liebe Gottes zu seiner Kirche oder - unter mystischem Zugriff - eben von der Liebe Christi zur menschlichen Seele. Martin Opitz hat die von ihm so genannten Himmlische[ri\ Hirtenlieder12 für die deutsche Literatur in den bukolischen Kanon eingeschrieben und hat sie auch durch seine Vorrede ganz bewußt dort angesiedelt. Denn er behauptet von Salomon, dieser habe als einer, „der von einem andern Geiste weder die Heidnischen Poeten angeblasen wirdt / an diesem Orte alle ziehr / art vnd eygenschaffi der Eclogen oder hirtengetichte begrieffen [.. .]."13 „Es sind /", so fahrt Opitz fort, „hierbey keine andere Personen als hirten / kein andere worte als von der Liebe / keine vergleichungen vnnd exemple als vom Felde genommen."14 Und dies sind für ihn, vergleicht man diese Aussage mit der Definition der Eklogenliteratur in der Deutschen Poeterey, die entscheidenden Kriterien für diese Gattung.15 Es sind vor allem die Verse Sulamiths am Ende des 7. Gesanges, die nach Opitz auch den anderen Bearbeitern des Textes die Möglichkeit zu Einpassung in die Argumentation bukolischer Literatur gaben. Hier schlägt sie - in der Übersetzung von Luther - vor: „Kom, mein Freund, laß uns auf das Feld hinaus gehen und auf den Dörfern bleiben", und ihr Vorschlag wird von Opitz genutzt, um den Stadt-Land-Gegensatz stärker auszubauen und eine Stadtkritik einzufügen: „Komm / Hertze / komm; laß vns zu Felde bleiben | In feister Rhue / vnd da die zeit vertreiben. | Wir lassen nur der Stadt nicht=rechten=schein / | Ihr eitles thun vnd falsche Frewde sein."16 Und Anton Ulrich setzt dies in der Wiedergabe des Kapitels in seinem ChristFürstlichen Davids-Harpfen-Spiel fort, indem er den locus amoenus weiter ausführt und gestaltet: „Entfliehe / Ο Seele / verlasse die Welt /1 kom eiligst zu wohnen im himmlischen Feld! 2. Führ mich / mein Schatz / in einen kühlen Thal / ] zu einer Was-

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Vgl. van Gemert: Teresa de Avila, S. 102. Martin Opitz: Salomons | Des Hebreischen Königes | Hohes Lied, in: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Berend. IV. Bd.: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. 1. Tl. Stuttgart 1989 (Bibliothek des Literarischen Vereins 312), S. 8-39, hier S. 17. Opitz: Hohes Lied, S. 16. Opitz: Hohes Lied, S. 16. „Die Eclogen oder Hirtenlieder reden von schaffen / geißen / seewerck / emdten / erdgewächsen / fischereyen vnnd anderem feldwesen; vnd pflegen alles worvon sie reden / als von Liebe / heyrathen / absterben / buhlschaflten / festtagen vnnd sonsten auff jhre bäwerische vnd einfältige art vor zue bringen." Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624), hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 28. Opitz: Hohes Lied, S. 37.

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ser=quell / die mir mein Herz erlabe".17 Er fügt damit eine zweite Ebene ein: die himmlische Welt, die die Funktion des locus amoenus übernimmt, während die Welt zum locus terribilis degradiert wird.18 Opitz hat der bukolischen Literatur im deutschen Sprachraum den Boden bereitet,19 und er hat mit der Hohelied-Übersetzung die Integration des antiken Formenschatzes in die christliche Dichtung seinen Zeitgenossen aktuell vorgeführt, die dieses gerne aufiiehmen. So läßt dann Laurentius von Schnüffis die Seele als Schäferin nach ihrem Christus, ihrem Dafiiis, schmachten und allen anderen Schäfern eine Absage erteilen: „Umb einen Coridon, | Der sterblich | werd ich waschen die Wangen nie: Daphnis, mein' einzige Begird | Auff ewig mich erfrewen wird."20

Die Schäferspiele von Georg Philipp Harsdörffer und Anton Ulrich von Wolfenbüttel zwischen erbaulicher Lektüre und höfischer Repräsentation Das Eindringen der antiken Mythologie in die Literatur, das auch von der Schäferliteratur befördert wurde, bereitete einigen Autoren und Lesern aber ideologische Probleme, da die mythologischen Geschichten nicht nur als hübsche Erzählungen oder literarische Allegorien gelesen wurden, sondern durchaus auch als Präsentation einer gefahrlichen Gegenwelt zur christlichen Dreifaltigkeit rezipiert werden konnten.21 Es stellte sich daher nicht nur die Frage, was es eigentlich für einen Sinn macht, sich im Angesicht der Ewigkeit mit den Liebesgeschichten des Pan zu beschäftigen, sondern vor allem auch, wie man diese Traditionen produktiv weiterverarbeiten konnte, damit sie mehr als eine anmutige Reminiszenz waren oder Besseres als eine teuflische Bedrohung darstellten. Zumindest für das Schäferspiel hat Harsdörffer im Bereich der protestantischen Literatur diesen Weg gezeigt. Er hat in seinem auf eine christliche Dichtung ausgelegten Literaturkonzept,22 das aus allen seinen Publikationen spricht, im-

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Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel: Himlische Lieder und Christfürstliches Davids-Harpfen-Spiel. Mit einer Einfiihiung von Blake Lee Spahr, hg. v. Wolfgang F. Taraba. New York u. London 1969, S. 75. Dazu auch die Bearbeitung durch Philipp von Zesen in: Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 1, 2. Berlin u. a. 1993 (Ausgaben Deutscher Literatur des XV-XVIII. Jh.), S. 85—194. Vgl. hierzu auch: Elfriede Eikel: Die Entstehung der religiösen Schäferlyrik. Von Petrarca bis Spee. Diss. phil. Heidelberg 1956, S. 24-38. Von ihm stammen die Eindeutschung der ersten Schäferoper Daphnis (1627), die Entwicklung und Etablierung der Prosaekloge mit der Hercinie (1630) und die einschlägige Übersetzung des englischen Schäferromans Arcadia von Sidney (1638). Laurentius von Schnüffis: Clorinda die Schönheit ihres himmlischen Bräutigambs Betrachtende / befindet / daß alle Schönheiten diser Welt nur Kath geegen ihme seyen. Zitiert nach: Christian Wagenknecht (Hg.): Gedichte 1600-1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. München 1969 (Epochen der deutschen Lyrik 4), S. 309. Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons, in: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u.a. 1991 (Iris 1), S. 23-81. Vgl hierzu ζ. B. Jörg-Ulrich Fechner: Harsdörffers „Poetischer Trichter" als Poetik geistlicher Dichtung, in: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u.a. 1991 (Iris 1), S. 143-162.

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mer wert auf die allegorische Ausdeutbarkeit gerade des bukolischen Schrifttums gelegt,23 und er hat in den Frauenzimmer-Gesprächspielen ein Konzept für eine christlich-bukolische Dramatik entwickelt, die ganz besonders dem Aspekt der Erbauung Rechnung trägt. Es war zwar schon, seitdem Myrtill, der Schäfer aus Guarinis Pastor Fido, bereit war, für seine Amarillis den Opfertod auf sich zu nehmen, immer wieder möglich, Schäferspiele auch als heilsgeschichtliche Allegorie zu lesen,24 Harsdörffer aber hat in seinem Entwurf eines christlichen Schäferspiels auf die profane und gesellschaftliche Seite der meist sehr standardisierten Handlungsabläufe25 dieser Texte ganz verzichtet. Das vierte Buch der Frauenzimmer-Gesprächspiele beginnt mit einer an Francis Bacon orientierten Auslegung der antiken kleinen Mythen um Pan, Perseus und Bacchus als allegorische Präfigurationen eines christlichen Weltbildes,26 an die sich eine eher literaturtheoretische Diskussion anschließt, ob es möglich sei, in deutscher Sprache ein diesen Mythen ähnliches, für die spekulative Allegorese offenes Wald=Trauer= oder Freuden=Gedicht, d. h. Schäferspiel, zu schreiben.27 Es ist Vespasian, der dafür dann die Lizenz erteilt und dabei auf das gleiche Wort- und ein ähnliches Argumentationsfeld zurückgreift, das dem Begriff der Erbauung bei Petrus zu Grunde liegt,28 wenn er sagt: „Es ist wohl zugelassen von den Alten eingefallenen Gebäuden die Steine zu Aufführung neuer Häuser zu gebrauchen."29 Reinhold bzw. Harsdörffer schreibt im folgenden mit Seelewig ein Schauspiel, das an die heilsgeschichtliche Allegorese antiker Göttergeschichten anknüpft, indem es die Beziehimg zwischen Gott und Mensch als ein Schäferspiel gestaltet. Es geht um die im Alltagsprozeß immer wieder zu erinnernde Ausrichtung der Seele auf Gott, die, sobald sie aus dem Gedächtnis gerät, alles menschliche Tun sich in Teufelswerk verwandeln läßt, oder wie es im Text heißt: Ein geistliches Waldgedicht. [...] darinnen vorzustellen / wie der böse Feind den frommen Seelen / auf vielerley Wege nachtrachtet / und wie selbe hinwiderumb von dem Gewissen und dem Verstände / durch Gottes Wort / vom ewigen Unheil abgehalten werden.30

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„Wann in dem Hirtenspiel ein verborgner Verstand verhüllet / so kan es nicht nur belustigen / sondern auch lehren dahin der Poet billich zielen soll", schreibt Harsdörffer im Poetischen Trichter (2. Tl. Nürnberg 1648, Reprint Darmstadt 1969), S. 101. Eines dieser Spiele empfiehlt Harsdörffer im Poetischen Trichter wegen seiner Prosaform mit sangbaren Chorliedern. Es ist August Augspurgers Schäfferey (1644) nach französicher Vorlage. Allerdings genügte dieser Text Harsdörffer sicher nicht nur aus formalen Gründen. Breiter angelegt als die italienischen Vorlagen deutscher Schäferspiele wird hier bei Montchrestien und Augspurger die heilsgeschichtliche Komponente thematisiert. Vgl. Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten und Editionen zur mittleren deutschen Literatur N. F. 2), S. 222-223. Vgl. zu den immer gleichbleibenden Handlungsabläufen Caemmerer: Cupido, S. 67-68. Vgl. hierzu auch Berns: Gott, S. 57-56, S. 66-68. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele IV, S. 73 (19). Und auch ihr, als die lebendigen Steine, bauet Euch zum geistlichen Hause (1. Petr. 2, 5). Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele IV, S. 74 (30). Vgl. hierzu auch Anm. 28. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele IV, S. 77 (33).

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Harsdörffers Text spielt nicht nur in einem locus amoenus, er zeigt auch alle die für ein Schäferspiel spezifischen Personenkonstellationen, Handlungselemente und argumentativen Topoi. Ein Satyr mit Namen Trügewalt (der Teufel) hat sich in eine Schäferin Seelewig (die Seele) verliebt und bittet seine Mithirten Künsteling, Reichimuth und Ehrelob, für ihn um sie zu werben. Die Schäferin ist zögerlich, aber ihre gute Freundin Sinnigunda (die Sinne), die im Satyr eher den Hirten sieht, rät ihr zu, ihre Kinderfrau Gewissulda (das Gewissen) und eine andere gute Freundin Hertzigild (die Vernunft) dagegen ab, die Werbung anzunehmen. Der Satyr/Hirt versucht, sie beim Blindekuhspiel zu erobern. Im letzten Augenblick gelingt es der Kinderfrau, Seelewig vor einer Vergewaltigung durch den Teufel zu retten. Harsdörffer hat, indem er christliche Heilsgeschichte in ein bukolisches Ambiente einschreibt und damit die alten Topoi zu „lebendigen Steinen" in einem „geistlichen Haus" macht,31 einige Veränderungen an den typischen Lesarten der Textsorte Schäferspiel vorgenommen. Nicht der gute bzw. treue und treuliebende Schäfer32 ist nun der männliche Hauptdarsteller, sondern der Satyr. Damit wird eine eher marginale Episode aus den Stereotypen der Schäferspiele ins Rampenlicht gerückt: der Satyr, der eine Schäferin mit seiner sexuellen Gier verfolgt. Wird die zum Teil durchaus .dramatische' Handlung dieser Spiele im allgemeinen in das milde Licht eines in seiner Grundstimmung friedfertigen locus amoenus getaucht, so wird dieser Ort hier aus seiner ausschließlich positiven Lesart herausgenommen. Er ist nicht mehr eine Präfiguration des Paradieses oder der goldenen Zeit, sondern er wird zum Synonym für die Welt als Kampfplatz des Guten und Bösen um die menschliche Seele. Hier entscheidet sich, ob Güter wie Reichtum, Ehre und Wissenschaft an der Seite des Satans zur selbstverliebten Wissenschaft, gefahrlichen Ehrsucht und zum „Geldgeiz" mutieren oder als „himmlische Wissenschaft", „Reichthum der Ausserwehlten" und „Ehre der Englischen Herschaaren" Ziel des Strebens der menschlichen Seele sind.33 Mit Harsdörffer hat die bukolische Utopie der Schäferspiele als Reich der Liebe und des Friedens ihre Eindeutigkeit verloren. Die Ambivalenz, die Harsdörffer seinem locus amoenus und dem Personal, das in ihm zu Hause ist, einschreibt, prägt den Ort und die Figuren auch in den nachfolgenden allegorischen Schauspielen ζ. B. von Sigmund von Birken - Psyche und Margenis und Anton Ulrich - Amelinde und Selimene - , wo sich im schäferlichen Ambiente nun die menschliche Schwachheit, so in Psyche, oder die christliche Heilswelt, in Amelinde, zeigen kann. Die einzelnen Textpassagen und Lieder, die bei Harsdörffer die Geschichte transportieren, sind hoch artifiziell und bedürfen durchaus der heilsgeschichtlichen Auslegung durch Frau Julia.34 Aber sie eignen sich auch für das erbauliche SichVersenken in die jeweilige Textpassage, das durch eine interpretierende Überschrift,

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Vgl.Anm.28. Zur Typologie des Personals und ihrer geschlechtlichen Ungebundenheit vgl. Caemmerer: Cupido, S. 67f. Harsdörffer: Frauenzimmergesprächspiele IV, S. 196 (152). So der Vorschlag von Reymund, damit aus dem Singspiel „auch ein Gesprächspiel werde", Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele IV, S. 83 (39).

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die alliterierenden Sprachformen, häufige Binnenreime und die eingängige Metrik (Daktylen) unterstützt wird. So ζ. B. Seelewigs „Kurtze Reue", die sie dem Fluß anvertraut, nachdem sie zum ersten Mal Opfer des Hirten Trügewalt geworden ist: Schnelleilende Wellen / hellauffender Fluß | harre nun in dieser Auen; | harre laß dich jetzt betauen | mein' häuffige Zehren voll Hertzens Verdruß / | will ich dir nun anvertrauen. 35

Der abgedruckte Text ist zwar das Libretto eines Singspiels. Es wird den Lesern hier aber in einem Arbeitsprozeß nähergebracht, in dem jeder der an dem Gesprächspiel Beteiligten seinen Part übernimmt: das Gehörte auslegt, ein Sinnbild erfindet, die Musik und das Versmaß kommentiert. Dies soll den Lesern nicht nur zeigen, wie ein christlich korrektes Schäferspiel vorzustellen ist. Bei der Lektüre werden sie nach sehr kurzen Texteinheiten durch die Kommentare immer wieder zum Innehalten genötigt und auf die heilsgeschichtliche Zielrichtung des Spieles und all seiner Teile: Musik, Metrik, Bilder, erzählte Farben, Epigramme usw. ausgerichtet. Damit ist Harsdörffers Text innerhalb der Gesprächspiele Umsetzung seines poetologischen Konzeptes und Erbauungstext in einem. Der Autor greift mit der Konzeption seines christlichen Schäferspiels auf katholisch-italienische Traditionen zurück. Zu nennen sind die anima e corpo Spiele, die häufig mit mythologischen und pastoralen Elementen ausgestattet sind, und die geistliche Oper.36 Harsdörffer hat seine direkte Quelle in den FrauenzimmerGesprächspielen mehrfach erwähnt.37 Es ist das [...] gar schön geistlich [...] Waldgetichte / genant Die Glückselige Seele, die 1637 in Breslau bei dem OpitzHerausgeber David Müller erschienene Übersetzung eines italienischen Schäferspiels von Niccolo Negri, das wohl im Rahmen der gegenreformatorischen Propaganda nach Deutschland gekommen ist.38 Hier wurden allerdings die Akzente anders gesetzt, indem neben den locus amoenus als Wohnort des reichen Hirten ,Welt' ein noch prächtigerer des himmlischen Bräutigams der Seele gesetzt wurde. Damit wurde die glückliche Liebesgeschichte, auf die Harsdörffer ganz verzichtet, als Spezifikum eines Schäferspiels beibehalten, in einen mystischen Prozeß überfuhrt und mit dem Bivium-Topos und dem neuplatonischen Schönheitsdiskurs verknüpft, indem die Schäferin Seele sich nicht nur zwischen zwei Partnern entscheiden muß, sondern auch zwischen der himmlischen und der weltlichen Schönheit, dem bequemen Weg ins blumige Tal und dem steinigen zum himmlischen Bräutigam. Harsdörffer hat in seinem Spiel die hier gegebene Komplexität stark verein-

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele IV, S. 170 (126). Vgl. hierzu Silke Leopold: Das geistliche Libretto im 17. Jahrhundert. Zur Gattungsgeschichte der frühen Oper, in: Die Musikforschung 31 (1978), S. 245-257, hier S. 248 und Peter Keller: Die Oper „Seelewig" von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern u. Stuttgart 1977, S. 69-72. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, hg. v. Irmgard Böttcher. I. Tl. Nürnberg 1644. Tübingen 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 13), S. 188 (166); ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele, hg. v. Irmgard Böttcher. II. Tl. Nürnberg 1657. Tübingen 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 14), S. 322 (304) und S. 491. Vgl. hierzu Christiane Caemmerer: Das „geistliche Waldgetichte: die glückselige Seele" von 1637 und seine Quelle, in: Daphnis 16 (1987) 4, S. 665-678; dies.: Cupido, S. 244 u. 261, Mara Wade: The German Baroque Pastoral „Singspiel". Bern u. a. 1990, S. 128-153.

Für erbauliche Lektüre und höfische Feste geeignet

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facht, indem er auf den philosophisch-theologischen Eklektizismus, den Negris Text aufweist, zu Gunsten eines klar erkennbaren protestantischen Weltbildes verzichtet. Seelewig wurde 1654 im Rahmen eines großen Hoffestes zum 75. Geburtstag von Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel uraufgeführt. Herzogin Sophie Elisabeth hatte zu diesem Anlaß einen festlichen Umzug mit einem anschließenden Natur Banquet arrangiert,39 bei dem die Mitglieder der höfischen Familie und des umliegenden Landadels in den Masken der vier Temperamente und sieben Planeten unter der Leitung der fünf Sinne und der Natur, die Sophie Elisabeth selber darstellte, den Herzog durch das Schloß in den Bankettsaal und zur anschließenden Opernaufführung geleiteten.40 Der erbauende Akt findet hier nicht mehr im stillen Kämmerlein bzw. in der miteinander lesenden Gruppe im Zwiegespräch mit dem Text statt. Er wird kollektiv inszeniert und vielleicht für den einzelnen durch die Übernahme einer Rolle noch verstärkt. Denn hier versammeln sich für einen Tag alle Figurationen des Kosmos, um mit dem Herzog zusammen den Sieg über das Böse mitzuerleben. In den italienischen Schäferspielen und in ihren deutschen Adaptionen feierten sich immer wieder die Dynastien selbst. So sind im Aminta, den Torquato Tasso für ein Hoffest in Ferrara schrieb, Anspielungen auf die Mitglieder des Hauses d'Este eingeschrieben.41 Der Prolog des Pastor Fido Giovanni Battista Guarini spielt auf die friedenssichernde Herrschaft des Fürstenpaares Carlo Emanuelle von Savoyen und Catharina von Österreich an, die den Fluß Alpheus veranlaßt, Mantua mit Arkadien zu verwechseln. Anlaß für Auffuhrungen waren vor allem Hochzeiten, Taufen und Geburtstage von Thronfolgern. Auch bei der Geburtstagsfeier des greisen Herrschers in Wolfenbüttel verharren der einzelne und die Dynastie, um sich zurückzubesinnen auf ihre Herkunft und ihr Ziel, jedoch wird dieses hier nicht weltlich-politisch sondern religiös-geistlich verankert. Damit dies auch wirklich gelingen konnte und nicht in religiöser Idealität hängenblieb, dafür wurde das Spiel durch eine Einführung von seiner hohen Warte in den gesellschaftlichen Zusammenhang eines frommen Fürstenhofes zurückgeführt. So erklärt ein Page zu Beginn, was es mit der Ambivalenz der Begriffe Kunst und Wissenschaft, Ehre und Reichtum auf sich hat. Und diese Erklärung fällt anders aus als die der Frau Julia in den Frauenzimmer-Gesprächspielen. Denn nun repräsentieren diese Begriffe in der Welt nicht ausschließlich Teufelswerk, sondern werden vom Teufel nur für seine Zwecke benutzt. Als „Gnadengeschenck" Gottes dagegen dienen sie dem einzelnen schon im Diesseits. Dann was ist zuläslicher / als Kunst und Wissenschaft / dardurch die Sinnreichen Geister gar biß zu Gott steigen können? Was ist angenemer als Ehre / wann sie nicht außer Gott

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Hans-Gert Roloff: Absolutismus und Hoftheater. Das „Freudenspiel" der Herzogin Sophie Elisabeth zu Braunschweig und Lüneburg, in: Daphnis 10 (1981) 4, S. 119-137, hier S. 124. Vgl. hierzu auch die Schilderung des Festes bei Joseph Leighton: Die Wolfenbütteler Aufführung von Harsdörffer und Stadens „Seelewig" im Jahre 1654, in: Wolfenbütteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek, hg. v. Paul Raabe. 3. Bd. Frankfurt a.M. 1978, S. 115-128. So u. a. Karl Vossler: Tassos Aminta und die Hirtendichtung, in: Bukolik und Georgik, hg. v. Klaus Garber. Düsseldorf 1976 (Wege der Forschung 355), S. 165-180, hier S. 179.

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Christiane Caemmerer gesuchet / und man dieselbe zur Belohnung aller seiner Müh erlangt? Was ist nützlicher als Reichthumb / wann er zu Gottes Ehren / zu Nutz seiner Kirchen / und Erhaltung des weltlichen Regiments angewendet wird? 42

Damit werden die „himmlische Wissenschaft", der „Reichthum der Ausserwehlten" und die „Ehre der Englischen Herschaaren" wieder als Faktoren einer frommen Gesellschaft in diese reintegriert. Und so besinnt sich am Wolfenbütteler Hof nicht nur der einzelne auf seine christlichen Pflichten, sondern auch hier feiert sich eine Dynastie. Sie feiert jedoch nicht ihre politische Macht und ihren Reichtum. Dafür ist der Hof viel zu klein und letztlich unbedeutend im politischen Europa. Sie feiert sich auf andere Weise als groß und zwar in ihrem Selbstverständnis als Garant fur die Wahrung der göttlichen Herrschaft auf Erden. Vier Jahre nach der Auffuhrung der Seelwig wird der Geburtstag des Herzogs von Wolfenbüttel mit einem ähnlichen Spiel seines Sohnes gefeiert, der Amelinde, in der dargestellt wird: „Wy Gott dy Seele liebt /| Und wy dy Welt / das Fleisch / und Teuffei sy abführet / Von dieser edlen Lieb /".43 Anton Ulrich löst das Problem der beiden möglichen Lesarten des locus amoenus, indem er auf eine andere dramaturgische Variante des Schäferspiels zugreift und sein Spiel am Hof und in der Schäferei ansiedelt. Er kann dadurch den locus amoenus wieder in seiner alten Wertigkeit einsetzen und gestaltet die Erlösung des Menschen durch Christus als eine schäferliche Liebesgeschichte, in die er die im Schäferspiel immer wieder diskutierten Fragen nach Treue und nach wahrer Liebe integriert. Auch die in diesen Spielen häufig thematisierte Frage nach richtiger und falscher Herrschaftsausübung, die in Seelewig keine Gestaltung fand, bindet der zukünftige Herrscher von Braunschweig-Wolfenbüttel wieder in das Geschehen ein. Die Entscheidung der Seele (Amelinde) zwischen der weltlichen Lust (dem Prinzen Volamide, als Sohn Mondianes [der Welt]) und dem geistlichen Heil, repräsentiert durch Christus, den Sohn Gottes (dem vermeintlichen Schäfer Coelidamas, der der Sohn eines weit mächtigeren Königs, nämlich Deodas, ist), ist eine Entscheidung für die eine und gegen die andere Dynastie. Bei der Gestaltung des Hofes der Mondiane schöpft Anton Ulrich alles aus, was ihm an Hofkritik zur Verfügung steht, indem er ihn zu dem Ort macht, an dem der Teufel als Prinzgemahl die Fäden zieht. Dagegen setzt er den Hof des Deodas (Gottes), von dessen Herrlichkeit und Güte man in seinem Sohn, Coelidamas (Christus), einen Vorgeschmack bekommt. Über die christliche Allegorie hinaus macht er damit sein Spiel auch zu einem Besinnungstext für Herrscher. Gleichzeitig wird durch die stark ausgearbeitete Vater-Sohn-Konstellation dieses Spiels, die ja in Wolfenbüttel realiter gegeben war, hier vom Spielzusammenhang zurückgeblendet auf die eigene dynastische Situation. Im Makrokosmos der himmlischen Weltordnung spiegelt sich der Mikrokosmos des Wolfenbütteler Hofes.

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Sophie Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg: Beschreibung des Freuden=Festins, in: dies.: Dichtungen. 1. Bd.: Spiele, hg. v. Hans-Gert Roloff. Frankfurt a. Μ. α Bern 1980, S. 37-38. Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel: Amelinde, Oder: Dy Triumphirende Seele / [...]. Wolfenbüttel 1657, in: ders.: Werke. Hist.-krit. Ausgabe, hg. v. Rolf Tarot. Bd. 1: Bühnendichtungen, hg. v. Blake Lee Spahr. 1. Tl. Stuttgart 1982 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 303), S. 1-81, hier S. 6.

Für erbauliche Lektüre und höfische Feste

geeignet

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Ein kleiner Hof hat nicht viele Möglichkeiten, die eigene Größe überzeugend zu feiern. In Wolfenbüttel feiert der Hof daher nicht seine materielle, sondern seine christlich-moralische Größe und dies mit höfischen Festspielen im bukolischen Gewand, die der Erbauung dienen. Ein Spagat zwischen dem höfisch-repräsentativen und dem religiösen Bereich, der, wie das Beispiel Wolfenbüttel zeigt, nicht allein bei geistlichen Höfen Anwendung fand und gelang. Hierbei wird aber auch deutlich, daß sich die Wolfenbütteler Herzöge nicht nur in ihrem literarischen Wirken von den Nürnberger Autoren inspirieren ließen, sondern auch in der Intention dessen, was Literatur sein soll: geschriebener Gottesdienst, für den die jeweiligen literarischen Formen und Traditionen dienstbar gemacht wurden.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel: Himlische Lieder und Christfurstliches Davids-Harpfen-Spiel. Mit einer Einfuhrung von Blake Lee Spahr, hg. v. Wolfgang F. Taraba. New York u. London 1969. - Amelinde, Oder: Dy Triumphirende Seele / [...]. Wolfenbüttel 1657, in: ders.: Werke. Hist.-krit. Ausgabe, hg. v. Rolf Tarot. Bd. 1: Bühnendichtungen, hg. v. Blake Lee Spahr. 1. Tl. Stuttgart 1982 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 303), S. 1-81. Greiffenberg, Catharina Regina von: Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte. München 1662. Nachdruck mit einem Nachwort von Heinz O. Burger. Darmstadt 1967. HarsdörfFer, Georg Philipp: Frauenzimmer Gesprächspiele, hg. v. Irmgard Böttcher. I. Tl. Nürnberg 1644. II. Tl. Nürnberg 1657. IV. Tl. Nürnberg 1644. Tübingen 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 13, 14, 16). - Poetischer Trichter. Reprint, Darmstadt 1969. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624), hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970. - Salomons | Deß Hebreischen Königes | Hohes Lied, in: ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. George Schulz-Berend. IV. Bd.: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. 1. Tl. Stuttgart 1989 (Bibliothek des Literarischen Vereins 312), S. 8-39. Schöne, Albrecht (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. München 1963 (Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 3). Sophie Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg: Beschreibung des Freuden= Festins, in: dies.: Dichtungen. 1. Bd.: Spiele, hg. v. Hans-Gert Roloff. Frankfurt a. M. u. Bern 1980, S. 37-38. Viebing, Konrad: Der Unvergleichen / Wunderschönen aller Tugend Vollenkommesten Weisemunden Lebens= und Leidens=Geschicht. Helmstedt 1680. Wagenknecht, Christian (Hg.): Gedichte 1600-1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. München 1969 (Epochen der deutschen Lyrik 4). Zesen, Philipp von: Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 1, 2. Berlin u. a. 1993 (Ausgaben Deutscher Literatur des XV .-XVIII. Jh.).

Sekundärliteratur Bachem, Rolf: Dichtung als verborgene Theologie. Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn 1956. Berns, Jörg Jochen: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons, in: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991 (Iris 1), S. 23-81.

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Christiane Caemmerer

Caemmerer, Christiane: Das „geistliche Waldgetichte: die glückselige Seele" von 1637 und seine Quelle, in: Daphnis 16 (1987), S. 665-678. - Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten und Editionen zur mittleren deutschen Literatur N. F. 2). Daly, Peter M.: Catharina Regina von Greiffenberg und Honore d'Urfe. Einige Bemerkungen zur Frage von Catharinas Rezeption der Schäferdichtung, in: Schäferdichtung. Referate der fünften Arbeitsgruppe beim zweiten Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur vom 28.-31. August 1976 in Wolfenbüttel, hg. v. Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977 (Dokumente des internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 4), S. 67-84. Doerne, Martin: Erbauung 2. a), in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 2. Bd. 3., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 1958, Sp. 539-540. Eikel, Elfriede: Die Entstehung der religiösen Schäferlyrik. Von Petrarca bis Spee. Diss. phil. Heidelberg 1956. Fechner, Jörg Ulrich: Harsdörffers „Poetischer Trichter" als Poetik geistlicher Dichtung, in: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991 (Iris 1), S. 143-162. Gemert, Guillaume van: Teresa de Avila und Juan de la Cruz im deutschen Sprachgebiet. Zur Verbreitung ihrer Schriften im 17. und im 18. Jahrhundert, in: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, hg. v. Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 2), S. 77-107. Keller, Peter: Die Oper „Seelewig" von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern u. Stuttgart 1977. Laufhütte, Hartmut: Die religiöse Dimension der Freundschaft zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. v. Dieter Breuer. Bd. 2. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 455-466. Leighton, Joseph: Die Wolfenbütteler Aufführung von Harsdörffer und Stadens „Seelewig" im Jahre 1654, in: Wolfenbütteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek, hg. v. Paul Raabe. 3. Bd. Frankfurt a. M. 1978, S. 115-128. Leopold, Silke: Das geistliche Libretto im 17. Jahrhundert. Zur Gattungsgeschichte der frühen Oper, in: Die Musikforschung 31 (1978), S. 245-257. Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung 7). Roloff, Hans-Gert: Absolutismus und Hoftheater. Das „Freudenspiel" der Herzogin Sophie Elisabeth zu Braunschweig und Lüneburg, in: Daphnis 10 (1981), S. 119-137. Vossler Karl: Tassos Aminta und die Hirtendichtung, in: Bukolik und Georgik, hg. v. Klaus Garber. Düsseldorf 1976 (Wege der Forschung 355), S. 165-180. Wade, Mara: The German Baroque Pastoral „Singspiel". Bern u. a. 1990.

Martin Disselkamp

Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung Philipp von Zesens Adriatische Rosemund

1. Affektwillkür und Meinungsdifferenzen So unterschiedlich die Bewertung der Affekte im 17. Jahrhundert im einzelnen auch ausfallen mag, so sehr besteht doch Einvernehmen darüber, daß solche Regungen einer genauen Beobachtung unterworfen werden, daß sie getilgt oder wenigstens gebändigt und gelenkt werden müssen. Das Barockzeitalter ist bekanntlich keine Ära emotionaler Freizügigkeit, sondern eine solche der Affektorganisation. Zesens Adriatische Rosemund von 1645 bildet darin keine Ausnahme: In der Haupthandlung und den eingelegten Erzählungen regieren allenthalben eifersüchtige Liebe, Geldgeiz und Stolz,1 die das Zusammenfinden der Liebenden, aber auch die gesellschaftliche und politische Koexistenz überhaupt behindern und bedrohen und fur die ein Handhabungsmodus gefunden werden muß. Das Gedicht „An di über-irdische Rosemund", das Zesen in der Lustinne dem Roman angefügt hat, betont die Notwendigkeit, den Liebesaffekt zu mäßigen.2 Für das Bedürfiiis, den Wildwuchs der Affekte zu beschneiden, kann man eine Reihe von allgemeinen kulturgeschichtlichen Kontexten benennen. Die frühe Neuzeit sieht sich mit Beunruhigung stiftenden Dynamisierungs-, Pluralisierungs- und Entgrenzungserfahrungen konfrontiert: Es gilt, die Marginalisierung der Erde im Unendlichen zu kompensieren, nicht weniger die Relativierung der abendländischen Kultur im Vergleich mit neu entdeckten Welten; Geldwirtschaft, intensivierter Handel, Urbanisierung und Administration nagen hier und dort an den Fundamenten der ständischen Ordnung, naturwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse bedrohen bisherige Gewißheiten über den Schöpfungsplan; der Wissenszuwachs beschert zunehmende Systematisierungs- und Orientierungsschwierigkeiten in der Bibliothek, während in der Politik überkommene Hierarchien in eine Vielzahl konkurrierender Sondersphären zerfallen. Dabei entstehen Meinungs- und Neigungsdifferenzen, denen Zügel angelegt werden

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Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe: Philipp von Zesen: Adriatische Rosemund. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. VI, 2. Bearb. v. Volker Meid. Berlin u. New Yoik 1993 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVm. Jahrhunderts), fortan: AR. Zur Liebe vgl. S. 165-180 („Di Begäbnüs Der Böhmischen Gräfin und des Wildfangs"); zum Geldgeiz ebd., S. 266f., die „Nider-ländische geschieht von einer ahdlichen Jungfrauen und einem Rit-meister"; zur Hoffart die einschlägige Debatte zwischen Rosemund, Stilmuht und Markhold, ebd., S. 215-217. Zu Eifersucht und Stolz auch die Ereignisse um das Duell zwischen Härzwährt und Eiferich, ebd., S. 90-98. Ebd., S. 293-296.

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Martin Disselkamp

müssen. Im Hintergrund solcher Krisenerscheinungen erkennt man auch in der Rosemund eine tiefgreifende Angst. 3 Die Konfessionskontroversen zeigen sich als eine Erscheinungsform dieser verunsichernden Perspektivenvielfalt mit der Folge der Discordia, der nicht reduzierbaren Parteilichkeit und der anwachsenden Komplexität der Bewältigungsstrategien. 4 Von Reflexen solcher Erschütterungen ist die Adriatische Rosemund nicht frei: Den Hintergrund der Handlung bildet der Konfessionskonflikt. Das katholische Bekenntnis der Venezianerin Rosemund und, mehr noch, ihres Vaters Sünnebald auf der einen und das protestantische ihres Liebhabers Markhold auf der anderen Seite sind der Grund dafür, daß eine Heirat zwischen den Hauptfiguren nicht zustande kommt. Weder Sünnebald noch Markhold sehen sich in der Lage, konfessionell bedingte Grundsätze zu ignorieren. Bereits zu Beginn steht der Ausgang, wie Markhold ihn im Gespräch mit Rosemund formuliert, in dieser Hinsicht fest: Aber eines stähet mihr noch im wäge / welches mich schihr zweifaln macht / daß si nämlich einer andern Lahre zu-getahn sein / und daß ich si däswägen / ohne bewülligung meines Vaters / nicht ehligen darf: dan ihr Vater würd es ihnen ausser allem zweifal nicht gestatten / daß si ein anderes Glaubens-bekäntnüs annähmen.5

Daß diese Differenzen nicht zum Hauptgegenstand der Handlung werden, ja sogar im Hintergrund bleiben, spricht nicht grundsätzlich gegen ihre Bedeutung für die Konzeption des Romans. In Randbereichen wird deutlich, welches Potential an Unfrieden sich in solchen Meinungsunterschieden verbirgt, darüber hinaus aber in frühneuzeitlichen Spaltungserscheinungen überhaupt. Zwar greifen die Ereignisse des dreißigjährigen Kriegs nicht unmittelbar in die Handlung ein, doch hält Zesen sie als Kontext präsent. Der in den Roman eingelegte „Kurze entwurf der alten und izigen Deutschen" mündet in einen Katalog von Kriegsklagen, „da sich di Deutschen Fürsten unter-einander selbst auf-räuben / und das eine teil mit den ausländischen fbikern wider ihr eigenes Vaterland in verbündnüs trit / und dässen Untergang beförtern hülfet." (AR, S. 258) Mit der aus Melanchton zitierten Feststellung, daß man so den Türken in die Hände arbeite, fallt der Text in den großen Chor der 3 4

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Zur Angst ebd., S. 50f., 103. Einige Ansätze zur Frage der Parteilichkeit im Zusammenhang mit der durch Zeitungen vermittelten zunehmenden Informationsvielfalt bei Frauke Adrians: Journalismus im 30jährigen Krieg. Kommentierung und „Parteylichkeit" in Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Konstanz 1999, S. 27-40. Die Verfasserin beschäftigt sich allerdings nicht mit dem kulturgeschichtlichen Umfeld und den frühneuzeitlichen Krisenerfahrungen als Rahmen dieses Problems. Ein Katalog einschlägiger Stellen müßte einschließen Zesen: AR, S. 79, 85f., 136-139, 263f. Zum Konfessionskonflikt Klaus Kaczerowsky: Bürgerliche Romankunst im Zeitalter des Barock. Philipp von Zesens Adriatische Rosemund. München 1969, S. 89-93, der allerdings nicht diesen Konflikt selbst als ernstes historisches Problem zu betrachten scheint, fur das der Roman nach einer Bewältigungsstrategie sucht. Der Verfasser interessiert sich in diesem Zusammenhang für Differenzen im individuellen Umgang mit solchen Vorbedingungen, nicht für den allgemeinen Bedarf an übergreifenden Ordnungsperspektiven. Vgl. auch S. 97f., wo Kaczerowsky behauptet, „die historisch-politischen Verhältnisse" bildeten „nur den dunklen zeitgeschichtlichen Hintergrund für diesen deutschen Roman", der lediglich ein Privatschicksal darstellen wolle.

Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung

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Stimmen ein, die dem Eigennutzen und der Uneinigkeit im Reich oder auch in Europa die Forderung nach Concordia in der Auseinandersetzung mit den Osmanen gegenüberstellen.6 Wenn Zesen in der „Auftrahgs-schrift" das „deutsche [...] Frauenzimmer" rühmt, das „nicht so gahr machiavellisch-wältsälig" (AR, S. 7) sei, so darf man darin ebenfalls eine Distanzierung von spaltenden Kräften sehen.7 Hinter der Affekt- und Tugendthematik und der konfessionellen Dissenskonstellation öffnet sich schließlich noch ein weiterer Horizont. Zur Debatte steht die moralisch-praktische Handlungslegitimation überhaupt: Auf welcher Grundlage kann man sich eine Verständigung über die unaufhebbaren Neigungs- und Parteiengrenzen hinweg vorstellen? Die Frage, von welcher Beschaffenheit Erbauliches zu sein habe,8 bleibt von solchen Zweifeln nicht unberührt. Die Antwort, die der Roman bereithält, besteht in einem Literatur- und Kulturkonzept, dessen konzentrierteste Fassung die auf den Roman folgende Lustinne bietet. Mit der Untersuchung von .Höflichkeit' fasse ich von diesem Romanprogramm später einen Aspekt genauer ins Auge.

2. Dissens und Erbauung in Zesens moralischen und historischen Schriften Nähere Auskunft über die Verbindung von Zerfalls- und Komplexitätserscheinungen und Erbauungsabsichten geben Zesens Erbauungsschriften, von denen ich namentlich Frauenzimmers Gebeht-Buch (1657) und Frauenzimmers BußBeicht- und Beht-Büchlein (o. J., Neuauflage 1668) heranziehe. Da alle Schriften, die ich im folgenden konsultiere, nach der Adriatischen Rosemund entstanden sind, kann natürlich nicht von einem Wirkungszusammenhang die Rede sein, sondern nur von einem allgemeinen ideengeschichtlichen Kontext. Das Büß- Beicht- und Beht-Büchlein enthält eine Serie von begleitenden Gebeten zu liturgischen Anlässen, insbesondere zur Beichte und zum Abendmahl. Das GebehtBuch hingegen ist eine Art Brevier - eine Sammlung von Tages- und Gelegenheitsgebeten, ζ. T. mit Angabe einschlägiger Bibelstellen, für das „Frauenzimmer". Das Bezugsfeld sind in diesem Fall nicht religiöse Funktions-, sondern allgemeine Lebenszusammenhänge - Tageszeiten, Wochentage, Lebenslagen und

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Dazu demnächst Martin Disselkamp: Discordia, concordia. Zerfallsbewußtsein und Einheitsappelle in Tiirkenkriegsprojekten des ausgehenden 16. und des 17. Jahihunderts (erscheint in Daphnis). Zum Thema von Streit und Einigkeit auch Zesen: AR, S. 42f., das „Einsprahch-getichte. Der Gold-apfel rädet". Zum Begriff der Erbauung bzw. der Erbauungsliteratur vgl. u. a. Wolfgang Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden 1985, S. 499-507; M. Doeme: Erbauung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Tübingen 1957, Sp. 538-547, sowie F. Heiler / F. Barsch: Erbauungsliteratur, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Tübingen 1957, Sp. 538-547; M. Ottmers: Erbauungsliteratur, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 1347-1357; Susanne Schedl / Dietz-Rüdiger Moser: Erbauungsliteratur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin u. New York 1997, Sp. 484-488; Martin Knauer: .Bedenke das Ende'. Zur Funktion der Todesmahnung in druckgraphischen Bildfolgen des Dreißigjährigen Krieges. Tübingen 1997, S. 85-88.

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Martin Disselkamp

einzelne Krisensituationen, die sich zu einer Topik typisierter biographischer Wendepunkte bis hin zu Krankheit und Tod summieren. Die Gebete sind der Auskunft des Verfassers zufolge vor dem Hintergrund der Glaubensspaltung formuliert.9 Dieses Krisenbewußtsein teilen Zesens erbauliche Publikationen mit den Exempelsammlungen „wider den Gewissenszwang". Die beiden Schriften aus dem Jahr 1665 vereinigen Stellungnahmen und Beispiele von kirchlicher und weltlicher Seite, die als Argumente gegen Gewaltmaßnahmen in Glaubensfragen dienen, und treten fur das Prinzip der Toleranz ein. Die Schriften gegen den Gewissenszwang beschäftigen sich mit denselben Spaltungserfahrungen, die auch die Kulisse der Rosemund bilden. Zesen sieht sich mit einer Meinungspluralität in Religionsfragen konfrontiert, deren Reduktion nicht in Aussicht steht. Er setzt sich mit der Erfahrung auseinander, daß ein fester Orientierungsrahmen bzw. ein verläßlicher Wahrheitsbegriff nicht mehr zur Verfugung stehen oder doch erst gewonnen werden müssen. Unter diesem Aspekt stellt sich das Problem frühneuzeitlicher Beunruhigung angesichts eines offenen Handlungsfelds ohne verbindliche Deutungsleitlinien. In Zesens Schriften bricht sich die Einsicht Bahn, daß Kultur, die religiöse Symbolik eingeschlossen, nicht vorgegeben, sondern eine menschliche Setzung ist.10 Das Sprichwort „Viel Köpfe / viel Sinne" sei „fast nirgend mehr wahr / als in Geistlichen sachen". Dies gelte vorzüglich fur Gegenstände, die weder von der heiligen Schrift berührt würden noch für die Erlangung der Seligkeit notwendig seien.11 Vor allem, so Zesen, der „Menschliche [...] zusatz" zu dem ursprünglich „einfaltige[n] bekäntnüs", also das geschichtlich angewachsene Volumen an willkürlichen Glaubenssätzen und Zeremonien, habe dazu gefuhrt, daß Eintracht und Friede unter den Christen verlorengegangen seien. Zesen zufolge nistet sich die Zwietracht sogar in enge Verwandtschaftsverhältnisse ein - dergestalt, daß „auch funfe in einem Hause vielmahls uneins geworden / indem sich dreie setzen wider zwei / zwei wider dreie / ja der Vater wider den Sohn / der Sohn wider den Vater / die Mutter wider die Tochter / die Tochter wider die Mutter / und so fort."12 Fast erübrigt es sich, darauf aufmerksam zu machen, wie nah diese Zerfallsszenerie der Grundkonstellation der Adriatischen Rosemund steht. In die Moralia Horatiana schaltet Zesen umgekehrt ein Emblem zur Wirkungsweise und zur Notwendigkeit der Concordia im Staat ein.13

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Philipp von Zesen: Frauenzimmers Büß- Beicht- und Beht-Büchlein. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XIV. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 153), S. 475. Zu diesem Komplex William J. Bouwsma: Anxiety and the Formation of Early Modern Culture, in: After the Reformation. Essays in Honor of J. Η. Hexter, hg. ν. Barbara C. Malament. University of Pennsylvania Press 1980, S. 216-246. Philipp von Zesen: Des Weltlichen Standes Handlungen / und Urteile wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. ΧΠΙ. Bearbeitet von Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1984 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 110), S. 160. Ebd., S. 19. Philipp von Zesen: Moralia Horatiana. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XIV. Bearb. v. Ferdinand van Ingen.

Dissenserfahrungen, Höflichkeit und Erbauung

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Gleichwohl hält Zesen natürlich an der Überzeugung von der einen unverrücklichen Wahrheit fest. Allerdings teilt er die Erkenntniszweifel, die im Zeitalter der Glaubensspaltung angesichts möglicher Interpretationsdivergenzen schon früh im Protestantismus laut wurden. Insofern darf man durchaus von einer allgemeinen Relativierung des als wahr Angenommenen in der Frühen Neuzeit sprechen.14 Als einen Vorläufer auf diesem Gebiet nenne ich Valentin Weigel, der vor dem Hintergrund theologischer Meinungsunterschiede nicht müde wird, darauf hinzuweisen, daß die .natürliche' Erkenntnis ihren Grund nicht im Gegenstand habe, sondern im völlig unzuverlässigen Wahrnehmungsvermögen des Betrachters: setzestu blaw banllen auff, So erscheinen dir die obiecta alle blaw, vnd seint doch nicht blaw. Setzestu rote brillen auf, so erscheinen dir die objecto alle rot, vnnd seint doch nit rott.15

Während aus der irrtümlichen Ansicht, daß die .natürliche' Erkenntnis den Gegenstand abbilde, ein „zancken vnd disputiren [...] vnter den pseudo theologis" entstehe, wird Weigel zufolge erst in der passiven, kontemplativen „vbematurlichen erkentnis", in der Gott selbst wirksam sei, eine „löbliche eynigkeit gehalten".16 Wenn sich Zesen zufolge unter den gegebenen Bedingungen über den .einfältigen' Schriftsinn eine Decke von arbiträren Auslegungen und von geschichtlich Hinzugefugtem ausgebreitet hat, dann unterliegt jede Stellungnahme der Gefahr des Irrtums: Dünkt euch / daß sie [die Andersmeinenden] fehlen? Warüm denket ihr nicht auch / daß ihr vielleicht selbsten fehlet / indem ihr wähnet / daß sie fehlen oder irren? Kein Mensch / wie heilig er immermehr sein mag / bleibet jemahls vorm irtuhme befreiet.17

Damit plädiert Zesen nicht dafür, Irrlehren, Unruhestifter und Gottesleugner zu fördern oder Lastern, Greueln und Gotteslästerungen freie Hand zu lassen,18 wohl aber bis zu einem gewissen Grad für einen Rückzug des Staates aus dem Gebiet der Glaubens- und Gewissenssachen: Die Obrigkeiten dürften nicht „in des almächtigen Gottes Gebiet greiffen", um sich außer „ihrer Untertahnen Leib" auch der „Seelen der armen Menschen" zu bemächtigen.19 Angesichts der Meinungsvielfalt kann Zesen zufolge nicht konfessioneller Rigorismus, sondern nur be-

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Berlin u. New York 1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 153) u. Zesen: Büß- Beicht- und Beht-Büchlein, S. 79-81. Winfried Schulze: Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: Der Westfälische Friede. Diplomatie - politische Zäsur - kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte, hg. v. Heinz Duchhardt, Redaktion Eva Ortlieb. München 1998, S. 115-140, hier S. 122f. Valentin Weigel: Der güldene Griff, hg. und eingeleitet von Horst Pfeffer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Sämtliche Schriften 8), S. 84. Ebd., S. 57. Zesen: Des Weltlichen Standes Handlungen, S. 15. Ebd., S. 21f. Zur Praxis der niederländischen Konfessionspolitik aus Zesens Sicht vgl. Philipp von Zesen: Niederländischer Leue: Das ist / Kurtzer / doch grundrichtiger Entwurf der innerlichen Gestalt und Beschaffenheit des Staht-Wesens der sieben Vereinigten Niderländer (1677). Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XV/2. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1987 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 121), S. 659f., S. 762-764. Zesen: Des Weltlichen Standes Handlungen, S. 165.

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kenntnisübergreifende Concordia ein soziales Funktionsmodell abgeben. Als negatives Gegenbeispiel bietet er in seiner Darstellung der Geschichte der Niederlande, dem Niederländischen Leuen, die repressive Konfessionspolitik Karls V. und Philipps II. auf.20 Zesen vertritt jedenfalls eine irenische Position, wie sie in der frühen Neuzeit vor allem von konfessionellen Minderheiten eingenommen wurde.21 Darin unterscheidet er sich von anderen Theoretikern der .Politik', denen zufolge die Einheit des Staats nur gewährleistet ist, wenn auch für die Einheit des konfessionellen Bekenntnisses Sorge getragen wird.22 Mit diesem konfessionspolitischen Plädoyer ist allerdings nicht auch schon die Frage beantwortet, auf welche Weise eine (religiöse) Eintracht unter den einzelnen herbeigeführt werden könne. Die Vorstellung von einem Verlust der ,einfältigen' Lehre, an die sich mittlerweile viel Äußerliches angelagert habe, bringt Zesens religionsgeschichtliche und konfessionspolitische Stellungnahmen in eine Strukturhomologie mit seinen sprachgeschichtlichen Überlegungen. Diesen liegt als Motiv wohl auch die Überzeugung zugrunde, daß die Verbreitung von Gottes Wort und das Lob Gottes zu den vorzüglichsten Aufgaben der Sprache gehören.23 Zesens Spekulationen zufolge haben sich Reinheit, Allgemeingültigkeit und Perfektion der unfehlbar und notwendig denotierenden, die Gegenstände vollendet abbildenden adamitischen Sprache wie auch der ersten Schrift in den Differenzierungsprozessen der Geschichte verloren und sind einer zunehmenden Willkür der Zeichen gewichen. Die größte Ursprungsnähe und den geringsten Grad an Depravation weise das Deutsche auf. Von der systematischen Perfektion des sprachlichen Grundplans vermittelt Zesen in seinen Überlegungen zur Buchstabenkombinatorik einen Eindruck 24 Auch in sprachtheoretischer Hinsicht stellt sich die Frage, auf welche Weise die verlorene, allen Partikularisierungen vorausliegende Allgemeinheit erneut erreicht werden könne. Dieses Vorhaben ist gleichbe-

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Zesen: Leue, S. 543, 545, 548f. Vgl. Susanne Siegl-Mocavini: John Barclays Argenis und ihr staatstheoretischer Kontext. Untersuchungen zum politischen Denken der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 48), S. 90. Zu Zesens Toleranzgedanken im Kontext frühneuzeitlicher Frömmigkeitsprogrammatik vgl. Ferdinand van Ingen: Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei Johann Arndt und Philipp von Zesen, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino, Heinz Schilling und Walter Sparn hg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, S. 467-475. Für einen historischen Überblick vgl. Michael Stolleis: Religion und Politik im Zeitalter des Barock. ,Konfessionalisierung' oder .Säkularisierung' bei der Entstehung des frühmodernen Staates?, in: ebd., S. 23-42. Ζ. B.: Diego de Saavedra Fajardo: Abris eines christlich-politischen Printzens / in CI SinnBildern vnd mercklichen symbolischen Sprüchen [...] zuvor auß dem spanischen ins lateinische: Nun in teutsch versetzet. Köln 1674, S. 268f. Vgl. Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin u. New York 1994, S. 344f. Philipp von Zesen: Rosen-mänd. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XI. Bearbeitet v. Ulrich Mache. Berlin u. New York 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Zum Verlust der adamitischen Universalsprache S. 98-101; zu deren Perfektion S. 104; zur Repräsentation der Gegenstände in der Sprache S. 106-109; zur Differenzierung der ursprünglichen .Einfalt' in der Geschichte S. 110-112; zur Schrift S. 125-131; zur Vorzüglichkeit des Deutschen S. 200-245; zur Buchstabenkombinatorik S. 165-199.

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deutend mit der magischen Absicht, das Unsichtbare sichtbar zu machen.25 Zesen glaubt zwar, daß es grundsätzlich möglich sei, „mit Vernunft und kunst nach der natur" erneut zur Vollkommenheit zu gelangen, doch hielten die Menschen in der Praxis eigensinnig an „dem unrechtmäßigen gebrauche" fest.26 Seine Bemühungen um eine Purifikation der Sprache und sein Dichtungsbegriff stehen ihrerseits auf der Grundlage von Spekulationen über die Universalsprache. Die Suche nach der Allgemeinsprache aus der Perspektive gegenwärtiger Sprachenverwirrung und Zeichenwillkür hat ebenfalls den Charakter einer Auseinandersetzung mit der beunruhigenden Einsicht in eine menschlich gesetzte, nicht transzendent legitimierte kulturelle Relativität. Die Adriatische Rosemund ist in Hinsicht auf die Sprachreinheit nach den Maßstäben verfaßt, die Zesen später im Rosen-mänd kodifiziert hat.27 Analog zu den Sprachspekulationen fragt sich schließlich vor dem Hintergrund der konfessionspolitischen Verwicklungen, welche Lehren geeignet sind, den Leser zu einer Frömmigkeitsattitüde anzuleiten, die nicht dem Arbiträren und Verfälschten verhaftet bleibt und nicht die bestehenden Partikularisierungen weiter vertieft. Die Vorrede an den Leser zu Frauenzimmers Büß- Beicht- und BehtBüchlein ist diesem Problem gewidmet und erinnert erneut an die Verbindung zwischen den Zersplitterungserfahrungen und dem Bewußtsein von der Notwendigkeit einer Affektregulation. Durch „menschliche deutungen und unnöhtiges Ausgrübeln", so erfährt man in der Vorrede, seien „viel Spaltungen entstanden"; die „eignen menschlichen gemühts-regungen" vertilgten die „christliche einigkeit und liebe", stifteten „Verbitterungen" und widersprächen „gottes gerechtigkeit". Der „menschliche zorn-eifer" stehe aber nicht im Dienst Gottes, sondern rühre von „hofart und eitelkeit" her. In Hinblick auf die Erbauung stellt sich also dieselbe erkenntnistheoretische Problematik, die man auch im Zusammenhang mit Zesens konfessionspolitischem Eintreten gegen den „Gewissenszwang" antrifft. Im Gegenzug beansprucht das Büß- Beicht- und Beht-Biichlein, sich ohne Auslegung und Deutung unmittelbar „an die bloßen worte der H. Schrift" zu halten, um das „Kristentuhm" zu „bauen" und nicht „üm[zu]werfen".28 Die Textsammlung zielt 25

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Diesem Aspekt unterstellt Peter Cersowsky: Magie und Dichtung. Zur deutschen und englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1990, S. 37—45, seine Interpretation von Zesens Rosen-mänd. Zu Zesens Affinität zur Alchimie auch Leo Lensing: A .Philosophical' Riddle: Philipp von Zesen and Alchimy, in: Daphnis 6 (1977), S. 123-146. Zur weiteren poetologischen Debatte Hans-Georg Kemper: Religion und Poetik, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino, Heinz Schilling und Walter Sparn hg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, S. 63-92. Zesen: Rosen-mänd, S. 145. Vgl. dazu Zesen: AR, S. 336f., die Liste zur Übersetzung von mythologischen Namen und Fremdwörtern. Zu Zesen sprachreformerischen Bemühungen mit Bezug auf die Adriatische Rosemund vgl. Kaczerowsky: Romankunst, S. 134-164. Zesen: Büß- Beicht- und Beht-Büchlein, S. 475. Vgl. auch Zesen: Andächtiger LehrGesänge von Kristus Nachfolgung und Verachtung aller eitelkeiten der Welt / erstes Mandel / Aus dem Seeligen Thomas von Kempis gereimet / und mit anmuhtigen Sangweisen gezieret durch Malachias Siebenhaaren [...]. (1675). Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. I, 2. Lyrik I. Bearbeitet v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1993 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 142), S. 295-308 („Von der geringschätzung seiner selbst";

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also der Absicht nach auf eine Erbauung auf der Grundlage des ,einfältigen' Schriftsinns und der universalen Gemeinschaft aller Christen vor allen konfessionellen Differenzen unter Einschluß einer befriedeten Affektdisposition. Mit der Frage, welche Möglichkeiten ihm überhaupt zu Gebote stehen, unter den gegebenen Bedingungen eine christliche Universalsprache der Erbauung zu sprechen, befaßt sich Zesen in der Vorrede zum Büß- Beicht- und Beht-Büchlein allerdings nicht.

3. Zur Rolle der Höflichkeit Die Erbauungsschriften sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, die Leserinnen auf grundlegende Anforderungen an einen christlichen Lebenswandel einzustimmen, und stoßen dabei auch auf die Frage, wie es möglich sein mag, zu einer Form der Erbauung zu gelangen, deren theologisches Bezugssystem jenseits aller Spaltungen und jeder Parteilichkeit läge und nicht im Kreuzfeuer individueller Affekte und partialer Bestrebungen stände. Solche Problemstellungen können nicht ohne weiteres auf die Rosemund übertragen werden. Vielmehr sucht der Roman nach einem Handhabungsmodus für die praktisch wahrnehmbaren zentrifugalen Bewegungen, die sich allenthalben in nicht kanalisierten Leidenschaften zeigen und in der Konfessionsfrage besonders deutlich hervortreten. In diesem Punkt verfolgt das Werk die Absicht, den Lesern ein Verhaltensbeispiel vor Augen zu fuhren. Der Exempeltheorie29 zufolge verspricht dieses anschauliche Verfahren einen Zugewinn an Überzeugungskraft; allerdings muß das Modell den Meinungsunterschieden, Widersprüchen und Dissoziationsbewegungen abgewonnen werden, die das Umfeld praktischer Lebensentscheidungen bilden. Als Vermittlungsstrategie fuhrt Zesen das Konzept der Höflichkeit ein, das die Erscheinung der Hauptfigur von ihrem ersten Auftritt an bestimmt. Im Zentrum der Eingangssequenzen des Romans, an denen die Literaturgeschichtsschreibung die Vorstellung von einem individualisierend-psychologischen Werk mit empfindsamen' Tendenzen entwickeln wollte, steht das Einüben oder Bekräftigen höflicher Verhaltensformen. Man trifft dort Rosemund bei der Lektüre eines Briefs an, den sie von Markhold aus Paris bekommen hat. Da der Brief (AR, S. 27f.) im komplimentierenden Ton der höflichen Selbstverkleinerung gehalten ist, weckt er in der Adressatin den Verdacht, es fehle dem Verfasser an Hingabe, Treue und Beständigkeit (AR, S. 29). Die Mißverständnisse und Verstimmungen, die auf diese Weise entstehen, führen bei Rosemund zu einer „eifersüchtigen"30 und „hochmütigen"31 Gemütslage. Hingegen entfaltet sich in den anschließenden bukolischen Passagen höfliche Geselligkeit als .künstliches' und scherzhaftes Spiel (AR, S. 124f.). Im Umgang mit der Schäferin Rosemund sieht sich Adelmund zu der Bemerkung veranlaßt:

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„Von erlernung der Wahren / und Vermeidung der falschen Weisheit" - vor allem diese „Abteilung" verficht auch den Standpunkt der „Einfalt"). Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury. Hildesheim 1988. Zu Rosemunds Eifersucht ζ. B. Zesen: AR, S. 41, 50. Zu Rosemunds Hochmut ebd., S. 111 f.

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Ich vermeinte / daß ich eine Schähfferin besuchen wollte / aber ich befiinde / daß unter einer schähfferin tracht di aller-sünlichste und gnaueste höhfligkeit / di man auch am etz-küniglichen hofe / unter däm Kaiserlichen Frauen-zimmer / zu Wihn kaum anträffen würd / verborgen lihgt. (AR, S. 125)

Schon die Verwicklungen um den Brief zeigen, daß das Komplimentierwesen dem Zweck dient, offenen Streit zu vermeiden und Reibungsflächen zu vermindern. Allgemein ist der höfliche Umgang eine der kulturellen Auffangeinrichtungen zur Verarbeitung von Komplexitäts- und Desorganisationserfahrungen.32 Höfliche Geselligkeit bietet sich dort als Regulationsstrategie an, wo verbindliche Orientierungsmarken nicht mehr vorausgesetzt werden können. Um das Konfliktpotential der Meinungsdifferenzen einzudämmen, den Zerfall des Ganzen in individuelle Partialbestrebungen zu verhindern und die Möglichkeit planbaren Handelns zu erhalten, zieht die Höflichkeit kulturelle und anthropologische Grenzen. Zesen antwortet auf die Willkür der partialisierenden Setzungen mit einem erneuten Versuch, einen übergreifenden kulturellen Rahmen zu begründen. Im Zeichen der Höflichkeit wird das gesamte Handeln einer Kontrollstrategie unterworfen. Insgesamt zeigt sich die Höflichkeit als ein umfassendes Unternehmen zur Bändigung individueller Regungen. Insofern spielt sie mit den mythologischen und allegorischen Spiegelungen und Verallgemeinerungen zusammen, die der Roman in Form von Bild- und Plastikbeschreibungen enthält und die auch die handelnden Personen in den Zusammenhang von allegorischen Beziehungen bringen. Die Forschung hat diese Bedeutungssysteme als Vorkehrungen zur Kanalisierung des Individuellen erkannt.33 Höflichkeit ist jedenfalls eine Dissimulations- bzw. auch eine Simulationstaktik - ein ,künstliches' Mittel des ,Bemänteins' und ,Verdeckens',34 um das Auseinanderstrebende zwar nicht zu heilen, aber doch seine Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten;35 sie läßt das Individuelle hinter die Anforderungen des Kulturprogramms zurücktreten: Di Rosemund war mit solchem geschwünden ab-reisen nicht wohl zu friden; aber der Wohlstand und ihre angebohme zucht und höhfliche schahm wolten ihr nicht so vihl gestatten / daß si sich däs-wägen gegen den Markhold beklaget hätte. (AR, S. 278) 32

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Umfassend zum Thema Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990. Für die Beschreibung eines Brunnens vgl. Zesen: AR, S. 58f., zur Beschreibung von Rosemunds Zimmer mit Leuchter und Emblemata ebd., S. 62-69; zur Beschreibung des Saals der Herzogin ebd., S. 144-149. Auch die Beschreibung von Venedig entwickelt sich aus der Betrachtung einer bildlichen Darstellung (ebd., S. 193). Vgl. Bernd Fichtner: Ikonographie und Ikonologie in Philipp von Zesens Adriatischer Rosemund, in: Philipp von Zesen 1619-1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk, hg. v. Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972, S. 123-136, bes. S. 135. Vgl. auch Conrad Wiedemann: Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hg. v. Walter Haug. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien Berichtsbände III), S. 574-596. Allgemein zur Bedeutung der Affektkontrolle bei Zesen: Moralia, S. 217-225. Vgl. Zesen: AR, S. 124: „Ich kan meinem Hern nicht sagen / was dises schöne Wunder fuhr träfliche nach-dänkliche räden führete / und wi si sich zum öftern / ihrer unhöhfligkeit wägen / selbst heimlich durch-zohg / und solches mit so ahrtigen worten bemänteln konnte / daß sich ihderman höchlich verwundern muste". Ebd., S. 240: „Di Rosemund huhb samt der Stilmuht an zu lachchen / und wi si bishähr / verdäkter weise / üm di beschreibung der alten und izigen Deutschen angehalten hatte / so täht si es auch nuhn austrüklich". Vgl. Beetz: Höflichkeit, S. 147-155 zum Zusammenhang von Höflichkeit und Simulation.

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Als Verkleidungsspiel gehört auch die gesamte Schäferei in diesen Zusammenhang.36 Damit schließt Zesen in weiterer Perspektive an die Strategien der Konfliktvermeidung an, die von Castiglione über Deila Casa und Guazzo bis zu Faret in der Umgangstheorie entwickelt worden waren, blendet allerdings deren .politische', prudentistische, machtorientierte Bestandteile aus.37 Auf jeden Fall fuhrt die Darstellung von Rosemunds „angebohrener" und nachlässiger' Höflichkeit (im Vergleich mit Stilmuhts gezwungenem' Verhalten) auf die Lehre vom Verbergen der Kunst zurück.38 In der Rosemund wird Höflichkeit geradezu eine Vorbedingung des Kommunizierens. Auch der Umgang zwischen Rosemund und Markhold ist weithin durch höfliche Umständlichkeit gekennzeichnet. Die Unterredungen bekommen die Gestalt von „prunk-räden", „hohf-räden" (AR, S. 125) oder auch höflichem „lust-gezänke" (AR, S. 194). Über Rosemund liest man: „wi ahrtig konte si nuhr ihre worte drähen; wi künstlich wüste si nuhr selbige auf schrauben zu säzzen" (AR, S. 76).39 Nicht anders vollziehen sich die Unterredungen zwischen Markhold und Adelmund.40 Speziell der Umgang zwischen Markhold und Sünnebald, die unterschiedlichen Bekenntnissen angehören und sich deshalb nicht auf die Konditionen für eine Heirat einigen können, folgt den Konventionen der Höflichkeit. Markhold sieht sich von Sünnebald „mit solcher leutsäligkeit und solcher ehr-erbütung" empfangen, „daß ich mich höhchlich verwunderte", worauf er selbst, nachdem ihm die letztlich unannehmbaren Heiratsbedingungen eröffnet sind, sich seiner „höhfligkeit widerüm gebrauchet" (AR, S. 85, 237). Deshalb halte ich solche Deutungen nicht für plausibel, denen zufolge das höfliche Verhalten in der Rosemund lediglich der sozial deplazierte Rest einer ursprünglich adligen Umgangskultur sei, der in seiner neuen Umgebung keine Funktion mehr erfülle und dort eine um so unheilvollere Wirkung entfalte.41 Auf einem

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Zur Lektüre der Rosemund gehört die höfische Schäferei, hier: des Pastor fido von Guarini; vgl. Zesen: AR, S. 81. Zur Geschichte der Umgangstheorie im Überblick Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988; Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992; Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992. Zum Verhältnis von Kunst und Natur vgl. Zesen: AR, S. 19f„ 50, 73-75. Vgl. als Beispiel für das indirekte, verdeckte Sprechen in Andeutungen zwischen Markhold, Stilmuht und Rosemund ebd., S. 239f. Vgl. ebd., S. 56f.: „Dise wort-gepränge währeten eine guhte zeit; dan hatt' ich das meinige eingeworfen / so brachte si straks andere gegen-würfe; wolt' ich dehr lätste sein / so begehrte si äben dasselbige / dehrgestalt daß ich ändlich gezwungen ward / diser kluhg-sünnigen Jungfrau gewonnen zu gäben." Vgl. Jean-Daniel Krebs: Dissimulation und Kommunikation der Affekte in Mme de Lafayettes Princesse de Cleves und Zesens Adriatische Rosemund, in: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. v. Jean-Daniel Krebs. Bern u. a. 1996, S. 163-174; ders.: Manieren und Liebe. Zur Dialektik von Affekt und Höflichkeit in Zesens Adriatische Rosemund, in: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kiesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki hg. v. Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 401—410. Überhaupt scheint mir bei der Interpretation der Rosemund die Reichweite soziologischer Kategorien (wie auch systematischpolitischer, etwa solcher der Staatsformenlehre) nicht allzu groß zu sein. Vgl. etwa noch Da-

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Mißverständnis beruht m. E. auch die These, der Roman widme sich der Kritik an den Umgangskonventionen bzw. an den Hauptfiguren, denen es nicht gelinge, sich über solche Normen hinwegzusetzen.42 Den Höflichkeitsanforderungen entspricht es, daß konfliktträchtige Verhandlungsgegenstände nur selten unmittelbar benannt und eher umgangen werden.43 Die Hauptfiguren Rosemund und Markhold treffen überhaupt nur punktuell und vorübergehend aufeinander. Eine bedeutende Rolle spielt der Brief als Medium des distanzierten Umgangs. Der Roman favorisiert nicht etwa die Annäherung, sondern Abschied und Trennung, die Beginn und Ende bestimmen und auch im übrigen immer wieder neu inszeniert werden.44 Insgesamt geht die Verzichtattitüde, auch im Konfessionskonflikt, auf eine Grundanforderung höflichen Verhaltens zurück. Allerdings führt damit die Höflichkeit zu einem unaufhebbaren Paradox: Der Preis fur Concordia, harmonisches Gesamtbild und Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft, wie die Höflichkeit sie stiftet, ist die unüberwindliche Trennung; wie die Verhandlungen um Markholds Brief zeigen, läßt sich in der Sprache der Höflichkeit auch niemals die Eindeutigkeit ungefilterter Affektivität gewinnen 45 Entsprechende Taktiken sind schließlich in der Adriatischen Rosemund insgesamt wirksam: Dreißigjähriger Krieg und Religionskonflikt treten nur punktuell in den Vordergrund, während Konversation, Spiele, eingelegte Gedichte, Erzählungen und Berichte den größeren Teil des Texts ausmachen. Die Rosemund ähnelt in dieser Hinsicht einem Prinzip, das Zesen in den Moralia Horatiana ausgeführt hat. Danach sind bei „gastereien" Urteile „von hochwichtigen land- und reichs-geschäften" ebensowenig am Platz wie Zank „über die vornehmsten hauptstükke des glaubens".46 „Dis alfol-komne buhch", der Roman insgesamt, so liest man im Ehrengedicht des „Aem-

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nielle Laforge: Theorien über Hof, Staat und Gesellschaft in Philipp von Zesens Adriatischer Rosemund, in: Daphnis 11 (1982), S. 253-276. Dies ist die These der Interpretation von Sandra Krump: Zesens Adriatische Rosemund: Gesellschaftskritik und Poetik, in: Euphorion 94 (2000), S. 359-402. Die Verfasserin kann zwar überzeugend zeigen, daß die Verhaltensanforderungen eine Quelle von Konflikten sind. Krump fragt jedoch nicht nach der Funktion der Höflichkeit, bezieht das Komplimentierwesen auch nicht aufseine Vorgeschichte und vernachlässigt, daß der Roman keinerlei Hinweis auf eine kritische Distanzierung von der Höflichkeit enthält. Es ist allerdings folgerichtig, daß ihrer Interpretation zufolge die Konfessionsfrage keine entscheidende Rolle spielt, und ebenso, daß Rosemund keine exemplarische Bedeutung gewinnen kann, erst recht nicht in einem erbaulichen Sinn. Ich bin auch völlig anderer Ansicht als Kaczerowsky: Romankunst, S. 111, dem zufolge die Treue in der Rosemund nicht auf die Bewährung in der Anfechtung zielt (wie in den heroischen Liebesromanen), sondern „auf eine Bestätigung von Subjektivität". Ganz im Gegenteil interpretiere ich die Figur der Rosemund als eine Kultur- und Ordnungsinstanz. Zu Konventionalisierung und Inhaltsentleerung des höflichen Gesprächs Beetz: Höflichkeit, S. 138-141. Ebd., S. 171, zur Fähigkeit des Höflichkeit, „der Interaktion ihre Unwägbarkeit und Bedrohlichkeit" zu nehmen, „das Verhalten des jeweils anderen kalkulierbar und prognostizierbar" zu machen und dem „Unsicherheitsfaktor der Subjektivität in der Kommunikation" zu steuern. Für Beispiele vgl. Zesen: AR, S. 16f., 70, 77, 86, 105, 143, 148, 150f., 181, 184f., 191f., 262,278. Dazu Kaczerowsky: Romankunst, S. 88f. Vgl. Zesen: AR, S. 29, über Rosemunds Gedanken nach der Lektüre des Briefs: „Si hihlt es nuhr führt eine angefärbte schein-libelung / di er gegen ihderman / da doch sein härz weit anders gedächte / wohl zu gebrauchen wüste." Zesen: Moralia, S. 253.

