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German Pages 1707 [1712] Year 1996
Adolf von Harnack als Zeitgenosse Teil 1
w DE
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Adolf von Harnack als Zeitgenosse Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik
Herausgegeben und eingeleitet von
Kurt Nowak Mit einem bibliographischen Anhang von Hanns-Christoph Picker
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
Adolf von Harnack als Zeitgenosse Teil 1 Der Theologe und Historiker
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1996
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Harnack, Adolf von: Adolf von Harnack als Zeitgenosse : Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik / hrsg. und eingeleitet von Kurt Nowak. Mit einem bibliogr. Anh. von HannsChristoph Picker. - Berlin ; New York : de Gruyter. ISBN 3 - 1 1 - 0 1 3 7 9 9 - 2 NE: Nowak, Kurt [Hrsg.] Teil 1. Der Theologe und Historiker. - 1996 © Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Man lernt die Welt nur soweit kennen, als man auf sie wirkt. Adolf von Harnack
Vorwort
Seit geraumer Zeit bestand der Wunsch nach einer gestrafften Neuausgabe der „Reden und Aufsätze" Adolf von Harnacks unter Einschluß des posthumen Ergänzungsbands „Aus der Werkstatt des Vollendeten". An erster Stelle stand hierbei die Erwägung, daß die Forschungen zur Wissenschafts- u n d Bildungsgeschichte des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik an einem Gelehrten vom Range Harnacks nicht vorübergehen können. Im Vergleich mit den Forschungen zu Max Weber, Ernst Troeltsch, Georg Simmel, Werner Sombart, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf u. a. droht Harnacks wissenschaftsgeschichtliche und bildungspolitische Bedeutung zu verblassen, falls sich die Forschungsaktivitäten zu seinem Leben, Werk und Wirken nicht spürbar verstärken. Insofern richtet die Ausgabe ein Erinnerungszeichen auf und lädt zur intensiveren Einbeziehung des Theologen und Kirchenhistorikers, des Wissenschaftsorganisators und Gelehrtenpolitikers in das Spektrum der Forschung ein. An zweiter Stelle machte sich eine pragmatische Erfahrung bemerkbar. Aus der Fülle des Corpus Harnack steht ein Teil der Texte — namentlich aus dem fachwissenschaftlichen Oeuvre — bequem zur Verfügung. Dieser Teil von Harnacks Werk ist nach wie vor ein lebendiger Beitrag zur Patristik und zur Geschichte der Alten Kirche. Andere Schriften sind demgegenüber nur noch schwer greifbar. Selbst manche ansonsten gut ausgestattete wissenschaftliche Bibliothek kann sie dem Benutzer kaum noch anbieten. Hier will die neue Ausgabe Abhilfe schaffen, soweit das in den ihr gesteckten Grenzen möglich ist. Die Beschränkung der Ausgabe auf den Umkreis der „Reden und Aufsätze" besitzt den Vorteil, Texte darzubieten, die für Harnack den Stempel einer gesteigerten Authentizität trugen. Wie Dr. Axel von Harnack, der Sohn, bezeugte, lagen die „Reden und Aufsätze" und die für den dann posthumen Band ausgesuchten Schriften dem Autor ganz besonders am Herzen. Sie sind ein besonders direkter Ausdruck seines Denkens und seiner Wirksamkeit. Man mag außerhalb der „Reden und Aufsätze" auf diesen oder jenen Text verweisen können, von dem man meint, er dürfe in einer aussagekräftigen Präsentation nicht fehlen. Andererseits ist
VIII
Inhaltsverzeichnis
Harnacks Angebot zur Selbstdeutung zu beachten. In diesem Umstand liegt eine Legitimation, sich auf die von Harnack selbst gewählten Texte zu stützen. Überdies dürfte es nicht ganz leicht fallen, außerhalb der „Reden und Aufsätze" wirklich Unverzichtbares aufzuspüren. Harnacks geistige Welt war einerseits eklektisch, andererseits, was das Grundsätzliche angeht, von zirkulärer Kohärenz und Homogenität bestimmt. Die Leitgedanken werden immer wieder aufgegriffen und lediglich aus gegebenem Anlaß variiert. Pointiert gesprochen bieten die „Reden und Aufsätze" in der Entfaltung ihrer zahlreichen T h e m e n von der Theologie über die Wissenschaftsorganisation bis zur Politik eine in den Sachen versteckte und zugleich offen ausgebreitete geistige Biographie dar. Diese Biographie bildet den Spiegel einer Epoche in individueller Brechung. Der Herausgeber und der Verlag hoffen, daß durch die Straffung und neue Ano r d n u n g der Texte nichts von ihrer Eigenart verlorengegangen ist, diese Eigenart im Gegenteil noch deutlicher zutage tritt als vorher. Die der Ausgabe beigegebene historische Einführung möchte die „Reden und Aufsätze" in ihrem biographischen und zeitgeschichtlichen Rahmen sowie mit ihren theologischen und geschichtsphilosophischen Hintergründen verständlich machen. Kurt Nowak
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
VII Historische Einführung
I.
Adolf von Harnack. Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus
1
Von Dorpat nach Berlin
2
1. Herkunft 2. Leipzig, Gießen, Marburg 3. Ruf in die Reichshauptstadt
2 5 17
II. Horizonte des freien Christentums
25
1. Christentum ohne Dogma 2. Theologische Richtungskämpfe 3. Bürgerfrömmigkeit
25 30 42
III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
46
1. 2. 3. 4.
Wissenschaft als Großbetrieb Sozial- und Bildungspolitik Internationale Kulturpolitik Weltkrieg und Staatsumbruch
46 64 72 76
IV. Die letzten Lebensjahre
84
V. Bemerkungen zu den Texten u n d zum bibliographischen Anhang
95
Teil 1 Der Theologe und Historiker I.
Person u n d Botschaft Jesu 1. Als die Zeit erfüllet war. (1899) 2. Christus als Erlöser. (1899)
104 111
X
Inhaltsverzeichnis 3. Der Heiland. (1900) 4. Einige Worte Jesu, die nicht in unseren Evangelien stehen. (1904) 5. Vorfragen die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte betreffend (1905) 6. Hat Jesus gelebt? (1910) 7. Das doppelte Evangelium im Neuen Testament (1910) 8. Der gegenwärtige Christus. (1927)
124 129 139 167 177 191
II. Der Protestantismus 1. Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883) 2. Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus (1896) 3. Philipp Melanchthon (1897) 4. Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte (1899) 5. Protestantische Kultur (1912) 6. Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher. (1912) 7. Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers (1926)
196 223 253 273 305 314 329
III. Katholika 1. Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen. (1891) 2. Das Testament Leos XIII. — Das päpstliche Rundschreiben an die Fürsten und Völker des Erdkreises vom 20. Juni 1894 (1894) . . . . 3. Protestantismus und Katholizismus in Deutschland (1907) 4. Die päpstliche Enzyklika von 1907 nebst zwei Nachworten (1908) 5. Pater Denifle, Pater Weiß und Luther (1909) - Die Lutherbiographie Grisars (1911) 6. Die Borromäus-Enzyklika (1910) - Anhang: Konfession und Politik (1911) 7. Möhler, Diepenbrock, Döllinger. (1927)
344 361 391 417 431 477 494
IV. Kampf um das „Freie Christentum" 1. Das apostolische Glaubensbekenntnis. Ein geschichtlicher Bericht nebst einer Einleitung und einem Nachwort (1892) 2. Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Z u m Kampf um das Apostolikum (1892) 3. Beunruhigungen des christlichen Glaubens und der Frömmigkeit (1907) 4. Soll in Deutschland ein Weltkongreß für freies Christentum gehalten werden? Offener Brief an D. Rade. (1908)
500 545 579 598
Inhaltsverzeichnis 5. Das neue kirchliche Spruchkollegium nebst zwei Nachworten (1909/1911) V.
XI
605
Religion u n d F r ö m m i g k e i t 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Weihnachtsbetrachtung des vierten Evangelisten. (1902) . . . . Heilige Schriften. (1902) Naumanns Briefe über Religion. (1903) Alte Bekannte (1903) Die Höhepunkte in Augustins Konfessionen (1912/1913/1916) . . Über den Ursprung der Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" (1916) Vom Reiche Gottes. Predigt im akadem. Gottesdienst gehalten am 4. März 1917 8. Vom inwendigen Menschen. Predigt im Akademischen Gottesdienst gehalten am 28. Juli 1918 9. Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung. (1922) . . . 10. Das kommende Zeitalter des Geistes und der Geist unserer Zeit (1924)
639 644 647 655 665 697 715 724 735 765
V I . T h e o l o g i e als W i s s e n s c h a f t 1. Ritsehl und seine Schule (1897) 2. Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte nebst einem Nachwort (1901) 3. Religiöser Glaube und freie Forschung (1908) 4. Die Theologische Fakultät der Universität Berlin (1910) 5. Ansprachen in der Festsitzung des Kirchenhistorischen Seminars zur Feier des sechzigsten Geburtstages. (1911) 6. Die Bedeutung der theologischen Fakultäten. (1919) 7. Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen. (1923)
774 797 825 835 847 856 875
VII. Z u r T h e o r i e der Geschichte 1. Das Christentum und die Geschichte (1895) 2. Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte (1904) 3. Über die „Vorzeichen" der in der Geschichte wirksamen Kräfte. (1905) 4. Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis. (1917) 5. Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? (1920)
880 901 923 927 948
XII
Inhaltsverzeichnis
Teil 2 Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker I.
Wissenschaft als Großbetrieb 1. Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. (1890) 2. Die Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften (1900) . . 3. Vom Großbetrieb der Wissenschaft. (1905) 4. Ansprache bei der Übernahme der Generalverwaltung der Königlichen Bibliothek. (1905) 5. Zur Kaiserlichen Botschaft vom 11. Okt. 1910: Begründung von Forschungsinstituten (1909/1910/1911)) 6. Rede, gehalten bei der Einweihung der neuen Königlichen Bibliothek am 22. März 1914: Die Geschichte der Kgl. Bibliothek 7. Die deutsche Universität Dorpat, ihre Leistungen und ihr Untergang. (1915) 8. Bericht über die Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte (1891 -1915) (1916) 9. Uber die Zukunft des Orientalischen Seminars, den Plan einer Auslandshochschule und die Teilung der Berliner Philosophischen Fakultät. (1913/17) 10. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1922. (1923) 11. Die Krisis der deutschen Wissenschaft. (1922) - Offener Brief an Viscount Haidane. ( 1 9 2 2 ) - A n h a n g . (1923) 12. Bericht über die Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte (1916-1926) (1927) 13. Ansprache bei der Einweihung des Harnack-Hauses der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. (1929) . .
976 983 1009 1020 1025 1051 1064 1077
1086 1105 1115 1127 1135
II. Bildungspolitik 1. Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens (1902) 1142 2. Die Notwendigkeit der Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit (1904) 1171 3. Die Beziehungen zwischen Universität und Schule in bezug auf den Unterricht in Geschichte und Religion (1907) — Anhang: Zur Behandlung der Römischen Kaisergeschichte auf der Schule (1902) 4. Die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preussen nebst einem Anhang (1908) 5. Was verdankt unsere Kultur den Kirchenvätern? (1910) 6. Die Bedeutung geistiger Werte fiir Arbeit und Wirtschaft. (1927)
1189 1215 1233 1255
Inhaltsverzeichnis
XIII
III. Sozialengagement 1. Der Evangelisch-soziale Kongress zu Berlin (1890) 2. Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte der Kirche (1894) 3. Carnegies Schrift über die Pflicht der Reichen. (1903) 4. Das Urchristentum und die sozialen Fragen (1908) - Anhang: Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung (1905) 5. Die Nachlaßsteuer vom sozialethischen Gesichtspunkt. (1909) . . . 6. Eröffnungsrede beim 21. Evangelisch-Sozialen Kongreß zu Chemnitz am 18. Mai 1910 7. Der proletarische Charakter des Urchristentums. Offenes Antwortschreiben an Herrn Dr. Max Maurenbrecher. (1910) 8. Kann das deutsche Volk gerettet werden? Die Erneuerung der Arbeitsfähigkeit und öffentlichen Sittlichkeit. (1925) 9. Rückblick auf den Evangelisch-Sozialen Kongreß. (1927)
1270 1287 1340
1345 1371 1381 1387 1395 1403
IV. Zwischen M a c h t p o l i t i k u n d Friedensethik 1. 2. 3. 4.
Deutschland und England. (1909) Der Friede die Frucht des Geistes. (1911) Offener Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze. (1912) . . . Rede zur „Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung" (11. August 1914 im Berliner Rathaus) 5. Ein Schreiben von elf englischen Theologen. - Meine Antwort auf den vorstehenden Brief. (1914) 6. Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen. Rede am 29. September 1914 in Berlin gehalten 7. „Der Abschied von der weißen Weste." (1916) 8. An der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. Rede am 1. August 1916 in Berlin gehalten 9. Friedensaufgaben und Friedensarbeit. Eine Denkschrift im Sommer 1916 dem Reichskanzler auf Ersuchen eingereicht. (1916/1923) . . 10. Das Gebot der Stunde. Eine Denkschrift im Juni 1917 dem Reichskanzler eingereicht. (1917/1923) 11. Offener Brief an Herrn Clemenceau. (1919) 12. Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet. (1919) 13. Deutschland und der Friede Europas. (1922) V.
1410 1417 1424 1428 1435 1445 1465 1473 1491 1510 1515 1518 1522
W e g - u n d Zeitgenossen 1. Theodor Mommsen. (1903) 1530 2. Friedrich Paulsen. Zum sechzigsten Geburtstag (16. Juli 1906) . . . 1540
XIV
Inhaltsverzeichnis 3. Oskar von Gebhardt. (1906) 4. Bismarck. Zum Gedächtnis seines Todestages. (1908) 5. Albrecht Ritschi. Rede zum hundertsten Geburtstag am 30. April 1922 in Bonn gehalten 6. Emst Troeltsch. Rede gehalten bei der Trauerfeier am 3. Februar 192 3 7. Nathan Söderblom. (1926) 8. Karl Holl. Rede bei der Gedächtnisfeier der Universität Berlin am 12. Juni 1926 9. Martin Rade. (1927)
1544 1547 1553 1572 1580 1581 1595
Bibliographischer A n h a n g Nachweis der Drucke (Hanns-Christoph Picker unter Mitarbeit von Martin Koenitz)
1601
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks (Hanns-Christoph Picker)
1655
Historische Einführung Adolf von Harnack Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus Adolf von Harnack, geboren am 7. Mai 1851 in Dorpat, gestorben am 10. Juni 1930 in Heidelberg, war einer der am meisten bewunderten, gleichzeitig einer der am heftigsten befehdeten Theologen seiner Epoche. In einer Bibliothek der zeitgenössischen Literatur zu Harnack, in der man all das wiederfände, was über diesen Gelehrten zu Lebzeiten geschrieben wurde, hielte sich die Masse des zustimmenden und des ablehnenden Schrifttums möglicherweise die Waage. Selbst in den gemeinhin auf ehrerbietige Töne gestimmten Nachrufen prallten die Gegensätze aufeinander. George W . Richards, ein Bewunderer, charakterisierte den Verstorbenen als den am besten bekannten und meistgelesenen Wissenschaftler zweier Hemisphären, der mehr Kosmopolit war, als Erasmus von Rotterdam es je für sich hätte erträumen können. „He is one of the inexplicable men of genius - men that appear only at long intervals of time ... Such men belong to the ages." Im Gegensatz dazu hielt es eine katholische Wochenschrift für angebracht, sich von ihrem scharfen „Nein" zu Harnack auch in statu mortis nichts abmarkten zu lassen. Der Autor des Artikels „Zum Tode des protestantischen Theologen Adolf von Harnack" meinte, wegen seiner Verankerung im Rationalismus, Naturalismus und Wissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts habe Harnack eine unheilvoll „auflösende Wirkung" ausgeübt. Positiv festzuhalten sei lediglich Harnacks Aufdeckung der „Unlogik des orthodoxen Protestantismus". Im Ganzen liefere sein Werk nur einen „Torso von Wissenschaft und Menschentum". 1 Das Für und Wider um Harnack gehört einer vergangenen Zeit an. Sein Werk trägt mittlerweile das Gepräge des Klassischen.
1
George W . Richards: The place of Adolph von Harnack among Church historians. In: The Journal of Religion XI ( 1 9 3 1 ) , Nr. 3, S. 3 3 3 - 3 4 5 ; hier S. 3 3 3 ; Schönere Zukunft. Wochenschrift für Kultur und Politik, Volkswirtschaft und soziale Frage 5 ( 1 9 3 0 ) , S. 9 0 8 („Zum Tode des protestantischen Theologen Adolf von Harnack").
2
I. Von Dorpat nach Berlin
I. Von Dorpat nach Berlin 1.
Herkunft
Geboren wurde A d o l f Harnack als das zweite von f ü n f Kindern des Dorpater Theologieprofessors und Universitätspredigers T h e o d o s i u s Harnack und dessen erster Ehefrau, Marie geb. Ewers. 2 Harnacks Mutter war die Tochter von Gustav Ewers, Professor für Staatswissenschaften an der Universität Dorpat. Als Rektor perpetuus (zwölf Jahre) hat Ewers die junge Universität erheblich geprägt. „Es müßte die ganze Universität begraben werden, wenn sein Andenken erlöschen sollte", hieß es bei seinem frühen T o d e im Jahre 1830. 3 In der Linie der Mutter war Harnack mit dem livländischen Adel verbunden. Seine Großmutter mütterlicherseits ist eine geborene Dorothea Freiin von Maydell gewesen. In der väterlichen Linie pflegte die Familie Harnack ihr Preußentum. Der Großvater Carl Gottlieb Harnack lebte als Besitzer eines florierenden Schneidergeschäfts in St. Petersburg. Er ist dem russischen Untertanenverband aus Treue zu Preußen nicht beigetreten. Auch Harnacks Vater wurde kein russischer Untertan, ebensowenig wie seine Nachkommen. Sie blieben „Ausländer". In Harnacks Geburtsstadt Dorpat überkreuzten sich die Sprachen und Kulturen. Die estnische Bevölkerung, die Baltendeutschen und die Russen hatten seit dem 16. Jahrhundert wechselnde Schicksale erlebt. Der ersten russischen Eroberung der Stadt 1558, die mit der Verschlep-
2
D i e unverzichtbare biographische G r u n d l a g e bildet die D a r s t e l l u n g A g n e s von Z a h n - H a r n a c k s : A d o l f von H a r n a c k . B e r l i n - T e m p e l h o f 1 9 3 6 (2. A u f l . 1 9 5 1 ) . G l e i c h w o h l ist es möglich, im R ü c k g a n g auf das Archivmaterial der B i o g r a p h i e A d o l f von H a r n a c k s neue Aspekte h i n z u z u f ü g e n . U n t e r den zahlreichen Abrissen von H a r n a c k s Leben und Wirken seien g e n a n n t H a n s Herzfeld: A d o l f von H a r n a c k . In: D i e G r o ß e n D e u t s c h e n . B a n d 4. N e u d r u c k F r a n k f u r t a. M . / B e r lin/Wien 1 9 8 3 , S. 2 7 0 - 2 8 1 ; Karl H . N e u f e l d : A d o l f v o n H a r n a c k . In: D e u t sche Historiker VII. H g . von H a n s - U l r i c h Wehler. G ö t t i n g e n 1 9 8 6 , S. 2 4 - 3 8 (Kleine V a n d e n h o e c k - R e i h e 1 4 6 4 ) ; R u d o l f Vierhaus: A d o l f von H a r n a c k . In: D e r s . / B e r n h a r d v o m Brocke ( H g . ) : F o r s c h u n g im S p a n n u n g f e l d von Politik u n d Gesellschaft. Geschichte und S t r u k t u r der Kaiser-Wilhelm-/ M a x - P l a n c k Gesellschaft. A u s Anlaß ihres 75jährigen Bestehens. Stuttgart 1 9 9 0 , S. 4 7 3 485.
3
A g n e s von Z a h n - H a r n a c k , a a O . (Anm. 2 ) , S . 14. Z u H a r n a c k s Vater neuerdings Volker D r e h s e n : Konfessionalistische Kirchentheologie. T h e o d o s i u s H a r n a c k ( 1 8 1 6 - 1 8 8 9 ) . In: Friedrich W i l h e l m G r a f ( H g . ) : Profile des neuzeitlichen Protestantismus B a n d 2 / 1 : Kaiserreich. G ü t e r s l o h 1 9 9 2 , S. 1 4 6 - 1 8 1 ( G T B 1 4 3 1 ) .
1. Herkunft
3
pung von Bischof Hermann II. Weiland einhergegangen war, folgte die Herrschaft der Schweden, sodann die neuerlichen russischen Eroberungen von 1656 und 1710. Die Academia Gustaviana, gegründet 1632, fand nach wechselnden Schicksalen eine neue Gestalt als ritterschaftliche Landesuniversität 1802. Sie war als Universität des Russischen Reichs dem Ministerium für Volksaufklärung in St. Petersburg unterstellt. 1853 siedelte das Ehepaar Harnack mit seinen damals vier Kindern Anna, Adolf, Axel (Adolfs Zwillingsbruder) und Erich nach Erlangen über. Theodosius Harnack, in Dorpat für Kirchengeschichte und Homiletik habilitiert, hatte einen Ruf an die dortige Theologische Fakultät erhalten. Die Erlanger Berufung trug dazu bei, daß Harnacks Vater sich vom pietistischen Einfluß seiner Vorfahren frei machte und zum strengen Lutheraner entwikkelte. In Erlangen starb Harnacks Mutter 1857 nach der Geburt des fünften Kindes, Otto. 1864 ging der Vater eine zweite Ehe mit der Baronesse Helene von Maydell, einer Kusine seiner ersten Frau, ein. Adolf von Harnack wuchs in einer akademischen und durch die baltische Adels- und Bürgertradition geprägten Welt heran. In den Erlanger Jahren war sie angereichert durch Kultur und Sitte des Frankenlandes. 1866 kehrte die Familie nach Dorpat zurück. Die Begabung Adolf von Harnacks wie auch seiner Brüder Axel und Erich zeigte sich bereits in frühen Jahren. In Erlangen, dann auch in Dorpat erregten die drei HarnackBrüder mit ihren Leistungen in der Schule regelrechtes Aufsehen. Das Erlanger „Austrittszeugnis" Harnacks vom 5. Juni 1866 bescheinigte: Religion I. Lateinisch I. Griechisch I. Deutsch I. Französisch I. Mathematik I. Geschichte I. Allgemeiner Fortgang I. Das Gesamtprädikat lautete auf „Sehr gut". Das Maturitätszeugnis des Gymnasiums zu Dorpat vom 20. Dezember 1868 fiel ebenfalls „Sehr befriedigend" aus. Lediglich in „Deutscher Sprache" mußte Harnack, der nachmalige Meister eines luziden und knappen Stils, eine II einstecken. 4 Für Harnack stand beizeiten und ohne alles Schwanken bei der künftigen Berufswahl fest, daß er Theologe werden wollte. Seine Brüder Axel und Erich wählten naturwissenschaftliche Fächer, Mathematik und Pharmazie. Wenige Wochen nach Erlangung der Universitätsreife ließ sich Harnack am 17. Januar 1869 an der „Kaiserlichen Universität Dorpat" immatrikulieren. Unter den Dorpater akademischen Lehrern der Theo-
4
Nachlaß Harnack (Staatsbibliothek Berlin U n t e r den Linden - Preußischer K u l turbesitz), Kasten 1, Bl. 2 7 (Austrittszeugnis des Königlichen Studienrektorats Erlangen v o m 5. J u n i 1 8 6 6 ) .