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sigen", führe „solche räden [...] / dadurch ein höhfling recht und wohl würd ausgezihrt." (AR, S. 12)

4. Erbauliche Muster in der Adriatischen

Rosemund

Der Roman läßt sich als Versuch begreifen, im höflichen Umgang dem Spaltungspotential der Leidenschaften zu steuern und zugleich das Handeln erneut auf die allgemeingültige Grundlage zu stellen, die durch individuelle Sonderbestrebungen, Meinungsvielfalt und arbiträre ,Lehren' verdeckt wird. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Rosemund nicht als Erbauungsroman begreift. Es ist gut begründet, daß das Werk in der neueren Forschung unter anderen Aspekten diskutiert wird. Bei allem Leid sucht die Titelfigur keine Zuflucht in der Religion; insbesondere das Ende des Romans enthält keinen Ausblick auf einen jenseitigen Trost. Auch die eingelegten Gedichte, Erzählungen und Berichte bringen weder katechetische noch erbauliche Aspekte ins Spiel. Doch dem Verfasser ist daran gelegen, die höflichen Umgangsformen nicht als bloße Technik einzuführen, sondern als Weg zu einer neuerlichen Begründung nicht bezweifelbarer Handlungslegitimation. Diese unterscheidet der Absicht nach die Rosemund von der affektierten Höflichkeit der Franzosen. Aus diesem Grund greift Zesen auf literarische Schemata der Erbauungsliteratur zurück und gibt dem höflichen Verhalten zugleich die Dignität einer ursprünglichen Frömmigkeitsattitüde. Aus der Perspektive des Lesers nimmt es Züge erbaulicher Exemplarität an. Ferdinand van Ingen, dessen Argumente ich in diesem Punkt auch gegen neuere Einwände als stichhaltig ansehe, hat in seiner ÄasemiW-Interpretation auf frömmigkeitsgeschichtliche Zusammenhänge aufmerksam gemacht.47 Vor allem der Rückzug in die Schäferei48 deutet ihm zufolge auf einen Frömmigkeitskontext: Die Kontemplationsexistenz der Schäferin wirke als Remedium gegen die Laster der Eifersucht (AR, S. 41) und der Hoffart, von denen sich Rosemund zu Beginn des Romans nicht frei zeige. Die Schäferepisode sei der Reue gewidmet. In Frauenzimmers Büß- Beicht- und Beht-Büchlein verwendet Zesen Formeln des Sündenbekenntnisses und der Zerknirschung in einem unmittelbar religiösen Zusammenhang. Die Sünderin gesteht dort Stolz und Hochmut ein49 und wendet sich nunmehr stattdessen der Demut zu: „Aber was raht? Ich wil die demuht ergreiffen / und zum kreutz kriechen." So wird eine „hertzliche bereuung der Sünden"50

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Zum Folgenden Ferdinand van Ingen: Wiederaufnahme, S. 47-122, hier S. 89-99. Bei van Ingen ebenso wie bei Werner Volker Meid: Zesens Romankunst. Diss. Frankfurt a. M. 1966, S. 5-42, auch Hinweise zur älteren Forschung. Gegen van Ingen wendet sich Krebs: Manieren, S. 408410. Krebs sieht die Rosemund-Handlung durch die Parallelerzählungen relativiert. Wenigstens im Fall der „Begäbnis Der Böhmischen Gräfin und des Wild-fangs" und der „Nider-ländische[n] geschieht von einer ahdlichen Jungfrauen und einem Ritmeister" kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die Kontrastwirkung erst recht zu einer Apotheose der Zentralfigur fuhrt. Auch wenn die Schäferei ein geselliges Ereignis ist, verbindet sie sich mit der Haltung der Weltabkehr, vgl. dazu Zesen: AR, S. 115. Zur Schäferepisode auch Kaczerowsky: Romankunst, S. 33-36. Zesen: Büß- Beicht- und Beht-Büchlein, S. 478. Ebd., S. 479.

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möglich: „Ich wil hingehen / und meine Sünde beweinen / und meine mishandlungen betrauren."51 Eine ähnliche Grundhaltung erkennt man in der Rosemund wieder. So, wie im Büß- Beicht- und Beht-Büchlein die Sünde als „Krankheit" geheilt werden soll,52 ist auch die Schäferei der Ort einer Genesung, „weil di Sehle bei geselschaften das gift ihrer krankheit so frei und ungehintert nicht ausstohssen darf / auch nicht eher / si sei dan dässen entladen / der gegen-mittel und des trohstes fähig ist." (AR, S. 115) Umgekehrt ist für Markhold die Erinnerung an Rosemund ein Gegenstand der Betrachtung und Erbauung. In Paris ist Rosemund „sein einiger trohst; und ihr gedächtnüs wahr sein lahbsahl." Rosemunds Andenken kann „ein krankes härz erfräuen" und „eine halberstorbene Sele läbendig" machen. (AR, S. 19f.) Es gilt im bukolischen Kontext, den Makel der Sünde zu tilgen: „Dan ich hätte", so schreibt Rosemund an Markhold, „vihl lihber meinen schähffer-stahb / die schähflein dahrmit zur gesunden weide zu leiten / fuhren wollen / als dise fader / mein verbrächchen damit aus zu tilgen / zur hand nähmen." Markhold entnimmt dem Brief „ihre beständigkeit / und härzliche beräuung ihres verbrächchens." (AR, S. 113) Im Schäfergewand übt sich Rosemund in der Buße. Sie habe nunmehr ihren ehemaligen „hoch-fahrenden stand verlahssen", „der frommen schähflein ahrt und eigenschaft" angenommen und sich zur Demut bekehrt - „dehrgestalt / daß ich nuhn mit demühtigem härzen und nidrigem geiste solches verbrächchen beräue". Die Laster des Argwohns und des Hochmuts habe sie „nuhn gänzlich / vermittelst dises nidrigen läbens / das ich izund führe / aus meinem härzen vertilget." (AR, S. l l l f . ) Ihren Geliebten stellt sie sich „in gestalt eines Himmels-bohten" vor, der „si ihres argwahnes halben hätte bestrahffen wollen; dehrgestalt / daß si nunmehr ihren eifer-süchtigen muht gänzlich gebrochchen / und den beleidigten üm verzeuhung anflöhen wolte." (AR, S. 120) Auf diese Weise wird Rosemund zum Idealporträt der Standhaftigkeit und Selbstlosigkeit und rechtfertigt die ihr wiederholt zugeeigneten Epitheta des Überirdischen und Übermenschlichen, die Zesen der Topik des Heroischen entnimmt.53 Doch speziell die Darstellung ihres zunehmenden körperlichen Verfalls orientiert sich, folgt man van Ingen, an Mustern der Erbauungsliteratur. Für die bukolische Abkehr von der Welt läßt Zesen den Assoziationshintergrund des asketischen Klosterdaseins wenigstens anklingen. Rosemunds Diener berichtet über ihre „begähbnisse [...] zur zeit ihres schähffer-läbens": Ich wül nicht sagen / wi si sich anfangs aus mishofhung in einen Jungfer-zwünger begäben wollen: und wie si ihr nahch-mahls fohr das eingezogene gelohbte laben dieses ihr gegenwärtiges [das schäferliche] / aus bewusten uhrsachen und eigner wülkühr ein zu träten beliben lahssen. (AR, S. 114, 144, 107)

Die Demut deckt den moralischen und theologischen Legitimationsbedarf der Höflichkeit ab, während letztere geradezu als verhaltenspraktische Seite der De51 52 53

Ebd., S. 480. Ebd., S. 477f., 488, 496. Dazu Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen .politischer' Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 65), S. 24-54.

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mut erscheint. Die Suche nach einem nicht hintergehbaren Fundament sozialer Eintracht konvergiert mit dem Interesse an einem Erbauungskonzept, das allen Partikularisierungstendenzen vorausliegt. Einer exemplarischen Anleitung zum höflichen Umgang steht in diesem Sinn die Dignität des Erbaulichen nicht fern. In der Schäferepisode verdichtet sich der Versuch, diejenige sprachliche, moralische und theologische Ursprungsnähe zu gewinnen, die aus der Perspektive der modernen Pluralisierungserfahrungen als verloren erscheint. Die Bukolik als „vetustissimum genus",54 als „älteste Kunst",55 führt, wie Klaus Garber dargelegt hat, in die Nähe der adamitischen Sprache zurück, vergegenwärtigt die ursprüngliche Sittenreinheit der Deutschen und steht sogar für die universalen Glaubenswahrheiten ein.56 Der Roman erhebt den Anspruch, den Weg zu einer Befriedung der Affekte wie auch zu einer allgemeingültigen Verständigungsbasis zu weisen. Das beunruhigende Orientierungsdefizit scheint damit neutralisiert zu sein. Um solche Bedeutungsdimensionen glaubhaft zu machen, versichert sich Zesen schließlich des Beistands der Melancholie. Unmittelbar reagiert Rosemunds Schwermut auf die Unmöglichkeit, den Konfessionsdissens zu überwinden und eine Verbindung mit Markhold einzugehen: Aber di fräude der Rosemund währete nicht lange: dan so bald si von ihrer fräundin vernahm / daß sich ihr Her Vater zu disen des Markholds fiihr-geschlagenen bedüngungen ganz und gahr nicht verstähen wollte / so geriht si in eine tühffe schwähr-mühtigkeit / und ward widerüm so häftig betrühbt / als si kurz zufohr erfräuet gewäsen wahr. (AR, S. 138)

Im Fortgang greift Zesen die physiognomischen Aspekte der Melancholie-Topik auf: Die Wangen fallen ein, die Augen werden matt, die Lippen blaß, die Bewegungen langsamer, die Stimme heiser, der Leib schmächtig, und die Anmut verliert sich (AR, S. 263). Dieser Leidenserscheinung entspricht schließlich auch das Taedium vitae (AR, S. 264, 278). Das Schlußtableau, das sich dem Gedächtnis des Lesers einprägen soll, läßt Rosemund geradezu als Sinnbild der Schwermut erscheinen: „Solcher gestalt ward die wunder-schöne Rosemund ihres jungen läbens weder sat / noch fro / und verschlos ihre zeit in lauter betrühbnüs." Mittelbar ist die Melancholie darüber hinaus ein Reflex frühneuzeitlicher Pluralisierungs-, Komplexitäts- und Desorientierungserfahrungen.57

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Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira, Bd. I. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 94. Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. Ndr. der Ausgabe Leipzig 1688, hg. v. Rosemarie Zeller. Tübingen 2000 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 41), S. 805. Klaus Garber: Pastorales Dichten des Pegnesischen Blumenordens in der Sozietätsbewegung des 17. Jahrhunderts. Ein Konspekt in 13 Thesen, in: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 146-154. Vgl. Wolfgang Weber: Im Kampf mit Saturn. Zur Bedeutung der Melancholie im anthropologischen Modernisierungsprozeß des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 17 (1990), S. 155-192. An Zesens Adriatischer Rosemund ließe sich das Verhältnis von verzichtbedingter Melancholie und funktionalitätszugewandter therapeutischer Reise beobachten, wie Ulrich Breuer (Melancholie und Reise. Studien zur Archäologie des Individuellen im deutschen Roman des 16.-18. Jahrhunderts. Münster 1993, S. 161-201) es an ausgewählten Schäfereien des 17. Jahrhunderts dargestellt hat.

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Der Schlußabsatz preist allerdings auch erneut „das rühmliche gedächtnüs der über-mänschlichen Adriatischen R O S E M U N D " (AR, S. 281). Im Vordergrund stehen also weder allein die Pathographie der Melancholie noch die moralische bzw. theologische Distanzierung von ihr als Ursache der Trägheit oder die politische von der Schwermut als funktionalem Störfaktor im Staat, sondern die Melancholie als Auszeichnung der demütigen und höflichen Heldin. 58 Gerade die Schwermut trägt zum Charisma der Hauptfigur, zu ihrer Ausgestaltung als eines eindrucksvollen und einprägsamen Exemplums bei und wird in dieser Funktion demonstrativ vorgewiesen. Daß Rosemund in diesem Sinn als Kontemplationsgegenstand gemeint ist, läßt schon die „Auf-trahgs-schrift" anklingen: Es ist nichts irdisches und vergängliches an ihr als der hinfällige leib / welcher doch nichts das zu weniger seiner schöhnheit und ahrtigen bewägung halben auch fast götlich scheinet / und billich nimmer-mehr vergähen solte. (AR, S. 7) Erst die Schwermut läßt das höfliche Verhalten als völlige Selbstrücknahme in Erscheinung treten, die auf jede Parteinahme im Meinungsstreit verzichtet. So sind schließlich Melancholie und Todesverfallenheit das letzte Beglaubigungsmittel, das die Hauptfigur zu einem Beispiel der Höflichkeit mit den Z ü g e n eines Andachtsbilds v o n Tugend und Wahrheit werden läßt. 59 Ob freilich der Kulturentwurf des Romans ganz das Wissen bewältigen kann, daß er selbst v o n bewerkstelligter und relativer Machart sei, m a g hier dahingestellt bleiben.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Rotth, Albrecht Christian: Vollständige Deutsche Poesie. Ndr. der Ausgabe Leipzig 1688, hg. v. Rosemarie Zeller. Tübingen 2000 (Deutsche Neudrucke: Reihe Barock 41). Saavedra Fajardo, Diego de: Abris eines christlich-politischen Printzens / in CI Sinn-Bildern vnd mercklichen symbolischen Sprüchen [...] zuvor auß dem spanischen ins lateinische: Nun in teutsch versetzet. Köln 1674. Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira, Bd. I. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Weigel, Valentin: Der güldene Griff, hg. und eingeleitet von Horst Pfeffer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Sämtliche Schriften 8). Zesen, Philipp von: Andächtiger Lehr-Gesänge von Kristus Nachfolgung und Verachtung aller eitelkeiten der Welt / erstes Mandel / Aus dem Seeligen Thomas von Kempis gereimet / und mit anmuhtigen Sangweisen gezieret durch Malachias Siebenhaaren [...]. (1675). Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und 58

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Für ein Beispiel positiver Bewertung der Melancholie und sogar des Todeswunschs im erbaulichen Zusammenhang vgl. Zesen: Lehr-Gesänge, S. 338-340 („vom Nutzen der Widerwärtigkeit"). Offenbar ist hier an einen Tugendheroismus zu denken, der, wie Zesen später in den Moralia Horatiana, S. 238f., ausgeführt hat, das Kriegsheldentum in den Schatten stellt: Die Ehre „zwinget die zeit / ihrer macht und misgunst ungeachtet / daß sie ihr die hände leihen mus / uns über alle vergängligkeiten zu setzen; und von jähren zu jähren / durch aus-breitung der berühmten leute tahten / verkündigen; daß also alle diejenigen / welche die tugend darzu würdig schätzte / solten geehret werden."

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Volker Meid. Bd. I, 2. Lyrik I. Bearbeitet v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1993 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 142). Adriatische Rosemund. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. IV, 2. Bearb. v. Volker Meid. Berlin u. New York 1993 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Rosen-mänd. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XI. Bearbeitet v. Ulrich Mache. Berlin u. New York 1974 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Des Weltlichen Standes Handlungen / und Urteile wider den Gewissenszwang in Glaubenssachen. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XIII. Bearbeitet von Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1984 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 110). Moralia Horatiana. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XIV. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 153). Frauenzimmers Büß- Beicht- und Beht-Büchlein. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XIV. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 153). Niederländischer Leue: Das ist / Kurtzer / doch grundrichtiger Entwurf der innerlichen Gestalt und Beschaffenheit des Staht-Wesens der sieben Vereinigten Niderländer. Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen unter Mitwirkung von Ulrich Mache und Volker Meid. Bd. XV/2. Bearb. v. Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1987 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 121).

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Franz Μ. Eybl

Vom Verzehr des Textes Thesen zur Performanz des Erbaulichen

Werner Welzig zum 13. August 2005

Das Erbauliche kennt viele Gestalten: Aedificatio, Andacht, Aszetik, Betrachtung, Erbauung, Gebet, Kontemplation, lectio spiritualis, meditatio. Die hier alphabetisch aufgezählten Bezeichnungen beruhen auf verschiedenen Voraussetzungen, sie unterscheiden sich im Umfang ihrer Gegenstände und in der Komplexität ihrer Verrichtung, benennen Strukturen, Gattungen, Praktiken oder Effekte. Gemeinsam ist ihnen die Thematik des Religiösen und ihre Abundanz im konfessionellen Zeitalter. Diese mehr oder weniger ausdifferenzierten Elemente eines historischen religiösen Diskurssystems sind bis auf wenige Ausnahmen nicht an ein bestimmtes Medium gebunden. Andacht wie Meditation, Gebet wie Betrachtung wird vor Bildwerken ebenso wie mittels Sprachwerken oder im Hören von Musik betrieben, nicht zuletzt auch angesichts emblematisch aufbereiteter oder - historisch später - als erhaben erlebter Natur. Zentral ist ihre kommunikative Struktur, denn alle Tätigkeiten, für die diese Begriffe stehen, brauchen ein Gegenüber, als Botschaft, die durch ein mediales Objekt vermittelt wird, oder aber als Vorstellungs- bzw. Glaubensinhalt: einen persönlichen Gott. Die spezifischen Kommunikationsakte sind nicht bloß als lineare Decodierung eines Zeichensystems zu beschreiben, sondern erscheinen als komplexere, reziproke Vorgänge. Die Begriffe des .Erbaulichen' im allerweitesten Sinne konvergieren darin, daß sie das bloß Hermeneutische in Richtung aufs Performative überschreiten, in eine gewissermaßen .dramatische' Dimension, auf die für die Andacht Rudolf Schenda hingewiesen hat.1 .Erbaulichkeit' ist damit kein bloßes materielles Strukturmoment, sondern eine Rezeptionskategorie innerhalb eines unter beschreibbaren Regeln ablaufenden Zeichenspiels. Das Prozeßhafte und die Beteiligung daran ist mit der Speisemetapher historisch dauerhaft allegorisiert. Zahlreich die biblischen Vorbilder der Abendmahlmetaphorik, der Metaphorik des Gastmahls, des Nährvaters, der den Kindern das Brot bricht. „Christus will die Koste sein Und speisen die Seel allein" heißt es in Versus VII der Bachschen Osterkantate („Christ lag in Todesbanden",

Rudolf Schenda: Leidensbewältigung durch christliche Andacht. Geistliche und soziale Therapie-Techniken in der Devotionalliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Le livre religieux et ses pratiques. Der Umgang mit dem religiösen Buch, hg. v. Hans Erich Bödeker, Gerald Chaix und Patrice Veit. Göttingen 1991 (Veröffentlichungen d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 101), S. 388-402, hier S. 391f.

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BWV 4) nach Martin Luthers Osterlied (1524). Zu Mt 4,4 „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht" schreibt Augustinus: „Wenn du nämlich hörst oder wenn du liest, ißt du; wenn du darüber nachsinnst, kaust du wieder".2 „Die heilsame Einverleibung des sterbenden Christus findet ihre Entsprechung in der meditativen ruminatio des biblischen Wortes."3 „Durch die ruminatio, das ständige ,Wiederkäuen' des Textes, wird der Text als Nahrung der Seele inkorporiert. Wiederkäuen bedeutet: den Text immer wieder lesen, ja immer wieder im Gedächtnis wiederholen, um ihn zu .durchkosten'."4 „Meditation ist das immer wiederholte Lesen einer Bibelstelle. Ruminatio, das Wiederkäuen, ist geradezu ein Synonym fur Meditation."5 Im Gegensatz zum langsamen Kauen und Käuen benennt das Bildfeld des Verschlingens die rasche, konsumierende Lektüre: „Romane zum Beispiel sind dazu da, verschlungen zu werden. Sie lesen ist eine Wollust der Einverleibung."6 Während die Romanlektüre den Akt des Einverleibens als solchen vergessen macht, besteht meditative Lektüre gerade auf seinem langsamen, bewußten Vollzug. Im Historischen Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe findet die historisch keineswegs ephemere Lektüreerfahrung der Erbauung zwischen .Ephemer' und .Erfahrung' keinen Platz.7 Auch die Begrifflichkeit der Rhetorik läßt sich zur Beschreibung dieser Vorgänge nur bis zu einem gewissen Grad heranziehen, wenn man an den klassischen Arbeitsschritten entlang geht. Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik ist bloß die .Erbauungsliteratur' und nicht die .Erbauung' selbst als Stichwort aufgenommen, obwohl sie als rhetorisches .Absehen' (dieses Lemma gibt es) zweifellos existierte. Doch rückt dort etwa Günter Butzer im Artikel .Meditation' die hier in Frage stehenden Verrichtungen und Vorgänge in den Bereich der inventio, wenn er Meditation als „Verfahren der Gedankenfindung" beschreibt, und in den Bereich der dispositio, wenn es um die „Verfahren der Seelenführung (Psychagogie)" geht.8 Als Phänomen der elocutio entwickelte Wolfgang Brückner 1985 eine „Poetik des Erbaulichen"9

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Gerhard Kurz: Zur Bedeutung der .Betrachtung' in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 2), S. 219-250, hier S. 221. Günter Butzer: Rhetorik der Meditation. Martin Mollers „Soliloqvia de Passione Iesu Christi" und die Tradition der eloquentia sacra, in: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit, hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 2), S. 57-78, hier S. 69. Vgl. zum Zusammentreffen von „Theophagie und Grammatophagie", S. 69f. Kurz: Bedeutung, S. 221. Johannes Wallmann: Zwischen Herzensgebet und Gebetbuch. Zur protestantischen deutschen Gebetsliteratur im 17. Jahrhundert, in: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden, hg. v. Ferdinand van Ingen u. Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 92), S. 13-46, hier S. 26. Walter Benjamin: Romane lesen, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1980, S. 313. Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2: Dekadent - Grotesk. Stuttgart u. Weimar 2001. Günter Butzer: Meditation, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerd Ueding u. Walter Jens. Bd. 5. Tübingen 2001, Sp. 1016-1023. Wolfgang Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, hg. v.

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oder beschrieb Hans-Henrik Krummacher die „ungemeine [...] Sprachfähigkeit, ja Sprachmäßigkeit"10 der barocken Erbauungsliteratur, also deren literarische Wirkmittel. Die Schwierigkeiten solcher Sichtweise werden noch zu exponieren sein, da hier das Schlaglicht auf der Rezeption und ihrem Verfahren liegen soll. Wenn das punktuelle Verschlingen größte Gegenwärtigkeit zum Effekt hat, so das ,Wiederkäuen' größte Dauer, weshalb es zum Bereich des Gedächtnisses gehört. Diesen vierten Arbeitsschritt bringt Butzer als „Verfahren der Textverarbeitung" mit dem memona-Konzept sowie mit der loci-imagines-Lehre in Verbindung. Nicht bedacht wurde bisher der Schritt der actio, die direkte und prozeßhafte Beeinflussung der Rezipienten durch das, was sich erbaulich, meditativ, aszetisch, andächtig und religiös nennt (oder so wahrgenommen wird). Um diesen performativen Aspekt, seine Voraussetzungen als Vertrag zwischen Leser und Text sowie seine historischen Folgen wird es nun gehen.

1. Der Leseakt der Erbauung 1.1 Textbedeutung und Heilserwartung Der Akt des Erbauens und der Charakter des Erbaulichen kann in drei aufeinander folgenden, den Prozeß nachzeichnenden Momenten als Leseakt beschrieben werden: zu fragen ist nach den Voraussetzungen erbaulichen Lesens, nach der Art der Performanz, nach der Überprüfbarkeit des Gelingens. Den ersten Aspekt verdeutlicht ein kurzes Zitat aus einer Vorrede vom Frankfurter Theologen, Vielschreiber und späteren Spener-Herausgeber Johann Georg Pritius (16621732). Pritius ist eine nicht unbedeutende Gestalt des lutheranischen gelehrten Lebens und ein fleißiger Publizist: als akademischer Lehrer und Disputationsvorsitzender, als Vorredner und Herausgeber zahlreicher Werke, vor allem natürlich als hauptamtlicher Theologe.11 Zwei Vorreden hat Pritius in Werke bzw.

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Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. Dieter Breuer. Bd. 2. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 12/13), S. 499-507. Vgl auch ders.: Erbauung, Erbauungsliteratur, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hg. v. Kurt Ranke u.a. Bd. 4. Berlin u. New York 1984, Sp. 108-120. Krummacher, Hans-Henrik: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert, in: Rhetorik 5 (1986), S. 97-113 [zuerst 1984], hier S. 100. Vgl. auch ders.: Erbauung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter. Bd. 2. Basel u. Stuttgart 1972, Sp. 601-604. Geboren und ausgebildet in Leipzig, war Pritius lutheranischer Theologe und Theologieprofessor, 1701 Superintendent, 1708 Pastor Primus der Marienkirche Greifswald, schließlich 1711 Senior des lutheranischen geistlichen Ministeriums in Frankfurt a. M., wo er bis zu seinem Tode 1732 blieb. Er veröffentlicht von der Macarius-Ausgabe über diverse lateinische Gutachten bis zu den Produkten der pastoralen Tätigkeit, den Leichen-, Hochzeitsund Gelegenheitspredigten sowie mehreren Erbauungsbüchlein, eine bisher bibliographisch nicht durchdrungene Flut von mehreren Dutzend Titeln in ca. 80 Ausgaben und Auflagen. Die Pietismusforschung ist an ihm nicht vorbeigegangen: Als zweiter Nachfolger Speners in Frankfurt hat er einige Ausgaben veranstaltet. Bei Dietrich Blaufuß: Pritius, in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 9. München 1991, S. 231-232 die nach Hermann De-

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Übersetzungen d e s Philipp Balthasar Sinold gen. Schütz gesetzt, der seinerseits ein fruchtbarer Herausgeber v o n Auskunfts- w i e v o n Erbauungswerken war. Betrachtungen

nennt Sinold schon seine Übertragung v o n Jean Baptiste M o r v a n

de Bellegardes Reflexions

sur le ridicule

s o w i e seine Übersetzung aus Augusti-

nus. 1 2 Eine ganze Serie v o n „Heiligen", „Hochwichtigen" oder „Gottseeligen" Betrachtungen „auf alle T a g e des g a n z e n Jahres" b z w . „eines Monats" erscheinen ab 1718, der erste Band mit einer Vorrede des Pritius, 13 später dann die 2 0 0 Betrachtungen der Seelen-erquickenden

Himmels-Lust

( 1 7 2 8 ) . 1 4 Hier geht e s u m

die „ H o c h w i c h t i g e ( n ) Betrachtungen, w e l c h e z u Erlangung der Glückseeligkeit des zukünfftigen Lebens e i n e m M e n s c h e n höchst dienlich seyn" ( 1 7 2 0 und 1725). 1 5 D i e Übersetzung geht auf den englischen Traktat eines unbekannten Autors zurück: „Wer derselbe sey, das hat er weder selbsten z u erkennen g e g e ben, n o c h haben wir anderwärts davon Nachricht erhalten können" (Vorrede, Bl. b7 r ). Pritius hat mittels einer allographen Vorrede 1 6 die mangelnde Autorisierung des Werks kompensiert, dessen Autor unbekannt und d e s s e n Übersetzer hinter e i n e m P s e u d o n y m versteckt ist. Formuliert ist eine Miniaturpoetik des Erbaulichen: Nun, mein geliebter Leser, es werden dir demnach hiemit diese hochwichtige Betrachtungen zu deinem Gebrauch überlassen, und ich versichere dich, daß du ohne eine hertzerquickende Erbauung dieselben niemals in die Hand nehmen, und von dir legen wirst. [...] Du magst aber darinnen vor eine Ordnung halten, was du wilst, so lies nur dasselbe mit ei-

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chents Darstellungen (u. a. in Allgemeine Deutsche Biographie, hg. v. R. v. Liliencron u. F. X. v. Wegele. Bd. 26. Leipzig 1888 [Nachdr. Berlin, Duncker & Humblot 1970, S. 602604]) kundigste Würdigung. Vgl. ferner Anke Hees: Pritius, in: Deutsches Literatur-Lexikon, hg. v. Bruno Berger, Heinz Rupp u.a. Erg. Bd. VI . 3. völlig neu bearb. Aufl. Bern 1999, Sp. 463 (mit weiteren Literaturhinweisen). Gottselige Betrachtungen Des Heiligen Augustini. Oder Auserlesene Geistreiche Gebethe, 1731. - Des Herrn Abts von Bellegarde Betrachtungen über die Auslachens-Würdigkeit, und über die Mittel, selbige zu vermeiden. Leipzig 1708, 2 1710; Tl. 2: Betrachtungen über die Artigkeit derer Sitten. Ebd. 1710, 21716. - Die erbaulichen Werke Sinolds sind m. W. bibliographisch noch nicht erschlossen. Amadei Creutzbergs Heilige Betrachtungen Auf alle Tage des gantzen Jahrs / Darinnen sich eine glaubige & andächtige Seele über einen auserlesenen Spruch der H. Schrifft vermittelst einer deutlichen Erklärung / und inbrünstigem Reim-Gebetlein ermuntert, erbauet, erquicket und tröstet. Frankfurt: Monath 1718; ζ. T. unter dem Titel „Gottseelige Betrachtungen" in mehreren Auflagen bis 1856 aufgelegt. Amadei Creutzbergs Seelen-erquickende Himmels-Lust auf Erden. Nürnberg: Monath 1728; mit einigen weiteren Auflagen. [Philipp Balthasar Sinold von Schütz:] Hochwichtige | [r] Betrachtungen, | welche zu Erlangung der | Glückseligkeit des zukünfftigen | [r] Lebens | einem Menschen höchst dienlich seyn. | Aus dem Englischen übersetzt | von | [r] Amadeo Creutzberg. | Mit einer Vorrede | JO. GEORGII PRITII, der Heil. Schrifft | Doctorn, und des Ministerii zu Franckfurt | Seniorn. | [Emblem/Druckermarke CVM DEO ET DIE, Kupferstich] | [Strich] | [r] Franckfurt, bey Petr. Conrad Monath 1725. 8°, a-c (Bl. a8 fehlt), A-Y = Tk, Tb, [21] Bl., S. 1 352. - In manchen Bibliothekskatalogen wird als Original angegeben John Shower (16571715): Serious reflections on time and eternity with some other subjects, moral and divine. London 1689 u. ö. Gerard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. u. New York 1989 (Studienausgabe 1992), S. 251ff.

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nem aufmercksamen und einem Heils=begierigen Gemüth; erhebe dabey mit dem Verfasser zu GOTT allezeit deine Seele, und begleite seine Worte mit deiner Andacht, daß sie gleichsam in deine Gedancken verwandelt werden, so wirst du davon den allerseeligsten Nutzen haben [...]. 17

Die hier auf kleinstem Raum versammelten Argumente entfalten die Voraussetzungen und Verfahren erbaulichen Lesens. Sie bieten dem Leser nach dem Muster anderer Fiktionsverträge18 in Vorworten erzählender Literatur eine Abmachung, die als „Erbauungsvertrag" bezeichnet sei. Da ist der Text, der von einem Geistlichen als wertvoll, brauchbar, als „hochwichtig" beglaubigt wird die Geltung religiöser Texte ist immer schon durch Autorität und Hierarchie abgestützt.19 Da ist der Text als Vorrat, aus dem sich der Leser bedienen könne, eine Vorstellung, die mit den Metaphern der Schatzkammer oder des Gartens übereinstimmt, denn der Text ist unerschöpflich und nicht zu Ende zu lesen.20 Er ist portioniert, was einerseits der Gedächtniseinprägung entgegenkommt, andererseits Verfügbarkeit gewährleistet. Erbauung - und das macht ihre rhetorische Beschreibung so schwierig - stellt sich ja nicht selten am Detail ein und bedarf nicht der Absolvierung eines ganzen Textes oder Buches. Anders gesagt: Erbauung kann auf den Werkcharakter ihres Gegenstandes verzichten und der Wirkungsstruktur eines geschlossenen Textes entraten. Der Leser selbst verfügt gemäß der Vorrede des Pritius einerseits über den Text völlig souverän, andererseits ist er dessen Autorität völlig unterworfen. Er nähert sich mit Aufmerksamkeit und Heilsbegierde. Die gute erbauliche Lektüre führt zur Aneignung, indem mit der Rede des Verfassers Gott angesprochen wird. Das Lesen soll die vorliegenden Worte aktiv .begleiten' und sie in eigene Gedanken verwandeln, also ins Gedächtnis bringen. Hier ist keine differenzierte Imaginationstechnik oder Bildrhetorik verlangt, keine mystische Verschmelzung, sondern das Memorieren und Mitbeten. Damit wird eine Verdoppelung der Kommunikationssituation errichtet, die zu einer Bespiegelung des Lesers im Text fuhrt.

1.2 Verdoppelung und Bespiegelung Die Errichtung und Pflege dieser Bezüge ist die eigentliche performative Aktivität erbaulichen Lesens. Seren Kierkegaard hat den Sachverhalt reflektiert, wenn er in der ersten der Drei erbaulichen Reden (1843) das Betrachten als Aktivität definiert: „Das, was man sieht, sei nicht nur ein Empfangen und Ent17 18 19

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Johann Georg Pritius: Vorrede, S. c3vf. Genette: Paratexte, S. 209ff. Paul J. Griffiths: Religious Reading. The Place of Reading in the Practice of Religion. New York u. Oxford 1999, Kap. 3 „The Context of Religious Reading", S. 60-76, hier S. 64ff. So unterschiedlich die Funktion von Autorität und Hierarchie in den Konfessionen auch gewichtet wird, für die Verbindlichkeit religiöser Texte gilt sie hüben wie drüben. Griffiths merkt an, „that the work read is understood as a stable and vastly rich resource [...]. Reading, for religious readers, ends only with death, and perhaps not then: it is a continuous, ever-repeated act." Ebd., S. 41.

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decken, sondern zugleich ein Hervorbringen. Was man sieht, sei also davon abhängig, wie man sieht."21 Die Performanz erbaulichen Lesens verlangt einerseits Vorentscheidungen, andererseits eine bestimmte Wahrnehmung (um nicht zu sagen: Verarbeitung) des Textes. Diese Wahrnehmung beruht auf Phänomenen der Verdoppelung und der Bespiegelung. Verdoppelt ist in diesem Modell das Sprechen und das Angesprochensein, weil sich über den Leseakt ein Gespräch mit Gott legt. Nicht nur ergeht eine Rede des Textes (oder ein Zeichenstrom anderer Gegenstände und Eindrücke), es ergeht damit im Bewußtsein des Subjekts auch eine Rede Gottes, insofern die Begegnung mit dem Text zugleich eine Begegnung mit dem höchsten Wesen ist. Der Autor spricht zum Leser, doch mit seiner und durch seine Stimme äußert sich auch Gott, und wenn der Leser dem Autor antwortet, spricht er zugleich zu Gott. Dabei wird Gott nicht etwa als Ergebnis von Lektüre gefunden, wie das die Betrachtung bzw. Meditation bezweckt,22 sondern ist im Bewußtsein schon vor Beginn der Lektüre da, so daß die erbauliche Lektüreeinstellung den Sachverhalt der ,realen Gegenwart' (George Steiner) geradezu gewährleistet. Das Innesein einer absoluten Instanz ist nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung der Erbauung. Gottes Geltung und Präsenz ist der erste Paragraph des Erbauungsvertrags. Der Verdoppelung der Kommunikationssituation steht eine eigentümliche Beziehung zum Text an der Seite. Der erbauliche Text zeichnet sich durch Mangel an Verweispotential in eine außerpsychische Außenwelt aus, also an Mimesis und Pragma. In höherem Grade als andere Lektüren verwickelt erbauliches Lesen die Innenwelt von Leserin und Leser. Die Relation von lesendem Subjekt und Text beruht auf konstruktivem Mitvollzug, der das Individuum so sehr beansprucht, daß es zuletzt im Text zu erscheinen scheint - „man gerät dazu, sich selbst zu sehen" (Kierkegaard).23 Historisch gesehen, ist die Spiegelmetapher für den Texttypus der Erbauung weitverbreitet und gattungsstiftend gewesen, sie signalisiert die Aufforderung aktiver erbaulicher Aneignung des Textes und individueller Applikation, ob im Fürsten-, Stände-, Beicht- oder Sterbespiegel. Dies setzt Text und Leser in ein Symmetrieverhältnis, das einer rhetorischen

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Richard Purkarthofer: Wider das unlebbare Leben. Studien zur Kommunikation in den „erbaulichen Reden" Sören Kierkegaards. Masch. Diss. Wien 2001, S. 57. Martin Nicol definiert als Ziel der Meditation die „erfahrungsmäßige Begegnung mit Gott". Meditation bei Luther. Göttingen 1984, S. 15, hier zit. nach Oliver Pfefferkorn: Die Meditation im 16. und 17. Jahrhundert unter dem Aspekt der Sprachhandlung, in: Internationale Tendenzen der Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Akten des 32. Linguistischen Kolloquiums in Kassel 1997, hg. v. Hans Otto Spillmann u. Ingo Warnke. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Linguistik International 1), S. 375-381, hier S. 375. Ein Zeichen des Widerspruchs „zieht die Aufmerksamkeit auf sich, und dann präsentiert es einen Widerspruch. Da ist etwas, das macht, daß man es nicht lassen kann zu sehen - und siehe, indem man sieht, sieht man wie in einem Spiegel, man gerät dazu, sich selbst zu sehen, oder er, der das Zeichen des Widerspruchs ist, sieht einem mitten ins Herz während man selbst in den Widerspruch hineinstarrt." (Einübung im Christentum, in: Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke. Bd. I, S. 18, hier zit. nach: Purkarthofer: Leben, S. 58) Vgl. auch Franz M. Eybl: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 6), Kap. 4.2.5.2: „Das geistliche Lesen. ,Buch-Spiegel' und ,Spiegel-Buch'".

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Text- und Wirkungsauffassung konträr entgegen steht. Denn die frühneuzeitliche Auffassung des Spiegeins geht nicht von Passivität aus, sie ,,leg[t] vielmehr nahe, daß irgend etwas aktiv hin und her laufen müsse, um ein Spiegelbild hervorzurufen, daß die genaue Wiedergabe auf einer materiellen Ausstrahlung und einem materiellen Austausch beruhe",24 setzt also einen Prozeß mit hoher Beteiligung des Rezipienten ins Bild. Kierkegaard hat beobachtet, wie der Leser mit Antithese, Rätsel und Metapher in den Text involviert wird, bis er sich darin spiegelt.25 Nicht selten bildet der Text selbst die mit der Bespieglung einhergehende Aktivität ab, indem die Rede als Dialog organisiert wird. In der ignatianischen Frömmigkeit bildet die Dialogizität von Ruf und Antwort 26 ein solches Element. Der erbauliche Vertrag beinhaltet somit auch den Willen, sich selbst im Text zu suchen und zu erkennen. Die Eigenart des erbaulichen Bespiegeins und Verdoppeins kann in Abgrenzung zum Begriff der ästhetischen Verstrickung deutlich werden. In rezeptionsästhetischer Terminologie ist damit die Relation zwischen sprachlichem Signalrepertoire und den „Formgebungsakte[n] des Lesers selbst" gemeint. Die Verstrickung des Lesers in den literarischen Text besteht in der Ergänzung des unvollständigen Codes. Denn wenn die Verweise unvollständig sind, wenn also „der Code aufgehört hat, Regulativ zu sein, dann gründet die Kontrollmöglichkeit der Kommunikation nicht mehr im Signalrepertoire des Codes, sondern muß in die Formgebungsakte des Lesers selbst eingelagert sein, zumal sich diese als Umschichtung sedimentierter Erfahrung und damit als Suspendierung vorgegebener Orientierung vollziehen".27 Dies ist erbaulicher Lektüre aus zwei Gründen nicht möglich. Einerseits nämlich zeichnet erbauliche Texte eine unendliche Zahl von Unbestimmtheitsstellen und damit eine im Prinzip unabschließbare „Sinnermittlung" aus. Ein religiöser Text vermag auch bei ständiger Wiederholung seine niemals einholbare Sinnpotentialität zu aktivieren und erweist sich im Besitz einer prinzipiell unendlichen Anzahl von Unbestimmtheitsstellen. Diese ermöglichen eine nuancierte Sinnkonfiguration, weil die Sinnermittlung solcher Unbestimmtheitsstellen immer dann zu einem etwas anderen Ergebnis führt, je mehr über den Text selber bekannt wird bzw. je mehr ich ihn kenne oder .erfahre'. 28

Andererseits ist die Möglichkeit der Sinnfindung in der Glaubensrede wiederum kodifiziert und limitiert. Der Erbauungsvertrag zwischen Text und Leser deklariert Autor und Text als gottergeben und fordert die gottergebene Lektüre vom Rezipienten ein. Mit solcher Rede ist weder eine „Umschichtung sedimentierter 24

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Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin 1990, S. 13. Purkarthofer: Leben, S. 57ff. Martina Eicheldinger: Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 110), S. 82ff. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 218. Zum Begriff der Verstrickung S. 214 -218. Ansgar Paus: Die Analogie als Prinzip religiöser Rede. Salzburg 1974 (Salzburger Universitätsreden 54), S. 16.

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Erfahrung" möglich noch die „Suspendierung vorgegebener Orientierung", sondern das genaue Gegenteil: die Sedimentierung von Glaubenserfahrung und die Bestätigung der in der Lektürewahl bereits vorgegebenen Orientierung. Sedimentiert werden nicht dogmatische Inhalte, sondern Erfahrungsweisen. In dieser Konkretisationsmöglichkeit liegt ein wesentliches Kriterium erbaulicher Lektüre. Während literarisches Lesen überrascht und erschüttert, bestätigt und verfestigt erbauliche Lektüre, wobei sich im Freiraum zwischen den Polen der unendlichen Konkretisierungsmöglichkeiten und dem unbestrittenen Glaubensfundament die Individualität der Lektüre und die Subjektivität der Erbauung ergibt. Das bedeutet auch, daß ein und derselbe Text immer wieder neu erbaulich gelesen werden kann, weil ihn das Individuum neu mit subjektivem Sinn füllt, ohne dadurch, wie bei der ästhetischen Lektüre, seinen Wahrnehmungshorizont zu verschieben. Erbauliches Lesen verstört nicht, es versöhnt.

1.3 Selbst sprechen Als Ziel des erbaulichen Lesens gilt Stärkung im Glauben. Über diese unspezifische Zweckbestimmung geht die Performanz des Erbaulichen freilich hinaus. Sie zielt nicht nur auf langfristige Prozesse der Willensbildung und Verhaltensmoderierung, sondern ganz kurzfristig und deutlich auf ein Zur-Sprache-Kommen. Die zitierte Vorrede des Pritius hat das Zur-Sprache-Kommen des Lesers als Begleitung der Worte und als Gedächtnisleistung beschrieben. Andere Anleitungen machen deutlicher, daß Leser und Leserin selbst das Wort ergreifen und sich äußern sollen. Im Bildfeld des Feuers siedelt Martin Luther den Vorgang an - das Buch entzündet den Menschen zu eigenem Reden. Du magst wohl draus lesen und dich unterweisen, wie und was du bitten sollst, und dich anzünden. Aber das Gebet muß frei aus dem Herzen gehen, ohne alle gemachte und vorgeschriebene Worte und muß selbst Worte machen, darnach das Herz brennt. 29

Und nur so wird verständlich, was Philipp Zesen in der Vorrede seines Frauenzimmers Gebeht-Buch (1657) meint. Man solle „kurtz behten [...] / und nicht viel / sondern vielmahls / nicht viel auf einmahl / sondern wenig / und oftmahls; ja also die kürtze mit oft-wiederhohlten stoß-seufzern ersetzen / welche in solcher erhohlung gleichsam muht und kraft schöpfen [...]." 30 Das bedeutet nicht etwa ein Zurückdrängen des taediums durch brevitas,31 sondern das Zusammengehen von Lektüre, Betrachtung und eigenen Worten: 29

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Martin Luther: Weimarer Ausgabe, Bd. 17/T1. II, S. 49, 16-20, hier zit. nach Wallmann: Herzensgebet, S. 19. Philipp von Zesen: Frauenzimmers Gebeht-Buch (1657). Sämtliche Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen, Bd. 14: Ethische Schriften. Berlin u. New York 1997 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVII. Jahrhunderts), S. 337f. „Abwechslung verhindert, daß man nicht lange genug bei der Sache bleibe und dem taedium zum Opfer falle. Das Ergebnis ist eine kunstvolle, gepflegte Sprache, die fur den je verschiedenen Aspekt des Gebets die jeweils passende Form sucht." Ferdinand van Ingen: Form- und Stilfragen der Gebetsliteratur in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel von Philipp

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Daher seind unsere gebehte [...] gemeiniglich mit danksagungen / und betrachtungen der göttlichen wunder-tahten angefullet / und die seufzer zwischen-ein gemänget: damit durch solche abwechselung / die andacht üm so viel mehr erhalten/ oder aufs neue erwekket würde.

Ob diese Hinfuhrung zum eigenen Sprechen als Kennzeichen der lutheranischen Erbauung gelten muß, der auf anderer konfessioneller Seite etwa eine Favorisierung der Bilderproduktion und des Affekterlebens entgegen steht, ist beim derzeitigen Wissensstand nicht zu beantworten. Indizien bestehen nämlich auch für das jeweilige Gegenteil, seien es die Seufzer und Stoßgebete in Spees Tugendbuch, seien es die Bildmeditationen vor protestantischen Flugblättern. Tatsache und Problemhorizont ist eine spezifische Performanz, deren historische oder konfessionelle Differenzierungen erst aufzuarbeiten wären. Zentral erscheint die konfessionsübergreifende Präsenz des Phänomens .erbauliche Lektüre', wofür das Büchlein des Sinold einmal mehr einen Beleg liefert. Es ist die Übersetzung eines anglikanischen Textes mit einzelnen Textstellen, „darinnen wir in unserer Kirche anderer Meinung sind".32 Pritius selbst hat sich in orthodox lutheranischem Rahmen als Anhänger eines ,milden' Pietismus gezeigt (Dietrich Blaufuß), und das Exemplar, nach dem zitiert wird, stand (nach einem Eintrag vermutlich frühestens ab 1728) in der damals westungarischen Klosterbibliothek Frakno (Forchtenau, heute Burgenland, Österreich) des auf den katholischen Marienkult spezialisierten Servitenordens. Erbauung ist europäisch und konfessionsübergreifend. Sprachlich offenbart sich das Resultat gelungener Erbauung in der Gattung des Gebets, vorsprachlich in Gestalt des Seufzers. Dazwischen liegt das Stoßgebet. All diese Sprechakte (das Lied käme noch dazu) sind hochgradig kodifiziert, nicht zuletzt aufgrund ihrer Wertschätzung im Mittelalter und ihrer überkonfessionellen Geltung in der Frühen Neuzeit. Als preces iaculatoriae leiten sich die Stoß- oder Schußgebete von Augustinus her und erlangen im Barockzeitalter ikonologische Omnipräsenz; 33 sie spielen auch in der ignatianischen Tradition, also der Meditationslehre im engeren Sinne, eine wichtige Rolle.34 Auch die Seufzer blühen in reichem Strauß: Johann Michael Dilherrs Göttliche Liebesflamme (Nürnberg 1664) bietet „Andachten, Gebet, und Seufzer", Philipp Balthasar Sinold will in seinen Gottseeligen Betrachtungen

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von Zesens Frauenzimmers Gebeht-Buch (1657), in: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden, hg. v. Ferdinand van Ingen u. Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 92), S. 131-146, hier S. 140f. „Zwar ich muß bekennen, daß ich eine und die andere Stelle angetroffen, darinnen wir in unserer Kirche anderer Meinung sind [...]" (Bl. b8r). „Allein es wird der Christliche Leser sich diese wenige Fehler, welche nach menschlicher Schwachheit mit eingeschlichen, so wenig er eine ansehnliche Summe Geldes, darunter sich eine falsche Müntze befindet, ausschlagen würde [...]" (Bl. C21). - Noch verwickelter wäre die konfessionelle Situation, stammte der Text tatsächlich von John Shower, der seinerseits ein Dissident innerhalb der anglikanischen Kirche war. Franz Reitinger: Schüsse, die Ihn nicht erreichten. Eine Motivgeschichte des Gottesattentats. Paderborn, München, Wien u. Zürich 1997, S. 290; vgl. insbes. Kap. 4: Pfeilschuß und Sublevatio mentis ad Deum, S. 275-348. Eicheldinger: Friedrich Spee, S. 21ff.

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(Nürnberg 1729) „vermittelst einer deutlichen Erklärung, geistreichem Seuffzer und inbrünstigem Reimgebet" dazu verhelfen, daß die Seele „ermuntert, erbauet, erquicket und [ge]tröstet" wird, Kaspar Zollikofers Gebet-Music (St. Gallen 1738) stellt die Melodien auf „auserlesene [...] Seufzer- oder Gebaet-Weise". Für die Schuljugend sammelt Christian Ernst Stadelmeyer Kurze Seufzer über alle Sonn- und Feyertags Evangelien (Nördlingen 1769), und tröstlich, daß Joachim Feller auch an das akademische Biotop gedacht hat: Der andächtige Student, das ist andächtige Seufftzer und Gebet, so von einem Studenten auff der Universität ... gebraucht werden (Leipzig 1697). In allen diesen Beispielen ist der Seufzer als Kommunikationsakt und Redegattung gedacht. Erst Herder wird in seiner Theorie des Sprachursprungs den Seufzer als natürliche Sprache authentischer Empfindung auffassen und auf seine expressive Qualität reduzieren.

2. Der Erbauungsvertrag und seine Störungen Wenn das Wesen des Erbaulichen in der Performanz liegt, dann stehen zwei verbreitete Einschätzungen in Zweifel. Das eine ist die Auffassung, Erbauung werde durch Eigenschaften des Textes oder einer Vorlage „erzeugt", sie sei also, wie Wolfgang Brückner vorschlug, eine morphologische Kategorie. Das andere ist die Auffassung Rolf Engeisings, erbauliche, „intensive" Lektüre sei die gewissermaßen unvollkommene Vorstufe zum späteren „extensiven" Lesen, das in der Leserevolution des 18. Jahrhunderts die Oberhand gewonnen hätte, also eine Entwicklungsphase. Beides wird in den folgenden Abschnitten bestritten.

2.1 Gehegte Lektüre Zu den jeweiligen Möglichkeiten erbaulicher Rezeption insbesondere illustrierter Werke und Gattungen (Flugblätter) ist schon sehr viel Forschung geleistet worden. Doch bedarf es zur Erbauung nicht nur der Vorkehrungen auf Produktionsseite, sondern auch des Wissens um die Handhabung bestimmter Rezeptionsweisen. Kulturelle Kompetenzen fallen nicht vom Himmel, weder die Fähigkeit, einer Predigt zu folgen und sie zu memorieren, noch die Gabe, auf einen Text mit erbaulicher Lektüre zu reagieren. Wie jede kulturelle Kompetenz muß die erbauliche Lektüre erlernt werden und ist schon allein deshalb ungleich verbreitet, weil es Experten und Neophyten, Lehrer und Schüler gibt. Das System der rhetorischen Ausbildung gewährleistete eine bestimmte Form gelehrter Lektüre, das System der religiösen Ausbildung eine Form der erbaulichen. Vor allem die Kirchen haben auf verschiedenste Weise an der Vermittlung dieser Kompetenz gearbeitet, mit Methoden der Normeinschärfungen durch Predigt, Katechese und Beichte, mit Vorbild und Erziehung im weitesten Sinn ebenso wie mit Repression und Indizierung.

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Ein auffallig häufig verwendeter Ort zur Vermittlung der Kompetenz ist das gedruckte Buch. Ins Auge fällt die Vielzahl von Lektüreanweisungen35 - praktisch alle aszetischen Werke verlautbaren, wie gelesen werden solle.36 Vermittels der Paratexte soll die Rezeption gesteuert und die erbauliche Lektüre als kulturelle Praxis eingesenkt werden. Der genannte Pritius reflektiert bereits den richtigen Anfang erbaulichen Lesens. Er will dem Anfanger zu leichterem Einstieg verhelfen (b5vf.) und empfiehlt als dafür passende Gelegenheit, „wenn entweder sein Geburts=Tag erschienen, oder wenn ein Jahr wiederum seinen Anfang nimmt" (b6v). Das bedeutet, daß nicht zuletzt die materiellen Objekte selbst, die Bücher, die Praxis der Erbauung als Hilfestellung begleiten und moderieren. Der Druck des Sinold ist typographisch sehr schlicht gehalten - keine Kommentarebene durch Quellennachweis, Marginalie oder Fußnote ergänzt, keine satztechnische Abwechslung oder Hervorhebung stört die dadurch absichtsvoll mühsam gewordene, die erwünschte langsame Lektüre.37 Charakteristisch auch das kleine Format der Taschenbüchlein bei ihrer relativ großen Drucktype, die nicht nur Leseschwäche (der älteren Leser) ausgleicht, sondern auch Lektüre abseits des Schreibpultes bzw. der sitzenden Lesehaltung ermöglicht - Lesen zwischendurch, Lesen, wo es sich gerade ergibt, okkasionelle Erbauung während des Tagesablaufs. In ganz spezieller Weise also unterstützt das Typographeum (Michael Giesecke) die Möglichkeit auch erbaulicher Performanz durch die Rezipienten. Es ermöglicht und erleichtert den spezifischen erbaulichen Vertrag zwischen Buch und Leser. Daß Lektüre gehegt werden muß, ist freilich keine Spezialität des Erbaulichen. Denn auch im Bereich des „literarischen" Lesens ist die vollständige, aufmerksame und kontinuierliche Lektüre eine fromme Fiktion der Rezeptionsästhetik (und des Deutschunterrichts), der realiter die vielen Formen unvollständiger, fragmentarischer und vermiedener Lektüre gegenüberstehen.38 Nur in den wenigsten Fällen rezipieren Leser in idealtypischer Weise einen Text mit unablässig gleicher Aufmerksamkeit von Anfang bis Ende. Das wird - mit aller Vorsicht - auch auf erbauliche Lektüren auszudehnen sein, denn trotz der Überfülle

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Vgl. für die Lektüreanweisungen zur Bibellektüre Udo Straten Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 91), S. lOOff. „In the fourth chapter of this work [Holy Living] are given, as in virtually all manuals of Christian ascetical theology, rules for the proper reading of the Bible." Griffiths: Religious Reading, S. 90 - Jeremy Taylor (1613-1667): The rule and exercises of holy living. In which are described the means and instruments of obtaining every vertue, and the remedies against every vice (1650); zus. mit „Holy Dying" (1651) in vielen Auflagen. Wolfgang Brückner schließt aus der ebenso schlichten Textgestalt der Werke des Martin von Cochem, daß die Texte zum Vorlesen und mithin zum Hören bestimmt seien. In beiden Fällen ist jedenfalls von einer Gestaltung abseits der gelehrt-rhetorischen typographischen Norm auszugehen. Wolfgang Brückner: Die Legendensammlungen des Martin von Cochem. Narrative Popularisierung der katholischen Reform im Zeitalter des Barock, in: Simpliciana XXI (1999), Beiträge zum Wolfenbütteler Arbeitsgespräch Barocke Erzählsammlungen, hg. v. Dieter Breuer, S. 233-258, hier S. 248. Heinz Schlaffer: Der Umgang mit Literatur. Diesseits und jenseits der Lektüre, in: Poetica 31 (1999), S. 1-25.

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erbaulicher Drucke im Publikationswesen der gesamten Frühen Neuzeit bleibt offen, ob denn wirklich alle Beispiele solch Erbaulichen Zeitvertreibs Gott ergebener Seelen (Johann Andreas Rothe, 1714) erbaulicher Lektüre auch wirklich unterzogen wurden, womöglich in mehrmaligen Durchgängen. Die heilsamen Pillen, als welche sich die Erbauungsbücher gerne verstehen und deklarieren, sind wohl nicht allesamt konsumiert worden. Und schließlich ist Erbauung durch Lektüre wie Lektüre überhaupt bekanntermaßen die Spezialkompetenz einer kleinen Elite, auch unter dem Aspekt der Bewirtschaftung der Zeit zur Lektüre. Die Angebote von Text und Taschenbuch müssen analog der Autorenintention bei literarischen Texten nicht mit dem empirischen Gebrauch gleichgesetzt werden. Erbauliche Lektüre ist eine Lesemöglichkeit neben anderen. Das Beharren auf der ,richtigen' Lektüre der .richtigen' Lesestoffe ist zugleich der Nachweis, daß daneben .falsche' Lektüren existieren. Es ist mehr als bloße Medienkonkurrenz (Jörg Jochen Berns), wenn die Texte starke Signale darüber aussenden müssen, wie sie gelesen werden wollen. Die erbauliche Lektürekompetenz versucht sich gegen andere Kompetenzen zu behaupten, namentlich die gelehrte, deren kritische Haltung Erschütterung durch den Text zuläßt, aber auch Zweifel an ihm. Nicht wegzuleugnen aber ist eine sehr viel gefährlichere Gegnerschaft des Erbaulichen, nämlich der ganze Reichtum kursorischer, neugieriger, gelangweilter Lektüren. Die in der frühen Neuzeit nie abgerissene Polemik gegen „Amadis und seinesgleichen Grillen", gegen die Buhlenliedlein und die Schaulust am Närrischen bezeugt die Breite des Feldes konkurrierender Rezeptionshaltungen. Die Vielfalt von Lektüren hat Anthony Grafton bereits für den Humanismus demonstriert. Die vermeintlich uniforme philologische Lektüre der Klassiker durch die Gelehrten entpuppt sich als höchst situationsgebundener und damit individueller Vorgang. In den persönlichen Büchersammlungen überrascht die „Vielfalt implizierter Lektüren", und bereits in der frühen Neuzeit wird keineswegs uniform, sondern „zu ganz unvorhersehbaren Zwecken" gelesen, wird zwischen dem philologischen Textvergleich und der persönlichen Begegnung mit antiken Texten habituell unterschieden.39 Und selbst wenn im 17. Jahrhundert die verspätete Differenzierung des religiösen und des literarischen Diskurses veranschlagt wird: schon dort konkurriert Erbauung durch Religion mit Erbauung durch Literatur. Christian Weise publiziert Der Politischen Jugend erbaulicher Zeit-Vertreib (Leipzig 1699), wobei das Erbauliche daran aus - „einigefn] Neben-Vergnügungen in deutschen Versen", also aus Poesie besteht. So ist bereits um 1680 die Situation eingetreten, daß Lektürepraktiken untereinander in Konkurrenz stehen und daß schon damals extensiv gelesen werden konnte. Das vermeintliche Nacheinander der Lektürekompetenzen ist in historisch genauerer Sicht ein Nebeneinander der Lektürepraktiken.

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Anthony Grafton: Der Humanist als Leser, in: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, hg. v. Roger Chartier und Guglielmo Cavallo. Frankfurt a. M. u. Paris 1999, Kap. 7, hier S. 263-312, zit. S. 304 u. 303.

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2.2 Die störrischen Leser Grimmelshausens, Richardsons, Goethes Sobald in der historischen Entwicklung das zahlenmäßig sehr kleine Lesepublikum mehrere Lektürekompetenzen beherrscht, wird mit ihnen ein literarisches Spiel möglich. Da die Erbauung aus Performanz resultiert, kann es zwischen Text und Leser zu Divergenzen kommen, wenn der „erbauliche Vertrag" nicht eingehalten, sondern lesend umgangen wird. Für die „kritische", insbesondere die textkritische Lektüre religiöser Texte ist das als Triebfeder der Aufklärung seit langem deutlich (Reinhart Koselleck). Die Leserschaft konnte sich jedoch auch in anderer Weise über die Anforderungen des Theologischen Stylus mit seinem Autoritätsgefalle zwischen Text und Leser hinwegsetzen - am wirkungsvollsten durch Nichtlesen. Die Furcht vor Abwanderung des Lesepublikums gehört ja zur stehenden Topik geistlicher Autoren. Das versucht die geistliche Literatur in den Jahrzehnten vor 1700 durch die Ästhetisierung der bewährten Gattungen aufzufangen, d. h. durch die Aufladung mit rhetorischen und ästhetischen Stilmitteln zwecks Fesselung angesichts hektischer Konkurrenz. Gleichzeitig besteht in religiösen Erneuerungsbewegungen wie dem Pietismus neuer Lektürebedarf nach Erbauung, so daß sich ein anderer Teil der religiösen Literatur im Zuge einer Retheologisierung um ein erneutes, ein erneuertes Pochen auf die Geltung erbaulicher Performanz bemüht.40 Das Nebeneinander der Lektürekompetenzen ermöglichte jedoch auch produktive Diskrepanzen zwischen Autoren- bzw. Textintention und zuwiderhandelnder Lektüre. Ein ganzes Register der möglichen Lektüren, zugleich der zeitgenössischen Bezeichnungen fur bestimmte Lesehaltungen gibt der Titel von Grimmelshausens Dietwald und Amelinde: Den {Gottseeligen erbaulich Curiosen lustig Historicus [recte: Historicis] annemlich Betrübten tröstlich Verliebten erfreulich Politicis nützlich und der Jugend ohnärgerlich} zulesen.

Die Lektüre soll und kann (wie die Gauckeltasche) den Leser spiegeln, der Text bedient nach Auskunft dieses Titels jede Lesererwartung. Im Unterschied dazu scheint die Rezeption des Simplicissimus-Romans, dessen Leser den erbaulichen Vertrag nicht unterzeichnen wollten, als Verweigerung adäquater Performanz der Lektüre. Im ersten Kapitel der Continuatio betont Grimmelshausen die allegorische, die erbauliche Lektüre des Romans als seine Autorenintention. Wer nur die Hülse ohne den Kern zur Kenntnis nimmt, kann „gleichwohl das jenig bey weitem nicht erlangen / was ich ihn zuberichten aigentlich bedacht gewesen".41 Neben den Deutbildern von vergoldeter Pille und Kern in der Nußschale, die auf die Beschaffenheit des Textes und seine Poetik abzielen, thematisiert Grimmelshausen die nötige Mitwirkung des Rezipienten in der wirkungsmächtigen 40

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Vgl. Franz M. Eybl: Predigt / Erbauungsliteratur, in: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, hg. v. Albrecht Meier. München 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 4 0 1 ^ 1 9 , siehe auch Anm. S. 648-651. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch, Continuatio. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. Rolf Tarot. Tübingen 1967, Kap. 1, S. 473.

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erkenntnistheoretischen Metapher von der Brille. Als einziges Geschenk nimmt am Schluß des Romans der Inselbewohner von den Seefahrern neben Hausrat und Werkzeug „einen Englischen Prillen" an, „damit er Feur von der Sonnen anzünden könnte".42 Die Brille aus England hilft als optische Linse beim Feuermachen, obwohl der Einsiedler in der erzählten Welt das Feuer doch schon lange gebändigt hatte. Es ist ein allegorischer Sehbehelf, der das Lesen erleichtert, das Entziffern der Welt, der emblematisch ausgestalteten Insel. Die Brille stammt (geographisch) aus England, (allegorisch) aber von den Engeln des Himmels, sie zündet für den, der durch sie blickt, das Feuer der Sonne an: Wer mit erbaulichem Blick in die Welt schaut, den wird die Gottesliebe entzünden. Gemessen an diesem Programm mußte die tatsächliche Rezeption des Romans seinem Autor defizitär erscheinen, wert jedenfalls kräftiger Nachbesserung, als welche sowohl die poetologische Vorrede der Continuatio gelten kann als auch die ständig gesteigerte erbauliche Zurichtung der Gesamtausgaben bei Felßecker. Hier wird zuletzt eine Ebene des Kommentars eingezogen und laufend verstärkt, was den Texten den Status höchster Verbindlichkeit, der Rezeption erbauliche Wirkung sichern soll. Das Buch wird bemüht, um den Vertrag mit dem Leser zu stützen.43 Im Konflikt zwischen Autorenintention und empirischer Lektüre beharrten im späten 17. Jahrhundert die Leser Grimmelshausens gegen die erbauliche auf der literarischen Rezipierbarkeit des Textes. Das bleibt Signum auch der fiktionalen Literatur und ihrer Rezeption, solange das Nebeneinander der Lektüren noch besteht. Nicht etwa in Deutschland mit dessen angeblich spezifischem Hang zum andächtigen Umgang mit Kunst,44 in England war Samuel Richardson mit seiner Clarissa. Or the History of a Young Lady (1747/48) das gleiche Mißverständnis widerfahren. Die Leser hatten die Lektüreanweisungen der Herausgeberfigur und damit die Intention des Autors beiseitegeschoben. Richardson fühlte sich im Sinne der bestrebten religiös-erbaulichen Lektüre unzureichend gelesen, und wie Grimmelshausen - noch ist um 1750 das alte Paradigma gültig spricht Richardson von der vergoldeten Pille: „Instruction is the Pill; Amusement is the Gilding." Clarissa sei „ein sermon in disguise, eine als Roman .verkleidete' Predigt, ein ,getarnter' Erbauungstext, der nur deshalb prätendiert, ein Roman zu sein, um mit den Mitteln des Romans den Roman zu unterlaufen."45 So nimmt es wenig Wunder, daß die deutsche Weitergestaltung des Briefromans mit dem nämlichen Dilemma konfrontiert war, nur umgekehrt damit um-

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Ebd., Continuatio, Kap. 27, S. 586. - Zu Form und Funktion der „Betrachtung" in Grimmelshausens Roman vgl. Kurz: Bedeutung, S. 237f., ohne die Erörterung der Brille. Vgl. Franz M. Eybl: Die Konstruktion des Autors durch den Druck: Grimmelshausen, in: Barock: Neue Sichtweisen einer Epoche, hg. v. Peter J. Burgard. Wien, Köln u. Weimar 2001, S. 145-160. „Der angemessene Umgang mit Kunstwerken - das hieß unter deutschen Bedingungen: die Andacht zur Kunst - wurde zum Erziehungsprogramm der Ästhetik wie der Literatur." Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München u. Wien 2002, S. 10lf. Claudia Liebrand: Briefromane und ihre ,Lektüreanweisungen': Richardsons Clarissa, Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Laclos' Les Liaisons dangereuses, in: arcadia 32 (1997), S. 342-364, hier S. 345f. - Liebrand geht auf die lange Tradition und die Verzweigungen des Deutbildes von der vergoldeten Pille nicht ein.

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ging: Der literarische Text mußte gegen eine erbauliche Performanz durch seine Leser verteidigt werden, die der Autor in dieser Weise gar nicht bezweckt haben will. Die Rede ist von Goethes Werther, dessen Spiel mit dem Erbaulichen und gegen sein Überhandnehmen schon mehrfach beschrieben wurde. Hier ist Erbauung durchwegs ambivalent geworden. Bereits die allgemeine Stimmungslage der empfindsamen Epoche beschreibt Goethe in der Terminologie unseres Gegenstandsbereichs, als Art von „Asketik": Es entstand eine Art zärtlich leidenschaftlicher Asketik [...]. Ich hatte mich persönlich von diesem Übel zu befreien gesucht und trachtete nach meiner Überzeugung andern hülfreich zu sein; das aber war schwerer als man denken konnte [...] (Goethe: Kampagne in Frankreich 1792, S. 381 f.). 46

In der Vorrede des Werther (1774) ruft Goethe noch deutlicher das erbauliche Lektüremodell ab: Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst. 47

Vertraulich mit dem Du angesprochen findet sich die auf Identifikation erpichte „gute Seele", der diese Vorrede die Funktion des Trostes sowie den wiederholten Umgang mit dem Lesen nahelegt, analog dem Zusammensein mit einem Freund. Signalisiert ist die besondere Textbedeutung, aufgerufen die Heilserwartung - die Voraussetzungen erbaulicher Lektüre. Die Lektüre verspricht Trost („schöpfe Trost"), sofern sie als Passionslektüre realisiert wird („aus seinem Leiden").48 Das Angebot des erbaulichen Vertrags liegt vor, Bespiegelung und Verdoppelung scheinen mit dem Passionsthema und mit dem Konstrukt des Briefromans gewährleistet. Doch setzt Goethe - darin an der Wetterscheide einer ästhetischen Formation - Gegensignale, die eine erbauliche Performanz der fTeriAer-Lektüre dadurch in Frage stellen, daß diese zum ästhetischen Spielelement gemacht wird. Nicht Werther soll durch identifikatorische Lektüre49 der Freund sein, sondern das Büchlein, das schon in Gestalt des Herausgebers die Distanz zur Figur sehr wohl herstellen möchte. Und ganz außerhalb erbaulicher Tendenz wird die autoritative Geltung des Buches nicht gestützt, sondern dem Urteil der Leser über-

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Johann Wolfgang von Goethe: Kampagne in Frankreich 1792. Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Emst Beutler. Bd. 12: Biographische Einzelschriften. München 1977, S. 381f. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Erste Fassung. Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Ernst Beutler. Bd. 4: Der junge Goethe. München 1977, S. 268. Die Passion Christi blieb „der wohl prominenteste Meditationsgegenstand". Butzer: Rhetorik, S. 62. - „Bis 1774 galt, daß Christi Leiden als Erlösungstat das einzige Leiden sei, aus dem eine gläubige Seele Trost zu schöpfen vermag. Christus war in der Sprache der mystischen und später dann der pietistischen Literatur der ,Freund', mit dem die Seele aufs innigste kommunizierte." Christoph Pereis: Auf der Suche nach dem verlorenen Vater. Das .Weither'-Evangelium noch einmal, in: ders.: Goethe in seiner Epoche. Zwölf Versuche. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 49-64 [zuerst 1990], hier S. 58. Jürgen Nelles: Werthers Herausgeber oder die Rekonstruktion der „Geschichte des armen Werthers", in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1996), S. 1-37, hier S. 10.

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lassen, die darin auch fehlen können: wer dem Büchlein zu viel vertraut, wer Literatur näher an sich heranläßt als Menschen, ist Opfer des Schicksals oder der eigenen Schuld. Schon ist ästhetisches Spiel, was vordem existenzieller Ernst gewesen war. Ein Spiel freilich, das das deutsche Lesepublikum Goethes, befangen noch in der alten Erbauungslektüre, zu spielen nicht zur Gänze bereit oder in der Lage war. Daß die Lektürekompetenz der Erbauung im Schwellenzeitraum um 1775 zu einer innerlichen, einer psychologischen Haltung wird, 50 befähigt sie zum Spurwechsel, in Richtung Andacht zur Kunst (Heinz Schlaffer). Denn w o das Dritte, der imaginierte, der angesprochene Gott fehlt, dort kann im Prozeß der Säkularisation das Gute, Wahre und Schöne als Ideal an seinen Platz rücken. Lektüre als Erbauung liegt vor, wenn das Lesen die strengste Isolation vom „wirklichen" Leben hält (in verkürzendem Verständnis der Autonomieästhetik) und als innerliche Bespiegelung fungiert. Noch ein Zeitzeugenrückblick auf die Aktivitäten des SDS an der Berliner Kritischen Universität vom WS 1967/68 greift das Konzept auf. Ein eigener Veranstaltungstyp war damals gemeinsamen Lektüren gewidmet, mit der Charakterisierung als „linker Feierabend, d. h. völlig isoliert von allem, was man sonst tat, Erbauungsliteratur, zur Not Marx selber, den 18. Brumaire kann man als Erbauungsliteratur lesen."51 Wenn es den Lesern gefallt, ist nichts vor ihrer sedimentierenden, orientierungssehnsüchtigen Lektüre sicher.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Erste Fassung. Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Ernst Beutler. Bd. 4: Der junge Goethe. München 1977. - Kampagne in Frankreich 1792. Sämtliche Werke in 18 Bänden, hg. von Emst Beutler. Bd. 12: Biographische Einzelschriften. München 1977. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch, Continuatio. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. Rolf Tarot. Tübingen 1967. Shower, John: Serious reflections on time and eternity with some other subjects, moral and divine. London 1689 u.ö. [Sinold von Schütz, Philipp Balthasar:] Amadei Creutzbergs Heilige Betrachtungen Auf alle Tage des gantzen Jahrs / Darinnen sich eine glaubige & andächtige Seele über einen auserlesenen Spruch der H. Schlifft vermittelst einer deutlichen Erklärung / und inbrünstigem Reim-Gebetlein ermuntert, erbauet, erquicket und tröstet. Frankfurt: Monath 1718. - Hochwichtige Betrachtungen, welche zu Erlangung der Glückseligkeit des zukünfftigen Lebens einem Menschen höchst dienlich seyn. Aus dem Englischen übersetzt von Amadeo Creutzberg. Mit einer Vorrede JO. GEORGIIPRITII, [...] Franckfurt, bey Petr. Conrad Monath 1725.

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Im 18. Jahrhundert wurde Erbauung als psychologische Komponente etabliert und „schließlich als Gegensatz zur historischen Wahrheit verstanden (Herder), somit in den gefühlsmäßigen Stimmungsbereich .gottseliger Empfindungen' (Adelung) abgedrängt." Brückner: Thesen, S. 501. Siegward Lönnendonker: Ziele und Organisation der Kritischen Universität, in: Kalaschnikow. Das Politmagazin 9 (1997), H. 3, S. 60ff. http://www.kalaschnikow.net/de/archiv/a09/ a091oenni.shtml.

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Reinhard Heinritz

Erbauliche Melancholie Zur Frage nach der Wirkung von Dürers Melencolia I in der deutschsprachigen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts

1. Rezeptionsverhältnisse Melencolia /, Dürers „Meisterstich" von 1514, zieht den Betrachter durch seine Rätselhaftigkeit in den Bann. Das Zentrum des Bildes dürfte der sinnende, auf ein unbestimmtes Ziel gerichtete Blick sein. Der expressionistische Dichter Gerrit Engelke versucht uns diese Entriickung durch eine Apostrophe zu vergegenwärtigen: Auf dunklen schweren Traumesflügeln Sinnt tief dein Geist in weite Feme [...].'

Engelkes Gedicht Dürers Melancholie erschließt uns den erbaulichen Gehalt dieses Kupferstichs als eine Entrückung von Alltag und Todesahnung in der Gewißheit eines höheren Trostes. Im letzten Terzett seines Sonetts lesen wir: Und oben fließt in lichter Sphäre, Hoch über Tod und Traum gezogen: Der Hoffnung reiner Regenbogen!

Nun wäre es ein Leichtes, weitere Beispiele der reichen literarischen Rezeption von Dürers Blatt im 19. und 20. Jahrhundert darzulegen. Man hat es geradezu zum „Leit-Bild" der Moderne erklärt.2 Peter-Klaus Schuster deutet „Dürers Denkbild" in seiner großen Monographie - ähnlich wie der Dichter Engelke - als ein „Trostblatt".3 Die Ausstrahlung dieses Bildes auf Kunst und Literatur der Folgezeit ist nicht zu überschätzen. Dürers Kupferstiche erfreuten sich in ganz Europa großer Beliebtheit, wie die Vielzahl der Kopien und Kopierwerkstätten zeigt.4 Eine Viel1

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Gerrit Engelke: Dürers „Melancholie", in: Mich aber schone, Tod. Gerrit Engelke 1890— 1918, hg. v. Kurt Morawietz. Hannover 1979, S. 352. So erklärt Hartmut Böhme, Melencolia I entfalte ihre größte Wirkung nur „deswegen in der Moderne, weil sie [...] sich mit den historischen Katastrophen unseres Jahrhunderts" konfrontiert sehe. (Zur literarischen Rezeption von Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I", in: Polyperspektivik in der literarischen Moderne, hg. v. Jörg Schönert u. Harro Segeberg. Frankfurt a. M. 1988, S. 87) - Siehe auch: Reinhard Heinritz (Hg.): Dürer und die Literatur. Bilder - Texte - Kommentare. Bamberg 2001 (Fußnoten zur Literatur 49), S. 182-184 (Nachwort). Peter-Klaus Schuster: Melencolia I. Dürers Denkbild. Bd. 1. Berlin 1991, S. 62-69. Kopieren war eine übliche Praxis der Aneigung neuer Techniken. So erwähnt Giorgio Vasari in seinen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Bildhauer und Ma-

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zahl von bildenden Künstlern bezog entscheidende Anregungen aus Dürer-Blättern - natürlich auch aus Melencolia 7.5 Um 1600 kam es zu einer „Dürer-Renaissance", was sich nicht zuletzt am Sammelwettstreit zwischen Kaiser Rudolf II und dem bayerischen Kurfürsten Maximilian I ablesen läßt.6 Auch in der deutschen Kunstkritik genoß Albrecht Dürer größte Anerkennung. So setzte Joachim Sandrart dem Nürnberger Künstler in seiner Teutschen Academie ein Denkmal; auch Melencolia I wird mit Lob bedacht.7 Was die literarische Rezeption Dürers betrifft, so feierten bereits Humanisten wie Conrad Celtis, Willbald Pirckheimer, Eobanus Hessus, später auch Jörg Wickram, Dürer in panegyrischen Gedichten als einen „zweiten Apelles", um dessen naturgetreue Darstellungsweise zu unterstreichen; vor allem sollte mit der Ausrufung eines „deutschen Apelles" die Eigenständigkeit der heimischen gegenüber der italienischen Kunst behauptet werden.8 Angesichts dieser überwältigenden Wirkungsgeschichte sollte man annehmen, daß Dürers Melencolia I auch in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts eine eminente Rolle spielt. Überraschenderweise gibt es aber in der Frühen Neuzeit keine „Bildgedichte" zu Dürers Stich - in dem Sinne, daß sie das Bild ausdrücklich zum Thema erheben. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade die Kunst der Ekphrasis in diesem Zeitraum auch in der Lyrik ungemein verbreitet war.9 Der erste explizite Rückgriff auf Melencolia I in der deutschen Literatur findet sich in Gottfried Kellers Gedicht Melancholie (in einer angefügten Zusatzstrophe von 1888). Überblickt man die gesamte Nachwirkung von Dürers gra-

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te- von 1550/68, wie Raffael Marcantonio Raimondi beauftragt hat, Dürerblätter nachzustechen (hier nach Giorgio Vasari: Das Leben von Lionardo da Vinci, Raffael von Urbino und Michelagnolo Buonarroti. Stuttgart 1996, S. 74). - Zum Erfolgsartikel wurden Dürerstiche dagegen in der Kopisten-Werkstatt der Gebrüder Wierix in Amsterdam. Besonders im deutschen Raum hat man Dürer als Erfinder des Kupferstechens gefeiert. Vgl. dazu Peter-Klaus Schuster: Das Bild der Bilder. Zur Wirkungsgeschichte von Dürers Melancholiekupferstich, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 1 (1982), S. 82134. - Siehe auch Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M. 1998 (engl. 1964). Herbert Beck / Bernhard Decker (Hgg.): Dürers Verwandlung in der Skulptur zwischen Renaissance und Barock. Ausstellungskatalog Liebighaus - Museum alter Plastik. Frankfurt a. M. 1972, S. 385^190. - Vgl. auch Ernst Rebel: Albrecht Dürer. Maler und Humanist. München 1996, S. 458. Joachim Sandrart: Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild und Mahlerei-Künste. Nürnberg 1675-1680. In ursprünglicher Form neu gedruckt mit einer Einleitung von Christian Klemm. Nördlingen 1994, II. Theil, III. Buch, III. Kapitel, S. 223. - Sandrart hebt freilich als erwähnenswertes Detail nur den Polyeder auf dem Meisterstich hervor. Dazu das Standardwerk von Jan Bialostocki: Dürer and his Critics 1500-1971. BadenBaden 1986 (Saecula Spiritualia 7). - Siehe auch Matthias Mende: Dürer - der zweite Apelles, in: Dürer heute, hg. v. Willi Bongard u. Matthias Mende. München 1971. Ich verwende den Ausdruck „Bildgedicht" im Sinne von Gisbert Kranz: „Ein Gedicht, dessen Thema ein Werk der bildenden Kunst ist" (Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973, S. 9). Der Bezug zur Bildvorlage sollte dabei m. E. zusätzlich durch deskriptive Elemente deutlich werden (Ekphrasis). Kranz rechnet mit der unglaublichen Zahl von 20 000 Bildgedichten vor 1640, „davon Tausende aus der Zeit zwischen 1450 und 1600" (Gisbert Kranz: Zu Jacob Baldes Bildgedichten, in: Archiv fur Begriffsgeschichte 60 [1978], S. 307).

Erbauliche Melancholie

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Albrecht Dürer „Melencolia 1" (1514, Kupferstich; Sammlung Otto Schäfer, Schweinfurt)

phischem Werk, so muß das Fehlen früherer Belege als erklärungsbedürftig erscheinen. Es dürfe daher lohnend sein, sich mit dieser „Lücke" in der Rezeption (im genannten Sinn) etwas näher zu befassen - schon um den Einfluß Albrecht Dürer auf die Literatur genauer bestimmen zu können. Diese Frage ist m. E. auch von kulturhistorischer Bedeutung. Die Ausstrahlung von Dürers Trostblatt, so lautet meine Annahme, ist so mächtig, daß Melancholie-Gedichte der Frühen Neuzeit ohne Bezug auf das Bild nur bedingt zu verstehen sind - wobei natürlich die Dürer-Kenntnis einzelner Autoren nach Möglichkeit nachzuweisen ist. Unter dieser Annahme möchte ich einige Gedichte untersuchen, die zum Teil bereits in den wirkungsgeschichtlichen Umkreis von Dürers Melencolia I gestellt worden sind. Ich konzentriere mich auf Hans Sachs und Andreas Tscherning; Jacob Balde und Johann Valentin Andreae seien nebenbei erwähnt.10 Dabei gehe ich von zwei Voraussetzungen aus. Erstens: In der Frühen Neuzeit gibt es mindestens drei Konzeptionen von Melancholie, die sich teils berühren und verbinden, teils unabhängig voneinander bestehen. Zweitens: Von einer linea10

Vgl. Heinz Lüdecke / Susanne Heiland (Hgg.): Dürer und die Nachwelt. Urkunden, Briefe, Dichtungen und wissenschaftliche Betrachtungen aus vier Jahrhunderten. Berlin 1955; Ludwig Völker (Hg.): „Komm, heilige Melancholie". Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Stuttgart 1983 (siehe auch die Einleitung S. 17-43).

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ren Entwicklung kann in der Literatur nicht ausgegangen werden. Auch Dürers Melancholie-Blatt ist nur einer von vielen Integrationsversuchen in der Kunst.

2. Hans Sachs Die Beziehung von Hans Sachs zu Dürer konnte bisher nur bedingt geklärt werden. Man nimmt gemeinhin an, daß ein persönlicher Kontakt zwischen Sachs und Dürer eher unwahrscheinlich ist. Die Barriere zwischen dem Patriziertum und seiner künstlerischen und humanistisch geprägten Elite einerseits und dem Handwerkertum andererseits sei in der „Freien Reichsstadt" schwer überwindbar gewesen.11 Ob Sachs selbst mit Dürer-Blättern vertraut war, ist von der älteren Forschung gelegentlich diskutiert, aber nicht überzeugend geklärt worden.12 Positive Indizien liefert die langjährige Zusammenarbeit mit dem Holzschneider Erhard Schön, der sich mehrfach auf Dürer bezieht und auch einige Sachs-Texte illustriert hat. Im Jahr 1528 verfaßt Hans Sachs einen lyrischen Nachruf auf Dürer, der 50 Jahre später als Einblattdruck mit einem Dürer-Porträt von Erhard Schön veröffentlicht wird. Dort hebt der Nürnberger Dichter die Popularität des Nürnberger Künstlers „bey Fürsten und Herren" sowie „bey all künstlichen wercklewten" hervor. So konventionell das Lob klingen mag, so läßt es jedenfalls auf eine Bewunderung des Künstlers schließen, die nicht auf einen einzigen Stand beschränkt blieb. Vielmehr schließt sich der „Schuhmacher und poet" offenbar selbst mit ein. Besonders bemerkenswert ist nun das Gesprech der Philosophia mit eynem melancolischen, betrübten Jüngling (1547). In diesem allegorischen Spruchgedicht beklagt der Jüngling zunächst monologisch seine „Schwermut": „all hoffnung war vergebens, / Das mich verdroß des lebens". Da tritt eine schöne Frau in seine Kammer. Es ist Philosophia, die sich nach seinem Zustand erkundigt und ihm rät, die Melancholie, diesen „aller-schnödsten Gast", aus dem Haus zu jagen. Es handelt sich um ein alt weyb, Dürr und ghruntzelt von leib. Ir har, geleich den schlangen, Thet für ihr antlitz hangen, Ir angsicht dürr und gelb. 13

Kaum ist die „alt hex" davongejagt, wird der „betrübet jüngling" von Philosophia aufgeklärt, daß es sich um melancolia gehandelt habe. Es folgen die gän-

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Barbara Könneker: Hans Sachs. Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler 94), S. 240. Helene Henze: Die Allegorie bei Hans Sachs - mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zur graphischen Kunst. Halle 1912 (Hermae XI). Nach Henze war beispielsweise Dürers Stadtwappen die Vorlage für Sachs' Gedicht: Ein lobspruch der statt Nürnberg von 1530 (S. 89). - Heinrich Röttinger: Erhard Schön und Niklas Stör, der Pseudo-Schön. Zwei Untersuchungen zur Geschichte des alten Nürnberger Holzschnittes. Straßburg 1925 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 229). Zitiert nach Völker (Hg.): Melancholie, S. 286-293.

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gigen Ratschläge, wie man sich diese Krankheit vom Leibe hält: fröhliche Gedanken, Vermeiden von Einsamkeit und Trägheit. Am nächsten Morgen hat der Jüngling für seine melancoley, die sich nunmehr auf „phantasey" reimt, nur noch ein Lachen übrig. In diesem Spruchgedicht sind die traditionsgebundenen Momente nicht zu überhören. Sowohl in der Beschreibung des seelischen Zustande wie auch der therapeutischen Maßnahmen klingt die medizinische Lehre des Galen an, der bekanntlich antikes Wissen an die Neuzeit vermittelt hat. Ähnliche Anweisungen zur Überwindung melancholischer Anfechtungen finden wir etwa auch in Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621). Daneben wird ein literarischer Topos greifbar, der eindeutig mittelalterlicher Herkunft ist: die „Dame Merencolye". Ihre Attribute sind durch die Literatur des Spätmittelalters (v.a. bei Alain Chartier) mehr oder weniger festgelegt worden: Ihre Erscheinung ist bleich und dürr, in Lumpen tritt sie Menschen gegenüber, die für sie empfänglich sind. Dieser Typus der Dame Merencolye findet sich in einer Illustration zu Cesare Ripas Iconologia (1593).14 Der Rückgriff auf diesen Figurentypus ist nun aber folgenreich, weil er mit der Gleichsetzung von Melancholie und „acedia", der Trägheit einhergeht, die nach mittelalterlicher Lehre als schwere Sünde zu gelten hat. Wie sehr Sachs einer christlichen Moraldidaxe verpflichtet ist, beweist die Mahnung seiner Philosophia: Unnd thu dich Gott ergeben! Denk an das ewig leben, Da du wirst gar entbunden aller trübsal hie unden [...].

Damit könnte man die Vertreibung der alten Hex geradezu als einen poetischen Exorzismus böser Kräfte deuten, die den Menschen zerstören und in den Selbstmord treiben können. Diese didaktische Tendenz ist mit der sozialen Stellung des Autors in Zusammenhang gebracht worden. Aus sozialgeschichtlicher Sicht hat man seinen Dichtungen eine psychologische Entlastungsfunktion im städtischen Konkurrenzkampf zugewiesen. Darüber hinaus wäre die Vertreibung der melancolia als Stärkung der inneren Freiheit und somit auch der äußeren Handlungsfähigkeit zu deuten.15 Da dies durch Besinnung auf den christlichen Erlösungsgedanken geschieht, kann dem Gedicht gewiß eine erbauliche Qualität zugesprochen werden, obgleich es sich nicht um einen „Erbauungstext" handelt, da die Heilsperpektive erst im Verlauf des Dialogs gewonnen wird und nicht vorgegeben ist. Doch wie steht dieses Gedicht zu Dürer - unter der nicht unwahrscheinlichen Annahme, daß Sachs den Meisterstich kannte? Zunächst scheinen Bild und 14

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Diese Tradition wird dargestellt bei Klibansky/ Panofsky/ Saxl: Saturn, S. 324-333. Vgl. auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit. Tübingen 1987, S. 281. Maria E. Müller: Der Poet der Moralität. Untersuchungen zu Hans Sachs. Bern, Frankfurt a. M. u. New York (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache 15), S. 52-57; siehe auch Reinhard Hahn: Hans Sachs, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (14501600). Ihr Leben und Werk, hg. v. Stephan Füssel. Berlin 1993, S. 411.

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Text in verschiedenen geistigen Welten angesiedelt zu sein. Diese Einschätzung ergibt sich besonders durch die Untersuchungen von Klibansky, Panofsky und Saxl. In ihrer Monographie Saturn und Melancholie haben sie gezeigt, daß es Albrecht Dürer gerade auf die Überwindung mittelalterlicher Vorstellung angekommen sei. Melencolia I ist danach ein Versuch, die negativ besetzte AcediaAllegorie mit Hilfe der positiv besetzten Personifikation der Geometrie aufzuwerten. Als Kronzeuge für diese Interpretation wird Agrippa von Nettesheims Occulta philosophia herangezogen. Danach hat die Seele beim „Emporsteigen" zu Gott drei Erleuchtungen zu durchlaufen - auf der Stufe der Künste (imaginatio), der Naturphilosophie und Medizin (ratio) und schließlich des Wissens um göttliche Geheimnisse (mens). Dürers Stich sei auf der ersten Stufe anzusiedeln; daher seien auch Melancholie II und III theoretisch vorstellbar.16 Diese Deutung ist ebenso imposant wie anfechtbar. So ist Agrippas Werk erst im Jahr 1531 gedruckt worden. Im Übrigen lehrt der Augenschein, daß Dürers Gestalt den Blick in eine diesseitige Ferne richtet; eindeutig christliche Motive sind in der Bildkomposition ohnehin nicht erkennbar. Damit ist der Gegensatz zwischen dem Dürerblatt und dem Spruchgedicht von Hans Sachs zwar noch nicht aufgehoben, aber vielleicht doch relativiert. Im Gegenzug wäre zu erwägen, ob die Philosophia, die Sachs auftreten läßt, nicht ebenfalls das Vehikel einer Sublimierung ist, die den mittelalterlichen Typus der Dame Merencolye für seine Zwecke verfügbar macht. Ich möchte die These vertreten, daß Hans Sachs einen pragmatischen Humanismus vertritt, der auf dem Boden einer christlichen Tugendlehre steht. Unser Spruchgedicht fungiert dabei als ein Therapeutikum, das der Verwandlung von Melancholie in „Weisheit" dient. Diese These ist etwas genauer zu erörtern. Der Humanismus, an den hier zu denken ist, zeichnet sich durch den Optimismus aus, daß der Mensch unter richtiger Nutzung seiner geistigen und moralischen Gaben und unter Beachtung moralischer Mäßigkeit „wieder ein gottebenbildliches Wesen werden" kann. Peter-Klaus Schuster ist dem geistesgeschichtlichen Hintergrund zu diesem Vervollkommnungsglauben in seiner Dürer-Studie von 1991 in aller Ausführlichkeit nachgegangen.17 Dieser Optimismus läßt sich auch durch die theoretischen Schriften Albrecht Dürers belegen.18 Natürlich ist die Idee der göttlichen Inspiration, von der die Kunstauf16

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Klibansky / Panofsky / Saxl: Saturn, S. 495-512. - Siehe die zahlreichen Einwände von Schuster: Melencolia I. Peter-Klaus Schusters weitgreifende Argumentation bezieht sich auf die „Dignitas hominis"-Literatur von Nikolaus Cusanus über Pico della Mirandola und Marsilio Ficino bis hin zu Conrad Celtis, für dessen Hauptwerk Libri Amorum Dürer das Frontispiz schuf (Philosophia, 1502). Der religiöse Gehalt des „Trostblattes" sei die Einsicht in das Nichtwissen, die der Cusaner als „docta ignorantia" bezeichnet hat. Trotz dieser Begrenzung gebe es für den Melancholiker immerhin die Möglichkeit eines Aufstiegs - dargestellt durch die angelehnte Leiter - so Schuster: Melencolia I, S. 176-188 und S. 222-231. Im Lehrbuch der Malerei (ab 1508) wird dem menschlichen Wunsch, Gott ähnlich zu werden, eine Absage erteilt - mit einer Einschränkung: „Doch sind wir nit gar ausgeschlossen van aller Weisheit. Wöll wir durch Lernung unser Vernunft schärpfen und uns dorm üben, so mügen wir wohl etlich Wahrheit durch recht Weg suchen, lernen, erkennen, erlangen und dorzu kummen." Dazu bedarf der Künstler der „oberen Eingießungen" (d. h. die göttli-

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fassung Dürers und der Humanisten getragen wird, bei Sachs nicht unbedingt dominant. Genausowenig ist zu leugnen, daß die mittelalterliche Vorstellung von Melancholie bei dem Nürnberger Dichter eine größere Rolle spielt. Dennoch kann man von einer inneren Läuterung sprechen, wenn die lebensabgewandte Melancolia im Spruchgedicht von der lebensklugen Philosophia besiegt wird. Man könnte den Übergang zwischen den beiden allegorischen Figuren sogar als eine seelisch-geistige Entwicklung deuten - als einen optimistischen Aufschwung, der im Zeichen einer vernünftigen Lebensführung steht. So wäre letztlich die Behauptung vertretbar, die Peter-Klaus Schuster in bezug auf Dürers Blatt aufgestellt hat: Hans Sachs stellt, mit den Mitteln seiner spruchhaften Dichtung, „den Sieg der geistigen Kräfte über die melancholischen Belastungen" dar.19

3. Dürer und die Lyrik des Barock Dürer spielt in der Literatur des Barock nicht eben eine herausragende Rolle. Der Name fällt allenfalls im Zusammenhang mit dem Lob deutscher Kunst in nationaler Konkurrenz zu den italienischen Meistern.20 Dürer oder Raffael - so lautete die wiederkehrende Gegenüberstellung, und sie sollte bis in der Romantik hinein ein beliebtes Muster der Kunstkritik bleiben. Die Ursache für diese Absenz von Melencolia I dürfte in der Fremdheit von Dürers Meisterstich aus der Sicht des barocken Welt- und Menschenbilds liegen. Dürer ist wohl nur in Bezug auf die Ideale der Renaissance zu verstehen, wonach der Mensch aufgerufen ist, im Sinne Pico della Mirandolas der Schöpfer seiner selbst zu sein - mit den alternativen Optionen, zum Tier zu werden oder sich dem Göttlichen zu nähern.21 Die kontemplative Haltung von Dürers Melancholie-Gestalt wird demgemäß oft als Schwebezustand zwischen Resignation und Innehalten vor neuer Aktivität aufgefaßt. In der Literatur des Barock hingegen ist der Mensch von vorneherein der

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che Inspiration). In diesem Sinn kann Dürer die Künstler der „Wiedererwachsung" (sie!) dazu aufrufen, sie mögen „die Gab, die sie van Gott entpfangen haben, uns mitteilen." (Albrecht Dürer: Das Gesamtwerk. Kunsttheoretische Schriften. CD-ROM: DIRECTMEDIA Berlin 2000 [Digitale Bibliothek Band 28], S. 22-24) Schuster: Melencolia I, S. 62. - Auf „humanistischen Bestrebungen" bei Hans Sachs wird immer wieder hingewiesen - so etwa bei Hahn: Hans Sachs, S. 422. Ein Beispiel ist die Ode XXXVI von Jacob Balde: „Durerus kundt mit freyer Handt / Ein Ring ohn Circkel schreiben. / Der Raphael und Pisaneil / Den Welschen haben gefallen." (Ode nova Dicta Hecatombe de Vanitate Mvndi, 1637, in: Jacob Balde: Deutsche Dichtungen 1637-1640. „Ode nova Dicta Hecatombe de Vanitate Mvndi" 1637; „Ehrenpreiß" 1640. Photomech. Nachdruck mit Bibliographie und textkritischem Apparat von Rudolf Berger. Amsterdam 1983 (Geistliche Literatur der Barockzeit 3), B5. - Balde mußte mit Dürers Kunst durch seine Tätigkeit am Hof Maximilians I. in Berührung gekommen sein. Eine parallele Stelle findet sich in einem lateinischen „Gedicht über die Eitelkeit der Welt" (1638), in der Übersetzung Herders abgedruckt in: Lüdecke / Heiland (Hgg.): Dürer, S. 97. In Picos Traktat Über die Würde des Menschen lauten die Worte des Schöpfers: „Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche." (Pico della Mirandola: De hominis dignitate / Über die Würde de Menschen, hg. und übersetzt von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997, S. 9)

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göttlichen Schöpfung untergeordnet. Dabei spielt das Melancholie-Thema zwar eine tragende Rolle, doch wird es ganz von der „vanitas"-Philosophie her interpretiert. Im Zuge der Konfessionalisierung der Literatur treten erneut mittelalterliche Vorstellungen in den Vordergrund. So erklärt der jesuitische Gelehrte Aegidius Albertinus die Melancholie wieder zum Teufelswerk.22 Unter diesen Voraussetzungen kann Melancholie - um Wolfram Mauser zu zitieren - nur Ausdruck „eines krankhaften Leidens an sich selbst", von acedia sein, nicht aber einer „erkenntnisfördernden Schwermut des genialen Menschen [...]".23 Nur am Rande sei angemerkt, daß diese Umdeutung der Melancholie im Sinne des vaw'tas-Gedankens bereits anhand einer ikonographischen Reihe verfolgt worden ist, die von Dürers Meisterstich bis in die Lyrik des Barock hineinfuhrt. Es handelt sich um den Figurentypus des sinnierenden Philosophen, wie er in Salvator Rosas Radierung Democritos in Meditation von 1662 und in anderen Blättern zu sehen ist. Dieser Typus ist nach fachkundiger Meinung auf Dürers Melencolia I zurückzufuhren. Die Hinfälligkeit des irdischen Daseins wird hier ebensowohl durch die Körperhaltung als durch die verstreuten Gegenstände faßbar. Anhand des Sonetts Einsambkeit von Andreas Gryphius ist gezeigt worden, wie dieser Figurentypus von der Kunst in die Literatur eingegangen und zum Bestandteil eines Topos, der „melancholischen Landschaft", geworden ist.24 Dieser Beispielfall verdeutlicht m. E. jedoch eher den historischen Abstand der Barockzeit zur Kunst Dürers. Dennoch gibt es auch Belege fur die Nachwirkungen älterer MelancholieKonzepte mit positiven Vorzeichen. Ein außerordentliches Beispiel dafür ist Andreas Tschernings Gedicht Melancholey Redet selber (1655). Dieses Rollengedicht ist eine Kombination von heterogenen Melancholie-Vorstellungen. Zuerst beruft sich die Sprecherin auf die humoralpathologische Tradition der Antike:25 Ich Mutter schweren bluts / ich faule Last der Erden Wil sagen / was ich bin / und was durch mich kann werden. Ich bin die schwartze Gall /[...].

Dann aber tritt Melancholey als „Poetinn" auf: Ich kann durch wahnwitz fast so gute Verse schreiben / Als einer der dich last den weisen Föbus treiben / Den Vater aller Kunst. [...]

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„Es spielt der Teufel mit den Menschen, wie ein Katz mit der Mauß". So Aegidius Albertinus in seinem Traktat Lucifers Königreich und Seelengejaidt. Berlin u. Stuttgart o. J. (zuerst 1616), S. 341. Wolfram Mauser: Was ist dies Leben doch? Zum Sonett „Thränen in schwerer Kranckheit" von Andreas Gryphius, in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock, hg. v. Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 222-230, hier S. 229. Vgl. dazu die Arbeit von Helen Watanabe-O'Kelly: Melancholie und melancholische Landschaft. Bern 1978 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 54). Die behauptete „Anlehnung" an die Dürer beruht allerdings nur auf Indizienbeweisen; die manifesten Bildinhalte sind damit nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen. - Zur Rezeption dieser Bilder bei Gryphius siehe Mauser: Gedichte und Interpretationen I, hier S. 231-244. Zitiert nach: Völker (Hg.): Melancholie, S. 303-305.

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Und Himmelischer Geist / wann der sich in mir reget / Entzünd ich als ein GOtt die Herzen schleunig an / Da gehn sie ausser sich / und suchen eine Bahn Die mehr als Weltlich ist. D a s ist nichts anderes als das antik-humanistische Verständnis v o n D i c h t u n g als einer göttlichen Inspiration, das in der Renaissance wiederbelebt - und auch v o n Dürer übernommen - wurde. Wir finden dieses Dichtungsverständnis etwa in Marsilio Ficinos De vita triplici

libri tres (1494), w o n a c h es d e m Künstler aufge-

geben ist, „auf d e m schmalen Grad zwischen Enthusiasmus und Geistesschwäche" zu wandern. 2 6 D i e s e Inspirationslehre, w i e sie in Tschernings

Melancholey

aufscheint, ist in die Poetik des Barock zwar eingegangen, spielt j e d o c h aufgrund der vordringlichen Orientierung an der Rhetorik eher eine untergeordnete Rolle. 2 7 Im übrigen ist der m e l a n c h o l i s c h e „wahnwitz", der die M e n s c h e n aus ihrer weltlichen B a h n wirft, bei Tscherning w e n i g e r auf ein christliches Jenseits g e richtet als v i e l m e h r auf okkultes W i s s e n - etwa auf sibyllinische W e i s s a g u n g e n und mantische Wahrheiten. D i e Poetinn

bewertet ihren Einfluß selbst als ver-

derblich; sie bezeichnet sich am Ende sogar als eine H e x e : Von mir kommts her / daß offt ein schuldenreiner Geist Ein Hexer bey der Welt und Teuffelsbanner heist. [...] Dann ich zweyköpffig bin / dreyleibig / Lahm und Blind / Ich Hex / ich raube mir /und was man schändlichs findt / Das bin in warheit ich. A l s Handlangerin finsterer M ä c h t e scheint Tschernings Melancholey mal an die Dame

Merencolye

n o c h ein-

z u erinnern. S o m a g das Urteil naheliegen, w o -

nach auch bei Tscherning „ M e l a n c h o l i e auf halbem W e g z w i s c h e n Krankheit und Sünde steht." 28 Es ist j e d o c h sehr die Frage, o b das Gedicht bei dieser A u f -

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Zitiert nach Christoph Hubig: Humanismus - die Entdeckung des individuellen Ichs und die Reform der Erziehung, in: Propyläen Geschichte der Literatur. 3. Bd.: Renaissance und Barock 1400-1700, hg. v. Erika Wischer. Frankfurt a. M. u. Berlin 1988, S. 64. Diese Stelle wird, nach Hubig, von Dürer zitiert (vgl. Anm. 18). - Diese Poetik der Inspiration basiert auf der Vorstellung, daß der melancholische Zustand zu den höchsten geistigen Leistungen befähigt - in Anknüpfung an den sogenannten Pseudo-Aristoteles, wonach „alle hervorragenden Männer [...] offenbar Melancholiker gewesen sind." Der Text ist leicht zugänglich in der Sammlung von Peter Sillem: Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein. Ein Lesebuch. München 1997, S. 21. Zum rhetorischen Charakter der Barockpoetik Boy Hinrichs: Rhetorik und Poetik, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, hg. v. Albert Meier. München 1999, S. 226-232. - Bei Opitz wird der Topos der göttlichen Inspiration allerdings an zentraler Stelle aufgegriffen: „Denn ein Poete kan nicht schreiben wenner wil / sondern wenn er kan / vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue kommen vermeinen / treibet." (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 16) Klara Obermüller: Studien zur Melancholie in der deutschen Lyrik des Barock. Bonn 1974 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 19), S. 59. - Ahnlich lautete schon die Einschätzung von Walter Benjamin, der allerdings auf die divinatorische Kraft von Tschernings „Melancholey" hinweist (Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M. 1972), 160-165. - Was den Dürer-Bezug von Tschernings Gedicht betrifft, so vermeidet Benjamin klare Aussagen - ebenso wie Klibansky / Erwin / Saxl: Saturn, S. 330-333.

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fassung wirklich stehenbleibt. Die Rede der Melancholey ist m. E. eher ein Maskenspiel, in dem verschiedenartige Rollen nacheinander vorgeführt werden, ohne sich in ein übergeordnetes Konzept einzufügen. So dokumentiert Tschernings Gedicht nicht zuletzt die Divergenz verschiedener Traditionen, die sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts offenbar nicht mehr poetisch integrieren lassen: Antike Humoralpathologie und mittelalterliches Melancholie-Verbot, okkultistische Anklänge und humanistische Inspirationslehre liegen unverbunden nebeneinander wie Gegenstände einer barocken Kunstkammer. In den Schlußzeilen aber brechen seelische Extremlagen durch: Heut wil ich zwar mich geben In eines Freundes Lust / ach Morgen / ach ο Leid! Da tret' ich wiederum in alte Traurigkeit.

Man hat das Gefühl, als wollte Melancholey ihre allegorische Rolle zugunsten einer direkteren Aussprache abstreifen. In seinen Gefuhlsschwankungen scheint dieses „Ich" individuelle Züge anzunehmen. Diese individuelle Besonderheit ist vermutlich ein Novum innerhalb der Melancholie-Lyrik. Sie wird von einem ausgesprochenen Willen zur Selbstbehauptung getragen, der bereits eingangs anklingt: „Wil sagen / was ich bin / und was durch mich kann werden." Auch dieser Autonomieanspruch ist epochengeschichtlich signifikant. Doch wie ist er auf den Motivschatz des Gedichts zu beziehen? Ich möchte die (zweite) These aufstellen, daß Tschernings Suche nach einem autonomen und individuellen Ich in widersprüchlicher Weise auf die Tradition bezogen ist - durch Aufnahme und Abstoßung diverser Melancholie-Begriffe. Wie ist diese paradoxe Rückbindung zu verstehen? Es erscheint ratsam, dieses Gedicht auf einen größeren historischen Prozeß zu beziehen: Nach der Diagnose Wolfgang Webers - das wäre eine dritte, übergeordnete These - hat der europäische Melancholie-Diskurs der Frühen Neuzeit einen wichtigen Beitrag zur „Individualisierung" des Menschen geleistet. Diese Individualisierung entfaltet sich in einer zunehmenden Spannung zwischen Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle, die den Menschen immer klarer ins Bewußtsein tritt. Weber kommt zu dem Ergebnis, daß „der Umgang mit Melancholieursachen, Melancholiesymptomen und der Melancholiebekämpfung [...] die Selbstbetrachtung, Selbstreflexion und Selbstdisziplinierung" steigert.29 Dabei ist zu bedenken, daß das Ich in der Frühen Neuzeit letztlich an „überindividuelle Deutungszusammenhänge" gebunden bleibt.30 Aus dieser Sicht erscheint das universelle Melancholie-Thema als geeigneter Reflexionsraum für diese Selbstsuche. Es könnte diese Reflexivität sein, durch die Dürers Melencolia I 29

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Wolfgang Weber: Im Kampf mit Saturn. Zur Bedeutung der Melancholie im anthropologischen Modernisierungsprozeß des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 17 (1990), S. 190. - Diese These ist mit dem Programm einer historischen Anthropologie vereinbar, deren materiale Ergebnisse in einem großen Sammelband nachzulesen sind: Richard van Dülmen (Hg.): Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar und Wien 2001. Michael Sonntag: „Das Verborgene des Herzens". Zur Geschichte der Individualität. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 87.

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auch im 16. und 17. Jahrhundert die Rolle eines „Leit-Bilds" gespielt haben mag. Das tiefe Nachsinnen dieser Gestalt ist das Zeichen einer Verinnerlichung, bei der die großen Welt- und Menschenbilder - sie mögen nun mittelalterlicher oder humanistischer Herkunft sein - einer kritischen Revision unterzogen werden. Was Dichter wie Hans Sachs oder Andreas Tscherning in diesem Kupferstich gefunden haben könnten, wäre dann nichts anderes als jenes Zu-sich-selbstKommen des Einzelmenschen, das man als Epocheneinschnitt zu verstehen gelernt hat. In dieser Hinsicht gehen beide Texte über das Erbauliche hinaus, da sie mit unterschiedlicher Akzentuierung - zu säkularen Positionen streben. Inwieweit das Dürer-Blatt nun tatsächlich eine Inspirationsquelle für die Lyriker der Frühen Neuzeit bildete, muß offenbleiben. Weitere Gedichte müßten herangezogen und auf Dürer-Bezüge hin untersucht werden. 31 Neben dem Lateiner Balde wäre Johann Valentin Andreae ein vielversprechender Autor. In seinem Briefwechsel mit Anton Ulrich von Braunschweig von 1646 erweist sich Andreae als ausgesprochener Kenner von Dürers Stichen, die er mit theologischem Interesse sowie mit einem ausgeprägten Sinn für ästhetische Details bespricht. Diese theologische Perspektive dominiert auch in seinem Gedicht Melancholi Recept (1619) - ein Dialog zwischen einem trübsinnigen Menschen und einem lebenszugewandten, heiteren Gegenüber. Durch die stichomythische Engfuhrung von Frage und Antwort entsteht der Eindruck eines inneren Zwiegesprächs eines individuellen Menschen: Trüb Wolcken mich vmgeben. Auffmundre dich. Ach wie kann ich? Sich vbersich. Ο weh mein Elendes Leben. 32

Die kurzen Einwürfe des religiösen Gewissens („Auffmundre dich") haben das letzte Wort. Zugleich ist zu erkennen, wie dieses mahnende Über-Ich zum Instrument der Selbstreflexion und der psychologischen Differenzierung wird - ganz im Sinne der genannten These von der fortschreitenden Dialektik zwischen Selbstwahinehmung und -disziplinierung. Es nimmt nicht wunder, daß die Erbauungsliteratur zum Schauplatz dieser Individualisierung wird, denn gerade im Bereich dieses religiösen Schrifttums kann gezeigt werden, wie innere Einkehr und stetige Selbsterforschung mit „Sündenbewußtsein und Pflichtbeichte" einhergehen. 33 31

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In Frage kommt etwa Jacob Baldes lateinisches Gedicht Melancholia, abgedruckt in Völker (Hg.): Melancholie, S. 298-299 (in der Übersetzung Herders). Interessant ist in diesem politischen Gedicht das Motiv der Flügel und des Aufschwungs, wobei eher der DädalusMythos dominiert. - Vgl. Kranz: Zu Jacob Baldes Bildgedichten, S. 305-325. Zit. nach Völker (Hg.): Melancholie, S. 294-295. - Andreaes Briefwechsel mit Herzog Ulrich findet sich auszugsweise in Dürer und die Nachwelt (Lüdecke / Heiland [Hgg.]: Dürer, S. 99-103). Dazu siehe Reinhard Heinritz: Dürer-Dispute im 16. und 17. Jahrhundert, in: Dürer und die Literatur. Bilder - Texte - Kommentare, hg. v. Reinhard Heinritz. Bamberg 2001 (Fußnoten zur Literatur 49), S. 31-34. Peter Dinzelbacher: Das erzwungene Individuum. Sündenbewußtsein und Pflichtbeichte, in: Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar und Wien 2001, S. 41-60. - Vgl. auch David Warren Sabean: Selbsterkundung und Abendmahl (ebd., S. 145-162).

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Ausblickend sei angemerkt, daß eine Gesamtdarstellung der Wirkungsgeschichte Dürers in der Literatur n o c h aussteht. D i e Rezeptionsgeschichte v o n Melencolia

I müßte dazu den roten Faden abgeben, w e i l sie auf unmißverständ-

liche W e i s e in die Moderne fuhrt. D i e vorliegenden Ü b e r l e g u n g e n sind ein Versuch, die Frage nach einem unterschwelligen Einfluß in der Frühen N e u z e i t in Erwägung zu ziehen. Dabei sollte vor allem die Ungleichzeitigkeit verschiedener Melancholie-Traditionen als kulturgeschichtlicher Hintergrund in Rechnung gestellt werden.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Aegidius, Albertinus: Lucifers Königreich und Seelengejaidt. Berlin u. Stuttgart o. J. (zuerst 1616). Andreae, Johann Valentin: Melancholi Recept, in: „Komm, heilige Melancholie". Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte, hg. v. Ludwig Völker. Stuttgart 1983, S. 294-295. Balde, Jacob: Deutsche Dichtungen 1637-1640. „Ode nova Dicta Hecatombe de Vanitate Mvndi" 1637; „Ehrenpreiß" 1640. Photomech. Nachdruck mit Bibliographie und textkritischem Apparat von Rudolf Berger. Amsterdam 1983 (Geistliche Literatur der Barockzeit 3). Dürer, Albrecht: Das Gesamtwerk. Kunsttheoretische Schriften. CD-ROM: DIRECTMEDIA Berlin 2000 (Digitale Bibliothek Band 28). Engelke, Gerrit: Dürers „Melancholie", in: Mich aber schone, Tod. Gerrit Engelke 1890-1918, hg. v. Kurt Morawietz. Hannover 1979. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970. Pico della Mirandola: De hominis dignitate / Über die Würde de Menschen, hg. und übersetzt von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997. Sachs, Hans: Gesprech der Philosophia mit eynem melancolischen, betrübten jüngling, in: „Komm, heilige Melancholie". Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte, hg. v. Ludwig Völker. Stuttgart 1983, S. 286-293. Sandrart, Joachim: Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild und Mahlerei-Künste. Nürnberg 1675-1680. In ursprünglicher Form neu gedruckt mit einer Einleitung von Christian Klemm. Nördlingen 1994. Tscherning, Andreas: Melancholey Redet selber, in: „Komm, heilige Melancholie". Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte, hg. v. Ludwig Völker. Stuttgart 1983, S. 303-305. Vasari, Giorgio: Das Leben von Lionardo da Vinci, Raffael von Urbino und Michelagnolo Buonarroti. Stuttgart 1996.

Sekundärliteratur Beck, Herbert / Decker, Bernhard (Hgg.): Dürers Verwandlung in der Skulptur zwischen Renaissance und Barock. Ausstellungskatalog Liebighaus - Museum alter Plastik. Frankfurt a. M. 1972, S. 385^190. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M. 1972. Bialostocki, Jan: Dürer and his Critics 1500-1971. Baden-Baden 1986 (Saecula Spiritualia 7). Böhme, Hartmut: Zur literarischen Rezeption von Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I", in: Polyperspektivik in der literarischen Moderne, hg. v. Jörg Schönert u. Harro Segeberg. Frankfurt a. M. 1988, S. 83-123.

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Instrumentale Andachtsmusik im 17. und 18. Jahrhundert Beispiele und Überlegungen zum „Erbaulichen" in nicht-vokalen Kompositionen

Instrumentalmusik zur Andacht und Erbauung scheint auf den ersten Blick den Musikhistoriker nicht vor größere Probleme zu stellen, schon gar nicht, wenn sie zeitlich im 17. und 18. Jahrhundert zu suchen ist.1 Zwar fallt entsprechende Literatur einem auch aus späteren Tagen in die Hände, sei sie beispielsweise von Franz Liszt oder von Olivier Messiaen (um nur zwei der prominentesten Namen zu nennen), aber gerade aus der Zeit zwischen 1600 und 1800 datieren besonders viele entsprechende Kompositionen für Orgel, Cembalo oder Kammerensemble, Weihnachtskonzerte, Elevationstoccaten usw. Genaueres Hinsehen stellt die Quellenfülle zwar nicht in Frage, wohl aber ihr Verhältnis zum frömmigkeitsgeschichtlichen Phänomen der Erbauung. Dabei sind die Schwierigkeiten nicht einmal charakteristisch für die Musik dieser Zeit, vielmehr erscheint generell die Verknüpfung von Erbauung und Instrumentalmusik als prekäres Unterfangen. Ziel eines grob gerasterten Überblicks kann es daher nicht sein, Patentrezepte zur Lösung des Problems zu geben, schon gar nicht, die Beschwerlichkeiten der Themenstellung allzu billig durch Konzentration auf einen Einzelfall, durch analytische Werkbetrachtungen oder Ähnliches zu überdecken. Vielmehr seien im Folgenden einige Hindernisse zur Sprache gebracht, die sich der Beschäftigung mit instrumentaler Andachtsmusik in den Weg stellen, und die Spannweite dessen aufgezeigt, das dem Begriff zugeordnet werden könnte. Als „Nebenschauplätze", nichtsdestoweniger mit wichtigen Implikationen für die Themenstellung, erweisen sich die verwandten Bedeutungsfelder des Erbaulichen und der Andacht. Mit Blick auf welches Ziel soll Erbauung definiert werden - anders gefragt: Wohin muß der Weg führen, damit wir ihn heute als den zur Erbauung bezeichnen wollen? Konzentriert man sich, nicht zuletzt aus pragmatischen Erwägungen, auf den Umkreis der christlichen Kirchen, tritt unterhalb der konfessionellen Ebene ein musikgeschichtlich kaum aufgelöstes Gewirr von Einzeltraditionen zutage, nachdem die Devotio moderna Andacht und Erbauung „privatisierte".2 Ein Gesamtüberblick über die Pflege der Instrumen-

Für viele Hinweise und Anregungen herzlichen Dank an Herrn Prof. Dr. Axel Beer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zur Devotio moderna ist, obwohl längst nicht mehr auf dem aktuellen Forschungsstand (die Erstausgabe erschien 1924), doch noch Albert Hymas Buch über: The Christian Renaissance. A History of the „Devotio modema". Hamden, Conn.21965 grundlegend. Auch wenn die Bewegung sich eher auf Literatur sowie Produktion und Distribution von Handschriften und gedruckten Büchern konzentrierte (hierzu jüngst Thomas Kock: Die Buchkultur der Devotio modema. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliothekenaufbau im Zeitalter des Medienwechsels. Frankfurt

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talmusik und ihren Stellenwert in den Bruderschaften oder im Pietismus ist auf Grundlage des heutigen Forschungsstands nicht möglich, und eine Begriffsbestimmung von Erbauung zu geben, wäre zu komplex, als daß dies hier guten Gewissens versucht werden könnte. Die Gefahr wäre groß, dem nur ganz vage umgrenzten Feld eventuell in Frage kommender Musik über Gebühr Rechnung tragen zu wollen und folgerichtig eine ins Uferlose ausgeweitete Definition vorzuschlagen, die durch ihre Unschärfe unpraktikabel würde. Konkreter faßlich, aber inhaltlich eingeschränkt ist der Begriff von instrumentaler Andachtsmusik, auf den die folgenden Überlegungen sich im wesentlichen beziehen. 3 Grundsätzlich stellt sich in der instrumentalen Musik mehr als in der Literatur oder in der Bildenden Kunst das Problem, daß es letztlich dem Publikum überlassen bleibt, was es erbaulich empfindet. Sprache und Malerei bieten Texte, die prinzipiell offen sein, unterschiedliche Zugänge und verschiedenes Verständnis herausfordern können. Doch setzen Semantik und Sujets der Interpretationsfreiheit pragmatisch abgesteckte Grenzen, jenseits derer Deutungen nicht mehr ohne weiteres überzeugen und ihre allgemeine Akzeptanz in Frage steht. Das ist bei Instrumentalmusik kaum der Fall, die geradlinig verbalisierbaren Inhalt nicht transportiert, geschweige denn ein so unscharf formuliertes Bündel persönlicher Einstellungen, Wünsche und Hoffnungen wie „Erbauung". Einer findet erbaulich oder sonst anrührend, was andere unbeeindruckt läßt - und umgekehrt: Musik, die gar nicht erbaulich intendiert war, kann j e nach ihrer Verwendung durchaus diese Funktion erfüllen. Damit ist eine weitere Prämisse angesprochen. Ein Buch kann, wer es besitzt, aufschlagen, wann immer das gewünscht wird. Musik hingegen ist an ihre Aufführung gebunden, mithin an den spezifischen Anlaß, bei dem sie zu hören ist. Diese Situation strahlt aber auf das Verständnis der Musik notwendigermaßen zurück: Gibt der Rahmen sich als erbaulich aus, wird das Publikum eher geneigt sein, auch dem Inhalt entsprechende Qualitäten abzugewinnen. Instrumentale Andachtsmusik ist also nichts von vornherein Gegebenes, sondern ein Konstrukt aus (mindestens) Komponisten- und Interpretenintention, Situation, Hör-Erwartung und -Erfahrung. Zugespitzt läßt sich argumentieren, daß oft weniger die Musik das Erbauliche transportiere als vielmehr der Anlaß ihres Erklingens das leiste. Diese wenig überraschende Feststellung führt bei einer Beschäftigung mit Musik zur häuslichen Andacht einige Konsequenzen mit sich: Letztlich ist die Rekonstruktion dessen, was tatsächlich zur privaten Erbauung gespielt wurde, auf breiter Basis prinzipiell gar nicht möglich, da solche nicht institutionalisierten Situationen (analog zur schlecht dokumentierten privaten Lektüre) nur ganz sporadisch Quellen hervorbrachten. Zu un-

a Μ u. a. 22002 [Tradition - Reform - Innovation 2], [Zugl. Diss. Münster 1998]), wurde schon früh nach ihren Auswirkungen auf die Vokalmusik gefragt (ζ. B. G. G. Wilbrink: Das geistliche Lied der Devotio moderna. Ein Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen. Diss. Nijmegen 1930). Kompositionen für Singstimmen und Instrumente wurden nicht berücksichtigt, auch wenn ihre Zweckbestimmung im Titel so deutlich ausgedrückt wäre wie bei Julius Johann Weiland: Erstlinge Musicalischer Andachten: Mit I. II. III. und IV. Stimmen auch zweyen Violinen in die Orgel oder Clavicymbel zu singen und zu spielen. Breslau 1654.

Instrumentale Andachtsmusik im 17. und 18. Jahrhundert

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terscheiden wäre demnach Musik, die für diesen Zweck bestimmt war, von solcher, die womöglich dafür benutzt wurde. Wollte man Andachtsmusik nicht wesentlich als Resultierende ihres Anlasses verstehen, ergäben sich gravierende Probleme. Nur zu häufig wäre solche Musik, entfernte man sie vom angestammten Ort, nicht mehr als der Andacht dienend zu erkennen; es gibt nicht das Charakteristikum, das sie in ihrer Faktur auszeichnet. Vage Verweise auf ihre affektiven Qualitäten reichen nicht aus, bedenkt man die recht grob gerasterte musikalische Affektenlehre, die zu größerer Spitzfindigkeit und Präzision kaum einmal vordrang4 - alles wäre dann unbewußt „irgendwie erbaulich". Gleiches würde erfahren, wer sich auf den Weg einer Definition von Erbauungsmusik über den Begriff der Harmonie begäbe, womöglich in Abhängigkeit von den im 18. Jahrhundert kursierenden Überlegungen zu deren therapeutischer Wirkung,5 die Johann Kuhnau in seinen weiter unten näher zu betrachtenden Biblischen Historien thematisierte. In jedem Falle würden die Begrifflichkeiten von Musik zu Andacht und Erbauung durch die Beliebigkeit all dessen entwertet, das sie zu subsumieren hätten. - Im Sprachgebrauch des frühen 18. Jahrhunderts zeichnete sich eine Unterscheidung von Andachts- und Erbauungsmusik einerseits, die meist dezidiert dem Sektor des Religiösen angehörte, und sonstigen „ergötzlichen" Zweckbestimmungen andererseits ab. Von eindeutiger Trennung kann trotzdem nicht die Rede sein. Hatte Johann Sebastian Bach die sechs Partiten seiner Ciavier Übung 1726 „denen Liebhabern zur Gemüths Ergcezung verfertiget",6 so berichtet Friedrich Erhard Niedt von der zweifachen Zielsetzung der Musik wie folgt: Der General-Bass ist das vollkommenste Fundament der Music / [ . . . ] / damit dieses eine wollklingende Harmonie gebe / zur Ehre GOttes und zulässiger Ergetzung des Gemüths. [...] Endlich soll auch der Finis oder End-Ursache aller Music / und also auch des GeneralBasses seyn / nichts als nur GOttes Ehre und Recreation des Gemüths / wo dieses nicht in acht genommen wird / da ist auch keine recht eigentliche Music / und diejenigen / welche diese edle und göttliche Kunst mißbrauchen / zum Zunder der Wollust und fleischlicher Begierden / die sind Teuffels-Musicanten / denn der Satan hat seine Lust solch schändlich Ding zu hören / ihm ist eine solche Music gut gnug / aber in den Ohren GOttes ist es ein schändliches Geplärr. Wer nun bey seiner Musicalischen Profession einen gnädigen GOtt und gut Gewissen haben will / der schände diese grosse Gabe GOTTES nicht durch deren Mißbrauch zu unerbahrem Wesen. 7

Siehe Athanasius Kircher: Musurgia universalis. Bd. 1. Rom 1650. Reprint Hildesheim u. New York 1970, S. 598-620. Johann Gottfried Walther schreibt unter Berufung auf diesen Text noch 1732 von lediglich acht Affekten, „so die Music erregen kan", nämlich „Liebe, Leid, Freude, Zorn, Mitleiden, Furcht, Frechheit und Verwunderung" (Affetto, in: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec. Leipzig 1732. Faksimile-Nachdruck: Musikalisches Lexikon oder musikalische Bibliothek 1732, hg. v. Richard Schaal. Kassel u. Basel 1953 [Documenta Musicologia, 1/3], S. 11). Siehe beispielsweise Richard Browne: Medicina Musica, or, a Mechanical Essay on the Effects of Singing, Music, and Dancing on Human Bodies. London 1729, oder Ernst Anton Nicolai: Die Verbindung der Musik mit Artzneygelahrtheit. Halle 1745. Reprint Kassel u. a. 1990 (Bibliotheca musica-therapeutica 2). So auf dem Titelblatt der Einzelveröffentlichung der Partita I. Leipzig 1726. Friderich Erhard Niedtens / Musici, Musicalische Handleitung / Oder Gründlicher Unterricht. Bd. 1. Hamburg 1710. Reprint Buren 1976 (Bibliotheca organologica 32), aus dem Cap. Π: Von der Definition oder Beschreibung des General-Basses.

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Lange Zeit wurden solche A u s s a g e n dahingehend interpretiert, daß eine Grauz o n e instrumentaler Andachtsmusik existiere, die eine verschlüsselt theologische Deutung nicht nur v o n B a c h s Gesamtwerk rechtfertige (offenbar in getreulicher Erfüllung der Charakterisierung des K o m p o n i s t e n als d e m „fünften Evangelisten"). 8 D a ß der B e g r i f f des Erbaulichen nicht immer mehr ganz ernst gen o m m e n wurde - siehe z u m Beispiel die v o n Johann Sebastian oder Gottfried Heinrich B a c h vertonten Erbaulichen

Gedanken

eines

Tobackrauchers

(so die

Überschrift eines später der Handschrift beigelegten Blattes) B W V 5 1 5 / 5 1 5 a - , sei an dieser Stelle ebenfalls hinzugefügt. Allerdings wird im vorliegenden Beitrag v o n einer D i s k u s s i o n der zahlreichen Musiktraktate der Zeit Abstand g e n o m m e n . Ein Überblick über das Repertoire in seiner Breite erscheint sinnvoller, u m ein Gespür für die Problematik zu entwickeln, als ein Abriß gelehrter theologischer Disputationen oder pragmatisch handwerklicher Unterweisungen. 9 A u s d e m breiten Spektrum v o n Stücken, deren Klassifizierung als instrumentale Erbauungsmusik bedenkenswert erscheint, seien nun einige betrachtet. D i e A u f z ä h l u n g soll und kann nicht vollständig, nicht einmal repräsentativ sein, sondern nur Schlaglichter setzen, die einzelne A s p e k t e des skizzierten Problembündels ausleuchten und die D i m e n s i o n e n des in R e d e stehenden Felds vor Aug e n führen. A l s erstes Beispiel sei die im Jahre 1 7 0 0 v o n Johann Kuhnau im

So der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom laut Bach-Jahrbuch 19 (1922), S. 7. Hierzu: Hans-Joachim Hinrichsen: „Urvater der Harmonie"? Die Bach-Rezeption, in: Bach-Handbuch, hg. v. Konrad Küster. Kassel, Stuttgart, Weimar u. a. 1999, S. 31-65, hier S. 50f. Zu Bachs Verhältnis zur Theologie siehe Martin Petzoldt: „Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart". Bach und die Theologie, in: Bach-Handbuch, S. 81-91. Die im Titel zitierte Glosse Bachs zu 2. Chronik 5, 13 (s. ebd., S. 90f.) ist leider auch in Kombination mit dem Bibeltext wenig aussagekräftig darüber, was alles unter „einer andächtigen Musique" zu verstehen sei. Daß solche Quellen kein einheitliches Bild ergeben, sondern sich vielfach widersprechen und die Sache oft im Unklaren verbleibt, sei nicht verschwiegen. Eine Ursache dürfte darin liegen, daß die Schilderung entsprechender Situationen in der Bibel wenig Gelegenheiten ergab, eigenes Tun daraus zu begründen. Solche Schwierigkeiten im Umgang mit der Instrumentalmusik und ihrer Beschreibung in der Bibel werden sichtbar in: Kurtze Fragen aus der Musica Sacra, Worinnen Denen Liebhabern bey Lesung der Biblischen Historien eine Sonderbahre Nachricht gegeben wird / Entworffen von M. Adam Erdmann Miro. Dresden 21715. Wird am Beginn des zweiten Kapitels zwar festgehalten, die „Musica Sacra" sei schon in biblischen Zeiten „eingetheilet" „in die Vocal- und Instrumental-Music" (S. 31), bleibt nach einer historischen Instrumentenkunde (S. 48-60) dem Autor schon auf die Frage, wie „diese Musicalischen Instrumente tractiret" worden seien, nichts als das Eingeständnis seiner Unkenntnis (S. 61). Zum Nutzen der Musik erklärt er, dieser sei „Sehr viel. Denn sie nützet dem Gemüthe, sie nützet dem Leibe" (S. 77), und präzisiert kurz darauf: „Die Music hat solche Kraffi / daß sie 1[.] Das Gemüth zu allen Sachen munter unter [sie] wachsam machet. [...] 2. Die aufsteigenden Affecten besänfftiget. [...] 3. Die hartnäckigten Gemüther erweichet" (S. 78f.). Musik als Werkzeug der Erbauung wird aber auch im achten Kapitel „von der Music einer jedweden Privat-Person" (S. 171-180) nicht erwähnt. Sogar die Antwort auf die Frage, an welche Affekte Musik zur Andacht appellieren müsse, war nicht unumstritten, und so mußte Johann Mattheson, wiewohl des eigenen Standpunktes sicher, doch auch die Existenz abweichender Meinungen zugeben (Der Vollkommene Capellmeister, Das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will. Hamburg 1739. Reprint, hg. v. Margarete Reimann. Kassel u. Basel 1954 [Documenta musicologica 1/5], S. 72).

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Druck vorgelegte Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien genannt, eine Sammlung von sechs mehrsätzigen Sonaten für Tasteninstrumente.10 Jedem Stück geht eine ausführliche Beschreibung dessen voran, was in ihm „exprimiret" oder „praesentiret" werde.11 Sozusagen mit dem breiten Pinsel malt Kuhnau die Szenen dann in der Musik so nach, „wie ich mir die gantze Begebenheit einbilde / und aus denen in der Schrifft erzehlten Umbstaenden muthmasse" (aus dem Prolog zur dritten Sonate). Ob „Sauls Traurigkeit und Unsinnigkeit" in plakativ gesetzten parallelen Quinten eingefangen oder mit stupiden Akkordwiederholungen und Tonleiterausschnitten eher die Körper- denn die Geisteskräfte als hervorstechende Eigenschaft Goliaths vorgestellt werden:12 Die Abbildung des Geschehens könnte verständlicher und eingängiger kaum sein.13 Es bleibt die Frage, was Kuhnau mit der Sammlung bezweckte. Sie nur als übersetzende Verbildlichung biblischer Geschichten für die zu deuten, denen es nicht möglich wäre, sie ohne Hilfsmittel nachzuvollziehen, scheint nicht statthaft: Wer Zugang zu dieser Musik hatte und sie auf dem eigenen Instrument darstellen konnte, war auch in der Lage, die Bibel zu verstehen - und erst die Kenntnis des „Originals" macht den Reiz der Stücke aus. Es überwiegt die Freude an der musikalischen Umsetzung, daran, anderswoher Bekanntes auf einem ungewohnten Gebiet im häuslichen Rahmen - wie auf dem Titelkupfer (Abbildung 1) ja auch eigens dargestellt ist; auffallig hieran: die abgebildete einsame Spielerin einer Hausorgel blickt nicht etwa in ein Notenbuch, sondern direkt in die BIBLIA SACR., die Musik entspringt demnach also ganz unmittelbar dem biblischen Text - wiederzufinden, und es ist bezeichnend, daß in Kuhnaus Worten von frommer Andacht nicht die Rede ist, sondern die Sonaten einzig „allen Liebhabern zum Vergnügen" anempfohlen sind. Als häusliche Andachtsmusik wären die Stücke im privaten Kreis nicht durch die Umstände ihres Erklingens ausgezeichnet gewesen, sondern allein durch ihr Sujet, das die musi-

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Johann Kuhnau: Musicalische Vorstellung Einiger Biblischer Historien / In 6. Sonaten / Auff dem Claviere zu spielen / Allen Liebhabern zum Vergnügen versuchet. Leipzig 1700. Neuausgabe in sechs Bänden, hg. v. Lothar Hoffmann-Erbrecht. Frankfurt, London u. New York 1964-1967. Ihre Verbindung mit der zeitgenössischen und älteren Erbauungsliteratur diskutierte Dorothea Schröder: Johann Kuhnaus Musikalische Vorstellung einiger biblischer Historien. Versuch einer Deutung, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 6 (1983), S. 31^15. Die folgenden Überlegungen gründen in diesen Ausführungen. So in den Vorworten zur ersten bzw. zweiten Sonate zu lesen, Der Streit zwischen David und Goliath und Der von David vermittelst der Music curirte Saul. „Das in der Schrifft abgemahlte Portrait des großen Goliath ist was seltzames. Denn da praesentiret sich ein Ungeheuer der Natur / ein Baumstarcker Riese. Soll man seine Laenge ausmessen / so will ein Maß von 6. Ellen nicht zureichen. Der auff seinem Haeupte stehende hohe eheme Helm traeget nicht wenig zu dem Ansehen seiner Groesse bey. Der schuppige Pantzer / und die umb die Schenckeln gelegte Bein-Hamische nebenst dem wichtigsten Schilde / womit er sich traeget / ingleichen sein mit Eisen starck beschlagener und einem Weber-Baume gleicher Spieß / weisen zur Gnuege / daß Kraeffie bey ihm seyn müssen / und daß alle diese Centner schwere Lasten ihm in geringsten nicht incommodiren koennen." In diesem Zusammenhang sei auf die kleine „Choralbearbeitung" der Aus tiefer Not-Melodie im zweiten Satz der ersten Sonate hingewiesen, der „das Zittern der Israeliten / und ihr Gebet zu GOtt bey dem Anblicke des abscheuligen Feindes" „exprimiret", oder auf die entsprechenden Choralzitate in der Suonata qvarta, Der todtkranke und wieder gesunde Hiskias.