4
I. Von Dorpat nach Berlin
logischen Fakultät übte den nachhaltigsten Einfluß auf ihn der Kirchenhistoriker Moritz von Engelhardt aus. Die anderen Lehrer waren Alexander von Oeningen, Johann Heinrich Kurtz und Wilhelm Volck. Harnack studierte in einer Atmosphäre familiärer Nähe. Auch sein Vater lehrte an der Fakultät. Einige Professoren waren durch die verschlungenen Bande deutsch-baltischer Heirats- und Familienpolitik mit den Harnacks verwandt. Die familiäre Nähe bedeutete auch Enge. Harnacks Vater war ein strenger, ernster Mann, der den Habitus des methodisch vorgehenden Pädagogen auch in den häuslichen vier Wänden nicht verleugnete. Niemals nachlassender Lern- und Arbeitseifer galten als selbstverständlich. Die für wissenschaftliche Normalbegriffe nahezu unfaßliche Fülle der Schriften Harnacks und der Aufgaben, die er bewältigte, beruhte auf scharfer, ja unerbittlicher Ausbeutung der Zeit. Auch ein weiteres Charakteristikum Harnacks, sein Interesse und sein Talent für Gegenstände der Naturwissenschaften, die ihn später zur Präsidentschaft der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften" befähigten, wurden in den Schul- und Studienjahren geweckt und gefördert. Das so exzellent begabte Trio der Harnack-Brüder erledigte seine ungleichen studentischen Aufgaben häufig am gleichen Tisch. 1870 stellte die Theologische Fakultät Dorpat die Preisaufgabe „Marcionis doctrina e Tertulliani adversus Marcionem libello eruatur et explicetur". Die goldene Preismedaille errang Harnack. Mit dem MarcionThema war ein Leitmotiv in Harnacks wissenschaftlicher Laufbahn als Kirchenhistoriker und Patristiker angeschlagen. Marcion, der Verkünder des „Evangeliums vom fremden Gott", eines Gottes der Liebe, der über den gnadenlos gerechten Schöpfer- und Richtergott des Alten Testaments triumphierte, faszinierte Harnack nicht nur aus antiquarischen Gründen. 1872 schloß er sein Theologiestudium ab. Nach wiederum glänzend bestandenen Prüfungen erteilte ihm die Theologische Fakultät Dorpat „den Grad eines Candidaten der Theologie und alle Rechte und Vorzüge, die nach den im russischen Reich geltenden Gesetzen mit diesem Grad verbunden sind, namentlich das Recht auf die zehnte Rangclasse bei dem Eintritt in den Civildienst". Die Urkunde war in deutscher und russischer Sprache ausgefertigt. 5 Die Beherrschung der russischen Sprache in Wort und Schrift war unter den administrativen Verhältnissen Dorpats schon dem Schüler zur Pflicht gemacht worden. In seiner Gelehrtenlaufbahn rezensierte Harnack russische Publikationen, beschäftigte sich mit der 5
Ebenda, Bl. 33. Unterzeichnet war die Urkunde von Dr. M. von Engelhardt (Dekan) und Dr. G. von Oeningen (Rektor).
2. Leipzig, Gießen, Marburg
5
Russisch-Orthodoxen Kirche jedoch nicht näher. Die englische und französische Sprache beherrschte Harnack lediglich passiv. Zur freien mündlichen Bewegung in ihnen fehlten die Voraussetzungen. Offenbar hat der Dorpater cand.theol. niemals ernstlich erwogen, Geistlicher zu werden, um dann aus dem Pfarramt heraus die Universitätslaufbahn anzustreben. Harnacks Theologenvita fehlte dieser für die Normalkarriere des theologischen Hochschullehrers charakteristische Akzent. Ihn drängte es, beflügelt durch verwandtschaftliche Beispiele, auf dem kürzesten Weg an die Universität. Er begab sich nach Leipzig. Dort bewegte er sich zunächst weiterhin auf lutherischem Boden. Die Wahl Leipzigs war wohl auch eine Referenz an den Vater.
2. Leipzig, Gießen,
Marburg
Harnacks Leipziger Jahre umfassen den Zeitraum vom Herbst 1872 bis Frühjahr 1879. Finanziell nur mit bescheidenen Mitteln ausgestattet - u. a. der kleinen Erbschaft eines Onkels von mütterlicher Seite — versuchte sich Harnack mit Unterrichtsstunden an Mädchenschulen durchs Leben zu schlagen. Die Promotion zur Erlangung der Doktorwürde an der Philosophischen Fakultät und die Qualifikation zur Erteilung der venia legendi brachte Harnack 1873 und 1874 mühelos und zügig hinter sich. Die Dissertation hieß „Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnostizismus". In seiner lateinisch abgefaßten Schrift zur Erteilung der Lehrbefähigung an der Theologischen Fakultät schrieb Harnack „De Apellis gnosi monarchica", blieb also dem gnostischen Themenkreis treu. 6 Im Winterseme6
Adolf [von] Harnack: Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnostizismus. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Leipzig: Druck von Oskar Leiner o. J. 88 S. (das W e r k enthält eine kurze Vita); ders.: De Apellis gnosi monarchica. Commentatio historica quam summe venerandi theologorum ordinis auctoritate in academia lipsiensi ad impetrandam veniam legendi illustrissimi jctorum ordinis concessu die IX julii a. M D C C C L X X I V hora X in auditorio juridico publice defendet Adolfus Harnack. Theol. Lie. Phil. Dr. Lipsiae: E. Bidder M C C C L X X I V . 9 2 S. und 2 Seiten Anhang: Index/Thesen. Beachtlich für Harnacks dogmen- und kirchenkritischen W e g war u. a. These X: „Theologiae evangelicae prineipia non sunt eadem cum ecclesiae evangelicae prineipia". Harnacks Veröffentlichungen sind (nicht vollständig) verzeichnet bei Friedrich Smend: Adolf von Harnack. Verzeichnis seiner Schriften bis 1 9 3 0 . Mit einem Geleitwort und bibliographischen Nachträgen bis 1 9 8 5 von Jürgen Dummer. Zentralantiquariat der D D R . Leipzig 1 9 9 0 .
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I. Von Dorpat nach Berlin
ster 1874/75 stand der Dreiundzwanzigjährige erstmals als akademischer Lehrer (Privatdozent) am Katheder. Ein Angebot vom Sommer 1873 aus Breslau, Leiter eines Kandidatenstifts mit Aussicht auf eine Professur zu werden, hatte Harnack ausgeschlagen. 1875 unternahm die Universität Dorpat Anstrengungen, ihren einstigen Preisträger, der seine goldene Medaille mittlerweile wegen Geldknappheit hatte veräußern müssen, zurückzugewinnen. Der Conseil der Kaiserlichen Universität berief ihn auf Vorschlag der Theologischen Fakultät zum Dozenten. 7 Andererseits war Leipzig interessiert, Harnack zu halten. Allerdings teilte das Sächsische Kultusministerium am 8. Dezember 1875 bedauernd mit, gegenwärtig kein Angebot machen zu können, welches Harnack „zur Ablehnung der Dorpater Berufung veranlassen" könnte. 8 Wider Erwarten kam dann aber doch eine Bleibeofferte, nachdem die Theologische Fakultät ein höchst positives Votum abgegeben hatte. Der junge Gelehrte zeichne sich als Schriftsteller durch „eine(n) glücklichen G r i f f ' aus, außerdem durch „Schärfe und Besonnenheit des Urtheils" und durch eine „außerordentliche Arbeitskraft". „Besondere Anerkennung aber verdient das Streben desselben, durch Leitung von wissenschaftlichen Übungen das kritische Studium der Kirchengeschichte in der Studentenwelt zu fördern." 9 Harnack bekam eine außerordentliche Professur angeboten, die er auch annahm. Der Dekan in Dorpat besaß die Generosität, im Namen der gewiß enttäuschten Heimatfakultät an Harnack die Zeilen zu richten: „Freilich können wir uns nicht verhehlen, daß Sie, nach Lage der Umstände, recht daran thaten, sich für Leipzig zu entscheiden." 1 0 Harnack war ein schnell und unablässig aufsteigender Stern der akademischen Theologie in Deutschland. Wissenschaftlicher Eros und die Gabe zur Durchsetzungsfähigkeit in der gelehrten Welt verbanden sich in den Leipziger Jahren wie auch späterhin mit planmäßigen Strategien. In
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Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 44 r " v (Ministerium der Volksaufklärung/Universität zu Dorpat/Conseil an den Herrn Privatdocenten der Universität Leipzig Dr. Adolph Harnack vom 16. Dezember 1875). Ebenda, Bl. 45r~v (Kultusministerium Dresden [von Gerber] an Harnack vom 8. Dezember 1875). Acta Facultas theologica Lipsiensis (Universitätsarchiv Leipzig) Nr. 68, Bl. 154 r " v (Theologische Fakultät an das Königliche Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterricht vom Mai 1876 [Konzept]). Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 49 (Dekan der Theologischen Fakultät Dorpat an Harnack vom 18. Mai 1876). Die Leipziger Berufungsurkunde per 1. Juli 1876 nebst „Decret" ebenda, Bl. 55. 58.
2. Leipzig, Gießen, Marburg
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wissenschaftlicher Hinsicht strebte Harnack, der Zeitgenosse des Historismus, nach tragfähigen Quellengrundlagen für die patristische Arbeit, an denen es noch weithin mangelte. Mit dem Hang zur kritischen Philologie verbanden sich ausgeprägte Neigungen zur Chronologie und Geographie der Welt des frühen Christentums. Die Hinrichs'sche Verlagsbuchhandlung schlug Harnack die Veranstaltung einer Neuausgabe der „Apostolischen Väter" vor und lenkte damit den jungen Gelehrten auf das steinige Terrain der Editionstätigkeit. Harnack nahm den Impuls auf. Leider stand die Edition des ersten Teils der „Apostolischen Väter" (Barnabas, Clemens) unter einem ungünstigen Vorzeichen. Hingegen konnte Harnack in Gemeinschaft mit Oscar von Gebhardt durch die „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur" ab 1882 eine jener Plattformen schaffen, auf denen sich dann in den Berliner Akademiejahren das Corpus der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" aufbaute. Mit dem Nimbus des Vaters, des konfessionsbewußten Lutheraners Theodosius Harnack im Rücken, galt Harnack in den Leipziger Jahren noch als Vertreter der bekenntnisbestimmten lutherischen Theologie. C. E. Luthardt, einer der Leipziger Wächter des Luthertums und als Herausgeber der „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung" eine publizistische Autorität, ermunterte Harnack und dessen Leipziger Freunde Julius Kaftan und Wolf Graf Baudissin, eine wissenschaftliche Zeitschrift mit dem „feste[n] bestimmte[n] Gepräge der lutherischen Theologie" herauszubringen. 1 1 Das Projekt kam nicht zustande, dafür aber die Gründung eines Rezensionsorgans, der „Theologischen Literaturzeitung" (1876 ff.). Spiritus rector des Unternehmens war der zur RitschlSchule zählende Emil Schürer. Harnacks Mitwirkung an der „Theologischen Literaturzeitung" und die spätere Übernahme der Schriftleitung konnten wissenschafts- und theologiepolitisch als ein doppeltes Signal gedeutet werden: als allmählicher Übergang aus dem Lager der „rechtgläubigen" Lutheraner in die Ritschl-Schule und als Ausdruck des W i l lens zur energischen Mitgestaltung der Wissenschaftslandschaft durch das Instrument der Kritik. Ritschis Theologie besaß für Harnack die Qualität einer via media zwischen den Fronten der orthodoxen lutherischen Dogmatik und einer tendenzkritisch leistungsfähigen, doch im Fragment verharrenden historischen Theologie. 1877 lernte Harnack Ritsehl in Göttingen persönlich kennen. Die Bekanntschaft setzte sich brieflich fort. Allmählich machte sich Harnack eher als modern-kritischer Theologe denn
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Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 84.
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I. Von Dorpat nach Berlin
als Bekenntnislutheraner bemerkbar. Dazu trug die Freundschaft mit Schürer und Baudissin bei, aber auch die Zielstrebigkeit Harnacks bei der Schaffung einer Hausmacht unter den Studenten. Gemeinsam mit ihnen wollte er Theologie als methodisch durchsichtige Wissenschaft — „es werde Licht!" 1 2 - betreiben. Am engsten scharten sich um den jungen Leipziger Extraordinarius Caspar Rend Gregory, Martin Rade, Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs und William Wrede, Namen, mit denen sich ein modernes theologisches Akademikertum verbindet. Der weiträumige und unscharfe Richtungsbegriff liberale Theologie hat auf Harnack weder damals noch später recht passen wollen. Harnack war ein kritischer theologischer Aufklärer im Geist des Historismus, aber auch ein Konservativer mit sehr viel mehr Respekt und Realitätssinn für Kirchen und Konfessionen, als seine Gegner es wahrhaben wollten. Gegen Ende der Leipziger Zeit hatte Harnack bereits ein ganzes Füllhorn von Veröffentlichungen über die wissenschaftliche Welt ausgeschüttet. Der junge Wissenschaftler bestach die Fachleute durch seine philologische Akribie, durch Klarheit der Darstellung und die Entwicklung neuer Blickrichtungen auf die Alte Kirche. Seit Mai 1878 war Harnack von der Universität Leipzig mit der Verwaltung der kirchlich-archäologischen Sammlung betraut. Ebenfalls im Mai 1878 erhielt er aus der „AlbrechtStiftung der Universität Leipzig" die Summe von 1 000,- Mark für eine wissenschaftliche Reise nach Rom. Die Reise sollte dem Handschriftenstudium und der Erschließung neuer Quellen dienen. Ein Meisterstreich bei der Handschriftenerschließung gelang Harnack 1879 in Gemeinschaft mit dem Bibliothekar und Editor Oscar von Gebhardt durch den Fund des „Codex Rossanensis" in Kalabrien, eines Bilderevangeliums aus dem 6. Jahrhundert in griechischer Sprache. 1 3 12
Ebenda, S. 91.
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Über Oscar von Gebhardt und seine editorischen wie bibliographischen Leistungen unterrichten u. a. Adolf [von] Harnack: In memoriam. 4 Seiten. Druck von August Pries in Leipzig; Rudolf Helssig: Oskar von Gebhardt. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen XXIII (1906), S. 253-256; Albert Hauck: Oscar von Gebhardt. Nekrolog gesprochen in der öffentlichen Gesamtsitzung beider Klassen am 14. November 1906. Abdruck aus den Berichten der Phil.-Hist. Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Band LVIII. öffentliche Sitzung beider Klassen vom 14. November 1906, S. 181190. Gebhardt, 1844 in Wesenberg/Estland geboren, studierte Theologie in Dorpat, Tübingen, Erlangen, Göttingen, Leipzig. Als Bibliothekar in Halle, Göttingen, Berlin und vor allem in Leipzig erwarb er sich große Verdienste bei der Herausgabe biblischer und frühchristlicher Schriften. Bis zu seinem T o d e zählte er zu Harnacks engsten und vertrautesten Mitarbeitern.
2. Leipzig, Gießen, Marburg
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Am 7. Dezember 1878 richtete der Kanzler der Landesuniversität Gießen an Harnack die Frage, ob er bereit wäre, die erledigte Stelle des Ordinarius für Kirchengeschichte an der Ludoviciana zu übernehmen. Harnack war „sowohl von der Fakultät als vom Senat einstimmig an erster Stelle in Vorschlag gebracht worden." 14 Nach Bekanntwerden des Gießener Rufes richtete die Leipziger Theologische Fakultät einen Brief an das Kultusministerium in Dresden. Franz Delitzsch, der Alttestamentler und Judaist, teilte dazu als Dekan am 10. Dezember 1878 dem jungen Extraordinarius mit, die Fakultät habe einstimmig beschlossen, dem Minister von Gerber ihr „Bedauern über Ihren drohenden Weggang auszudrücken und ihm anheimzugeben, ob es nicht irgend möglich wäre, Ihre erfolgreiche Wirksamkeit unserer Universität zu erhalten." 1 5 Auch die Studenten setzten sich für Harnacks Verbleib in Leipzig ein. Indes wurde schnell klar, daß man in Dresden den jungen Kirchenhistoriker nicht halten konnte oder wollte. Harnack hielt am 12. Dezember 1878 wiederum das formelhafte Schreiben in den Händen, das Ministerium sei nicht in der Lage, „Ihnen Anträge zu stellen, welche Sie bestimmen könnten, den an Sie ergangenen Ruf abzulehnen". Dabei blieb es diesmal. Delitzsch ließ in einem persönlichen Brief seiner Enttäuschung freien Lauf: „Geliebter Freund! Daß der Herr Minister auf unsere Zuschrift so verneinend antworten würde, noch dazu ohne Motivierung der Ablehnung, hätte ich nicht gedacht. Im Grunde kann es Ihnen erwünscht sein, hinfort den providentiell gewiesenen Weg unaufgehalten gehen zu können. Ich stehe der Sache mit gemischten Gefühlen gegenüber. Sie wissen, wie weh es mir thut, mich nicht noch centraler als es der Fall ist mit Ihnen einig fühlen zu können — aber trotz dieses Dissenses hatte ich doch stets offenen Zugang zu Ihrem Herzen; ich konnte was mich drückte Ihnen rückhaltlos ausschütten ... Die Innerlichkeit dieses Verhältnisses kann fortbestehen, aber es wird doch, wenn Sie nun fortgezogen, nur noch Schatten dessen sein, was es gewesen." 16 Das Verhältnis der Theologischen Fakultät Leipzig zu Harnack besitzt ihre eigene Geschichte. Im Winter 1885/86 setzte sich die Fakultät für Harnacks Zurückgewinnung nach Leipzig ein. Man brauchte Ersatz für den durch Krankheit ausgefallenen Domherrn Prof. D. Kahnis. Gänzlich 14
Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 62r"v (Kanzler der Landesuniversität Gießen i. A. des Großherzoglichen Ministeriums des Innern an Harnack vom 7. Dezember 1 8 7 8 ) .
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Ebenda, Bl. 6 8 (Delitzsch an Harnack vom 10. Dezember 1 8 7 8 ) . Ebenda, Bl. 7 0 (Delitzsch an Harnack vom 15. Dezember 1 8 7 8 ) .
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I· Von Dorpat nach Berlin
ungeteilt waren die Meinungen in der Fakultät über Harnack nicht mehr. Weder Luthardt noch Delitzsch standen damals noch auf Harnacks Seite: „um des Willen, weil bei der theologischen Richtung desselben die bisherige einhellige Wirksamkeit innerhalb der Fakultät und mittelbar die einträchtige Wirkung auf die Landesgeistlichkeit in einer Weise gefährdet werden würde, daß die Minorität die Verantwortung dafür nicht zu übernehmen vermöge". Luthardt und Delitzsch optierten für Theodor Zahn (Erlangen) oder Hermann Schmidt (Breslau). 17 Gleichwohl war Harnacks Ruf als Wissenschaftler zu diesem Zeitpunkt schon so gefestigt, daß die Mehrheit der Fakultät ihn als ersten und einzigen Kandidaten vorschlug. Harnacks Zurückgewinnung für die sächsische Landesuniversität scheiterte am Widerstand des Landeskonsistoriums. Am 16. Februar 1886 teilte das Landeskonsistorium dem Kultusministerium in Dresden mit, „bei aller sonstiger Anerkenntniß der wissenschaftlichen und praktischen Begabung und der literarischen Leistungen des Dr. Harnack... dessen Berufung in die theologische Fakultät unserer Landesuniversität nicht anzurathen. In dieser Ansicht haben sich alle ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder des Collegiums vereinigt." 18 Statt Harnack erhielt Theodor Brieger den Ruf. Durch die Schriftleitung der „Theologischen Literaturzeitung" (seit 1881) und durch die Zusammenarbeit mit Oscar von Gebhardt blieb Harnack mit Leipzig verbunden. Den seit 1889 gemeinsam mit Brieger in Leipzig wirkenden Albert Hauck — nach Harnack der bedeutendste protestantische Kirchenhistoriker deutscher Zunge — hat Harnack im Frühsommer 1902 im Auftrage des Preußischen Kultusministeriums nach Berlin zu ziehen versucht. 19 Im Jahre 1906 wollte Harnack seinen Leipziger Kollegen als zweiten Ordinarius für Kirchengeschichte in Berlin gewinnen, Ausdruck einer Wertschätzung, die Hauck seinerseits
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Acta Facultas theologica Lipsiensis, aaO. (Anm. 9), Bl. 2-3' (Theologische Fakultät an das Königliche Ministerium des Kultus). Ministerium für Volksbildung 10281 /110 (Staatsarchiv Dresden), Bl. 36-47' (Gutachten des sächsischen evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums vom 19. Februar 1886); Abschrift in Acta Facultas theologica Lipsiensis, aaO. (Anm. 9), Bl. 9-2Γ; hier Bl. 19r v. Einzelheiten in den Briefen Haucks an Harnack von 1888-1916 (Nachlaß Harnack, Kasten 32 [22 Bl.]). Harnacks Briefe an Hauck sind im Hauck-Nachlaß (Universitätsbibliothek Leipzig/Handschriftenabteilung) nicht enthalten. Zur Harnacks Gestaltung der „Theologischen Literaturzeitung" ist punktuell ergiebig Gerhard Karpp: Die Theologische Literaturzeitung. Entstehung und Geschichte einer Rezensionszeitschrift (1876-1975). Köln 1978.
2. Leipzig, Gießen, Marburg
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erwiderte. 2 0 Nach dem Tode Harnacks gedachte die Leipziger Fakultät unter ihrem Dekan Hans Achelis „in ehrfürchtiger Trauer des größten Theologen, der aus ihrer Mitte hervorgegangen ist." 21 Mit den Entscheidungen in Dresden von Ende 1878 waren die Würfel zum Weggang nach Gießen gefallen. Unter dem Datum des 2. Januar 1879 erhielt Harnack seine Ernennung zum Ordinarius an der Ludoviciana. Das Jahr 1879 brachte auch privat eine große Veränderung. Harnack, seit dem 2. August 1879 mit Amalie Thiersch, der Tochter des Chirurgen Carl Thiersch und dessen Ehefrau Johanna geborene Freiin von Liebig (Tochter Justus von Liebigs) verlobt, trat in den Stand der Ehe. Die Hochzeit fand am 27. Dezember 1879 in Leipzig statt. Harnacks Frau kam aus einer gemischt-konfessionellen Ehe. Carl Thiersch war Protestant, die geborene Freiin von Liebig Katholikin. Amalie Harnack geb. Thiersch war protestantisch erzogen worden. Als Harnacks Schwiegermutter wegen ihrer Mischehe die Absolution verweigert wurde, trat sie 1885 zum Protestantismus über. Harnacks irenisches Verhältnis zum Katholizismus muß auch auf dem Hintergrund der familiären Konfessionsmischung gesehen werden. Am 20. Mai 1881 wurde das erste Kind, die Tochter Anna, geboren. Es folgte 1882, 1884 und 1892 die Geburt von drei weiteren Töchtern, Margarete, Agnes, Elisabeth. 1886 kam der nach dem Schwiegervater und dem Vater benannte Sohn Karl Theodosius zur Welt. Durch eine schwere Erkrankung erblindete das Kleinkind und erlitt geistige Schäden. Gestorben ist Karl Theodosius Harnack 1922 in einer Pflegeanstalt. 1888 wurde der zweite Sohn, Ernst, geboren. Er wurde Jurist und gehörte im Dritten Reich dem Widerstand gegen Hitler an. Vom Volksgerichtshof unter Freisler zum Tode verurteilt, wurde Ernst von Harnack am 3. März 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. 22 Ein weiterer, 1895 geborener Sohn hieß nach Harnacks früh verstorbenem Zwillingsbruder Axel.
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Vgl. etwa Haucks anerkennende W o r t e über die ihm von Harnack zugeschickten Publikationen über die Entstehung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts, über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften in der Alten Kirche, die „Missionsgeschichte" u. a. (Hauck an Harnack vom 15. März 1 9 1 0 aus Lugano; vom 3 1 . Juli 1 9 1 2 aus Leipzig; vom 7. Dezember 1 9 1 5 aus Leipzig [ w i e A n m . 19]).
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Nachlaß Harnack, Kasten 2 6 (unpaginiert) (Theologische Fakultät Leipzig [Achelis] an Frau Amalie von Harnack vom 17. Juni 1 9 3 0 ) . Axel von Harnack: Ernst von Harnack ( 1 8 8 8 - 1 9 4 5 ) . Ein Kämpfer für Deutschlands Zukunft. Schwenningen 1951;.Ernst von Harnack: Jahre des Widerstandes 1 9 3 2 - 1 9 4 5 . Hg. von Gustav-Adolf von Harnack. Pfullingen 1 9 8 9 .