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kaiische Faktur in gewissem Maße reflektiert. Kuhnaus nicht eben zimperlicher Satz ist allerdings kein Garant für das Aufkommen im klischeehaften Sinne andächtiger und erbaulicher Gedanken, mag seine grundlegende und in jeder Sonate variierte Aussage - der Aufruf zum steten Gottvertrauen, das mit Hilfe und Erfolg belohnt werde: ein topisches Thema der Erbauungsliteratur - auch noch so sehr in diese Richtung zielen. Der Komponist läßt selten eine Gelegenheit zu drastischen Wirkungen aus, die auch ein Spieler des 18. Jahrhunderts womöglich nicht immer ganz ernst nehmen wollte und sollte (und auch die einleitenden Handlungsbeschreibungen sind bisweilen in einem distanziert amüsierten Tonfall gehalten - beispielsweise wenn in Jacobs Heyrath der Titelheld sich bei Laban beklagt, er habe ihm „an statt der versprochenen Liebste[n] eine andere Person / die ich niemahls begehret habe / in das Bette an meine Seite practiciret": „Heisset dieses Parole gehalten [...]?"). Nur auf den ersten Blick ähnlich ist eine etwas ältere, um 1674 entstandene instrumentale Sammlung. Die Rede ist von Heinrich Ignaz Franz Bibers sogenannten Rosenkranz- oder Mysteriensonaten, 16 mäßig virtuosen Stücken für Solovioline und Basso continuo.14 Biber nutzt in ihnen, was die musikalische Symbolik der Zeit hergab - von der Zahl der Sonaten (die 16 Stücke teilen sich in die drei Mysteriengruppen des Rosarium zu je fünf Sonaten und eine abschließende Passacaglia für Violine solo) und der Sätze (entsprechend der Perlen im Rosenkranz) über die Anzahl von Tönen in einzelnen Abschnitten bis zu der von Stück zu Stück wechselnden Skordatur des Soloinstruments, die ihm in jeder Sonate neue Saitenspannungsverhältnisse und Resonanzeigenschaften, dadurch ein immer wieder anderes Klangspektrum verleiht (Abbildung 2 zeigt am Beispiel der elften Sonate eine Skordaturvorschrift15 und die in ihrer Funktion einer Tabulatur ähnelnden daraus resultierende Griffschrift, die nicht dem klanglichen Ergebnis entspricht). Eine weitere Verschlüsselungsebene präsentiert das Manuskript, da jedem Stück in der Tradition barocker Emblematik ein Bild vorangestellt ist, das eine biblische Situation zeigt, im Falle der elften Sonate die Auferstehung (siehe nochmals Abbildung 2). Fraglich ist, in welchem Maße die Andacht das Publikum durch die Musik selbst erreichte. Er habe ein hintergründiges, vor allem ein symbolbeladenes Werk geschrieben, betonte Biber in seiner Widmungsvorrede: „Causam si numeri scire velis enucleabo: Haec

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Das Manuskript (heute in der Bayerischen Staatsbibliothek, München) wurde zu Bibers Lebzeiten nicht in den Druck gegeben. Eine Faksimileausgabe ist als Nr. 1 der Denkmäler der Musik in Salzburg veröffentlicht (hg. v. Ernst Kubitschek. Bad Reichenhall 1990); eine Edition von Erwin Luntz liegt als Bd. 25 der Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Wien 1906 vor. Die folgenden Bemerkungen fußen auf Christian Berger: Musikalische Formbildung im Spannungsfeld nationaler Traditionen des 17. Jahrhunderts. Das „Lamento" aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate Nr. 6, in: Acta musicologica 64 (1992), S. 17-29; Manfred Hermann Schmid: „ Surrexit Christus hodie". Die Sonate XI aus den Mysterien-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber, in: Altes im Neuen. Festschrift Theodor Göllner, hg. v. Bernd Edelmann u. Manfred Hermann Schmid. Tutzing 1995 (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 51), S. 193-208. Zur Genese der Stücke Dagmar Glüxam: Die „Rosenkranz-Sonaten" von Η. I. F. Biber. Ein Zyklus mit Vorgeschichte. In: Österreichische Musikzeitschrift 54 (1999), Heft 4, S. 14-22. Es handelt sich um eine der kompliziertesten Stimmungen des Instruments im gesamten Zyklus, da D- und Α-Saite sogar ausgetauscht werden müssen.

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Omnia Honori XV. Sacronem Mysterionem consecravi". Die Sonaten erreichen nur Eingeweihte voll und ganz, am „erbaulichsten" waren sie wohl für den Komponisten, der die Strategien seiner Verschlüsselung von Glaubenssätzen kannte. Erbauliches transportierten die Stücke also auf zwei grundverschiedenen Wegen: einerseits durch ihre klingende Oberfläche und gelegentliche Konkretisierungen als zur Kontemplation auffordernde Ruhepause während der Rosenkranz-Andachten fur die „Außenstehenden", andererseits in ihrem „esoterisch"-symbolischen Untergrund weitaus pointierter für den exklusiveren Kreis der Wissenden. Daß die Musikforschung nach vielen Versuchen und Irrwegen erst seit gut einem Jahrzehnt zu tragfahigen Entschlüsselungen der Sonaten gelangte,16 bezeichnet wohl nicht nur verlorene Selbstverständlichkeiten, sondern auch das Ausmaß der Hermetik in dieser Musik. Lediglich summarisch sei an dieser Stelle eine Schwierigkeit angesprochen, die sich beim Blick auf das Orgelrepertoire der Zeit stellt. Ein Beispiel sind die 1623 im Druck erschienenen Hymnes de l'eglise von Jean Titelouze.17 Dürfte der liturgische Zweck der Stücke nicht schwer zu bestimmen sein und durch den Rekurs auf spezifisch kirchliches Material auch auf der Hand liegen, wie die Andacht der Hörer erreicht werden sollte, so sieht sich aber enttäuscht, wer eine Stellungnahme zu entsprechenden Dingen im umfangreichen Vorwort sucht. Da geht es eher zu wie im Musiktheorie-Lehrbuch;18 Titelouze diskutiert die Sonanzgrade der Intervalle, setzt sich mit Pythagoras, Ptolemaios, Glarean, Zarlino und Sahnas auseinander und erwähnt eher beiläufig, an was fur Kompositionen er diese Erwägungen in der Folge exemplifizieren werde.19 Das Problem instrumentaler Andachtsmusik wird jedenfalls nicht gestreift;20 sie scheint etwas zu sein, mit dem theoretische Auseinandersetzung vielleicht nicht lohnt, jedenfalls nicht nötig ist. Die Schweigsamkeit von Titelouze mag darin begründet sein, daß die Frage sich in seinem Umfeld gar nicht 16

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Einen Abriß des aktuellen Forschungsstandes gibt - neben dem Artikel „Biber" von Christian Berger, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Ludwig Finscher, Personenteil. Bd. 2. Kassel, Stuttgart u. Weimar 2 1999, Sp. 1573-1579 - James Clements: Heinrich Biber: Solving the Mysteries? In: Early Music Review 28 (1997), S. 8f. Jean Titelouze: HYMNES DE L 'EGLISE povr tovcher svr l'orgve, avec les fvgves et recherches svr levr plain-chänt par I. TITELOUZE. Paris 1623, in: Jean Titelouze: Oeuvres completes d'Orgue, hg. v. Alexandre Guilmant. Mainz u. a. 1967, S. 7-97, Vorwort S. 9-11. Hierzu Arnfried Edler: Gattungen der Musik für Tasteninstrumente. Bd. 1: Von den Anfängen bis 1750. Laaber 1997 (Handbuch der musikalischen Gattungen 7/1), S. 133f., S. 150-152. Tatsächlich wurde der Text als Quelle zur Geschichte der Musiktheorie gelesen; siehe Gale Kramer: The Prefaces to the Organ Works of Jean Titelouze, in: The Organ Yearbook 9 (1978), S. 2-10, und Albert Cohen: Jehan Titelouze as Music Theorist, in: Festa musicologica. Essays in Honor of George J. Buelow, hg. v. Thomas J. Mathiesen und Benito V. Rivera. Stuyvesant 1995 (Festschrift Series 14), S. 3 9 1 ^ 0 6 . J ' a y done commence par ces Hymnes qui sont les plus generales pour l'vsage de diuers Dioceses, afin d'accomoder vn chacun, y en ayant dont les chants peuuent estre apliques a diuers hymnes selon la coustume des Eglises." Aus dem Vorwort zu den Hymnes de l'eglise (Titelouze: Hymnes, Vorwort, S. 9). Andeutungen gibt Titelouze im Vorwort eines späteren Drucks, LE MAGNIFICAT, OV CANΉζ) VE DE LA VIERGE povr tovcher svr l'orgve, svivant les hvit tons de l'Eglise. Paris 1626, hg. v. Alexandre Guilmant. Mainz u. a. 1967, S. 99-165, hier S. 102: „On pourra encores reconnoistre que j'ay oblige la plus grande partie des Fugues a la prononciation des paroles, estant raisonnable que l'Orgue qui sonne vn vers alternatif l'exprime autant que faire se peut."

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stellte. Bearbeitungen von Hymnes d'eglise fur die Orgel („Instrument le plus accomply tant du genre Pneumatique que des autres genres, non seulement admirable en sa construction, mais estimable pour son employ, y ayant aparence que Dieu l'ayt fait choisir a son Eglise pour y chanter ses loiianges")21 und mit einer Satztechnik, die dezidiert nicht ä la mode war, sondern ein älteres musikalisches Idiom zu erhalten trachtete, galten ihm wohl so selbstverständlich der Andacht, daß das nicht mehr zu erklären war. In den Niederlanden, unter dem Einfluß des Calvinismus, wäre das kaum vorstellbar gewesen: Hier wurden geistliche und weltliche Melodien gleichermaßen zum Ausgangsmaterial instrumentaler Variationen, die im Kirchenraum außerhalb des Gottesdienstes dargeboten wurden. 22 Andacht und Erbauung waren dabei indes nicht beabsichtigt, es sei denn als wahrlich subversiver Akt gegen die eigene Konfession, die die Instrumentalmusik aus der Liturgie verbannt hatte, da sie nur Ablenkung von der wahren Devotion fürchtete. Ähnliches Repertoire hatte mithin zur gleichen Zeit je nach Situation ganz verschiedene Bedeutungen (und Charakteristika instrumentaler Andachtsmusik an den Stücken selbst festmachen zu wollen, würde angesichts solcher Divergenzen vollends aussichtslos). Ein wenig anders stellt sich das Problem bei einigen Sammlungen geistlicher Musik aus dem katholischen Süddeutschland im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. 23 Bei Anton Holzner, Vincenz Jelic und Matthias Spiegier finden sich zwischen 1622 und 1631 im Anhang von Zusammenstellungen geistlicher Vokalmusik auch Instrumentalstücke: neben einem unbezeichneten Satz (Jelic 1628)24 vier Ricercare (Jelic 1622)25 und insgesamt neun Canzonen (Holzner 163126 und Spiegier 1631).27 Die Frage, was derlei Stücke in ihrer Substanz geeignet erscheinen ließ, als Appendix zu geistlichem Vokalrepertoire und damit höchstwahrscheinlich als instrumentale Andachtsmusik zu fungieren, läßt sich wohl nur auf eine Art beantworten: eigentlich nichts. Canzonen und Ricercare, also Repertoire, das prinzipiell so oder ähnlich in jedem Druck mit nicht übermäßig moderner Instrumentalmusik der Zeit stehen könnte, werden durch die Art der Auszeichnung als Kompositionen zur Andacht erklärt, über deren genaue Entstehungs- und Aufführungsumstände, theologische Rechtfertigung und so weiter spezielle Untersuchungen bisher nicht vorliegen. „Grenzwertig" ist auch die Tradition der sogenannten Weihnachtskonzerte, die um 1700 ihren Höhepunkt erreichte. Während die „stille" Karwoche der Ausbil-

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Titelouze: Hymnes, Vorwort, S. 9. Siehe Edler: Gattungen, Bd. 1, S. 49, S. 5 lf. Hierzu Axel Beer: Die Annahme des „stile nuovo" in der katholischen Kirchenmusik Süddeutschlands. Tutzing 1989 (Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 22), S. 129-131, S. 138-140, S. 165-170. Arion secundus, psalmorum vespertinorum, tam de tempore, quam de Beata Maria Virgine, quatuor vocibus, alternatim ad Organum concinendorum, adjunctus Magnificat, Salve Regina, et octo tonis ad omnia instrumentua accommodatis. Straßburg 1628. Parnassia militia, concertuum unius, duarum, trium et quatuor vocum: tam nativis quam instrumentalibus vocibus, ad Organum concinnendarum. Straßburg 1622. Nemus Aonium. München 1631. Olor solymaeus nascenti Iesu, moriturus ipse, praecinens: sexaginta modulationum selectarum choro accinente I. II. III. IV. voc. Ravensburg 1631.

Instrumentale Andachtsmusik im 17. und 18. Jahrhundert

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dung einer spezifischen Instrumentalmusiktradition im Wege stand, war Weihnachten das mit Glanz und Pracht begangene Fest, das spezielle instrumentale Genres hervorbrachte, neben dem Weihnachtskonzert beispielsweise noch das Orgel-Noel in Frankreich.28 Die Titel der Werke sind meist ähnlich standardisiert wie ihr Inhalt. Pars pro toto sei der des 1709 erschienenen Opus 8, Nr. 6 von Giuseppe Torelli genannt, Concerto grosso in Forma di pastorale per il Santissimo Natale·, üblich war auch die Komposition entsprechender Sinfonien und selbständiger instrumentaler Pastorale-Sätze für Orchester oder Orgel. Solche Stücke sind unter anderem von Arcangelo Corelli, Pietro Antonio Locatelli, Francesco Manfredini, Pietro Sammartini, Gaetano Maria Schiassi und dem schon erwähnten Giuseppe Torelli, im deutschsprachigen Raum beispielsweise von Giovanni Battista Ferrandini, Johann David Heinichen und Marianus Königsperger erhalten. Johann Sebastian Bachs Pastorale (oder Pastorella) BWV 590 für Orgel ist selbstverständlich ebenfalls in diesem Kontext zu sehen, und in der Sinfonia zum zweiten Teil seines Weihnachts-Oratoriums (BWV 248/10) zitiert er (wie Georg Friedrich Händel in der „Hirtenmusik" des Messiah) den Tonfall auch im oratorischen Zusammenhang.29 Problematisch wird das Weihnachtskonzert all denen, die nach seinen spezifischen musikalischen Charakteristika fragen. Daß das Concerto grosso nicht von sich aus Musik zur Andacht ist, steht außer Frage. Die genannten Werke erschienen darüber hinaus in Sammlungen mehrer Kompositionen, in denen sie als einzige Stücke der weihnachtlichen Erbauung dienen sollten (Coreliis Konzert als Opus 6, Nr. 8, Locatellis als Opus 1, Nr. 8, Manfredinis als Opus 3, Nr. 12). Das Weihnachtskonzert ist damit ein hybrides Genre, das rein technisch nur schwer zu definieren wäre und im Gebrauch einen „geistlichen" Aspekt in einen musiksprachlich sonst „weltlichen" Zusammenhang stellt. Nach seiner Zugehörigkeit zum Kreis von Instrumentalmusik zur Andacht zu fragen, bedeutet, eine Betrachtung der jeweils individuellen Aufführungssituationen vornehmen zu wollen und, vereinfacht gesagt, eine Darbietung von Locatellis Opus 1 im Sommer vor dem Hofe nicht mit einer vielleicht möglichen Einbeziehung in den Rahmen eines weihnachtlichen Gottesdienstes gleichzusetzen. Zuletzt zu einem prominenten Sonderfall, der Musica Instrumentale sopra le sette ultime Parole del nostro Redentore in Croce op. 51 (Hob. III: 50-56) von Joseph Haydn.30 Als instrumentale Meditationsmusik wurde 1785 oder 1786 ein Orchesterwerk für die Kathedrale von Cädiz bestellt, damit dort in der Passionszeit immer nach der Lesung eines der sieben Christus-Ausrufe ein ungefähr zehnminütiger kontemplativer Instrumentalsatz erklingen konnte. Um die Verbreitung des in dieser Form sperrigen Werks zu befördern, fertigte Haydn 1787

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Hierzu Helmut Loos: Weihnachten in der Musik. Grundzüge der Geschichte weihnachtlicher Musik. Bonn 1992, S. 46-136. Ahnlich auch die Pastorale-Sätze in Weihnachtskantaten - als willkürlich herausgegriffenes Beispiel sei die zweite Sinfonia aus Alessandro Stradellas Cantata per il Santissimo Natale genannt. Siehe hierzu in prägnanter Kürze Georg Feder: Haydns Streichquartette. Ein musikalischer Werkführer. München 1998, S. 64f., und Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000 (Große Komponisten und ihre Zeit), S. 320-330.

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eine Bearbeitung für Streichquartett an, revidierte eine fur Klavier (beides übliche Besetzungen solcher Einrichtungen) und arrangierte es wiederum einige Jahre danach (1796) als Oratorium für Chor und Orchester. Für die Fragestellung nach instrumentaler Andachtsmusik ist die Reduktion für Streichquartett am ergiebigsten. Natürlich stellt sich das Problem, wie weit der Charakter von Erbauungsmusik noch gegeben ist, wenn eine Komposition im Titel auf ein Thema aus der Passion Bezug nimmt, sich in der Faktur aber als Folge von Introduktion, sieben langsamen Sonatensätzen und einem Terremoto darbietet. Daß prosodisch den Anfängen der Sätze die Bibelworte in lateinischer Sprache unterlegt werden können, ist bereits eine Zusatzinformation, die im Konzertsaal einem „naiven" Publikum möglicherweise verborgen bleiben könnte - es würde dann lediglich, in manchen Sätzen deutlicher als in anderen, den ariosen oder deklamatorischen Gestus der Initialphrasen erkennen. Immerhin ist der Bezug über den Titel und die Satzüberschriften grundsätzlich doch geradlinig herstellbar, und auch die in Haydns Opus 51 enthaltene Symbolik ist auf Verständlichkeit, nicht - wie zum Teil bei Biber - auf Mystifikation abgestellt. Drei Beispiele seien genannt: die sicher nicht zufallig gewählte Tonart f-Moll 31 im vierten Satz („Deus meus, Deus meus, utquid dereliquisti me"; alle anderen Kernsätze zu Bibelworten enden übrigens in Dur) und der sich anschließende Sonatensatz fast ohne Thematik und Motivik (Nr. 5: „Sitio"). Ohne viel Kontrapunktik, dafür mit dynamischen Kontrasten, schwankendem Metrum und turbulenter Figuration kommt der Komponist im Schlußsatz („II Terremoto") aus. Gleichwohl: Spezifische Hinweise auf die Passion und auf Andacht sind das alles, nur von der musikalischen Substanz aus argumentiert, nicht; fraglich ist, wie solche exakten Verweise in der Musik überhaupt aussehen könnten. Zwar wies Haydn seinen Londoner Verleger William Forster in einem Brief vom 8. April 178732 auf sein „ganz neues werck. bestehend in blosser Instrumental Music" vor allem mit Blick auf Theologisches hin: „diese Sonaten sind bearbeitet, und angemessen über die wort, So Christus unser Erleser am Creutz gesprochen"; „Jedwede Sonate, oder Jedweder Text ist bloß durch die Instrumental Music dergestalt ausgedruckt, daß es den unerfahrensten den tiefesten Eindruck in Seiner Seel Erwecket". Die Kenntnis der Bibelworte hält er trotzdem für unabdingbar: „es wird aber nach jeder Sonate etwas abgesezt, damit man voraus den darauf folgenden Text überlegen köne." Damit ist es den Zuhörenden überlassen, wie sie eine Aufführung von Haydns Komposition verstehen wollen: ob, sozusagen innerlich mitdeklamierend, als im Kern religiöses Werk im Gewände der Kammermusik oder als Zyklus von Streichquartettsätzen mit einem pittoresken Titel. (In Klammern sei angemerkt, daß ein Publikum des 19. Jahrhunderts, trotz der

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moll. [...] scheinet", so Johann Mattheson allerdings bereits im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, „eine gelinde und gelassene / wiewol dabey tieffe und schwere / mit etwas Verzweiflung vergesellschafte / tödliche Hertzens-Angst vorzustellen [...]. Es drücket eine schwartze / hülflose Melancholie schön aus / und will dem Zuhörer bisweile[n] ein Grauen oder eine[n] Schauder verursachen" (Das Neu-Eröflhete Orchestra. Hamburg 1713, S. 248f.). Ediert als Nr. 81 in: Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, hg. v. Denes Bartha. Kassel u. a. 1965, S. 162f.

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Ideologie der „absoluten", „reinen" Instrumentalmusik mit Vorstellungen einer Aufhebung der Kunst in der Religion oder - je nach Standpunkt - des Religiösen in der Kunst bestens vertraut, vor dieser Entscheidung in weitaus geringerem Maße gestanden hätte.) Die Problematik einer Beschäftigung mit instrumentaler Andachtsmusik des 17. und 18. Jahrhunderts dürfte hinreichend herausgearbeitet sein. Dem Phänomen ist allein mit musikalisch-technischer Werkbetrachtung prinzipiell nicht beizukommen. Der Analyse bleibt ohne Unterstützung anderer Disziplinen, vor allem der Frömmigkeits- und der Liturgiegeschichte, das Wesen solcher gewissermaßen außermusikalisch definierter Musik weitgehend verborgen. Ob die Begriffsbildung „instrumentale Andachtsmusik" letztendlich gerechtfertigt ist, müßten also spezielle Untersuchungen zu all den Wirkungsrahmen aufzeigen, in denen solche Stücke vermutet werden könnten und von denen einige sowie die Vielgestaltigkeit des dort erklungenen Repertoires im vorliegenden Beitrag aufzuzeigen waren.

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Religiöse Affektmodellierung D i e heroische Versepistel als Typus der jesuitischen Erbauungsliteratur in Deutschland

Die Verfasser germanistischer Abhandlungen und Literaturgeschichten interessierten sich, wenn überhaupt, für die heroische Versepistel in der Nachfolge von Ovids Heroides bislang nur unter der Prämisse, daß sich diese bewußt antikisierende Gattung in Deutschland eigentlich erst mit Hoffmannswaldaus galanten Heldenbriefen (gedruckt 1679) eingebürgert habe.1 Zwar wies zum Beispiel Franz Günther Sieveke in Anlehnung an das epochemachende Werk von Heinrich Dorn e (1968) 2 daraufhin, daß wir es mit einer „umfangreichen, eine eigene Tradition stiftenden europäischen heroischen Briefdichtung" zu tun haben, einer Tradition, die vom 15. bis zum 19. Jahrhundert reichte, doch lautet seine Diagnose: 3 Diese Tradition war fest ausgeprägt, als Hofmannswaldau den heroischen Brief vorbildlich für Deutschland einführte. Versuche in dieser Gattung von Helius Eobanus Hessus, Johann Peter Titz, Jakob Balde und Caspar Barthius waren ohne Wirkung geblieben. Neuralgisch wirkt hier die Formulierung „für Deutschland", denn aus dem katholischen Deutschland wird beiläufig nur der berühmte Jesuit Jacob Balde (1604—1668) mit einem Nebenprodukt 4 erwähnt, nicht aber mit seinem großan-

Zusammenfassend zur Entstehung und Überlieferung sowie mit einer beschreibenden Übersicht über die einzelnen Briefe und kompletten Literaturangaben jetzt Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1661-1679). Leben und Werk. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 51), S. 325-367. Die grundlegende neuere Untersuchung stammt von Erwin Rotermund: Affekt und Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau. München 1972; s. femer Veronique Helmridge-Marsillian: The heroism of love in Hoffmannswaldau's Heldenbriefe. Tübingen 1991, sowie Veronique Helmridge-Marsillian: Hoffmannswaldau's „Heldenbriefe". Towards a critical edition, in: Euphorion 84 (1990), S. 428-448. Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968. Franz Günter Sieveke: Christian Holmanns von Hofmannswaldaus „Helden-briefe". Imitatio oder Aemulatio, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt, hg. v. Wolfdietrich Rasch. Bern u. München 1972, S. 411-466, hier S. 413 mit Hinweisen auf Dörrie: Brief; Sieveke bietet zu Anfang einen Bericht über die bis dato vorliegende Forschung; zu den europäischen Dimensionen auch Helmut E. Hülsbergen: Michael Draytons Englands Heroicall Epistels und Hofmann von Hofmannswaldaus Helden-Briefe. Geschichte und galante Liebe, in: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock, hg. v. Gerhart Hoffineister. Bern u. München 1973, S. 427-448. Zu Baldes „Epistola Dianae ad Venerem de morte Adonidis" (Dörrie: Brief, S. 184) siehe jetzt die philologische Analyse von Wolfgang Schibel: Die Metamorphose zum Heroidenbrief. Jacob Baldes Epistola Dianae ad Venerem de morte Adonidis, in: Ovid. Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag, hg. v. Werner Schubert. 2 Bde. Frankfurt a. M. u. a. 1998 (Studien zur klassischen Philologie 100), hier Bd. Π, S. 977-992.

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gelegtem Zyklus Urania Victrix (München 1663). Darin entfaltet sich jeweils in Briefen, in denen die fünf Sinne vergeblich um die dem Himmel bestimmte menschliche Seele werben und dabei alle Reize der leiblichen Erfahrungen und der modernen Wissenschaften vorfuhren, ein grandioses Epochenpanorama. 5 Wer die Jesuitendichtung, also die Domäne der religiös-historischen Versepistel und ihrer gerade von Balde ausgebildeten allegorisierenden Sproßformen, außer acht läßt, perpetuiert die Ausblendung der lateinischen Poesie aus der nationalen Literaturgeschichte, den ererbten kulturellen Monopolanspruch des Protestantismus, allerdings auch die bemerkenswerte Trennung der konfessionellen Kommunikationskreisläufe. Stellte doch schon Dörrie 6 fest: „Für die Tiefe der konfessionellen Spaltung ist bezeichnend, daß davon [der katholischen Blüte der Heroides Sacrae, W. K.] kaum ein Widerhall in der evangelischen Literatur zu verspüren ist." Nur insoweit läßt sich mit einem gewissen Recht nachschreiben, was Hoffmannswaldau fur sich als innovative Leistung in Anspruch nahm, nämlich „daß noch niemahls / so viel ich mich erinnere / etwas dergleichen von unsern Lands-Leuten versuchet worden ist."7 In der Tat gehörte die heroische Versepistel nicht zu den Gattungen, die mit Opitz und den Opitzianern auf den deutschen, d. h. den deutschsprachigen Meridian übertragen wurden. Sie gehörte auch nicht zu den Gattungen, die, soweit ich bisher sehe, in der älteren lateinischen, geschweige denn in der deutschsprachigen Poetik (vor Hoffmannswaldau) besondere Beachtung fanden. 8 Das mag zusammenhängen mit der christlichen Scheu vor den mythologischen Stoffen Ovids, deutet aber wohl auch auf jene konzeptuelle, poetologisch schwer zu erfassende Eigenart hin, die fiktive Briefdichtungen in die Intermundien zwischen heroisierender Biographik, halb-dialogischer Rollenpoesie, epistolarischer Invention und epischer, quellenkundlich verbürgter Historizität verbannte. Zwar fungierten Ovids Versepisteln9 außerhalb des Schulkanons als kanonische Präfiguration der Gat-

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Eine kommentierte zweisprachige Ausgabe der ersten beiden Bücher (zu Visus und Auditus) ist in Heidelberg weilgehend fertiggestellt und wird zum Herbst 2003 im Niemeyer-Verlag (Tübingen) erscheinen. Siehe dazu einstweilen Wilhelm Kühlmann / Robert Seidel: Askese oder Augenlust? Sinnesveimögen und Sinnlichkeit bei Jakob Balde SJ und Baithold Heinrich Brockes, in: Iiiaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit Festgabe für Joachim Teile zum 60. Geburtstag, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, S. 131-166. Dörrie: Brief, S. 375. C. Η. V. H. [d. i. Hoffmannswaldau]: Deutsche Ubersetzungen Und Gerichte. Breslau 1679 (in der Vorrede). Vgl. die Berichte zur historisch-galanten Hoffinannswaldau-Rezeption bei Dörrie: Brief, bes. S. 183-203 unter Einschluß der „erbaulichen Briefe" (also weniger in Hoffinannswaldaus Nachfolge als in der Nachfolge der älteren Heroides Sacrae) bei deutschen Autoren (Albrecht / Albert Christian Rotth, Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen, Benjamin Neukirch u. a.). Es ist gattungshistorisch ein wenig irreführend, daß Dörrie diese späten deutschsprachigen Exempel des „erbaulichen" Typus darstellungstechnisch komplett von den historisch vorgängigen humanistischen und katholischen, d. h. lateinischen Exempeln der religiösen Briefdichtung trennt (Brief, S. 381-430). Die einschlägige Ovidforschung ist eingebracht in die auch gattungstheoretisch ausholende neuere Untersuchung samt Edition von Theodor Heinze: P. Ovidius Naso. Der XII. Heroidenbrief: Medea an Jason. [...] Einleitung, Text und Kommentar. Leiden, New York u. Köln 1997 (Mnemosyne, Supplement 170).

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tung, doch bot sich diese den frühneuzeitlichen Autoren - gewiß auch schon dem rhetorisch versierten Ovid - offenkundig ebenso als poetisches wie als oratorisches, d. h. prosopographisches, zugleich etho- bzw. pathopoietisches Exercitium dar, das in den Übungen der .oratio ficta' Entscheidungssituationen, Gefühlsbewegungen und intellektuelle bzw. moralisch-politische Konflikte historischer Personen nachzeichnete.10 Daß deutschsprachige Heroidendichtung - auch im Grenzbereich pikanter Schlüssel- und Schlüssellochliteratur - erst mit Hoffmannswaldaus Form nationale Zelebrität gewann, war auch Konsequenz der Tatsache, daß die zu Lebzeiten in drei Auflagen (1514, in umgearbeiteter Fassung 1532 und 1539) erschienenen Heroidum Sacrarum Epistolae des deutschen Humanisten Helius Eobanus Hessus (1488-1540)" im protestantischen Kulturraum allein schon wegen ihrer poetischen .Materie' auf die Schranken des protestantischen Biblizismus stießen. Aus dem Blickfeld, wenn nicht sogar in dogmatische Tabuzonen geriet fast der gesamte legendarische Fundus der Heiligen- und jedenfalls der jüngeren Kirchengeschichte, von aktuellen kirchenpolitischen Figurenkonstellationen ganz abgesehen. Jesuiten scheuten sich nicht, ihre Ordensheroen, einen Ignatius oder Franz Xaver, als Verfasser halb-fiktiver Episteln poetisch zu nobilitieren. Hessus' Briefe heiliger Frauen (darunter Maria; Maria Magdalena, die im Briefgenre vielberufene Monica als angefochtene Mutter des Augustinus,12 Kaiserin Helena, Elisabeth von Thüringen und Kunigunde, die Gattin Kaiser Heinrichs II.)13 fanden dagegen im protestantischen Raum so gut wie keine Nachfolge. Es kennzeichnete die Veränderungen des lite-

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Vgl. die entsprechenden Kapitel zur rhetorischen Jesuitenpädagogik in dem bekannten Werk von Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, sowie mit vielen Beispielen bes. Barbara Bauer: Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfiirt a. M. u. a. 1986 (Mikrokosmos 18), hier bes. Kap. VI, S. 319-368, zu Jacob Masen S. J. unter anderem über ethopoietische Übungsreden zum Leben der Hl. Katharina und Maria Magdalena und zum Nachspielen Ciceronischer Prozesse. Zu Leben und Werk siehe die zweisprachige Lyrikauswahl mit einem biographischen Abriß und einer Bibliographie der Forschungsliteratur in: Wilhelm Kühlmann / Robert Seidel / Hermann Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch [...]. Frankfurt a.M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 5), S. 247-338 und S. 1097-1143 (Anhang und Kommentar), hier S. 1134f. eine kurze Charakterisierung des Zyklus insgesamt. Siehe ferner die Artikel des besten Hessus-Kenners Harry Vredeveld (sub verbo), in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 5. Gütersloh u. München 1990, S. 282-284, sowie in: German Writers of the Renaissance and Reformation 1280-1580, hg. ν. James Hardin and Max Reinhart. Detroit u. a. 1997 (Dictionary of Literary Biography 179), S. 97-110. In zweisprachiger Edition aufgenommen in den Band Kühlmann / Seidel / Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik, S. 318-327, mit dem Kommentar S. 1136-1139. Die überarbeitete Fassung des Zyklus von 1532 (B-Druck) ist mit einer Übersetzung und dem Nachweis der Lesarten abgedruckt in: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch übersetzt und hg. v. Harry Vredeveld. 3. Bd.: Dichtungen der Jahre 15281537. Bern u. a. 1990 (Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 39), S. 269483. Von Vredeveld stammen auch genaue Einzeluntersuchungen: Der Heroische Brief „Maria Magdalena Iesu Christ" aus den „Heroidum Libri Tres" des Helius Eobanus Hessus (1488-1540), in: Daphnis 6 (1977), S. 65-90; Mittelalterliche Legende in Ovidischer Form: Wege der Worte in den Heroidum Christianarum Epistolae des Helius Eobanus Hessus, am Beispiel des Briefes „Maria Aegyptia Zozimae", in: Wege der Worte. Festschrift für Wolfgang Fleischhauer, hg. v. Donald C. Riechel. Köln u. Wien 1978, S. 238-262.

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rarischen Klimas, daß Hessus die erste, also die vorreformatorische Fassung seines Zyklus, der ihm das Selbstbewußtsein eines nationalen Literaturpioniers verlieh,14 unter dem religiösen Konformitätsdruck nicht unerheblich und nicht nur in stilistischer oder lexikalischer Feinarbeit umarbeitete. Was dabei herauskam, waren drei Gruppen, d. h. Bücher mit Briefen, von denen nur die Texte mit biblischen Stoffen als ,historicae heroides' eingestuft wurden. Alles übrige fungierte unter dem Lemma ,mixtae heroides' (2. Buch) bzw. ,fabulosae heroides' (3. Buch).15 Derlei Skrupulositäten spielten für Jesuiten keine Rolle. Jedenfalls stand ihnen außer dem biblischen Figurenfundus die gesamte - kirchlich approbierte legendarische und hagiographische Überlieferung zur Verfugung. Auch durch die potentielle Integration religionspolitisch attraktiver und quasi .moderner' Akteure in das bekannte Spektrum erbaulicher Leitfiguren bot das Genre die Möglichkeit, eine Palette eindrucksvoller psychologischer Porträts, affektiver Schreibsituationen, intertextueller Referenzen und erbaulicher Diskursbezüge zusammenzustellen. Zugleich konnten variable, auch episch amplifizierte Redestrategien vorgeführt werden: von der Suasorie, Adhortatio und Valedictio über die hochpathetische Klage, fromme Lebensbilanz, Trost- und Bußpredigt oder auch erregte Konfliktreflexion bis hin zu eschatologischen Angst- und Glücksphantasien im Verbund der meditatio mortis, dies meist in sehr konkreter historischer Beglaubigung, ggf. auch zeitgeschichtlicher Transparenz. Dergestalt füngierten jesuitische Versepisteln auch als ein literarisches Medium und Instrument mit dem Ziel, an der inner- wie außerkirchlichen Meinungsbildung mitzuwirken, bestimmte Geschichtsbilder mental zu befestigen oder auch - allerdings in eher seltenen Fällen - konfessionalistische Agitatorik zu poetisieren. Dazu dienten manchmal allegorische Sprecherfiguren. Der von deutschen Autoren in der Nachfolge von Petrarcas Roma-Personifikation geschaffenen Germania-Figur, 16

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Kennzeichnend dafür auch die Tatsache, daß Hessus den Zyklus abschloß mit der Epistel (III, 9) „Eobanus Posterität!", einem bedeutenden Beispiel des rinascimentalen Ruhmesgedankens; abgedruckt in: Kühlmann/ Seidel/ Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik, S. 328-337, dazu der Kommentar S. 1140-1142; zu den Rückgriffen auf Ovids Autobiographie (bes. Tristia IV, 10) siehe die ergiebige Untersuchung von Karl Enenkel: Autobiographisches Ethos und Ovid-Überbietung: Die Dichterbiographie des Eobanus Hessus, in: Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), S. 25-38. Vredeveld charakterisiert die Umarbeitungen wie folgt in Vredeveld: Writers, S. 107: „the new work reflects not just his improved ear fur Latin style but also his Protestant sensibilities regarding the medieval legends. Gone are such extravagant stories as the Eleven Thousands Virgins and Saint George and the Dragon. Other letters are rewritten from top to bottom, sometimes by elaminating objectionable materials, sometimes by replacing legendary heroines with more acceptable ones. And to make it plain that more than half the wotk deals with biblical and historical subjects, Hessus organized the poems into three categories." - In neueren Untersuchungen zu dem höchst problematischen Verhältnis von Hessus zur Reformation spielen auffalligerweise diese Umarbeitungen (letztlich im Horizont des auch sonst literarisch weitläufigen protestantisch-katholischen ,Legendenstreits') so gut wie keine Rolle; vgl. mit allen nötigen Hinweisen Stefan Rhein: Philipp Melanchthon und Eobanus Hessus. Wittenberger Reformation und Erfurter „Poetenburg", in: Erfurt. Geschichte und Gegenwart, hg. v. Ulman Weiß. Weimar 1995, S. 283-295; Walther Ludwig: Eobanus Hessus in Erfurt. Ein Beitrag zum Verhältnis von Humanismus und Protestantismus, in: Mittellateinisches Jahrbuch 33 (1998), S. 155-170. Vgl. die Hinweise bei Dörrie: Brief, S. 453-463 und im Kommentarteil von: Kühlmann / Seidel / Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik, S. 1262f.

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fiktiver Sprecher- oder Adressateninstanz der politisch-moralischen Reflexion und aktuellen Zeitklage, entsprach unter veränderten Vorzeichen, doch in Analogie zur Personifikation der Ecclesia bei Petrarca und Hessus bei dem deutschen Jesuiten Jacob Bidermann (1577-1639) die Autor- bzw. Adressatenrolle der Ecclesia als Ecclesia militans, Ecclesia triumphans und Ecclesia purgans. Ihre Klagen über die Folgen der deutschen Reformation und ihre militanttriumphierende, allerdings mit Bußfertigkeit gepaarte Siegeszuversicht im Ausblick auf die himmlische Herrlichkeit prägten die vier Briefe des dritten Buches von Bidermanns Heroidum Epistulae (Rom 1638), eines Werkes, das in den ersten beiden Büchern neben der Erythreischen Sibylle nur Frauen des Alten Testaments zu Wort kommen ließ (von Eva bis Esther).17 Bereits ein erster Überblick über das ungeheuer weitläufige (wissenschaftlich bislang, von Dörrie abgesehen, kaum erforschte) Massiv der jesuitischen Versepisteln, speziell der Heroides Sacrae, legt es nahe, diese im institutionell abgestützten Literatursystem des Ordens besonders gepflegte Variante des poetischen Briefgenus in ihrer mehrdimensionalen Funktionalität zu verstehen: nämlich als christlich-katholische Assimilation und tiefgreifende Modernisierung eines altrömischen Klassikers nach Maßgabe des in der Ratio Studiorum kodifizierten, demnach rechtgläubigen und von heidnischen Anstößen purgierten Formhumanismus; die Heroides Christianae traten so an die Seite eines christianisierten Terenz, Martial oder der erbaulich-spirituellen Schäferdichtung, die Christus in den Hirtenheros Daphnis verwandelte:18 a) als psychologisch wirksame, gerade die individuelle Leseridentifikation durch subjektive Figurenperspektivik und ehrgeizige Affektmodellierung anreizende Variante der erbaulichen Literatur, in welcher asketische Normvorstellungen auf dem Hintergrund innerweltlicher Anfechtungen, mithin auch Verhaltensmodelle der christlichen probatio und conversio auf Stoffwahl und Darstellungsmodalitäten den bedeutendsten Einfluß ausübten; b) als genuin literarische Antwort des Ordens auf eine Lücke des protestantischen Literatursystems in der Interferenzzone zwischen individuell-religiöser Pädagogik, ja Psychagogik und genuin historisch-politischer Lehrhaftigkeit; c) als eine auf den Lesevollzug gerichtete, vor allem die akademisch gebildete Elite ansprechende, privater Lektüre unterbreitete Ergänzung des stofflich und thematisch vielfach verwandten und quasi öffentlichen Literaturange17

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Siehe die Textbeschreibung bei Dörrie in dem Kapitel über die Heroides Sacrae der Jesuiten, darunter Bidermann (Brief, S. 389-403), speziell S. 392. Dazu wichtig fur die Jesuitendichtung das entsprechende Kapitel in dem höchst instruktiven Werk von Martina Eicheldinger: Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 110), hier Kap. 10, S. 287-316; zum Grundkonflikt siehe Wilhelm Kühlmann: Poeten und Puritaner: Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus. Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland, in: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit, hg. v. Hannes Kerner. Nürnberg 1993 (Pirckheimer-Jahrbuch 8), S. 149-180.

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bots, das der Orden in Gestalt seiner Helden und Heilige favorisierenden Dramenproduktion über alle katholischen Territorien verbreitete; d) als eine sowohl dem rhetorischen als auch dem poetischen Unterricht zuzuordnende, ja in beiden Klassen redetechnisch einzuübende und mit Exempelkenntnissen des Bibelstudiums wie auch der europäischen Kirchenund Profangeschichte nach Belieben anzureichernde Schreib- und Darstellungsofferte. Zwar begann der Neueinsatz der katholischen Versepisteln mit Autoren außerhalb des Jesuitenordens, mit Repräsentanten des Reformkatholizismus in Frankreich, darunter Claude d'Espence (1511-1571), zeitweise Rektor der Sorbonne, doch erst die Dichterpatres der Societas Jesu bewirkten in vielgedruckten Kompositionen die endgültige und epochentypische Ausbildung des gegenreformatorischen Genretypus. An der Spitze der hier in Frage kommenden Dichtergruppe stand, nicht nur chronologisch, sondern auch in der Ämterhierarchie des Ordens gesehen, kein Geringerer als der Deutsche Jacob Bidermann: im Jahre 1577 in Dillingen geboren, später in Ingolstadt, Augsburg, München und Dillingen wirkend, seit 1626 als Ordenszensor in Rom lebend und in dieser Funktion bis zu seinem Tode (1639) gewiß eine der autoritativen Hintergrundfiguren der jesuitischen Literaturproduktion.19 In der Forschung fand zwar Bidermanns Dramenschaffen sehr rege Beachtung, die bis ins 18. Jahrhundert in ganz Europa verbreiteten Epigramme und Versepisteln liegen jedoch bisher abseits erster Untersuchungen 20 ebenso im wissenschaftlichen Dunkel wie die lyrischen oder quasi-lyrischen Werke anderer Ordenskollegen vom Schlage eines Jacob Pontanus (1542-1626), 2 1 Johannes Bisselius (1601-1682) 2 2 oder Nicolaus von

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Vgl. die Werkbibliographie und das Verzeichnis der Editionen und der Forschungsliteratur bei Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Erster Teil (Bd. 1). Stuttgart 1990, S. 550-581; dazu - ergänzend - hier der Hinweis auf Briefe von und an Bidermann, in: Bayerische Gelehrtenkorrespondenz. P. Matthäus Rader S J. Bd. I: 1595-1612, bearb. von Helmut Zäh und Silvia Strodel, eingeleitet und hg. v. Alois Schmidt. München 1995. Hervorragend und solitär zu Bidermanns geistlichen Epigrammen Günter Hess: Die Kunst der Imagination. Jacob Bidermanns Epigramme im ikonographischen System der Gegenreformation, in: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988, hg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 184-196. Zur geistlichen Lyrik des Pontanus sind wir nach wie vor angewiesen auf Joseph Bielmann: Die Lyrik des Jakobus Pontanus S. J., in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 4 (1929), S. 83-102. Zu Person, Position und Werk ansonsten ergiebig Barbara Bauer: Jacobus Pontanus S. J., ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 77-120. Zur Lyrik erste Versuche von Wilhelm Kühlmann: „Parvus eram". Zur literarischen Rekonstruktion frühkindlicher Welterfahrung in den Deliciae Veris des deutschen Jesuiten Johannes Bisselius (1601-1682), in: De Virgile ä Jacob Balde. Hommage ä Andree Thill. Etudes recueillies par Gerard Freyburger. Poitiers 1987 (Bulletin de la Faculte des Lettres de Mulhouse XV), S. 207-216. Hermann Wiegand: Marianische Liebeskunst: Zu den Anfangen der lateinischen Lyrik des Johannes Bisselius S. J. (1601-1682), in: Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani, hg. v. Stella P. Revard, Fidel Rädle, Mario A. Di Cesare. Binghampton u. New York 1988, S. 383-393.

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Avancini (1611-1681) - immer abgesehen von dem seit Herder vielbeachteten Jacob Balde. Im Jahre 1630 legte Bidermann in Antwerpen bei Plantin seine Heroum Epistolae vor, ebenfalls bis ins 18. Jahrhundert - oft mit anderen Werken Bidermanns, vor allem seinen Epigrammen - in Deutschland, Frankreich und Italien nachgedruckt, bald ergänzt von dem bereits erwähnten Zyklus der Heroidum Epistolae (zuerst Rom 1638), beide als eine der ganz wenigen neulateinischen Kollektionen im frühen 18. Jahrhundert von dem schlesischen Ordensbruder Georgius Franciscus Friebel komplett in deutsche Verse übersetzt unter dem Titel: Sinn- und Geistreiche/Recht Güldene Helden=Schreiben (Schweidnitz 1704, Exemplar aus der von Waldburgschen Bibliothek in der UB Heidelberg). Ich konzentriere mich hier auf die im Gegensatz zu Ovid und Hessus bewußt auf männliche Protagonisten ausgerichtete Kollektion der insgesamt zwanzig Heroum Epistolae (benutzt in der Ausgabe Salzburg 1716). Das Werk überschreibt seine Bücher mit thematischen Lemmata, freilich in merkwürdig diffuser Manier. Während das erste Buch, dem Inhalt durchaus entsprechend, „in hominis novissimis totus consumitur", also die Dogmatik und Darstellungstopik der „quattuor novissimi", also „vier letzten Dinge", rekapituliert,23 heißt es vom zweiten Buch: „privatas quorundam calamitates deplorat." Dies widerspricht auf den ersten Blick jedenfalls - der Stofiwahl, die immerhin das traurige Schicksal großer Feldherrn und Könige (Gilimer II, 4; Beiisar II, 5; sogar Konradin von Schwaben II, 6), also „öffentlicher" Personen, vergegenwärtigt und in II, 2 an den erfolgreichen Widerstand des Ambrosius gegen Kaiser Theodosius anläßlich des Gemetzels an den Aufständischen von Thessalonike erinnert. Die Junktur privatae calamitates erweist sich jedoch insofern als sinnreich, als die mächtigen Heldengestalten gerade in den Momenten der Erniedrigung, lebensgeschichtlichen Bilanzierung oder endgültigen Lebensbewährung zum Sprechen gebracht werden, in Momenten also, in denen sie aller öffentlichen Macht beraubt sind: Der blinde Beiisar schreibt als umherziehender Bettler an Kaiser Justinian, Konradin von Schwaben wendet sich kurz vor seiner Hinrichtung aus dem neapolitanischen Kerker an seine Mutter. Erst dieser Lebensumschwung wirkt als Inzitament der Affekterregung und der erinnernden Reflexion, profiliert auf diese Weise auch das erbauliche Schreibprogramm, die publikumswirksame, ja manchmal sympathetisch-sentimental kolorierte Abscheidung des innerweltlichen von dem gerade im Unglück aufscheinenden spirituellen Wertsystem. Das dritte Buch trägt den Verlegenheitstitel Miscellanea, wird aber dadurch thematisch zusammengehalten, daß die meisten Briefschreiber über ihre Lebensverfehlungen und Lebenskämpfe berichten. Anstelle der in diesem Beitrag - allein schon des beschränkten Raumes wegen - unmöglichen Detailanalyse der Episteltexte möchte ich anhand weniger 23

Einzuordnen also in den weiten literarischen Horizont, den Hans-Henrik Krummachers maßgebliche Untersuchung nachzeichnet: De quattuor novissimis. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius, in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe, hg. v. August Buck und Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 499-577.

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und noch ganz vorläufiger Beobachtungen wichtige Gesichtspunkte anfuhren, unter denen das Briefkorpus Bidermanns und analoge Zyklen zu untersuchen und literaturhistorisch einzuordnen sind.

Stoffwahl, intentionale Disposition, thematische Diskursivität und historische Parabolik Bidermann ordnet seine Briefe im Großen und Ganzen historisch-chronologisch an; biblische Figuren sind nur in Gestalt des reichen Prassers (Bidermann: Epulo dives, I, 3), der sich seine Höllenqualen ausmalt, des notorisch reumütigen Filius prodigus (III, 1) und des seine Schuld beklagenden Petrus (III, 2) vertreten. Vor allem in den Büchern zwei und drei konstituiert sich - manchmal offenbar bewußt in Zweiergruppen von Briefen markiert - die Perspektive einer kirchen- und weltgeschichtlichen Kontinuität, zugleich die einer die Geschichte durchziehenden, d. h. gleichbleibenden Spannung von sündhafter Verfehlung oder lebensgeschichtlicher Anfechtung auf der einen, moralischer und heilsgeschichtlicher Neuorientierung auf der anderen Seite. Die transgeschichtlichen Maßstäbe dieser agonalen Orientierungs- und Entscheidungsproblematik werden in den eschatologischen Verheißungen und Drohungen des ersten Buches sinnfällig im Munde der Briefschreiber exponiert. Die historische Werkperspektive reicht von frühen biblischen bzw. legendarischen Gestalten über die Gründerzeit der großen Kirchenväter (Augustinus mit seinem Freund Alipius I, 4 und III, 3; Ambrosius II, 2; Chrysostomus II, 3), an ihrer Seite Gelimer und Beiisar als weltliche Exempel der Spätantike (II, 4 und 5), zu Autoritäten der mittelalterlichen Scholastik (Bernhard von Clairvaux, Adressat in III, 4, und Thomas von Aquin III, 5), umfaßt die Krise der mittelalterlichen Kaiserherrlichkeit (Konradin, II, 6) und führt schließlich bis hin zur römisch-spanischen Weltkirche der Gegenreformation (III, 6 und 7). Der Brief III, 6 wird, bezeichnend auch für die ordensspezifische Selbstdarstellung, von Kaiser Karl V. an Francisco Borgia (15ΙΟΙ 572) geschrieben, seit 1551 Jesuit und seit 1565 dritter General des Ordens.24 Borgia verkörpert jenen Geist der Weltabsage und Askese, die nun auch den Kaiser im autobiographischen Rückblick ergreift. Die geistige Allianz von Kirche, Orden und Reich wird, so lautet die implizite Botschaft, nicht in politischer Glorie geschlossen, sondern in einer gemeinsamen Frömmigkeitshaltung. Das Reichsthema, mithin auch das Thema legitimer und illegitimer Machtausübung des Kaisers im Dualismus weltlicher und geistlicher Geltungsansprüche, bleibt virulent, äußert sich besonders hintergründig im Abschiedsbrief des Staufers Konradin. Er bekennt seine Verfehlungen - auch im Kampf gegen den Papst, doch was Bidermann dazu bewogen hat, gerade diese weiterwirkende Rührszene epistola-

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Auch schon vor seiner Kanonisierung (1671) also eine jesuitische Leitfigur; vgl. zu späteren Ruhmeswerken G. Richard Dimler S. J.: Octiduum S. Francisco Borgiae (München: 1671). The Munich Jesuits Celebrate the Canonisation of Francis Borgia, in: Emblematik und Kunst der Jesuiten in Bayern: Einfluß und Wirkung, hg. v. Peter M. Daly, G. Richard Dimler S. J. u. Rita Haub. Turnhout 2000, S. 107-132.

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risch zu instrumentalisieren, hat wohl auch mit dem Antagonismus zwischen Frankreich einerseits (vertreten durch die Anjou, die Gegner Konradins) und dem spanisch-deutschen Reich andererseits zu tun, jenem Reich, das an der Seite des jungen Konradin geradezu präfigurativ fur das 17. Jahrhundert durch Herzog Friedrich von Österreich, Konradins treuen Gefährten, vertreten ist: Es geht um kirchen- und reichspolitische Legitimität und Deszendenz - nicht nur zwischen dem schwäbischen und dem habsburgischen Imperium, sondern auch zwischen dem durch Konstantin (Briefschreiber „e caelo" III, 7) christianisierten Römerreich und jener Blüte des gegenreformatorischen Rom unter dem Barberini-Papst Urban VIII 25 (Briefadressat), also Bidermanns immittelbarem Dienstherren. Bereits diese Beispiele deuten an, daß so gut wie alle Versepisteln eingelagert sind in gattungsübergreifende Diskurse, d. h. thematische Argumentationssysteme von hoher Traditionalität, zugleich aber aktuellem Applikationswert.

Art und Bedeutung der (markierten oder unmarkierten) intertextuellen Bezüge Auffälligerweise verzichtet Bidermann bei seinen Episteln auf vorangestellte Prosaerläuterungen mit Quellenhinweisen. Gerade deshalb mußte er entweder beim Leser mit der elementaren Kenntnis der Figuren und ihrer Geschichte, also mit Lektüreerfahrungen, rechnen, oder war darauf angewiesen, in den Briefen selbst die nötigen expositorischen Informationen zu liefern. Die legendarische Überlieferung (etwa zur Eustachius-Legende Π, 1), vor allem aber berühmte Werke wie Augustinus' Confessiones, Paradefall der literarisierten conversio, werden sichtlich verarbeitet und vorausgesetzt. Die Variationsbreite der praetextuellen Bezüge in Übernahmen und Abweichungen, ggf. eigenen Akzentuierungen auch infolge des Gattungswechsels, sind nur in der Detailanalyse zu bestimmen. Dabei ist auch der Bogen zu schlagen zum epigrammatischen, emblematischen, oratorischen und historiographischen Schrifttum katholischer Provenienz - in erster Linie aber zu dem Befund, daß nicht nur bei Bidermann ein Großteil der epistolarischen Figurenkonflikte zugleich im Jesuitendrama behandelt wurde. Bidermann selbst schrieb eines der vielen Beiisar-Dramen, und auch Augustinus mit seinem Freund Alipius (so etwa bei dem Ordensbruder Jacob Gretser),26 der Wandalenkönig Gelimer, ja selbst Konradin (politisch brisante Münchener Auffuhrung von 1644, vielleicht von Bidermanns Epistel beeinflußt)27 bevölkerten die Ordensbühne. Bi-

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Zu den um ihn gescharten Literatenkreis und der von ihm geförderten Kultur des katholischen Rom siehe neuerdings Marc Laureys: Ein Freundeskreis im barocken Rom. Einige Bemerkungen

zu den Septem älustrium virorum poemata, in: Menüs amore Ligati. Lateinische Freundschaftsdich26

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tung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit Festgabe fur Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag, hg. v. Boris Körkel, Tino Licht und Jolanta Wiendlocha. Heidelbeig 2001, S. 217-232. Vgl. jetzt die Ausgabe (mit einer Liste der Augustinus-Dramen bis ins 18. Jahrhundert) von Dorothea Weber: Augustinus Conversus. Ein Drama von Jakob Gretser. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Wien 2000 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 674). Vgl. den Abdruck der diesbezüglichen Perioche bei Elida Maria Szarota: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition. Texte und Kommentare. 4 Bde.

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dermanns Belisarepistel scheint, abgesehen vom sprachlichen Detail, besonders in der szenischen Imagination der Sprecherfigur von der Bühnendramaturgie mitbestimmt zu sein. Dazu tritt selbstverständlich gerade in der Mikrostilistik das Geflecht antikisierender Junkturen und Reminiszenzen, deren semantischer Gehalt von Fall für Fall zu gewichten ist. Vor allem in Bidermanns Heroiden wird auf Darstellungstechniken einer bewußten christlichen Kontrafaktur Ovids, auch auf implizite Auseinandersetzungen mit humanistischen Vorgängern (Hessus ζ. B.) zu achten sein.

Brieffiktion und synkretistischer Gattungscharakter Die Versepistel als Gattung ist bestimmt von der Brieffiktion, also von der Vorstellung eines performativen Schreibens, das bestimmte Formulare (etwa am Briefeingang und -schluß) verwendete, nach Briefsorten und Redeakten differenziert war und seit dem Humanismus als Gespräch zwischen Abwesenden verstanden wurde. Es ist zu verfolgen, inwieweit und mit welchen Mitteln diese Brieffiktion im Text begründet und durchgehalten wird. Generell deutet sich der Befund an, daß hier mit erheblichen Abweichungen zu rechnen ist - dergestalt nämlich, daß viele Versepisteln sich vom Briefformular emanzipieren, ja dieses Briefformular nur den notdürftigen Rahmen für eine synkretistisch variable, artistisch verselbständigte Textorganisation abgibt - manchmal ohne Rücksicht auf die psychische oder historische Lage des Schreibers transformiert in ästhetische Kabinettstücke nach Maßgabe inventiver Amplifikation und in der Übernahme von Darstellungsmustern anderer literarischer Genres. Die historische Sprecherfiktion wird überlagert, ja fast durchweg dominiert von der ästhetischen, dogmatischen und erbaulichen Kalkulation des Autors. Augustinus etwa vergegenwärtigt seine Sehnsucht nach dem überirdischen Glück (1,4) nicht nur in Architekturbeschreibungen des himmlischen Jerusalems, sondern auch in der Evokation der Himmelsauen ganz in der Manier bukolischer Landschaftspoesie. Insofern in personaler Reflexion Erinnerung aktualisiert wird und faktische Begründungen auch in der Publikumsdisposition - notwendig erscheinen, bedient sich das Briefgenre oft auch der Palette genuin epischer Darstellungs- und Stilmittel (etwa in Schlachtbeschreibungen oder ekphrastischen Partien). Bei unbeholfeneren Versuchen wie den Heroum Helvetiorum Epistolae (Freiburg, Luzern 1657) des katholischen Schweizers Johannes Barzaeus (1592 oder nach 1595-1660)28 präsentieren sich weite Textpartien als bloße Versifizierung geschichtlicher Quellen - und dies in einer rhetorisch-ornamentalen Stilgestik, die jede ethopoietische Rücksicht auf die Briefschreiber, darunter Wilhelm Teil und Nikolaus von der Flüe, vermissen läßt.

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München 1979-1987, hier Dritter Band: Konfrontationen, Teil 2. München o. J., S. 10391048 mit dem Kommentar S. 2184-2187. Zu ihm der Artikel (sub verbo) von Hellmut Thomke in: Literaturlexikon, hg. v. Walther Killy. Bd. 1. Gütersloh u. München 1989, S. 332f.; Quellenanalysen bietet Eugen Egger: Joannis Barzaei Heroum Helvetiorum Epistolae. Untersuchung zur Erforschung der neulateinischen Epik. Diss. phil. Freiburg i. d. Schweiz 1947.

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Welche Merkmale das literarische Genus und seine Figuren - im Rahmen eines christlichen ,Barockheroismus' - als ,heroisch' qualifizierten und welche abschreckenden oder zur frommen Nachfolge anreizenden Momente der Erbaulichkeit den auktorialen Wirkungsanspruch und Darstellungsmodus der Geistlichen Episteln mitbestimmten, ist ebenso zu bedenken wie die vergleichende Untersuchung offenkundiger Querbezüge innerhalb der jesuitischen Epistelproduktion. Von Bidermann ist dabei auszugreifen vor allem auf die großen Zyklen der flämisch-niederländischen Ordensgenossen, unter ihnen vor allem Balduin Cabliau/Cabillavius (1568-1652) und Jean Vincart/Vincartius (1593-1679), die wiederum in den Ovids Heroides christianisierenden Dichtungen Joost van den Vondels ein muttersprachliches Analogon fanden.29 Auffalligerweise verlor in der jesuitischen Literaturproduktion - trotz weiterwirkender Nachdrucke - bald nach der Mitte des 17. Jahrhunderts der von Bidermann repräsentierte Typus der Heroides Sacrae sichtlich an Attraktivität. Die Gattung differenzierte sich, mit ihr wohl auch das implizierte Leitbild der Frömmigkeit und das asketisch-katechetische Wirkungspotential. An die Stelle der Briefe christlicher Heldengestalten traten innovative allegorische Zyklen (wie Baldes Urania Victrix), vor allem aber das im gesamten Habsburger Imperium bis weit ins 18. Jahrhundert beliebte Schrifttum der von Dörrie so genannten „religiös-nationalen Briefdichtung". Die Heroiden des Bidermannschen Typus bilden also ein etwa auf die Jahrzehnte von 1570 bis 1660 beschränktes, in Gehalt und Faktur höchst eigenartiges Korpus gegenreformatorischer Literatur. Es war kein Geringerer als der Jesuit Jacob Balde, der in der Isagoge seiner Urania Victrix (München 1663) ironisch, ohne Namen zu nennen, aber doch offenbar gerade im Blick auf Bidermann und Cabliau, feststellte, daß sich nicht nur die Flut der elegischen Beileids-, Trauer- und Liebespoesie „abgeleiert" habe, sondern daß auch „der Köcher der heiligen und profanen Liebe ausgeschöpft" sei.30

Literaturverzeichnis Primärliteratur Bidermann, Jacob: Heroum Epistolae. Salzburg 1716. Friebel, Georgius Franciscus: Sinn- und Geistreiche / Recht güldene Helden=Schreiben. Schweidnitz 1704. [dt. Übers, v. Jacob Bidermann: Heroum Epistolae, Heroidum Epistolae]

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Zur flämischen Ordensdichtung siehe im einzelnen Dörrie: Brief, S. 394-402. Der lateinische Wortlaut (unpag.): „Circumspicientem deinde materiae delectum, variae cogitationes distrinxere. Quid enim flebilibus modis non deploratum, aut eroticis non decantatum est? [...] quis non putet sacri profani Amoris pharetram exhaustam esse? [...] Passim volitant Heroum Heroidumque [Bidermann!] Epistolae. Theophilus salutat suam Dorotheam: Valerianus Sponsus Tiburtium fratrem. Gilimer Rex gemit, Emmanuel Sosa naufragus tremit [es folgt ein langer Katalog von Brieftiteln]." Die Stelle gehört im Kontext zu den aufschlußreichsten Auseinandersetzungen mit den Varianten, besonders den ordensspezifischen Varianten der elegischen Dichtung im Rahmen der geistlichen Poesie.

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Kühlmann

Hessus, Helius Eobanus: Heroidum Sacrarum Epistolae [1532, B-Druck], in: ders.: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Übers, und hg. v. Harry Vredeveld. 3. Bd.: Dichtungen der Jahre 1528-1537. Bern u. a. 1990 (Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 39), S. 269-483. C. Η. V. H. [Hoffmannswaldau, Hoffmann von, Christian]: Deutsche Übersetzungen Und Getichte. Breslau 1679. Schmidt, Alois (Hg.): Bayerische Gelehrtenkorrespondenz. P. Matthäus Rader S J. Bd. 1:1595-1612, bearb. von Helmut Zäh und Silvia Strodel. München 1995.

Sekundärliteratur Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. Bauer, Barbara: Jacobus Pontanus S. J., ein oberdeutscher Lipsius. Ein Augsburger Schulmann zwischen italienischer Renaissancegelehrsamkeit und jesuitischer Dichtungstradition, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 77-120. - Jesuitische ,ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt a. M. u. a. 1986 (Mikrokosmos 18), S. 319-368. Bielmann, Joseph: Die Lyrik des Jakobus Pontanus S. J., in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 4 (1929), S. 83-102. Dimler S. J., G. Richard: Octiduum S. Francisco Borgiae (München: 1671). The Munich Jesuits Celebrate the Canonisation of Francis Borgia, in: Emblematik und Kunst der Jesuiten in Bayern: Einfluß und Wirkung, hg. v. Peter M. Daly, G. Richard Dimler S. J. u. Rita Haub. Turnhout 2000, S. 107-132. Dörrie, Heinrich: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968. Dünnhaupt, Gerhard: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 1. Tl. (Bd. 1). Stuttgart 1990. Egger, Eugen: Joannis Barzaei Heroum Helvetiorum Epistolae. Untersuchung zur Erforschung der neulateinischen Epik. Diss. phil. Freiburg i. d. Schweiz 1947. Eicheldinger, Martina: Friedrich Spee - Seelsorger und poeta doctus. Die Tradition des Hohenliedes und Einflüsse der ignatianischen Andacht in seinem Werk. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 110). Enenkel, Karl: Autobiographisches Ethos und Ovid-Überbietung: Die Dichterbiographie des Eobanus Hessus, in: Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), S. 25-38. Heinze, Theodor: P. Ovidius Naso. Der XII. Heroidenbrief: Medea an Jason. [...] Einleitung, Text und Kommentar. Leiden, New York u. Köln 1997 (Mnemosyne, Supplement 170). Helmridge-Marsillian, Veronique: Hoffmannswaldau's „Heldenbriefe". Towards a critical edition, in: Euphorion 84 (1990), S. 428-448. - The heroism of love in Hoffmannswaldau's Heldenbriefe. Tübingen 1991. Hess, Günter: Die Kunst der Imagination. Jacob Bidermanns Epigramme im ikonographischen System der Gegenreformation, in: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988, hg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 184-196. Hülsbergen, Helmut E.: Michael Draytons Englands Heroicall Epistels und Hofmann von Hofmannswaldaus Helden-Briefe. Geschichte und galante Liebe, in: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock, hg. v. Gerhart Hoffmeister. Bern u. München 1973, S. 427-448. Krummacher, Hans-Henrik: De quattuor novissimis. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius, in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance· und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe, hg. v. August Buck und Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 499-577. Kühlmann, Wilhelm: „Parvus eram". Zur literarischen Rekonstruktion frühkindlicher Welterfahrung in deriDeliciae Veris des deutschen Jesuiten Johannes Bisselius (1601-1682), in: De Virgile ä Jacob Balde. Hommage ä Andree Thill. Etudes recueillies par Gerard Freyburger. Poitiers 1987 (Bulletin de la Faculte des Lettres de Mulhouse XV), S. 207-216.

Religiöse -

Affektmodellierung

155

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Hermann

Kurzke

Ermuntre dich, mein schwacher Geist (Johann Rist, 1641) Ein erbauliches Lied und seine Rezeptionsschicksale

Ausgangspunkte Der Begriff Erbauung läßt sich, da biblisch, natürlich nicht auf die frühe Neuzeit einschränken, entwickelt aber zwischen 1600 und 1750, in der Zeit von der „neuen Frömmigkeit"1 des frühen 17. Jahrhunderts (etwa bei Johann Arndt) bis zum Pietismus des 18. eine besonders markante Ausprägung, von der hier ausgegangen werden soll. Der Begriff bezeichnet in dieser Zeit nicht mehr, wie im Neuen Testament, vorwiegend die Auferbauung der Gemeinde, sondern die individuelle Erbauung des inneren Menschen, der zu einer Wohnstätte Christi werden soll. „Daher werden die wahren Christen genennet GOttes Tempel, in welchen nemlich Gott der H. Geist seinen Sitz hat" - so definiert, eine Gebäudemetapher zu Hilfe nehmend, das Zedlersche Universal-Lexicon.2 Die Erbauung zielt auf die innerliche Aneignung des Glaubens, auf eine religiöse Kultur des Herzens und eine Belehrung des Verstandes. Auf der Suche nach einem fur die Erbauung und ihre Geschichte repräsentativen Lied bin ich ausgegangen von den Liedern, die bis heute im Evangelischen Gesangbuch stehen, weil ich die Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart verfolgen wollte. Innerhalb dieser Gruppe sollte es sich um ein möglichst frühes Lied aus dem oben genannten Zeitraum handeln. Ferner sollte es thematisch dem Komplex Erbauung deutlich zuzuordnen sein. Diese Kriterien führten rasch zu Johann Rist (1607-1667), der mit immerhin noch fünf Liedern im Stammteil des *EG (seit 1993) und mit deren acht im Stammteil des *EKG als prototypischer Autor für das frühe Erbauungsliedgut gelten kann.3 Irmgard Scheitler zählt ihn zur protestantischen Reformorthodoxie4 und zitiert als Beleg dafür, daß die Hausandacht der primäre Sitz im Leben dieser Lieder sei, das Titelblatt einer Ristschen Liedersammlung, in der die „WiederErbauung des zerfallenen Christenthumes und 1

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Zum forschungsgeschichtlichen Kontext dieses Begriffs vgl. Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Festschrift Uwe Ruberg: Vox - Sermo - Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber u. Rudolf Voß. Stuttgart u. Leipzig 2001, S. 143-168, hier S. 159. Erbauung und Besserung des Nächsten, in: Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. 8. Halle und Leipzig 1734. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck. Graz 1994, Sp. 1478. Er soll 658 Lieder gedichtet haben (vgl.: Krummacher: Lieder, S. 143, Anm. 4). Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982, S. 270 u. ö.

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Hermann Kurzke

Erneürung des inwendigen Menschen" als Ziel des Werkes genannt sind.5 Neuere Forschungen, vor allem der gründliche Rist-Aufsatz von Hans-Henrik Krummacher (in der Ruberg-Festschrift) bestätigten die Repräsentanz dieses Autors für das Thema Erbauung.6 Sententia communis in der Barockforschung sind inzwischen die Kriterien, wie solche Lieder zu analysieren sind, nämlich nicht subjektivistisch, im Sinne der älteren Arbeiten, die im Pietismus die Ursprünge der bürgerlichen Psychologie vermuteten und diese Einschätzung nach rückwärts in die Erbauungsliteratur der neuen Frömmigkeit verlängerten. Scheitler wie Krummacher betonen dagegen zu Recht, daß Rist zweifelsfrei zur lutherischen Orthodoxie zu zählen sei,7 nicht zu irgendeinem psychologistischen Frühpietismus, daß es sich um persuasorische Affektrhetorik handle und daß es deshalb der Kenntnis der rhetorischen Traditionen bedürfe, um seine Art der Affektbehandlung zu verstehen. Unter den fünf EG-Liedern, die in Frage kamen, konzentrierte sich die Arbeit nach ersten wirkungsgeschichtlichen Stichproben bald auf „Brich an, du schönes Morgenlicht", und zwar deshalb, weil es der Restbestand eines großen Liedes ist, das sein Initium verloren hat, daß es nämlich die neunte Strophe ist von „Ermuntre dich, mein schwacher Geist".8 Dieses Lied nun hat eine breite Tradition in den evangelischen Gesangbüchern (während es zu einer katholischen Rezeption nie gekommen ist). Zuerst 1641 gedruckt,9 verbreitet es sich sehr schnell, findet sich zum Beispiel spätestens seit 1674 in der auflagenstarken * Praxis Pietatis Melica, die auch die Lieder Paul Gerhardts verbreitete, steht seit 1704 im wichtigsten Gesangbuch des Halleschen Pietismus (dem viele Jahrzehnte lang gedruckten und weithin ausstrahlenden *Freylinghausenschen Gesangbuch), gehört jahrhundertelang zum Liedbestand der *Herrnhuter Brüdergemeine,10 steht aber auch im *Berliner rtformierten Gesangbuch von 1700, ferner in den *Leipziger, den *Dresdener, den *Königsberger Gesangbüchern des 18. Jahrhunderts11 und in vielen wei5

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Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Haußmusik [...], Lüneburg 1654 (komplette Wiedergabe des wortreichen Titelblatts bei Scheitler: Das Geistliche Lied, S. 424). Daß Rist „Vermittlung von Erbauung als Wirkung seiner Lieder anstrebt, versteht sich dabei nahezu von selbst." (Krummacher: Lieder, S. 158, vgl. auch die S. 145, 155, 163). Scheitler: Das Geistliche Lied, S. 270; Krummacher: Lieder, S. 163. Eben ist das vierte Heft der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch (*EG) erschienen (Göttingen 2002), mit einem Beitrag von Eberhard Schmidt über „Brich an, du schönes Morgenlicht" und „Ermuntre dich, mein schwacher Geist". Dort finden sich eine theologische, biblische und musikalische Erschließung des Liedes, die hier nicht wiederholt werden soll, ferner Hinweise auf die wichtigste Forschungsliteratur. Als Nr. II in Johann Risten: Η. P. Himlischer Lieder Mit sehr anmuthigen, mehreren theils von Herrn Johann: Schopen gesetzten Melodeyen. Das Erste Zehen. Lüneburg 1641. Hier zitiert nach *Fischer-Tümpel II, 169-170. Alle mit * versehenen Kürzel werden im Quellenverzeichnis am Schluß dieses Aufsatzes aufgelöst. Alle im folgenden verwendeten Gesangbücher sind zu finden in der Gesangbuchsammlung des Interdisziplinären Arbeitskreises Gesangbuchforschung der Universität Mainz. Sammlung Geistlicher und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten, und erwecklichsten Neuen Gesaenge enthaltend, Leipzig 1725 (Berthelsdorfer Gesangbuch). Herrnhut und Görlitz 1731 (Marchesches Gesangbuch). Alt= und Neuer Brueder= Gesang. London 1749-54. (Londoner Gesangbuch). Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen [...] wie auch Anderer gottseligen und Christlichen Leute Geistliche Lieder / und Psalmen, *Berlin 1700; Musicalisches Gesang=Buch, Darinnen 954 geistreiche, sowohl alte als neue Lieder und Arien, *Leipzig

Ermuntre dich, mein schwacher

Geist

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teren. Seit 1765 dringt eine aufklärerische U m d i c h t u n g in die Liedüberlieferung ein, die, teils im K a m p f mit der alten Fassung liegend, teils s i c h mit ihr verschränkend, dann ein Jahrhundert lang das Feld beherrscht. D i e alte Fassung, die in bestimmten Sondertraditionen lebendig geblieben war, kehrt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich zurück, u m im 20., w e n n g l e i c h gekürzt, wieder allein das Feld z u beherrschen. Wir w o l l e n an d i e s e m B e i s p i e l z e i g e n , w a s .Erbauung' in e i n e m konkreten Fall genau bedeutet hat und w i e sich diese Bedeutung wandelte.

D i e Fassung des Erstdrucks In der linken Spalte findet sich der Erstdruck v o n 1641, in der rechten parallel gedruckt eine der typischen Gesangbuchversionen dieser Fassung, w i e sie sich v o m 17. bis z u m 19. Jahrhundert immer wieder ausbilden. Sie w e i s e n in der R e gel kleine Bearbeitungen (in unserem Beispiel fett gedruckt) und fast stets e i n e größere Kürzung auf (Strophen 7 bis 9). Rist 1641

»Magdeburg 1851

1. Ermuntre dich, mein schwacher Geist, Vnd trage groß Verlangen, Ein kleines Kind, das Vater heisst, Mit Frewden zu empfangen. Diß ist die Nacht, darin es kam Vnd menschlich Wesen an sich nam, Dadurch die Welt mit Trewen Als seine Braut zu freyen.

Ermuntre dich, mein schwacher Geist, und trage groß Verlangen, ein kleines Kind, das Vater heißt, mit Freuden zu empfangen. Dieß ist die Nacht, darin es kam, und menschlich's Wesen an sich nahm, dadurch die Welt mit Treuen als seine Braut zu freyen.

2.

Willkomm, Ο süsser Bräutigam, Du König aller Ehren, Willkomm, Ο Jesu, Gottes Lamb, Ich wil dein Lob vermehren. Ich wil dir all mein Lebenlang Von Hertzen sagen Preiß vnd Danck, Daß du, da wir verlohren, Für vns bist Mensch geboren.

Willkommen, süßer Bräutigam, du König aller Ehren! willkommen, Jesu! Gottes Lamm! ich will dein Lob vermehren; ich will dir all' mein Lebelang von Herzen sagen Preis und Dank, daß du, da wir verloren, für uns bist Mensch geboren.

3. Ο grosser Gott, wie könt es seyn, Dein Himmelreich zu lassen, Zu springen in die Welt hinein,

Ο GOttes Sohn! wie könnt' es seyn, Dein Himmelreich zu lassen, zu kommen in die Welt hinein,

1736; Das privilegirte Vollstaendige und vermehrte Leipziger Gesangbuch, »Leipzig 1753; Auserlesenes und vollständiges Gesang=Buch, »Dresden 1758; Das Privilegirte Ordentliche und Vermehrte Dreßdnische Gesang=Buch, »Dresden und Leipzig 1785; Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder, die in denen Preußischen Kirchen gesungen werden, »Königsberg 1763. Weitere Auflagen 1776, 1787.

160 Da nichts denn Neid und Hassen? Wie kondtest du die große Macht, Dein Königreich, den Frewden-Pracht, Ja, dein erwündschtes Leben Für solche Feind' hingeben?

Hermann Kurzke da nichts denn Neid und Hassen? wie konntest du die große Macht, dein Königreich, die Freudenpracht, ja, dein erwünschtes Leben Für solche Feind' hingeben?

4.

Ist doch, HERR Jesu, deine Braut Gantz arm und voller Schanden; Noch hast du sie dir selbst vertrawt Am Creutz' in TodesBanden. Ist sie doch nichts als Vberdrus, Fluch, Vnflath, Todt vnd Finstemus; Noch darff sie jhrent wegen Den Scepter von dir legen!

Ist doch, HErr JEsu, deine Braut ganz arm und voller Schanden; noch hast du sie dir selbst vertraut am Kreuz in Todes Banden, der Sfinde Fluch und Finsternis stürzt sie tief in BekfimmerniB, doch wagst du's, ihrentwegen dein Zepter abzulegen.

5.

Du Fürst vnd Herrscher dieser Welt, Du Friedens-Wieder-Bringer, Du kluger Rath vnd tapffrer Held, Du starcker Hellen-Zwinger, Wie ist es müglich, daß du dich Erniedrigest so jämmerlich, Als wärest du im Orden Der Bettler Mensch geworden?

Du Fürst und Herrscher aller Welt, die Friedenswiederbringer, du kluger Rath und tapfrer Held, du starker Hölienzwinger! wie ist es möglich, daß du dich erniedrigest so jämmerlich, als wärest du im Orden der Bettler Mensch geworden?

6.

Ο großes Werck, Ο Wundernacht, Dergleichen nie gefunden! Du hast den Heyland hergebracht, Der alles überwunden; Du hast gebracht den starcken Mann, Der Fewr vnd Wolken zwingen kan, Für dem die Himmel zittren Vnd alle Berg' erschüttren. 7.

Ο bleicher Mond', halt eiligst ein Den blassen Schein auff Erden, Wirff deinen Glantz zum Stall' hinein: Gott soll geseuget werden. Ihr hellen Sterne, stehet still Vnd horcht, was ewer Schöpffer wil, Der schwach vnd vngewieget In einem Kriplein liget. 8.

Du thummes Vieh, was blökest du Dort bey des HErren Mutter? Immanuel hält seine Ruh' Allhie auf dürrem Futter. Dem alle Welt sol dienstbar seyn, Ligt hier, hat weder Brodt noch Wein; Die Wärme muß er meiden, Frost, Bloss' vnd Hunger leiden.

Ο großes Werk, ο Wundernacht, dergleichen nie gefunden, du hast den Heiland hergebracht, der alles überwunden! Du hast gebracht den starken Mann, der Feu'r und Wolken zwingen kann, vor dem die Himmel zittern, und alle Berg' erschüttern.

Ermuntre dich, mein schwacher Geist

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9. Brich an, du schönes MorgenLiecht, Vnd laß den Himmel tagen. Du Hirten-Volck, erschrecke nicht, Weil dir die Engel sagen, Daß dieses swache Knäbelein Sol vnser Trost vnd Frewde seyn, Dazu den Sathan zwingen Vnd letzlich Frieden bringen. 10. Ο liebes Kind, Ο süsser Knab', Holdselig von Geberden, Mein Bruder, den ich lieber hab' Als alle Schätz' auff Erden: Komm, Schönster, in mein Hertz hinein, Komm eiligst, laß die Krippen sein, Komm, Komm, ich wil bey Zeiten Dein Lager dir bereiten.

Ο liebstes Kind, ο süßer Knab'! holdselig von Geberden, mein Bruder, den ich lieber hab', als alle Schätz' auf Erden! komm, Schönster, in mein Herz hinein, komm eilend, laß die Krippe seyn! komm, komm, ich will bey Zeiten dein Lager dir bereiten.

11. Sag' an, mein Hertzens-Bräutigam, Mein' Hoffnung, Frewd' und Leben, Mein edler Zweig aus Jacobs Stamm, Was sol ich dir doch geben? Ach nimb von mir Leib, Seel' und Geist, Ja alles, was Mensch ist vnd heisst. Ich wil mich gantz verschreiben, Dir ewig trew zu bleiben.

Sag an, mein Herzensbräutigam, mein' Hoffnung, Freud' und Leben, mein edler Zweig aus Jacobs Stamm, was soll ich dir doch geben? Ach! nimm von mir Leib, Seel' und Geist, ja alles, was Mensch ist und heißt; ich will mich ganz verschreiben, dir ewig treu zu bleiben.

12.

Lob, Preiß vnd Danck, HErr Jesu Christ, Sey dir von mir gesungen, Daß du mein Bruder worden bist Vnd hast die Welt bezwungen. Hilff, daß ich deine Gütigkeit Stets preis' in dieser Gnaden-Zeit Vnd mag hemach dort oben In Ewigkeit dich loben.

Lob, Preis und Dank, HErr JEsu Christ, sey dir von mir gesungen, daß du mein Bruder worden bist, und hast die Welt bezwungen; hilf, daß ich deine Gütigkeit stets preis' in dieser Gnadenzeit, und m6g' hernach dort oben, in Ewigkeit dich loben.

Strophe 1 beginnt mit der Aufforderung zur Erbauung des inneren Menschen „Ermuntre dich" - und zur Entwicklung geistlicher Affekte - „trage groß Verlangen", und gibt das Thema an, auf das sich das Verlangen, die Erbauung beziehen soll: „Ein kleines Kind [...] mit Freuden zu empfangen". Es geht um Weihnachten, die Menschwerdung, die Brautschaft des Kindes mit der Welt. Das „Ermuntre dich" bildet das Vorzeichen des gesamten Textes, der als rhetorischer Selbstappell und als szenische Imagination auf der Bühne der Einbildungskraft verstanden werden kann. Die Strophen 2 - 1 1 malen dann im einzelnen aus, was den schwachen Geist ermuntern, das Verlangen steigern kann. Dabei lassen sich hauptsächlich fünf Isotopieebenen, d. h. Gruppen von Bildern, Vorstellungen und Argumenten unterscheiden. Die erste ist die gewohnt weihnachtliche vom Jesusknaben: „Kind",

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Hermann Kurzke

„Nacht", „Kripplein", „Vieh", „Futter", „Hirten", „Knäbelein" sind ihre Textsignale; sie finden sich vor allem in den Strophen 1, 7, 8, 9, 10. Die zweite Ebene ist dazu gegenteilig: Jesus nicht als Kind, sondern als göttlicher Herrscher, zu ihr gehören die Metaphern „Vater", „König", „großer Gott", „Königreich", „Freudenpracht", „Szepter", „Fürst und Herrscher", „kluger Rat", „tapfrer Held", „Höllenzwinger" und der „starke Mann, der Feur und Wolken zwingen kann"; ihr Ort sind vor allem die Strophen 1 sowie 2-6; zu ergänzen ist „Immanuel" aus Strophe 8. Die dritte Schicht ist die brautmystische, zu ihr gehören die Bilder der Welt als „Braut" (Str. 1, Str. 4) und des Jesuskindes als „Bräutigam" (Str. 2) und „Herzensbräutigam" (Str. 11), die Anrede als „Schönster" und das „Komm, komm, ich will beizeiten / dein Lager dir bereiten" (Str. 10), die Frage nach Geschenken und das Verlobungsversprechen „Ich will mich ganz verschreiben, / dir ewig treu zu bleiben" (Str. 11). Diese Isotopieebene schlägt eine Art Bogen vom Anfang zum Ende. Die vierte Bildschicht gehört streng genommen zur ersten, weihnachtlichen: Es sind die Naturbilder des Mondes, der dem Kinde, das gestillt wird, leuchten soll, der Sterne, die innehalten sollen, des Viehs, das zu blöken aufhören soll, des Morgens, der Licht bringen soll (Str. 6-9). Die fünfte Isotopie endlich charakterisiert die „Welt" mit Vokabeln wie „Neid und Hassen", „Feind'", „arm und voller Schanden", „Überdruß", „Fluch", „Unflat", „Tod und Finsternis", zu ihr gehören bildlich auch die Wörter „Bettler", „schwach und ungewieget", „Frost", „Bloß' und Hunger". Es handelt sich also um sehr widersprüchliche Bildschichten. Sie könnten als Katachresen, ja, als Stümperei wirken, wenn nicht an verschiedenen Stellen zu erkennen wäre, daß es Rist genau auf die Paradoxien ankam, die die Kombination dieser Bildwelten erbringen mußte. Das „dumme Vieh" wird mahnend auf eine solche Paradoxie hingewiesen: „Immanuel hält seine Ruh allhie auf dürrem Futter" (Str. 8, 1^4, Kombination von Bildschicht 1, 2 und 4). Auch „Ein kleines Kind, das Vater heißt" (Str. 1,3) zeigt die Paradoxie als rhetorisches Prinzip dieses Lieds (Bildschicht 1 und 2), das Kind, das eine erwachsene Braut freien will (Bildschicht 1 und 3) ebenfalls. Die Strophen 3-5 entfalten die Theologie der Erniedrigung als Paradox (Bildschichten 2 und 5): „Wie konntest du nur?" „Wie ist es möglich, daß du dich / erniedrigest so jämmerlich, / als wärest du im Orden / der Bettler Mensch geworden?" (Str. 5, 5-8) Strophe 6 identifiziert, die Bildschichten 1 und 2 mischend, das in der „Wundernacht" geborene „schwache Knäbelein" (Str. 9, 5) als „starken Mann", vor dem Himmel und Berge zittern. Ein Paradox ist auch (Mischung von Bildschicht 3 und 5), die „Welt" als „Braut zu freien" (Str. 1, 7-8), ja, sich mit ihr am Kreuz zu vermählen („hast du sie dir selbst vertraut am Kreuz in Todesbanden", Str. 4, 3—4), denn diese Welt ist doch „arm und voller Schanden" (Str. 4, 2), ein Grund für die Liebe zu ihr ist nicht zu erkennen. Als strukturierendes Prinzip und theologische Basis des ganzen poetischen Gebäudes ist das in der Mitte stehende Erniedrigungsparadox zu betrachten. Während die Strophen 2-11 das „Ermuntre dich" in die Imagination einer bevorstehenden Hochzeit münden lassen („Dein Lager dir bereiten, Ich will mich ganz verschreiben", Str. 10, 8; Str. 11, 7), blickt die Dankstrophe 12 zurück allerdings nicht auf eine Hochzeit, sondern auf ein ganz anderes Ergebnis: „Daß

Ermuntre dich, mein schwacher Geist

163

du mein Bruder worden bist." Die Folge dieser Ehe ist Bruderschaft - wieder ein Paradox. Zeitlich richtet sich die rhetorische Imagination der Binnenstrophen auf das Damals der „Wundernacht", während die Schlußstrophe vom Heute der „Gnadenzeit" aus in die Zukunft spricht. Die Erbauung zielt darauf, am Tag des Weihnachtsfests durch umfassende Imagination ein früheres Ereignis in die Gegenwart zu zwingen, um, ausgestattet mit diesem Als ob, die Wirklichkeit dieser Welt zu bewältigen und zu überwinden.

Die Umdichtung der Aufklärungszeit Es ist der reiche, zu Paradoxien gebündelte Bilderschatz, der das Wesen dieses Liedes ausmacht. Die Wirkungsgeschichte zeigt, daß die poetischen Zumutungen dieser Struktur einer trägen Gemeindepraxis nicht standzuhalten vermochten. Bereits im 17. Jahrhundert verschwand durch ersatzlose Strophenstreichung fast stets12 Bildschicht 4, beginnend mit Str. 8 (wo offenbar „Du dummes Vieh" besonders unerträglich schien), und fast immer verschwanden dann auch die Strophen 7-9, 13 manchmal auch Str. 6 mit sich reißend. Davon abgesehen bleibt das Lied bis zu den aufklärerischen Gesangbuchreformen relativ konstant, mit Ausnahme von kleinen Korrekturen, Säuberungen und Verdeutlichungen. So wird „Finsternis" aus „Finsternus", manchmal, um den Reim zu erhalten, dann „Überdrieß" aus „Überdruß" (Str. 4, 5-6). Der logisch unklare Vers 4, 7 ist fast stets korrigiert, in der Regel zu „Noch darfst du ihretwegen", wobei die Redaktoren sich stützen können auf eine Lesart in einem von Rist später selbstveranstalteten Nachdruck, in dem die Zeile heißt „Und du magst jhrentwegen." 14 Der Sinn ist dann: Obgleich die Welt nur Unflat etc. ist, mochtest du das Szepter wegen ihr ablegen und ein schwaches Kind werden. Die aufklärerische Gesangbuchreform will offenbar auch von den übrigen Paradoxien nichts wissen. Johann Samuel *Diterich veröffentlichte in seinem Buch Lieder fiir den öffentlichen Gottesdienst (Berlin 1765) die folgende, im Berliner Raum 1780 bis 184415 verwendete Fassung (in der rechten Spalte die Nachfolgerfassung im *Schleiermacher sehen Gesangbuch Berlin 1829):16

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Ausnahmen sind Johann Kruegers Neu zugerichtete 'PRAXIS PIETATIS MELICA in der Ausgabe von 1703 und das Neu eingerichtetes Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaische Gesang=Buch [...]. »Weimar 1783. Johann Cruegers / Neu zugerichtete »PRAXIS PIETATCS MELICA: Das ist: Übung der Gottseligkeit / Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen [...]. Ausgabe Frankfurt 1674; Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen [...]. »Berlin 1700; Johann Anastasii »Freylinghausen Geistreiches Gesang=Buch [...] in den Ausgaben Halle 1704 und 1741, ferner das »Porstsche Gesangbuch (vermutlich in allen Ausgaben, ζ. B. Berlin 1748, auch noch Berlin 1892). »Fischer-Tümpel II, 170. Vgl. die Ausgaben des »Mylius von 1780 bis 1844 (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen, Berlin 1780. Weitere Auflagen z.B. 1810, 1830 und 1844). Änderungen gegenüber Rist 1641 fett, Änderungen gegenüber »Diterich 1765 kursiv.

Hermann Kurzke

164 Diterich 1765

»Berlin 1829

1.

1.

GOtt, deine Gnade sey gepreist! Sie schuf uns Heil und Leben. Ermuntre dich, mein träger Geist! ihr Wohltun zu erheben. Denk an die Nacht, da auf der Welt des Höchsten Sohn sich eingestellt, um sein so theures Leben für Sünder hinzugeben.

Ermuntre dich, mein schwacher Geist, und trage groß Verlangen, den Heiland, den der Himmel preist, mit Freuden zu empfangen. Dies ist die Nacht, in der er kam, und menschlich Wesen an sich nahm. Er will durch sein Erscheinen uns ganz mit Gott vereinen.

2. [6.] Ο große That! erwünschte Nacht! von Engeln selbst besungen! Du hast den Mittler uns gebracht, der uns das Heil errungen. In dir erschien der starke Held, der alles schuf, und alles hält, der Freund der Menschenkinder, des Todes Ueberwinder.

2.

3- [5.] Der du zu uns, gesandt vom Herrn, aus deinem Himmel kämest, und unser Fleisch und Blut so gern in Demuth an dich nähmest! SOhn Gottes, ο wie hast du dich so tief erniedrigt auch für mich! Wie arm bist du erschienen, um meinem Heil zu dienen.

Willkommen, Held aus Davids Stamm, du König aller Ehren! Willkommen, Jesu, Gottes Lamm, ich will dein Lob vermehren! Ich will dir all mein Lebelang von Herzen sagen Preis und Dank, daß du, da wir verloren, fiir uns bist Mensch geboren. 3. [3.-4.] Ο wie ist deine Huld so groß, Ich kann sie nimmer fassen! Du hast dich aus des Vaters Schooß

4. [3. und 4.] Ο lehre mich den großen Werth von deiner Huld recht fassen! Was reizte dich auf dieser Erd, dich so herab zu lassen? Hier warteten dein nichts als Noth, Verachtung, Kummer, Schmerz und Tod; und doch kamst du auf Erden, ein Menschensohn zu werden.

zu uns herabgelassen. Hier warteten dein nichts als Noth, Verachtung, Kummer, Schmerz und Tod; und doch kamst du auf Erden, der Menschen Heil zu werden.

5. [2.] Noch stärker, Herr, als Schmerz und Tod war deine Menschenliebe. Du sähest unsre Sündennoth mit mitleidsvollem Triebe. Du stimmtest, unser Heil zu seyn, in deines Vaters RathschluB ein; wardst Mensch, und kamst, mit Freuden, für uns den Tod zu leiden.

4. [6.] Ο große That, ο Wundernacht, von Engeln selbst besungen! Du hast den Helfer uns gebracht der Sänd' und Tod bezwungen, undjetzt, zur Herrlichkeit erhöht, herrscht auf dem Thron der Majestät, um Heil und ew 'ges Leben den Gläubigen zu geben.

6.

5. [10.] Ο du, des Vaters ein 'ges Kind, du Hoffnung aller Frommen!

Immanuel! dein freu ich mich. Du bist auch mein Erretter.

165

Ermuntre dich, mein schwacher Geist Auch mir zum Tröste sandte dich der Herr, der GOtt der Götter. Was mir ein wahres Wohl verschafft, Erleuchtung, Friede, Beßrungskraft, und Freuden, die stets währen, willst du auch mir gewähren.

durch den nun Gottes Kinder sind, die dich, Herr, aufgenommen. Komm, Jesu, in mein Herz hinein und laß es deine Wohnung seyn; dahin geht mein Verlangen, dich würdig zu empfangen.

7. [11.]

6. [11.] Du, deß sich meine Seele freut, mein höchstes Gut, mein Leben, Was soll ich dir aus Dankbarkeit für deine Treue geben? Herr, was ich hab' und was ich bin, das geb' ich dir zu eigen hin. mich soll kein Glück, kein Leiden von deiner Liebe scheiden

Was soll ich dir, mein größter Freund! für deine Treue geben? Du bists, der mich mit Gott vereint, du bringst mir Heil und Leben. Herr, was ich hab und was ich bin, das geb ich dir zum Dienste hin. Ich will dich ohn Aufhören, mit Leib und Geist verehren. 8.

8.

Zwar seh ich dich im Fleisch noch nicht; doch du wirst wiederkommen; und dann schaun dich von Angesicht, HErr! alle deine Frommen. Dann werd auch ich, HErr JESU Christ! dich schaun so herrlich, als du bist. Dann wirst du mich zum Leben, das bey dir ist, erheben.

Noch sieht dich zwar mein Auge nicht, doch du wirst wiederkommen; dann schauen dich von Angesicht, Herr, alle deine Frommen. Dann wird' auch ich, Herr Jesu Christ, dich sehn so herrlich, wie du bist; und ewig dich dort oben mit allen Sel'gen loben.

Schon der Eingang zeigt die völlig andere Zielsetzung. Das „Ermuntre dich" verliert seine Stellung als Vorzeichen des gesamten Texts. Angeredet werden nun Gott (1. Str.) und Christus (3.-8. Str.). Lediglich in der zweiten Strophe wird mit der Anrede der „Nacht" ein Rest der alten Imagination bewahrt. Der Geist ist nicht mehr „schwach", sondern „träg", aus der Grundbefindlichkeit der Erlösungsbedürftigkeit wird eine überwindliche Untugend. Das „Verlangen" fehlt, damit die emotionale Komponente, das „Ermuntre dich" gilt nicht mehr dem Verlangen, das Kind zu empfangen, sondern einer Aufforderung zum Gotteslob. Aus dem präsentisch-imaginativen „Dies ist die Nacht" wird das vergangenheitsorientierte „Denk an die Nacht". Von der Bildschicht 1 (Weihnachtsszenerie) ist nur noch die „Nacht" geblieben, das „Kind" wurde zum „Sohn Gottes", zum „Mittler" und zum „Menschensohn", aus der bildstarken Legende werden theologische Formeln. Bildschicht 2 (der göttliche Herrscher) bewahrt nur noch „der starke Held" und „Immanuel", wobei „Immanuel" von den Bearbeitern nach Diterich meist durch „Sohn Gottes" ersetzt wird. Da es das „Kind" nicht mehr gibt, ist auch die paradoxe Beziehung zwischen „Kind" und „Held" gelöscht. Die dritte, brautmystische Schicht ist völlig getilgt. An ihrer Stelle stehen Huld und Herablassung (Str. 4), Freundestreue und Dienstbarkeit (Str. 7). Die Sprecherrolle wurde damit vom Weiblichen zum Männlichen hin verschoben, der schwache Geist spricht nicht mehr als Braut. Die vierte Schicht (Mond, Sterne, Vieh, Morgen) fehlt ganz (mit Ausnahme der schon erwähnten Nacht), damit entfallen wieder Imaginationen zugunsten von Lehren. Die fünfte Schicht, die Welt als Fluch, Unflat, Überdruß,

166

Hermann

Kurzke

Frost, B l ö ß e , Hunger, T o d und Finsternis ist a b g e s c h w ä c h t z u N o t , V e r a c h tung, K u m m e r , S c h m e r z und T o d (Str. 4 ) . A m Rande sei erwähnt, daß es auch den Satan (Str. 9, 7) und die Hölle (Str. 5 , 4 ) nicht mehr gibt. D i e Eschatologie existiert nur n o c h als Erwartung der W i e derkunft Christi in Str. 8. Ihr Hauptargument scheint das „Zwar seh ich dich im Fleische nicht" (später meist „Zwar sieht dich hier m e i n A u g e nicht"), das die Imagination bestreitet und zurückweist, auf die Rist zielte. A u f d e m Höhepunkt des Liedes „sieht" Rist, er hat sich so erfolgreich ermuntert, daß er in seiner Imagination auf d e m Schauplatz ist: „ D u d u m m e s Vieh, w a s blökest du?" Der A u f klärer aber „sieht" nicht, sondern denkt nach. Lediglich das Erniedrigungsparadox ist geblieben, aber es ist metaphorisch entkräftet, da die Spannweite v o m königlichen Herrscher, vor d e m die H i m m e l zittern, z u m Kind und s c h w a c h e n Knäbelein fehlt. Der S i e g über Sünde und T o d scheint auch einfacher g e w e s e n zu sein als bei Rist: Noch stärker, Herr, als Schmerz und Tod / war deine Menschenliebe. / Du sähest unsre Sündennot / mit mitleidsvollem Triebe. / Du stimmtest, unser Heil zu sein, / in deines Vaters Ratschluß ein; / wardst Mensch, und kamst, mit Freuden, / für uns den Tod zu leiden.17 D i e Wirkungsgeschichte der Diterichschen Fassung umspannt das gesamte 19. Jahrhundert. Freilich vermischt sie sich mehr und mehr mit Resten des ursprünglichen Texts, 1 8 so daß bald zahlreiche Fassungen kursieren. 1 9 Besonders das ur-

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Das Mitleid als Motor der Menschwerdung ist eine Anwendung der Rousseauschen bonte naturelle auf Jesus als den exemplarischen, d. h. in höchstem Maße mitleidsfähigen Menschen. Zur zentralen Rolle des Mitleids in der Aufklärung vgl. Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, z.B. S. 27-31. Der in vereinzelten, aber durchaus mächtigen Gesangbuchtraditionen auch kontinuierlich überliefert wurde, wie vor allem im *Porst, dem Gesangbuch, mit dem die konservativen Kreise Preußens die Aufklärung zu untertunneln vermochten, ferner ζ. B. bei "Bollhagen (Heiliges Lippen= und Herzens=Opfer Einer glaeubigen Seele: Oder Vollstaendiges Gesang=Buch [...]. Alten=Stettin 1809; weitere Auflagen 1862, 1869, 1872, 1886 und 1893). Außerdem im Vollstaendigen Gesang=Buch, in sich haltend 1000 geistreiche und auserlesene Lieder [...]. "Magdeburg 1851. So zum Beispiel in der Sammlung alter und neuer Lieder für das Königreich Preußen [...]. "Königsberg 1870, wo sich die folgende, von Varianten überbordende Fassung findet: 1. Ermuntre dich, mein schwacher Geist! und trage groß Verlangen den, der mit Recht ein Heiland heißt, mit Freuden zu empfangen. Dies ist die Nacht, darin er kam und menschlich Wesen an sich nahm, um Trost uns zu verleihen, von Sünd' uns zu befreien. 2. Mit treuer Liebe, hoch erfreut, will ich dich, HErr! verehren, ich will durch wahre Frömmigkeit dein Lob auch mit vermehren. Ich will dir, HErr, mein Lebenlang, von Herzen sagen Preis und Dank, daß du, da wir verloren, für uns bist Mensch geboren. 3. Ο HErr! wie könnt es möglich sein, den Himmel zu verlassen, zu übernehmen Angst und Pein! Wer kann die Liebe fassen! Wie konntest du die große Macht, dein Königreich, der Freuden Pracht, ja, dein so theures Leben für solche Welt hingeben? 4. Ist in der Welt, die GOtt gebaut, nicht Sünd' und Noth entstanden? Wird jeder, der dem Laster traut, nicht elend und zu Schanden? Die Menschen wählen, ach gewiß, oft statt des Lichts die Finsterniß; und du willst ihretwegen den Scepter von dir legen? 5. Du Fürst und Herrscher dieser Welt, du willst es dahin bringen, daß unser Wandel GOtt gefällt; hilfst uns zum Himmel bringen. Für uns erniedrigest du dich, und lebst so arm und kümmerlich, als wärest du im Orden des Elend Mensch geworden.

Ermuntre dich, mein schwacher

Geist

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sprüngliche Initium, d e s s e n Tilgung Auffindbarkeit u n d Erkennbarkeit Liedes zu sehr erschwert hatte, wird meistens wiederhergestellt. 2 0 Im macherschen

Gesangbuch

des

*Schleier-

v o n 1829 kehren w e s e n t l i c h e Elemente w e n i g s t e n s

der 1. und der 2. Str. zurück, w o b e i allerdings immer n o c h „Kind" durch das theologischere „Heiland" ersetzt wird und die Brautschaft nur n o c h als allgemeines „mit Gott vereinen" vorkommt. In der zweiten ist lediglich der „Bräutigam" gestrichen und durch „Held aus D a v i d s Stamm" ersetzt, w o m i t die zweite Bildschicht (Herrscher) gestärkt erscheint. A u c h das Kind ist wieder da (Str. 5 , 1 ) . Im übrigen hat sich ein dritter Bearbeiter eingemischt 2 1 und viele neue Elemente eingebracht w i e z u m Beispiel große Teile v o n Str. 5, mit den Motiven „Gottes Kinder, d e m Verlangen, dich würdig zu empfangen" und d e m „ K o m m , Jesu, in m e i n Herz hinein / und laß es deine Wohnung sein." (Str. 5, 6 - 7 , aus Rist 10, 5 und aus * Brüdergesangbuch

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1819: „komm, laß e s deine Krippe sein").

6. Ο heilige geweihte Nacht! von Engeln selbst besungen, du hast den Heiland uns gebracht; ihm ist das Werk gelungen. Du hast gebracht den starken Mann, der Sturm und Meer bezwingen kann. Was könnt' uns so erschüttern, daß wir nun trostlos zittern? 7. Und doch, wie niedrig und wie klein erscheinest du auf Erden; tritts Kindern gleich ins Leben ein, das Heil der Welt zu werden. Mein Geist steht voll Bewundrung still, wenn er das Wunder sehen will, daß der so hilflos lieget, der doch die Welt besieget. 8. Erlöser, ach! wer sollte da nicht betend niederfallen? Die größte That, die je geschah, wie klein schien sie nicht Allen! Dem alle Welt soll dienstbar sein, tritt arm und schwach ins Leben ein, muß Glanz und Hoheit meiden, ja Noth und Mangel leiden. 9. Brich an, du schönes Morgenlicht, und laß den Himmel tagen; du Hirtenvolk! erschrick nur nicht, weil dir die Engel sagen, daß dieses Kind, jetzt schwach und klein, einst werde Trost und Retter sein, der Sünde Macht bezwingen und uns den Frieden bringen. 10. Dein bin und bleib ich bis in's Grab. Im Glück und bei Beschwerden soll das, was ich an dir nun hab', auch nie vergessen werden. Komm, Heiland, in mein Herz hinein und laß es deine Wohnung sein. Komm, komm, ich will bei Zeiten mein Herz dir zubereiten. 11. Du, der zu meiner Rettung kam, und mit dem Menschenleben auch all' sein Elend übernahm, was könnt' ich dir wohl geben? Ach, HErr, hier ist mein Leib und Geist, und alles, was das Meine heißt; dein Opfer soll es bleiben, und nichts von dir mich treiben. 12. Lob, Preis und Dank, HErr JEsu Christ! sei dir von mir gesungen, daß du ein Mensch geworden bist, und mir hast Heil errungen. Hilf, daß ich deine Gütigkeit stets preis' in dieser Gnadenzeit, und mög' hernach dort oben in Ewigkeit dich loben! Nur selten ist Diterichs Initium erhalten geblieben, ζ. B. Fuerstlich Nassauisches neues verbessertes Gesangbuch [...]. *Wiesbaden 1779; Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum oeffentlichen und haeuslichen Gottesdienste [...]. *Braunschweig 1779; im *Mylius (Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen [...]. Berlin 1780 u. ö.); Christliches Gesangbuch zur Beförderung der öffentlichen und häuslichen Erbauung, fur Neu=Vorpommern und das Fürstenthum Rügen [...]. *Stralsund 1836; Eisleber Gesangbuch zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche. •Eisleben 1851. Die Akten der damaligen Gesangbuchkommission sind erhalten geblieben und wurden publiziert: Bernhard Schmidt: Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis. Berlin u. New York 2002. Aus ihnen geht jedoch lediglich hervor, daß das alte Lied Ermuntre dich, mein schwacher Geist (das aus *Porst und *Freylinghausen bezogen wurde) am 23. Dezember 1819 als der Aufnahme nicht würdig erachtet wurde. In der Sitzung vom 20. Februar 1823 wurde Diterichs „Gott, deine Gnade sei gepreist" in Vorschlag gebracht, am 13. März 1823 in einer von dem Kommissionsmitglied Samuel Marot vorgetragenen, vielleicht auch von ihm veränderten Fassung mit dem alten Initium akzeptiert. (Vgl. Schmidt: Lied, S. 559, 636-638).

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Hermann Kurzke

Die partielle Restauration des Originals Die Wiederherstellung des alten Liedes erfolgt mit großen regionalen Unterschieden gehäuft in den Jahren zwischen 1870 und 1930. Im Berliner Raum geschieht der Rückgriff auf Rists Original erstmals wieder im Gesangbuch fiir evangelische Gemeinen. Als Entwurf herausgegeben vom Königlichen Konsistorium der Provinz Brandenburg, Berlin 1869, und zwar mit sieben Strophen, unter Weglassung von 4, 5, 7-9. Braut und Bräutigam sind jeweils durch andere Wendungen ersetzt. Das Lied bleibt jedoch instabil. Im *DEG von 1915, dem großen Markstein der Vereinheitlichung des Liedguts, steht es nicht - ein Zeichen dafür, daß man sich nicht auf eine gemeinsame Fassung einigen konnte. Erst mit dem *EKG von 1950 ist das Lied wieder deutschlandweit in einer einheitlichen Fassung präsent. Die Strophenauswahl ist 1, 2, 6, 9, 10 und 12. Was damit wiederkehrt, ist die brautmystische Komponente, ist die Natur wenigstens mit der „Morgenlicht"-Strophe, ist damit am Rande auch der Satan. Entfallen sind dafür die wichtigsten Elemente der Erniedrigungsparadoxie (Str. 3-5). Die Gesamtimagination ist damit ins Liebliche verschoben. Wie immer fehlt das „dumme Vieh". Offenbar hat aber auch diese Fassung keine dauerhafte Akzeptanz gefunden, sonst wäre sie im *EG 1993, das so drastische Veränderungen sonst scheut, unverändert geblieben. Dort begegnet eine bis dahin nie gesehene Strophenauswahl: 9, 2 und 12, so daß das Lied nun heißt: „Brich an, du schönes Morgenlicht."22 Die erste (ursprünglich neunte) Strophe greift jetzt das ,Fürchtet euch nicht!' und die Weihnachtsbotschaft der Engel auf.23 Es herrscht imaginative Gegenwart. Strophe 2 (ursprünglich 2) kann als szenische Rede dessen gesehen werden, der die Botschaft der Engel aus Strophe 1 verstanden hat; sie ist gegenwärtig und am Schluß, mit dem Wunsch „ich will dir all mein Leben lang", zukünftig. Strophe 3 (ursprünglich 12) beginnt etwas tautologisch mit dem Dank, mit dem Strophe 2 schon Schloß, und mündet in ein Gebet mit einer eschatologischen Doxologie. Sie ist zurückblickend auf die vollzogene Menschwerdung: „daß du mein Bruder worden bist". Die Paradoxien erscheinen, da zu viele Kontexte weggebrochen sind, nicht mehr als absichtliches Stilmittel, sondern lediglich als Katachresen. Jesus ist zugleich schwaches Knäbelein, süßer Bräutigam, König aller Ehren, Gottes Lamm und Bruder. Die Bilder reiben sich nicht mehr produktiv-verstörend aneinander wie bei Rist, sondern sind nur noch Zeugnisse jener ausgewaschenen religiösen Metaphorik, in der gedankenlos alles mit allem verknüpft werden kann. Der Grund für die auffällige, dem sonstigen Niveau des EG nicht entsprechende Fassungsentscheidung ist denn auch nicht im Text zu finden, sondern in der Musik.24 Genau

22

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24

Ein weiteres, in vielen Gesangbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts begegnendes Lied mit dem Initium „Brich an, du schönes Morgenlicht" stammt von Max von Schenkendorf, ist aber lediglich in seiner ersten Zeile von Rists 9. Strophe angeregt Im übrigen handelt es sich um ein völlig anderes Lied. Die letzte Strophe endet wie schon im *EKG mit der Verszeile „und letztlich Frieden bringen." Das ist ein altes Mißverständnis. Bei Rist stand „letzlich", nicht „letztlich", und das bedeutet „erquicklich, erfrischend, lindernd" - eine Verletzung ist ein Verfehlen der Letzung - und hat nicht den Sinn von „zu guter Letzt". Jürgen Henkys schreibt mir dazu: „Müßte man nicht unterscheiden zwischen hymnodischer Rezeption (Gesangbücher) und musikalischer Rezeption (Oratorien, Kantaten, Chorlitera-

Ermuntre dich, mein schwacher Geist

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diese drei Strophen seien in den Gemeinden und Kirchenchören lebendig, so argumentiert Eberhard Schmidt in der Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch,25

Wandel der Erbauung Blicken wir zurück. Was ist das, im Ganzen betrachtet, für ein Vorgang? Im 17. Jahrhundert konkretisiert sich Erbauung als bilderreiche Imagination des Heilsgeschehens, als rhetorische Inszenierung seiner Paradoxe, als Selbstüberredung, als Ausstattung des Tempels der Seele mit geistlichem Mobiliar. Die aufklärerische Reform imaginiert nicht mehr eine gegenwärtige und vergegenwärtigte, sondern lobt eine vergangene Heilstat, sie egalisiert die Paradoxe zur Stimmigkeit, macht aus einer göttlichen Unbegreiflichkeit eine gute Tat, sie spielt diese nicht mehr nach, sondern läßt sich über ihren dogmatischen Gehalt belehren. Das Lied behält zwar noch eine erbauliche Funktion, doch erscheint diese wesentlich enger, auf den Verstand beschränkt, das Herz und die Sinne nicht mehr im gleichen Maße affizierend. Als dritte Phase der Wirkungsgeschichte war dann eine partielle Restauration des alten Texts zu identifizieren. Wie ist diese zu bewerten? Texte wiederherstellen heißt noch nicht, Glauben wiederherstellen. Die Herrschaftsmetaphorik war ebenso wie die erotische und bräutliche Metaphorik in der Barockzeit modern, im 20. Jahrhundert jedoch ist sie archaisch. Archaismen können zwar als Stilmittel betrachtet modern sein. Da sie aber stets eine vergangene Ausdruckswelt beschwören und nicht Ausdruck eines bestehenden und gegenwärtigen Glaubens, sondern Ausdruck eines erwünschten, aber vergangenen Glaubens sind, gesellt sich ein ästhetisches Moment zu ihrer Rezeption. Der

25

tur) - und beide doch zusammendenken? Bach und Lübeck haben schon zwei Generationen nach Rist, als die Gesangbücher noch den ganzen Liedtext boten und die Zweinaturenlehre in ihrer lutherisch-orthodoxen Ausprägung der Frömmigkeit vieler durchaus noch erreichbar war, Einzelstrophen aus Rists Lied bezogen (Bach Str. 9, Lübeck Str. 2, 10-12). Das war ja wohl noch kein Zeichen beginnenden (aufgeklärten) Verstummens, sondern kreativer Fortschreibung mit den Mitteln musikalischer Konzentration (Chorsatz) bzw. Amplifikation (Kantate). Wenn das *EG etwas von diesem Strom wieder in den Gemeindegesang zurückzulenken versucht, muß das - alle geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Brüche der Zwischenzeit zugestanden - doch nicht einfach Verrat am ohnehin in die Literaturgeschichte abgesunkenen Original sein." Eberhard Schmidt: Brich an, du schönes Morgenlicht, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 4 (Göttingen 2002), S. 9-13, hier S. 10. Schmidt weist insbesondere auf den Choralsatz „Brich an, du schönes Morgenlicht" in Bachs Weihnachtsoratorium hin, ferner auf die Weihnachtskantate „Willkommen, süßer Bräutigam" von Vincent Lübeck (dort die 10.-12. Strophe des Ristschen Liedes). Bereits in der Vorläufigen Liederliste von 1984, dem frühesten Entwurf zum *EG, war das Lied nur in einer Schrumpfversion präsent, und zwar mit den Strophen 9, 10 und 12 (=*EKG Str. 4-6). Das Hauptkriterium war von Anfang an die Musik. Man wollte das Lied nicht als Ganzes streichen, weil sonst die Melodie verloren gehen würde, und suchte deshalb nach einer geeigneten Strophenauswahl. Von 26 Landeskirchen hatten zwei für Streichung des Liedes votiert, zwei für Aufnahme des Liedes in der *EKG-Version (so auch der germanistische Berater Eberhard Haufe), alle anderen für eine Strophenauswahl mit dem Initium „Brich an, du schönes Morgenlicht". (Für diese Hinweise danke ich Dorothea Monninger.)

170

Hermann Kurzke

Glaube wird nostalgisch. Die Erbauung wird sentimentalisch, um Schillers Ausdruck zu gebrauchen. Das Beharren auf dem Alten gibt sich als Bekenntnis, ist aber in Wirklichkeit ein Rollenspiel, das die Religion ästhetisiert. Erfolgreiche Restaurationen werden unweigerlich bezahlt mit einem sentimentalischen Abstand, der auch bei denen objektiv besteht, die subjektiv nichts von ihm wissen oder wissen wollen. Dieser Abstand legt von der unausweichlichen Modernität auch des Menschen Zeugnis ab, der heute noch Kirchenlieder vergangener Jahrhunderte singt. Die Sprache des alten Kirchenliedes ist nicht seine eigene Sprache. Er findet sie ergreifend, aber das ist kein religiöses, sondern ein ästhetisches Urteil. Das archaisch Ungehobelte, das die heutigen Sänger von alten Liedern von fernher so herzbewegend anweht, war für die Sänger des 17. oder 18. Jahrhunderts kein Wert, sie haben es gar nicht wahrgenommen. Der heutige Sänger alter Lieder spielt eine Rolle und trägt ein Kostüm, er mag es wissen oder nicht. Bereits Herder war bei aller Gläubigkeit doch schon ein Nostalgiker, wenn er von der „treuherzigen Altvatersprache" einer „leider! verlebten Zeit" schwärmte. 26 Nostalgie ist eine ästhetische Empfindung, die sehr stark werden kann. Viele, die sich für fromm halten, sind in Wahrheit Romantiker, die ihre nostalgische Liebe zum Glauben mit Glauben verwechseln. Aliud credere aliud credere esse credendum. Zu glauben ist ein anderes als Glaubenwollen, als die Gesten des Glaubens zu inszenieren und zu imitieren. Glauben und Singen werden zur Attitüde, auch wenn sich diese Attitüde fur Natur hält. Weil das gesellschaftliche Sein sich nicht zurückentwickeln wird, haben Restaurationen immer und unvermeidlich etwas Gemachtes, Rhetorisches und Inszeniertes. Was aber unterscheidet die rhetorische Inszenierung des 17. Jahrhunderts von der historistischen und ästhetizistischen des 20. und 21.? Das, was den Mainzer Dom von einer neuromanischen Kirche unterscheidet. Während Rist fest in der lutherischen Orthodoxie verwurzelt war, ist die antiaufklärerische Rückkehr der alten Lieder im 19. und 20. Jahrhundert eine historistische Sentimentalität. Das rhetorische Rollenspiel des 17. Jahrhunderts spielt mit konventionsgesicherten Abläufen, feststehenden Chargen und Requisiten auf dem festen Bühnenboden eines substantiellen Glaubens. Das des 20. Jahrhunderts tanzt bodenlos auf einem Seil irgendwo im Supermarkt der Rollenangebote. Mit Wehmut fühlt der Sänger die Distanz dessen, was er singt, zu der Welt, die ihn umgibt. Die Arbeit am Ich - „Ermuntre dich!" - erfahrt sich als zufällig und beliebig, sie wird überdies entmutigt durch die Autosuggestionskritik der Psychoanalyse, die das Überich der neurotisierenden Vergewaltigung des Es verdächtigt. Die Erbauung wird, wo sie dennoch versucht wird, historisiert, ästhetisiert und sentimentalisiert. So bleibt es auch bei einem alten Lied und auch wider einen anders gerichteten Willen bei jener Ablösung der erbaulichen Rezeptionshaltung von ihrem religiösen Gehalt, die die Aufklärung schon einmal bewußt und reformwillig vollzogen hatte. Die Restauration kann den Graben nicht wieder schließen. Wie die merkwürdige Strophenselektion im *EG zeigt, tendieren die religiösen Inhalte

26

In der Vorrede zum Neu eingerichteten Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaischen Gesang=Buch [...]. »Weimar 1783, Vorrede.

Ermuntre dich, mein schwacher

Geist

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heute zur Beliebigkeit, sind nur noch ästhetische Reize zur Erzeugung religiöser Stimmung, weitgehend ablösbar von ihrem ursprünglich festen Fundament. „Keine Christengemeinde kommt zusammen, sich in Poesie zu üben", schrieb Johann Gottfried Herder 1783,27 die ästhetische Realisation alter Lieder ablehnend. Heute kann das nicht mehr gelten. Historismus und Ästhetizismus sind unausweichlich, die Ästhetisierung und Sentimentalisierung der Erbauung unwiderruflich. Es steht nicht in unserer Macht, uns in die Zeiten substantiellen Glaubens zurückzukatapultieren. Die „psychologistische Entartung" der Erbauung, die im RGG beklagt wird,28 ist eine zwingende Signatur des Zeitalters und nicht durch anderslautende Entschlüsse rückgängig zu machen. Die Theoretiker der Postmoderne haben das Ästhetische aufgewertet. Man kann ihnen zufolge auch die Religion spielen als tröstende Kulturgeste und seelenwärmende Lebenshilfe. Sie muß nicht absolut wahr sein, sondern nur funktionieren als große Erzählung und lebensstabilisierendes kulturelles Regelwerk. Den alten, substantiellen Glauben wird man derzeit nicht wiederherstellen können. Dennoch wird es förderlicher sein, die abendländischen Mythen kultiviert zu pflegen, anstatt diesen Acker unbestellt zu lassen. Das Singen und Verständlichmachen alter Lieder zu fördern, ist besser, als aufgeklärt zu verstummen.29 Die spirituelle Erbauung des Ich, so überholt das Wort sein mag, ist eine bleibende Aufgabe.

Literaturverzeichnis Doeme, M.: Erbauung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch fur Theologie und Religionswissenschaft, hg. v. Kurt Galling u. a. Bd. 2. Tübingen 31958, Sp. 538-547. Krummacher, Hans-Henrik: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Festschrift Uwe Ruberg: Vox - Sermo - Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber u. Rudolf Voß. Stuttgart u. Leipzig 2001, S. 143-168. Kurzke, Hermann/ Schmidt, Rebecca: Fritz Schlosser als Sammler geistlicher Lieder, in: Goethekult und katholische Romantik. Festschrift: Fritz Schlosser (1780-1851), hg. v. Helmut Hinkel. Mainz 2002, S. 105-120. Scheitler, Irmgard: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982. Schings, Hans-Jürgen: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980. Schmidt, Bernhard: Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis. Berlin u. New York 2002.

27

28

29

Neu eingerichtetes Sachsen=Weimar=Eisenach= und Jenaisches Gesang=Buch [...], *Weimar 1783, Vorrede. M. Doerne: Erbauung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. v. Kurt Galling u. a. Bd. 2. Tübingen 31958, Sp. 538-547, hier Sp. 538, 539. Ausfuhrlicher habe ich mich über Chancen und Probleme religiöser Restaurationen geäußert in meinem zusammen mit Rebecca Schmidt geschriebenen Beitrag für die FritzSchlosser-Festschrift: Fritz Schlosser als Sammler geistlicher Lieder, in: Goethekult und katholische Romantik. Fritz Schlosser (1780-1851), hg. v. Helmut Hinkel. Mainz 2002, S. 105-120.

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Hermann Kurzke

Schmidt, Eberhard: Brich an, du schönes Morgenlicht, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, H. 4 (Göttingen 2002), S. 9-13. Zedier, Johann Heinrich: Erbauung und Besserung des Nächsten, in: ders.: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. 8. Halle und Leipzig 1734. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck. Graz 1994, Sp. 1478.

Verzeichnis der zitierten Gesangbücher •Berlin 1700: Des Koenigs und Propheten Davids Geistreiche Psalmen / Nach Frantzösischen Melodien in Deutsche Reimen gebracht durch D. AMBROSIUM Lobwasser / Denen auch des Hrn. D. Lutheri und anderer Gottseliger und Christlicher Leute geistreiche und gebrauechlichste Lieder und Psalmen beygefueget; Vormals mit 4. Vocal- und 3. Instrumental Stim=men / nebst dem Basso continuo aufgesetzet von Johann Cruegern / Direct. Music. in Berlin / Jtzo Zu nuetzlichem Gebrauch der Christlichen Kirchen / fuernemlich Sr. Churfl. Durchl. Residenzien / mit Fleiß uebersehen / und in 4. Vocal-Stimmen / zum Druck befordert: auch mit dem Heydelbergischen Catechismo und der Form der heiligen Handlung des hochheiligen Abendmahls vermehret. Auf Churfl. gnaedigste Befreyung. ALTOS & TENOR. Berlin / gedruckt und verlegt von Salfeldischer Wittwe. angebunden: D. M. Luthers / Wie auch Anderer gottseligen und Christlichen Leute Geistliche Lieder / und Psalmen / Wie sie bißher in Evangelischen Kirchen dieser Landen gebrauchet werden. Denen auch anitzo etliche auserlesene so wol alte als neue Geistreiche Gesaenge beygefueget sind / Jn 4. Vocal-Stimmen uebersetzet von Johann Cruegern. ALTXJS & TENOR. Berlin / Gedruckt und verlegt von David Salfelds seel. Wittwe / ANNO 1700. •Berlin 1869: Gesangbuch für Evangelische Gemeinen. Als Entwurf herausgegeben vom Königl. Konsistorium der Provinz Brandenburg. Berlin 1869. Verlag der Königlichen Geheimen Ober=Hofbuchdruckerei (R. v. Decker). •Bollhagen 1809: Heiliges Lippen= und Herzens=Opfer Einer glaeubigen Seele: Oder Vollstaendiges Gesang=Buch, Enthaelt in sich Die neuesten und alten Lieder des seel. D. LUTHERI und anderer erleuchteten Lehrer unserer Zeit, Zur Befoerderung der Gottseligkeit, Bey oeffentlichem GOttes=Dienst, Jn Pommern und andern Orten zu gebrauchen, eingerichtet, auch mit bekannten Melodeyen versehen: Nebst Einem Geist=reichen Gebet=Buch, Von dem Herrn General-Superintendenten Dr. Laurent. David Bollhagen. Anjetzo mit vermehrtem Sonn= und Festtags=Register versehen. Mit Koenigl. Preußis. allergnaedigstem PRIVILEGIO. Alten=Stettin, gedruckt und verlegt von dem Koenigl. Preuß. privilegirten Buch=drucker, Johann Samuel Leich, 1809. [Erste Auflage 1769] •Braunschweig 1779: Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum oeffentlichen und haeuslichen Gottesdienste. Mit Hochfuerstl. Braunschw. Lueneb. gnaedigstem Special=Privilegio. Braunschweig, gedruckt und verlegt von Friedrich Wilhelm Meyers Wittwe, und Johann Christoph Meyer. 1779. [Erste Auflage] •DEG 1915: Deutsches evangelisches Gesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland. Herausgegeben vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß. Berlin 1915. Ernst Siegfried Mittler und Sohn. Königliche Hofbuchhandlung. Kochstraße 68-71 (Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn, Berlin SW 68, Kochstraße 68-71). •Diterich 1765: Lieder für den öffentlichen Gottesdienst. Berlin 1765. •Dresden 1785: Das Privilegirte Ordentliche und Vermehrte Dreßdnische Gesang=Buch, Wie solches sowohl in der Churfl. Saechs. Schloß=Capelle, als in denen andern Kirchen bey der Churfl. Saechsischen Residenz, Nach den Lieder=Nummem an den Tafeln, Hiernebst auch in den gesamten Chur= und Fuerstlich=Saechs. Landen bey oeffentlichem Gottesdienst gebrauchet, und daraus pfleget gesungen zu werden. Darinnen die auserlesensten und Geistreichsten Lieder in reicher Anzahl zusammen getragen. Auf hohen Befehl Und vieler Verlangen mit leserlicher Mittel=Schrift in diesem Formate zum Druck gegeben worden, Von einem seinem JEsu Getreu Bleibenden Diener. Mit Sr. Churfl. Durchl. zu Sachsen allergn. Privilegio, auf keinerley Art und Weise nicht nachzudrucken. Dreßden und Leipzig, Verlegts Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. 1785. [Erste Auflage 1724]

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*EG 1993: Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland. (Satz- und Notenherstellung: Universitätsdruckerei H. Stürtz AG, Würzburg. Druck und Bindung: Biblia-Druck, Stuttgart) [1993], *Eisleben 1851: Eisleber Gesangbuch zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche. Eisleben, 1851. Verlag der Eisleber Prediger^Wittwenkasse. *EKG 1950: Evangelisches Kirchengesangbuch. Stammausgabe. Kassel 1950. (Herstellung: Bärenreiter=Druck Kassel unter Verwendung der Peter Jessen=Schrift von Rudolf Koch und Paul Koch=Notenschrift). •Fischer-Tümpel: Albert Friedrich Wilhelm Fischer und Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Gütersloh 1904-1916). 6 Bände. Hildesheim 1964. •Freylinghausen 1704: Geist=reiches Gesang=Buch / Den Kern Alter und Neuer Lieder / Wie auch die Noten der unbe=kannten Melodeyen Und darzu gehoerige nuetzliche Register in sich haltend; Jn gegenwaertiger bequemer Ordnung und Form samt einer Vorrede / Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseligem Wesen / nebst einer Zugabe zum andern mahl herausgegeben von JOAHNN ANASTASIO Freylinghausen / Past. Adj. HALLE / Gedruckt und verlegt im Waeysen= Hause / 1705. [Erste Auflage 1704] •Hermhuter Brüdergemeine 1725: Sammlung Geistlicher und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten, und erwecklichsten Neuen Gesaenge enthaltend, Nebst einer Vorrede des Editoris, welcher man Herr D. Marpergers, Koen. und Chur=S. Ober= Hof=Predigers Gedancken von alten und neuen Liedern beygefueget. LEJPZJG, bey August Martini. (1725). Berthelsdorfer Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer, Dietrich Meyer und Gudrun Meyer-Hickel. Zwei Teile (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1725). Hildesheim und New York 1979 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 1). •Hermhuter Brüdergemeine 1731: Sammlung Geist= und lieblicher Lieder, Eine grosse Anzahl der Kern=vollesten alten und erwecklichsten neuen Gesaenge enthaltende, Dritte sehr vermehrte und gebesserte Auflage, Nebst einer Vorrede des EDITORIS, worinnen die Ordnung der Titel und zugleich Eine ziemlich deutliche Einleitung in das gantze Geschaefft der Seeligkeit zu befinden. Herrhuth und Goerlitz, Zu finden bey M. Christian Gottfr. Märchen. (1731). Marchesches Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther. Zwei Teile (Nachdruck der Ausgabe Herrnhut und Görlitz 1731). Hildesheim und New York 1980 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 2). •Hermhuter Brüdergemeine 1749 - Alt= und Neuer Brueder=Gesang. Londoner Gesangbuch. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer, Dietrich Meyer und Gudrun Meyer-Hickel. Drei Teile. (Nachdruck der Ausgabe London 1749-54). Hildesheim und New York 1980 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 4. Band 4). *Herrnhuter Brüdergemeine 1819: Gesangbuch, zum Gebrauch der evangelischen Braedergemeinen. Gnadau, 1819. Zu finden in den Bruedergemeinen. [Erste Auflage 1778] "Königsberg 1763: Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder, die in denen Preußischen Kirchen gesungen werden, Nebst einem Anhange geistreicher Gebete, GOtt zu Ehren und den Gemeinen zu oeffentlicher und besonderer Andacht ausgefertiget, Mit Koenigl. Preuß. allergnaedigst. Privilegio. Vierzehnte Auflage. Koenigsberg, Verlegts Philipp Christoph Kanter, 1763. "Königsberg 1870: Sammlung alter und neuer Lieder für das Königreich Preußen mit einem erwecklichen Spruche über einem jeden Liede und mit erbaulichen Gebeten, auch nöthigen Registern. (Neues Rogall'sches Gesangbuch.) Mit königl. Preuß. Allergnädigst. Privilegio. Königsberg, 1870. Druck und Verlag von H. Härtung. •Leipzig 1736: Musicalisches Gesang=Buch, Darinnen 954 geistreiche, sowohl alte als neue Lieder und Arien, mit wohlgesetzten Melodien, in Discant und Baß, befindlich sind; Vornemlich denen Evangelischen Gemeinen im Stifte Naumburg=Zeitz gewidmet, und mit einer Vorrede Sr. Hochehrw. Herrn Friedrich Schulzens, Schloßpredigers, Stifts=Superint. und des Stifts=Consistorii Assessors zu Zeitz, herausgegeben von George Christian Schemelli, Schloß=Cantore daselbst. Mit Allergnaedigster Freyheit, weder mit, noch ohne No-

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ten nachzudrucken. Leipzig, 1736. Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, Buchdr. [Faksimile: Hildesheim u.a.: Georg Olm, 1999] "Leipzig 1753: Das privilegirte Vollstaendige und vermehrte Leipziger Gesangbuch, Darinnen die auserlesensten Lieder, wie solche in hiesigen und andern Kirchen gebraeuchlich, an der Zahl 1015. mit Fleiß gesammlet, und nebst einem Gebeth= und Communionbuche, vormals von Vopelio, jtzo aber aufs neue verbessert, und durchgehende geaendert, herausgegeben von Carl Gottlob Hofmann, damals S. Τ. B. und Prediger zu St. Petri in Leipzig, nunmehr S. S. Theol. D. und P. P. O. in Wittenberg. Leipzig, zu finden bey Sebastian Heinrich Barnbeck, am Thomas=Kirchhofe 1753. •Magdeburg 1851: Vollstaendiges Gesang=Buch, in sich haltend 1000 geistreiche und auserlesene Lieder, sowohl des seligen Herrn D. Martin Luthers, welche bereits im Jahre 1596 allhier zu Magdeburg herausgegeben worden sind, als auch anderer gottseligen Männer. Jn gute Ordnung gebracht, und mit Genehmhaltung Eines Ehrbaren Raths der Stadt Magdeburg, und eines lutherischen Ministeriums Censur, nebst einem erbaulichen Gebet=Büchlein, und der unveränderten Augsburgischen Confession zum Druck befördert. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenb. allergnädigster Freyheit. Magdeburg, im Faber'schen Verlag. 1851 (Druck und Verlag: A. & R. Faber in Magdeburg). •Mylius 1780: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich=Preußischen Landen. Mit allergnaedigster Koenigl. Freyheit. Berlin 1780 verlegts August Mylius Buchhaendler in der Bruederstraße. *Mylius 1810: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit allergnaedigster Koenigl. Freyheit. Berlin 1810 in der Myliussischen Buchhandlung. [Erste Auflage 1780] *Mylius 1844: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit allergnädigster Königl. Freiheit. Berlin, 1844. Jn der Mylius'schen Buchhandlung. Brüderstraße No. 4. [Erste Auflage 1780] *Porst 1748: Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthem, Johann Hermann, Paul Gerhard und andere seine Werckzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen der Koen. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekandt, Und mit Koenigl. Allergnaedigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingefüehret worden, Nebst einigen Gebeten Und einer Vorrede von Johann Porst, Koenigl. Preußischen Consistorial-Rath, Probst und Inspectore in Berlin. Berlin, verlegts sei. Josua David Schatz, Buchbinders an der langen Bruecke, Erben, und gedruckt bey Samuel Koenig, privil. Buchdrucker 1748. *Porst 1892: Geistliche und liebliche Lieder, welche der Geist des Glaubens durch D. Martin Luther, Johann Heermann, Paul Gerhardt und andere seine Werkzeuge in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen der Königl. Preuß. und Kurfl. Brandenb. Lande bekannt und mit Königl. Allergnädigst. Approbation und Freiheit gedruckt und eingefuehrt worden nebst einigen Gebeten Von Johann Porst, weil. Königl. Preußischem Consistorial=Rate, Probste und Jnspector in Berlin. Verbessert und Vermehrt. Berlin, Jonas Verlagsbuchhandlung. 1892 (Druck von Otto Drewitz, Berlin N., Monbijouplatz 10). [Erste revidierte und vermehrte Auflage 1855] •Praxis pietatis melica 1674: Johann Cruegers / Neu zugerichtete PRAXIS PIETATIS MELICA: Das ist: Übung der Gottseligkeit / Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen Herrn D. Martin. Lutheri fuernamlich / wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger / und reiner Evangelischer Lehr Bekenner. Ordentlich zusammen gebracht / Und zur Befoerderung des so Kirchen= als Privat-Gottesdiensts / mit bißhero gebraeuchlichen / wie auch neuen Melodeyen / neben darzu gehoerigen Fundament verfertiget / und mit vielen trostreichen Gesaeng vermehret Von Peter Sohren / Bestalten Schul= und Rechen=meistert der Christlichen Gemeine zum H. Leichnam / in Koeniglicher Stadt Elbing Preussen. Mit Churf. Saechsischer Freyheit. Drucks und Verlags Balth. Christ. Wusts / in Franckf. am Mayn. MDCLXXJV. •Praxis pietatis melica 1703: Johann Kruegers Neu zugerichtete PRAXIS PIETATIS MELICA: Das ist: Übung der Gottseligkeit / Jn Christlichen und trostreichen Gesaengen / Herrn D. Martin. Lutheri fuernemlich / wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger / und reiner

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Evangelischer Lehr Bekenner / Ordentlich zusammen gebracht / zur Befoerderung des so Kirchen= als Privat-Gottesdiensts / mit bißhero gebraeuchlichen / wie auch neu=en Melodeyen / verfertiget und mit vielen trostreichen Gesaengen vermehret. Von Peter Sohren / Bestallten Schul= und Rechenmei=ster der Christlichen Gemeine zum H. Leichnam in Koeniglicher Stadt Elbing in Preussen. HAMBURG / Jn Verlegung Johann Hinrich Voelckers. RATZEBURG Gedruckt bey Sigismund Hoffmann / Jm Jahr Christi 1703. •Schleiermacher 1829: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch fuer evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten. Berlin Verlag von G. Reimer 1829. *Stralsund 1836: Christliches Gesangbuch zur Beförderung der öffentlichen und häuslichen Erbauung, für Neu=Vorpommern und das Fürstenthum Rügen. Neue Auflage. Mit der Königl. Hochpreislichen Regierung Approbation und gnädigstem Privilegio. Stralsund 1836. Bei Joh. Struck's Wittwe. [Erste Auflage 1796] * Weimar 1783: Neu eingerichtetes Sachsen=Weimai=Eisenach= und Jenaisches Gesang=Buch, bestehend aus 1192. alten und neueniedern auf speciellen gnädigsten Befehl Jhro regierenden Herzogl. Durchl. zum allgemeinen Gebrauch in Dero saemmtl. Herzogthuemern und incorporirten Landen, auch Hennebergischen Antheil, nebst einem Gebetbuch. Jetzt neu uebersehen und mit einer Vorrede begleitet von Joh. Gottfr. Herder F. S. Oberhofprediger und Generalsuperintendent des Herzogthums Weimar. Mit Hochfuerstl. gnaedigsten Privilegio. Weimar, verlegts Carl Rudolf Hoffmanns seel. Erben, 1783. [Erste Auflage 1778] •Wiesbaden 1779: Fuerstlich Nassauisches neues verbessertes Gesangbuch Zur Befoerderung der oeffentlichen und haeußlichen Erbauung. Jm Verlag des Wiesbadischen Waisenhauses. Wiesbaden, gedruckt bey Joh. Henrich Frey, Fuerstlich Nassauischen Hof= und Kanzleybuchdrucker (1779).

Andreas Lindner

Lutherische Anthropologie als Medium von Erbauung

Protagonist dieses Beitrages ist der Braunschweiger Superintendent Andreas Heinrich Bucholtz,1 einer der im Bereich der Theologie- und Kirchengeschichte, vom lokalen Rahmen einmal abgesehen, Vergessenen unter der großen Schar der literarisch produktiven Geistlichen des 17. Jahrhunderts. Seine besondere Lebensleistung besteht in dem Versuch, mit einer Synthese aus der modernsten Form von Unterhaltungsliteratur seiner Zeit - dem Roman und dem Welt- und Menschenbild der lutherischen Theologie, das für die Masse der Gläubigen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in einer Flut erbaulichtheologischer Abhandlungen aufbereitet wurde, eine neue Form, nämlich den christlichen Roman, zu schaffen und damit zugleich geistliche Literatur - Erbauungsliteratur - in einer neuen Dimension und Qualität zu initiieren. Das Ergebnis waren zwei Romane von knapp 2000 bzw. 1500 Seiten Umfang und natürlich auch voluminösen Titeln, die im folgenden in den Kurzformen Herkules2 bzw. Herkuliskus3 zitiert werden. Von diesem Unternehmen her wurde er wenigstens in der Literaturgeschichtsschreibung nicht ganz vergessen. So hat Hans Wagener 1973 in seinem Buch The

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Geboren 1607 als Sohn eines Pfarrers zu Schöningen im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel; 1627-1631 Theologiestudium in Wittenberg (1630 Magisterpromotion); 1632 Konrektor der Hamelner Stadtschule; 1634—1636 Fortsetzung des Theologiestudiums in Wittenberg und Rostock; 1637-1639 Rektor des Gymnasiums zu Lemgo; 1639-1645 Professor fllr Moralphilosophie und Poesie an der Universität Rinteln; seit 1645 zusätzlich außerordentliche Professur für Theologie; 1647-1663 Koadjutor des Braunschweiger Kirchenund Schulwesens; seit 1663 Superintendent und Schulinspektor zu Braunschweig; gestorben 1671. Vgl. Johann Heinrich Zedier: Großes vollständiges UNIVERSAL LEXJKON Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 4. Halle und Leipzig 1733, Spalte 1772; ADB (Allgemeine Deutsche Biographie). Bd. 3. Leipzig 1876, S. 478-480. Des Christlichen Teutschen Grosz=Fürsten HERKVLES Und Der Böhmischen Königlichen Fräulein VALJSKA Wunder=Geschichte In acht Bücher und zween Teile abgefasset Und allen Gott= und Tugendliebenden Seelen zur Christ= und ehrlichen Ergezligkeit ans Licht gestellet. Braunschweig/ Gedruckt durch Christoff Friedrich Zilliger/ Buchhändlern allda. ANNO Μ DC LEX. (Dünnhaupt Nr. 47.1). Reprint der Erstausgabe, hg. v. Ulrich Mache. Bern u. Frankfurt a. M. 1973-1979 (Neudrucke Deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 6/1). Der Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus Und Herkuladisla Auch Ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuhtige Wunder=Geschichte. In sechs Bücher abgefasset Und allen Gott= und Tugendergebenen Seelen zur anfrischung der Gottesfurcht und ehrliebenden Ergezligkeit aufgesetzet. Herausgegeben und verlegt Von ChristofNFriedrich Zilliger und Caspar Gruber Buchhändlern. Braunschweig / Im Jahr Μ DC LXV. (Dünnhaupt Nr. 66.1). Reprint der Erstausgabe, hg. v. Ulrich Mache. Bern u. Frankfurt a. M. 1982 (Neudrucke Deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 12/1—II).