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I. Von Dorpat nach Berlin
An der Theologischen Fakultät Gießen wirkte Harnack bis 1886. Bei seinem Eintritt bot die Fakultät kein günstiges Bild. Die Zahl der Studenten lag im Wintersemester 1878/79 bei fünfzehn. Harnacks Berufung war Teil eines Regenerationsprogramms der Großherzoglich-hessischen Regierung, das seinen Ausdruck in der Berufung junger Ordinarien fand: Bernhard Stade, Emil Schürer, Ferdinand Kattenbusch, Harnack, Johannes Gottschick. 1882 schrieb Harnack launig von der „Leipziger Colonie" in Gießen (Schürer, Stade, Harnack), der es recht gut gehe. „Ein Leipziger Colonist, mein Specialkollege Stade, ist soeben für 1882/83 zum Rector gewählt worden." 2 3 Der Erfolg der Großherzoglich-hessischen Berufungspolitik zeigte sich in den nächsten Jahren im kontinuierlichen Anstieg der Studentenziffern. Im Sommersemester 1884 hatte sie sich versechsfacht. Im Großherzogtum Hessen war von Schwierigkeiten und Spannungen zwischen dem Hochschultheologen und der Kirchenleitung, welche Harnacks Wirksamkeit später in Berlin belasten sollten, nichts zu spüren. Z u m Predigerseminar Friedberg bestand ein gutes Verhältnis, ebenso zu der Pastorenschaft und zu den Gemeinden. In die Gießener Jahre fiel die 400. Wiederkehr des Geburtstages von Martin Luther. Das Lutherjubiläum von 1883 brachte in den deutschen Ländern und Landeskirchen ganze Serien von Festveranstaltungen hervor: Schul- und Kirchenfeiern, Fackelzüge, Oratorien, Vorträge in städtischen Bürgersälen, schließlich auch eine ganze Reihe von akademischen Reden. Luthardts „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung" schrieb damals: „Was Gott unserem Volke und unserer Kirche in Luther und seinem Zeugnis geschenkt hat, das ist in diesen Festtagen unserem Volke wie seit Luthers T o d wohl noch nie vor die Augen und vor die Seele geführt worden." 2 4 Für die Rede zur akademischen Feier an der Universität Gießen war Harnack ausersehen. Harnacks Rede stand in Konkurrenz zu dem Vortrag des Historikers Wilhelm Oncken, gehalten in einer vollständig überfüllten Kirche von einer Rednertribüne zur Seite des Altars. Onckens Vortrag trug die Überschrift „Martin Luther zu Worms und sein Fortleben in der deutschen Nation". Harnacks Rede hieß „Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und Bildung". Bereits aus den Themenformulierungen ließen sich die unterschiedlichen Akzentsetzungen erkennen. Während Oncken die re23 24
Nachlaß Zarncke (Universitätsbibliothek Leipzig/Handschriftenabteilung) (unpaginiert) (Harnack an Zarncke vom 23. Juli 1882). Zit. nach Hans Düfel: Das Lutherjubiläum 1883. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), S. 1-94; hier's. 41.
2. Leipzig, Gießen, Marburg
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ligiöse Leistung Luthers mit den Bedürfnissen der Nation verknüpfte, hob Harnack Luthers Befreiungstat aus der „Enge und Unvernunft des theologischen Systems" hervor, „welches die Orthodoxie aufgerichtet hat!" 2 5 Er würdigte Luthers Neufassung des Christentums in seiner „ursprünglichen Reinheit" und das Werk Luthers als Quellort der „fortwachsenden Kultur", vor allem auch der Wissenschaftskultur. Außerdem unterstrich Harnack Luthers Realismus im Erfassen von Mensch und Welt. Die Gießener Lutherrede enthielt schon das meiste von dem, was für Harnacks Kulturtheologie kennzeichnend ist. Die Lutherwürdigung des Gießener Ordinarius erhielt starken Beifall. Er setzte sich weit über die Mauern der Ludoviciana hinaus fort. Selbst der im Loben zurückhaltende Vater hielt die Rede des Sohnes „nach Anlage und dem größten Teil der Ausführung ... für die beste", die im Lutherjahr 1883 gehalten worden sei, „und ich glaube, unparteiisch zu urteilen". 2 6 Noch bedeutsamer für die Gießener Jahre 1879-1886 war die Arbeit an der „Dogmengeschichte". Mit entsprechenden Projekten ist Harnack schon in der Leipziger Zeit beschäftigt gewesen. Bereits im Sommer 1878 hatte Ritsehl denj u n g e n Extraordinarius ermuntert, seinen Plan „fest ins Auge zu fassen. " 2 Eine erste handschriftlich überlieferte Fassung trug den Titel „Christliche Dogmengeschichte". „Was ... den Maßstab zur Beurtheilung der Dogmengeschichte betrifft", notierte Harnack in diesen Blättern, „so kann derselbe kein anderer sein als das Evangelium in seiner urkundlichen Gestalt. Indessen ziehen die Bedingungen, unter welchen die Dogmen entstanden sind, einer solchen Beurtheilung gewisse Schranken." 2 8 Die Hauptarbeit am ersten Band des Werkes mit dem dann endgültigen Titel „Lehrbuch der Dogmengeschichte" leistete Harnack von Sommer 1884 bis Mai 1885. Wenige Tage vor Weihnachten des Jahres 1885 lagen die ersten Vorausexemplare vor. Die „Dogmengeschichte" mit
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Adolf [von] Harnack: Martin Luther, in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und Bildung. Gießen 1 8 8 3 . Vgl. Teil I, Nr. II/l, S. 2 1 8 . Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 1 3 3 . Ebenda, S. 1 3 4 . Adolf [von] Harnack: Christliche Dogmengeschichte. Manuskript, Bl. 2 (Nachlaß Harnack, Kasten 5). Das Manuskript ist in 3 3 Paragraphen gegliedert. Es umfaßt mehr als 1 0 0 eng beschriebene Blätter und ist wahrscheinlich in die Gießener Zeit zu datieren. Johanna Jantsch: Die Entstehung des Christentums bei Adolf von Harnack und Eduard Meyer. Bonn 1 9 9 0 (Habelts Dissertationsdrucke Reihe Alte Geschichte) geht auf dieses Manuskript nicht näher ein, obwohl dieser Dissertation ansonsten das Verdienst zukommt, einige Manuskripte aus Harnacks Nachlaß in die Betrachtung einzubeziehen.
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I. Von Dorpat nach Berlin
dem 1887 und 1890 folgenden zweiten und dritten Band stellte die Summe von Harnacks Studien zur Theologie- und Dogmengeschichte der Alten Kirche, außerdem zum lateinischen Mittelalter und zur Reformation dar. 2 9 Zugleich war sie ein im Medium des historischen Materials entwickelter systematisch-theologischer Entwurf. Diese Doppelqualität hob das Werk von vornherein über den Horizont der bloß gelehrten Untersuchung hinaus. Sie erklärt auch die außerordentliche Resonanz, welche es fand. Die öffentliche Wirkung begann unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes, setzte sich beim Erscheinen des zweiten Bandes fort und erreichte ihren Höhepunkt nach Erscheinen des abschließenden dritten Bandes. Die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte des „Lehrbuchs der Dogmengeschichte" ist, von Bruchstücken abgesehen, bislang noch nicht geschrieben. 3 0 Sie beschränkte sich nicht auf die akademisch-theologische Welt und nicht auf den Raum der Kirche. Auch säkulare Presseorgane, ζ. B. die „Vossische Zeitung" und das „Litteraturblatt der Deutschen Lehrer-Zeitung", beschäftigten sich mit dem Werk. In der anglophonen Welt sah ein Rezensent in ihm die Erfüllung jener Maximen, die Bischof Pearson als die dogmengeschichtliche Aufgabe der Gegenwart charakterisiert hatte: „to set forth clearly and succinctly the Christian doctrine which is according to the faith; to state it with fit arrangement and precise method; to investigate, prove, confirm, defend it by means of right reason well informed by human arts and sciences." 31
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Adolf [von] Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Band 1-3. Freiburg i.Br. 1 8 8 6 - 1 8 9 0 . Zu den weiteren Auflagen Smend: Harnack, aaO. (Anm. 6) sowie die Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks im „Bibliographischen Anhang" (Teil II), S. 1 6 5 5 f f . Anknüpfungspunkte finden sich u. a. bei Klauspeter Blaser: Geschichte - Kirchengeschichte - Dogmengeschichte in Adolf von Harnacks Denken. Mainz 1 9 6 4 ; Laurentius Cavallin: Dogma und Dogmenentwicklung bei Adolf von Harnack. Eine Frage an die neuere Theologie. Dissertatio ad Lauream in Facultate Theologiae Pontificiae Universitatis Gregorianae. Volkach 1 9 7 6 ; G. W . Glick: The Reality of Christianity. A Study of Adolf von Harnack as Historian and Theologian. New York/Evanston/London 1 9 6 7 ; E. P. Mejering: Theologische Urteile über die Dogmengeschichte. Ritschis Einfluß auf Harnack. Leiden 1 9 7 8 (Beiheft der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XX). Eine Sammlung von zeitgenössischen Kritiken zum „Lehrbuch der Dogmengeschichte" liegt im Harnack-Nachlaß, Kasten 5. Besonders umfangreich fiel die Besprechung des Philosophen Adolf Lasson in den „Preußischen Jahrbüchern" aus (Band 58, S. 3 5 9 - 3 9 8 ; Band 62, S. 5 7 4 - 6 1 3 ; Band 6 8 , S. 2 0 2 - 2 4 9 ) . S. Cheetham: Harnack's History of Dogma. In: The Academy Nr. 7 4 2 vom 2 4 . Juli 1 8 8 6 , S. 51 f.
2. Leipzig, Gießen, Marburg
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M i t dem „Lehrbuch der Dogmengeschichte" gab sich Harnack definitiv als „Moderner" zu erkennen, als ein Kirchenhistoriker und Theologe, der mit der Dogmengeschichte nicht normativ, sondern historisch umging und dabei zu unbequemen Einsichten vorstieß. „Die Dogmen entstehen, entwickeln sich und werden neuen Absichten dienstbar gemacht." 3 2 Daraus folgte für Harnack, „dass die Geschichte der christlichen Religion ein sehr complicirtes Verhältnis von kirchlichem Dogma und Theologie umfasst, resp. dass die kirchliche Auffassung von der Bedeutung der Theologie dieser Bedeutung selbst schlechterdings nicht gerecht werden kann." 3 3 Das kirchliche Verständnisschema des Dogmas (ein stets gleichbleibender Inhalt werde durch das Dogma lediglich in eine „Form" gegossen), verdunkelte nach Meinung Harnacks die tatsächlichen Verhältnisse. Die Dinge so zu sehen, hieß, sich in Grauzonen zu bewegen. Harnacks Konzept der „Dogmengeschichte" in seiner philologisch gesättigten Durchführung erfuhr viel Zustimmung bei den „Modernen" und scharfe Ablehnung bei den Orthodoxen. Die Trennlinie von Zustimmung und Ablehnung verlief nicht nur zwischen Hochschultheologie und Kirche; sie war gebrochen durch vielfältige Überlagerungen. Höchst schmerzlich für den Autor war die schroffe Ablehnung des Werks durch den Vater. „Unsere Differenz ist keine theologische, sondern eine tiefgehende, direkt christliche, so daß ich, wenn ich über sie hinwegsähe, Christum verleugnete." Wer die Auferstehungsgeschichte so behandle wie der Sohn, sei „kein christlicher Theologe mehr" 3 4 . Der Bruch mit dem Vater blieb bis zu dessen Tod unbereinigt. Interessant scheint, daß Harnack Zustimmung mitunter dort fand, wo man sie nicht erwartet hätte, etwa in Teilen der lutherisch-pietistischen Öffentlichkeit Württembergs. Dort würdigte man mit Sympathie Harnacks Bestreben, zum ältesten Gemeindeglauben zurückzukehren, der nicht als direkter Ausgangspunkt der späteren Dogmenentwicklung zu verstehen sei. 35
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A d o l f von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Mit einem Bildnis. Fünfte, photomechanisch gedruckte Auflage. Tübingen 1 9 3 1 , S. 12.
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Ebenda. Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 1 4 3 .
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Evangelisches Kirchen- und Schulblatt für Württemberg 52 ( 1 8 9 1 ) , Nr. 8, S. 6 5 . Positiv urteilte auch: Schwäbischer Merkur Nr. 1 1 1 vom 13. Mai 1 8 8 6 (zum ersten Band). Harnack fasse die theologische Problem- und die kirchliche Ereignisgeschichte im Sinne der „Dogmengeschichte" von F. Nitzsch (1. Band 1 8 7 0 ) zusammen und gehe auf diesem W e g weiter.
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I. Von Dorpat nach Berlin
Beruflich strebte Harnack nach Größerem als Gießen. Seine Hoffnungen richteten sich auf eine preußische Universität. Dem Schwiegervater, Carl Thiersch, teilte er am 23. April 1885 mit, noch brauche er die Hoffnung, „nach Preußen an eine größere Universität zu kommen", nicht aufzugeben. 3 6 So war es in der Tat. Denn schon 1884 hatte das Kultusministerium der preußischen Monarchie, namentlich der energische Ministerialbeamte Friedrich Althoff (1839-1908), die Gewinnung Harnacks für eine preußische Universität ins Auge gefaßt. Althoffs Berater waren Ritsehl und der Neutestamentier Bernhard Weiß. 3 7 Weiß fungierte seit 1880 neben seinem Ordinariat an der Berliner Theologischen Fakultät als Vortragender Rat im Kultusministerium. Gedacht war an die Universität Königsberg — dies als Zwischenstation, weil das eigentliche Ziel in der Etablierung Harnacks in der Reichshauptstadt bestand. Althoff war ein Beamter, dessen Arbeitsenergie auch in Urlaubszeiten und bei Erholungsaufenthalten nicht erlahmte. Berufungspolitisch gehörten Zügigkeit und Durchsetzungskraft zum „System AlthofP. Die persönliche Bekanntschaft zwischen Althoff und Harnack, aus der sich im Laufe der Jahre eine sorgfältige gepflegte Freundschaft entwickelte, datierte vom Juni 1886. Zu diesem Zeitpunkt war Harnacks Hinüberziehung auf preußisches Territorium schon so gut wie abgeschlossen: in Gestalt eines Rufes nach Marburg in Kurhessen. Kurhessen war seit dem Krieg von 1866 eine neupreußische Provinz. In der Ausgestaltung der neupreußischen Provinzen nach deren traditions- und rechtsdurchbrechender Annexion durch Preußen machte sich unter der neuen Administration ein liberaler Reformgeist bemerkbar. Harnacks Marburger Berufung ist auch in diesem gesellschaftspolitischem Kontext zu sehen. Die vom preußischen König unterzeichnete Ernennungsurkunde trug das Datum des 2. Juli 1886. Aus dem Erholungsort Oberhof ließ Althoff mitten in der akademischen Sommerpause den Neuberufenen wissen, wie großzügig man bei der Berechnung seines künftigen Gehalts zu verfahren gedenke. 3 8 Da Marburg den jungen Gelehrten bereits zum Re36
Auszug bei Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 1 4 5 f.
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Zu A l t h o f f vgl. Bernhard vom Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System A l t h o f f ' in historischer Perspektive. Hildesheim 1 9 9 1 . Marburger Berufungsurkunde im Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 9 0 . Im Harnack-Nachlaß finden sich für die Jahre 1 8 8 6 - 1 9 0 8 zahlreiche Briefe, Postkarten und als Postkarten benutzte Visitenkarten Friedrich Althoffs, danach Korrepondenzen mit Marie Althoff. Einschlägig für die Beziehung HarnackA l t h o f f ist außerdem Althoffs Nachlaß im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (Rep. 92).
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3. Ruf in die Reichshauptstadt
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formationsfest von 1879 mit der Ehrendoktorwürde geehrt hatte, bestand von vornherein eine hohe Konkordanz zwischen ministeriellen und universitären Wünschen. Neben der Fertigstellung des zweiten Bandes der „Dogmengeschichte", den Lehrveranstaltungen und Archivreisen brachte die kurze Marburger Zeit (1886-1888) ein wichtiges pressepolitisches Ereignis, die Gründung einer protestantischen Kulturzeitschrift. Die Initiatoren der Zeitschrift Martin Rade, Wilhelm Bornemann, Paul Drews und Friedrich Loofs hatten sich allesamt in Harnacks Leipziger Schülerkreis kennengelernt. Absicht der Gründung war es, der durch Ritsehl bestimmten Richtung der Theologie eine feste Plattform zu verschaffen. Die Planungen für das Organ gingen bis in das Jahr des Lutherjubiläums 1883 zurück. Zunächst unter einem wenig schlagkräftigen Titel herausgebracht, kündigte Martin Rade am Ende des 1. Jahrgangs 1887 den veränderten Namen an: „Die Christliche Welt". Die Erläuterung, was unter „christlicher Welt" zu verstehen sei, beschrieb in nuce auch Harnacks Position. „Christliche Welt" meinte all das, „was christlich ist und christlich heißt", den Makrokosmos des orbis christianus. „Christliche Welt" meinte weiterhin den Mikrokosmos, das „Gemüt des Christen", d. h. die anthropologisch-existenziale Dimension; schließlich meinte sie „das christliche Evangelium, eine Welt von Gottesgedanken und Gottesthaten, von Erkenntnissen, Verheißungen und Aufgaben". Die Welt als Schöpfung Gottes sollte „eine christliche sein und werden". 39 Harnack veröffentlichte im Richtungsorgan des freien Protestantismus zahlreiche Beiträge. „Die Christliche Welt" bot ihm theologische und kulturpolitische Artikulationsmöglichkeiten, über die er in der „Theologischen Literaturzeitung" und in den Spezialorganen seines Fachs nicht verfügte. Seine Beiträge stärkten das Bestreben der Redaktion, alle sich aus der Begegnung von christlichem Glauben und moderner Bildung ergebenden Fragen mit weitem Gesichtskreis zu überschauen. Umgekehrt stärkte „Die Christliche Welt" Harnack. In den kirchlich-theologischen Auseinandersetzungen um Harnacks Person und Werk stand sie unbeirrt an seiner Seite.
3. Ruf in die
Reichshauptstadt
Marburg bildete das Sprungbrett für Harnacks Berufung nach Berlin. Die Berliner Berufung löste nach der kontroversen Resonanz auf die „Dog39
Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die Gebildeten Glieder der evangelischen Kirche 1 ( 1 8 8 7 ) , Nr. 51 (Ankündigung des neuen Titels „Die Christliche Welt").
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I. Von Dorpat nach Berlin
mengeschichte" den zweiten Konflikt in der Lebens- und Berufsbahn des jungen Gelehrten aus. Solange lediglich die Theologische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität und das Kultusministerium an Harnacks Berufung arbeiteten, schienen sich die Dinge problemlos zu entwickeln. Das Ministerium erbat von der Fakultät einen Besetzungsvorschlag (Nachfolge Karl Semisch), die Fakultät lieferte ihn am 10. Dezember 1887, und sie empfahl, ungeachtet ihrer Kritik an Harnacks Neigung zu „extravagante[n] Urteilen", dringend seine Gewinnung für Berlin. Bernhard Weiß, die graue Eminenz der theologischen Berufungspolitik in Preußen, schob außerhalb der Fakultätsberatungen sein Votum dazu. Der Knoten des Konflikts schürzte sich bei der pflichtgemäßen Anfrage des Kultusministeriums beim Evangelischen Oberkirchenrat der Altpreußischen Union. Dem EOK stand seit 1855 bei Berufungen das Mitspracherecht durch Erteilung eines Unbedenklichkeitsbescheids zu. Der EOK beantwortete die ministerielle Anfrage, ob „gegen Lehre und Bekenntnis des Professors D. Harnack Bedenken" bestünden, zur peinlichen Überraschung der Harnack-Fraktion und zur Freude von dessen Gegnern am 29. Februar 1888 mit „Ja". 4 0 Vorausgegangen waren interne Richtungskämpfe in Preußens oberster Kirchenbehörde. Die Einzelheiten hat Walter Wendland 1934 den EOK-Akten nacherzählt. 4 1 Die konservative „Hofpredigerpartei", die Harnacks Theologie kompromißlos bekämpfte, war stärker und durchsetzungsfähiger als die anderen Kräfte. Sie erhielt vom Beginn des Konflikts Schützenhilfe durch kirchliche Presseorgane. Die „Kreuzzeitung" nannte in ihrer Abendbeilage vom 23. Mai 1888 Harnack einen
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Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA) 7/4335 (Acta betr. die theologischen Lehranstalten und die Besetzung derselben bei den königlichen Landesuniversitäten). Vgl. Schreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten (von Gossler) vom 29. Februar 1 8 8 8 (Bl. 1 6 3 r v ).
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Walter Wendland: Die Berufung Adolf Harnacks nach Berlin im Jahre 1 8 8 8 . In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 2 9 ( 1 9 3 4 ) , S. 1 0 3 1 2 1 . Alle wesentlichen Berufungsunterlagen (Abschrift), beginnend mit dem V o t u m der Theologischen Fakultät vom 10. Dezember 1 8 8 7 , dem „Bedenken" des Evangelischen Oberkirchenrats vom 29. Februar 1 8 8 8 (gez. Hermes) bis zum Berufungsentscheid des Königs vom 17. September 1 8 8 8 im Nachlaß Althoff, aaO. (Anm. 38), A II, Nr. 79 1 . Eine besonders aussagekräftige Quelle ist das Aktenheft von Gosslers (48 Blatt; zu größeren Teilen abschriftlich in EZA 7/4335). Es enthält u. a. „Theologische Gutachten über die angeregten Bedenken", „Zeugnisse über die Wirksamkeit des Professors Dr. Harnack in Gießen", weitere „Zeugnisse über die Wirksamkeit des Professors Dr. Harnack in Gießen", „Lebenslauf des Professors Dr. Harnack". Bei einer Unterredung
3. Ruf in die Reichshauptstadt
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„nach links abschweifenden Ritschlianer". Die Evangelische Landeskirche habe ein Recht darauf, daß unter den Universitätsprofessoren „wenigstens einige der positiven Richtung angehören und daß der Schwerpunkt nicht noch weiter nach links verschoben werde". In kirchlich-konservativer Perspektive standen bei Harnacks Berufung theologisch-dogmatische Grundsatzfragen auf dem Spiel. W i e urteilte Harnack über die Auferstehung Jesu Christi, über den sakramentalen Charakter der Taufe, über den Kanon des Neuen Testaments? Aus der Sicht der Staatsbehörden ging es demgegenüber um die Freiheit von Lehre und Forschung an den Theologischen Fakultäten. Der Konflikt zwischen Evangelischem Oberkirchenrat und Kultusministerium gemahnte an einen protestantischen Kulturkampf en miniature. In dieser spannungsreichen Lage berief die Universität Marburg Harnack zu ihrem Rektor. Die Hoffnung, Harnack in Marburg zu halten, dürfte mit der Rektorwahl schwerlich verknüpft gewesen sein. Es handelte sich um ein Signal der Solidarität mit der Person und um eine — wenn auch indirekte — Meinungsbekundung in der Sache. Die Universität Gießen Schloß sich der Marburger Symbolhandlung durch Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde an Harnack vom 31. Oktober 1888 an. Aufzulösen war der Konflikt zwischen Kirchen- und Staatsbehörde nur durch den König, den obersten Bischof der altpreußischen Landeskirche. Ein Immediatsbericht des Kultusministers von Gossler, der das mittlerweile stark angeschwollene Gutachten- und Meinungsmaterial zusammenfaßte, fand vorerst wegen des Ablebens von König Friedrich III. seinen Adressaten nicht. Kurze Zeit nach dem Tod des Königs konfrontierte von Gossler den preußischen Ministerpräsidenten Bismarck mit dem Fall. Er war unschlüssig, ob es tunlich sei, sich zunächst mit Bismarck zu beraten,
im Juni 1 8 8 8 faßte Kultusminister von Gossler seinen Eindruck von Harnack so zusammen: „Mit einer selten frischen und gewinnenden Persönlichkeit verbindet sich eine ungewöhnliche W ä r m e evangelischen Uberzeugens und er begnügt sich nicht, seiner Wissenschaft zu dienen, vielmehr trachtet er danach, alle seine Kräfte, sein ganzes Sein und Vermögen zur Hebung und Kräftigung der evangelischen Kirche einzusetzen ..." Zur Regelung der Nachfolge von Karl Semisch sind außerdem belangvoll die Aktenstücke aus dem „Geheimen Zivilkabinett des deutschen Kaisers und Königs von Preußen" (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Rep. 7 6 V a Sekt. 2 Tit. IV [I], BI. 15-26 r ). Unergiebig für den Berufungsvorgang ist Harnacks Personalakte (Nr. 98) im Archiv der Humboldt-Universität. Die Dramatik der Monate Februar bis September 1 8 8 8 wird am besten deutlich in den Briefen, Postkarten und Notizen Althoffs (Nachlaß Harnack, Kasten 26)
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I. Von Dorpat nach Berlin
den Berufungskonflikt im Staatsministerium anhängig zu machen oder in gerader Linie auf dem Wege des Immediatsberichts — nunmehr an den jungen König Wilhelm II. - fortzuschreiten. Bismarck entschied: Beratung im Staatsministerium, dann Immediatsbericht. Das Staatsministerium sprach sich in seiner Beratung vom 30. Juni 1888 klipp und klar gegen die Position des Evangelischen Oberkirchenrats aus. Der mehrmonatige Berufungskonflikt besaß streckenweise Züge einer Tragikomödie. W u ß ten Althoff und Weiß, die Eifrigsten der Harnack-Partei, was sie dem Gelehrten zumuteten, als sie ihm am 6. Juni 1888 folgendes Billet zukommen ließen? „Der Herr Minister, der morgen auf einige Tage in die Provinz Sachsen reist, bittet Sie, ihn Sonntag, den 10. d. M . Vormitt. 8 Uhr im Schwarzen Ross zu Naumburg zu besuchen. Es wird gut sein, wenn Sie sich recht pünktlich einfinden, da Seine Exzellenz nach dem Programm um 9 Uhr in den Dom gehen wird." 4 2 Ein neugefaßter Immediatsbericht, entworfen von Weiß, erweitert durch von Gossler, lag Mitte Juli in den Händen Wilhelms II. Der neue König, offenbar bestrebt, der Kirchenbehörde Gelegenheit zum Einlenken zu geben, forderte den EOK zu nochmaliger Prüfung der Akten auf. Nach monatelangem Schweigen erneuerte der EOK sein „Bedenken", diesmal definitiv. Diese Prinzipienfestigkeit oder auch Hartnäckigkeit grenzte staatspolitisch an Insubordination. Am 17. September 1888 unterzeichnete der König die Berufungsurkunde. Welche Wellen der Streit um Harnacks Berufung geschlagen hat, war daran zu ersehen, daß sogar ein New Yorker Wochenblatt für Auswanderer über ihn berichtete. Das Blatt kommentierte mit Wohlwollen für die Entscheidung des Königs: „Unter Dr. Harnack, davon sind wir überzeugt, werden die Berliner Studenten viel lernen, aber als Christen in ihrer Liebe zum Herrn sicher nicht schiffbrüchig werden." 4 3 Mit dem Wechsel an die Theologische Fakultät in der Hauptstadt des Deutschen Reiches war berufungspolitisch der Endpunkt erreicht. Höher hinauf ging es nicht mehr, es sei denn, man erachtete den Ruf an eine Universität außerhalb des Deutschen Reichs als noch ehrenvoller. Nachdem die Harvard-Universität schon während Harnacks Gießener Zeit eine erste Offerte gemacht hatte, meldete sie sich zu Beginn des Jahres 1893 zum zweiten Mal. „Authorized by the President and Fellows of Harvard-
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W e i ß und A l t h o f f an Harnack vom 6. Juli 1 8 8 8 (Nachlaß Harnack, Kasten 26).
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Deutscher Volksfreund. Ein Wochenblatt für deutsche Familien in Amerika. Band 18, Nr. 4 1 . New York, 1 1 . October 1 8 8 8 , S. 3 2 5 („Dr. Harnacks Berufung nach Berlin").
3. Ruf in die Reichshauptstadt
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College" lud deren Präsident, Charles W . Eliot, Harnackzum 1. September 1893 zu einer Professur ein. Harvard bot ein Gehalt von 4 500 USDollar pro Jahr, „which is the highest salary paid in the Faculty of Theology, Arts and Sciences". Die bei der Anfrage noch ausstehende Zustimmung eines „Boards of Overseers" wäre bei einem positivem Bescheid Harnacks bloß eine Formsache gewesen. Harnack gab das Einladungsschreiben sofort Althoff zur Kenntnis. Aus dem handschriftlich beigefügten Antwortentwurf an Eliot konnte Althoff ersehen, wie Harnack auf den Antrag reagiert hatte. „Dem Präsidenten und den Fellows des Harvard-College spreche ich meinen besten Dank aus für das Wohlwollen und Vertrauen, das Sie mir durch die Berufung an Ihre berühmte Universität erwiesen haben. Aber ich sehe mich nicht in der Lage, dem ehrenvollen Rufe zu folgen; denn ich halte es für meine Pflicht, meinem Vaterlande auch ferner, soweit es in meinen Kräften steht, zu dienen, und ich geniesse hier die Freiheit der Arbeit und des Wortes, welche die Wissenschaft bedarf." Das war höflich, und es war deutlich. Noch deutlicher ist Harnacks Begleitnotiz an Althoff gewesen. „Es war mir eine Freude, den Amerikanern so antworten zu können, wie ich geantwortet habe. Wegen mangelnder wissenschaftlicher Freiheit wird hoffentlich niemals ein Preuße aus seinem Vaterlande auswandern müssen." 44 Die Metropole des Deutschen Reiches war mit ihrer Ausstrahlung des Großen, des Massenhaften, des Pompösen unter den Hauptstädten Europas nicht sonderlich beliebt. „Für Paris und Wien schwärmt man, Berlin haßt man, gegen London bleibt man in einer neutralen Gleichgültigkeit und Objektivität." 4 5 Auf den Soziologen Werner Sombart wirkte Berlin wie ein „Vorort von New York". Er bezeichnete die Stadt als urbane Agglomeration ohne „regulative Kulturidee" 46 . Von solchen zivilisationskritischen Impressionen war der mit Ehefrau und fünf Kindern aus
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Harvard University, Cambridge (Präsident Eliot) vom 2. Februar 1 8 9 3 an Harnack (Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 107-109')· Harnack benutzte Eliots Brief zur Konzipierung des Antwortschreibens vom 14. Februar 1 8 9 3 und der Begleitnotiz an A l t h o f f vom 17. Februar 1 8 9 3 .
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Das meinte Friedrich Engels. Vgl. Birgitt Morgenbrod: „Träume in Nachbars Garten". Das Wien-Bild im Deutschen Kaiserreich. In: Gangolf Hübinger/ Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main 1 9 9 3 , S. 1 1 1 - 1 2 3 ; hier S. 1 1 4 . W e r n e r Sombart: Wien. In: Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur Jg. 1 9 0 7 , H. 6, S. 1 7 2 - 1 7 5 ; zit. nach Morgenbrod: „Träume ...", aaO. (Anm. 45), S. 1 1 5 .
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I. Von Dorpat nach Berlin
dem beschaulichen Marburg übergesiedelte Harnack weit entfernt. Allenfalls in seinen privaten Verhältnissen - die Familie lebte zunächst in der dritten Etage eines Mietshauses in der Hohenzollernstraße — empfand Harnack Berlin als unbequem. Die Familie zog einige Zeit später an den westlichen Stadtrand, nach Berlin-Grunewald. In jeder anderen Hinsicht bildete Berlin für Harnack jedoch das Ziel seiner Wünsche. Hier pulsierte das Herz eines mächtigen Staatsorganismus. Was andere Zeitgenossen als bürokratische Sachzwänge in einer sich entzaubernden Welt erlebten, als ein Sphäre liebloser Rationalität, scheint Harnack wenig berührt zu haben. Keiner stand der Stimmung des fin de siecle ferner als er. Zivilisationskritik aus dem Geist der Neuromantik lehnte er ab. „Für die Kunst, Gefühle, Stimmungen und Lebenskräfte mit neugieriger Unkeuschheit gegenständlich zu machen, habe ich nie etwas übrig gehabt und will sie nicht lernen." 4 7 Die namhaftesten Gelehrten Berlins in den Geistes- und Sozialwissenschaften waren damals Theodor Mommsen, Heinrich von Treitschke und Heinrich von Sybel, der Philosoph und Schleiermacherbiograph Wilhelm Dilthey, der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (seit 1897), der Rechtshistoriker Otto von Gierke und der Archäologe Ernst Curtius. Unter diesen herausragenden Persönlichkeiten der Berliner Gelehrtenwelt trat Harnack in freundschaftlichen Kontakt mit Theodor Mommsen. Durch Vermittlung der Ehefrau des Generaldirektors der Königlichen Museen, Helene Schöne, wurde das Ehepaar Harnack in das „Kränzchen" aufgenommen, in eine gesellige Runde, der auch das Ehepaar Mommsen angehörte. Harnack profitierte von Mommsens überragender Autorität in Universität und Akademie. Bei Harnacks Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, die nicht lange auf sich hatte warten lassen (1890), verlieh Mommsen als Sekretär der Philosophisch-Historischen Klasse seiner Freude darüber Ausdruck, „daß es uns gestattet ist, den Verfasser der Dogmengeschichte des Christentums den unsrigen zu nennen, den Mann, welcher die Entwicklung des orientalischen Wunderkeimes zur weltgeschichtlichen, die Geister durch zwanzig Jahrhunderte bald befangenden, bald befreienden Universalreligion uns erschlossen, uns von Christus zu Paulus, zu Origenes und Augustinus und Luther geführt hat, welcher uns gelehrt hat, die Macht und Wirkung des Christentums nicht lediglich in seinen Sprossen zu erkennen, sondern
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Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 298 (Harnack an Rade vom 15. Oktober 1899).
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ebenso sehr in seiner Verzweigung und Verästung. " 4 8 Mommsen blieb ein mächtiger Protektor und Förderer, solange Harnack einer solchen Förderung bedurfte. Die Pforte zur Politik ist Harnack durch einen anderen Gelehrten aufgestoßen worden, durch den Historiker, Publizisten und Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher" Hans Delbrück. Harnacks Schwägerin Lina war seit 1884 mit Delbrück verheiratet. Als Wissenschaftler war Delbrück, der einstige Prinzenerzieher im Haus der Hohenzollern und rührige publizistische Streiter für Preußens Gloria, in Fachkreisen nicht besonders hoch angesehen. Ausgeglichen hat Harnacks Schwager den Mangel an fachlicher Reputation durch seinen publizistischen Einfluß auf das politische und geistige Leben. Nach der „Christlichen Welt" boten die „Preußischen Jahrbücher" Harnack eine weitere Plattform außerhalb der Fachorgane dar. Die „Preußischen Jahrbücher" lancierten Veröffentlichungen von und über Harnack. Harnack war in der Lage, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Dennoch konnte es ihm nicht unlieb sein, Mommsen und Delbrück, daneben auch Hermann Diels fest an seiner Seite zu wissen. Ein wichtiger Aktivposten war und blieb darüber hinaus Harnacks direkter Zugang zu den Räumen des preußischen Kultusministeriums. Die zwischen 1886 und 1908 zwischen Althoff und Harnack gewechselten Briefe und Karten belegen zwei Sachverhalte. Zum einen rückte Harnack in Berufungsangelegenheiten an den theologischen Fakultäten der preußischen Monarchie mehr oder minder geräuschlos zu einer erstrangigen Bezugsperson im „System AlthofP auf. Zum anderen bereitete Althoff in beträchtlichem Ausmaße jene Pläne vor und fädelte sie administrativ ein, die Harnack zu einem der einflußreichsten preußischen Wissenschaftspolitiker außerhalb des Kultusministeriums, doch im engen Benehmen mit ihm machten. Nach den Berufungskämpfen des Jahres 1888 bahnte sich im Verhältnis des kirchlichen Berlin zu Harnack vorerst eine leichte Entkrampfung an. Einen Beitrag dazu leistete die Offenheit von Teilen der Berliner Pfarrerschaft für Harnack. Als Theologe besaß Harnack das Predigtrecht, nicht aber die vollen Rechte des geistlichen Standes. In konservativ-kirchlichen Augen war das für einen theologischen Hochschullehrer ein Defizit. Abgesehen von seiner umstrittenen Theologie hat Harnack auch wegen seines Status als nicht ordinierter Theologe in der Kirche keine Karriere
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Adolf [von] Harnack: Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften ( 1 8 9 0 ) und Erwiderung Theodor Mommsens (Teil II, Nr. 1/1).
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machen können. Nicht einmal in das kirchliche Prüfungskollegium wurde er berufen, geschweige denn in die Brandenburgische Provinzialsynode als Deputierter der Theologischen Fakultät. Die sachlichen und amtlichen Hemmnisse, die einem Aufstieg Harnacks in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union entgegenstanden, erklären, wenn auch nicht ausschließlich, warum Harnacks Karriere sich zu einem beträchtlichen Teil außerhalb der Kirche entfaltete. Die Berliner Antrittsvorlesung am 23. Oktober 1888 ließ die von den kirchlich Konservativen erhoffte negative Sensation vermissen. Harnack, wohl wissend um das eruptive Gelände, auf dem er sich bewegte, bot eine nüchterne wissenschaftliche Darlegung. Harnacks Lehrprogramm umfaßte den ganzen Stoff der Kirchengeschichte. Im Sommersemester 1889 las er „Geschichte der Kirche im Mittelalter", „Dogmengeschichte" und „Geschichte der kirchlichen Diakonie oder der sog. inneren Mission". Außerdem veranstaltete er ein kirchengeschichtliches Seminar. Im Laufe der Jahre bot Harnack sieben große Vorlesungen an: 1. Kirchengeschichte der alten Zeit. 2. Kirchengeschichte des Mittelalters. 3. Kirchengeschichte der neueren Zeit. 4. Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. 5. Dogmengeschichte. 6. Symbolik. 7. Einleitung in das Neue Testament. 4 9 Hinzu kam das kirchenhistorische Seminar, das sich zu einer Institution eigener Art entwickelte. Aus ihm sind so bedeutende Schüler wie Karl Holl, Rudolf Knopf, Leopold Zscharnack, Hans von Soden, Wilhelm Schneemelcher, Heinrich Scholz, Otto Dibelius, Dietrich Bonhoeffer und andere hervorgegangen. Der Arbeit im kirchenhistorischen Seminar hat Harnack bei der Feier seines 60. Geburtstages eine eigene Betrachtung gewidmet. 5 0 Am häuslichen Schreibtisch galt die Hauptbeschäftigung des ersten Berliner Jahres der Fertigstellung des dritten Bandes des „Lehrbuchs der
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Vorlesungsverzeichnis vom 24. April bis 15. August 1 8 8 9 . Im Wintersemester 1889/90 las Harnack „Einleitung in das Neue Testament" und „Kirchengeschichte der neueren Zeit" (Vorlesungsverzeichnis vom 16. Oktober 1 8 8 9 bis 15. März 1 8 9 0 ) , im Sommersemester 1 8 9 0 „Geschichte der Kirche im Altertum", „Geschichte der römisch-katholischen Kirche von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart" und „Geschichte der Kirchengeschichte" (Vorlesungsverzeichnis vom 16. Aprilbis 15. August 1890). DieAufzählung der sieben großen Vorlesungen folgt Harnacks eigenen Angaben von Dezember 1 9 0 5 , als er nach Übernahme der Generaldirektion der Königlichen Bibliothek (im Nebenamt) um Entlastung in der Theologischen Fakultät durch Berufung eines zweiten Ordinarius für Kirchengeschichte bat (Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 1 3 6 - 1 3 7 v : Harnack an Kultusminister [Entwurf]).
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Teil I, Nr. VI/5.
1. Christentum ohne Dogma
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Dogmengeschichte". Beachtenswert für Harnacks Wissenschaftsstrategie ist, daß er noch vor Abschluß des opus magnum einen „Grundriß der Dogmengeschichte" herstellte, eine Kurzfassung des „Lehrbuchs". Der erste Teil erschien 1889, der zweite Teil folgte 1891. In einer Neubearbeitung von 1893 faßte der Autor beide Teile in einem Band zusammen. In dieser Gestalt trat der „Grundriß" seinen Siegeslauf durch die dogmengeschichtlich interessierte Welt an. Eine französische und eine englische Ausgabe erschienen 1893, eine Ausgabe in russischer Sprache 1898. Harnack wünschte, die Hörer dogmengeschichtlicher Vorlesungen möchten „diese Blätter in die Hand nehmen" und sie „bei der Repetition gebrauchen". 5 1
II. Horizonte des freien Christentums 1. Christentum ohne Dogma Worin bestand die von den Gegnern bekämpfte, von den Anhängern bewunderte Modernität Harnacks? Während Martin Luther, der Reformator aus Wittenberg, dem komplizierten Bau der mittelalterlichen Theologie seine Prinzipien sola scriptura und sola fide entgegengesetzt hatte, versuchte Harnack, all die „schwammigen Gebilde des Gemüts und des Denkens" zu entfernen, von denen er die christliche Botschaft überlagert sah, um auf den zeitüberdauernden Kern zu stoßen. „Ich glaube", schrieb er seinem Freund und Fachgenossen Friedrich Loofs, „daß wir ohne ein ikonoklastisches Element nicht weiterkommen". 5 2 Nach Harnacks Auffassung ging es darum, durch Neuinterpretation der christlichen Glaubensüberlieferung ein modernes, zukunftsfähiges Christentum sichtbar zu machen. Voraussetzung dafür war nach seiner Meinung die Rückkehr zum dogmatisch unverfälschten Evangelium Jesu. An die Leben-Jesu-Forschung älteren Typs Schloß sich Harnack bei der Rekonstruktion der jesuanischen Botschaft allerdings nicht an. Schon 1874 war ihm klar, daß die Urkunden des Neuen Testaments das Material dazu nicht hergaben. „Vita Jesu
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Adolf [von] Harnack: Dogmengeschichte. 2. Aufl. Tübingen 1 8 9 3 , Vorwort. Zum „Grundriß der Dogmengeschichte", seiner wechselnden Titelgebung und seinem Anliegen Kurt Nowak: Un christianisme sans dogme. In: Adolf von Harnack: Histoire des dogmes. Paris 1 9 9 3 , S. 4 6 1 - 4 7 3 (Patrimoine Christianisme). Harnack an Loofs. Teildruck bei Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 1 4 1 .
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II. Horizonte des freien Christentums
scribi nequit." 5 3 Um so überzeugter war Harnack jedoch, aus den neutestamentlichen Uberlieferungen die authentische Verkündigung des Mannes aus Nazareth rekonstruieren zu können. Ihren Kern fand er in drei Aussagen: 1. Im Reich Gottes und seinem Kommen. 2. In der besseren Gerechtigkeit und dem Gebot der Liebe. 3. In Gott dem Vater und dem unendlichen Wert der Menschenseele. 54 In geringfügigen Veränderungen zieht sich Harnacks Charakteristik der Jesus-Botschaft durch sein gesamtes Werk. Wer wissen wollte, wie man ohne Anleihen bei der spätantiken Philosophie und der mittelalterlichen Scholastik Christ sein konnte, schien durch Harnacks Version der Jesus-Verkündigung darauf eine Antwort zu erhalten. Mit seiner antklogmatischen Wendung gegen „Metaphysik" und „Mystik" befand sich Harnack in der Nachfolge von Ritschis Bibelpositivismus, der das biblische Wort nahm, wie es war, ohne es spekulativ überhöhen zu wollen. Diese Sichtweise implizierte allerdings die Annahme, wie bereits Auguste Sabatier 1891 kritisierte, „que l'Evangile a existe d'abord sans aucun £lement doctrinal." 5 5 Im Lichte der Botschaft Jesu sollten die Zeitgenossen die nachmaligen dogmatischen Entwicklungen kennenlernen und beurteilen. Sie sollten deren Verfestigung im trinitarischen und christologischen D o g m a unter dem Einfluß des griechischen Geistes vor Augen geführt bekommen. Den als schismatisch und häretisch ausgeschiedenen Denkern des kleinasiatischen, syrischen und alexandrinischen Christentums sollten sie besondere Aufmerksamkeit schenken, um zu ermessen, daß Orthodoxie und Heterodoxie immer nur regulative, niemals aber endgültige theologische Realitäten seien. Mit dem Wechsel des Schauplatzes vom hellenistischen Kulturkreis hin zur lateinischen Welt der ausgehenden Antike, so-
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Harnack: De Apellis gnosi, aaO. (Anm. 6), Anhang (Thesen). Adolf [von] Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1 8 9 9 / 1 9 0 0 an der Universität Berlin gehalten. 4. Aufl. Leipzig 1901, S. 33. Die erste, zweite und dritte Auflage erschienen im Jahr 1900. Vgl. auch ders.: Lehrbuch der Dogmengeschichte Band I, aaO. (Anm. 32), S. 69 (statt der Formulierung vom „unendlichen Wert der Menschenseele" wählte Harnack hier allerdings noch das den Konventionen der Kirchensprache verpflichtete Wort „Sündenvergebung").
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Auguste Sabatier (Rezension des „Lehrbuchs der Dogmengeschichte" und des „Grundrisses der Dogmengeschichte") in: Revue critique d'histoire et de littdrature 25 (1891), Nr. 14, S. 256-260; hier S. 258 f. Mit seiner Bewunderung für Harnacks Leistung hielt Sabatier trotz seiner kritischen Einwände nicht zurück. „Cette histoire des dogmes chrdtiens de M . Harnack renouvele comp l e m e n t l'itude de cette riche et difficile mati£re" (S. 256).
1. Christentum ohne Dogma
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dann zum abendländischen Mittelalter ließ Harnack das Bild einer fortschreitenden Verkirchlichung und Verrechtlichung des Dogmas entstehen. Das Dogma erfuhr eine Umprägung zur römisch-katholischen Sünden· und Gnadenlehre und zur Lehre von den Gnadenmitteln der Kirche. Im nachtridentinischen Katholizismus war Harnacks Urteil zufolge dann die von länger her angelegte theologische Neutralisierung des Dogmas zu einer arbiträren Rechtsordnung vollendet. Die nachtridentinische Entwicklung gehörte nach Harnack bereits zu einer Konstellation, die er den „dreifachen Ausgang der Dogmengeschichte" nannte. Die beiden anderen „Ausgänge" neben dem nachtridentinischen Katholizismus waren der Antitrinitarismus und Sozianismus, die das Dogma verstandesmäßig aufhoben und zersetzten, sowie die Reformation. Die Reformation habe die Dogmen der Kirche, widerspruchsvoll genug, abgetan und aufrechterhalten. Sie weise über das Dogma hinaus: rückwärts zu den reinen Quellen der Jesusbotschaft und vorwärts zu einer Neuformulierung des evangelischen Bekenntnisses, „befreit vom Dogma und versöhnt mit der Freiheit und mit der Wahrheit unbezweifelbarer geschichtlicher Erkenntnisse." 56 Viele Interpreten verstanden Harnacks Konzeption der Dogmengeschichte als Beschreibung einer Geschichte des Verfalls der christlichen Wahrheit durch das Dogma und ihres dann neuerlich siegreichen Durchbruchs in der Reformation Luthers. Nach dieser Lesart stand Harnack in der Nähe historischer Dekadenztheorien. Nach der Höhe des Anfangs, dem „Evangelium Jesu", folgte der Verfall, die Entstehung des „Evangeliums von Jesus" als dogmatisch verkünstelte Gestalt des Anfangs, schließlich die Rückkehr zum Ursprung durch Neuaufdeckung des „Evangeliums Jesu" in der Reformation des 16. Jahrhunderts. Eine Schwierigkeit der verfallstheoretisch-zyklischen Deutung besteht darin, daß die Geschichte des Christentums für Harnack seit der Reformation in linearer Aufwärtsbewegung verlief. 5 7 Eine zweite Möglichkeit zur Deutung von Harnacks dogmengeschichtlichen Entwurf bestand im Verweis auf seinen latent „hegelianischen" Hintergrund. Auf ihn machte seinerzeit Troeltsch aufmerksam. Gewiß lehnte Harnack die Hegeische Dialektik ab, in welcher das Christentum als Selbstbewegung und -entfaltung der christlichen Idee erschien. Gleichwohl nahm er die Christentumsge-
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So die Formulierung im „Grundriß der Dogmengeschichte" („Dogmengeschichte"), § 7 2 .
57
Vgl. K u r t Nowak: Bürgerliche Bildungsreligion? Zur Stellung A d o l f von Harnacks in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte der Moderne. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 9 9 ( 1 9 8 8 ) , S. 3 2 6 - 3 5 3 ; bes. S. 3 4 0 - 3 4 2 .