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Andreas Lindner

German Baroque Novel zum ersten Mal auf die besondere Rolle der Bekehrungen im Handlungsgefuge des Herkules hingewiesen und zugleich erkannt, daß diesem nicht das Fortuna-Prinzip zu Grunde liegt, wie besonders Paul Hankamer 4 behauptet hatte, sondern die Weltsicht des Autors, d. h. der Glaube als Vertrauen auf die Weltregierung Gottes. Wagener schreibt: This religious emphasis [...] is brought out not only by the insertion of numerous prayers, pious songs, and psalms but especially by extensive .heathen conversions'. Again and again the heathens are confronted with the excellence of the Christian religion and ethic, and submission to God's will is preached above all. Man is not supposed to rebel against his fate, no matter how difficult it may to be for him to carry on, because God will bring everything to a successful end. The good are rewarded, and the wicked receive their well reserved punishment. Everything has its inherent logic and turns out for the best.5

Von der theologischen Analyse des Romans her kann die Form dieser inhärenten Logik exakt bestimmt werden als die lutherische Anthropologie, die tragendes geistiges Element und Mitte des Romans zugleich ist. Insgesamt fünf Methoden sind erkennbar, mit denen Bucholtz sein Konzept umsetzt.

1.

Die Handlung des Romans wird fromm-erzählend eröffnet und schließt theologisch-belehrend, so daß ein geistlicher Gesamtrahmen vorliegt. Der erste Satz lautet: Die wunderschöne Morgenröthe / welche dem Silberbleichen Monde seinen Schein zu rauben sich bemühete / war aus ihrem Lager kaum hervor gekrochen / da erwachete Herkules vom Schlaffe / stieg seiner gewonheit nach / sanfte aus dem Bette / daß sein Freund Ladisla dessen nicht gewahr wurde / legte sich auf die Knie / und betete in herzlicher andacht seinen Christlichen Morgen=Segen (Bucholtz: Herkules, 1/1, l). 6

Dieser sich nun anschließende Morgensegen entspricht im Aufbau seiner Aussagen dem Morgensegen Luthers: Dank für Behütung in der vergangenen Nacht Bitte um Bewahrung am angebrochenen Tag - Bitte um die Gottwohlgefälligkeit des eigenen Tuns - nochmalige Bitte um Abwendung von allem, was Leib und Seele schaden kann. Bucholtz hat diese Grundstruktur lediglich materialiter durch Näherbestimmungen erweitert und sie durch die Bitte um die Bekehrung der gesamten noch heidnischen Familie des Herkules erweitert. Abgeschlossen wird der Roman mit dem Glaubensbekenntnis des Herkules und einer Reihe von Gebeten aus bewegten Situationen seiner Biographie (Bekehrung, Erlösung aus Knechtschaft und Rettung aus Todesgefahr), die gleichsam als Anhang angefügt werden, weil sie „in dem Werke [...] nicht hinzu gesezt" (Bucholtz: Herkules, II/8, 957) wurden.

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Paul Hankammer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Epochen der deutschen Literatur Π/2. Stuttgart 1935 (Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts), S. 416-418. Hans Wagener: The German Baroque Novel. New York 1973, S. 111. Die Romanzitate sind jeweils angegeben mit: Teil / Buch, Seite.

Lutherische Anthropologie

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Damit beginnt und endet die Handlung wie der Tag eines frommen lutherischen Christen beginnen und enden sollte. Mit dem Morgengebet begibt er sich wiederum gänzlich in Gottes Hand und am Abend legt er sich Rechenschaft seines Glaubens ab, d. h. er ist jederzeit gerüstet, wenn, um im Bild zu bleiben, das Buch seines irdischen Lebens zugeschlagen werden sollte. So bekommt die weltlich-literarische Gattung Roman ein massives Korsett aus der geistlich-literarischen Gattung des Erbauungsbuches. Verknüpft werden Anfang und Ende durch die Hauptfigur des Herkules, der sein tadelloses Leben, Handeln und Planen beständig im Gebet an Gott zurückbindet bzw. im Gespräch mit anderen christlich begründet und dabei zusammen mit seiner Valiska immer mehr an geistlicher Gefolgschaft gewinnt. Die Handlung ist durchsetzt mit kurzen Stoßgebeten, sei es als Dank nach einer gelungenen Befreiung, sei es als Bitte um Bewahrung der entführten Valiska, sei es um der Hoffnung ihrer Bekehrung Ausdruck zu verleihen, sei es als Dank für die Rettung des eigenen Lebens oder um Gottes Beistand im Zweikampf, sei es einfach um eine glückliche Reise. Dazwischengeschaltet sind auch längere Gebete, speziell wenn es sich um Bußgebete handelt, denn so modellhaft die Haltung des Herkules auch ist, so ist er sich doch seines persönlichen Sünderseins gegenüber Gott bewußt.

2.

Die Darstellung der Tugend bzw. des Tugendhaften wird die ganze Romanhandlung hindurch an die beiden Hauptpersonen Herkules und Valiska gekoppelt. Ihre Grundlegung als Leitcharaktere für die sie umgebenden Personen innerhalb des Romans und darüber hinaus für das Lesepublikum erfolgt ausschließlich dadurch, daß sie die Tugendhaftigkeit gewissermaßen ausstrahlen. Ihr hochadliger Stand ist dafür Konvention, aber nicht Bedingung. Auch Fürsten können Abbilder von Verworfenheit sein und werden von Bucholtz in Gobares von Susa (Bucholtz: Herkules, II/5) und dem Wendenfürsten Krito (Bucholtz: Herkules, II/7) entsprechend dargestellt. Wie an den sozialen Stand, so ist die Tugend zunächst auch nicht an das Christentum als dem geistlichen Stand der Wiedergeborenen geknüpft. Die Tugend ist ein heidnisches Erbgut, das durch den christlichen Glauben veredelt wird. Hierin liegt der tiefere Sinn der Wahl des Namens Herkules für den Helden des Romans. Abgesehen vom Namen adaptiert Buchholtz ein einziges Motiv aus der Sage vom Herakles der griechischen Mythologie für seinen christlichen Herkules: Herakles am Scheideweg. Wie der griechische Herakles durch eine Art Vision, so wird auch der christliche, jedoch noch nicht getaufte Herkules im Traum zur Wahl zwischen Gottesfurcht und Wollust, Tugend und Untugend herausgefordert (Bucholtz: Herkules, 1/2, 268). Herkules' Entscheidung nach dem Erwachen gibt in ein Gebet gekleidet das lutherische Ethos wieder, wie es Bucholtz vertrat: Ο du Schöpfer und Erlöser des menschlichen Geschlechtes / gib mir wahre Beständigkeit / deinem heiligen Willen folge zu leisten / und die schnöde Wollust der üppigen geilen Welt

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zu fliehen / auff daß ich durch wahren Glauben auff dein Verdienst gerechtfärtiget / die himmlische Krön der Gerechtigkeit / welche du allen Auserwählten von Ewigkeit bereitet hast / aus deiner Gnaden Hand empfahen / und durch keine Boßheit mich deren verlustig machen möge. (Bucholtz: Herkules, 1/2, 268).

Mehr als Herkules noch ist es Valiska, die paradigmatisch tugendhaft auftritt und deshalb von ihrer Umgebung buchstäblich vergöttert wird. Zentrale Bedeutung hat hierfür das Dritte Buch des Ersten Teils: Valiska kommt als gefangener vermeintlicher Jüngling Herkuliskus auf das Schloß des medischen Herrn Mazeus und wird nach Charas gebracht, wo es zur Begegnung mit dem Großkönig Artabanus kommt. Auf dem Schloß des Mazeus unterzieht man sie, da man sie ja für einen Jüngling hält, einer Reihe von Mut- und Geschicklichkeitsproben, die sie alle in Wort und Tat mit Bravour besteht. Unter anderem liefert sie die Nervenprobe des später als Motiv aus Schillers Wilhelm Teil berühmt gewordenen Apfelschusses (Bucholtz: Herkules, 1/3, 553). Mazeus bemerkt schließlich: Nun weiß ich nicht / ob ich Menschen oder Götter in meiner Geselschafft habe / und gewißlich / da euch die Götter nicht gezeuget / müsset ihr zum wenigsten ihres Geblütes seyn (Bucholtz: Herkules, 1/3, 555).

Valiska wehrt dieser „Vergötterung" mit der Anschauung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen: „Doch auf gewisse art / sind wir Menschen alle Göttliches Geschlechts / indem sie uns eine vernünfftige unsterbliche Seele eingegossen haben" (Bucholtz: Herkules, 1/3, 555f.). Diese Vernunftseele erhebt den Menschen über das Tier. Sie kann in rechter oder Unrechter Weise angewandt werden, an der Vergänglichkeit des Leibes ändert sie nichts, „weil der Mensch nicht Gott / sondern sterblich und schwach ist" (Bucholtz: Herkules, 1/3, 556). Mit der Unsterblichkeit ist zugleich das Jenseits konstituiert als „künfftige Glückseligkeit" der vom irdischen Leib geläuterten Seele. Um diese Glückseligkeit nicht zu verlieren, ist alles Handeln und Planen an der Tugend auszurichten (Bucholtz: Herkules 1/3, 557). Für Mazeus ist Herkuliskus die Verkörperung des eben Gesagten, und er wünscht, daß ihr [...] den so wol angefangenen Tugendlauff glücklich vollenden möget; Ich zweifele sonst gar nicht / daß wann ich hundert Söhne eures gleichen hätte / wolte ich durch eure Tugend ein Herr über die ganze Welt werden (Bucholtz: Herkules, 1,3, 557).

Darauf erhält er die Antwort: Das würde schwerlich geschehen /[...]; dann sie würden umb Henschaffi willen keinen Pfeil verschiessen / und kein Schwert blossen / sondern viellieber andern rechtmässigen Besitzern das ihre beschützen helffen (Bucholtz: Herkules, 1/3, 557).

Auch bei Valiska stehen am Ende aller glanzvollen Taten immer die Bescheidenheit und die Weisheit des Maßhaltens. Weder läßt sie sich als göttlich verehren, noch strebt sie nach irdischem Gewinn durch ihre Tugend. So hält Bucholtz seine Helden trotz aller wunderbaren Taten immer noch auf dem Boden eines aus seiner Sicht möglichst realistischen Geschehens, obwohl er ihrer Tugend eine überweltliche Ausrichtung gibt.

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Nachdem ihr Aufenthalt in Medien sich nicht mehr ohne Verdacht verlängern läßt, wird Valiska nach Charas gebracht. Mit ihr und dem König Artabanus treffen Tugendliebe und Tugendfeindschaft aufeinander. Artabanus ist eben mächtig genug, um seiner Lust nach schönen Jungfrauen und Jünglingen freien Lauf zu lassen. Er ist denn auch von dem schönen Jüngling entzückt und wenig beeindruckt von dessen diplomatischem Kompliment: nach dem ich der festen gewißheit bin / daß / wie eure Königl. Hocheit mit Gewalt den Göttern am nähesten sitzet / dieselbe nicht weniger an Liebe zur Tugend und Erbarkeit ihnen verwand seyn müsse (Bucholtz: Herkules, 1/3, 623).

Valiska wurde von den tugendliebenden Medern nicht in Unkenntnis über den Charakter des Königs und das ihr bevorstehende Schicksal gelassen, das dieser ihr nun ankündigt: Jüngling / [ . . . ] / dich wird zuvor ein kleiner Schmerz übergehen / nach dessen Vollendung dir höhere Glükseligkeit begegnen sol / als du dir niemahls hast einbilden können (Bucholtz: Herkules, 1/3, 624).

Valiska entgegnet, sie fände sich zu allem bereit, was ohne Verletzung ihrer Zucht und Ehre geschehen könne. Artabanus ist höchst erzürnt über den frechen Knaben, „[...] daß er seiner Hocheit von Ehre und Zucht reden dürfte / da doch des Königs Wille der Ehre und Zucht die masse gäbe" (Bucholtz: Herkules, 1/3, 625). Hier artikuliert sich die Psychologie der Macht, von Bucholtz zu einer Zeit kritisiert, als ihre Blüte im Hochabsolutismus noch bevorstand. Es folgt eine komödiantische und zugleich blutrünstige Szene, der Versuch den vermeintlichen Jüngling zum Eunuchen zu verschneiden. Valiska tötet ihre drei Wachen und den Arzt, sieht sich aber nunmehr gezwungen, ihr wahres Geschlecht zu offenbaren. Sie erscheint in Frauenkleidern vor Artabanus, der sie nun erst recht begehrt. In weiser Voraussicht dieser Reaktion erzählt sie ihm, der Göttin Vesta durch ein Gelübde mit ihrer Jungfräulichkeit bis zum Ende ihres siebzehnten Lebensjahres verpflichtet zu sein. Dies zu unterstreichen, zückt sie sofort einen Dolch, um sich zu töten, da sie ihre Ehre vor dem König nicht weiter verteidigen könne. Dieser schwört unverzüglich, das fehlende Jahr bis zum Ablauf des Gelübdes zu warten und sie dann zu seiner Königin zu machen. Damit ist der Tugendfeind überlistet und Zeit für die Befreiung durch Herkules gewonnen. Im Gefolge der Entfuhrung Valiskas und ihrer Verschleppung nach Parthien werden zwei Grundschemata der Romanhandlung formuliert, die sich beständig wiederholen: 1. Gott ist im Kampf immer mit den Tugendhaften. Ein Sieg des Bösen, wenn er auch von vornherein nicht ausgeschlossen werden kann, ist letztlich nicht möglich, und jeder Kampf ist zugleich auch ein Urteil des guten Gottes. 2. Die Tugendhaften haben nicht durchgehend an dem Anteil, was nach irdischem, fleischlichem Maßstab Glück heißt. Sie können sich durchaus nach irdischem Maßstab im Unglück befinden, das ihnen dann aber von

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Andreas Lindner Gott zu ihrer Prüfung und Läuterung auferlegt ist. Bucholtz sorgt allerdings dafür, daß das irdische Unglück seiner Helden noch in jedem Fall endet. Der Roman besitzt ein umfassendes ,Happy End' und entspricht darin einem wesentlichen Moment der barocken Romankonzeption.

Die folgenden Bücher des zweiten Teils des Romans rücken die Geschicke anderer Personen in den Mittelpunkt, immer aber begleitet von den beiden Titelhelden, die als übergeordnete, alle überstrahlende Autoritäten weiterhin alle wichtigen Ereignisse beeinflussen und zu einem guten Ende führen. Deshalb werden sie von Bucholtz nicht am Ende, sondern in der Mitte der Handlung zu Allegorien der Tugend erhoben. Ort der Handlung ist eine kleine parthische Stadt, in der die Liebenden auf der Flucht nach Persepolis Rast machen. Vom Gefühl seiner Liebe bewegt, erklärt sich Herkules Valiskas unwürdig, worauf sie antwortet: Das unergründliche Tugend=Meer meines [...] teuren Herkules ist mir nicht so gar unbekannt / auff welchem schon in früher Jugend tausend Last Schiffe des unsterblichen Ehrenpreises mit vollem Segel daher prangeten (Bucholtz: Herkules, 1/4, 887).

Herkules seinerseits sieht in Valiska „[...] den Spiegel / dessen Klarheit die späten Nachkommen anbehten / und alle Tugendliebende [...] mit Verwunderung ansehen werden" (Bucholtz: Herkules, 1/4, 887). Meer und Spiegel aller Tugend - diese Szene bietet die moralische Selbstkrönung der Vorbilder des Lesers. Die Folie, von der sich der Glanz aller Tugendhaften im allgemeinen, Valiskas und Herkules aber im besonderen abhebt, sind die tugendlosen Frevler jeden Standes und jeder Couleur. Gleich zu Beginn des Romans wird dieser Figurentyp in dem entlaufenen Sklaven und Räuber Geta vorgestellt. Dieser überfallt mit einer ganzen Bande Herkules und Ladisla in ihrer römischen Herberge. Er überlebt den Kampf als einziger und wird, da er über die Hintermänner des Anschlags keine Auskunft geben will, zu Tode gegeißelt. Seine Zähigkeit veranlaßt Ladisias Diener Wenzesla zu der Bemerkung: „Ich weiß nicht / ob ich heut grössere Tugend an unsern Helden / oder an diesem verwägenen Tropff steiffere Hartnäckigkeit gesehen habe" (Bucholtz: Herkules 1/1,9). Damit ist das Stichwort ,Tugend' gefallen und gibt Geta Anlaß, sich mit der Rede eines Anti-Helden aus dem Leben zu verabschieden: Ich habe mir bißher steiff vorgenommen / nimmermehr zu tuhn / was die / so man Tugendhafte nennet / gut heissen / gläube auch noch diese Stunde nicht / daß ich meine Flecken oder Haut endern werde [...] und schreibet mir diesen Grab=Reim zu ewiger Gedächtniß / [...]: Hier liegt Geta / dessen Geist Allen Frevel Tugend heist / Der ihm Bosheit hat erkohren;

Der nie gutes hat gewolt Darumb ist / Ο schönster Sold! Sein Gedächtniß unverlohren. (Bucholtz: Herkules, 1/1, 9).

Mit Geta kolportiert Bucholtz Herostratos, den sprichwörtlich gewordenen antiken Frevler schlechthin. Herostratos hatte 356 v. Chr. den berühmten Artemistempel zu Ephesus angezündet, um durch diese Tat in die Geschichte einzugehen.

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Bei allen folgenden Negativ-Figuren des Romans entscheidet die Frage von Einsicht und Reue oder Uneinsichtigkeit und Hartnäckigkeit über ihr Schicksal.

3. Wie sich Gott im Schicksal der Tugendhaften und der Tugendlosen, in ihren großen und kleinen Auseinandersetzungen als Herr der Handlung erweist, so auch in der Wirkung seines Wortes. Die Handlung ist durchzogen von einer Reihe von Bekehrungen, die die Unwiderstehlichkeit des Wortes Gottes bei den Tugendhaften deutlich machen. Der Prototyp des reuigen, bußfertigen Sünders ist Gallus. Von Herkules bei der Verfolgung der gerade geraubten Valiska gefangengenommen, kommt er mit dem Leben davon, um Herkules zu Valiska zu fuhren. Da er sich als sehr willig erweist, nimmt ihn Herkules schließlich in seinen Dienst. Auf dem Weg zum Versteck seiner Räuberbande kommt es zu einem längeren Gespräch, einer Lebensbeichte des Gallus, die zu seiner Bekehrung und geistlichen Wiedergeburt fuhrt. Gallus, ein ehemaliger römischer Soldat, ist nicht derartig grundsätzlich von Bosheit durchdrungen wie Geta. Sein Leben ist ein allmählicher Abstieg. Eine unglückliche Wendung wirft ihn letztlich ganz aus der Bahn - beim Trunk und Spiel kommt es zum Streit, in dessen Verlauf er einen Vorgesetzten ersticht. Er flieht in die Wildnis und schließt sich endlich aus Not der Räuberbande an. Dabei war er ursprünglich sogar Christ, fiel aber während einer Christenverfolgung unter Kaiser Septimius Severus aus Angst vor einem grausamen Tod ab. Der Abfall war ein Abfall von der Glaubensgemeinschaft der Kirche, nicht aber von einem persönlichen Glauben. Nachdem Gallus sich bekannt hat, greift Herkules ein und bestätigt ihn zunächst in seiner Haltung: Ja mein Gallus / [ . . . ] / ihr habt in Warheit eine erschrekliche Sünde begangen / nicht allein/ in dem ihr euren Heyland verleugnet [...]; Dieses / sage ich / ist nicht allein eine überaus schwere Sünde / sondern daß ihr überdas noch eine so geraume Zeit / XXIV Jahr lang in solcher Gottlosigkeit verblieben / und euch nicht wieder durch herzliche Reu angemeldet / und zur Christlichen Kirchen begeben habt; trauet mir / daß alle eure Boßheit / die ihr mit Stehlen / Rauben / Morden oder sonsten begangen / gegen diese Sünde nicht eins zurechnen sey / dann jenes beleidiget eigentlich die Menschen / dieses aber ist schnuhrgerade wieder Gott im Himmel selbst gerichtet (Bucholtz: Herkules, 1/1, 274f.).

Was ist die Menge aller, ja der schlimmsten fleischlichen Sünden gegen diese EINE geistliche Sünde!? So wirklich auf dem tiefsten Punkt der Reue angelangt, wird Gallus von Herkules im Dialog Stufe für Stufe mit hinaufgenommen bis zu einem neuen Bewußtsein der Gegenwart des Heiligen Geistes und des Angenommenseins durch Gott. Ein erstes Angebot der Absolution, unter der Voraussetzung, daß die Reue des Gallus und sein Vorsatz einer Besserung seiner geistlichen Haltung und seines weltlichen Lebens ehrlich gemeint sind, vermag Gallus nicht anzunehmen. Der schwere Stein seiner Sünden drücke ihn „hinunter biß in die unterste Helle" (Bucholtz: Herkules, 1/1, 275). ,Sünde' ist das Stichwort für Herkules, um Gallus mit Jesus zu trösten, der „in die Welt kommen ist / nicht üm der From-

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men oder Gerechten / sondern ümb der Sünder willen [...]. Spricht er nicht selber/ er sey kommen / zu suchen was verlohren wahr ?" (Bucholtz: Herkules, 1/1,275). Herkules fuhrt Gallus eine Reihe entsprechender Bibelstellen vor Augen wie das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18, 12-14 par), das Jesuswort von den Mühseligen und Beladenen, die bei ihm Erquickung finden sollen (Mt 11, 28), Jesu Vergebungshaltung am Kreuz (Lk 23, 34). Damit wird Gallus' Herzensangst in einem Schwall von Tränen gebrochen. Er bekennt sich als armer Sünder, der der Gnade Gottes bedarf. Herkules sieht darin das Wirken des Heiligen Geistes in Gallus und versichert ihn erneut der Vergebung seiner Sünden. Dieser bezeugt seine geistliche Wiedergeburt: Ο ja mein Herr / [ . . . ] / mein Herz empfindet schon die Gegenwart der Barmherzigkeit Gottes / daher mir solche Freudigkeit entstehet / als ob ich von neuen gebohren währe / und in der allergrösten Himmels=Freude schon sässe. (Bucholtz: Herkules, 1/1, 276).

Der seelische Vorgang wird intellektuell nachvollzogen in einem Diskurs über die Rechtfertigung, innerhalb dessen Herkules mit knappen Worten Jesu Erlösungswirken nachzeichnet und schließlich auf die praktisch-ethische Konsequenz der neuen Existenz zu sprechen kommt. Der Glaubende hat sich ganz dem Willen des Heilands zu übereignen, so daß er: „den Kampff wieder den Teuffei / die Welt / und sein eigen Fleisch und Blut antrit und außfuhret / so daß er nach der heiligen Lehre in guten Werken der Christlichen Liebe sich fleissig übet." (Bucholtz: Herkules, 1/1, 277f.) Beide besiegeln das Geschehen mit einem großen Büß- und Bittgebet, dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser. Herkules stellt fest, daß Gallus nun „wiederumb ein wahres Gliedmaß der algemeinen Christlichen Kirchen" (Bucholtz: Herkules, 1/1, 278) geworden sei und warnt ihn in diesem Stand vor den Irrlehrern und Ketzern. Bucholtz hat hier die exemplarische Bekehrung fur den ganzen Roman konzipiert. Keine weitere Bekehrung wird so kompakt mit allen aus lutherischer Sicht theologisch wesentlichen Elementen geschildert. Der Vorgang entspricht in seinem Ablauf der Lehre von der Bekehrung in FC Solida Declaratio II, 7072 mit ihrer besonderen Betonung der causa efficiens: „wer solchs in uns wirke". 7 Herkules ist dabei das Werkzeug des Heiligen Geistes. Den Rahmen gibt die Überzeugung aller Orthodoxen aller Zeiten in allen Kirchen ab, die so auch die lutherische Orthodoxie teilte: Wahrer Glaube ist nur in der wahren Kirche lebbar. Die wahre Kirche wiederum steht und fallt mit der wahren Lehre. Nicht zufallig stehen am Ende Herkules' Warnungen vor den Irrlehrern und Ketzern. Gallus bleibt den ganzen Roman hindurch der Angefochtene, der aus dem Bewußtsein lebt, dem bereits über ihn gekommenen Verderben gerade noch entronnen zu sein. Gallus ist auch hierin Vorbild, daß er seine neue Existenz konsequent, aber ohne falsche Sicherheit lebt - er bleibt bußfertig. Vgl.: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), hg. im Gedenkjahr d. Augsburg. Konfession 1930. Göttingen '1982 (Göttinger theologische Lehrbücher), S. 901. Die Ausführungen über die Bekehrung stehen hier im Kontext der Lehre vomfreienWillen.

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Die uneinsichtigen Übeltäter nehmen regelmäßig das gleiche Ende wie Geta, in das sie ihre Verstocktheit treibt. Im zweiten Teil des Romans kommen die großen Übeltäter übrigens fast alle aus dem höheren Adel. Von boshaften Menschen, die wie Gallus durch Reue auf den Weg der Tugend zurückkehren, findet sich ebenfalls noch eine ganze Reihe im Verlauf der Handlung. Auch ihre Vergehen sind todeswürdig, doch ihr Schicksal wendet sich entweder in einem längeren Prozeß oder in letzter Minute. Sie alle sind zumindest nicht fürstlichen Standes. Alle Figuren des Romans von den strahlendsten Helden bis zu den finstersten Bösewichten dienen demselben Zweck, daß der Leser sich an ihnen spiegeln soll. Sie sind die Statisten einer großen Tugendschule mit jeweils eindeutigem Ausgang ihrer Rolle. So sehr Bucholtz das Ende seiner Figuren schwarz oder weiß zeichnet, so sind sie doch nicht von Anfang an auf ein schwarzes oder weißes Geschick festgelegt. Es gibt eben auch die, die in der Lage und Willens sind, sich zu ändern. Die Summe zieht der Autor exakt in der Mitte des Romans, in der dem Teil II vorangestellten Widmimg an den Kaiser: Nun wol! vor Gott bestehn Am besten / die vor ihm demühtig niderfallen / Und sagen willig an / daß ihr Vermögen bloß Ein reiner Wille sey. Die pflegt Gott zuerheben / Und schätzet sie vor gnug. Bleht man sich selber groß Nach Pfau=und Kröten Art / das ist ein wiederstreben Und schändlicher Betrug. Ein solcher schlimmer Wühl Muß / wann er gleich vermeint / er steh' auf hoher Zinnen / Eh' als ers selber weiß / hinunter in den Pfuel / Dann wird er seines Nichts mit Schand und Schaden innen (Bucholtz: Herkules, II/Bl. a ij v).

Die Romanhandlung ist nicht so lebensfremd, daß es nur Gute oder Böse gäbe. Daran kann der Theologe Bucholtz auch gar kein Interesse haben. Selbst Herkules und Valiska läßt er bei allem Glanz immer wieder betonen, daß sie sündhafte Menschen seien, die ihr zeitweises Unglück als Strafe Gottes verstehen: ,Valisk' und Herkules „erkennen / daß sie schwach Und allerunwerd sind" (Bucholtz: Herkules, II/Bl. a ij v), heißt es im Anschluß an das obige Zitat. Weshalb der eine die Einsicht und den Willen aufbringt, sich zu ändern, der andere aber nicht, bleibt im Dunkeln. Nach lutherischem Verständnis der Prädestination liegt die Erwählung der Menschen zum Heil allein bei Gott. Der Roman hat an diesem Punkt deshalb auch keinen Erklärungsbedarf, bzw. läßt die Erwählung über die Stellung zum Wort Gottes sichtbar werden. Allerdings ist es bezeichnend, und hier begegnen wir dem Schulmann Bucholtz, daß vor der Hinrichtung stehende Übeltäter immer wieder beklagen, sie seien schon in früher Jugend der Verführung durch schlechtes Beispiel bzw. Nachlässigkeit der Eltern erlegen. Selbstverständlich bekehren sich mit der Zeit, d. h. mit fortschreitender Handlung, alle fürstlichen Hauptpersonen und ihr näheres Umfeld. Bucholtz bietet dabei eine ganze Reihe differenzierter Bekehrungsdarstellungen: die idealtypische, rational-theologische bei Gallus, die emotionale bei Herkules' Freund Ladisla, die in der Begegnung mit der Bibel stattfindende bei Herkules selbst, die

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konventionell-hochzeitsbedingten bei den Gefolgsleuten Markus und Sophia, die gleichsam blutleere bei dem Statthaltersohn Fabius, der nirgendwo explizit in Berührung mit der Glaubensfrage gebracht wird, und die um so aufregenderen bei dem Königssohn Siegward und Herkules' Bruder Baldrich in ihrer Kombination aus vernunftgeleitetem Diskurs und visionär-mythischem Kampf, die aus dem Mißverständnis um weltlichen Lohn bei einer einfachen Frau und die bewußt oder unbewußt in Not und Anfechtung stattfindenden bei Herkules' Schwester Klara, deren Verlobten Arbianes und dem alten Böhmenkönig Notesterich. Indem er so immer wieder andere Facetten in den Mittelpunkt rückt, ermöglicht er dem Leser wiederum, sich selbst daran zu spiegeln. Diese Möglichkeit des individuellerbaulichen Umgangs mit dem Stoff sprengt den Rahmen eines bloßen Bildungsanspruchs des Romans.

4. Der Roman wird von Bucholtz in doppelter Weise beendet. Die Handlungsebene findet zunächst ihren prosaischen Abschluß. Noch einmal wird die historische Ebene eingeholt, mehrfach werden Ausblicke auf die zukünftigen Schicksale von Personen im Herkuliskus gegeben und dazwischen klingt die Geschichte von Herkules und Valiska in der Art eines beschaulich-ruhigen Glücks aus, wie sie häufig kennzeichnend für das Ende von Märchen ist. Ein gewöhnlicher' Roman wäre hier zu Ende. Bucholtz aber nutzt die Form des Romans, um ein Erbauungsbuch zu schreiben. So vollzieht er nun abschließend den Gattungswechsel von der erzählenden Prosa des Romans zur meditierenden Repetition der Inhalte christlichen Glaubens. Herkules und Valiska werden zu fürstlichen Theologen, die die heilige Schrift und die Bücher der Kirchenlehrer lesen. Valiska wird zur Übersetzerin und zur Schöpferin eines „Gebeht= und Gesangbuch(s) voller Christlicher Andachten" (Bucholtz: Herkules, II/8, 951). Es ist aber alles verloren gegangen. Dafür wird dem Leser das Glaubensbekenntnis des Herkules vorgelegt, [...] eine Glaubens=bekäntnis / die wol wert ist / daß sie nicht allein alhie aufgesetzet / sondern von dem Leser dieses Buchs mit güldenen Buchstaben ins Herz hinein geschrieben werde/t-..] (Bucholtz: Herkules, Π/8,951).

Dieses Glaubensbekenntnis gliedert sich in 31 Artikel und hat von dieser formalen Seite her in etwa den Umfang der Confessio Augustana. Der inhaltliche Aufbau ist allerdings anders. Er orientiert sich am lutherischen Verständnis der Heilsgeschichte. Mit diesen Artikeln bereitet Bucholtz die christliche Glaubenslehre als loci communes fur Nichttheologen auf, nach dem Verständnis wie es Melanchthon 1521 in seinen Elementa Rhetorices entwickelt hatte. Danach dienen loci communes dazu, die allgemeinen Grundbegriffe und Grundschemata eines Wissensgebiets überschaubar und handhabbar zu machen.8 Genau das tut Bucholtz hier. Den

„Ac voco locos communes, non tantum virtutes et vicia, sed in omni doctrinae genere praecipua capita, quae fontes et summam artis continent" (Corpus Reformatonim ΧΠΙ, Halle 1846, Sp. 452).

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Schwerpunkt legt er dabei entsprechend seiner pädagogischen Zielsetzung auf den durch die Artikel 27 und 28 vorbereiteten Artikel 29. Artikel 27 bringt eine summarische Definition, was es heißt, Kind Gottes zu sein: XXVII. Wann nun ein Mensch / Gott und seinen Heyland erkennet / an denselben gläubet / die Sünde meidet / und in der Furcht Gottes from und heilig lebet; auch da er gesündiget hat / sich davon bekehret / und sich wieder zur Gottseligkeit wendet / in festem Vertraue auff Gottes Barmherzigkeit und auff Christus Verdienst sich verlassend / und unter dem zeitlichen Kreuz oder Zuchtruhte Gottes geduldig außhält; alsdann ist er ein Kind Gottes / und wird nach diesem Leben die ewige Seligkeit erlangen (Bucholtz: Herkules, II/8, 955).

Artikel 28 expliziert das Fundament dieses Christ-Seins als vernünftigen Glauben an die Rechtfertigung. Die Erklärung erfolgt in Form einer Negation, die schon sprachlich den Scheidecharakter des Glaubensgegenstandes zwischen Unheil und Heil deutlich macht: XXIIX. Hingegen ist es unmöglich / daß ein erwachsener Mensch / der seiner Vernunft zu gebrauchen weiß / solte können selig werden / der seinen Gott und Heyland nicht erkennet (Bucholtz: Herkules, II/8, 955).

Was der Kern dieser Erkenntnis ist, vermittelt die Kombination des durch die direkte Eintragung des Namens Jesus Christus veränderten Verses Rom 1, 17 a9 mit der wörtlichen Zitierung von Rom 3, 24. Bekräftigt wird das sola gratia durch die ebenfalls wortgetreue Zitierung von Gal 2, 16 und gewissermaßen versiegelt durch nochmalige Betonung des Scheidecharakters der hier verhandelten Materie bzw. der Stellung, die man dazu einnimmt mit Joh 3,16. 18 a: Also hat Gott die Welt geliebet / daß er seinen eingebornen Sohn gab / auff dz alle die an ihn gläuben / nit verlohren werden / sondern das ewige Leben haben. Wer an ihn gläubet / der wird nicht gerichtet / wer aber nicht gläubet / der ist schon gerichtet (Bucholtz: Herkules, II/8,956).

Es ist sicher auch kein Zufall, daß an dieser letzten, entscheidenden Stelle von Bucholtz nicht Paulus, sondern Jesus selbst das letzte Wort gelassen wird. Artikel 29 gibt die Anleitung zum praktischen Christ-Sein nach diesem grundlegenden Akt von Erkenntnis, Anerkenntnis und Bekenntnis der Rechtfertigung. Er ist formal der längste Artikel und nimmt fast eine der insgesamt sechs Druckseiten ein, über die sich das Bekenntnis erstreckt. Die zentrale Aussage lautet: Und wann ein Mensch durch den Glauben ist gerecht worden / so muß er ja [...] nicht gedenken / daß es nun mit seiner Seligkeit alles gute Richtigkeit habe / und Gott der Herr nichts mehr von ihm erfodere / als nur solchen vertraulichen Glauben an seinen Sohn. Nein Ο nein! sondern da muß ein Mensch der von Gott ist gerecht gemacht / derselbe sol und muß nohtwendig sich aller Christlichen geistlichen guten Werke nach äusserstem Vermögen befleissigen / so daß er nach Erfoderung der heiligen zehn Gebohte Gottes / alle Boßheit und Ubeltaht meide / und dagegen in allen Christlichen Tugenden sich übe (Bucholtz: Herkules, II/8, 956).

„Die Gerechtigkeit die vor Gott gilt / komt durch den Glauben an Jesus Christ / zu allen und auff alle die da gläuben" (Bucholtz: Herkules, II/8, 955).

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Das ist zugleich die Aussage, auf die die Handlung des gesamten Romans, wenn man sie von Bucholtz' pädagogischer Absicht her betrachtet, zuläuft. Die Einordnung der Werke war für die lutherische Theologie bedingt durch ihre absolute Konzentration auf das sola gratia / sola fide von jeher ein schwieriges Thema gewesen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts war es zu einem heftigen Konflikt darum gekommen, dem sogenannten Majoristischen Streit. Hier prallten zwei Positionen aufeinander, von denen die eine gute Werke geradezu als schädlich für die Erlangung der Seligkeit ansehen konnte, weil sie sie als Gefahr für das alleinige Verlassen auf den reinen Glauben ansah. Die andere apostrophierte gute Werke aber als notwendig zur Erlangung der Seligkeit, weil sie zur Bewahrung des Glaubens unerläßlich seien. Die Konkordienformel verwarf 1577 in Solida Declaratio IV Von guten Werken10 beide Standpunkte ausdrücklich, hielt genauso ausdrücklich am sola fideu fest und suchte doch hinsichtlich der Werke einen Mittelweg zu beschreiten: Und ist derhalben erstlich dieser falscher epikurischer Wahn emstlich zu strafen und zu verwerfen, [...] es könne der Glaube und die entpfangene Gerechtigkeit und Seligkeit durch keine, auch mutwillige und fiirsätzliche Sünde oder böse Werke verloren werden, sondern wenn ein Christ gleich ohne Furcht und Scham den bösen Lüsten folge, den Heiligen Geist widerstrebe und auf Sünde widers Gewissen fursälzlich sich begebe, daß er gleichwohl nichtsdestoweniger Glauben, Gottes Genade, Gerechtigkeit und Seligkeit behalte.12

Das heißt, wenn auch die Seligkeit allein aus dem Glauben kommt und durch gute Werke nicht zu erlangen ist, so gilt doch, daß das Unterlassen guter Werke aus falscher Sicherheit die Seligkeit gefährdet, ja hinwegnimmt. Bucholtz rezipiert mit seiner Ausführung diesen Versuch der Konkordienformel, Glaube und Werke zusammenzuhalten, ebenfalls so, daß das sola fide nicht aufgegeben und die guten Werke damit nicht als heilsnotwendig, aber als unumgänglich dargestellt werden, wenn er in seinem 29. Artikel fortsetzt: Dann wer in Sünden verharret / der verdirbet dadurch seinen Glauben / und fallet auß der Gnade Gottes / ja er verleuret die durch den Glauben empfangene Gerechtigkeit (Bucholtz: Herkules, II/8, 958).

Die Helden des Romans könnten aus Luthers Vorrede zum Römerbrief, die in Solida Declaratio IV zitiert wird, konzipiert sein. Jedenfalls personalisieren sich in ihnen die folgenden Sätze, mit denen Luther erklären will, daß es so unmöglich sei, Glaube und Werke voneinander zu trennen wie das Brennen und Leuchten von Feuer: Glaub ist eine lebendige erwegene Zuvorsicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal darüber stürbe. Und solliche Zuversicht und Erkenntnus göttlicher Gnaden machet

10

11 12

Niesei (Hg.): BSLK, S. 936-950. Hier sind beide Positionen im Ductus der Reflexionen, S. 936ff. mit nachgezeichnet. Vgl. auch Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Jena 1733-1739. Bd. I-V. Stuttgart-Bad Cannstatt 19721985. Bd. I: 1972, S. 98-109; und in erweiterter Form in Bd. IV,1: 1985, S. 182-223. Ebd., S. 945. Ebd., S. 947.

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fröhlich, trutzig und lustig gegen Gott und allen Kreaturen, wölchs der Heilige Geist tut im Glauben, daher der Mensch ohne Zwang willig und lustig wird, jederman Guts zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Lieb und zu Lob, der ihm solche Gnad erzeiget hat.13

Allerdings wird die Tendenz sichtbar, sein pädagogisches Leitmotiv, die christliche Tugend, zu verselbständigen. Der Zusammenhang, daß die Werke die geistgewirkten guten Früchte des Glaubens sind, kommt explizit in der Romanhandlung kaum noch an einigen Stellen zum Tragen. So wenn Herkules sich bei der Bekehrung Ladisias als Werkzeug des Heiligen Geistes versteht. Durch seine Person hat letztendlich Jesus den Freund gerettet (Bucholtz: Herkules, 1/3, 674). Zumeist wird der Geist aber vom Tugendglanz der Helden überstrahlt, und auch in diesem 29. Artikel taucht er nur noch einmal mit der Zitierung von Rom 8, 13 auf. Hier ist vom Geist in der Negation der Taten des Fleisches die Rede. Der Artikel schließt sehr schön mit 2 Tim 4, 7-8: Ich habe einen guten Kampff gekämpft / ich habe den Lauff vollendet / ich habe Glauben gehalten / hinfort ist mir bey geleget die Krone der Gerechtigkeit / welche mir der Herr an jenem Tage der gerechte Richter geben wird / nicht mir aber allein / sondern auch allen die seine Erscheinung lieb haben (Bucholtz: Herkules, II/8, 956f.).

Im Roman erscheint die Tugend bereits als eine biblischen Einbindungen gegenüber relativ selbständige Größe. D. h. die Tugend hat als Haltung und in ihrem Tätig-Sein einen Eigenwert, den die entsprechende Lebenshaltung durch gute Werke aus Glauben in der lutherischen Theologie nicht hat! Die Helden der Bucholtzschen Romane erliegen aber noch nicht einem Synergismus aus Tugend, wie ihn zwei Generationen später die Aufklärungstheologie bringt. Die Wurzeln dieser Entwicklung werden hier allerdings schon sichtbar. Bucholtz hat davon jedoch nichts geahnt, denn er schließt das Bekenntnis mit der Ermahnung zur Rechtgläubigkeit und der Warnung vor Ketzerei: XXXI Dieses ist der kurze Begriff der Christlichen Lehre / welche ein Mensch behueff seiner ewigen Seligkeit wissen / gläuben und leisten mus; bey welcher Einfalt die Ungelehrten verbleiben / und nicht durch ketzerische Irgeister und Schwärmer sich verleiten lassen sollen / als dann werden sie ausser zweifei des ewigen Lebens versichert seyn (Bucholtz: Herkules, Π/8,957).

5. Dem Leser obliegt es, mit dem Gelesenen entsprechend umzugehen und es umzusetzen. Bucholtz formuliert seine diesbezügliche Hoffnung und seine Erwartung schon im Vorwort eindeutig und unter besonderer Berücksichtigung der adligen Leser:

13

Ebd., S. 941-942; das Originalzitat: Vorrede auf die Epistel, S. Pauli an die Römer 1522, Martin Luther: Deutsche Bibel. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 7. Weimar 1931, S. 10.

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[...] wird Gott das Gedeyen geben / wie ich der ungezweifelten Hoffnung bin / daß noch marmicher Leser / wann ers selber nicht meynet / zur geistlichen Besserung wird gerühret werden; welches zu erfahren / dem UhrSchreiber die grosseste Vergnügung seyn wird. Sölten auch hohe Leute und FürstenStandes diß mein Buch zu lesen wirdigen / wird ihnen vielleicht ein ziemlicher Abriß vorgestellet seyn / daher sie ihre gebührliche Vollkommenheit anzumercken / und jhr Lobwürdiges fortzusetzen / das Unständige aber abzulegen Anlaß nehmen können (Freundliche Erinnerung, Bl. [o] ij). 14 I m Tonfall mahnender Erwartung heißt es am Ende: Wir sehen aus diesen und anderen dergleichen Gebehten / welche an unterschiedlichen Orten dieses Werks gelesen werden / was vor inbrünstige Gottesfurcht unser Herkules in seinem Herzen gefuhret / und dadurch allen Rittersleuten sich als ein Beispiel und Vorbilde zur Christlichen Nachfolge vorgestellet hat / welches sie wol beherzigen möchten / damit sie nicht nach Art der Boshaftigen / an stat des heiligen Gebehts nur ein stätes erschreckliches Fluchen / Lästern und Schwören von sich hören lassen / wie die gottlosen Marterhansen / welche ihnen dadurch Gottes Ungnade und die hellische Verdamnis über den Hals zihen / auch aller redlichen Menschen Feindschaft damit verdienen (Bucholtz: Herkules, II/8, 960). Es entfällt eine gesonderte Vermahnung an fürstliche Standespersonen, und damit kommt es zur Nivellierung der gesellschaftlichen Zweiteilung des Vorworts. Herkules, Valiska und ihre Gefährten sind letztlich Identifikationsfiguren fur Leser aller Schichten. Bestenfalls durften sie sich nach der Lektüre alle in j e ihrem Alltag als christliche Ritter fühlen und sollten sich hier durch Tugendhaftigkeit bewähren. Der Konzeption des Herkules

schließt sich nahtlos der B e g i n n des

Herku-

liskus an. In d e s s e n Vorrede „ A n den Leser" legt Bucholtz das öffentliche B e kenntnis dazu ab, daß er seine R o m a n e als Erbauungsbücher versteht: Daß nun dieser Herkulißkus15 / gleich wie dessen Vater Herkules / umb erbauliche Lehr= Unterrichtungen und Anmerkungen anzuführen / eigentlich geschrieben sey / die Erlustigung aber / so aus den Geschichts=Erzählungen entsteht / zur Befoderung jener heilsamen Aufmerkungen dienen solle / wird der verständige Leser ohn Erinnerung sehen / und solches um so viel weniger tadeln / weil gleich zu dem Ende unser Heyland selbst die anmuhtigen Gleichnissen seinen Zuhörern vorzustellen / in stetem Brauch gehabt hat (Bucholtz: Herkuliskus, Bl. b ij r). D i e s kennzeichnet die Ausnahme- und Sonderstellung der Bucholtzschen Romane innerhalb der Romanliteratur des 17. Jahrhunderts. Sie wurden auch entsprechend angenommen und rezipiert, ζ. B. w e n n sie in einem Wittenberger Professorenhaushalt als Tischlektüre während der Beköstigung der im Hospitium befindlichen Studenten gelesen wurden. 1 6 D i e bleibende Leistung des Bucholtzschen Konzepts besteht darin, daß er die ursprüngliche Vorstellung v o n Poesie, w i e sie Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen

Poeterey

1 6 2 4 entwickelt hatte, nun für den Bereich der Pro-

sa umsetzt.

14

15 16

Bucholtz: Herkules, Vorrede: Freundliche Erinnerung An den Christlichen Tugendliebenden Leser des Teutschen Herkules / Welcher gebeten wird / diese Geschichte nicht vorzunehmen / ehe und bevor er folgende kurtze Vermahnung durchgelesen und vernommen hat. Fettdruck der beiden Romankurztitel im Original. Vgl.: Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873, S. 122.

Lutherische Anthropologie

als Medium von Erbauung

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Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie vnd vnterricht von Göttlichen Sachen. Dann weil die erste und rawe [...] Welt gröber vnd vngeschlachter war, als das sie hette die lehren von weißheit vnd himmlischen dingen recht fassen und verstehen können, so haben weise Männer, was sie zue erbawung der Gottesfurcht, gutter sitten vnd wandels erfunden, in reime vnd fabeln, welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist, verstecken und verbergen müssen. 17 Die pädagogische Funktion der Poesie bei Opitz übernimmt der Roman bei Bucholtz. D i e konkrete Ausführung des Opitz'schen Ansatzes erfolgt dabei mittels der lutherischen Anthropologie. Somit vollzieht sich mit dem Herkules ein epochaler Wandel für die Gattung des Romans in Deutschland. Man kann nicht mehr nur unterhaltend, man will erbauend und bildend sein. Hinter den Anspruch der Bildung v o n Charakter und Intellekt des Lesepublikums gibt es kein zurück mehr. D i e großen Romane der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts v o n Philipp v o n Zesen über Anton Ulrich bis zu Ziegler und Lohenstein b e w e i s e n das. 18 D i e s e Bildung bleibt zugleich thematisch mit einem religiös-theologischen Hintergrund verbunden. D i e Scheidung v o n christlicher Bildung und Literatur erfolgte bekanntlich erst im Zuge der Aufklärung, deren Literaten den Theologen bei der Bildungsarbeit an den Menschen aller Schichten an die Seite traten oder sie darin gänzlich zu beerben suchten.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), hg. im Gedenkjahr d. Augsburg. Konfession 1930. Göttingen '1982 (Göttinger theologische Lehrbücher). Bucholtz, Andreas Heinrich: Des Christlichen Teutschen Grosz=Fürsten HERKVLES Und Der Böhmischen Königlichen Fräulein VALJSKA Wunder=Geschichte In acht Bücher und zween Teile abgefasset Und allen Gott= und Tugendliebenden Seelen zur Christ= und ehrlichen Ergezligkeit ans Licht gestellet. Braunschweig / Gedruckt durch Christoff Friedrich Zilliger / Buchhändlern allda. ANNO Μ DC LIX. (Dünnhaupt Nr. 47.1). Reprint der Erstausgabe, hg. v. Ulrich Mache. Bern u. Frankfurt a. M. 1973-1979 (Neudrucke Deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 6/1). Bucholtz, Andreas Heinrich: Der Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus Und Herkuladisla Auch Ihrer Hochfurstlichen Gesellschafft anmuhtige Wunder=Geschichte. In sechs Bücher abgefasset Und allen Gott= und Tugendergebenen Seelen zur anfrischung der Gottesfurcht und ehrliebenden Ergezligkeit aufgesetzet. Herausgegeben und verlegt Von Christoff=Friedrich Zilliger und Caspar Gruber Buchhändlern. Braunschweig / Im Jahr Μ DC LXV. (Dünnhaupt Nr. 66.1). Reprint der Erstausgabe, hg. v. Ulrich Mache. Bern u. Frankfurt a. M. 1982 (Neudrucke Deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 12/1—II). Luther, Martin: Die Deutsche Bibel. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Bd. 7. Weimar 1931.

17

18

Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. Abdruck der ersten Ausgabe (1624). Halle 1955, S. 7-8. Vgl. Felix Bobertag: Geschichte des Romans und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland. Erste Abtheilung. Bis zum Anfange des XVIII. Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin 1884, S. 51-143, 158-263.

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Andreas

Lindner

Opitz, Martin: Buch von der deutschen Poeterei. Abdruck der ersten Ausgabe 1624. Halle 1955. Walch, Johann Georg: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Jena 1733-1739. Bd. I-V. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972-1985.

Sekundärliteratur ADB (Allgemeine Deutsche Biographie). Bd. 3. Leipzig 1876. Bobertag, Felix: Geschichte des Romans und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland. Erste Abtheilung. Bis zum Anfange des XVm. Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin 1884. Dibelius, Franz: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Berlin 1873. Hankammer, Paul: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Epochen der deutschen Literatur II/2: Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1935. Wagener, Hans: The German Baroque Novel. New York 1973. Zedier, Johann Heinrich: Großes vollständiges UNIVERSAL LEXJKON Aller Wissenschaften und Künste. Halle und Leipzig 1733.

Cornelia Niekus Moore

Ein Spiegel rein und tugendklar Die Biographie als Erbauung in der lutherischen Leichenpredigt

Der Titel meines Aufsatzes besteht aus drei Komponenten: dem Zitat, der Leichenpredigt-cum-Lebenslauf und der Erbauung. Alle drei sind erklärungsbedürftig. Zuerst soll die am leichtesten zu erklärende Komponente besprochen werden, das Zitat. Als Spiegel rein und tugendklar hat Thomas Stybarus 1593 das Leben der Verstorbenen in seinem Werk Historische Erzehlung und Leijchpredigten Etlicher Hocherleuchter Keyser, Könige und Churßirsten / Sampt Ihren Christlichen Leben, Wandel und tröstlichem Abgang beschrieben.1 In seiner Einführung betonte er, die Leichenpredigten gehörten zu einer langen, auf biblischen und altchristlichen Beerdigungspraktiken beruhenden Tradition, die nicht nur den Verstorbenen „ehrlich gedencken", sondern auch den Hinterbliebenen zum Trost und Exempel dienen. Gerade das zum besseren Leben ermutigende Exempel sei wichtig. Aus diesen Fundus hole er die Rechtfertigimg, ja geradezu deren Wünschenswertigkeit, nicht nur für die Leichenpredigt-mit-Lebensbeschreibung auf der Kanzel, sondern auch für den nachherigen Sammeldruck. Die Leichenpredigtbiographie ist die zweite Komponente.2 Während der etwa zweihundert Jahre dauernden Tradition (um 1550 bis um 1750) wurde in der lutherischen Kirche bei der Beerdigimg eine Predigt gehalten, die nicht nur eine mehr oder weniger ausführliche Exegese eines Bibelwortes enthielt, sondern in vielen Fällen auch eine kurze oder längere Biographie, die in ganz bestimmten Topoi auf das Leben des/der Verstorbenen einging.3 Viele dieser Predigten-

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Thomas Stybarus, Superintendent in Pyrbaum: Historische Erzehlung und Leijchpredigten Etlicher Hocherleuchter Keyser, Könige und Churfürsten / Sampt ihren Christlichen Leben, Wandel und tödtlichem Abgang [...] Leipzig 1593 = Stolberg: LP 866-878. Alle mit LP angeführte Signaturen sind Teil der Stolbergschen Leichenpredigtsammlung, die sich als permanente Leihgabe in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, befindet. Die Bestände der Herzog August Bibliothek sind mit HAB angeführt. Für die Herkunft dieser vornehmlich lutherischen Beerdigungpraxis siehe Horst SchmidtGrave: Leichenreden und Leichenpredigten Tübinger Professoren (1550-1750). Untersuchungen zur biographischen Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit. Tübingen 1974. Vgl. auch Cornelia N. Moore: Das erzählte Leben in der lutherischen Leichenpredigt. Anfang und Entwicklung im 16. Jahrhundert, in: Wolfenbütteler Barocknachrichten 29 (2002), S.3-32. Gerade das Marburger Institut unter Leitung von Rudolf Lenz hat vieles zur Erschließung der Biographien der Leichenpredigten beigetragen. In der Reihe Marburger Personalschriften-Forschungen, hg. v. Rudolf Lenz (Sigmaringen 1978fT.) sind Kataloge der Leichenpredigtbestände mehrerer Bibliotheken erschienen. Vgl. auch Rudolf Lenz (Hg.): Marburger Personalschriftensymposion. Bd. I. Köln 1975, Bd. II Marburg 1979, Bd. III Marburg 1984. Siehe auch: Rudolf Lenz: Zur Funktion des Lebenslaufes in Leichenpredigten, in:

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cum-Lebenslauf erschienen dann als Kasualdrucke.4 In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung sich ausfuhrlich gerade mit den in den Leichenpredigten erzählten Biographien beschäftigt und diese Fundgrube von Daten und Fakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert dazu benutzt, viele Aspekte des Lebens in der Frühen Neuzeit zu ergründen. Auch wird in zunehmendem Maße auf formale und inhaltliche Unterschiede sowie auf lokal- und zeitbedingte Besonderheiten innerhalb dieser reichen Predigttradition verwiesen und ihr Platz innerhalb einer vielfältigen Funeraldruck-Tradition betont.5 Um das Erbauungsziel des erzählten Lebens besser verstehen zu können, werde ich mich jedoch nicht so sehr mit den Verstorbenen und ihren Lebensdaten beschäftigen, sondern mehr mit den Predigern, die, wie oben schon erwähnt, diese Biographien zu bestimmten Zwekken anführten. Es geht mir nicht so sehr darum, zu ergründen, wie der Prediger zu seinen biographischen Fakten kam, sondern wozu er sie benutzte. Ich beschränke mich hier auf die Predigten, die offensichtlich als oratorischer Teil einer lutherischen Beerdigungszeremonie gehalten wurden. Wie Stybarus rechtfertigen die meisten Prediger sie mit (erstens) der Erwähnung einer langen, bis auf die Bibel und die frühe Kirche zurückgehenden Tradition von Beerdigungspraktiken und (zweitens) mit der dargebotenen Gelegenheit für Trost, Exegese und Erbauung. Und dabei sind wir bei der dritten Komponente des Titels: die Erbauung. Bei einer Definition von Erbauung schauen wir jedoch nicht so sehr in einen klaren Spiegel, sondern sehen vielmehr, um mit 1 Kor 13 zu reden, „durch einen Spiegel in einem duncklen Wort". Oft wird die moderne Verallgemeinerung und Ungenauigkeit des Begriffes Erbauung bedauert.6 Ähnlich ergeht es der Definition von Erbauungsliteratur. Dieser Terminus bezeichnet heute oft schon alle Literatur, die auf „Frömmigkeit als die Gesamtheit des religiösen Verhaltens [...] abzielt, religiös gerichtete Strebungen des Gläubigen fordert [...] oder zur Vervollkommnung des Christlichen Tugendlebens anleitet".7 Die neueste Ausgabe von Religion in Geschichte und Gegenwart definiert die Erbauungsliteratur als „alle christliche Literatur, die [...] dem Aufbau und der Pflege der Frömmigkeit und einem dadurch geprägten Verhalten dienen will". Erbauungsliteratur spreche „in unterschiedlicher Weise Intellekt, Willen und Affekt an".8 Es wird eingeräumt, daß dieses Phänomen der .Ansprache' für verschiedene Zeiten jeweils verschieden sein konnte und auch war.

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Wer schreibt meine Lebensgeschichte?, in: Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, hg. v. Walter Sparn. Gütersloh 1990, S. 93-194. Der Gesamtbestand in deutschen Bibliotheken und Archiven wird auf 220.000 bis 250.000 geschätzt. Rudolf Lenz: Leichenpredigten. Eine Bestandaufnahme. Bibliographie und Ergebnisse einer Umfrage. Marburg 1980. Franz M. Eybl: Leichenpredigt, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding. Bd. 5. Darmstadt 2001, S. 124-145. Hermann Haiher: Erbauung, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 1058. Ute Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 1058-1065, hier S. 1058. Ulrich Köpf / Josef Weismayer / Albrecht Beutel: Erbauungsliteratur, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Hans Dieter Betz u. a. Bd. 2. Tübingen. "1999, S. 1386-1388.

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Den oben erwähnten Definitionen ist gemeinsam, daß Erbauungsliteratur danach definiert wird, was sie bezwecken soll, nämlich in den Zuhörern bzw. Lesern - um es kurz zu formulieren - eine Veränderung hervorzurufen, die zu einer Besserung des Individuums oder der Gemeinschaft und so zu einer Besserung der Lebensgestaltung führt. Wenn auch sehr generell, gibt das einen Anhaltspunkt, um zu sehen, wie die Leichenpredigt des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts - und gerade die biographischen Teile davon - diese .Veränderung' auch herbeiführt. Im 16. und 17. Jahrhundert kommt der Terminus ,Erbauung' in den Leichenpredigten nur ab und zu vor, und zwar im Sinne der oben erwähnten Definition, wobei die ganze Gemeinde angesprochen wird, jedoch jedes einzelne Gemeindemitglied aus dem Gebotenen seine eigenen Konsequenzen ziehen sollte.9 So sagt ζ. B. der Magdeburger Domprediger Philipp Hahn 1603: die Leichpredigten [werden] bey frommer Christen Begräbnissen / nicht fürnehmlich unnd allein zu dem Ende angestellet / das sie nur der Verstorbenen Lobepredigten seyn sollen: Sondern den Betrübten zu Trost / und allen Christlichen Zuhörern in gemein zu heilsamer Erbawung gereichen mögen.10

Für den auch als Romanautor bekannten Braunschweiger Prediger Andreas Heinrich Bucholtz dienten 1655 seine Leichenpredigten als Trost für betrübte Hinterbliebene und „allen zur Erbauung".11 Auch der Dresdener Stadtprediger Bernhard Schmidt hielt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts seine Leichenpredigten „Gott zu Ehren / Triumphirenden Seelen zum Nachruhm / und Andächtigen Christen zur Erbauung".12 Bei den Pietisten kam der Terminus häufiger vor. August Hermann Francke ζ. B. hob die Umstände des Lebens und seligen Abschieds in den Leichenpredigten als ,erbaulich' hervor.13 Im 18. Jahrhundert wurden Erbauung' und das Adjektiv ,erbaulich' zu häufig benutzten Modeworten. 1734 gab Bernhard Walther Marperger seiner Leichenpredigt auf den Hofprediger Johann Andreas Gleich den Titel „Die beste Erbauung bey dem Grab eines treuen Lehrers" und behauptete, „daß vornehmlich in den Leich-Predigten die wahre Seelenerbauung mit allen Angelegenheit zu suchen sey".14 Die homiletischen Lehr-

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Nach E. Chr. Achelis wäre das Wort .Erbauung' bei Luther nicht häufig und erst zur Zeit Speners „vollständig fixiert". Siehe: E. Chr. Achelis: Erbauung, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. V. Leipzig 1898, S. 446-448. Philip Hahn, Domprediger in Magdeburg: LP Armgard Schenck (gest. 1603), Gatte: Hans von der Schulenburg. Magdeburg 1604 = Stolberg: LP 1009. Andreas H. Bucholtz, Prediger (später Koadjutor und Superintendent) in Braunschweig: LP Hans Ahrendt, Bürgermeister (1575-1655). Braunschweig 1655, S. 4 = Stolberg: LP 3684. Bernhard Schmidt (Schmied), Archidiakon zu Dresden: Creutz- und Todes=Schule / Das ist Unterschiedliche Leich=Predigten. Frankfurt a. M. 1680 = Stolbeig: LP 2431-2453. Der Dresdener Hofprediger Jakob Weller von Molsdorf bezog die Erbauung allein auf die Predigt: „Gott zu Ehren, Uns zu Trost und seliger Erbauung" in LP Anna Christina von Taube (1629-1657), Gatte: Christoph von Eckstädt, Kurf. Oberstallmeister, Kammetherr und Hofmeister. Dresden 1657 = HAB: Xa 1:44(1). August Hermann Francke: Gedächtnis und Leichen=Predigten, nebst denen mehrenteils besonders beygefugten erbaulichen Umständen des Lebens und seligen Abschieds mancher Christlichen Personen. Halle 1723. Bernhard Walther Marperger, Oberhofprediger Dresden: Die beste Erbauung bey dem Grab eines treuen Lehrers. LP Johann Andreas Gleich (gest. 1734). Dresden 1734 = Stolberg: LP 10743.

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bücher des 18. Jahrhunderts befürworteten die Leichenpredigten gerade wegen der Erbauung, die sie herbeifuhren konnten. So definierte ζ. B. Johann Emst Schubert in Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit 1743 eine Leichenpredigt als „diejenige in der man die Gemein des Herrn durch das Andenken eines verstorbenen Mitgliedes der christlichen Kirche erbauet".15 In Christoph T. Seidels Anweisungen zum erbaulichen Predigen (1758) zeigte sich noch die gleiche Absicht: Der Endzweck einer Leichenpredigt ist, daß die Gemeinde durch das Exempel des Verstorbenen erbauet, dem Verstorbenen ein Ehrengedächtnis gestiftet, und die Hinterlassenen getröstet werden. Und also wird ein Lehrer bey einer Leichenpredigt (1) einen Text erwählen der sich auf die Umstände des Verstorbenen schicket. (2) In dem exordio des Falles erwehnen, der sich mit demselben zugetragen hat. (3) Den Text kürzlich erklären, und auf die Erbauung der Zuhörer anwenden. (4) In der Application eine Vergleichung zwischen dem vorgetragenen Satze und den Umbständen des Verstorbenen anstellen, und dabey die Regeln der Warheit, der Liebe beobachten. (5) Und daraus die Trostgründe für die Hinterlassenen herleiten. 16

Was in all diesen Erklärungen auffallt, ist die Anerkennung, daß eine Leichenpredigt mehrere Zwecke haben konnte, die man kurz mit „den Verstorbenen zum Gedächtnis", „den Zuhörern zu Erbauung" und „den Hinterbliebenen zum Trost" beschreiben konnte.17 Auch ist deutlich, daß das Beispiel des Verstorbenen und des gerade beendeten Lebens für die Erfüllung dieser Zwecke eine bedeutende Rolle spielten. Der Prediger war davon überzeugt, daß dieses Lernen nicht nur ein Wissen war, sondern auch eine Gewißheit, die das Leben änderte. Er wollte die Zuhörer nicht nur überzeugen, sondern durch die Predigt zu einem bestimmten erbaulichen Ziel hinführen.

I.

Ich möchte diese Ziele jetzt paarweise näher beleuchten, um zu zeigen, wie die Prediger versuchten, zwischen ihnen ein Gleichgewicht zu finden. Zunächst die Erbauung der Zuhörer und das Gedächtnis der Toten. Die Leichenpredigt, das heißt die von Luther empfohlene Erklärung eines passenden Bibelwortes, hat sich schon bald nach der Reformation eingebürgert.

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Johann Ernst Schubert: Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit. Jena 1743. Christoph T. Seidel: Anweisung zum erbaulichen Predigen, hg. v. Conrad Nahmmacher. Halle und Helmstedt 1758, S. 150-151. Ζ. B. Petrus Haberkorn, Pfarrer in Gießen: LP Anna Maria von Pleß (1633-1646). Gießen, 1646 = HAB: Db 3562. „Ihm zuforderst zu Lob und Preiß / und andern zur Christlichen Nachfolg / auch den Gerechten selbst zum gebührlichen Ehren und Ruhm", S. 46. Vgl. auch Luderus Wiggers, Pastor in Niende: LP Haro Javen, Richter in Rüstringen (gest. 1664). Bremen 1665 = HAB: Da 595 (18). Vorrede: „Auff daß wir nun deß seelig verstorbenen Leichnamb durch ehrliche Bestattung Christ=gebührlicher massen die letzte Ehre beweisen / die darüber in betrübnis und leidwesen gesetzete nachgelassene Witwe / Kinder und Anverwandte nach müglichkeit mit Gottes Wort trösten / auch uns sämptlich bey solcher Gelegenheit der Unbeständigkeit / Nicht= und Flüchtigkeit unsers Leben erinnern / und darauß im Christenthumb erbauen mögen / zu dem ende sind wir anjetzo an dieser heiligen Stäte versamblet."

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Das Exegetische an ihr und das Erbauliche wurden selten in Frage gestellt. In dem exegetischen Teil wurden die verschiedenen Punkte der Bibelpassage erklärt. Dabei wurden meistens die Begriffe .lernen' und ,(ver)bessern' benutzt. Das Gelernte sollte dann zu einer besseren Lebenseinstellung fuhren. Leichenpredigten waren jedoch Casualpredigten. Die Gelegenheit, bei der sie vorgetragen wurden, die Beerdigung, hatte eine spezielle Prägnanz, die die Zuhörer beeindrucken sollte. So sagte Philipp Hahn 1603: Denn die Leichbegengnisse / Klag und Trawerpredigten über den Verstorbenen / haben den heilsamen Nutzen und Vortheil vor andern Ceremonien und Predigten in der Kirchen / das sie mehr afficiren und neher zu Hertzen gehen / indem sie gleichsam im Werck für Augen furstellen, was sonst nur mit Worten in die Ohren geredet wird / [ . . . ] solche gegenwertige Exempel und Predigen treffen das Hertz und bewegen dennoch manchen Menschen / das er in sich schlegt / sein vorstehendes Stündlein bedencket / sein Leben bessert / und in Hoffnung der frölichen Aufferstehung zum seligen Abschied bereitet und getrost ist. 18

Obwohl, wie wir gesehen haben, er das Wort .Erbauung' kannte und auch manchmal benutzte, bevorzugte Hahn hier Worte wie „afficiren", „das Hertz treffen" und „den Menschen bewegen". Der Dresdener Stadtprediger Bernhard Schmidt drückte es etwa achzig Jahre später fast gleich aus; auch er wollte trösten, ermahnen und lehren, wobei „Vermahnungen dann zu solcher Zeit desto mehr zu Hertzen gehen / weil sie nicht nur das Ohr höret / sondern auch das Auge an dem Exempel deß verblassenen Cörpers gleichsam gegenwärtig siehet / über diß auch das Hertz durch Betrübniß und Mitleyden gerühret / und also zur Andacht zubereitet ist".19 Solche Aussprüche zeigen, daß man sich des Gefühlsmäßigen, des auf die Affekte Zielenden der Beerdigungen, sehr wohl bewußt war und es auch ausnutzte. Die Trauerfeier, die Anwesenheit der Leiche, die Trauer der Hinterbliebenen, das alles schuf nicht nur eine perfekte Gelegenheit fur die Belehrung, sondern gerade auch für die Erbauung, d. h. für den Prozeß, wobei, wie schon definiert wurde, „in unterschiedlicher Weise Intellekt, Willen und Affekt" angesprochen wurde. Dabei spielten die Anwesenheit des/der allen bekannten Verstorbenen als „gegenwärtiges Exempel" eine eigene Rolle, denn sie half, die ganze Zeremonie zu individualisieren und das „heute Ich, morgen Du" zu veranschaulichen. Die Lebensbeschreibung, die ihren Ursprung in der zur Zeit säkularen oratio funebris hatte, war darum gerade wegen des persönlichen Elements als Teil dieser Zeremonie sehr geeignet.20 Um jedoch den Verstorbenen als Exempel darzustellen, mußte man sein Leben als vorbildhaft erläutern. Die Gemeinde mußte zur Imitatio bewegt und durch das Beispiel zum Nacheifern gereizt werden.21 Und da war es nur ein kleiner Schritt vom Vorbild zum Lob, gerade auch weil der Lebenslauf selbst 18

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Philipp Hahn, Domprediger Magdeburg: LP Barthold Huenicke, Vogt des Domkapitels (1542-1603). Magdeburg 1604 = Stolberg: LP 998. Schmidt: Creutz- und Todes=Schule, LP 2431-2453, S. 3. Siehe Anm. 2 und 3. Rom 11, 14 und 2 Kor 9. Vgl. Johann Georg Francke: LP Charlotte Sophia Alberti (17071729). Halle 1729 = Göttingen: Tom. Fun. II. 109, 16.

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als Nachkömmling der Laudatio sich dazu anbot. Darum mußte der Prediger sich häufig gegen diejenigen verteidigen, die ihm vorwarfen, die Kanzel zum Lob des Menschen zu benutzen, obgleich doch nur das Lob Gottes darauf einen Platz haben sollte. Ganz ohne Lob ging es wohl nicht, wenn man darauf bedacht war, ein nachahmenswertes Beispiel darzustellen.22 Der Prediger beteuerte jedoch immer, daß er selbst solches nie tat. Das Verschönern war deshalb verpönt, weil es gerade nicht zur Erbauung, sondern zur Lächerlichkeit und zu einem falschen Beispiel beitrug. Man könnte aus unverdientem Lob schließen, es wäre leicht, ein Christ genannt zu werden und ein gutes Zeugnis zu bekommen. Leichenpredigten würden so zu „leichten Predigten" und sogar zu „Lügenpredigten" 23 Gerade der Verdacht, daß die in den Lebensläufen erwähnten Tugenden wohl übertrieben sein könnten, erreichte also das Gegenteil von Erbauung. Der Dresdener Stadtprediger Bernhard Schmidt war einer der vielen, die näher auf dieses Problem eingingen: Zwar ich weiss wohl [sagt er] / was ihrer viel von diesen Lobreden halten / und wie spöttlich man sie zuweilen durchhechele. Nemlich / es sey eine art des Fuchsschwanzes / damit man grossen Leuten auch nach ihrem Tode flattire, unnd bey der leydtragenden Familie Gunst und Geld eijage. Mann könne heute zu tage für ein dutzent Thaler das Lob eines frommen und in Gott seligen Menschens im Tode erkauften / Gott gebe das zuvor geführte Leben sey sonst so schlimm gewesen / als es wollte. [...] Dadurch werden allerdings die Laster nobilitiert / Tugend und Gottseligkeit aber in dem ersten Aufkäumen erstickt.24

August Hermann Francke bedauerte, daß man sich wegen solch unbilligen Verdachts nicht so „wie ich herzlich wuenschete / daraus erbauen kann".25 Es war darum unbedingt notwendig, die Leichenpredigten glaubwürdig zu halten. Öffentliche Fehler sollte man beklagen. So wurde ζ. B. das unmäßige Trinken immer wieder von der Kanzel getadelt und das Trinken des Verstorbenen als abschreckendes Beispiel beschrieben. Es wird aber auch immer wieder behauptet, der Verstorbene habe Buße getan und seine Sünde bereut. „So sollen sich nun andere an ihm spiegeln / und zurück dencken." 26 Private Fehler sollte man je-

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„Wir haben nun auch eine Person zur Erden bestattet / einen Mann vom Adel / so weiland unserm gnedigen Fürsten und Herrn über die 30. Jar auffrichtig / redlich / und trewlich gedienet hat. Nun wollen wir von seinem fürnemen Geschlecht und herkommen / Item / wie seine Eltern und verwandten in Böheim Königen und Keysern mit rühm gedienet / nichts sagen. Denn solches hieher nicht gehöret. Sondern allein das berichten / was andern zur besserung durch Gottes gnad dienlich sein mag. Denn wir zum Begrebnis eigentlich nicht kommen der Leute Laudes zulesen, sondern das wir lebendigen aus Gottes wort unterrichtet und gebessert werden." Basilius Sattler, Hofprediger in Wolfenbüttel: LP Carl Capaun von Zwickau (begr. 1590). Juliusfriedenstedt (Wolfenbüttel) 1590 = HAB: 511. 26 Th (6). Friedrich A. Hallbauer: Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen. Jena 1726, S. 519. Hallbauer gibt eine Liste von Leuten, die sich gegen das Uberschwengliche oder unverdiente Loben von Verstorbenen gewandt hatten. Für frühere Kritiken vgl. auch Wilhelm Diehl: Michael Eichlers Kampf gegen die Leichenpredigten des Herrn Süßmann und Leisetretter (1581), in: Monatschrift für Gottesdienst und Kirchliche Kunst (Göttingen 1897), S. 85-90. Dieses Thema taucht immer wieder in den Predigten auf. Schmidt: Creutz- und Todes=Schule, LP 2431-2453, S. IV u. V. Siehe Francke: Gedächtnis, S. 5. Neben dem wird andern Jungen Gesellen ein Exempel furgehalten / was für schaden aus Trunckenheit erfolget /[...] und nicht allein Junge Gesellen / sondern auch wol alte / tapffe-

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doch mit dem Mantel der Liebe bedecken.27 Das Menschliche an dem Verstorbenen sollte ihn näher bringen, die Zuhörer an ihre eigene Menschlichkeit erinnern und das Ziel des seligen Sterbens auch fur sie als möglich erscheinen lassen. Die meisten Prediger versuchten, das Leben der Verstorbenen aus dem gewählten Text der Predigt zu erläutern. Das ist gerade dann der Fall, wenn auch die gewählte Bibelpassage biographische Züge aufweist, ζ. B. über das Leben von Hiob oder den Apostel Paulus spricht.28 Bei Fürsten sind die Erlebnisse Davids eine immer wiederkehrende Quelle der Vergleiche. Ein einleuchtendes Beispiel sind gerade bei im Kindbett verstorbenen Frauen die Bibelpassagen über Rachel, die alle exempelwürdigen Elemente in sich haben: eine nach vielen Hindernissen glückliche Ehe, eine geliebte Gattin, eine schwere Geburt, ein kleines Baby, einen trauernden Gatten und eine Beerdigung.29 Diese Beziehungen zwischen biblischen und zeitgenössischen Personen bringen das Exempelhafte schon näher, und die Tatsache, daß der große Jacob trauerte und Trost erhielt, soll auch dem Gatten zu Trost und Erbauung helfen. Auch Vergleiche mit Christus waren angebracht. Ganz klar wird dies ζ. B. in einer bei der Beerdigung des Dresdener Hofpredigers Johann Andreas Gleich (gestorben 1734) von Bernhard Walther Marperger gehaltenen Leichenpredigt. Der Titel lautet „Die beste Erbauung beim Grab eines treuen Lehrers". Die Predigt ist eine Erklärung, wie der Lehrer Christus sich am Grab von Lazarus verhielt, und die Biographie, eigentlich eine Autobiographie, wird eingeleitet durch eine vergleichende Erklärung, daß sich das auch auf das Leben des gerade verstorbenen Hofpredigers anwenden ließe.30 So wird die Bibel auch als Biographie Christi dargestellt, zur Lehre und Nachahmung. Nicht jeder war in gleicher Weise darauf bedacht, das Gedenken der Toten und die Erbauung, die die Zuhörer daraus gewinnen konnten, zu verbinden. Philipp Jakob Spener betont im Vorwort seiner Leichenpredigtsammlung zwar die Erbauung, er bezieht sich da jedoch nur auf die Predigt.31 Die Lebensbeschreibungen sieht er nur im Rahmen eines Gedenkens berühmter Männer. Er geht also auf die alte Oratio-Tradition zurück. Dabei bezieht sich seine Rechtfertigung einer Le-

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re und erfarne Leute / die sich andern zugefallen zu tod sauffen müssen / da einer den andern umbseufft, wie man einen bäum umbhewet. [...] Mancher junger Mensch meinet / es muesse alles auff einmal aussgesoffen sein / und können kein mass halten. [...] [Der Verstorbene] hat [aber] Busse gethan. So sollen sich nun andere an ihm spiegeln / und zurück dencken. Siegfried Saccus, Domprediger in Magdeburg: LP Heinrich Beer (1567-1590), Domherr in Magdeburg. Magdeburg 1591 = Stolberg: LP 6212. Vgl. Cornelia N. Moore: The Magdeburger Cathedral Pastor Siegfried Saccus and the Development of the Lutheran Funeral Biography, in: Sixteenth Century Journal, im Druck. Reinhard Bakius, Domprediger in Magdeburg: LP Johann Keck v. Schwartzpach, Dekan der Stiftskirche S. Sebastiani (1563-1616). Magdeburg 1617 = Stolberg: LP 14148. Ders.: LP Franz Beer, Fürstl. Geh. Rat u. Hauptmann (1552-1622). Magdeburg 1622 = Stolberg: LP 1557. Ζ. B. Martinus Faschius: LP Agatha Lorleberg (gest. 1587). Gatte: Antonius Lorleberg, Amtmann zu Helfta. Eisleben 1587 = Stolberg: LP 15472. Johannes Runtorf, Pfarrer in Falkkenhagen: LP Barbara von Wulffen (1585-1619), Gatte: Abraham von Hohendorff. Frankfurt a. d. Oder 1619 = HAB: Xa 1:48 (12). Marperger: LP Johann Andreas Gleich, Stolberg: LP 10743. Philipp Jakob Spener: Zwöllf Christliche Leichenpredigten. Frankfurt 1677 = HAB: Th 1743.

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bensbeschreibung auf die Verdienste der Verstorbenen und die Wahrhaftigkeit der Beschreibung. Ob sie auch erbaulich sein sollte, wird nicht erwähnt. Obwohl gerade im 17. Jahrhundert die meisten Prediger das Wort ,lernen' statt .erbauen' benutzen, ist das, was man bei den Predigten lernt, keine reine Wissenssache. Wie alle Erbauung berührt die vorbildhafte biographische Erzählung auch den Affekt. Man solle nicht nur einsehen, daß man sich Gott zuwenden und sein Leben bessern sollte, diese Einsicht sollte auch Konsequenzen zeigen. Gerade die für reuige Sünder und Missetäter geschriebenen Leichenpredigten bezweckten dies. Das sieht man auch in der Predigt-cum-Lebenslauf des Grafen von Maltitz, der wegen Mordes hingerichtet wurde, vor seinem Tod jedoch in mehreren ausfuhrlich berichteten Zusammenkünften, ζ. B. mit Schulkindern, seine Tat tief bereute.32 Solche Reue rechtfertigte nicht allein seine christliche Beerdigung, sie bewegte auch die Beerdigungs-Teilnehmer sowie (laut Bericht) die Schulkinder.

II. Habe ich bis jetzt gezeigt, wie das Exempelhafte und das Erbauliche einer Leichenpredigt aufeinander abgestimmt waren, möchte ich jetzt auf den anderen Zweck der Leichenpredigt, nämlich das Spenden von Trost und den Bezug zwischen Trost und Erbauung, zu sprechen kommen. Trost wurde geboten, indem man sich die Worte des Evangeliums anhörte und aus dem gut gelebten Leben des Verstorbenen die Sicherheit erhielt, daß der Verstorbene im Glauben gestorben war und jetzt im Herrn schlief. Es ist also eine Gemütserhöhung, die auch wieder zur Erbauung fuhren sollte, eine „heilsame Traurigkeit".33 Man soll sich, und dies ist ein beliebtes Wort bei den Predigern, jetzt ,ermuntern'. Das heißt zuerst, daß man sich aus der Trauer heraushebt, ,munter' wird, und zweitens, daß man zu etwas ermuntert wird, nämlich sich nach dem dargebotenen Exempel zu richten. Dabei sind Predigt und Lebenslauf notwendig. Das zeigt sich gerade bei Predigten für jungverstorbene Kinder, wo man erwarten könnte, daß es über deren kurze Leben wohl wenig zu erwähnen geben würde. Aber auch da ist der Lebenslauf wichtig, und so finden wir, daß in Leichenpredigten auch für ganz junge Kinder nicht so sehr das junge Leben, sondern in anekdotischen Details auch das Sterben erzählt wird, damit gerade die Eltern Trost und Erbauung aus diesem unzweifelhaft christlichen Heimgang schöpfen können.34 Zum Trost gehört auch, daß man nicht zu sehr weinen sollte, 32

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Daß dieses Los gerade einem Adeligen zufiel, machte die Geschichte nicht nur interessanter, es machte auch klar, daß Gerechtigkeit (die von Gott und von den Menschen) für alle gleich gilt. Martin Hammer, Pfarrer in Glaucha: LP Hans Georg von Maltitz (gest. 1604). Leipzig 1604 = Stolberg: LP 15791. Johann Andreas Lucius, Diakon in Dresden: LPen Antonius und Conradus Weck (gest. 1657), Söhne von Antonius Weck, Sachs. Kanzlei-Sekretär. Dresden 1657 = Stolberg: LP 22816/22817. Ζ. B. Gabriel Ursinus, Pf. in Reinhartsgrimma: LP Dorothee Eusebie von Bünau (1630-1631), die zusammen mit ihrer Mutter an den Blattern erkrankte. Dresden 1632 = Stolberg: LP 6711. Der Lebenslauf der Tochter befindet sich auf S. 46-51. Vgl. auch: Samuel Senff, Pfarrer zu Stol-

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also aus dem Leben und Sterben der Verstorbenen lernen sollte, daß ihnen jetzt ein besserer Teil beschert war. Diesen Trost nicht anzunehmen, das heißt, dieses Potential der Erbauung abzulehnen, käme einem Zweifel an Gott und Seinem guten Vorhaben mit dem Menschen gleich. Wie wir sehen, sind die drei immer erwähnten Zwecke der Leichenpredigtcum-Biographie - das Gedenken, Trösten und Erbauen - unmittelbar miteinander verwandt. Nur wenn man des Verstorbenen gedenkt, kann man von der Person lernen, sich zu bessern, und man braucht dazu eine Ermunterung, die gerade durch den Trost geschaffen wird.

III. Aus den gleichen Gründen wurden die Leichenpredigten und die Biographien auch gedruckt. Dies geschah entweder gleich nach der Beerdigung, als Kasualdruck, oder später als Sammelausgaben, in denen entweder allein die Predigten35 oder allein die Biographien36 oder auch Predigten-cum-Biographien erschienen. Ein solcher Druck trennte die Biographie von der Prägnanz der Beerdigung und verallgemeinerte den Trost bis auf die nicht zum Bekanntenkreis gehörenden Leser. Es fand jedoch nicht nur eine Verallgemeinerung, sondern auch eine Individualisierung statt, indem jeder Leser die dargebotenen Exempel und Erbauung beim Alleinlesen auf sich beziehen konnte. Dahero es denn üblich und gebräuchlich / das die gehaltenen Leichenpredigten beschrieben und nach gelegenheit im Druck gefertiget werden. Einmal darum, daß der verstorbenen Gedächtnisse / desto lenger erhalten werde: Darnach auch / daß die Leidtragenden unnd Betrübten darauß sich können Trostes erholen. Unnd dann / das manchem dadurch anleitunge gegeben werde / wenn er höret die Gottseligkeit und Tugenden der verstorbenen rühmen / daß er sich derselbigen auch befleissige / damit er nach seinem ableiben ein gutes Gedächtnis unnd ehrlichen Nahmen hinter sich lassen möge. 37

Und so reihten sich die Beerdigungslebensläufe in die lange Reihe der Biographien ein, die durch die Jahrhunderte ein wesentlicher Bestandteil der Erbauungsliteratur waren. Bis jetzt hatte man sich bei den Märtyrer- und Heiligenvitae nie darum kümmern müssen, ob die Heiligen vielleicht zuviel gelobt wurden. Gerade das Außergewöhnliche trug zu ihrem Wert bei. Sie waren die christlichen Helden.38 Die öffentlich ausgesprochene Tendenz in den lutherischen Le-

35

36

37 38

pen: LP Anna Katharina von Schweinitz (1647-1654), Tochter von Georg Hermann von Schweinitz, Sächs. Obrist. Dresden 1655 = Stolberg: LP 14310. Der Lebenslauf ist 11 Seiten lang. Valerius Herberger, Prediger in Frauenstadt: Geistlicher Trauer-Binden. Das ist schöner Lehr- und Trost-reicher Leichenpredigten, Erster Theil. Frommen Hertzen zu Erbauung des Christenthumbs wieder herausgegeben, Leipzig: Johann Fritzschen, 1669 = HAB: Th 1232. Ζ. B. Anonym: Der erbauliche Tod Oder Erzehlung der letzten Stunden einer vornehmen Jungfer. Zu des Nächsten Erbauung ans Liecht gegeben. Frankfurt und Leipzig 1690 = HAB: QuN 1103 (2). Runtorf: LP Barbara von Wulffen, HAB: Xa 1:48 (12). Senff: LP Anna Katharina von Schweinitz, Stolberg: LP 14310. „[Die Eltern] können sich auch noch versichern / daß Ihre liebe Tochter eine lebendige Heiligin war und daß viel gewisser sey / als mancher Päbstischer Heilige, den meistentheils die Heiligkeit angedichtet wird." (S. A3)

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bensläufen ist jedoch, die Verstorbenen nicht allzu sehr zu loben. Immerhin sollten sie als Vorbild dazu dienen, wie ein immerhin sündiger Mensch auf vorbildhafte Weise sein Leben führen und beenden kann.39 Das ist ζ. B. der Fall in Bruno Quinos' Disce Mori Oder Sterbe Kunst. Das ist / ein sehr schönes und nützliches Handtbüchlein / darinnen etliche außbündige Exempel Hoher Christlicher Personen zu finden / Daraus man anleitung zu nemen / und zu lernen / Wie man sich zu einem Christlichen Ende bereiten / und Seliglichen von dieser Welt scheiden solle / Aus glaubwirdigen Acten / Historien und Leichpredigten zusamen gezogen / und frommen Christen zu gutte in druck verordnet.40 Über eine der beschriebenen Personen, Christian von Dänemark, wird dann das Folgende gesagt: Weil die Historia von dieses Gottseligen Königes Christlichem Abschiedt [...] Dermassen beschrieben / das menniglich nicht allein ein außbündig uberaus schön und tröstlich Exempel / Christlich und Gottselig von dieser Welt abzuscheiden / Sondern auch einen herrlichen Spiegel allerley Christlichen Tugenden / beyde für Regenten und andere Christen darinn zufinden hat. (Ebd., S. 34)

Der gleiche Zweck zeigt sich auch in dem Lebens-Lauff und Abschieds-Reden Einer recht Christlichen Wittiben Fr. MJBVEGVH, Wie solcher den 21. April A. 1681 bey dero ansehnlichen Leich-Begängnis abgelesen worden, undferner nach der Wahrheit hierbey ergäntzet wird. Dero selben an ihre drey kinder schrifftlich hinterlassenen Vermahnung und Erinnerung. Wegen Rarität dergleichen lebenden Exempel andern zu Trost und Erbauung / auf vieler Verlangen zum Druck befördert,41

IV. Zum Schluß ein Wort über die Entwicklung des Erbauungskonzepts in der lutherischen Leichenpredigt des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Wie gesagt, wurde das Wort selber am Ende des 17. Jahrhundert häufiger benutzt als zuvor. Das heißt jedoch nicht, daß der Erbauungszweck vorher nicht schon anwesend war, wie man aus den Aussagen von ζ. B. Philipp Hahn und anderen entnehmen kann. Zwar änderte sich die Predigtweise. Man schmückte seine Predigten mit Beispielen, Überhäufungen usw. Ich habe jedoch keinen Unterschied gefunden, was die Definition der Erbauung anbelangt, oder was eine Leichenpredigt in bezug auf Erbauung erreichen sollte. Das bleibt die ganze Tradition hindurch konstant. Nun mag Christoph Seidel 1758 bemerken, daß die überhäuften Bilder usw. einer früheren Generation zu Predigten führten, in „welchen wenig Nützliches und Erbauliches anzutreffen war",42 und mag von Mosheim 1763 behaup-

39

40 41 42

Vgl. Bernard Waither Marperger, Pfarrer in Nürnberg: LP Anna Felicitas Holschuher (1662-1712), Gatte: Jacob Wilhelm Imhoff, Ratsherr in Nürnberg. Nürnberg 1712 = Stolberg: LP 12391. In dieser LP macht Marperger Vergleiche zwischen den Gräbern der Märtyrer und den Gräbern der frommen Zeitgenossen und preist sie als Erbauungsorte wegen des frommen Lebens und der „erbaulichen Leiche" der Verstorbenen. Zittau 1586. Zum vierten Mal gedruckt. Frankfurt u. Leipzig 1698. Seidel: Anweisung, S. 14.

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tugendklar

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ten, daß man sich im 17. Jahrhundert zu viel mit Kontroverstheologie beschäftigte,43 das sind jedoch Werturteile späterer Generationen von Predigern, die mit der Absicht zu erbauen nichts im Sinne haben. Für die Pietisten mag die Erbauung zur Wiedergeburt geführt haben, aber das ist eine Folge der Erbauung. Der Prozeß der Erbauung ist bei Leichenpredigten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts immer der gleiche. Man wird durch die Bibelwortexegese und das Exempel des Verstorbenen bewegt und ermuntert, sich damit zu versöhnen, daß der Verstorbene im Herrn entschlafen ist, und selber so zu leben und zu sterben, wie der Verstorbene es so erfolgreich getan hat. Das dargestellte Exempel und die Umgebung, in der es präsentiert wird, regt zur Erbauung an. Wohl könnte man feststellen, daß mit der Einführung des Wörtchens .erbaulich' eine Wirkungsverlagerung stattfindet. Vorher hat der Prediger der Gemeinde ,zur Erbauung' gepredigt, wobei die Betonung darauf fallt, was in der Gemeinde oder im Individuum als Resultat der Predigt stattfindet. Mit der häufigen Benutzung des Wörtchen .erbaulich' sowie von ,erbaulich predigen' oder ,der erbauliche Tod' liegt die Betonung auf der Art des Predigens und auf der Art des Sterbens.44 Am Ende ist der Zweck der gleiche, aber es scheint mir eine Verlagerung der Betonung von dem, was im zuhörenden Individuum stattfindet, auf Predigtweisen oder Exempel, die das bezwecken sollen, feststellbar. Ein Bruch in dieser mit der Reformation beginnenden Leichenpredigttradition kam am Anfang des 18. Jahrhunderts. Die negativen Reaktionen aus der Gemeinde, die die Prediger immer wieder zu Erklärungen und Rechtfertigungen zwangen, tauchten immer dann auf, wenn die oben genannten Zwecke nicht im Gleichgewicht waren, gerade dann, wenn das Gedenken zu einem zu großen Lob führte, wenn der Repräsentationsaspekt zu glanzvollen und prunksüchtigen Feiern führte, das heißt, wenn das Persönliche, das Biographische bei der Beerdigung oder später im Druck überbetont und das Potential für Erbauung in einer dem Status des Verstorbenen angemessenen Prachtentfaltung gesucht wurde, aber darin unterging. Die Reaktion wandte sich gerade gegen diese Überbewertung des Persönlichen, an der sich nicht nur Fürstenhäuser, sondern auch das Großbürgertum in immer prunktvolleren Beerdigungen beteiligten. Die Tradition versandete in ihren eigenen kostspieligen Bedingungen.45 Das sogenannte

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44

45

Johann Lorenz von Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, hg. v. Christian Ernst von Windheim. Erlangen 1763. Nachdruck hg. v. Dirk Fleischer. Waltrop 1998, S. 188f. Sigismund Beermann, Pfr. in Wolfenbüttel: Das erbauliche Ende des Weyland Hoch-Ehrwürdigen [...] Magni Petri Oldekop, Archidiakonus (gest. 1724). Wolfenbüttel 1725 = HAB: Db 4o 417 (13). Vgl. auch: A. C. R. P. [ = A. C. Rosenfeld, P. in Cammin]: Das erbauliche Kranck- und Sterbe-Bett [...] Bogislaw Bodo, Grafen von Fleming [...] in angenehmer Erinnerung Derer von Ihro Hoch-Gräflichen Excellence In den letzten Stunden Dero rühmlich volbrachten Lebens geführten Christlichen und erbaulichen Reden / [ . . . ] Zum Trost der Hoch-Gräflichen Familie. Stargard 1733. Dieses wurde warscheinlich gleich für den Druck verfertigt. Es ist ein zweiseitiges Gedicht mit den Worten des Verstorbenen in Anmerkungen. Siehe: Craig Koslofsky: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450-1700. New York 2000, S. 133-151. Vgl. Wilhelm Rauls: Das Begräbnis in der Geschichte der Evang.-luth. Landeskirche in Braunschweig, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsiche Kirchengeschichte 78 (1980), S. 115-142. Kritik auf das stille

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stille Begräbnis verzichtete nebst feierlichen Riten auch auf die aufwendige Predigt-cum-Lebenslauf und deren Druck. Dabei wurde die Erbauung im Beerdigungsmoment gesucht, in dem memento mori und nicht so sehr in dem memento mortui. Man versuchte, um es so zu sagen, ohne Spiegel auszukommen, weil dieses Instrument selbst zu prunkvoll geworden war. Aber ganz ohne Exempel ging es wohl nicht, und wie wir in den Homiletiken des 18. Jahrhunderts gesehen haben, brauchte man auch weiter das persönliche Element als Hilfe zur Erbauung, und die Prediger sollten auch weiter versuchen, zwischen den vielfaltigen Zwecken einer Beerdigungspredigt ein Gleichgewicht zu finden, unter Einbeziehung des persönlichen Elements.

Literaturverzeichnis Primärliteratur 1.

Allgemein

Anonym: Lebens-LaufF und Abschieds-Reden Einer recht Christlichen Wittiben Fr. MJBVEGVH, Wie solcher den 21. April A. 1681 bey dero ansehnlichen Leich-Begängnis abgelesen worden, und ferner nach der Wahrheit hierbey ergäntzet wird. Dero selben an ihre drey kinder schrifftlich hinterlassenen Vennahnung und Erinnerung. Wegen Rarität dergleichen lebenden Exempel andern zu Trost und Erbauung / auf vieler Verlangen zum Druck befördert. Zum vierten Mal gedruckt. Frankfurt u. Leipzig 1698. A. C. R. P. [= A. C. Rosenfeld, P. in Cammin]: Das erbauliche Kranck- und Sterbe-Bett [...] Bogislaw Bodo, Grafen von Fleming [...] in angenehmer Erinnerung Derer von Ihro Hoch-Gräflichen Excellence In den letzten Stunden Dero rühmlich volbrachten Lebens geführten Christlichen und erbaulichen Reden /[...] Zum Trost der Hoch-Gräflichen Familie. Stargard 1733. Francke, August Hermann: Gedächtnis und Leichen=Predigten, nebst denen mehrenteils besonders beygefugten erbaulichen Umständen des Lebens und seligen Abschieds mancher Christlichen Personen. Halle 1723. Hallbauer, Friedrich Α.: Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen. Jena 1726. Mosheim, Johann Lorenz von: Anweisung erbaulich zu predigen, hg. v. Christian Emst von Windheim. Erlangen 1763. Nachdruck, hg. v. Dirk Fleischer. Waltrop 1998. Quinos, Bruno: Disce Mori Oder Sterbe Kunst. Das ist / ein sehr schönes und nützliches Handtbüchlein / darinnen etliche außbündige Exempel Hoher Christlicher Personen zu finden / Daraus man anleitung zu nemen / und zu lernen / Wie man sich zu einem Christlichen Ende bereiten / und Seliglichen von dieser Welt scheiden solle / Aus glaubwirdigen Acten / Historien und Leichpredigten zusamen gezogen / und frommen Christen zu gutte in druck verordnet. Zittau 1586. Schubert, Johann Ernst: Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit. Jena 1743. Seidel, Christoph T.: Anweisung zum erbaulichen Predigen, hg. v. Conrad Nahmmacher. Halle und Helmstedt 1758.

Begräbnis von Predigern ζ. B. in Adam Schermer, Pfr. in Minden: LP Ilse Sophia Storre (1662-1683), Gatte: Peter Florentz Rhode, Kurf. Brandenb. Commissar und Steuerdirektor. Minden 1683 = HAB: Da 595 (15).

Ein Spiegel rein und tugendklar 2.

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Sonstige gedruckte Leichenpredigten

Anonym: Der erbauliche Tod Oder Erzehlung der letzten Stunden einer vornehmen Jungfer. Zu des Nächsten Erbauung ans Liecht gegeben. Frankfurt und Leipzig 1690 = HAB: QuN 1103 (2). Bakius, Reinhard: Domprediger in Magdeburg: LP Johann Keck v. Schwartzpach, Dekan der Stiftskirche S. Sebastiani (1563-1616). Magdeburg 1617 = Stolberg: LP 14148. - LP Franz Beer, Fürstl. Geh. Rat u. Hauptmann (1552-1622). Magdeburg 1622 = Stolberg: LP 1557. Beermann, Sigismund: Pfr. in Wolfenbüttel: Das erbauliche Ende des Weyland Hoch-Ehrwürdigen [...] Magni Petri Oldekop, Archidiakonus (gest. 1724). Wolfenbüttel 1725 = HAB: Db 4o 417 (13). Bucholtz, Andreas H.: Prediger (später Koadjutor und Superintendent) in Braunschweig: LP Hans Ahrendt, Bürgermeister (1575-1655). Braunschweig 1655 = Stolberg: LP 3684. Faschius, Martinus: LP Agatha Lorleberg (gest. 1587). Gatte: Antonius Lorleberg, Amtmann zu Helfta. Eisleben 1587 = Stolberg: LP 15472. Francke, Johann Georg: LP Charlotte Sophia Alberti (1707-1729). Halle 1729 = Göttingen: Tom. Fun. Π. 109, 16. Haberkorn, Petrus: Pfarrer in Gießen: LP Anna Maria von Pleß (1633-1646). Gießen, 1646 = HAB: Db 3562. Hahn, Philipp: Domprediger Magdeburg: LP Barthold Huenicke, Vogt des Domkapitels (1542-1603). Magdeburg 1604 = Stolberg: LP 998. - LP Armgard Schenck (gest. 1603), Gatte: Hans von der Schulenburg. Magdeburg 1604 = Stolberg: LP 1009. Hammer, Martin: Pfarrer in Glaucha: LP Hans Georg von Maltitz (gest. 1604). Leipzig 1604 = Stolberg: LP 15791. Herberger, Valerius: Prediger in Frauenstadt: Geistlicher Trauer-Binden. Das ist schöner Lehrund Trost-reicher Leichenpredigten, Erster Theil. Frommen Hertzen zu Erbauung des Christenthumbs wieder herausgegeben, Leipzig: Johann Fritzschen, 1669 = HAB: Th 1232. Lucius, Johann Andreas: Diakon in Dresden: LPen Antonius und Conradus Weck (gest. 1657), Söhne von Antonius Weck, Sächs. Kanzlei-Sekretär. Dresden 1657 = Stolberg: LP 22816/22817. Marperger, Bernard Walther: Pfarrer in Nürnberg: LP Anna Felicitas Holschuher (1662-1712), Gatte: Jacob Wilhelm Imhoff, Ratsherr in Nürnberg. Nürnberg 1712 = Stolberg: LP 12391. - Die beste Erbauung bey dem Grab eines treuen Lehrers. LP Johann Andreas Gleich, Hofprediger in Dresden (1666-1734) = Stolberg: LP 10743. Molsdorf, Jakob Weller von: Dresdener Hofprediger: LP Anna Christina von Taube (16291657), Gatte: Christoph von Eckstedt, Kurf. Oberstallmeister, Kammerherr und Hofmeister. Dresden 1657 = HAB: Xa 1:44 (1). Runtorf, Johannes: Pfarrer in Falckenhagen: LP Barbara von Wulffen (1585-1619), Gatte: Abraham von Hohendorff. Frankfurt a. d. Oder 1619 = HAB: Xa 1:48 (12). Saccus, Siegfried: Domprediger in Magdeburg: LP Heinrich Beer (1567-1590), Domherr in Magdeburg. Magdeburg 1591 = Stolberg: LP 6212. Sattler, Basilius: Hofprediger in Wolfenbüttel: LP Carl Capaun von Zwickau (begr. 1590). Juliusfriedenstedt (Wolfenbüttel) 1590 = HAB: 511. 26 Th (6). Schmidt (Schmied), Bernhard: Archidiakon Dresden: Creutz- und Todes=Schule / Das ist Unterschiedliche Leich=Predigten [...] Frankfurt a. M. 1680 = Stolberg: LP 2431-2453. Senff, Samuel: Pfarrer zu Stolpen: LP Anna Katharina von Schweinitz (1647-1654), Tochter von Georg Hermann von Schweinitz, Sachs. Obrist. Dresden 1655 = Stolberg: LP 14310. Spener, Philipp Jakob: Zwöllf Christliche Leichenpredigten. Frankfurt 1677 = HAB: Th 1743. Stybarus, Thomas: Superintendent in Pyrbaum: Historische Erzehlung und Leijchpredigten Etlicher Hocherleuchter Keyser, Könige und Churfürsten/ Sampt ihren Christlichen Leben, Wandel und tödtlichem Abgang [...] Leipzig 1593 = Stolberg: LP 866-878. Ursinus, Gabriel: Pf. in Reinhartsgrimma: LP Dorothee Eusebie von Bünau (1630-1631). Dresden 1632 = Stolberg: LP 6711. Wiggers, Luderus: Pastor in Niende: LP Haro Javen, Richter in Rüstringen (gest. 1664). Bremen 1665 = HAB: Da 595 (18).

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Sekundärliteratur Achelis, E. Chr.: Erbauung, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. V. Leipzig 1898, S. 446-448. Diehl, Wilhelm: Michael Eichlers Kampf gegen die Leichenpredigten des Herrn Süßmann und Leisetretter (1581), in: Monatschrift fur Gottesdienst und Kirchliche Kunst (Göttingen 1897), S. 85-90. Eybl, Franz M.: Leichenpredigt, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding. Bd. 5. Darmstadt 2001, S. 124-145. Hafner, Hermann: Erbauung, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 1058. Köpf, Ulrich / Weismayer, Josef / Beutel, Albrecht: Erbauungsliteratur, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Hans Dieter Betz u. a. Bd 2. Tübingen "1999, S. 1386-1388. Koslofsky, Craig: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450-1700. New York 2000. Lenz, Rudolf: Leichenpredigten. Eine Bestandaufnahme. Bibliographie und Ergebnisse einer Umfrage. Marburg 1980. - Zur Funktion des Lebenslaufes in Leichenpredigten. Wer schreibt meine Lebensgeschichte?, in: Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, hg. v. Walter Spam. Gütersloh 1990, S. 93-194. Lenz, Rudolf (Hg.): Marburger Personalschriftensymposion. Bd. I. Köln 1975, Bd. II. Marburg 1979, Bd. III. Marburg 1984. - Marburger Personalschriften-Forschungen. Sigmaringen 1978ff. Mennecke-Haustein, Ute: Erbauungsliteratur, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 1058-1065. Moore, Cornelia N.: Das erzählte Leben in der lutherischen Leichenpredigt. Anfang und Entwicklung im 16. Jahrhundert, in: Wolfenbütteler Barocknachrichten, 29 (2002), S. 3-32. - The Magdeburger Cathedral Pastor Siegfried Saccus and the Development of the Lutheran Funeral Biography, in: Sixteenth Century Journal, im Druck. Rauls, Wilhelm: Das Begräbnis in der Geschichte der Evang.-luth. Landeskirche in Braunschweig, in: Jahrbuch der Gesellschaft fur niedersächsiche Kirchengeschichte 78 (1980), S.115-142. Schmidt-Grave, Horst: Leichenreden und Leichenpredigten Tübinger Professoren (1550-1750). Untersuchungen zur biographischen Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit. Tübingen 1974.

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Bibelparaphrasen in der Volksdichtung der Frühen Neuzeit Zur erbaulichen Machart und Tendenz einiger „Zeitungslieder" und „Ostermärlein" des 17. und 18. Jahrhunderts*)

Im Jahre 1626 konnte man bei süddeutschen Jahrmarktsängern und Kolporteuren eine gedruckte „Newe Zeitung" erwerben, die in recht reißerischem Stil von einer sensationellen Neuigkeit zu berichten wußte. In Hagenau im Elsaß, so war zu erfahren, sei soeben der durch seine Hartherzigkeit und Blutsaugerei weithin bekannte Statthalter samt allen Angehörigen und Bediensteten in seinem Haus tot und blutüberströmt aufgefunden worden. Selbst aus Stühlen und Bänken habe man das Blut hervorquellen sehen, und - schrecklicher Höhepunkt des Ganzen - auf der Wand sei eine blutige Inschrift erschienen, die „schön teutsch", wie es heißt, dieses Blut als den Schweiß erklärt habe, der den armen Leuten von dem auf so grausame Weise Umgekommenen ausgepreßt worden sei.1 1.

MErck auff du werthe Christenheit / Was sich erst hat in kurtzer zeit / Zutragen vnd begeben / Ein erschreckliches wunder groß / Dieses betracht Ο Welt Gottloß / Vnd besser du dein Leben.

2.

Ein Stättlein ligt im Elsesserland / Dasselb wird Hagenaw genandt / Geschah ein Wunder / Warhafft in deß Statthalters Hauß / Ist Jung vnd Alt gestorben auß / Auff einen Tag besonder.

*) Der vorstehende Beitrag setzt Überlegungen fort, die der Vf. mit seiner Freiburger Antrittsvorlesung als Privatdozent für Volkskunde von 1978 über „,Veritas' und ,fictio' als Problem volkstümlicher Bibeldichtung" (in: Zeitschrift für Volkskunde 75 [1979], S. 181-200) begonnen und später als Lehrstuhlinhaber für Bayerische Literatur- bzw. Kulturgeschichte an der Universität München mit verschiedenen anderen Arbeiten zur Erzählforschung weitergeführt hat (ζ. B. mit dem Aufsatz: Theorie- und Methodenprobleme der Märchenforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde [Würzburg] [1980], S. 47-64). Sie sollen im Frühjahr 2004 in München mit einem Kongreß über „Die Bibel als Quelle des Erzählens" zu einem gewissen Abschluß gebracht werden. 1 Flugschrift: Drey warhafftige Newe Zeitungen / vnd gründlicher Bericht auß vnterschiedlichen Orten / Erstlich / Auß dem Elsasserland / Wie das in dem Stättlein Hagenaw / der Statthalter mit sampt seinem Haußgesind deß gehen [= jähen] Todes gestorben; Auch wie hernach in dem Hauß Stül vnd Bänck / Tisch vnd alles Blut geschwitzet / deß gleichen ein Teutsche Schriffi vom Blut an die Wand geschrieben / welches viel hundert Menschen gelesen: Wie sie laut[et] / wird man in diesem Liedt hören (...) Gedruckt / im Jahr 1626 (o. O.) Stadtbibliothek Ulm, Sign. Seh 8734 (Deutsches Volksliedarchiv [künftig DVA] Bl. 4401; vgl. Bl. 4405).

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208 3.

Auch war das gantze Hauß voll Blut / Ja Still vnnd Bänck mit groß vnmuth / Gantz knollen Blut thet schwitzen / Das Blut flöß in der Stuben her / Als wenn viel Volck vmbkommen wer / Das Blut thet herauß springen.

4.

Auch war geschrieben in die Wand / Schön Teutsch von lauter Blut zu hand / Was dieses mag bedeuten / Das Wunder sey der Schweiß vnd blut / So der Geitzhalß außsaugen thut / Wol von den armen Leuthen.

5.

GOtt hat jhmgäntzlich genommen f ü r / daß er wöll schicken für die Thür / Den Reichen vnd den Armen / Den gehen Todt vnnd Pestilentz / In gantzer Welt: In aller Grentz / Da wird gar kein erbarmen.

6.

Außsterben wird auch manche Statt / Das zehen Menschen mit der that / werden nicht vberbleiben / Wer nicht will greiffen zu der büß / Dort ewiglichen leyden muß / Sein zeit im Fewr vertreiben.

7.

So bald man aber zehlen thut / Die 28. wolgemuth / So wird es Fried auff Erden / Der Menschen aber wenig seyn / Auff dieser Erden in gemein / Die das erleben werden.

8.

Ο Christen Mensch das wol betracht / Das Hauß wurd Tag vnnd Nacht verwacht / Viel hundert Menschen lesen / Die Schrifft mit weinen vnd Hertzenleyd / Vnd bringt dem Land viel Trawrigkeit / Es ist ein elend Wesen.

9.

Wie dann im Wirtenberger Land / Ist menniglichen wolbkant / Viel Menschen sind verdorben / Bey dreissig Tausent an der zahl / An Jung vnd Alte vberall / Sind an der Pest gestorben.

Die neue, adrett in Liedform gekleidete und damit zum einprägsamen Singen bestimmte „Newe Zeitung" versicherte in ihrer Überschrift ausdrücklich den Wahrheitsgehalt des Berichteten („wahrhaftige neue Zeitung") und suchte ihre Glaubwürdigkeit mit dem Hinweis einerseits auf 100 Augenzeugen, andererseits auf den parallelen jähen Tod von 30.000 in diesem Jahr an der Pest gestorbenen Würt-

Bibelparaphrasen in der Volksdichtung der Frühen Neuzeit

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tembergern noch zu unterstreichen. Ihr Zweck bestand ausdrücklich darin, die Hörer und Leser durch Betrachtung des Geschehens zu einer Besserung ihres Lebens zu veranlassen. Ob der vorgeblich aktuelle Bericht von ihnen dementsprechend für wahr gehalten wurde oder nicht, ist unbekannt. Hätten sie, wie es später anläßlich eines ähnlichen Zeitungsliedes über eine angebliche sakrilegische Passionsdarstellung durch die Juden zu Schwabach im Auftrage der Brandenburg-Onoltzbachischen Regierung zu Ansbach geschah,2 den Bericht auf seine faktische Echtheit hin überprüfen lassen können, wären sie in Hagenau selbst kaum fündig geworden. Denn die Geschichte war in Wahrheit schon vor langer Zeit und an weit entferntem Ort geschehen, zu Babylon lim 539 vor Christus nämlich, als der übermütige König Belsazar nach einer Gotteslästerung von meuchlerischer Hand den Tod gefunden hatte. Nicht „schön teutsch", sondern aramäisch war damals, folgt man Daniels Bericht (5, 19-22), die geheimnisvolle Inschrift an der Wand erschienen, die dem Herrscher unter Nennung der Geldsorten das Urteil sprach, daß er „gezählt, gewogen [und zu leicht befunden]" worden sei, ja daß man „sein Reich geteilt" habe, weil es ihm als König an Demut, Barmherzigkeit und Gottesliebe gefehlt habe: „Mene mene teqel upharsin". Das räumlich und zeitlich extrem ferne Schrecknis hatte der Verfasser der erwähnten „neuen Zeitung" 2.200 Jahre später aufgegriffen, in ein anderes Milieu gestellt und aktualisiert, um es der Vorstellungswelt seines Publikums, wohl Angehörigen der städtischen Unterschichten, anzupassen. Dabei war aus dem König Bel-

2

Am 12. 7. 1729 berichtet die Berliner „Vossische Zeitung" aus Ansbach: „Obschon von hiesiger Hochfürstlich Brandenburg-Onoltzbachischen Regierung bereits unterm 9. Augusti 1727 durch öffentlichen Zeitungs=Druck der Inhalt des von einigen boßhafften ZeitungsSingem leichtfertiger Weise ausgestreueten Lieds, worinnen einige Juden von Schwabach beschuldigt worden, daß sie an einem Char-Freytag einen Hund gecreutziget, und dabey die Paßions-Historie auf eine gotteslästerliche Weise vorgestellet hätten, widersprochen, und als eine bey angestellter genauen Untersuchung durchgehende falsch befundene Erdichtung erkläret, auch jedermann vor weiterer Ausbreitung und Nachrede sothanen sündlichen Gedichts, bey Vermeydung scharffer Straffe, verwarnet worden; so muß man jedoch durch eingelangte Nachrichten wider alles Vermuthen vernehmen, was gestalten ein und andere Zeitungs-Singer seither sich unterstanden, an verschiedenen Orthen mehrgedachtes grundfalsch erdichtetes und ärgerliches Lied abermals abzusingen und auszustreuen; wie nun aber dergleichen Ausbreitung unter Christen ein grosses Aergerniß, und dabey beschwerliche Folgerungen veranlasset, und dahero man auf dessen gäntzliche Abstellungen nothwendig zu gedencken besondere Ursachen hat, als werden alle und jede Obrigkeiten der Gebühr nach freundlich ersuchet, dergleichen Marckt-Singern auf Betreten in Verhafft zu ziehen, selbige auch nach Befinden mit nachdrücklicher wohl verdienter Straffe anzusehen." Vgl. Eberhard Büchner: Das Neueste von Gestern. Bd. Π. München 1912, S. 220, Nr. 44. Das beanstandete Lied war durch folgenden Druck bekanntgemacht worden: Flugschrift: Kurtzer Bericht / Derjenigen erschrecklichen Tragödie / So funffreiche Juden / im Anspacher Land in der Statt Schwabach / 3. Stund von Nürnberg / an einem Freytag da sie ihr LauberFest hatten / in eins Juden seinem Garten / mit einem Budl Hund vorgenommen / der einem Christen-Würth gehörig / und einen Juden-Bub / welcher solchen gestohlen / denen Juden überbracht / hat dreyssig kleine Pfening darvor bekommen: darmit den gantzen Passion gespilt / und den Hund an statt Gott gecreutziget haben. Im Thon: Wach auf, mein Seel / dann es ist Zeit. Gedruckt (o. O.) Anno 1727. Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. P. o. germ. 1886/16 (DVA Bla. 5457). - Zur Bewertung dieses Liedes vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation. Berlin 1981. (Zugl. Phil, habil. Freiburg 1978 [masch.]), S. 107-112.

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sazar ein namenloser Statthalter geworden, aus Babylon Hagenau im Elsaß, aus der aramäischen eine deutsche Inschrift, aus der Beschuldigung gottfeindlichen Verhaltens die Anklage gegen den Mißbrauch der Amtsgewalt. Der Bericht des Propheten hatte sich zum fiktiven Sensationsreport gewandelt. Zwischen der biblischen Vorlage und der Nachdichtung, die sie paraphrasierte,3 war dabei eine Textkohärenz der Handlungszüge entstanden, die dem Kenner durch Rückbezug auf die Vorlage zugleich ein vertieftes Verständnis ihres intendierten Sinnes hätte verleihen können, die Aussage nämlich, daß der Hochmut den Mächtigen niemals vergessen lassen dürfe, wie ihm alle Größe, Ehre und Pracht von Gott anvertraut worden sei (Dan. 5, 18). Doch ist es nicht wahrscheinlich, daß der Durchschnittsrezipient die Inschrift an der Wand als das periphrastische Signal verstand, das ihn hätte veranlassen müssen, durch diese Paraphrase wie durch ein Fenster auf den Basistext hindurchzublicken, um so beides, das Thema und seine Variation, miteinander vergleichend zu erfassen. Denn im Unterschied zu der Fülle der Bibelparaphrasen, die von der Spätantike bis zum Barock dem wörtlichen oder exegetisch motivierten, interpretierend-verdeutlichenden Verständnis der kanonischen Texte dienten4 - handele es sich um Apokryphen, um textnahe oder textferne Versumdichtungen biblischer Geschichten oder um Legenden eines Heiligen, die das Leben des Erlösers nahe der Bibel topisch imitieren - , fehlt hier jeder explizite Hinweis, sei es durch Nennung der Quelle oder auch nur der biblischen Namen, der diese „neue Zeitung" als eine aktualisierte Bibeldichtung5 zu erkennen geben würde; ja durch die Lokalisierung, durch die Übertragung in die Zeit und in die Umwelt der Re-

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Vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Volkserzählungen und Volkslieder als Paraphrasen biblischer Geschichten, in: Festschrift für Karl Horak zum 70. Geburtstag. Innsbruck 1980, S. 139-160. Vgl. Reinhart Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung. München 1975 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 37). - Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfried von Weißenburg. München 1975. - Zur Paraphrase allgemein (außer linguistischer Lit.) vgl. Hans Schulz / Otto Basier: Deutsches Fremdwörterbuch. Bd. Π. Berlin 1942, S. 337-338. - Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 530-533, §§ 1099— 1106. - A. Fingerle / Joseph Schmid: Art. Paraphrase, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 8. Freiburg i. Br. 3 1963, S. 82-84. - Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 8 2001, S. 551. - Ein Verzeichnis dichterischer Bibelparaphrasen bot Friedrich Rassmann: Übersicht der aus der Bibel geschöpften Dichtungen älterer und neuerer deutscher Dichter mit Einschluß derartiger Übersetzungen. Ein Wegweiser für Literatoren, Freunde der Dichtkunst, Geistliche und Schullehrer. Essen 1829 (Ben. Ex.: Univ.-Bibl. Freiburg i. Br., Sign. HBA 48A150). - Einzelne Bibelparaphrasen benediktinischer Verfasser verzeichnet August Lindner: Die Schriftsteller und die um Wissenschaft und Kunst verdienten Mitglieder des Benediktiner-Ordens im heutigen Königreich Bayern. Bd. I. Regensburg 1880, z.B. S. 53, Nr. 3. - Techniken der Paraphrasierung behandelt am Beispiel eines Plagiatsfalles Hans Peter Althaus: Die Kunst der Paraphrase. Otto F. Best über das Jiddische, in: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 41 (1974), S. 318-337. Vgl. Max Wehrli: Sacra Poesis. Bibelepik als europäische Tradition, in: Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung. Festschrift für Friedrich Maurer zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1963, S. 262-283. - Achim Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters. Berlin 1976 (Grundlagen der Germanistik 19). Dazu: Dieter Kartschoke (Rez.), in: Anzeiger für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 88 (1977) H. 3/4, S. 146-155.

Bibelparaphrasen

in der Volksdichtung

der Frühen

Neuzeit

211

zipienten und durch die Beteuerung der Wahrheit wird geradezu der B l i c k für ihre eigentliche B e s c h a f f e n h e i t verstellt. Es handelt sich u m Bibeldichtung, 6 die sich dem Rezipienten, fur den sie bestimmt ist, gar nicht als s o l c h e z u erkennen gibt, die ihren Ursprung verhüllt und die ihn damit z u m literarischen Muster, z u m Handlungsmodell, abstuft, ohne daß dadurch j e d o c h die T e n d e n z der Vorlage entscheidend abgewertet w e r d e n würde. A n die Stelle der biblischen

histo-

ria mit ihrer z w e i f a c h e n , s o w o h l faktischen, als auch (aus der Sicht der Gläubig e n ) göttlich inspirierten Wahrheit ist die fabula

getreten, die fiktive Darstel-

lung eines in der geschilderten W e i s e niemals g e s c h e h e n e n Ereignisses. Derartige liedgestaltete „neue Zeitungen", w i e sie nach b e s c h e i d e n e n A n f a n g e n vor 1500 in der Reformationszeit zunächst als V e h i k e l für die Verbreitung der überwiegend protestantischen Prodigien- und Wunderzeichenliteratur gedient hatten, bis sie vor allem in der ersten Hälfte d e s 17. Jahrhunderts unter gezielter Weiterbenutzung protestantischer L i e d w e i s e n z u n e h m e n d auch auf katholischer Seite V e r w e n d u n g fanden, 7 h a b e n seit Rudolf Hildebrand, 8 H a n s N a u m a n n 9 und Erich Seemann 1 0 die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden, die sie teils als Vorstufe d e s Bänkelsangs, teils als Ausgangspunkt mündlicher Sing- und Erzähltraditionen berücksichtigte, nicht ohne sie gelegentlich stark a b z u w e r t e n . " D i e Absicht, Aktuellstes zu schildern, u m damit die Sensationslust d e s Publik u m s zu befriedigen, habe, s o heißt es, ihre Verfasser v ö l l i g in d e m „oft absto-

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Vgl. Rudolf Schenda: Die französische Prodigienliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. München 1961 (Münchner Romanistische Arbeiten 16). - Ders.: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1962), S. 637-710. - Entsprechende Beispiele bietet u. a. Rolf Wilhelm Brednich: Die Überlieferungen vom Kornregen, in: Dona Ethnologica. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde. Leopold Kretzenbacher zum 60. Geburtstag, hg. v. Helge Gerndt u. Georg R. Schroubek. München 1973 (Südosteuropäische Arbeiten 71), S. 248-260. Unter den Vorwürfen, die von katholischer Seite gegen die Protestanten erhoben wurden, ragt die Kritik an dem Verfahren heraus, alte Melodien mit neuen Texten zu versehen, um diese rascher zu verbreiten. So beklagt Tobias Lohner: Geistliche Hauss-Bibliothec [...]. München 1684, S. 24-25, daß „solche der alten catholischen Kirchen-Gesang vnd Melodey / die Ketzer gleichwohl noch biß dahero auch behalten / aber an statt der catholischen andere verführische Texte daruntergesetzt / vnd also jhr Gifft durch solch anmutig Mittl / mit sonderem bezüglichen List außgebraitet haben...". Die Antwort bestand darin, dieses Kontrafakturverfahren umzukehren und die inzwischen mit geänderten Texten wieder populär gewordenen alten oder neuen protestantischen Melodien einer katholischen Überarbeitung zu unterziehen. Selbst die charakteristischsten protestantischen Lieder wurden in dieser Weise verändert. So erzählt Jacob Rosolenz (Gründlicher Gegen Bericht / auff den falschen Bericht [...]. Graz 1606 [Ben. Ex.: Steirische Landesbibliothek Graz, 119. 793/1A/VII 138, 4°], 75v-76r), daß die katholische Antwort auf M. Luthers Kampflied „Ein feste Burg ist unser Gott" das Lied gewesen sei: „Ein fest Haus ist die Römisch Kirch". Rudolf Hildebrand: Materialien zur Geschichte des deutschen Volksliedes. Tl. I: Das ältere Volkslied, hg. v. G. Berlit. Leipzig 1900 (ND Hildesheim, New York 1971), S. 183. - Weitere Belege bei Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Bd. I. Baden-Baden 1974 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana LV), S. 184. Hans Naumann: Studien über den Bänkelsang, in: ZfVk 33 (1920/21), S. 1-21, und in: Ders.: Primitive Gemeinschaftskultur. Jena 1921, S. 168-190. Erich Seemann: Newe Zeitung und Volkslied, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 3 (1932), S. 87-119. Ebd., S. 91, S. 117-119.

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Dietz-Rüdiger Moser

ßenden" Stoff befangen gelassen;12 ihm ein tieferes menschliches Interesse abzugewinnen, habe ihnen ferngelegen, ja für diese ganze Literatur seien in starkem Maße geschäftliche Interessen der Verleger, Drucker und Vertriebskräfte bestimmend gewesen.13 Dieser Einschätzung wurde kaum je widersprochen, zumal sie sich mit Auffassungen deckte, die solche Erzeugnisse nur als Waren,14 als Gebrauchswerte für den Markt, ansahen, die also die Entstehung und die Beständigkeit dieser Literatur aus der Produktionsweise zu erklären suchten. Noch Rolf Wilhelm Brednichs Liedpublizistik (1974)15 hält daran fest, daß das Wesen des sogenannten Zeitungsliedes erstens im Vertrieb von Sensationsnachrichten gelegen habe, daß es zweitens für den raschen Konsum gedacht gewesen sei, und daß drittens der Verkaufserfolg dieser Ware die Produktionsart bestimmt habe.16 Der Sachverhalt, daß solche Druckerzeugnisse in hohen Auflagen erstellt, feilgeboten und verkauft wurden, daß man ferner die Berichte von Druckort zu Druckort übertrug,17 und daß man sie durch stereotype Angaben, wie „gedruckt in diesem Jahr", vor dem drohenden Aktualitätsverlust, der das Kaufinteresse hätte erlahmen lassen können, zu schützen suchte, läßt sich in der Tat nicht bestreiten. Dennoch greift dieser Ansatz sichtbar zu kurz. Denn die Waren- bzw. Konsumtheorie läßt die Frage nach den inneren Gründen für die typischen Merkmale dieser Literatur offen, ζ. B. für die belehrende Grundhaltung, dann für die nur ihr eigenen Anredeformeln, und vor allem schließlich für die fingierte Aktualität, die sie mit nur wenigen anderen Literaturgattungen teilt. Ist es Zufall, daß die Zielgruppen in der überwältigenden Mehrheit der Belege nicht irgendwelche Altersoder Berufsgruppen, sondern Christen sind, Christen nicht in einem oberflächlichen Sinn, sondern Menschen, die sich - den Liedinhalten zufolge - nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach als solche ansprechen lassen sollten? „Ihr lieben Christen, merket a u f , „Bleib stille stehn, mein lieber Christ" oder - in unserem Beispiel - „Merck auff du werte Christenheit", lauten typische Eingänge, „O Christenmensch, das wol betracht", „Das merke wohl, ο frommer Christ", „Dies nehmt zu Herzen, Christenleut", entsprechende Schlüsse. Die Zeitungslieder sind an Christen adressiert, und an diese richten sich auch die vielfaltigen Lehren und Mahnungen zum rechten Glauben und Verhalten, die den narrativen Abschnitten grundsätzlich beigegeben und die für diese Literatur konstitutiv sind. Auch die Stoffe erscheinen bei aller Vielfalt in kennzeichnender Konzentration auf Geschehnisse, die kaum losgelöst von den christlichen Morallehren der Zeit betrachtet werden können. Schon Erich Seemann hat erkannt, daß die Zeitungslieder zu bestimmten Themengruppen zusammentreten,18 ohne zu be12 13 14

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Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. Vgl. Rolf Wilhelm Brednich: Das Lied als Ware, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 19, (1974), S. 11-20. Bibl. Angabe s. Anm. 8. Brednich: Liedpublizistik, S. 189. Vgl. Leopold Schmidt: Volksgesang und Volkslied. Proben und Probleme. Berlin 1979, S. 132, S. 188-189 u.ö. Seemann: Newe Zeitung, S. 104-117. - Vgl. Brednich: Liedpublizistik, S. 198-199.

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achten, daß es sich zumeist um solche handelt, die zentralen Themenbereichen des Dekalogs19 entsprechen, nämlich den Geboten, ihrer Übertretung und deren Folgen: Sie handeln von widergöttlichen Freveln, von unerlaubten Anrufungen Gottes zum Zeugen der Wahrheit (im Meineid), von Verstößen gegen das Feiertagsgebot, von falscher Kindererziehung, von Mord und Totschlag, von Betrug, Hartherzigkeit, falscher Anschuldigung und von dem Verlangen nach fremden Gütern,20 lauter widergöttlichen Freveln, wie sie in Gesängen unter Titeln wie „Die Studentenpassion zu Halle", „Die Gotteslästerung zu Belgrad", „Der Hostienfrevel zu Willisau", „Die Müllertücke", „Die Mordeltern", „Der Markfrevel" usw. zum Ausdruck kommen.21 Sie geben Beispiele ab, die deutlich dazu bestimmt sind, die Rezipienten zu einem bestimmten Verhalten zu mahnen, das letztlich auf eine Einordnung in das bestehende christliche, genauer: katholische Normensystem hinausläuft. Die Überlegung, ob man aus diesen Sachverhalten nicht für das 17. und 18. Jahrhundert auf eine absichtsvolle Benutzung dieser Literatur zur Propagierung christlicher Denkweisen schließen müßte - zumal als katholische Antwort auf die exzessive Nutzung des Buchdruckes durch die Protestanten - , und sie infolgedessen zur Erbauungsliteratur zu stellen hätte, ist bisher nicht ernsthaft genug diskutiert worden. Auch jüngste Ansätze, wie jener Alf Mintzels in seinem Buch Hofer Einblattdrucke und Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts (aus dem Jahre 2000), in den „Zeitungsliedern" des 16. und 17. Jahrhunderts im wesentlichen nur Beiträge zur frühen Pressegeschichte zu sehen,22 zielte wohl in die falsche Richtung. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten Autoren, die sich mit dieser Gattung beschäftigten, durch den Begriff der „Zeitung" dazu verleitet wurden, sie an späteren Erzeugnissen dieses Namens zu messen, ohne zu sehen, daß man ihnen damit nur zu leicht Gewalt antun könnte. Denn der jüngere Begriff „Zeitung" im Sinne von „Newspaper" als Bezeichnung für ein regelmäßig erscheinendes, gedrucktes Publikationsorgan mit Neuigkeiten aus allen Bereichen der Politik, der Wirtschaft und der Kultur ist auf die „Neuen Zeitungen" des 16. bis 17. Jahrhunderts nur sehr bedingt anwendbar. Bis in die Goethe-Zeit hinein bedeutet „Zeitung" soviel wie „Botschaft" oder „Nachricht von einer geschehenen Begebenheit". Eine „gute Zeitung" oder eine „böse Zeitung", wie sie als Begriffe bei Hans Sachs oder Martin Opitz begegnen, sind einfach der Bericht über einen guten oder einen bösen Vorgang, nicht aber ein wie immer gedrucktes Blatt mit Neuigkeiten. Erst Johann Christoph Adelung nennt in seinem Grammatisch-

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Insbesondere der weithin wirksamen Fassung des Catechismus Romanus ex Decreto Concilii Tridentini, Romae 1566, mit seinen zweimal zehn „Tafeln" (Teil ΠΙ, Hauptstück 1-10). Seemann: Newe Zeitung, S. 104-117, behandelt Zeitungslieder zu den Themen: Hartherzigkeit gegen Bedürftige, Brotfrevel, Unehrerbietigkeit gegen die Eltern, Feiertagsentheiligung, Mordtaten. Ein Anordnungssystem ist nicht erkennbar. Vgl. die Analysen bei Moser: Verkündigimg, S. 101-107 u. ö. Alf Mintzel: Hofer Einblattdrucke und Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Dokumentation von 29 Exemplaren. Hof 2000 (Bericht des Nordoberfränkischen Vereins für Natur-, Geschichts- und Landeskunde, Hof 43). - Vgl. zu Alf Mintzel die Abhandlung von Helmut Kreutzer: Die Stadt Hof in der frühen Pressegeschichte. Zur Geschichte der Mintzelschen Druckerei, in: Literatur in Bayern 67 (März 2002), S. 50-55.

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kritischen Wörterbuch 1786 diese frühere Bedeutung als „in der edlen Schreibart [...] veraltet" und spricht von der neueren Bedeutung, die also nicht mehr nur die geschehene Sache, also die Begebenheit selbst, sondern „figürlich auch die [gedruckte] Nachricht davon" meint, eine „Erfindung der neuern Zeiten". 23 Er fügt hinzu, die ersten regulären wöchentlichen gedruckten Blätter dieser Art seien um den Anfang des vorigen (d. h. 17.) Jahrhunderts zu Venedig erschienen, „und da jedes Blatt mit einer Gazetta, einer damals üblichen Scheidemünze, bezahlet ward, so bekamen sie in Italien den Nahmen der Gazetten", der ihnen dann auch in Frankreich blieb. Goethe läßt im Reineke Fuchs den „Grimbart" noch altertümlich „eine Zeitung" vermelden, 24 nämlich den Zorn des Königs, und gebraucht im Wilhelm Meister den Begriff „Zeitung" synonym für „bedenkliche Nachricht", 25 während er andererseits durchaus im neueren Sinn (und im Plural) von den gedruckten „Frankfurter" und „Königsberger Zeitungen" und deren Lektüre spricht.26 Eine „warhafftige Newe Zeitung" wie sie unser Lied vom Statthalter von Hagenau ankündigt, meint also ganz etwas anderes als ein frühes Presseorgan, nämlich (und überraschenderweise) eine zeitgenössische Umsetzung des griechisch-lateinischen Wortes „Evangelium", mithin „gute Nachricht" oder „gute Botschaft". Johann Christoph Adelung übersetzt ganz unmißverständlich den Begriff „Evangelium" wörtlich als „eine angenehme Nachricht", also eine (gute) „Zeitung" 27 im vorgenannten Sinne, und er versteht darunter 1. die ganze Lehre von Christus und dessen Versöhnungstat, 2. diejenigen Bücher der Bibel, die die Lebensgeschichte Jesu Christi enthalten, und 3. die Perikopen, d. h. die für die einzelnen Sonn- und Festtage vorgeschriebenen Lesungen aus der Bibel. Selbst wenn man konzediert, daß sich der Begriff der „neuen Zeitung" im Sinne der biblischen Frohbotschaft strenggenommen nur auf die Evangelien beziehen dürfte, scheint es doch so gewesen zu sein, daß man die ganze Bibel (aus Verheißung und Erfüllung) in dem beschriebenen Kontext verortet und mehr oder minder streng jedes religiös motivierte Geschehen, um dessen Darstellung es ging, auf biblische Grundlagen zurückgeführt hat; erst später, wohl motiviert durch den Bedeutungswandel des Wortes „Zeitung", traten an die Stelle der „Zeitung" die „Geschichte" oder „Wundergeschichte", der „Bericht", die „Historia" und andere von der Sache her geeignete Begriffe. Selbstverständlich wurden nicht nur alttestamentliche Geschichten, wie „Belsazar" in den genannten Zeitungsliedern paraphrasiert, sondern auch solche aus dem Neuen Testament. Knapp einhundert Jahre nach dem Zeitungslied vom

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Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793ff. Bd. 4, S. 1680ff. Goethe: Reineke Fuchs, S. 153 ff. - Goethe. Poetische Werke. Berliner Ausgabe. Red. S. Seidel. 16 Bde. Berlin: Aufbau-Verlag, 1960-1964. Bd. 3, S. 513ff. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 620 - Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Hamburg: Christian Wegener, 1948-1964. Bd. 7, S. 376. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 820. - Goethe: Hamburger Ausgabe. Bd. 10, S. 514. Adelung: Wörterbuch. Bd. 1, S. 1984.

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Statthalter zu Hagenau im Elsaß wird 1718 u. ö. eine ganz ähnliche Geschichte, ebenfalls als Lied, im Druck verbreitet, die auch in die Singpraxis eingeht: die Geschichte von den verkauften „Vergeltsgott"-Kerbhölzern.28

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1.

Kommet ihr Christen und wollet jetzt hören / Eine erbärmliche Wunder-Geschicht / Gebet Allmosen GOtt alle zu Ehren / Weil wir da haben gewissen Bericht / Was sich in Holland hatte begeben / Mit einem Bauren Fleischhauer darneben.

2.

In dem Dorff Krilling ein Baur da wohnet / Welcher gar grimmig sein Gabe theilt auß / Niemand dergleichen im Hause verschonet / Wann sie den Armen was langen herauß / Doch er ließ keinen ohn Gaabe weggehen / Welcher vor seiner Thür war zu sehen.

3.

Er dacht bey ihm einmahl aufzuschreiben / Wie viel doch mochten kommen den Tag / Wolle damit die Zeit vertreiben / Weil er von den Armen erlitten viel Plag / Damit er möge vernehmen die Summa / Wie viel in den drey Tagen zu ihm möchten kommen.

4.

Den ersten Tag viertzig / den andern Tag funffzig / Den dritten Tag kämen vier hinein vor der Thür / Indeme da käme ein Metzger gegangen / Der fragte mit großem Verlangen nach Vieh / Alsbald thät er die Strichlein erblicken / Die an der Stuben-Thür stehen geschrieben.

5.

Fragte dann also was dieses bedeute / Daß so viel Strichlein stehen allhier / Der kann gewißlich auch nicht viel bezahlen / Weil ein solche Schuld stehet allhier / Da spräche der Bauer und lachet darneben / Seynd lauter Vergelts-GOtt / so Arme mir geben.

6.

Der Metzger drauf fragte / ob sie nicht feil wären / Wills euch bezahlen mit Silber-Geld auß / Dörfft weiter nicht lachen / im Ernst ichs begehre / Drum will ichs abkaufTen / und nehmen nach Hauß / Biet mir das Geld darvor / was ihr thut meynen / Begehr sie drum nicht / wann sie euch thun reuen.

Flugschrift: Eine grausame Geschichte, welche geschehen zu Krilling in Holland mit einem Bauern und seinem Weibe, indem sie die Vergelts-Gott verkauft haben. Was sich weiter mit ihnen hat zugetragen, wird alles in dem Gesänge ausfuhrlich zu vernehmen seyn. Im Tone: Kommt ihr Götter u. helfet. - Das zweyte Lied: Bittet und bethet für die armen Seelen. Gedruckt in diesem Jahre (Stadtbibliothek Wien, Sign. A 81.833). - Den Druck von 1718 besitzt die Stadtbibliothek Schaffhausen, Sign. EC 38.1. - Einen anderen Druck verwahrt das Burgenländische Volksliedarchiv, Sign. 170/62. - Vgl. auch Oskar Wiener: Arien und Bänkel aus Altwien. Leipzig 1914, S. 156-161.

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Dietz-Rüdiger 7. Ο grausame Thaten / ο eiteles Leben / Höret / was dieser Bauer hat gethan / Thut die Vergelts-GOtt dem Metzger verkauffen / Biet ihms umb viertzig Gulden zumahl / Spricht wann ihr das Geld mir alles wolt langen / Solt ihr von mir die Vergelts-GOtt empfangen. 8. Indeme die Bäurin auch höret den Handel / Trat sie mit Freuden zur Stube hinein / Spricht: Metzger / wann ihr mir das Geld thut herlangen / Sollen auch alle Vergelts-GOtt euer seyn / Die ich mein Lebenlang habe bekommen / Und von den armen Leuten eingenommen. 9. Jetzt höret das Geld auff dem Tisch herum springen / Daß der Mann vor die Vergelts-GOtt hebt auff/ Der Metzger das Allmosen bald zu ihm nimmet / Opfferts der Heil. Dreyfaltigkeit auf / Sehet doch Wunder / was weiter geschehen / Indem der Metzger nach Hause thät gehen. 10. Ο Sündheit / ο Blindheit / was habt ihr angfangen / Die älteste Tochter zun Eltern spricht / Den Himmel verkauffet / in die Hölle gegangen / Und jetzt ins gröste Verderben gestürtzt / Geht doch ins Gwissen / bedencket vor allen / Was ihr an diesem Geld habt vor Gefallen. 11. Der Vatter und Mutter mit schrecklichen Worten / Sprechen: Du Ketzer / was redest du uns ein / Die Vergelts-GOtt hätte uns den Himmel nicht geben / Der Himmel ist unser / wir ghören hinein / Darumb so dörffen wir uns keiner That schämen / Niemand ist / der uns den Himmel kann nehmen. 12. So bald sie die Wörter nur außgeredt haben / Siehe da kamen die Teuffei hinan / Mit großen Schröcken und grausamen Qualen / Den Bauren sambt seinem Weib griffen sie an / Zerrissen sie beyde gar grausam in Stücken / Und thun mit der Seele die Hölle außspicken. 13. So bald nun das Elend vorüber gewesen / Lauffen die Töchter zum Hause herauß / Mit Heulen und Weinen / groß Klagen darneben / Erzehlen den Leuten den gantzen Verlauff / Was sich mit ihren Eltern zu getragen / Die weil sie seyn jetzt in der Höllen begraben. 14. Die jüngste Tochter auß Liebe der Eltern / Kunt nicht vergessen der Liebe und Treu / Weil sie die Liebste allzeit gewesen / Ergrieffe das Messer und war allein / Thäte dasselbige in Leib hinein stechen / Daß sie auch verliehret gantz schmerzlich ihr Leben.