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II. Horizonte des freien Christentums
schichte als Explikation Christi und aller ihr folgenden Theologie auf. Die Dogmatik fiel als letztlich nicht haltbare Explikation dahin, obschon sie im Buch der Geschichte verzeichnet blieb, und machte der Idee des Zusammenfallens von Theologie und Geschichte Platz. „Der Gedanke einer Menschwerdung und Anschaubarkeit der religiösen Wahrheit in der Gesamtgeschichte des Christentums, und im Grunde nur hier, blieb bei ihm erhalten." 5 8 Harnack selber sprach von zwei Strömungen in der Geschichte von Christentum und Kirche. Die eine Strömung war durch die Jesusbotschaft, die andere durch die Verkündigung des kerygmatischen Christus bestimmt. Beide waren unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen. Lediglich die erste Strömung zu verfolgen, hätte zu einer „Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" nach Art Gottfried Arnolds führen müssen. Zu einer Sicht, die Harnacks Vorstellungen am ehesten gerecht wird, kommt man wohl erst dann, wenn man sein Verständnis der Geschichte ernst nimmt. Geschichte war in der Mannigfaltigkeit des Wirklichen an die Anschauung und nicht an den Begriff gebunden. Von den Begriffen einer Geschichtstheorie her mochten das Schema Ursprung — Verfall Rückkehr oder die „hegelianische" Explikation des Christlichen naheliegen. Vor der lebendigen Anschauung konnten sie nicht bestehen. Die Einheit der (Christentums-) Geschichte stellte sich nicht in begrifflichen Notwendigkeiten her, sondern als „anschaubare fühlbare Bestimmtheit." 59 Die Neigung zum Konkreten gab Harnack jene Elastizität und Differenzierungsfähigkeit, die sein Werk von bloßen Demonstrationen geschichtsphilosophischer Theorien abrückte. Die Probe auf diese Weite des Blicks war Harnacks entspannte Haltung zum Hort des dogmatischen Christentums, dem Katholizismus. Die Geschichte „vorwitzig und grämlich zu meistern", lehnte Harnack ab. Von Verfall in der Geschichte konnte nur derjenige reden, der sie an einem bestimmten Ideal maß; aber wer so verfuhr, sollte geschichtliche Studien lieber unterlassen. 60 Hinter der Anschauung des Konkreten und Lebendigen standen geschichtsphilosophische Denkstrukturen. Ahnlich wie Herder sah Har-
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Ernst Troeltsch: Adolf v. Harnack und Ferd. Christ, v. Baur. In: Festgabe von Fachgenossen und Freunden Adolf von Harnacks zum siebzigsten Geburtstag dargebracht. Tübingen 1 9 2 1 , S. 2 8 2 - 2 9 1 ; hier S. 2 8 4 .
59
Ebenda, S. 2 8 5 f. Im „historischen Instinkt" und „künstlerischen Gefühl" für das Konkrete berühre sich Harnack mit Ernest Renan und Theodor Mommsen. Adolf [von] Harnack: Die Notwendigkeit der Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit (Teil II, Nr. II/2).
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1. Christentum ohne Dogma
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nack die Kulturen und Völker mit ihren unterschiedlichen Gaben an einer großen Symphonie der Menschheit arbeiten, in welcher sich die reineren Klänge mehr und mehr durchsetzten. „Aufwärts geht unser Weg!" Von Goethe entlehnte Harnack die Idee der Metamorphosen, des organischen Gestaltwandels der Geschichte. Eine Trennung zwischen Christentumsgeschichte und allgemeiner Geschichte verwarf Harnack. Die in der Verkündigung Jesu aufbewahrten Glaubensgüter Gottvertrauen, Menschenliebe, Reichgotteshoffnung standen für Harnack nicht in Spannung zur allgemeinen Geschichte, vielmehr machten sie ihren innersten Gehalt aus. Keine andere Religion als das Christentum vermochte für die Menschheitsgeschichte das lösende Wort zu sprechen, welche ihr zu sittlicher Eindeutigkeit verhalf und sie zur Freiheit führte. Deshalb auch war für Harnack die Religiosität als Existenzial des Menschen in letzter Instanz identisch mit dem Inhalt der Verkündigung Jesu. In ihr sah er die vollkommene Erkenntnis Gottes und die Selbsterkenntnis des Menschen beschlossen. Richtungsweisenden Charakter trug Harnacks Satz im „Lehrbuch der Dogmengeschichte", Jesus habe keine neue Lehre gebracht, sondern er habe ein heiliges Leben mit Gott und vor Gott in seiner Person dargestellt. 61 Hier war das sittlich-evolutive Geschichtsverständnis unter jesuanischen Vorzeichen mit dem religiösen Apriori verknüpft. Die durch Jesus ins Eindeutige geführte Bestimmung des Menschen und die Jesusbotschaft fielen, recht verstanden, ineinander. Die Religion bereitete mit der individuellen Erlösung der universalen Erlösung der Menschheit den Weg. Der Mensch vor Gott war Kind Gottes. Die schlagende Simplizität der Harnackschen Christentumsauffassung zog viele Zeitgenossen in ihren Bann. In einer Wissenschaftsepoche, in welcher man die Forschungen zur Dogmengeschichte der Alten Kirche entweder in fachlichem Spezialistentum betrieb oder — soweit es die Altphilologen anging — sich zu den alten Texten nur noch textkritisch-editorisch verhielt, verschaffte Harnack seiner Disziplin neuerlich starke öffentliche Geltung. Althoff schrieb dem Autor nach Empfang des „Grundrisses" in humorig-ernster Anspielung auf den Faust-Monolog, wie sehr er es bedaure, nicht leider auch Theologie studiert zu haben. 2 Gerhart Hauptmann teilte mit: „Ich will nur in Eile der Reise ein wenig Dank sagen für den reichen Inhalt ihres wundervollen Buches. Es begleitet mich und erfüllt mich. Es ist ebenso tief als
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Harnack: Lehrbuch, Band I, aaO. (Anm. 32), S. 48.
62
Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 252.
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II. Horizonte des freien Christentums
heiter, klar als warm. Das Rüstzeug der Gelehrsamkeit hindert in nichts die freieste Bewegung des darin wirkenden Geistes." 63
2. Theologische
Richtungskämpfe
In den beiden ersten Jahrzehnten von Harnacks Berliner Wirksamkeit tobten heftige Auseinandersetzungen über Formen und Inhalte der christlichen Verkündigung. Bereits 1889 focht Harnack zugunsten der historisch-genetischen Betrachtung des frühen Christentums einen heftigen Strauß gegen Theodor Zahn aus. Harnack sah bei Zahn einen unhistorischen Traditionalismus am Werk. So wie die katholischen Gelehrten „unter der Voraussetzung der Stabilität der kirchlichen π α ρ ά δ ο σ ι ς ά γ ρ α φ ο ς arbeiteten, „so ist Zahn die Uberzeugung der Uranfänglichkeit und Stabilität der π α ρ ά δ ο σ ι ς ε υ γ ρ α φ ο ς so natürlich geworden, daß er nicht mehr merkt, wie er jede Thatsache der Geschichte diesen Uberzeugungen unterordnet". Zahns Geschichte des neutestamentlichen Kanons bestehe aus ,,eine[r] Kette von Trugschlüssen, Gewaltsamkeiten und verzweifelten Operationen." 6 4 Die Positiven beobachteten mit höchstem Argwohn die ihrer Meinung nach ungläubigen Professoren. Harnack galt in ihren Augen als besonders gefährlich. 1892/93 kam es zum Streit um die zeitgemäße Geltung und den liturgischen Gebrauch des altkirchlichen Glaubensbekenntnisses, des Apostolikums, und die Stellung Harnacks zu ihm. Ausgelöst wurde der Streit durch einen jungen württembergischer Pfarrer, Christoph Schrempf. Infragegestellt worden war die Geltung des Apostolikums schon 1888 durch die Schrift des Gothaer Superintendenten Otto Dreyer „Undogmatisches Christentum. Betrachtungen eines deutschen Idealisten". Landesweite Bedeutung erlangten die Auseinanderset-
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Gerhart Hauptmann an Harnack vom 26. Oktober 1 9 0 9 aus Leipzig (Nachlaß Harnack, Kasten 32). Die Briefe Hauptmanns im Harnack-Nachlaß bezeugen, daß der Dichter die Produktion des Gelehrten aufmerksam und mit Hochachtung verfolgte. A m 7. Oktober 1 9 2 2 reagierte Hauptmann ζ. B. auf Harnacks ,Augustinus" mit den Worten, er habe das Buch „in die Reihe derer gestellt, die mir für immer Weggenossen sind ... Ich gebe Ihnen durchaus recht, wenn Sie einen christlich-augustinischen Bund fordern und von ihm Erneuerung der europäischen Menschheit erwarten ..." (Ebenda).
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Das Neue Testament um das Jahr 2 0 0 . Theodor Zahns Geschichte des neutestamentlichen Kanons (Erster Band. Erste Hälfte). G e p r ü f t von D. A d o l f Harnack. Freiburg i. B. 1 8 8 9 , S. 4 f. Zahns Darstellung sei nicht „Geschichte", sondern Flucht vor der Geschichte" (S. 1 1 0 ) .
2. Theologische Richtungskämpfe
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zungen, als Harnack von seinen Studenten gefragt wurde, ob er ihnen „rathen könne, daß der größere Kreis, zu dem sie gehörten, eine Petition zur Abschaffung des Apostolikums] an den Ofber]K[irchen]Rath richten" solle. Ein Credo der Kirche auf die theologische Müllhalde zu werfen, lehnte Harnack vor seinen Studenten in klaren Worten ab. Wohl aber schien es ihm an der Zeit, anstelle oder neben dem Apostolikum ein „kurzes Bekenntnis" einzuführen, welches das reformatorische Verständnis des Evangeliums „sicherer und deutlicher" formulierte und dadurch auch bestimmte theologische und philologische Probleme des altkirchlichen Bekenntnisses beseitigte. Zu diesen Problemen zählte Harnack die Wendung „empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria". Auch die nichtpaulinische Wendung „Auferstehung des Fleisches" hielt Harnack für den „gebildete [n] Christe[n]" nicht hilfreich. Andererseits forderte er vom „gereiften und gebildeten Theologen ... soviel geschichtlichen Sinn ..., um sich von dem hohen Werte und dem großen Wahrheitsgehalt des Apostolikums zu überzeugen." 65 Die Ausbalancierung seines Votums nützte Harnack bei der kirchlichen Orthodoxie nichts. Die Konservativen warfen dem Gelehrten vor, die Autorität des kirchlichen Lehr- und Bekenntniszusammenhanges zu unterminieren und durch eine andere „Autorität" zu ersetzen, nämlich seine eigene. Der Streit blieb nicht auf den Protestantismus beschränkt. Auch die katholische „Germania" schaltete sich ein. Es handele sich um eine „todernste Angelegenheit der ganzen Christenheit", wenn eine Bewegung Raum gewinne, die mit den „Grunddogmen des Christentums" breche. 6 6 Über Harnack ergoß sich im zweiten Halbjahr 1892 eine Flut von Schmähschriften, von Spottgedichten und Abkanzelungen. Umgekehrt fehlte es nicht an Solidaritätsbekundungen mit einem Manne, an dessen Person ein Stellvertreterkrieg um Recht oder Unrecht der historisch-kritischen Methode in ihrer Anwendung auf sakrale Texte geführt wurde. Die „Freunde der Christlichen Welt", ein lockerer Zusammenschluß von Autoren des gleichnamigen Organs, trafen sich am4./5. Oktober 1892 in Eisenach und
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Harnack an Rade vom 30. Juli 1 8 9 2 (Nachlaß Harnack, Kasten 39); ders.: In Sachen des Apostolikums. In: Die Christliche W e l t 6 ( 1 8 9 2 ) , Nr. 3 4 vom 18. August 1 8 9 2 , Sp. 7 6 8 - 7 7 0 . Vgl. Teil I, Nr. IV/1. Germania Nr. 2 4 4 , 1 8 9 2 („Was geht die katholische Presse der Fall Harnack an?"). In der Aufnahme dieses Verweises sowie einiger weiterer Details bin ich Dr. Johanna Jantsch zu Dank verpflichtet, die mir einen Teil der Vorarbeiten zur Einleitung der von ihr geplanten Edition des Briefwechsels Harnack-Rade zugänglich machte.
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II. Horizonte des freien Christentums
verabschiedeten eine Erklärung, die sich um Zurechtrückung der Streitmaterie bemühte. Ein weiteres Ergebnis von Eisenach war der fortan engere Zusammenschluß der „Freunde der Christlichen Welt" in regelmäßigen Jahrestagungen sowie die Einrichtung der „Hefte zur Christlichen Welt". Das erste Heft aus der Feder Martin Rades war dem Apostolikumsstreit gewidmet. 6 7 Insgesamt erschienen allein in dieser Publikationsreihe 1892/ 93 dreizehn Schriften zu diesem Gegenstand, ein Ausdruck der großen Erregung, die der „Apostolikumsstreit" in der Öffentlichkeit ausgelöst hatte. Das Kultusministerium beanstandete einige Punkte in Harnacks Darlegungen, fand aber an seiner Besonnenheit gegenüber dem theologischen Bilderstürmertum der Studenten nichts zu tadeln. Der Evangelische Oberkirchenrat, ein in Sachen Harnack gebranntes Kind, gab zur Beruhigung der Gemeinden am 25. November 1892 einen Erlaß heraus, den Harnack ausgewogener und milder fand als einige seiner Freunde. Den vielleicht wichtigsten Impuls in der Streitangelegenheit gab Martin Rade. Er drängte Harnack, nunmehr vollständig seine religiöse Position zu entwickeln. „Deine Freunde kennen Dich u[nd] Dein Christentum ... Aber Du mußt mit Deinem Innersten an die Öffentlichkeit. Du hast uns in diesen Handel hineingeführt, Du siehst, wie wir freudig entschlossen sind, an Deiner Seite zu kämpfen." Rade sah die Zeit gekommen, daß Harnack im protestantischen Deutschland eine „Führungsrolle" übernahm. 6 8 Mancher Versuch zur Stärkung der modernen Theologie durch solidarische Bekundungen von Nichttheologen war nicht sonderlich erfolgreich. Heinrich von Treitschke verwahrte sich in einem Schreiben an Harnack vom 13. Februar 1894 gegen seine Hinüberziehung zu den Modernen. Nachdem so lange die Selbständigkeit der Kirche gefordert wurde, sei diese Selbständigkeit nunmehr auch anzuerkennen. Überdies hielt Treitschke manche liberalen Voten im Apostolikumsstreit „für unverzeihlich; sie führen zu einem Ketzerthum der Wissenden. Vor Gott gilt ein dummer Bauer ebenso viel oder mehr als ich." 6 9 67
Martin Rade: Der rechte evangelische Glaube. Ein W o r t zum jüngsten Apostolikumsstreit. Leipzig 1 8 9 2 (Hefte zur Christlichen W e l t 1). Ein weiterer Schritt auf dem Wege der Verbesserung des Zusammenhalts waren einige Jahre später die Mitteilungen „An die Freunde" (An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen [ 1 9 0 3 - 1 9 3 4 ] . Nachdruck mit einer Einleitung von Christoph Schwöbel. Berlin und New York 1 9 9 3 ) .
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Harnack an Rade vom 4. Dezember 1 8 9 2 (Nachlaß Harnack, Kasten 39).
69
Rade an Harnack vom 24. November 1 8 9 2 ; Heinrich von Treitschke an Harnack vom 13. Februar 1 8 9 4 (Ebenda, Kasten 39; Kasten 44).
2. Theologische Richtungskämpfe
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Eine Belastung für Harnacks Stellung an der Fakultät bildete während der Auseinandersetzungen um das Apostolikum 1892 die Entscheidung, durch Berufung eines Ordinarius der positiv kirchlichen Richtung eine „Beruhigung der Gemüther" herbeizuführen, wie es Althoff in einem Schreiben an den Chef des Geheimen Zivilkabinetts Dr. Lucanus ausdrückte. 7 0 Diese „Strafprofessur", wie sie alsbald hieß, sollte zunächst mit dem Hallenser Martin Kähler besetzt werden, der jedoch nach anfänglichem Interesse absagte. „Die Sachlage im Großen angesehen, bin ich hier schwerer zu ersetzen als in Berlin." Berlin brauche eine „jugendliche Kraft". Kähler hoffte, daß Reinhold Seeberg (damals Erlangen) gewonnen werden könnte. 7 1 Tatsächlich erhielt Seeberg den Ruf, erwies sich aber in den Berufungsverhandlungen als ein schwieriger Partner. Er trat erst einige Jahre später, nämlich 1898, in die Theologische Fakultät ein. Daß unter den weiteren Anwärtern — Cremer, Bonwetsch, Schlatter — die Wahl recht bald auf Schlatter fiel, hing nicht zuletzt mit dem energischen Eintreten des Evangelischen Oberkirchenrats für ihn zusammen. „Wir glauben ... hoffen zu dürfen, nach dem, was wir über die Persönlichkeit des Professors Schlatter und seine bisherige Wirksamkeit im akademischen Beruf gehört haben, daß derselbe auch hier im Segen an der Vorbildung der jungen Theologen für das geistliche Amt mitwirken wird." 7 2 1895 gab es in konservativen Gemeindevertretungen Rheinlands und Westfalens Beunruhigung wegen theologischer Ferienkurse der liberalen Theologieprofessoren Meinhold und Gräfe in Bonn. Der Evangelische Oberkirchenrat sah sich genötigt, im März 1895 mit einem schlichtenden Wort einzugreifen. Kurze Zeit später, Anfang Mai 1895, forderte die in Berlin tagende „Landeskirchliche Versammlung", den Bestand und den Betrieb der Theologischen Fakultäten völlig umzuorganisieren. Die Ber-
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A l t h o f f an Lucanus o. D. [November 1 8 9 2 ] (Geheimes Zivilkabinett, aaO. [Anm. 4 1 ] , Rep. 7 6 Va Sekt. 2 Tit. IV [I], Bl. 100).
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Kähler an A l t h o f f vom 23. Dezember 1 8 9 2 (Ebenda, Bl. 22-23 v ). Evangelischer Oberkirchenrat an Kultusminister Dr. Bosse vom 24. Februar 1 8 9 3 (Ebenda, Bl. 180). Die Akte enthält außerdem einen zusammenfassenden Bericht Althoffs für Wilhelm II. sowie für den Kultusminister als Antragsentwurf zur Berufung Schlatters (Bl. 1 8 1 - 1 8 5 ' ) sowie den „Allerhöchsten Erlaß" vom 2 7 . März 1 8 9 3 zur Berufung Schlatters per 1. Oktober 1 8 9 3 . Das Kultusministerium teilte dem Kuratorium der Universität im April 1 8 9 3 mit, Schlatter erhalte den Lehrstuhl mit dem „Lehrauftrage für systematische Theologie, und, soweit ihm dies Bedürfnis ist, auch für die neutestamentlichen Disciplinen" (Archiv der Humboldt-Universität-Universitätskurator Nr. 98).
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II. Horizonte des freien Christentums
liner Theologische Fakultät bewertete diesen Vorgang als gefährlichen Angriff auf das Vertrauen der Studenten. Sie bestritt, sich im Widerspruch zu den „höchsten Aufgaben", die sie zu erfüllen habe, zu befinden. Harnack, damals Dekan, unterzeichnete mit der Mehrheit der Professoren eine entsprechende Resolution. Von dieser Willensbekundung Schloß sich Adolf Schlatter durch ein Sondervotum aus. Er fand, in der Gegenwartstheologie gäbe es in der Tat „zahlreiche Gedankenreihen", welche die „Autorität des göttlichen Wortes" untergrüben. Er erklärte die Klage der „Landeskirchlichen Versammlung" für berechtigt. 73 Einen Ausweg aus der kirchenund theologiepolitisch schwierigen Lage der Theologischen Fakultäten hoffte Harnack während seines Dekanats durch Überlegungen zur Schaffung von „freien Fakultäten" zu finden. Die staatlichen Fakultäten sollten keineswegs abgeschafft, wohl aber durch Fakultäten in kirchlicher Regie von der Last ihrer Monopolstellung befreit und so aus der kirchlichen Kampfzone genommen werden. Harnack vertrat die Ansicht, daß die Kirchen, sofern sie in eigener Teilverantwortung für die akademische Ausbildung des Theologennachwuchses zu sorgen hätten, einen besseren Einblick in die Erfordernisse von Lehre und Forschung im modernen Sinn gewönnen. Die Konflikte um Rechtgläubigkeit und Häresie an den Theologischen Fakultäten drangen sogar in das Preußische Herrenhaus vor. Freiherr von Durant, eifriger Sprecher der Adelsgenossenschaft, forderte 1902 in scharfen Wendungen: „Das Wort sie sollen lassen stahn." Professoren, die anders handelten, gehörten nicht auf Lehrstühle. Nach Ansicht Durants war der Einfluß der modernen Theologie an den Universitäten noch gefährlicher als die Faszination des Kathedersozialismus auf die Pastorenschaft. „... ich sehe es deshalb als eine der dringlichsten Aufgaben und Pflichten der dazu berufenen staatlichen und kirchlichen Organe an, diesen Gefahren mit allen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten." Dem Freiherrn von Durant widersprachen Kultusminister Dr. Studt, der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats Barkhausen und andere Abgeordnete des Herrenhauses. Sie meinten, den verschiedenen theologischen Schulen und Richtungen dürfte „Licht und Luft" an den Universitäten nicht verwehrt werden. Abgeordnete der orthodoxen Rich-
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Theologische Fakultät Berlin an Kultusminister Dr. Bosse vom 2 1 . Mai 1 8 9 5 (Harnack [Dekan], W e i ß [Prodekan], von der Goltz, Pfleiderer, K l e i n e « , Kaftan, Baethgen); Sondervotum Schlatters (Geheimes Zivilkabinett, aaO. [Anm. 4 1 ] , Rep. 7 6 Va Sekt. 1 Tit. III Nr. 7 vol II, Bl. 81-85').
2. Theologische Richtungskämpfe
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tung und die ihnen sekundierende konservative Presse nannten die „freie Forschung" eine bloße Schimäre und einen Tummelplatz für die Irrtümer der Zeit. 7 4 An der Fraktion der Modernen gingen die konservativen Attacken nicht spurlos vorüber. Zu bestimmten Zeiten sah man Bernhard W e i ß sorgenvoll mit der Ausarbeitung von Tabellen über die Besetzungsverhältnisse an den Theologischen Fakultäten Preußens beschäftigt. In ihnen charakterisierte er die Lehrstuhlinhaber nach einem etwas fragwürdigen Schema: rechts, Mittelpartei, links. Harnack versuchte aus den Studentenfrequenzen der Theologischen Fakultäten Machtverhältnisse abzulesen. 1902/03 führte er entsprechende Zahlen auf und stellte mit Genugtuung fest, die konfessionellen Fakultäten Erlangen, Greifswald, Leipzig hätten stark abgenommen. Die Fakultäten der vermittelnden Theologie, Halle und Tübingen, verzeichneten hingegen einen Zuwachs. Die Anziehungskraft der neun preußischen Fakultäten sei konstant. Um den Auseinandersetzungen um die Fakultäten ein Ende zu machen, plante Althoff ein „Statut" für sie. Beauftragt mit der Formulierung eines Entwurfs war Harnack. An Althoff schrieb er in diesem Zusammenhang: „... der preußische Cultusminister (bzw. der Ministerialdirektor) wird sich unsterbliche Verdienste um die evangelische Kirche und die evangelische Theologie erwerben, der endlich dem ungesunden und lähmenden Zustand ein Ende setzt und frei bekennt: die evangelische Theologie soll, ohne Mentalreservationen und Bedingungen, dieselbe Freiheit haben wie die Wissenschaft überhaupt; wir schließen endlich auch für die evangelische Theologie die Periode des Mittelalters ab". Eine Bekenntnisnor-
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Auszug aus den Stenographische Verhandlungen des Herrenhauses vom 7. Mai 1 9 0 2 . Berlin 1 9 0 2 . Elfte Sitzung, S. 2 6 6 - 2 7 1 . Da auch Generalsuperintendent Ernst von Dryander eine mit Dr. Studt und EOK-Präsident Barkhausen übereinstimmende Linie vertrat, zog „Die Herrenhausdebatte über Wissenschaft und Glauben" (so die Formulierung in: Die Post vom 6. April 1 9 0 2 ) weite Kreise. Vgl. ζ. B. Evangelische Kirchen-Zeitung Nr. 2 2 vom 1. Juni 1 9 0 2 („Die Regierung und die Besetzung der theologischen Professuren"); Kölnische VolksZeitung vom 2 2 . Mai 1 9 0 2 („Die inneren Verhältnisse des deutschen Protestantismus"); Kreuz-Zeitung vom 2 1 . Mai 1 9 0 2 („Eine Existenzbedingung der evangelischen Kirche"). Der „Lutherische Verein in der Provinz Sachsen" zeigte sich in einem Schreiben an den Kultusminister „gleich dem Freiherrn von D u r a n t . . . tief betrübt, daß unsere jungen Theologie Studierenden durch Professoren der Theologie an dem reinen und lauteren W o r t unseres Gottes irre gemacht werden" (Geheimes Zivilkabinett, aaO. [Anm. 4 1 ] , Rep. 7 6 V a Sekt. 2 Tit. IV [I. HA], Bl. 136 r ' v ).