Moser

Bibelparaphrasen in der Volksdichtung der Frühen Neuzeit

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15. Dieselbige Nacht drauff thu ich anzeigen / Von dem Fleischhauer geb ich hier Bericht / Drey Engeln vor seinem Bett thun ihm erscheinen / Machen ihm kundbahr daß ewige Liecht / Daß er in dreyen Tagen soll sterben / Und das ewige Leben soll ererben. 16. Weil ich nun weiß / daß ich muß sterben / Bin ich gantz willig zu diesem bereit / Thu mich der Bottschafft gantz freundlich bewerben / Weil ihr mir ankündt die Himmlische Freud / Jesus vor Freuden kann ich kaum mehr reden / Weil mir der Himmel auß Gnaden wird geben. 17. Ο Jesu hab ich dann verdienet den Himmel / Den du mir jetzund hast kundbahr gemacht / Weiß ich erst recht / wie ich soll dich lieben / Weil du so barmhertzig außtheilest dein Gab / Alsdann thät er an JEsum gedencken / Biß man ihn thäte ins Grab hinein sencken. 18. Auf seinem Grab ist ein Blumen gewachsen / Schnee weiß ein Lilien grünte hervor / Auff selbiger hat man gefunden zu lesen / Geschrieben ist solches gestanden also / Wohl dem der da liebet vor allen / Was GOtt in dem Himmel thut Wohlgefallen. 19. Jetzt mercket ihr Christen / was Allmoß außt weißt / Vergelts-GOtt haben groß Kräfften in sich / GOtt liebet den Menschen / der solches betrachtet / Sehet / was habt ihr fur Wunder verspührt / Was die vergelt es GOtt haben verübet / Indem sie der Metzger gar hertzlich geliebet.

Sie erzählt aus Krilling in Holland den unerhörten Vorfall, daß ein Metzger und seine Frau, die stets alle Bedürftigen mit Almosen beschenkten, die dafür empfangenen „Vergeltsgott"-Wünsche auf Kerbhölzern markiert, und diese Notate allen wohlmeinenden Warnungen zum Trotz gegen Geld an einen armen Gesellen verkauft hätten, der sie genommen und sogleich der hl. Dreifaltigkeit aufgeopfert habe. Den Metzger aber habe nach seiner Äußerung, daß ihm der Himmel sicher sei, augenblicks der Teufel geholt, während dem frommen Gesellen ein Engel die genaue Sterbestunde vorhergesagt habe, damit er sich - dies der Sinn dieses Geschehens - auf einen guten Tod vorbereiten könne. - Auch hier handelt es sich, allen genauen Orts- und Zeitangaben zum Trotz, nicht um einen tatsächlichen Vorfall aus den Niederlanden, sondern um eine Nachdichtung des Gleichnisses von den zwei Betern (Lk. 18, 9-14), Pharisäer und Zöllner, die wieder ganz im (hier: bäuerlichen) Milieu der Empfanger angesiedelt ist. Sie zeigt den selbstgerechten Frommen, der Gott dafür dankt, daß er besser wäre als die übrigen Menschen, weil er sich an das Gesetz hält und Almosen spendet. Aber er stellt diese Guttaten nicht nur selbstgefällig zur Schau, sondern er lästert Gott sogar, indem er die Einkerbungen für Geld verkauft und damit den

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Dietz-Rüdiger

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irdischen Reichtum höher bewertet als den himmlischen, den ihm die Wünsche der Beschenkten in Aussicht gestellt haben. Diesem Pharisäer, der wörtlich meint: „Der Himmel ist unser, wir gehören hinein", steht hier als Zöllner des Gleichnisses Jesu der arme Geselle gegenüber, der sich seines Besitzes entäußert, um die Kerben der Trinität aufzuopfern und sich in diesem Opfer vor Gott zu erniedrigen, und der dafür mit besonderer Gnade belohnt wird. - Auch hier fehlt jeder Hinweis auf die benutzte biblische Vorlage, und wieder muß die Frage offenbleiben, ob die Rezipienten die selbstgefällige Äußerung des Metzgers als periphrastisches Signal erkannten und durch Einbeziehung des ursprünglichen Kontextes auf den Grundgedanken aufmerksam wurden, daß, wer sich selbst erhöhe, erniedrigt, und wer sich selbst erniedrige, erhöht werde. Nun könnte auch dieser Beleg noch als Zeugnis für ein besonders praktisches Verfahren der Stoffgewinnung und nicht als Beweis für eines der übergeordneten Gestaltungsprinzipien solcher Zeitungslieder und verwandter Prosagattungen interpretiert werden, fände es sich nicht in ganz entsprechender Weise in Bereichen, die dem Kolporteurs- und Jahrmarktsvertrieb dieser Druckerzeugnisse denkbar fernliegen, wie ζ. B. unter den fast ausschließlich aus intellektueller (zumeist franziskanischer) Produktion stammenden29 Volksliedern der ehemaligen deutschen Siedlung Gottschee in Slowenien, aus denen als charakteristisches Beispiel das Lied von der Wallfahrt nach Maria Trsat (italienisch Tersatto) herausgegriffen sei,30 jenem bedeutenden, ebenfalls von den Franziskanern betreuten Heiligtum hoch über der Stadt Rijeka.31 1. Bie vrie ischt auf de Göttschlaite [= Wallfahrer]! Shai värent ahin zu Maria Torsut. 2. Af mittn Meere ischt dos Schiffle beschtean, Af mittn Meere ischt dos Schiffle beschtean. 3. Shai hearnt a Schtemme von Hemmle huach: „Atinne in dan Schifflain ischt a Shindarin gruaß! 4. Lai voschit shi und pölet she ins Meer! Lai voschit shi und pölet she ins Meer!" 5. „Lai bann ich de Ürshoche pin, Shö voscht mi und pölet mi ins Meer!" 6. Shai voschent she und pölent she ins Meer, Dos Shiffle hevt vuert an ze gean.

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Vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Die Tannhäuser-Legende. Eine Studie über Intentionalität und Rezeption katechetischer Volkserzählungen zum Bußsakrament. Berlin 1977 (SupplementSerie zu Fabula, Reihe B, Bd. 4), S. 46. - Ders.: Verkündigung, passim. Rolf Wilhelm Brednich / Zmaga Kumer / Wolfgang Suppan (Hgg.): Gottscheer Volkslieder. Gesamtausgabe. Bd. II. Mainz 1972, Nr. 142. Aus dem Nachlaß Kurt Huber. Aufzeichnungsort: Göttenitz. Herrn Prof. Dr. Leopold Kretzenbacher, Lebring/Steiermark, danke ich fiir liebenswürdig erteilte Auskünfte.

Bibelparaphrasen

in der Volksdichtung der Frühen

Neuzeit

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7. Und bie shai hent kam ze Maria Torsut, De Shindarin knieget pai grueßn Oltuer. 8. „Bia kemscht du inhar, du Shindarin grueß, Ze Maria Torsut auf das hailige Uert?" 9. „I hon mi verhuessen in der letzn Schtünd Ze Maria Torsut auf das hailige Uert. 10. Shai hot mi gnömmen in irn Schueß Und hot mi getruegen auf das hailige Uert."

Es erzählt von Pilgern, deren Schiff auf der Reise nach Maria Trsat plötzlich stehenbleibt. Eine Stimme befiehlt, eine große Sünderin, die sich auf dem Schiff befinde, in das Meer zu werfen. Mit ihrer Zustimmung geschieht das, und das Schiff kann seine Fahrt fortsetzen. Aber als die Pilger den Gnadenort erreichen, finden sie die über Bord Geworfene vor dem Hochaltar knien, und sie erzählt ihnen, daß sie sich in ihrer höchsten Not der Gottesmutter Maria verheißen und daß diese sie in ihrem Schoß an die heilige Stätte getragen habe. - Nichts zeigt an, daß man es hier wieder mit einer Bibelnachdichtung zu tun hat, die wegen ihrer mehrfachen Sinnbezüge nur als ein sehr gelungenes Stück christlicher Volksdichtung bezeichnet werden kann. Das Lied folgt unmittelbar dem alttestamentlichen Jonas-Buch, in dem erzählt wird, wie der Prophet auf einem Schiff nach Tarsis dem Befehl Gottes zur Predigt in Ninive entfliehen will, das Schiff daraufhin in Seenot gerät und die Seeleute ihn als den Verursacher ihres Elendes auf sein eigenes Geheiß hin in das Meer werfen. Das Schiff kann seine Fahrt wieder aufnehmen, Jonas aber gelobt sich in seiner Angst dem Herren und wird gerettet (Jon. 1-3). 32 Diese Erzählung, die besagt, daß kein Mensch Gott entfliehen könne, jeder aber auch auf seine Barmherzigkeit vertrauen dürfe, ist auf der Grundlage des Herren Wortes Mt. 12, 40f. immer auch als typologische Praefiguration des Opfertodes und der Auferstehung Jesu Christi verstanden worden. Im Zusammenhang mit der sich aus der Exegese breit entfaltenden patristischen Allegorese33 wächst ihr aber noch die ganz andere Sinngebung zu, ein quasi-typologisches Vorbild des Bußinstitutes zu werden.34 Streng genommen, bestand die Bußpraxis darin, den Sünder aus der Gemeinschaft derer, die sündenfrei leben wollten, auszuschließen35 und ihn erst nach bewiesener Reue, Beichte und Genugtuung im Akt der Rekonziliation wieder aufzunehmen. 36

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Jon. 1-2. Zusammenfassend: Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Dannstadt 1977. - Bibliographie in: Walter Haug (Hg.): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart 1979 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 3). Nachweise bei: Dietz-Rüdiger Moser: Art. Buße, Bußaufgaben, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd. II, Lieferung 3/4. Berlin 1978, S. 1057-1075. Vgl. Ernst Dassmann: Sündenvergebung durch Taufe, Buße und Märtyrerfürbitte in den Zeugnissen frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst. Münster 1973 (Münsterische Beiträge zur Theologie 36), S. 103-129. Vgl. ζ. Β. H. Vorgrimler: Art. Buß-Sakrament, in: Handbuch theologischer Grandbegriffe, hg. v. Heinrich Fries. Bd. I. München 1962, S. 204-217, hier: S. 211. - Karl Rahner: Art. Buß-Sakrament, in: Herders theologisches Taschenlexikon, hg. v. Karl Rahner. Bd. I. Frei-

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Sobald nun in einer parallelen Entwicklung die Aussage „Christus trat in das Schiff" (Mt. 8, 23 u. ö.) zu der patristischen Ekklesiologie weiterentwickelt worden war, die - wie Hugo Rahner gezeigt hat37 - unter Einbeziehung der antiken Schiffsmetaphorik die Kirche selbst als Schiff auf dem mare amarum et mortuum der Welt dem himmlischen Jerusalem zufahren sah, mußte die alttestamentliche Jonasgeschichte als eine treffende Praefiguration für den Menschen verstanden werden, der wegen seines gottwidrigen Verhaltens aus der Gemeinschaft zum Hierusalem caeleste ausgeschlossen wird, den man also gewissermaßen aus dem Schiff des Heils, der Kirche, in das Meer der Welt wirft, damit es unbelastet weiterfahren kann - den man also exkommuniziert. Sie lehrte, daß selbst der Ausgeschlossene nicht unterzugehen brauche, wenn er sich der Barmherzigkeit Gottes anvertraue und gelobe, nach dem göttlichen Gesetz zu leben. Dem Rat der Kirchenversammlung zu Trient, den Gläubigen zu erklären, wie schwer es eigentlich sei, die Wiederherstellung des Einvernehmens mit Gott in der Buße zu erlangen,38 und dem Muster der Jonasgeschichte folgend, beschreibt das Gottscheer Lied von der Wallfahrt nach Maria Trsat diesen Vorgang des Ausschlusses der großen Sünderin aus der Gemeinschaft und ihre Rettung, die in unverkennbar gegenreformatorischer Prägung dadurch erfolgt, daß die Gottesmutter die Sünderin, die sich ihr angelobt hat, in ihrem Schoß vor den Hochaltar, also in das Kirchenschiff des Gnadenortes, trägt, wo sie die sakramentale Buße beginnen kann. Dieser Hinweis auf den Schoß, der den Erlöser trug, deutet dabei zugleich in überlegener Weise die innere Begründung für die Möglichkeit der Rettung an. Das Lied schildert keine tatsächliche Schiffsreise auf der Adria, sondern es rückt eine kunstvolle Parabel zur Bußlehre und zugleich eine sehr genaue Paraphrase der biblischen Jonaserzählung in den Vorstellungshorizont der Rezipienten. Diese Beispiele vertreten eine beträchtliche, wenngleich heute noch nicht annähernd überschaubare Zahl entsprechender Erzählungen in Liedgestalt wie in Prosa, deren teils kürzende, teils erweiternde Gestaltungsart39 von nahezu reinen Bibelversifikationen, die sich nur durch den Verzicht auf die biblischen Namen als scheinbar voraussetzungslose Versdichtungen darbieten (wie das Lied von

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bürg i. Br. 1972, S. 353-369, hier: S. 360-363, bes. S. 360: „Die sakramentale Bußform ist... die Exkommunikationsbuße. Der Sünder wird durch die Kirche als jener festgestellt, der er durch seine Sünde ist, der sich in Gegensatz zur Kirche gesetzt hat und so ... ausgeschlossen ist. Bekennt er vor dem Bischof privat seine Sünde und ist er wirklich reuig, dann wird er zur eigentlichen Kirchenbuße zugelassen (was selbst schon einen Gnadenakt der Kirche, aber noch nicht die Versöhnung mit ihr bedeutet)". Vgl. Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964. Dietrich Schmidtke: Geistliche Schiffahrt. Zum Thema des Schiffes der Buße im Spätmittelalter, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [Tübingen] 91 (1969), S. 357-358; 92 (1970), S. 115-177. „Operae pretium erit, interdum eis significare, quae poenae quibusdam delictis ex Veterum Canonum praescripto, qui poenitentiales vocantur, constitutitae sint" (Catechismus Romanus 11/5/63). Vgl. Kartschoke: Bibeldichtung, S. 111-120 u. ö. Zur Geschichte dieser Begriffe, die nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zu beweiten sind (amplificatio ζ. B. als Erhöhung), vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 485.

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der „Sündenlast")40 bis hin zu breit ausgeführten Prosa-Umdichtungen reicht, wie die Volkserzählung vom „Räuber Madej", die Ν. P. Andrejev in seiner Monographie nicht als die großartig gesteigerte, weiträumige Paraphrase des Gleichnisses von den zwei Betern erkannt hat, um die es sich dabei handelt,41 oder ihrem Gegenstück, der Geschichte von den „zwei Erzsündern" (über das Gleichnis vom verlorenen Schaf)42 - ferner den Volkserzählungen von toten Helfern, die mit verschiedenen Zwischengliedern auf die alttestamentliche Tobit/TobiasGeschichte zurückgehen, usw.43 Was diese Dichtungen als eine abgrenzbare Einheit von besonderer Eigentümlichkeit erkennen läßt, ist der Umstand, daß sie im Unterschied zu der Mehrheit dessen, was seit der Spätantike an Bibeldichtung entstanden ist, diese ihre Beschaffenheit und Abkunft verhüllen und sich damit nicht nur der Legitimation berauben, die ihre Aussagen verstärken würde, sondern sich zugleich den weltlichen Dichtungen privater, säkularer, individueller biblischer Stoffbenutzung, ζ. B. im Bibelroman,44 annähern.4S Derartige Bibelparaphrasen sind selbst von ausgezeichneten Kennern der Volksüberlieferung nicht immer als solche erkannt worden, wie der Umstand zeigt, daß manche von ihnen ihren Weg bis in die Kinder- und Hausmärchen

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L. Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhom. Alte deutsche Lieder. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808, hg. v. Willi A. Koch, Darmstadt 1965, S. 446. Nikolai Petrowitsch Andrejev: Die Legende vom Räuber Madej. Helsinki 1927 (FF Communications 69). - Dazu: Moser: Tannhäuser-Legende, S. 67-82. Nikolai Petrowitsch Andrejev: Die Legende von den zwei Erzsündern. Helsinki 1924 (FF Communications 54). - Dazu: Moser: Tannhäuser-Legende, S. 55-67. Vgl. Hermann Gunkel: Das Märchen im Alten Testament. Tübingen 1921 (Religionsgeschichtliche Volksbücher, Reihe II, H. 23/26), S. 90-93. Die entscheidende Stelle ist Tob. 12, 12-14, an der der Grundgedanke der Erzählung besonders klar ausgesprochen ist: Gott belohnt den Gerechten, der die Leichen begraben hat, für seine Frömmigkeit. Im Hinblick auf die Überlieferung wird man Gunkels Annahme nicht mehr zustimmen können, daß es sich bei der biblischen Tobit/Tobias-Geschichte um eine Variante der Erzählung von helfenden Toten handelte, die in der mündlichen Tradition, von ihr unabhängig, gelebt hätte. Offenkundig handelt es sich bei den neuzeitlichen Märchen der Typen AaTh 505508 um Paraphrasen über die biblische Geschichte, die aus dem von Gunkel zutreffend benannten Grund, daß es besser sei, den Toten selbst sich dankbar erweisen zu lassen, diesen an die Stelle des Engels setzen. - Entsprechend zu bewerten sind die Fassungen, die Sven Liljeblad: Die Tobiasgeschichte und andere Märchen mit toten Helfern. Diss. phil. Lund 1927, mitteilt. Sehr problematisch erscheint die Methode, Stilmerkmale als Beweis für eine vorbiblische Erzählungstradition des Stoffes anzunehmen: „Die vielen Züge reinen Märchenstils, aus denen das Buch Tobias zusammengefügt ist, bürgen für seinen volkstümlichen Ursprung: Der Tote auf dem Markt, den Tobit beerdigt - wir erkennen sofort unser Motiv wieder - die Ursache für die Blindheit des Alten [ . . . ] - die auftretende Helferfigur der menschenfressende Fisch [...] - die auf der Reise erhaltenen Zaubermittel" (S. 159160). - Zum Überlieferungsproblem vgl. auch Dietz-Rüdiger Moser: Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht, in: Fabula (1979), Festschrift fur Max Lüthi zum 70. Geburtstag, S. 116-136. Vgl. Martha Julie Deuschle: Die Verarbeitung biblischer Stoffe im deutschen Roman des Barock. Diss. phil. Amsterdam 1927. - Auch das deutsche evangelische Kirchenlied kennt solche Paraphrasen. Vgl. Hans Pfeifer: Die Bedeutung des Alten Testaments für das deutsche evangelische (bes. lutherische) Kirchenlied des 16. und 17. Jahrhunderts von Luther bis ca. 1660. Diss. Jena 1958. - Referat in: Theologische Literatur-Zeitung 83 (1958), S. 715-717. Vgl. Wehrli: Sacra Poesis, S. 280.

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der Brüder Grimm gefunden haben, ohne daß letztere auch nur entfernt eine Herkunft derartiger Geschichten aus der Bibel ins Auge gefaßt hätten. Das gilt etwa fur das angebliche „Märchen" KHM 180, „Die ungleichen Kinder Evas", bei dem es sich, wie leicht zu erweisen ist, um eine Paraphrase auf das Gleichnis Jesu von der Einheit der Glieder des Leibes (1. Kor. 12, 12-31) handelt:46 „Jeder soll seinen Stand vertreten, daß einer den andern erhalte und alle ernährt werden, wie am Leib die Glieder", heißt es am Schluß, nicht nur die Vergleichsreihen, sondern auch die abschließende Tendenz aus der biblischen Vorlage übernehmend. Die Brüder Grimm hatten als Vorlage einen frühneuzeitlichen Text von Hans Sachs benutzt, der seinerseits schon auf eine spätmittelalterliche Dichtung, wohl von Baptista Mantuanus, zurückging. Auch andere Bibelparaphrasen sind ihnen auffalligerweise entgangen, wie besonders gut das ursprüngliche „Ostermärlein" vom „Meister Pfriem" bekundet, das man nicht etwa deshalb zur Erzeugung des traditionellen Ostergelächters in der Kirche erdacht und benutzt hatte, weil es darum gegangen wäre (wie in der Literatur zu lesen), das schläfrige Volk unter der Predigt wachzuhalten, sondern weil man mit dem gewollt erzielten Lachen der Osterfreude (über die Auferstehung des Heilandes) Ausdruck zu geben versuchte.47 Es erzählt vom „Meister Pfriem", einem Schuhmacher, der immer alles besser wissen wollte: „[...] Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser und hatte in allem recht." Eines Nachts träumte er, er wäre gestorben und befände sich auf dem Weg nach dem Himmel. Als er anlangte, klopfte er heftig an die Pforte: „Es wundert mich", sprach er, „daß sie nicht einen Ring am Tor haben, man klopft sich die Knöchel wund." Der Apostel Petrus öffnete und wollte sehen, wer so ungestüm Einlaß begehrte. „Ach, Ihr seid's, Meister Pfriem", sagte er, „ich will Euch wohl einlassen, aber ich warne Euch, daß Ihr von Eurer Gewohnheit abiaßt und nichts tadelt, was Ihr im Himmel seht: es könnte Euch übel bekommen." - „Ihr hättet Euch die Ermahnung sparen können", erwiderte Pfriem, „ich weiß schon, was sich ziemt, und hier ist, Gott sei Dank, alles vollkommen und nichts zu tadeln wie auf Erden." Er trat also ein und ging in den weiten Räumen des Himmels auf und ab. Er sah sich um, rechts und links, schüttelte aber zuweilen mit dem Kopf oder brummte etwas vor sich hin. Indem erblickte er zwei Engel, die einen Balken wegtrugen. Es war der Balken, den einer im Auge gehabt hatte, während er nach dem Splitter in den Augen anderer suchte. Sie trugen aber den Balken nicht der Länge nach, sondern quer. „Hat man je einen solchen Unverstand gesehen?" dachte Meister Pfriem; doch schwieg er und gab sich zufrieden: „Es ist im Grunde einerlei, wie man den Balken trägt, geradeaus oder quer, wenn man nur damit durchkommt, und wahrhaftig ich sehe, sie stoßen nirgend an." Bald hemach erblickte er zwei Engel, welche Wasser aus einem Brunnen in ein Faß schöpften, zugleich bemerkte er, daß das Faß durchlöchert war und das Wasser von allen Seiten herauslief. Sie tränkten die Erde mit Regen. „Alle Hagel", platzte er heraus, besann sich aber glücklicherweise und dachte: „Vielleicht ist's bloßer Zeitvertreib; macht's einem Spaß, so kann man dergleichen unnütze Dinge tun, zumal hier im Himmel, wo man, wie ich schon bemerkt habe, doch nur faulenzt." Er ging weiter und sah einen Wagen, der in einem tiefen Loch stecken geblieben war. „Kein Wunder", sprach er zu dem Mann, der dabeistand, „wer wird so unvernünftig aufladen? Was habt Ihr da?" „Fromme Wünsche", antwortete der Mann, „ich konnte damit nicht auf den rechten Weg

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Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand von 1857. S. 740fF. Vgl. zuletzt Ingrid Tomkowiak: Ostermärlein, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 10, Berlin 2002, Sp. 4 1 8 ^ 2 2 . Grimm: KHM 178, S. 726 ff.

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kommen, aber ich habe den Wagen noch glücklich heraufgeschoben, und hier werden sie mich nicht stecken lassen." Wirklich kam ein Engel und spannte zwei Pferde vor. „Ganz gut", meinte Pfriem, „aber zwei Pferde bringen den Wagen nicht heraus, viere müssen wenigstens davor." Ein anderer Engel kam und führte noch zwei Pferde herbei, spannte sie aber nicht vom, sondern hinten an. Das war dem Meister Pfriem zu viel. „Tolpatsch", brach er los, „was machst du da? Hat man je, solange die Welt steht, auf diese Weise einen Wagen herausgezogen? Da meinen sie aber in ihrem dünkelhaften Übermut alles besser zu wissen." Er wollte weiterreden, aber einer von den Himmelsbewohnern hatte ihn am Kragen gepackt und schob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus. Unter der Pforte drehte der Meister nach einmal den Kopf nach dem Wagen und sah, wie er von vier Flügelpferden in die Höhe gehoben ward. In diesem Augenblick erwachte Meister Pfriem. „Es geht freilich im Himmel etwas anders her als auf Erden", sprach er zu sich selbst, „und da läßt sich manches entschuldigen, aber wer kann geduldig mit ansehen, daß man die Pferde zugleich hinten und vorn anspannt? Freilich, sie hatten Flügel, aber wer kann das wissen? Es ist übrigens eine gewaltige Dummheit, Pferden, die vier Beine zum Laufen haben, noch ein paar Flügel anzuheften. Aber ich muß aufstehen, sonst machen sie mir im Haus lauter verkehrtes Zeug. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht wirklich gestorben bin." 48 Das „Märchen" v o m Meister Pfriem ist die Geschichte eines Besserwissers aber eben kein „Märchen" im herkömmlichen Sinn, sondern eine Bibelparaphrase auf das Gleichnis Jesu v o m Verkehrten Richten (Mt. 7, 1 - 5 , Lk. 6, 42): Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gerichte ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zeuch am ersten den Balken aus Deinem Auge; darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Es wäre nötig, an diese und andere Bibelparaphrasen, w i e man sie bisher im w e sentlichen nur von den Gesangbuchliedern her kannte, verschiedene Fragen zu stellen, etwa ob ein solcher U m g a n g mit der hl. Schrift, w i e sie ihn erkennen lassen, mit deren Integrität vereinbar ist. Auch ohne hierauf an dieser Stelle näher einzugehen, läßt sich sagen, daß Bedenken gegenüber einer Vermischung von biblischer Wahrheit mit frei erfundenen Fabulaten theologisch kaum j e eine Rolle gespielt haben. Der hl. Augustinus billigte die Fabulate dann, w e n n sie einem höheren Z w e c k dienten - mit dem Argument, daß sie einfach eine „Figur der Wahrheit", also ein Sinnbild darstellten: „Cum fictio refertur ad aliquam significationem, non est mendacium, sed aliqua figura veritatis." 49 Man versteht bei dieser Sachlage ohne weiteres, warum im 17. und 18. Jahrhundert, zumal in der zweiten Phase der Gegenreformation, solche Bibelparaphrasen als Volksliteratur, teils als „neue Zeitungen" und Zeitungslieder, teils als stärker auf den Tradierungsprozeß zugeschnittene Volkslieder und Volkser48

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Vgl. Hans-Jörg Uther: Meister Pfriem, in: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 9. Berlin 1998, Sp. 506-508. Augustinus: Quaest. de Evang. II, 51, in: Patrologia Latina 35, Sp. 1362. - Vgl. Gregor Müller: Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge. Ein Längsschnitt durch die Moraltheologie und Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Tugendlehre des Thomas von Aquin und der modernen Lösungsversuche. Freiburg u. a. 1962 (Freiburger Theologische Studien 78), S. 286.

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zählungen, aber ganz entsprechend gestaltet, in Umlauf gesetzt wurden - keineswegs primär im materiellen Interesse der Drucker und Verleger, sondern um erstens höhere, schon biblisch begründete Wahrheiten in eine neue, weithin entchristlichte Zeit zu tragen und sie dort erneut zur Geltung zu bringen; zweitens um mögliche, aus dem Prozeß der Säkularisierung oder der Konfessionsverschiedenheit erklärbare Abwehrhaltungen der Rezipienten gegen die Bibel dadurch zu unterlaufen, daß sie ihre stoffliche Herkunft und Beschaffenheit verborgen hielten; und drittens, um in ihrer faktischen Bibelbezogenheit einem der von den Reformatoren immer wieder gegen die Vertreter der alten Kirche erhobenen Vorwürfe entgegenzutreten, „lauter Getichte und Fabelwerck" zu verbreiten, indem sie nun selbst nicht mehr an der Tradition, sondern an der Schrift anknüpften. Es ging ihnen darum, in einer veränderten Zeit die Aktualität der Heilsbotschaft auf neue Weise hervorzuheben.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793ff. Arnim, L. Achim von / Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808, hg. v. Willi A. Koch, Darmstadt 1965. Augustinus: Quaest. de Evang. II, 51, in: Patrologia Latina 35, Sp. 1362. Catechismus Romanus ex Decreto Concilii Tridentini. Romae 1566. Flugschrift: Drey warhafftige Newe Zeitungen / vnd gründlicher Bericht auß vnterschiedlichen Orten / Erstlich / Auß dem Elsasserland / Wie das in dem Stättlein Hagenaw / der Statthalter mit sampt seinem Haußgesind deß gehen [= jähen] Todes gestorben; Auch wie hernach in dem Hauß Still vnd Bänck / Tisch vnd alles Blut geschwitzet / deß gleichen ein Teutsche Schrifft vom Blut an die Wand geschrieben / welches viel hundert Menschen gelesen: Wie sie lautfet] / wird man in diesem Liedt hören (...) Gedruckt / im Jahr 1626 (o. O.) Stadtbibliothek Ulm, Sign. Sch 8734 (Deutsches Volksliedarchiv Bl. 4401). Flugschrift: Eine grausame Geschichte, welche geschehen zu Krilling in Holland mit einem Bauern und seinem Weibe, indem sie die Vergelts-Gott verkauft haben. Was sich weiter mit ihnen hat zugetragen, wird alles in dem Gesänge ausführlich zu vernehmen seyn. Im Tone: Kommt ihr Götter u. helfet. - Das zweyte Lied: Bittet und bethet fur die armen Seelen. Gedruckt in diesem Jahre (Stadtbibliothek Wien, Sign. A 81.833; Druck 1718 Stadtbibliothek Schaffhausen, Sign. EC 38.1; weiterer Druck Burgenländisches Volksliedarchiv, Sign. 170/62). Flugschrift: Kurtzer Bericht / Derjenigen erschrecklichen Tragödie / So funff reiche Juden / im Anspacher Land in der Statt Schwabach / 3. Stund von Nürnberg / an einem Freytag da sie ihr Lauber-Fest hatten / in eins Juden seinem Garten / mit einem Budl Hund vorgenommen / der einem Christen-Würth gehörig / und einen Juden-Bub / welcher solchen gestohlen / denen Juden überbracht / hat dreyssig kleine Pfening darvor bekommen: darmit den gantzen Passion gespilt / und den Hund an statt Gott gecreutziget haben. Im Thon: Wach auf, mein Seel / dann es ist Zeit. Gedruckt (o. O.) Anno 1727. Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. P. o. germ. 1886/16 (DVA Bla. 5457). Goethe. Poetische Werke. Berliner Ausgabe. Red. S. Seidel. 16 Bde. Berlin: Aufbau-Verlag, 1960-1964. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Hamburg: Christian Wegener, 1948-1964. Grimm, Jakob u. Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand von 1857.

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Dietz-Rüdiger Moser

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Markus Rathey

Rezeption als Innovation Zur Aktualisierung traditioneller geistlicher Texte durch die Musik im 17. und frühen 18. Jahrhundert

Erbauliche Musik, die ihren Erbauungscharakter als überzeitliches Faktum fur sich in Anspruch nehmen könnte, gibt es nicht. Genauso, wie es keine „geistliche Musik" gibt, deren geistlicher Charakter sich durch musikimmanente Parameter bestimmen ließe,1 so gibt es auch keinen musikalischen Parameter, der fur die „Erbaulichkeit" verantwortlich zu machen wäre.2 „Erbauimg" hat zur Voraussetzung, daß das jeweilige Musikstück insoweit eine Wirkung auf den Hörer ausübt, als er die Kategorie, die in seinem eigenen ästhetischen System mit dem Etikett „erbaulich" versehen ist, in der entsprechenden Komposition verwirklicht sieht. Aussagen über die Erbaulichkeit von Musik sind also immer nur in dem Koordinatensystem der zeitgenössischen ästhetischen Paradigmen zu treffen. Die Voraussetzung für die angemessene Zuordnung im Zeichensystem ist die „kulturelle Einheit"3. Hier gilt, was Derrida im Rekurs auf die Musikanschauung Rousseaus festgestellt hat: Wenn die Kunst also mit Zeichen operiert [...], dann kann sie nur im System einer Kultur agieren und die Theorie der Kunst ist eine Theorie der Sitten [...]. Die Ästhetik ist durch eine Semiologie, ja sogar durch eine Ethnologie vermittelt. Die Wirkungen der ästhetischen Zeichen sind nur im Rahmen eines kulturellen Systems bestimmbar. 4

Was hier bei Derrida nur als ethnologische Differenz erscheint, muß jedoch noch in chronologischer wie soziologischer Hinsicht erweitert werden: Eine Komposition, die von der einen Generation (oder auch einer soziologischen Gruppe) als „erbaulich" empfunden wurde, kann von der nächsten ganz anders interpretiert werden. Gleiches gilt - mutatis mutandis - selbstverständlich auch für den Erbauungscharakter von Texten.

1

2

3 4

Vgl. Hans-Heinrich Eggebrecht: Geistliche Musik - was ist das?, in: ders.: Die Musik und das Schöne. München 1997, S. 132-133. Das große Problem der musikalischen Semiotik, und die Frage nach dem Erbauungscharakter von Musik gehört zu diesem Problemfeld, ist die Polysemie musikalischer Zeichen. „In der Musik", so stellte Umberto Eco fest, „besteht einerseits das Problem eines semiotischen Systems ohne semantische Ebene [...] andererseits aber gibt es musikalische .Zeichen' (oder Syntagmen) mit explizit denotativem Wert (Trompetensignale beim Militär), und es gibt Syntagmen oder ganze ,Texte' mit vor-kulturellem konnotativem Wert (.pastorale' oder .erregende' Musik usw.)." Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München 1987, S. 31. Die „Erbaulichkeit" läßt sich jedoch nicht mit einem dieser existierenden Syntagmen greifen, sondern ist von außermusikalischen Parametern abhängig. Umberto Eco: Einfuhrung in die Semiotik. München 1972, S. 74f. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt ®2000, S. 354.

228

Markus Rathey

Erbaulichkeit lebt von Aktualität. Damit ist gleich zu Beginn ein möglicher Konflikt vorgezeichnet: Die christliche Religiosität - als deren Teil im folgenden der Begriff „Erbaulichkeit" verstanden werden soll - lebt ebenso von der Aktualität wie von ihrer Traditionsverbundenheit. Die Schriftreligionen berufen sich auf eine Autorität, die ihnen vorgegeben ist. Und genauso lebt der christliche Glaube aus einer langen Tradition, die - trotz aller jeweils notwendigen Reformen und Reformationen - das Rückgrad der religiösen Praxis bildet. Nun hat die hermeneutische Texttheorie der letzten Jahrzehnte gezeigt, daß ein Text trotz seiner materiellen Konstanz inhaltlich keineswegs konstant ist; daß seine Bedeutungen synchron wie diachron changieren und daß letztlich auch die Autorintention, die zu ermitteln lange Zeit das Ziel einer ordentlichen Interpretation war, nur eine Textbedeutung unter anderen ist. Man muß nicht mit Roland Barthes den Tod des Autors postulieren,5 um zumindest die hermeneutische Crux (aber auch die hermeneutische Chance) in dieser Bedeutungsvielfalt im Spannungsfeld von Intention und Rezeption wahrzunehmen. Was bedeutet dies für das Corpus der überlieferten Texte der christlichen Tradition? Ein traditioneller Text wird zu jeder Zeit neu gehört, bringt neue Assoziationen an die Oberfläche. Zum Teil tun dies die Texte jedoch nicht von sich aus, sondern sie bedürfen der Interpretation.6 Und an dieser Stelle nun kann die Musik einen wichtigen Beitrag leisten. Anders als eine verbale Textinterpretation, die zwangsläufig supplementär zu dem jeweiligen zu interpretierenden Text hinzutritt und diesem entweder vorangeht oder nachfolgt, bietet die Musik die Chance der Gleichzeitigkeit. Simultan mit dem Erklingen des Textes kann die Musik durch ihren Charakter und durch die Akzentuierung bestimmter Textabschnitte den Text interpretieren. Für das frühe 17. Jahrhundert - aber auch darüber hinaus - hat Michael Praetorius 1613 die Möglichkeiten der Musik im Vorwort zu seinem Druck Urania zusammengefaßt, das sich einerseits an ein bereits bei Luther zu findendes Lob der Musik anschließt,7 die Kraft dieser Kunst aber noch deutlicher für die Verkündigung funktionalisiert: [Durch die Musik wird die] lehr vom wahren Gott / und alle Göttliche Vermahnungen / Trost / Lob und Dancksagungen in die Psalmen und Harmony eingeschlossen / desto leichter und tieffer in die Hertzen eingebildet / und dieselbige zum fewrbrennenden Eyfer wahrer Gottseligkeit entzündet und ermuntert werden möchten. 8

5

6

7

8

„[...] the birth of the reader must be at the cost of the death of the author", Roland Barthes: The death of the Author, in: Image-Music-Text, hg. v. Stephen Heath. New York 1977, S. 142-148, hier S. 148. Vgl. zur hermeneutischen Problematik im Umgang mit traditionellen Texten und den Chancen einer v. a. texttheoretischen Herangehensweise: Ulrich H. J. Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik. Göttingen 1994, passim. Vgl. Martin Luther, Vorrede zu Georg Rhaws Symphoniae iucundae (1538), in der freien Übertragung Johann Walters Lob und Preis der himmlischen Kunst Musica (1564), zitiert bei Christhard Mahrenholz: Luther und die Kirchenmusik. Kassel 1937, S. 7. Michael Praetorius: Urania oder Urano-Chorodia. Wolfenbüttel 1613, S. VI.

Rezeption

als

Innovation

229

D e r Vokalmusik kam in der z e i t g e n ö s s i s c h e n Musikanschauung d e s 17. Jahrhunderts eine Vorrangstellung zu, 9 da der Text die M u s i k eindeutig als geistlich determinierte. Erst durch den Text war der religiöse Charakter der M u s i k z w e i felsfrei zu erkennen. D i e s formuliert auch Diedrich v o n den Werder in der V o r rede z u den Vier und zwantzig

Freuden-reichen

Trost-Liedern

v o n 1653, in der

er der Musik nur insoweit eine (geistliche) Wirkung beimißt, als sie in K o m b i nation mit e i n e m verständlich dargebotenen Text erklingt: Jede Music ist nur ein bloßer Klang / ohne Meynung / und also / zu Erweckung Gott-seliger Gedanken unkräfftig / kommen aber Göttliche und zwar verständlich gesungene Worte darzu / so geben diese dem wohlgestimmten Klange einen Gott-seligen Nachdruck; jener aber hingegen denen Worten eine anmuthige Andacht / und andächtige Anmuth. 10 M a n wird diese recht schroffe Kritik der Instrumentalmusik für das 17. Jahrhundert sicherlich nicht verallgemeinern dürfen - es finden sich g e n ü g e n d G e genbeispiele, die auch der textlosen Musik unter bestimmten B e d i n g u n g e n einen Verkündigungscharakter einräumten 1 1 - , aber die grundsätzliche ästhetische Prävalenz d e s V o k a l e n war ein A l l g e m e i n g u t der Zeit. D i e M u s i k war selbst nicht Verkündigung, sondern i m m e r b e z o g e n auf einen expliziten oder auch impliziten Text. In ihrem Z u s a m m e n s p i e l mit d i e s e m Text hatte die M u s i k - auch dies klingt bei Praetorius bereits an - der rein verbalen Verkündigung j e d o c h etw a s voraus, indem sie die A u f n a h m e des im Text Gesagten erleichtern konnte; und indem sie - darauf weist Praetorius nicht hin - A k z e n t e z u m

Verständnis

d e s vertonten Textes setzen konnte.

9

10

11

Vgl. dazu Thomas Schlage: „Seelenmusic". Eine Predigt des Nürnberger Theologen Johann Saubert (1592-1646), in: Die Quellen Johann Sebastian Bachs - Bachs Musik im Gottesdienst. Bericht über das Symposium 4.-8. Oktober 1995 in der Internationalen Bachakademie Stuttgart, hg. v. Renate Steiger. Heidelberg 1998, S. 173-204, hier S. 203. Diedrich von den Werder: Vier und zwantzig Freuden-reichen Trost-Lieder oder Trost-reiche Freuden-Gesänge Auff die Stunde des Todes. Leipzig 1653 [RILM A/I W 798]. Vorrede. Vgl. zu diesem Druck auch Johannes Piersig: Das Weltbild des Heinrich Schütz. Kassel u. Basel 1949, S. 45. Voraussetzung war dabei jedoch, wie ein Gutachten der Theologischen Fakultät in Wittenberg von 1597 hervorhob, daß das „Genus", also die geistliche Bedeutung, erkennbar sei. Dies sei v. a. dadurch gewährleistet, daß die Melodie eines geistlichen Liedes zitiert werde: „Es ist die Instrumentalis Musica fur sich eine solche Gabe Gottes, daß sie die Gemüter der Menschen zu bewegen kräftig, wenngleich mit menschlicher Stimme nicht darunter gesungen wird. Wenn man nur das Genus weiß, so ist es (soviel das Orgeln belanget) genug und wird damit nicht in den Wind hinein georgelt. Das Genus aber ist, daß man weiß, es wären geistliche Lieder, die zu Gottes Lob gemacht sind, darauf geschlagen." Zitiert nach Gotthold Frotscher: Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition. Bd. I. Berlin 1935, S. 139; vgl. auch Christiane Bernsdorff-Engelbrecht: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik. Bd. 1. Wilhelmshaven 2 1987 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 56), S. 123f. Auf das Wittenberger Gutachten wurde auch in den Auseinandersetzungen um die geistliche Instrumentalmusik im 17. Jahrhundert häufig Bezug genommen; so etwa in einer Predigt über Kol 3,16 des Erfurter Theologen Nicolaus Stenger in dem Predigtband Tausend Zeuge nemlich Das Gewissen des Menschen Nach anleitung heiliger göttlicher Schriffi des alten und newen Testaments: In vier und dreyssig Predigten [...] herausgegeben (Erfurt 1647, S. 561). Siehe zu Stengers Musikanschauung zusammenfassend: Markus Rathey: „Die Lieblichkeit der Stimmen ist eine Gabe Gottes ...". Zur Musikanschauung des Erfurter Theologen Nicolaus Stenger, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 61 (2000), S. 59-74.

230

Markus Rathey I.

Die technisch einfachste Möglichkeit der „Interpretation", die aber gleichzeitig bereits die Chance der Aktualisierung mit sich bringt, ist die Neuvertonung eines älteren Textes. Entsprach die Melodie - oder die Melodiegestalt - eines Liedes nicht dem jeweils aktuellen ästhetischen Empfinden, so konnte sie durch eine andere ersetzt oder die alte Melodie den neuen Vorstellungen angepaßt werden. Geschehen ist dies etwa bei dem Lied „Schönster Herr Jesu", dessen 1677 erstmals gedruckte, im Arienstil gehaltenen Melodie (I) späteren Generationen nicht mehr zusagte und schließlich im 19. Jahrhundert durch eine andere ersetzt wurde (II). Der Text blieb weitgehend gleich - die Aktualisierung erfolgte durch eine neue Melodie, in der die Zeitgenossen die Schönheit Jesu angemessener ausgedrückt sahen:

Schön-ster Herr Je - su,

Got - tes

und

Herr-scher al - ler Her-ren,

Ma -

Schön-ster HerT J e - - s u ,

Got - tes

und

Ma -

ri - en

Sohn,

Herr-scher al-ler

-

ri

- en

Her--ren,

Sohn,

Abb. 1: Schönster Herr Jesu, Beginn der beiden Melodiefassungen

II. Die Musik bietet aber noch weitergehende Möglichkeiten. Die im folgenden dargestellte Methode ließe sich wohl am adäquatesten mit „Selektion als Interpretation" überschreiben. Im Zentrum soll dabei vor allem der Umgang mit Kirchenliedern sowie Bibeltexten stehen, die als durch die Tradition vorgegebene, jedoch durch ihre Verwendung in der liturgischen oder privaten praxis pietatis trotz ihrer historischen Abständigkeit präsente Texte, jeweils einer neuen Aneignung bedürfen. Ein Kirchenlied besteht in der Regel aus mehreren Strophen, und es ist im Sinne des Autors, alle Strophen als Einheit zu verstehen und möglichst auch alle Strophen im Vollzug beieinander zu lassen.12 Andererseits bietet die Selektion

12

Vgl. dazu den Beitrag von Hermann Kurzke in diesem Band.

Rezeption als Innovation

231

nur einiger ausgewählter Strophen die Chance einer veränderten, von der Autorintention abweichenden Schwerpunktsetzung. So wird etwa aus dem Passionslied Bei stiller Nacht von Friedrich Spee von Langenfeld, wie Andrea Neuhaus eindrucksvoll dargestellt hat,13 in der Rezeption des 19. Jahrhunderts plötzlich ein Naturlied, indem die eigentlichen Passionsstrophen eliminiert werden und so der rein metaphorische Charakter der Naturmotivik verdeckt wird. Eine solche selektierende Interpretation kann so weit gehen, daß letztlich nur eine einzige Strophe übrigbleibt. Dies ist im 17. Jahrhundert bei dem Lutherlied „Vom Himmel hoch, da komm ich her" geschehen. Das Lied war einerseits - wie heute auch noch - als Weihnachtslied in Gebrauch, daneben entwickelte aber eine Strophe ein auffälliges Eigenleben. Die Motivation zu dieser Selektion lässt sich aus der zeitgenössischen Frömmigkeit heraus erklären, und dabei wird deutlich, wie durch die Schaffung eines neuen Kontextes ein traditioneller Text den zeitgenössischen Erbaulichkeitsvorstellungen angepaßt wurde. Martin Luther veröffentlichte sein Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her" erstmals im Klugschen Gesangbuch von 1535. Gerhard Hahn hat in seiner Studie über die Lieder Martin Luthers eine dreiteilige Anlage herausgearbeitet: Der Engelsbotschaft in den Strophen 1-5 folgt der Gang zur Krippe in Strophe 6. Den Abschluß bilden dann betrachtende Reden vor der Krippe (Strophe 7-15). 14 Die Strophen 1-7 haben narrativen Charakter, während in den Strophen 8-15 reflektierend über das Weihnachtsgeschehen meditiert wird. Betrachtet man die Geschichte der Vertonungen dieses Liedes, so fallt auf, daß die 13. Strophe von Luthers Weihnachtslied („Ach mein herzliebes Jesulein") im 17. Jahrhundert überproportional häufig allein bearbeitet wurde. Samuel Scheidt veröffentlichte 1635 im dritten Teil seiner Geistlichen Concerte eine Vertonung dieser Strophe; der thüringische Komponist Johann Rudolph Ahle ließ 1657 und 1658 jeweils eine groß besetzte Motette und 1663 ein solistisch besetztes Konzert drucken; und der Schütz-Schüler Christoph Bernhard publizierte in den 1665 erschienenen Geistlichen Harmonien ebenfalls ein Konzert mit diesem Text. Auch in der handschriftlichen Überlieferung finden sich Sätze über die Strophe aus dem Lutherlied. Stellvertretend sei nur ein kleines geistliches Konzert fur 2 Soprane und Basso continuo des Thomaskantors Johann Schelle (1648-1701) erwähnt. All den genannten Kompositionen sind zwei Charakteristika gemeinsam: Alle lösen die Strophe aus ihrem ursprünglichen Kontext, und alle verzichten bei der Vertonung auch auf die originale Melodie.15 Die Komponisten vertonen die Worte so, als handele es sich um einen freien poetischen Text. Die Strophe wird also gleich zweifach aus ihrem 13

14

15

Andrea Neuhaus: Das geistliche Lied in der Jugendbewegung. Von den Anfangen bis zum Ersten Weltkrieg. Diss. Mainz 2003. S. Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München 1981 (MTU 73), S. 134. Einen Kompromiß zwischen freier Vertonung und Choralbearbeitung wählt Sebastian Knüpfer (1633-1676) in seinem Konzert Ach mein herzliebes Jesulein. Bei der Vertonung der 13. Strophe des Lutherliedes verzichtet er ebenfalls auf den c. f. Abgeschlossen wird das Konzert dann allerdings mit einem Kantionalsatz über die originale Melodie, dem die Worte der 14. und 15. Strophe unterlegt sind.

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Markus Rathey

Kontext herausgelöst: einmal aus dem Zusammenhang des Liedes und zum anderen aus ihrer Verbindung mit der dazugehörigen Weise. 16 Das Herauslösen der einen Strophe bedeutete eine inhaltliche Schwerpunktverlagerung im Hinblick auf die Textaussage. Nun stand nicht mehr das Weihnachtsgeschehen als Ganzes im Blickfeld, sondern nur noch die Einwohnung Christi im Herzen des Menschen. Vor dem Hintergrund der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jahrhunderts wird diese Akzentverschiebung unmittelbar einsichtig. Während der Gedanke der Einwohnung bei Luther nur einen Nebenaspekt des Weihnachtsgeschehens bildete und im Schatten der Inkarnation und deren Heilsbedeutung stand,17 gewann er mit der Aufnahme bernhardinischer Mystik im Protestantismus etwa um 1600 zunehmend an Bedeutung. Nach Vorläufern wie beispielsweise Martin Moller, der bereits am Ende des 16. Jahrhunderts die bernhardinische Frömmigkeit rezipiert hatte, war vor allem Johann Arndt, als einer der am meisten gelesenen Autoren von Andachtsliteratur, für deren weitere Vermittlung im 17. Jahrhundert maßgeblich. 18 Zentraler Gedanke der Arndtschen Theologie war die praxis evangeliorum: Der ist ein rechter Diener Christi / der Christo im Leben nachfolget [...] Ein Liebhaber Christi ist auch ein Nachfolger Christi.19 Die Wiedergeburt, Ziel- und Angelpunkt seiner Theologie, beschreibt er folgendermaßen: Diß ist die Vereinigung mit Gott /[...] die vermehlung mit vnserm Himmelbreutigam Christo Jesu /[...] Der lebendige Glaube / die newe Geburt / Christi Einwohnung in vns / Christi edles Leben in vns [...].20

16

17

18

19

20

Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. So vertonte Melchior Schildt (1592/93-1667) die 1 3 15. Strophe von Vom Himmel hoch unter Beibehaltung der Choralmelodie. Auch bei ihm ist eine sehr expressive Textausdeutung zu beobachten, der jedoch durch das Festhalten an der Melodie gewisse Grenzen gesetzt sind. Der Gedanke der Einwohnung fügt sich allerdings bruchlos in die Theologie Luthers ein. Schon 1520 hatte er in einer Predigt formuliert: „Dies Kind ist allein dazu geordnet, daß es soll das Herz füllen. Wann sich das Herz also durch den Glauben ergibt, dann findets, daß er heiße ein süßer Jesus. Darnach erhebt sich das Herz in den Vater, der so gnädig ist, daß er das Kind ins Herz gegeben hat. Es ist nicht auszusagen oder zu gedenken, daß ein solch eng Ding so großen Schatz in sich haben soll. So wird dann das große Wunderzeichen wieder erneuert, davon wird das Herz süße, fröhlich, getrost, unerschrocken und hat Friede vor allem Jammer, der ihn anstoßen kann. Denn was sollte seinem Herzen wehe geschehen? Wo das Kind bleibt, wird es auch wohl bleiben. Das Herz und Kind scheiden sich nicht von einander." Martin Luther: Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Bd. 7, hg. v. Paul Pietsch u.a. Weimar 1897, S. 190, Sp. 23ff. Vgl. Johannes Wallmann: Johann Arndt und die frühprotestantische Frömmigkeit. Zur Rezeption der mittelalterlichen Mystik im Luthertum, in: ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, S. 1-19, hier S. 15. Arndt: 1. Buch, 1606, zitiert nach Ferdinand van Ingen: Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei Johann Arndt und Philipp von Zesen, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 467-475, hier S. 470. Arndt: Zwey alte vnd Edle Büchlein, 1606; zitiert nach van Ingen: Wiederaufnahme, S. 473.

Rezeption als Innovation

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Und diese Vereinigung geschieht, so vermittelt Arndt im dritten Buch vom wahren Christentum, im Herzen des Menschen. Martin Brecht stellt dazu fest: Einen gewissen Höhepunkt stellt das dritte Buch, der Liber Conscientiae, dar, das vom Reich Gottes als dem höchsten Schatz handelt, den Gott in das Herz des Menschen gelegt hat. Auch Arndt kann [...] Gott samt seinen Beziehungen ganz in der Seele konzentrieren, so daß die Welt und alles übrige daneben belanglos wird. Im vollkommenen Alter des Christen kommt es zur Vereinigung mit Gott. [...] Durch das inwendige Wort Christi wird die Seele zur Wohnung Gottes bereitet. [...] Zwar bleibt Gott bei der Vereinigung der Wirkende, die Seele gibt nur statt, [...] aber offenkundig ist das Gottesverhältnis individualistisch gedacht und unabhängig von der Welt wie der kirchlichen Institution.21

Diese Haltung ist charakteristisch für die Frömmigkeit der Zeit und spiegelt sich ebenfalls in vielen Advents- und Weihnachtsliedern des 17. Jahrhunderts. So heißt es in der vierten Strophe des Liedes „Macht hoch die Tür" von 1623: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eur Herz zum Tempel zubereit", und in der folgenden Strophe: „Komm ο mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist." Auch bei Paul Gerhardt rückt die Einwohnung Christi in das Zentrum des Weihnachtsgeschehens. In der letzten Strophe seines Weihnachtsliedes „Ich steh an deiner Krippen hier" dichtet er: Eins aber hoff ich, wirst du mir / mein Heiland, nicht versagen: / daß ich dich möge fur und für / in, bei und an mir tragen. / So laß mich doch dein Kripplein sein, / komm, komm und lege bei mir ein / dich und all deine Freuden.

Karl Hauschildt hat daher in seiner Studie zur Christusverkündigung im Weihnachtslied festgestellt: Der schon in der vorigen Periode beliebte Gedanke von der Einwohnung Jesu im Herzen erfreut sich steigender Wertschätzung. Der Gedanke, daß das Jesuskind sich ein Bett bereiten möge im menschlichen Herzen, war anfanglich mehr ein inniges Bild am Rande gewesen und rückt immer stärker in die beherrschende Mitte. Die Verschiebung dieses Bildes ist ein Symptom für die Verlagerung des Glaubensinteresses vom Gedankenkreis des Christus pro nobis auf den Christus in nobis. 22

Die frömmigkeitsgeschichtliche Aktualität der 13. Strophe von Luthers Weihnachtslied im 17. Jahrhundert zeigt sich auch in einem zweiten Faktum, das ebenfalls eng mit der Person Arndts verknüpft ist. Nicht zuletzt durch seine Vermittlung wurde mit dem Hymnus „Jesu dulcis memoria" ein Kerntext bernhardinischer Frömmigkeit im deutschen Protestantismus populär, den der bereits genannte Johann Rudolph Ahle allein fünfmal in unterschiedlichen Fassungen vertont hat; und auch von vielen anderen zeitgenössischen Komponisten liegen zahlreiche Vertonungen dieses pseudobernhardinischen Hymnus vor.23

21

22

23

Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: Geschichte des Pietismus: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, hg. v. Martin Brecht. Bd. 1. Göttingen 1993, S. 113-203, hier S. 137. Karl Hauschildt: Die Christusverkündigung im Weihnachtslied unserer Kirche. Eine theologische Studie zur Liedverkündigung. Göttingen 1952 (Veröffentlichungen der Evangelischen Gesellschaft für Liturgieforschung 8), S. 80. So etwa von Samuel Scheidt und Heinrich Schütz.

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Vergleicht man Luthers Strophe und Arndts Übersetzung, so lassen sich motivische Parallelen feststellen. Die beiden ersten Strophen des Hymnus lauten in deutscher Übersetzung: i. Ο Jesu süsz / wer dein gedenckt / Sein Hertz mit Frewd wird überschwenckt / Noch süsser aber alles ist / Wo du / Ο Jesu selber bist. II. Jesus deer Hertzen Frewd vnd Wonn / Desz Lebens Brunn / du waare Sonn / Dir gleichet nichts auff dieser Erd / In dir ist / was man je begert.

Es folgen noch 16 weitere Strophen, in denen fast in jeder die Begriffe „Herz" und „süß" aufgegriffen werden. Für eine an diesem Hymnus orientierte Herzensfrömmigkeit bot zweifellos auch Luthers Liedstrophe ein hohes identifikatorisches Potential. Bei genauer Betrachtung ergeben sich jedoch auch Differenzen: Die 18. Strophe des Hymnus endet mit den Worten: „Mein Hertz von mir gewichen ist / Laufft Jesu nach / hat ihn erwischt." Während also der Hymnus eine synergistische Tendenz aufweist: das Herz des Menschen läuft Jesus nach und ist in der Lage, ihn auch zu „erwischen", so liegt bei Luther, ganz im Sinne des Leitsatzes solus christus, das ganze Handeln allein bei Jesus: „Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein". Es ist Jesus, der das „Bettelein" bereitet; alles, was der Mensch tun kann, ist als re-actio zu verstehen. Doch dieser Gegensatz hat der Popularität der Texte keinen Abbruch getan, und es scheint vielen Zeitgenossen keine Mühe bereitet zu haben, bernhardinische und lutherische Frömmigkeit als sich ergänzende Traditionsstränge zu verstehen, so daß Martin Rinckart 1636 ein Buch mit dem Titel Herz-Jesu-Büchlein, darinnen lauter Bernhardinische und Christ-Lutherische Jubel-Herz-Freuden gesammelt veröffentlichen konnte, in welchem beide Tendenzen zu einem Ausgleich gebracht sind. Die Mechanismen der kompositorischen Aneignung der Strophe aus Luthers Weihnachtslied sei an einem Beispiel verdeutlicht. Es stammt von dem Thomaskantor Johann Schelle. Wie schon erwähnt, verzichtet auch er auf den Cantus firmus, was ihm die Möglichkeit einer ganz auf den Textaffekt abzielenden Vertonung bietet. Der weihnachtliche Charakter ist gänzlich eliminiert zugunsten einer affektreichen Tonsprache, die musikalisch auf der Höhe der Zeit stand. Schelle weist jeder der vier Zeilen der Liedstrophe einen eigenen Abschnitt in der Komposition zu und erweitert dieses Schema dann noch durch ein abschließendes „Amen".24 So ergibt sich der folgende Aufbau:

24

Vgl. zur Gestaltung der Komposition auch den Überblick bei Friedrich Graupner: Das Werk des Thomaskantors Johann Schelle (1648-1701). Wolfenbüttel u. Berlin 1929, S. 49. Leider gelangt Graupner kaum über eine knappe Beschreibung des musikalischen Ablaufs hinaus.

235

Rezeption als Innovation

I II III IV V

Text Ach mein herzliebes Jesulein mach dir ein rein sanft Bettelein zu ruhen in meines Herzens Schrein daß ich nimmermehr vergesse dein. Amen.

Takt 1-25 26-66 67-83 84—108 109-122

Metrum C 3

/4

C

% c

Durch die Lösung vom c. f. eröffnet sich fur den Komponisten eine breite Palette der Textausdeutung und -Intensivierung. Dies wird bereits in den Anfangstakten deutlich. Das initiale „ach" wird durch aufsteigende Seufzerfiguren und dissonante Vorhaltsbildungen expressiv gesteigert. Eindrücklich wird auch das Wort „liebes" durch einen verminderten Quartsprung (T. 2/3) hervorgehoben. Ähnliches gilt für das ausdrucksstarke Seufzermelisma auf „Jesulein":

Abb. 2: Johann Schelle, Ach mein herzliebes Jesulein, T. 1-4

Dieses Anfangssoggetto wird abwechselnd von den beiden Cantus (mit jeweils kleinen melodischen und harmonischen Derivationen) vorgetragen, bevor sich schließlich beide Stimmen in T. 15 vereinen. In T. 22 erfahrt dann das zentrale Wort „liebes" nochmals eine zusätzliche Intensivierung, indem es auf einem dissonanten, in der strengen Kontrapunktlehre nur in Ausnahmefallen gestatteten Quartsextakkord auf schwerer Taktzeit und zusätzlich in gedehnter Deklamation erscheint:

mein herz - lie - bes, mein herz - lie - bes

Abb. 3: Johann Schelle, Ach mein herzliebes Jesulein, T. 21-23

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Markus Rathey

Der zweite Teil des Konzerts ist als Kontrast zu dem expressiven ersten Teil konzipiert. Das Metrum wechselt in einen Dreiertakt und die harmonische Gestaltung ist einfacher und dissonanzarm, ζ. T. geradezu statisch. Auffällig ist einzig ein ausgedehntes Betonungsmelisma auf „Bettelein" (T. 44ff.), in dem man durch die zahlreichen Wechselnoten auch die Geste des Krippenwiegens erkennen mag. Im dritten Abschnitt macht Schelle wiederum zwei zentrale Worte durch figürliche Auszeichnung ohrenfällig: Das Wort „ruhen" erscheint in langen Notenwerten, die durch den an dieser Stelle ungewöhnlich bewegten Baß noch ruhiger wirken. Darüber hinaus ist der Begriff „Herzens Schrein" durch ein ausgedehntes Betonungsmelisma hervorgehoben, das gegen Ende des Teils noch durch dynamische Abstufungen variiert wird. Im vorletzten Teil schließlich verzichtet Schelle auf solch auffällige Textdeutungen und vertont den zugrundeliegenden Text nur in engmaschiger Imitation. Ähnliches gilt für das abschließende „Amen", das im originalen Liedtext nicht erscheint, und dadurch nochmals die Selbständigkeit dieser Strophe hervorhebt. Das durch eine ausladende Melismatik gekennzeichnete Soggetto wird in einem polyphonen Triosatz verarbeitet. Ein weihnachtlicher Charakter ist dem Konzert nicht zueigen. Durch den Verzicht auf die weihnachtliche Melodie und auf weihnachtliche Idiomatik wie durch die expressive, am Text dieser Strophe orientierte Gestaltung konzipiert Schelle ein Stück „erbaulicher Andachtsmusik". Die Kompositionen über Ach mein herzliebes Jesulein fugen sich bruchlos in eine Frömmigkeitshaltung ein, die viele der Zeitgenossen prägte. Die Aktualisierung fand statt, indem der ursprüngliche Kontext verdeckt wurde lind durch die neue Vertonung Bedeutungsschichten - nämlich die der Einwohnung im Herzen - freigelegt wurden, die zwar in nuce im vorliegenden Text bereits angelegt waren, nun jedoch deutlicher zutage traten.

III. Ich habe bereits auf das Charakteristikum der Musik hingewiesen - anders als die verbale Interpretation - , gleichzeitig mit dem jeweils zu interpretierenden Text akustisch präsent zu sein, im Klingen also schon eine Interpretation herbeiführen zu können. Dieses läßt sich noch einen Schritt weiter treiben. Nicht nur Musik und Text können gleichzeitig erklingen, sondern auch verschiedene Texte können simultan zum Erklingen gebracht werden. Auf rein sprachlicher Ebene ist dies nur schwer möglich. Jacques Derrida hat in seinem Buch Glas in zwei Spalten einen Text von Hegel und - neben lexikalischen und methodischen Anmerkungen - Texte zu Jean Genet angeordnet, die ein sehr diffiziles intertextuelles Geflecht bilden und sich gegenseitig interpretieren. 25 Klaas Huizing hat diesen Gedanken aufgenommen und in seinem dekonstruktivistischen 25

Jacques Derrida: Glas. Paris 1974; vgl. dazu den grundlegenden Artikel: Gabriella Baptist / Hans-Christian Lucas: Wann schlägt die Stunde in Derridas ,Glas'? Zur Hegelrezeption und -kritik Jacques Derridas, in: Hegel-Studien 23 (Bonn 1988), S. 139-179; sowie zuletzt den von Stuart Barnett hg. Sammelband: Hegel After Derrida. London u. New York 1998, der sich schwerpunktmäßig mit dem Buch Glas befaßt.

Rezeption als Innovation

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Roman Der Buchtrinker Worte aus Offenbarung 19 und einen Ausschnitt aus der Autobiographie seines Protagonisten Johann Georg Tinius gegenübergestellt.26 Die Simultanität auf der Ebene der Graphie in beiden genannten Texten wird jedoch ein Rezipient in gleicher Weise nicht nachvollziehen können. Er ist darauf angewiesen, die Texte entweder nacheinander oder jeweils Stück für Stück zu lesen. Auch für die eben genannte Strophe des Lutherliedes und die beiden ersten Strophen des pseudobernhardinischen Hymnus ließe sich dies einmal versuchsweise unternehmen:

Ach, mein herzliebes Jesulin / mach dir ein rein sanft Bettelin / zu ruhen in meins Herzen Schrein / , „. . . , . daß ich nimmer vergesse dein.

Ο Jesu süsz / wer dein gedenckt / Sein Hertz mit Frewd wird überschwenckt / Noch süsser aber alles ist / Wo du / Ο Jesu seiber bist. Jesus deer

Hertzen Frewd vnd Wonn / Desz Lebens Brunn / du waare Sonn / _.· „ ,, . ., Dir gleichet nichts auft dieser Erd / TIn dir ist / was man je begert.

Die Lektüre ist mühsam - erbaulich ist sie kaum. Die Mehrstimmigkeit der Musik bietet jedoch nun die Möglichkeit, jeder Stimme einen eigenen Text zuzuweisen. Und dies wurde - lange vor Derrida und Huizing - in der Geschichte der Musik häufig genutzt. Frühe Beispiele der Mehrtextigkeit reichen bereits bis in die Anfange der abendländischen Mehrstimmigkeit.27 Ich übergehe diese musikhistorische Entwicklung und beschränke mich auf das 17. und frühe 18. Jahrhundert.28 Besonders beliebt in dieser Zeit waren Kombinationen aus Bibeltext und Choral. Die Grundlage bildete zumeist eine Spruchmotette über einen biblischen Vers, der dann durch das simultane Hinzutreten eines Chorais interpretiert wurde. Vor allem im mitteldeutschen Repertoire finden sich solche Tropierungen. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Technik ist Johann Michael Bach, der erste Schwiegervater Johann Sebastians. In der doppelchörigen Motette „Fürchtet euch nicht" wird die Verkündigung des Engels aus Lk 2 mit der Choralstrophe „Gelobet seist du, Jesu Christ" tropiert 29 Die doppelchörige Motette weist einen zweiteiligen Aufbau auf, der sich eng am zugrundeliegenden Text orientiert:

26 27

28

29

Klaas Huizing: Der Buchtrinker. Zwei Romane und neun Teppiche. München 21996,S. 152-153. Vgl. zu diesem Phänomen zusammenfassend: Reinhold Hammerstein: Über das gleichzeitige Erklingen mehrerer Texte. Zur Geschichte mehrtextiger Komposition unter besonderer Berücksichtigung J. S. Bachs, in: Archiv für Musikwissenschaft 27 (1970), S. 257-286. Das 17. Jahrhundert kannte jedoch auch Spielarten der Tropierung, die weniger erbaulich als polemisch waren. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Komposition Die Prophezeiung von Luthero, die der Erfurter Komponist Michael Altenburg 1617 zum einhundertjährigen Reformationsjubiläum drucken ließ. Altenburg tropiert dort einen Text aus Apk 14, 6-8 mit einem Spottgedicht auf den Papst. Der Fall des Antichristen im Text aus der Johannesoffenbarung findet so gleich seine Applicatio in der Übertragung auf den Sieg Luthers über den Papst; vgl. dazu: Markus Rathey: Gaudium Christianum. Michael Altenburg und das Reformationsjubiläum 1617, in: Schütz-Jahrbuch 20 (1998), S. 107-122, hier S. 114-117. Zu den Choraltropierungen bei Johann Michael Bach vgl. Karl Geiringer: Die Musikerfamilie Bach. Leben und Wirken in drei Jahrhunderten. München 1958, S. 46-50; zur Motette „Fürchtet euch nicht" v. a. S. 48.

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Markus Rathey Text I

Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.

II

Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr in der Stadt David.

Takt

Metrum

1-33

C

34-73

C

Im ersten Teil der Komposition tragen die beiden vierstimmigen Chöre umschichtig den Text in homorhythmischer Deklamation vor. Der Textvortrag ist durchgehend syllabisch und wird nur auf dem Wort „allem" (T. 22ff.) durch ein knappes Betonungsmelisma aufgelockert. Damit entspricht dieser Teil der üblichen Gestaltung von Spruchmotetten, wie sie zu dieser Zeit häufig im mitteldeutschen Repertoire anzutreffen ist. Im zweiten Teil der Motette wird die strenge Doppelchörigkeit dann aufgegeben. Die Unterstimmen (Alt / Tenor / Baß) der beiden Chöre singen im homophonen, fünfstimmigen Satz, während die Oberstimmen zunächst ausgespart bleiben. Auch hier ist die Textdeklamation syllabisch und in harmonischer Hinsicht - wie bereits in Teil I - sehr einfach gehalten. Im Vordergrund steht eine Deklamation, die ganz an der akustischen Verstehbarkeit des Textes orientiert ist; eine Forderung, die häufig an geistliche Musik gestellt wurde, und die nicht zuletzt auch ihre Erbaulichkeit verbürgte. 30 Nachdem in Teil II der Text einmal vollständig erklungen ist, setzen in T. 43 die Oberstimmen beider Chöre mit dem Choral „Gelobet seist du Jesu Christ" ein, während sich die Unterstimmen nun zu einem dreistimmigen kontrapunktischen Geflecht vereinen. Friedhelm Krummmacher spricht hier treffend von einem „Dach-c. f.".31 Die textbetonende Homorhythmik der Unterstimmen wird aufgegeben zugunsten eines imitierenden Satzes, in den nun auch einige melismatische Abschnitte eingewoben sind. Im Hinblick auf die Textverständlichkeit nimmt J. M. Bach eine offensichtliche Gewichtung vor: Im Vordergrund steht der Choral, der deutlich vernehmbar in den Oberstimmen erklingt. Der Text der Unterstimmen war vor Hinzutreten der Choralmelodie bereits einmal erklungen und bildet nun den Hintergrund für den Choraltext, indem seine Verstehbarkeit durch die Positionierung in den Unterstimmen wie auch durch seine polyphone Verarbeitung reduziert wird. Die Gleichzeitigkeit der beiden Texte wird also dadurch gewährleistet, daß zunächst eine der beiden Textebenen separat exponiert wird, um dann die Dominanz der anderen Ebene zu überantworten. Hätte Bach gleich beide Texte simultan vertont, so wäre keiner der beiden ohne Probleme zu verstehen gewesen. So aber wurde die Gleichzeitigkeit durch musikalische Mittel erst ermöglicht.

30

31

Darauf wies etwa auch Nicolaus Stenger in der Predigt über Kol 3, 16 von 1647 hin (Tausend Zeüge, S. 573-574). Friedhelm Krummacher: Die Choralbearbeitung in der protestantischen Figuralmusik zwischen Praetorius und Bach. Kassel 1978 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 22), S. 341.

Rezeption als Innovation

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