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II. Horizonte des freien Christentums
mierung der theologischen Lehre und Forschung „nostri saeculi non est". Gebundene Wissenschaft sei keine Wissenschaft. 75 Berücksichtigt man die spannungsreichen Verhältnisse in Kirche, Politik und Universität, stand Harnack, als er im Wintersemester 1899/ 1900 seine berühmte Vorlesung für Hörer aller Fakultäten über „Das Wesen des Christentums" hielt, unter besonderen Druck. In sechzehn einstündigen Lektionen bot Harnack dem interdisziplinären Auditorium von 600 Zuhörern dar, was er unter dem Evangelium verstand und wie er den Weg des Evangeliums durch die Geschichte beurteilte. Nicht die Polemik gegen unhaltbare dogmatische Positionen stand im Vordergrund der Vorlesung, sondern die Formulierung eines aus historischer Erkenntnis und zeitgenössischem Lebensgefühl geformten christlichen Glaubensbewußtseins. Die Erinnerung an Schleiermachers Reden „Über die Religion" aus dem Jahr 1799 drängte sich auf. Harnack selber hat sie vermieden. Weder in den Vorlesungen noch in sonstigen Äußerungen nahm er auf seinen großen Vorgänger Bezug. In der Tat darf die chronologische Konstellation 1799/1899 nicht überbewertet werden. Schleiermacher war am Ende des 19. Jahrhunderts, ausgenommen als Übersetzer Piatons, eher ein vergessener Theologe. Wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, ist seine Wirkungsgeschichte seit Beginn der 1880er Jahre durch den Erfolg von Ritschis Theologie abrupt unterbrochen worden. 76 Schon einige Zeit vorher, nämlich aus Anlaß der 100. Wiederkehr von Schleiermachers Geburtstag am 21. November 1868, hatte der Magistrat von Berlin sich nicht geneigt gezeigt, Schleiermacher durch ausgiebige Feiern zu würdigen. Auch in ihrem Inhalt waren Harnacks Vorlesungen recht weit von Schleiermachers Reden „Über die Religion" entfernt. Während Schleiermacher außerhalb der biblischen Texte ansetzte, um sich mit seinen Zeitgenossen über die Frage „Was ist Religion?" zu verständigen, stützte sich Harnack von vornherein auf die nach seiner Meinung historisch-kritisch ermittelte Verkündigung Jesu. Daß dieser exegetische Zugang nicht hinreichend klar hervortrat, hing mit Harnacks liberaltheologischer Überformung der vox ipsissima Jesu zusammen. Auch andere Teile der Vorlesung, die den geschichtlichen Weg der Kirchen und Konfessionen vom
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Nachlaß Althoff, aaO. (Anm. 38) A I Nr. 35, Bl. 66-70' (Harnacks Statistik); Harnack an Althoff vom 29. November 1902 (Ebenda, Nr. 105, Bl. 3 r v ). Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten. Berlin-New York 1992, S. 16 (Schleiermacher-Archiv 9).
2. Theologische Richtungskämpfe
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Apostolischen Zeitalter bis zum Durchbruch des Protestantismus schilderten, weckten Fragen. Sie betrafen ζ. B. Harnacks Sicht des Judentums zur Zeit Jesu und die Charakteristik der konfessionellen Blöcke Katholizismus, Ostkirche, Protestantismus. Von Harnacks Vorlesung ist die offiziell autorisierte Nachschrift von stud, theol. Walter Becker bekannt. Sie diente als Druckvorlage für das 1900 erschienene Büchlein „Das Wesen des Christentums". Eine weitere Nachschrift stammt von stud, theol. Friedrich Israel. Möglicherweise ist ihre Nähe zum gesprochenen Wort größer als die Becker-Nachschrift. 77 Troeltsch schrieb an Harnack nach Zusendung des Büchleins: „Es ist die Art der Behandlung, die wir brauchen, u[nd] die gerade der Behandlung der Theologie entspricht, die mir vorschwebt. Mit der Dogmatik ist es - mindestens gegenwärtig — nichts, aber solche Darstellungen packen die Sache am Hauptpunkte u[nd] geben gerade dem inneren Menschen etwas, indem sie zugleich das brennendste wissenschaftliche Bedürfnis befriedigen, zu wissen, was thatsächlich konkret vorliegt. Merkwürdiger Weise hat mich am meisten Ihre Darstellung des Evangeliums gefördert, erfreut u[nd] erbaut. In Bezug auf die historische Entwickelung hätte ich dagegen mannigfache Abweichungen zu verzeichnen". „Das Wesen des Christentums" löste noch umfangreichere, noch dramatischere Diskussionen aus als alle vorherigen Schriften Harnacks. Sie vollzogen sich auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Qualität. Uneingeschränkt enthusiastisch reagierte Gustav Schmoller, der berühmte Nationalökonom. Er bewertete „Das Wesen des Christentums" nach Beendigung der gemeinsamen Lektüre mit seiner Ehefrau als die „Offenbarung" eines Christseins, „wie es allein für den Gebildeten und Gelehrten unserer Tage möglich ist". 7 8 Einigermaßen gleichmütig sah Harnack diesmal den Attacken von konservativen Pfarrern, Kirchenzeitungen und Synoden zu. „Die Christliche Welt" behandelte derartige Stimmen fast schon mit ei-
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Mein Leipziger Kollege Helmar Junghans besaß die Großzügigkeit, mir die IsraelNachschrift zusammen mit weiteren Nachschriften („Einleitung ins NT" — W i n t e r 1 8 9 9 / 1 9 0 0 ; „Dogmengeschichte" - Winter 1 8 9 9 / 1 9 0 0 ) zu schenken. Sie werden als Depositum in den Archivbestand der Theologischen Fakultät Leipzig eingehen. Eine Transkription der Israel-Nachschrift gibt Thomas Hübner: Die Methodenassoziation Adolf von Harnacks in seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte. Diss, theol. Bonn 1 9 9 1 (Druck 1 9 9 3 ) .
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Troeltsch an Harnack vom 10. Juli 1 9 0 0 aus Heidelberg; Schmoller an Harnack vom 1. August 1 9 0 0 (Nachlaß Harnack, Kasten 44; Kasten 4 1 ) .
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II. Horizonte des freien Christentums
ner Art von kirchenkundlicher Neugier. Ernster zu nehmen waren die kritischen Äußerungen aus dem Judentum. Den bedeutendsten Beitrag zur jüdischen Auseinandersetzung legte Leo Baeck vor, Rabbiner und Lehrer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 7 9 Andere wichtige Schriften verfaßten der Rabbiner in Königsberg, Felix Perles, der Breslauer Rabbiner Joseph Eschelbacher und Martin Schreiner, Orientalist und Professor für jüdische Geschichte und Literatur. Charakteristisch für die Auseinandersetzung des liberalen Judentums mit Harnack war eine „Mischung von Nähe und scharfer Antithese". Nach jüdischer Auffassung hätte Harnack, wenn er im Evangelium Jesu so viele Momente jüdisch-rabbinischen Ursprungs wiederfand (den strikten Monotheismus, die „Inwendigkeit" des Gottesreichs, die bessere Gerechtigkeit), sich nicht zu seinen das Judentum herabsetzenden Urteilen hinreißen lassen dürfen. 80 Da das liberale Judentum im Prozeß der innerjüdischen Modernisierung theologisch dicht an den liberalen Protestantismus herangerückt war, bewertete es die von Harnack gezogene Trennlinie als gewaltsam und unverständlich. Harnack blieb im liberalen Judentum in der Folgezeit ein sorgfältig wahrgenommener Gesprächspartner. 81 Einen unerwarteten Triumph erlebte „Das Wesen des Christentums" in Italien. 1903 weilte Harnack als Vizepräsident des Internationalen Historikerkongresses in Rom und knüpfte im Auftrag des preußischen Kultusministeriums Beziehungen zur vatikanischen Geistlichkeit. In einem Brief aus Rom berichtete er: „Die italienische Übersetzung meiner Vorlesungen über das Wesen des Christentums scheint in weitesten Kreisen der Katholiken hier gelesen worden zu sein und sie empfinden sie sämtlich — im Gegensatz zu vielen Protestanten — als eine Verstärkung, nicht als Schwächung der Religion. Ein sehr hoher Prälat sagte mir: 'Sie haben in dem atheistischen Italien eine religiöse Renaissance hervorzurufen begonnen ...'" 8 2
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Uriel Tal: Theologische Debatten um das „Wesen des Christentums". In: Werner E. Mosse (Hg.): Juden im wilhelminischen Deutschland 1 8 9 0 - 1 9 1 4 . Tübingen 1 9 7 6 , S. 5 9 9 - 6 3 2 . Walter Homolka: Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus. Gütersloh 1 9 9 4 , S. 59. Hinweise bei Kurt Nowak: Kulturprotestantismus und Judentum in der W e i marer Republik. Wolfenbüttel 1 9 9 3 , S. 2 3 f. (Kleine Schriften zur Aufklärung 4). Harnack an A l t h o f f vom 3. April 1 9 0 3 aus Rom (Abschrift) (Nachlaß Althoff, aaO. [Anm. 38], A II, Nr. 105).
2. Theologische Richtungskämpfe
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Zu den Auseinandersetzungen, welche Harnacks theologischen und kulturpolitischen Weg säumten, gehörte 1902/03 der sogenannte „Bibel-Babel-Streit". Durch die Orientpolitik des Kaiserreichs und die Orientreise Wilhelms II. von 1898 hatte das öffentliche Interesse an der orientalischen Religionsgeschichte erheblichen Auftrieb erhalten. Der Assyriologe Friedrich Delitzsch hielt in den Jahren 1902 bis 1904 zahlreiche Vorträge, unter anderem auch vor dem Kaiser. Delitzsch meinte, die Religion Israels stelle lediglich eine religiöse Sickerkultur dar, die von der Religion Babylons abhänge. Außerdem bestritt er den übernatürlichen Offenbarungscharakter des Alten Testaments und forderte eine von „fremden menschlichen Zutaten" gereinigte Zukunftsreligion. Wilhelm II. fühlte sich zu einem theologischen Bekenntnisbrief an seinen Freund Admiral Friedrich Hollmann gedrängt. Der Brief zog eine Grenzlinie gegen Delitzsch, erzeugte aber wegen der seltsamen Theorie Wilhelms II. von „zwei Offenbarungsreihen" der Menschheit weitere Irritationen. Harnack sah sich aus Gründen theologischer Wahrhaftigkeit gedrängt, dem Kaiser öffentlich zu widersprechen. Leicht gefallen ist ihm das nicht, denn der Kaiser würdigte den Gelehrten zu dieser Zeit bereits seines besonderen Wohlwollens. Beispielsweise durfte Harnack an den Lesungen teilnehmen, die Wilhelm II. vor der Kaiserin und den Hofdamen abhielt. Mehr noch, der Kaiser zog ihn bei solchen Gelegenheiten auffallend häufig und lange ins Gespräch. ,,S[eine] Maj[estät] haben die Gnade gehabt, gestern abend dreimal u[nd] jedes Mal sehr lange mit mir zu sprechen." 8 3 Auf dem Höhepunkt des „Bibel-Babel-Streits" im Frühjahr 1903 legte der Kaiser Harnack ausführlich seine Ansichten über Religion, Offenbarung und das Volk Israel dar. Harnack hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das Manuskript seiner kritischen Erörterung des Hollmann-Briefs in den „Preußischen Jahrbüchern" zum Druck gegeben. Er kam nicht umhin, dies dem Kaiser mitzuteilen. „Er nahm diese Mitteilung freundlich, aber wie mir schien, nicht ganz ohne Bedenken auf." 8 4 Die konservative Presse benutzte Harnacks Kommentar zum Hollmann-Brief für den Versuch, einen Keil zwischen ihn und den Kaiser zu treiben. Die Schlagzeile im „Reichsboten" lautete „Harnack gegen den Kaiser". Umgekehrt vermutete die sozialdemokratische Presse, Harnack wolle den Kaiser auf die Seite der liberalen Theologie ziehen. Daß Harnack es überhaupt gewagt hatte, Wilhelm II. theologisch zu widersprechen, erschien in bestimm-
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Harnack an Althoff vom 11. April 1901 (Ebenda, Bl. 1-2V). Harnack an Althoff o. D. (Abschrift) (Ebenda, Bl. 7 r ' v ).
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II. Horizonte des freien Christentums
ten Kreisen, zu denen auch einige Professoren an der Theologischen Fakultät gehörten, vom Grundsatz her als unerträglich. Nach Lektüre des Aufsatzes schickte der Kaiser einen „sehr gnädigen B r i e f an Harnack, dabei den eigenen Standpunkt „bestimmt wahrend". Diese Handschreiben behandelte Harnack vertraulich. In der Öffentlichkeit bestand deshalb weiterhin der Eindruck eines Konflikts. 85 Am 11. November 1909 verabschiedete die preußische Generalsynode einstimmig ein „Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen", welches am 16. März 1910 die Billigung des Königs erhielt. Das Gesetz regelte die Tätigkeit eines kirchlichen Spruchkollegiums. Ihm oblag die Prüfung, ob ein Geistlicher der preußischen Landeskirche mit dem Bekenntnis der Kirche im Widerspruch stand oder nicht. Die Veranlassung zur Einrichtung des Spruchkollegiums lag in den neuen und oft genug problematischen Frömmigkeitsformen der Gegenwart. Die christliche Verkündigung schien gefährdet. 1910 flakkerte auch der Streit um den liturgischen Gebrauch des Apostolikums wieder auf. Aus Dortmund erhielt Harnack einen Brief von Gottfried Traub, Pfarrer an St. Reinoldi und Redakteur der „Christlichen Freiheit", mit der Bitte, in der Kölner Gemeindeversammlung der Freunde evangelischer Freiheit den Hauptvortrag „in Sachen Apostolikum" zu halten: es sei „blutnötig, die gleiche Sache wieder mit allem Ernst in die Hand zu nehmen." 8 6 Im Vergleich mit den Reglementierungen der preußischen Geistlichkeit und Lehrerschaft am Ende des Aufklärungsjahrhunderts
85
Harnack an A l t h o f f vom 3. März 1 9 0 3 (Ebenda, Bl. 5-6 v ). Zum „Bibel-BabelStreit" insgesamt Klaus Johanning: Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie. Frankfurt am Main/ New York/ Paris 1 9 8 8 (Europäische Hochschulschriften XXIII/343). Diese Marburger Dissertation von 1 9 8 6 ordnet den Streit in den Aufstieg der vorderorientalischen Archäologie vom Anfang des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Seit 1 8 8 9 erfolgte durch britische, französische, amerikanische und deutsche Expeditionen die Entdekkung und Ausgrabung großer Städte, Palast- und Tempelbauten in Assur, Ur, Nippur, Susa, Babylon, Ninive, dazu die Sichtung zahlreicher Keilschriftbibliotheken. „'Bibel und Babel' löste eine Bewegung aus, die die Theologie, wollte sie das Alte Testament nicht preisgeben, zu einer Integration der religionsgeschichtlichen Frage in die alttestamentliche Bibelwissenschaft zwang" (S. 19).
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Traub an Harnack vom 23. November 1 9 1 0 aus Dortmund (Nachlaß Harnack, Kasten 44). Die jüngste Darstellung der Vorgänge um das „Irrlehregesetz" schrieb Eckhard Lessing: Das Lehrbeanstandungsgesetz von 1 9 1 0 (sog. Irrlehregesetz). In: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Band 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem Königlichen Summepiskopat ( 1 8 5 0 - 1 9 1 8 ) . Leipzig 1 9 9 4 , S. 4 0 1 - 4 0 8 .
2. Theologische Richtungskämpfe
41
durch das Wollnersche Religionsedikt von 1788 schien das „Irrlehregesetz" von 1910 ein mildes Instrument zu sein. Im Vorfeld der höchst erregten Debatten über das Spruchkollegium gewannen manche Zeitgenossen den Eindruck, Lehr- und Bekenntnisdifferenzen würden nicht mehr in disziplinarrechtlichen Kategorien bewertet, sondern theologisch behandelt. Harnack glaubte, einem durch Entscheid des Spruchkollegiums aus dem Verkündigungsdienst entlassenen Geistlichen stünden Titel und Pension weiterhin ungeschmälert zu. Von dieser Annahme ausgehend begrüßte er die Errichtung des Spruchkollegiums als Ausdruck geistlicher Leitungsbefugnis der Kirche. Er hoffte, an diesem Punkte gäbe es über alle kirchlich-theologischen Fronten hinweg Übereinstimmung. Von den Universitätstheologen gehörten Loofs und Haußleiter dem Spruchkollegium an. Als Stellvertreter fungierten Harnack und Seeberg. In den Augen konsequenter Vertreter des freien Protestantismus stand Harnack plötzlich als ein M a n n der Kirche da, der einer „neuen Inquisition" zuarbeitete. Offenbleiben muß, ob Harnacks „Ja" zum Spruchkollegium und seine Zustimmung zum Lehrbeanstandungsverfahren von 1911 gegen Pfarrer Karl Jatho in Köln auf unzutreffenden Voraussetzungen basierte, ob sie der Ausdruck eines neuen kirchlichen „Realitätssinns" war oder bloß den Versuch darstellte, vor König und Kirche nicht neuerlich als Störenfried dazustehen. Jatho war über Harnack schwer enttäuscht. Sein „Offener Brief' an Harnack und Harnacks Erwiderung führten in der sozialdemokratischen Presse zu einer moralischen Demontage Harnacks. 8 7 Harnack hielt sein „Ja" zum Spruchkollegium nicht ungebrochen aufrecht. Denn das „Irrlehregesetz" sah denn doch anders aus als erhofft. Außerdem wirkte es auf die protestantische Öffentlichkeit krasser als erwartet. Gänzlich eindeutig war Harnacks Verhalten im Für und Wider um das Spruchkollegium und den „Fall Jatho" nicht. Theologie, Kirchenpolitik und höfische Rücksicht flössen ineinander. In einem weiteren Verfahren, diesmal gegen Pfarrer Traub, plädierte Harnack für eine Öffnung der Kirche. Man müsse sagen können, daß „diese und diese bestimmten Lehren und Behauptungen in den Bekenntnissen .... unrichtig" seien. Diese Option bedeutete eine Rückbesinnung auf die von Harnack favorisierte theologische Perspektive des freien Diskurses. Es war nicht statthaft und im Ver-
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Aktenstücke zum Fall Jatho I-VII. Köln o. J. [ 1 9 1 1 ] ; Martin Rade (Hg.): Jatho und Harnack. Ihr Briefwechsel. Tübingen 1 9 1 1 ; Gustav von Rhoden: Der Kölner Kirchenstreit. Pfarrer Jathos Amtsentsetzung im Lichte der öffentlichen Meinung. Berlin 1 9 1 1 ; Adolf [von] Harnack: Die Dienstentlassung des Pfarrers Lie. G. Traub. Leipzig 1 9 1 2 .
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II. Horizonte des freien Christentums
trauen auf die Kraft des christlichen Glaubens auch gar nicht nötig, die Religions- und Weltanschauungskämpfe zu reglementieren. Gefordert war der positive Weg: das Glaubens- und Lebenszeugnis des Christentums in moderner Gestalt. Verhindern konnte HarnackTraubs Entlassung nicht. Traub dankte Harnack, „daß auch Sie dieses Urteil des Oberkirchenrats offenbar als Ungerechtigkeit empfinden". Der Initiative des liberalen Berliner Pfarrers Dietrich Graue vom Frühjahr 1914, beim König die Reaktivierung Traubs zu erwirken, Schloß sich Harnack nicht an. 8 8
3.
Bürgerfrömmigkeit
Harnack hegte die Überzeugung, daß es dem postdogmatischen Zeitalter des Christentums beschieden sei, in die Einfachheit der Jesusverkündigung zurückzukehren. Der Anfang sei durch Luther gemacht. Die allseitige Ausführung der reformatorischen Tat Luthers sei den Späteren vorbehalten geblieben. Erst auf dem Boden der modernen Individualkultur war es nach Harnacks Meinung möglich, die durch Luther erreichte neue Stufe in der Geschichte des Christentums in die Breite der Lebenswelt zu überführen. Der Ethik kam dabei hervorgehobene Bedeutung zu. Auch die Zurückdrängung des regnum externum der Kirche sollte noch intensiver geschehen als bei Luther. Die Bekenntnisbindungen der Kirche besaßen in dieser Perspektive nur noch eine historische Würde. Sie stellten das geschichtliche Museum dar, welches der mündige Christ durchschritt, um dann um so froher seinem dogmenfreien Glauben anzuhängen. Unter diesen Voraussetzungen kam der Frömmigkeitspflege gesteigerte Bedeutung zu. Die Frömmigkeit rückte zum Ort der Vergewisserung des Glaubens auf: als Ersatz für andere, nur noch historisch wertvolle Instanzen. Harnacks intensive Frömmigkeitspflege stand in einem inneren Verhältnis zu seiner Absage an das Dogma. Um einer frei vagabundierenden Frömmigkeit vorzubeugen, die nur noch mit zweifelhaftem Recht den Titel der christlichen Frömmigkeit für sich in Anspruch nahm, legte Harnack Wert auf die Belebung und Aktualisierung von christlichen Frömmigkeitstraditionen. In vorderster Reihe stand dabei für ihn
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Traub an Harnack vom 12. September 1 9 1 2 (Nachlaß Harnack, Kasten 44). Gesuch des Pfarrers und Mitglieds des Preußischen Abgeordnetenhauses Dietrich Graue an Wilhelm II. zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Traub sowie Schreiben Graues an Harnack vom 30. März 1 9 1 4 (Nachlaß Harnack, Kasten 25).
3. Bürgerfrömmigkeit
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ein lateinischer Kirchenvater, Augustinus. „Zwischen Paulus, dem Apostel, und Luther, dem Reformator, hat die christliche Kirche niemanden besessen, der sich mit Augustin messen könnte, und an umfassender Wirkung kommt ihm keiner gleich." 89 In den Schriften des Bischofs von Hippo fand Harnack vieles, von dem er meinte, es sei das genuin ChristlichFromme. In den „Confessiones" erblickte Harnack eine lebendige Demonstration dafür, wie der Mensch von der „Knechtschaft der Welt zur Freiheit in Gott und zur Herrschaft über sich selbst" gelangte. 90 Bei Augustinus fand Harnack in unübertroffener Klarheit ausgedrückt, daß in der Welt der Irrung und des Scheins allein die Liebe Gottes die bindende, befreiende und beseligende Kraft sei und „die Freiheit die selige N o t wendigkeit des Guten ist". Daß Augustinus wie kein anderer lateinischer Kirchenlehrer des 4./5- Jahrhunderts die Autorität der Kirche eingeschärft hatte, fiel bei Harnack unter die Widerspruchsdialektik von persönlicher Religion und kirchlichem Autoritätsglauben. Weitere Anhaltspunkte der Frömmigkeit stellten sich durch Rückgriff auf die Psalmen, auf das protestantische Kirchenlied und das Werk Goethes her. Goethe — in den Augen der Konservativen und Erweckungschristen ein Heide, der schon zu seinen Lebzeiten in Hengstenbergs „Evangelischer Kirchen-Zeitung" scharfen Angriffen ausgesetzt war 91 - war für Harnack ein frommer Mann. Harnack schätzte ihn als Gott- und Wahrheitssucher, der seine Erlösung in der himmlischen Liebe gefunden hatte. Verse des „Faust" (Zweiter Teil, V. Akt) rückten in Harnacks Augen eng mit der Frömmigkeit von Augustinus zusammen 9 2 : „Steigt hinan zu höherm Kreise Wachset immer unvermerkt, Wie, nach ewig reiner Weise, Gottes Gegenwart verstärkt. Denn das ist der Geister Nahrung, die im freisten Äther waltet: Ewigen Liebens Offenbarung Die zur Seligkeit entfaltet. "
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Adolf [von] Harnack: Augustins Konfessionen. Ein Vortrag. 3. Aufl. Gießen 1903, S. 5. Ebenda, S. 15. Evangelische Kirchen-Zeitung. Herausgegeben von Dr. E. W . Hengstenberg, a. o. Professor der Theologie an der Universität Berlin. Nr. 12 vom 8. August 1827, S. 81-83 und passim. Harnack: Augustins Konfessionen, aaO. (Anm. 89), S. 17.
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II. Horizonte des freien Christentums
Der bürgerliche Goethe-Kult besaß in Harnack einen eigenwilligen Anwalt. In Goethes Schriften war Harnack ebenso heimisch wie in den patristischen Texten. Bei der Neubesetzung des Lehrstuhls für neuere deutsche Literaturgeschichte in Berlin verfaßte Harnack 1917 ein amtliches Gutachten über die Goethe-Biographie Friedrich Gundolfs. 9 3 Luther nahm in der Harnackschen Frömmigkeitswelt einen untergeordneten Platz ein. Sosehr Harnack den Reformator wegen seiner Rückkehr zum Zeugnis des Neuen Testaments und seines historischen Ranges als „Vater der Neuzeit" zu würdigen vermochte: was die Herztöne der Frömmigkeit anlangte, suchte Harnack seine Gesprächspartner anderswo. Gleichwohl schätzte er Luther bei der Formung seines Bildes vom frommen Christen nicht gering. Pointiert gesprochen verwalteten Augustinus und Paul Gerhardt die innere Seite der Frömmigkeit, Luther die äußere. Mit der äußeren Seite sind die ethischen Konsequenzen der auf der Zwiesprache mit Gott fußenden Frömmigkeit gemeint: das ruhige, selbstgewisse Stehen in der Welt, die Niederlegung der Schranke zwischen profaner und sakraler Wirklichkeit, die Heiligung des Alltags. Als „freien Christenmenschen" hat Harnack Luther gar nicht genug feiern können. Die ethische Bewährung gehörte zur Frömmigkeitspraxis des durch Luthers Schule gegangenen Christen. Durch die Reformation war die Welt in ihre Weltlichkeit entlassen, blieb aber ihrem Grund und Halt in Gott vermittelt. 9 4 Die Einflechtung des frommen Christen in die Lebenswelt — in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur — war von Luther her die folgerichtige und in dieser Folgerichtigkeit notwendige Antwort auf die Anerkennung der Welt bis in den letzten Winkel als Welt Gottes. Der oft abschätzig auf den Kulturprotestantismus gemünzte Begriff Weltfrömmigkeit besaß für Harnack einen positiven Sinn. Rechenschaft über die Tätigkeit des Christen in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur im Blick auf die Mitte seines Glaubens gab Harnack in seinen kulturpolitischen Schriften. In ihnen sammelten sich die Strahlenbündel des Weltlichen und des Religiösen. Gelegentlich trat die religiöse Besinnung in den Hintergrund. Die Erklärung dafür liegt im neuprotestantischen Ethos des sachangemessenen Umgangs mit der Wirklichkeit. Wer über Sozialpolitik oder Wissenschaftspolitik sprach oder in diesen Bereichen Verantwortung übernahm, konnte dies nur als Fachmann tun.
93 94
Adolf von Harnack: Friedrich Gundolfs „Goethe", herausgegeben von F. W. Graf. In: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 1 (1994), S. 167-178. Nowak: Bürgerliche Bildungsreligion?, aaO. (Anm. 57), S. 344-349.
3. Bürgerfrömmigkeit
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Die Verpflichtung zur Sachkompetenz drängte sich aus der Komplexität der Wirklichkeit und aus dem Frömmigkeitsethos einer verständigen christlichen Sachwalterschaft in Gottes Welt auf. Harnacks Tätigkeit als Wissenschaftsorganisator, Sozial- und Bildungsreformer und als Gelehrtenpolitiker war in der Verschmelzung von Frömmigkeit und Ethik begründet, auch wenn es nicht möglich scheint, hier von einem unausweichlichen Zusammenhang zu sprechen. Andere Kulturprotestanten bewegten sich kaum außerhalb des theologischen Hörsaals und der Kirche. „Ritsehl ζ. B. wurde nicht Wissenschaftsorganisator. Er war ganz und ausschließlich Professor." 95 Offenbar mußten begünstigende Faktoren hinzutreten, um eine Existenz wie diejenige Harnacks hervorzubringen. Trotzdem bleibt Harnacks Ethos der Verschmelzung von Christentum, Kultur und Gesellschaft ein individuelles Sondergut seines Lebens. Uber die kulturbildende und tragende Kraft des Christentums hat sich Harnack vielfach geäußert. Dabei warnte er von einem doppelten Irrweg: vor dem Abgleiten eines bloß kirchlichen Christentums in den engen Zirkel der Sekte, und vor dem Abgleiten einer im Pragmatismus verfangenen Kultur in den Atheismus. Nur im Mit- und Ineinander kamen Christentum und Kultur zu ihrer Bestimmung. Harnack verstand sie als Prozeß der Vergeistigung der Natur und als Ruf zur Freiheit des Menschen in und vor Gott. Ein Dauerproblem der kulturprotestantischen Frömmigkeit war der Mangel an Aufmerksamkeit für die gemeinschaftsbildende Kraft der Religion. Harnack tendierte zu einer institutionsfreien Religiosität, wollte aber den religiösen Gemeinschaftsfaktor Kirche nicht preisgeben. Ein anderes Problem des dogmenfreien Christentums bestand in der Bestimmung seines Verhältnisses zu einer synkretistischen Weltreligion der Moderne. Eine Plattform jener Religiosität war der 1900 in Boston gegründete „International Council of Unitarian and other Liberal Religious Thinkers and Workers". Charles W . Eliot, Präsident der Harvard-Universität, spielte in ihm eine wichtige Rolle, doch auch Walter Rauschenbusch, Anwalt des Social Gospel, zählte zu seinen Mentoren. 1908 ließ sich Harnack —widerstrebend — in den „International Council" kooptieren. Vollends in Verlegenheit gestürzt sah er sich, als der „Council" seinen „fünften Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt" 1910 in Berlin organisierte. Die linksliberalen Protestanten des „Pro-
95
Jürgen Hönscheid: Adolf von Harnack ( 1 8 5 1 - 1 9 3 0 ) als Wissenschaftsorganisator und Bibliothekar im Rahmen seiner fachlichen Tätigkeit: Edition seiner Briefe. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 1 7 ( 1 9 9 3 ) , Nr. 2, S. 2 2 5 - 2 2 8 ; hier S. 2 2 5 , A n m . 3.
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ΠΙ. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
testantenvereins" und Teile der „Freunde der Christlichen Welt" nahmen die Gelegenheit zu internationaler religiöser Kommunikation und nationaler Selbstdarstellung gern wahr. Harnack hingegen fragte im Vorfeld der Vorbereitungen, ob überhaupt ein solcher Kongreß abgehalten werden solle. Für Harnack blieb das dogmenfreie Christentum mit deutschen Bildungsidealen verknüpft, die kaum etwas mit dem amerikanischen Unitarismus, dem Social Gospel und einer alle Religionen umschließenden Humanitätsreligion der Zukunft zu tun hatten. Im Vergleich mit den Zielen des „International Council" war Harnacks Christentum konservativ.
III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft 1. Wissenschaft als Großbetrieb In den Jahren seiner Berliner Wirksamkeit stieg Harnack zu einem der einflußreichsten Wissenschaftsorganisatoren und Gelehrtenpolitiker des Deutschen Reiches auf. Unter den Theologieprofessoren seiner Generation dürfte sich kein zweiter finden, der eine ähnliche Karriere machte. Auch im Vergleich mit Gelehrten aus anderen Disziplinen war Harnacks wissenschafts- und kulturpolitischer Rang außergewöhnlich hoch. Die individuelle Voraussetzung für Harnacks Aufstieg in eine Schlüsselposition preußisch-deutscher Wissenschaftspolitik bestand in der „Vielfalt der Anlage und Arbeitskraft" und in seinem kulturprotestantischen Ethos. Friedrich Schmitt-Ott meinte scherzhaft, „daß die großen Aufgaben durch die Welt gehen und suchen, welchen sie verschlingen." 96 Strukturelle Faktoren kamen hinzu. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die preußische Wissenschaftslandschaft im vollen Umbruch. Die älteren Formen der Wissenschaftspflege wurden durch planvolle Wissenschaftspolitik abgelöst. Mit Friedrich Althoff verfügte die preußische Monarchie über einen Wissenschaftsadministrator und Kulturpolitiker, dessen strategische Leistungen denen Wilhelm von Humboldts kaum nachstanden. Althoff besaß seit Beginn seiner Tätigkeit im preußischen Kultusministerium im Jahr 1882 einen scharfen Blick für die Strukturdefizite
96
Friedrich Schmidt-Ott an Harnack zu Weihnachten 1920 (Nachlaß Harnack, Kasten 44).
1. Wissenschaft als Großbetrieb
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des Wissenschaftsbetriebs in Preußen, beispielsweise für die zunehmenden Schwierigkeiten in Lehre und Forschung. In der Lehre klafften allgemeine Bildung und berufsqualifizierende Fachausbildung auseinander. In der Forschung gab es Disproportionen zwischen Universitätsinstituten verschiedenen Typs, zudem die Konkurrenz zwischen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Bedürfnisse der Industriegesellschaft erforderten Ausweitung und Verstärkung der Grundlagen- und Anwendungsforschung. Blickte man auf die Fortschritte der Wissenschaftsorganisation in Großbritannien, Frankreich, den USA war ein strategisches Gesamtkonzept notwendig. Es legte die Errichtung von Hochschulen neuen Typs, ζ. B. von Technischen Hochschulen und Medizinischen Akademien, ebenso nahe wie die Förderung spezieller Forschungsinstitute, die Angleichung der Regeln des Universitätszugangs, die Verstärkung der Kooperation zwischen den Unterrichtsverwaltungen der Länder, den akademischen Körperschaften und anderes mehr. Althoff bekleidete seit 1897 als Ministerialdirektor das Amt des Leiters der Ersten Unterrichtsabteilung im preußischen Kultusministerium. Tatsächlich war er mehr, der „heimliche Kultusminister" Preußens. 97 In Harnack fand Althoff einen besonders effizienten Partner, wiewohl er es verstand, in sein „System" auch sonst zahlreiche Gelehrte von Rang zu integrieren. Harnacks Beitrag zur Gestaltung der Wissenschaftslandschaft im größten Flächenstaat des Deutschen Reiches verband sich zum Teil mit seiner speziellen Kompetenz als Kirchenhistoriker, führte aber auch weit über Historiographie, Theologie und Kirche hinaus. Institutionell waren es drei Plattformen, auf denen er sich als Wissenschaftsorganisator bewegte: die „Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften", die „Königliche Bibliothek" (nachmals Staatsbibliothek) und die „KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften". Hinzu kamen zahlreiche Mitgliedschaften in wissenschaftsfördernden Gremien und viele Ehrenämter. Die Institution, welche Harnack zwischen 1890 und 1900 nach vorn trug, war die Akademie. Sie brachte dem Kirchenhistoriker von Anbeginn hohe Wertschätzung entgegen. Das kam in der Begrüßungsrede Mommsens zum Ausdruck und war schon vorher im Aufnahmeantrag vom 22.
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Bernhard vom Brocke: Friedrich Althoff ( 1 9 3 9 - 1 9 0 8 ) . Forschungsstand und Quellenlage. Bemühungen um eine Biographie: In: Ders.: (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System AlthofF' in historischer Perspektive, aaO. (Anm. 37), S. 2 0 (Zitat aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 28. September 1 9 0 7 ) .
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
November 1889 sichtbar. Harnack habe sich bei der „Förderung seiner Wissenschaft ganz hervorragende Verdienste erworben, u.[nd] gilt jetzt (von Hase und Döllinger abgesehen) als der bedeutendste Kenner der alten Kirchengeschichte", hieß es dort. 9 8 Harnacks Aufnahme in die Akademie war, und auch dies geht aus dem Votum der Antragsteller hervor, mit dem Plan einer „umfassenden Publication der griechischen Kirchenväter" verbunden. Nachdem die Schwesterakademie in Wien mit der Edition des „Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum" 1866 ff. vorausgegangen war, betrachtete es die Preußische Akademie als ihre „Ehrenpflicht", nunmehr die Edition der griechischen Kirchenschriftsteller in Angriff zu nehmen. Entsprechende Aktivitäten ließen nicht lange auf sich warten. Harnack nahm dabei von Anbeginn die Führungsposition ein: konzeptionell, organisatorisch, personal- und publikationspolitisch. Das Unternehmen stellte unmittelbar nach seiner Ernennung zum Akademiemitglied eine Bewährungsprobe dar. Wäre Harnack hier gescheitert oder hätte nur Mittelmäßiges zuwege gebracht, wären ihm kaum immer weitere Türen aufgestoßen worden. In der Planungsphase trug die Edition die Arbeitsbezeichnung „Corpus Patrum Graecorum Antenicaenorum". Es ging um „alle litterarischen Denkmäler des ältesten Christenthums von seiner Entstehung bis zur Gründung der Reichskirche (abgesehen von dem Neuen Testamente und den lateinischen Quellenschriften)." 99 Der preußische Kultusminister Dr. von Gossler stand dem Editionsunternehmen mit großem Interesse gegenüber und bewilligte zur Verstärkung der laufenden Fonds der Akademie die Summe von 3 000 Mark. Außerdem gewährte er „einem jungen Kirchenhistoriker, welchem die Herstellung der Prolegomena zur altchristlichen Literaturgeschichte zu übertragen ist, auf zwei Jahre ein Stipendium von jährlich 1 800 Mark." 1 0 0 Damit entsprach der Minister den durch Harnack formulierten Wünschen der Akademie. Die „Prolegomena" sollten der Gewinnung einer genauen Ubersicht über das Material dienen: über die Drucke, die Handschriften, die Uberlieferungsgeschichte. Aus den „Prolegomena" als Voraussetzung der künftigen kritischen Edi-
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Aufnahmeantrag vom 2 2 . November 1 8 8 9 . Unterzeichner waren Dillmann, Mommsen, Sybel, Diels, Zeller, Tobler, Kirchhoff, Wattenbach, Schmoller (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften II-III, 2 9 [Personalia O M 1 8 8 8 - 1 8 8 9 ] ) .
Briefentwurf Harnacks für die Akademie an den Kultusminister vom 17. Januar 1 8 9 1 . Akademie-Archiv, aaO. (Anm. 98), II-VIII, 1 6 7 , Bl. l r v . 1 0 0 Kultusministerium an Akademie vom 10. Februar 1 8 9 1 (Ebenda, Bl. 2r"v).
1. Wissenschaft als Großbetrieb
49
tion erwuchs unter Mithilfe des jungen Lizentiaten Erwin Preuschen Harnacks W e r k „Die Uberlieferung und der Bestand der altchristlichen Litteratur bis Eusebius". Der erste Teil lag 1893 vor. Diese altchristliche Literaturgeschichte bildete die Grundlage für die konkrete Arbeitsplanung der „Kirchenväter-Kommission". Sie bestand anfangs aus Harnack, Diels, Dillmann, Mommsen. Gedacht war an etwa 45 Bände zu jeweils 35-40 Bogen und an eine Laufzeit von „mindestens 15 Jahre(n)". 1 0 1 Zur Enttäuschung der Akademie stellte sich das Ministerium 1893 auf den Standpunkt, die Gelehrtengesellschaft müsse im Jahr 1894/95 die Editionsarbeit aus eigenen Mitteln finanzieren. Trotz dieser prekären Situation beschloß die „Kirchenväter-Kommission", die Arbeit fortzusetzen, um dadurch ein „fait accompli" zu schaffen. 1895/96 und 1896/97 kamen aus dem Ministerium lediglich „außerordentliche Beihilfen" von jeweils 3 000 M a r k und ein Privatdozentenstipendium für den seit 1. April 1894 im Editionsprogramm beschäftigten Lie. Karl Holl. Harnack mußte vor der Akademie das ernüchternde Resümee ziehen: „Die Finanzlage des Unternehmens ist noch nicht gesichert." 1 0 2 Auf sicherem Boden befand sich die Edition erst, als die Heckmann-Wentzel-Stiftung 1897 in die Finanzierung eintrat. D e n 25. März 1897, den Tag des Kontrakts mit der Stiftung, sah Harnack als den eigentlichen Gründungstag der „KirchenväterKommission" an. Erst von diesem Zeitpunkt an war sie „in volle Activität" 103 gesetzt. Überblickt man die Gründungsjahre der „Kirchenväter-Kommission" von 1891 bis 1897, so hatte Harnack seine Feuerprobe mit Bravour bestanden. Er hatte eine hochrangig besetzte Kommission um sich, der er bei passender Gelegenheit weitere kompetente Kräfte zuführte (Wilamowitz, Oscar von Gebhardt, Friedrich Loofs u. a.), er besaß eine glückliche H a n d bei der Auswahl wissenschaftlicher Hilfskräfte, er hatte mit der Buchveröffentlichung die ursprünglichen „Prolegomena" weit hinter sich gelassen. Außerdem konnte er sich bei der Herausgabe der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" auf die Mitarbeit erstklassiger Spezialisten stützen. 1897 war das Jahr, in dem die ersten Bände erschienen. In der Genugtuung, ein editorisches Großunternehmen ins Leben gerufen
101 Briefentwurf Harnacks für die Akademie an den Kultusminister vom 19. N o vember 1893 (Ebenda, Bl. 7-9')· 102 Akademieberichte aus den Kommissionen (Druck). (Ebenda, Bl. 30). 103 So Harnacks Protokollbüchlein zur „Kirchenväter-Kommission" (Ebenda, Kirchenväter-Kommission Nr. 1).
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
zu haben, war stets ein politischer Nebenton hörbar. Die politische und wissenschaftliche Großmacht Preußen hatte der k. u. k. Monarchie und deren Akademie gezeigt, daß der mit der Edition der lateinischen Kirchenschriftsteller errungene Vorsprung in dem Maße zusammenschmolz, in dem die Bände der „Griechischen Christlichen Schriftsteller" auf den Markt kamen. Als die Akademie in die Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag ihrer Gründung eintrat, zählte Harnack zum engeren Vorbereitungskreis. In der aus den Sekretaren und zwei Mitgliedern jeder Klasse gebildeten „Jubiläums-Kommission" waren es für die Philosophisch-Historische Klasse Schmoller und Harnack, die am 5. März 1896 einstimmig in dieses Gremium gewählt wurden. Auf ihrer Sitzung vom 16. April 1896 ersuchte die „Jubiläums-Kommission" ihr Mitglied Harnack, „den Auftrag zur Abfassung einer Geschichte der Akademie zu übernehmen. Die Akademie trat diesem Beschluß bei, und Hr. Harnack erklärte vorläufig seine Bereitwilligkeit." 1 0 4 Die dürren Worte des Protokolls, aus dem hier zitiert wurde, verraten wenig von der immensen Aufgabe, die Harnack zu übernehmen gebeten war, dies zu einem Zeitpunkt, als die Etablierung der Kirchenväter-Ausgabe noch seine Kräfte beanspruchte. Als „Jubelfeiertage" waren der 19. und 20. März 1900 festgelegt. Bis dahin mußte die Akademiegeschichte geschrieben sein. Am 21. Juni 1896 legte Harnack dem Plenum der Akademie ein „Promemoria" vor, in dem er dartat, wie er die Geschichte der Akademie gestalten wollte: „1) ist eine Geschichte der Institution als solcher zu schreiben, d. h. es ist die Entstehung und Entwicklung der Akademie als Gesellschaft, die Veränderung ihrer Ordnung und Einrichtungen, usw. darzulegen; 2) ist die Geschichte ihrer Arbeit im Zusammenhang mit der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte zu schildern, und zwar liegt hier eine doppelte Aufgabe vor: es muß eine vollständige Ubersicht darüber gegeben werden, was die Akademie selbst gearbeitet oder angeregt und unterstützt hat, und es muß diese ihre Arbeit in die allgemeine Geschichte der Wissenschaft eingegliedert werden; 3) endlich darf in Bezug auf hervorragende Mitglieder der Akademie die biographische Schilderung in knappen Zügen nicht fehlen." 1 0 5
1 0 4 Sitzung des Sekretariats der Akademie vom 13. Februar 1 8 9 6 ; Sitzung der Phil.Historischen Klasse vom 5. März 1 8 9 6 ; Sitzung der Gesamtakademie vom 16. April 1 8 9 6 (Ebenda, II-XIII, 1 [Zweihundertjahresfeier], Bl. 1-5')· 1 0 5 Promemoria, betreffend eine Geschichte der K[öniglichen] Akademie der W i s senschaften zum 200jährigen Jubiläum vom 2 1 . Juni 1 8 9 6 (Ebenda, Bl. 6-7 v ).
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Harnack erhoffte sich die Zusammenarbeit mit Akademiemitgliedern verschiedener Disziplinen. Sein Vorschlag lautete, die Geschichte einzelner Disziplinen von kompetenten Fachvertretern erarbeiten und dann in die Gesamtdarstellung einfließen zu lassen. Wissenschaft war auch auf diesem Gebiet als Großbetrieb zu organisieren. Dieser Konzeption schloß sich die Jubiläums-Kommission nicht an. Sie meinte, daß „die Geschichte von einem Verfasser zusammenhängend zu schreiben ist." 1 0 6 Unterstützung erhielt Harnack deshalb nur durch kleinere Zuarbeiten. Die angestrebte Verbindung von Verfassungs-, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte gelang unter solchen Voraussetzungen nur unzureichend. Soweit Harnack für die ältere Zeit auf Vorarbeiten zurückgreifen konnte, beispielsweise auf die Darstellung von Bartholmess: Histoire philosophique de l'Acad^mie de Prusse (2 Bände, 1850/51), hielten sich die Probleme in Grenzen. Je mehr sich die Darstellung der Gegenwart näherte, desto größer war die Schwierigkeit, zu einer Synthese zu gelangen. Vor der jüngsten Akademiegeschichte mußte Harnack kapitulieren. Er beschränkte sich auf die Wiedergabe von Biographien und Projekten. Neben den naturwissenschaftlich und sprachwissenschaftlich-literarisch ausgerichteten Akademien in Paris und London war Berlin die älteste interdisziplinäre Akademie in der gelehrten Welt. Der Anspruch, dieser Struktur auch historiographisch durch Teamarbeit an der Akademiegeschichte gerecht zu werden, blieb uneingelöst. Wenn man so will, war das ein Rückfall hinter die Gründungsphilosophie der Akademie und hinter das Credo der neuen Organisationsformen wissenschaftlicher Arbeit. Harnacks historiographische Meisterschaft in Verbindung mit einem umfangreichen Durchgang durch die Quellen im Akademiearchiv, im Geheimen Staatsarchiv und in der Königlichen Bibliothek zu Hannover (Leibniz-Korrespondenz) verdeckte die Schwächen der Jubiläumsarbeit. Am 14. Mai 1899 lag die Akademiegeschichte im Manuskript abgeschlossen vor, also ein knappes Jahr vor Eröffnung der Feierlichkeiten. Im Herbst des gleichen Jahres war der Druck des Werkes, das aus dem Darstellungsband (zwei Teile), dem Urkunden- und Aktenband und dem Gesamtregister der Akademieschriften bestand, vollendet. 107 Wilhelm II. verlieh
1 0 6 Protokoll der Jubiläums-Kommission vom 2 3 . Juli 1 8 9 6 (Ebenda, Bl. 8 r v ). 107 Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Adolf [von] Harnack. Erster Band. Erste Hälfte. Berlin 1 9 0 0 ; Erster Band. Zweite Hälfte. Berlin 1 9 0 0 ; Zweiter Band: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1 9 0 0 ; Dritter Band: Gesammtregister
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dem Geschichtsschreiber der Akademie den Roten Adlerorden 3. Klasse. 108 Bei der Eröffnung der Jubiläumsfeierlichkeiten am 19. März 1900 im Weißen Saal des Königlichen Schlosses erlebte Harnack die Genugtuung, sein Werk als „die erste grundlegende und zusammenfassende, durch Inhalt und Sprache gleich ausgezeichnete" Darstellung gewürdigt zu sehen. Am darauffolgenden Tag trug er im Festvortrag der Akademie eine Kurzfassung der Akademiegeschichte vor. 1 0 9 Im gleichen Jahr 1900 wurde Harnack mit überwältigender Mehrheit zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität gewählt. Im ersten Wahlgang erhielt er 51, im zweiten Wahlgang 56 von 59 möglichen Stimmen. Seiner Frau berichtete der Neugewählte stolz: „das ist selten so gewesen!" 110 Spätestens im Jubiläumsjahr 1900 war Harnack zu einer wichtigen Wissenschaftlerpersönlichkeit im Kräftefeld der preußischen Wissenschafits- und Kulturpolitik geworden. Althoff begann sich der wissenschaftlichen Reputation des Dogmenhistorikers, des Geschäftsführers der „Kirchenväter-Kommission" und des Akademiehistorikers immer zielstrebiger zu bedienen. Er verfolgte große Pläne beim Ausbau der Berliner Universität und bei der Schaffung eines „deutschen Oxford" in der Domäne Dahlem. Dringend erforderlich war auch die Behebung des beklagenswerten Zustandes der preußischen Universitätsbibliotheken. In manchen Universitätsstädten verirrte sich kaum noch jemand in die verstaubten Säle. Hätten die führenden Forscher nicht über leistungsfähige Privatbibliotheken verfügt, wären die bibliothekarischen Mißstände noch krasser hervorgetreten. Allerdings machte der explodierende Büchermarkt es unmöglich, Privatbibliotheken dauerhaft auf leistungsfähigem Stand zu halten. Während die Bibliothek des Britischen Museums sich zu einer
über die in den Schriften der Akademie erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden. Bearbeitet von Dr. Otto Köhnke, Bibliothekar und Archivar der Akademie. Berlin 1 9 0 0 . Vgl. zur Entstehung Adolf [von] Harnack: Bericht über die Abfassung der „Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin". In: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 8. Februar. Gesamtsitzung. Berlin 1 9 0 0 , S. 89; 9 0 - 9 9 . 1 0 8 Verleihungsurkunde Wilhelm II. vom 14. März 1 9 0 3 (Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 1 1 3 ) . A m 2 4 . März 1 9 0 3 erfolgte Harnacks Berufung zum „stimmberechtigten Ritter" des Ordens „Pour le mirite" (Ebenda, Bl. 1 1 6 ) . 1 0 9 Ansprache des Vorsitzenden Sekretars vom 19. März 1 9 0 0 (Akademie-Archiv, aaO. [Anm. 98], II-XIII, 3; vgl. Teil II, Nr. 1/2 (Harnacks Festvortrag). 1 1 0 Harnack an Amalie Harnack vom 2. August 1 9 0 0 (Nachlaß Harnack, Kasten 1).
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effizienten Nationalbibliothek entwickelt hatte, kümmerte Preußens wichtigste Bibliothek, die Königliche Bibliothek, vor sich hin. Im Preußischen Abgeordnetenhaus hatte Theodor Mommsen ihren Zustand im Jahr 1879 als „entsetzlich" bezeichnet. 111 Seit den 1880er Jahren verfolgte Althoff Pläne der Bibliotheksmodernisierung. Sie sahen unter anderem eine Zentralisierung der Kataloge aller preußischen Universitätsbibliotheken als „deutsche Antwort" auf die Zentralbibliotheken des Auslands vor, darüber hinaus die Ausarbeitung eines Erwerbsprogramms, welches die Königliche Bibliothek zur Sammelbibliothek für das gesamte deutschsprachige Schrifttum machen sollte. Wahrscheinlich ist Harnack bereits 1898 in Althoffs bibliotheksstrategische Pläne einbezogen gewesen. In diesem Jahr ließ Althoff durch den Freund und Mitarbeiter Harnacks, Oscar von Gebhardt, eine Expertise erarbeiten. Gebhardt leitete seit 1893 die Bibliotheca Albertina, die Universitätsbibliothek zu Leipzig. In seinem Gutachten wies von Gebhardt auf die Verdreifachung der Bücherproduktion im zurückliegenden halben Jahrhundert hin (1851 8 227 Werke, 1861 9 414 Werke, 1871 15 191 Werke, 1891 21 279 Werke, 1897 23 861 Werke). Den Zuwachs der Königlichen Bibliothek veranschlagte er auf jährlich 30 000 Bände, „so daß die Vermehrung in 50 Jahren 1 500 000 Bände betragen" werde. Eine neu einzurichtende Bibliothek sei für die nächsten 50 Jahre auf 2 500 000 Bände einzurichten. „Dieser Anschlag, welcher die jetzigen Verhältnisse voraussetzt, würde zu modifizieren sein, wenn es gelänge, die Königliche Bibliothek zur Nationalbibliothek zu erweitern. Daß Deutschland nicht schon lange eine solche Bibliothek besitzt, ist zu beklagen." 1 1 2 Erste Spuren aktiver Betätigung Harnacks in der Bibliothekspolitik finden sich in einer Unterredung mit Wilhelm II. vom April 1901. Harnack entwickelte vor dem Monarchen in Absprache mit Althoff Gedanken zum Baubedarf der Universität und zur Verbesserung der Bibliothekssituation. W i l h e l m II. reagierte ausweichend-verheißungsvoll. Man müsse „viel Geduld haben, aber es gehe vorwärts; ob ich [seil. Harnack] das auch mein-
1 1 1 Bernhard Fabian: Die Reform des preußisch-deutschen Bibliothekswesens in der Ära Althoff: Fortschritt oder Weichenstellung in eine Sackgasse? In: Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte, aaO. (Anm. 37), S. 4 2 5 - 4 5 1 ; hier S. 4 2 8 . 1 1 2 Oscar von Gebhardt: Einige Bemerkungen zur Raumbedürfnis- Nachweisung für den Neubau der Kgl. Bibliothek (Antwort auf Althoffs Brief vom 3. Juni 1 8 9 8 ) (Universitätsbibliothek Leipzig-Handschriftenabteilung/Oscar von Gebhardt).
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te?" 1 1 3 Über alle Ressortzuordnungen hinweg war die wilhelminische Gesellschaft von der Macht des Lobbyismus bestimmt. Ende Januar 1902 lag der erste Entwurf des Neubaus der Königlichen Bibliothek, der Universitätsbibliothek und der Akademie der Wissenschaften vor. Der geplante Bau war monumental, und er befand sich an einer der repräsentativsten Stellen der Reichshauptstadt, Unter den Linden. Am Sedantag 1903 erfolgte der erste Spatenstich. 1 1 4 Nach Ansicht Althoffs erforderte die durchgreifende Modernisierung des preußischen Bibliothekswesens die Kompetenz eines hochrangigen Wissenschaftlers. Ein bloßer Fachbibliothekar, und mochte er auf seinem Gebiet auch noch so exzellent sein, war Althoff zufolge dieser Aufgabe nicht gewachsen. In seinen Augen war Harnack der rechte Mann. Harnack erklärte sich nach anfänglichen Bedenken einverstanden. Im Jahr 1905 waren die Weichen zur Berufung Harnacks in das Amt des Generaldirektors der Königlichen Bibliothek im Nebenamt gestellt. Der preußische Kultusminister favorisierte in einem Schreiben an Harnack einen Gedanken, der ohnehin zur strategischen Philosophie des Unternehmens gehörte: „die Überzeugung, daß an die Spitze der Königlichen Bibliothek ein Gelehrter treten sollte, der mit der Universität und der Akademie der Wissenschaften verbunden ist". Harnack erklärte: „Von der Größe der Aufgabe bin ich tief durchdrungen, sowie von der Bedeutung, welche sie, voll erfaßt, für den Fortgang der Wissenschaft und das Vaterland besitzt." 115 Die Bibliothekare Preußens waren von dem personalpolitischen Coup nicht besonders angetan. Sie sahen Aufstiegsregeln verletzt, und sie bezweifelten, ob ein Außenseiter ohne bibliothekstechnische Vorbildung in den verwickelten Organismus des Bibliothekswesens eindringen könne. Althoff griff zur Presselenkung. Er lancierte unauffällig Artikel über Harnacks Berufung, welche den Arger dämpfen sollten. Wenig erfreut waren auch Harnacks Kollegen an der Theologischen Fakultät und jene kirchenpolitischen Kampfgenossen, die aus dem religiösen Meinungsführer plötzlich einen Bibliothekar werden sahen. Die konservative Kirchenpresse
1 1 3 Harnack an A l t h o f f vom 1 1 . April 1 9 0 1 (Nachlaß Althoff, aaO. [Anm. 38], A II, Nr. 1 0 5 [Bl. 1 -2 V ]. 1 1 4 Paul Schwenke: Die Bibliothek als Ganzes. In: Fünfzehn Jahre Königliche und Staatsbibliothek. Dem scheidenden Generaldirektor Exz. Adolf von Harnack zum 3 1 . März 1 9 2 1 überreicht von den wissenschaftlichen Beamten der Preußischen Staatsbibliothek. Berlin 1 9 2 1 , S. 1 - 1 0 ; hier S. 2. 1 1 5 Harnack an Kultusminister vom 8. März 1 9 0 5 (Konzept) (Nachlaß Harnack, Kasten 1, Bl. 126 r ' v ).
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bewertete die Annahme des Generaldirektorats als Abwendung Harnacks von Theologie und Kirche. Generaldirektor der Königlichen und nachmaligen Staatsbibliothek war Harnack bis 1921. Bei seinem Abschied erfuhr er emphatische W ü r digungen aus der Bibliothekswelt. In einer Grußadresse der Preußischen Universitätsbibliotheken hieß es, Harnack habe sich „einen Ehrenplatz in der Geschichte der Bibliotheken für alle Zeiten gesichert." 1 1 6 Zweifellos hatte Harnack wichtige Neuerungen auf den Weg gebracht, etwa die Neuregelung des Anschaffungswesens, den Ausbau des Leihverkehrs, die Auffüllung von Lücken, den zentralisierten Zetteldruck im Verbund der preußischen Universitätsbibliotheken, die Begründung der mittleren bibliothekarischen Laufbahn und die Eingliederung der Bibliothekare in das preußische Beamtentum. Eine große logistische Leistung war die Überführung des Geschäftsbetriebs und der Buchbestände aus der „Kommode" in das neue Gebäude bei fortlaufendem Betrieb. Die Einweihung des Neubaus Unter den Linden erfolgte am 22. März 1914 und gestaltete sich zur letzten großen Festlichkeit des Wilhelminischen Zeitalters. W i l helm II. verlieh dem Generaldirektor an diesem Tag den erblichen Adelstitel. Bei nüchterner Betrachtung fiel die Bilanz nicht so günstig aus. Gewinne und Verluste wechselten einander ab. Der Plan, die Königliche Bibliothek in eine Zentralbibliothek mit dem Charakter einer Nationalbibliothek umzuwandeln, hatte sich nicht verwirklichen lassen. Obwohl die gewachsene Bedeutung der Bibliotheksversorgung anerkannt war, fehlte es an ausreichenden Mittelzuwendungen. Nachteile im Bestandsaufbau der Bibliothek konnten nicht ausgeglichen werden. In der Katalogpflege blieben trotz aller Anstrengungen erhebliche Mängel spürbar. Harnack selber beklagte die Verfremdung der Bibliothek zu einem Dienstleistungsbetrieb für Bücherversendung und plädierte energisch für das Prinzip der Präsenzbibliothek. Er drang damit nicht durch. „Was immer die Althoffschen Reformen bewirkten, ihr Ergebnis war weder ein funktionsfähiges Literaturversorgungssystem, das den Erfordernissen der Wissenschaft genügte, noch ein konkurrenzfähiges System, das als Äquivalent zu dem in den Zentralbibliotheken des Auslands konzentrierten Forschungspotential hätte gelten können." 1 1 7 In die Königlich Preußische Akademie versuchte Harnack, nachdem er in ihr seine Autorität gefestigt hatte, wissenschaftsreformerische Im1 1 6 Adresse der Preußischen Universitätsbibliotheken zum 7 . 5 . 1 9 2 1 (Auszug) (Ebenda). 1 1 7 Fabian: Reform, aaO. (Anm. I l l ) , S. 4 3 7 ; vgl. Teil II, Nr. 1/6.
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pulse einzubringen. Bei kritischen Mitgliedern galt die Akademie am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch als ein Verein zur Produktion wissenschaftlicher Abhandlungen. Es war notwendig, die altehrwürdige Gelehrtengesellschaft in die Bahnen einer leistungsfähigen Wissenschaftsorganisation zu lenken, welche dem Konkurrenzdruck universitärer und nichtuniversitärer Forschungsinstitutionen standzuhalten vermochte. Eine wichtige finanzielle Unterstützung auf diesem Weg stand durch das Stiftungskapital der Heckmann-Wentzel-Stiftung und weiterer Stiftungen zur Verfügung. Die Zinsen aus dem Stiftungskapital der Heckmann-Wentzel-Stiftung (1,5 Millionen Mark) kamen Langzeitprojekten beider Klassen zugute, in erster Linie der Edition der „Griechischen Christlichen Schriftsteller", sodann dem Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache und der Publikation der Ergebnisse von zoologisch-ethnographischen Forschungsreisen. Harnack sah angesichts des Widerspruchs von Finanzierungsbereitschaft und Finanzrealität bei der preußischen Kultusbürokratie die Notwendigkeit, den Sektor der subsidiären Finanzierung zu verstärken. Auch das entsprach Intentionen Althoffs. Zwar war es Althoff gelungen, die Staatsausgaben zur Wissenschaftsförderung kontinuierlich zu steigern (1897 18 Millionen Mark, 1898 23 Millionen Mark, 1907 39 Millionen Mark); dennoch herrschte weiterhin akuter Finanzbedarf. 118 Harnack betätigte sich in der Erschließung von Geldquellen bei nichtstaatlichen Finanziers, bei vermögenden Privatpersonen, Bankhäusern und Industrieunternehmen. Die nichtstaatliche Förderung der großbetrieblich geplanten Wissenschaft wurde zu einem Element preußischer Wissenschaftspolitik und stellte das Prinzip der staatlichen Wissenschaftsfinanzierung teilweise in Frage. Zum 60. Geburtstag Harnacks im Jahr 1911 veranstalteten die Gratulanten eine Geldsammlung, die den Betrag von 21 600 Mark erbrachte. Harnack übergab das Kapital der Königlich Preußischen Akademie zur Begründung einer „Stiftung zur Förderung der kirchen- und religionsgeschichtlichen Studien im Rahmen der römischen Kaiserzeit (saec.I-VI)", welche nach seinem Ableben die Bezeichnung „HarnackStiftung" erhielt. Aus der „Harnack-Ehrung" des Jahres 1921 schlug Harnack seiner Stiftung weiter 15 000 Mark hinzu. 119
118 Manfred Rasch: Kommunalisierung, Regionalisierung und Konzentrierung. Aspekte preußischer Wissenschaftspolitik unter Friedrich Althoff und seinen Nachfolgern. In: Brocke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte, aaO. (Anm. 37), S. 109-122; hier S. 110. 119 Zur Harnack-Stiftung finden sich Materialien sowohl im Archiv der Humboldt-
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U m Forschungsvorhaben von langer Dauer organisatorisch und personell abzusichern, setzte sich Harnack in der Akademie für die Einrichtung und den Ausbau von Mitarbeiterstellen ein. D i e „wissenschaftlichen Hilfsarbeiter" sollten in den Beamtenstatus erhoben werden, um den für die Verstetigung der Forschung hinderlichen Zustand einer unsicheren Wissenschaftlerexistenz zu beenden. Harnack erarbeitete für die wissenschaftlichen Beamten eine „Allgemeine Instruction". 1 2 0 Bei der Errichtung der „Orientalischen K o m m i s s i o n " setzte Harnack sein Gewicht zugunsten der S a m m l u n g und Erforschung der Schriftdenkmäler Assyriens, Babyloniens, Ägyptens und Zentralasiens ein. Er hielt den Zeitpunkt, welchen die Vertreter der orientalischen Philologie und der alten Geschichte zur Beantragung ihres Projekts gewählt hatten, für günstig, „wenn auch wohl der B a u m nicht beim ersten Streiche fallen wird. Eine Bedingung dafür, daß er fällt, muß bei den Verhandlungen streng eingehalten werden — nämlich sich nicht durch kleine Abschlagszahlungen hinhalten zu lassen und schließlich totaliter qualiter zu beruhigen. Der Antrag muß auf der H ö h e gehalten werden, auf der er gestellt ist." 1 2 1 Harnack schloß sich einer entsprechenden ministeriellen Eingabe an. So wurde der W e g für die systematische Auswertung der in Berlin vorhandenen Bestände der „Vorderasiatischen Sammlung", der Ergebnisse der Turfan-Expedition und der im Ägyptischen M u s e u m gelagerten Funde frei. Auch hier hieß die Devise, die ältere Individualforschung durch moderne Forschungsstrategien zu ersetzen. „Es darf ferner nicht mehr vorkommen, daß die mühsam erworbene Kenntnis ... aus Mangel an einer zweckmäßigen Organi-
Universität (Theol. Fak. Nr. 56) wie im Akademie-Archiv (Harnack-Stiftung: II-XI, 36). 1942 wurde sie in einen „Stifungszentralfonds" überführt und ging in diesem Sammelbecken unter. 120 Promemoria betreffend Ernennung von Adjuncten und Hülfsarbeitern bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften vom 16. Juli 1898 (22 Blatt Kanzleiausfertigung, unterzeichnet von Harnack) (Nachlaß Harnack, Kasten 23, Bl. 1 ff.); Antrag, betreffend die Anstellung von wissenschaftlichen Beamten bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften bez. bei der philosophisch-historischen Classe derselben (Antrag von Diels, Harnack, Hirschfeld, Mommsen, Schmoller; Entwurf Harnack) vom 4./12. Juni 1899 (Ebenda; als Manuskript gedruckt); Allgemeine Instruction vom 27. Mai 1900; Spezial- Instruction für den Beamten für altchristliche Quellenforschung und -publicirung, Herrn Lie. Dr. Karl Schmidt (Akademie-Archiv, aaO. [Anm. 98], Kirchenväter-Kommission Nr. 1, Bl. 44-46'). 121 Stellungnahme Harnacks vom 17. Januar 1911 (Akademie-Archiv, aaO. [Anm. 98], II-VI, 17, Bl. 145" V ).
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sation der Arbeit wieder verloren gehe." 1 2 2 Nochmals schaltete sich Harnack in die orientalischen Studien 1913 und 1917 ein, als es um die Zukunft des „Orientalischen Seminars" ging. Seine bedeutendste Leistung als Wissenschaftsorganisator vollbrachte Harnack bei der Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften" und durch sein langjähriges Wirken als deren Präsident. Eine ausgewogene Beurteilung von Harnacks Anteil bei der Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" ist nicht ganz leicht. Während in der älteren Literatur der Eindruck vorherrschte, Harnack habe mit seiner Denkschrift vom 21. November 1909 die Initialzündung zur Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" gegeben, neigte die Forschung der 1960er und 1970er Jahre dazu, Harnacks Anteil zu minimieren. Besonders deutlich trat diese Tendenz bei Lothar Burchardt hervor. Die Publikationen der jüngst zurückliegenden Jahre balancieren diese konträren Perspektiven ein wenig aus. 1 2 3 Feststeht, daß die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" im Zustromgebiet vieler Gedankenimpulse, Initiativen und Projekte geboren wurde. Bei einer Wissenschaftsgründung dieser Dimension, welche die gesamte Forschungslandschaft in Deutschland veränderte, ist das nicht verwunderlich. Die Notwendigkeit kräftiger Forschungsimpulse auf hohem organisatorischen Niveau wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts von vielen Seiten ausgesprochen. An den Universitäten drohte die Forschung wegen Lehrüberlastung der Professoren infolge wachsender Studentenzahlen und rascher Wissensvermehrung auszutrocknen. Das starre Berufungssystem verhinderte die Entfaltung von Akademikern, die vielleicht nicht in der Lehre, wohl aber in der Forschung Vorzügliches leisten konnten. Angesichts der schmalen Universitätshaushalte, die für teilweise veraltete Strukturen konzipiert waren, fehlte es an Forschungsmitteln, namentlich für die kostenintensiven naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen. Und
1 2 2 Ministerielle Eingabe von sieben Vertretern der orientalischen Wissenschaften vom 1 1 . Februar 1 9 1 1 (Entwurf) (Ebenda, Bl. 148-150"). Weiteres Material zum Ausbau des Orientalischen Seminars im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (Rep 7 6 Va Sekt. II Tit. 1 Nr. 29. Bd. I: 1 9 1 3 - 1 9 1 6 ; Bd. II: 1 9 1 6 - 1 9 1 8 ) ; vgl. außerdem Teil II, Nr. 1/9. 1 2 3 Lothar Burchardt: Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Göttingen 1 9 7 5 (Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert 1); Rudolf Vierhaus / Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, aaO. (Anm. 2).
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die Akademien? Harnacks zähes Ringen um wissenschaftliche Mitarbeiterstellen in der Preußischen Akademie der Wissenschaften hatte gezeigt, wie sehr auf diesem Boden der Schneckengang vorherrschte. Nach Etablierung der „Physikalisch-Technischen Reichsanstalt" betrieben Emil Fischer und Walter Nernst die Gründung einer „Chemischen Reichsanstalt". Der Greifswalder Paläontologe Jaekel plädierte eindringlich für biologische Forschungsinstitute und verfaßte auf Anforderung des preußischen Kultusministeriums eine Denkschrift zu wissenschaftlichen Institutsgründungen auf Dahlemer Domänengelände. Einige Gedanken Jaekels überkreuzten sich mit Althoffs Visionen vom „deutschen Oxford". Althoff veranstaltete im Herbst 1906 eine Umfrage bei der Universität, der Akademie und der Generalverwaltung der Königlichen Museen über ihren etwaigen Raumbedarf in Dahlem. Vorausgegangen war am 8. März 1906 eine Denkschrift von Harnack, Diels, Waldeyer und Emil Fischer „zur Sicherung größerer, noch verfügbarer Grundstücke in Berlin und Umgegend für die stetig wachsenden und stets dringlicher werdenden Bedürfnisse der praktischen und theoretischen Wissenschaft in der Hauptstadt". Der deutsche Wissenschaftsbetrieb beanspruche „eine stets steigende Bedeutung in der Weltkultur". Es gehe nicht an, daß die Universität angesichts ihrer großen Aufgaben in Raumenge und Lehrüberlastung ersticke. Auch bei den geologisch-paläontologischen Sammlungen, in der Anthropologie und Ethnographie müsse Entscheidendes geschehen. „Die Entwicklung unseres Kolonialreichs weist gebieterisch auf eine solche Entwicklung hin." 1 2 4 Nach Althoffs Tod 1908 stellten Friedrich Schmidt-Ott und ein Mitarbeiter die Papiere des „heimlichen preußischen Kultusministers" zu einem Expose zusammen. Am 19. März 1909 lagen „Althoffs Pläne für Dahlem" dem Staatsministerium vor. 1 2 5 Nach dem jahrelangen Hin und Her von Ideen und Exposes gab es seit 1908/09 ernstlichen Handlungsdruck. Eine Art Eisbrecher war das mit Industrieunterstützung immer weiter konkretisierte Projekt der „Che-
1 2 4 Denkschrift an den König und Kaiser vom 8. März 1 9 0 6 (9 Schreibmaschinenseiten) (Nachlaß Harnack, Kasten 23). 1 2 5 „Althoffs Pläne für Dahlem" (15 Schreibmaschinenseiten/Abschrift mit Schreiben aus dem Geheimen Zivilkabinett vom 24. März 1 9 0 9 und dem Staatministerium vom 29. März 1 9 0 9 ) (Akademie-Archiv, aaO. [Anm. 98], II-VI, 16, Bl. 2 3 2 ff); desgleichen Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Rep. 90 Nr. 4 5 2 a, Bl. 2 - 1 4 ' . Druck: Fünfzig Jahre KaiserWilhelm-Gesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 1 9 1 1 - 1 9 6 1 . Beiträge und Dokumente. Göttingen 1 9 6 1 , S. 6 4 ff.
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mischen Reichsanstalt". Ihre Gründung mit hohem nichtstaatlichen Finanzierungsanteil hätte bedeutet, die Staatshoheit in der Forschungsförderung deutlich zu tangieren. Damit erwuchs aus der naturwissenschaftlichen Forschungsförderung ein Prinzipienstreit zwischen Staatshoheit und Unternehmerinitiative. Psychologischen Handlungsdruck erzeugte das herannahende 100. Jubiläum der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität 1910. Bereits Jaekel hatte dieses für das Prestigebedürfnis des Kaiserreichs wichtige Datum als Argument für schnelles Handeln gebraucht. Andere Gelehrte hatten ihn darin unterstützt. Harnack trat im Jahr 1909 in die Planungsinitiativen ein. Wilhelm II. bat den von ihm geschätzten Gelehrten, Bibliotheksdirektor und Forschungsprojektleiter um eine denkschriftliche Ausarbeitung. Offenbar genügte es ihm nicht, Denkschriften von subalterner Seite zugereicht zu bekommen wie im Falle der Denkschrift des Mitarbeiters von SchmidtOtt, Krüss. Harnack versprach: „Ich werde alles tun, um dem Vertrauen Sr. Majestät, welches mich beglückt, zu entsprechen und zu meinem Teile versuchen, diese für die Wissenschaft hochwichtige Sache in ersprießlicher Weise zu fördern." 126 Harnack veranstaltete Anhörungen mit hochrangigen Naturwissenschaftlern und Medizinern. Das Ergebnis faßte er in seiner Denkschrift vom 21. November 1909 zusammen. Sie fußte auf der Denkschrift von Krüss und brachte neue Elemente ein, beispielsweise auf Anregung des Geheimen Medizinalrats Prof. Dr. Wassermann den Vorschlag zur Errichtung eines Instituts für experimentelle Therapie. „... daß wir im bedenklichsten Rückstand sind, kann niemand leugnen!" schrieb Harnack. „Forschungsinstitute brauchen wir, nicht eins, sondern mehrere, planvoll begründet und zusammengefaßt als Kaiser-Wilhelm-Institutefür naturwissenschaftliche Forschung. "Als Organisationsvorbild schlug Harnack die Zoologische Station in Neapel vor. „Der leitende Direktor muß stets ein Mann sein, der sich durch große Erfolge auf experimentell-wissenschaftlichem Gebiete als hervorragender Forscher bewährt hat." Insgesamt sollte die Organisation „einfach und elastisch" sein, um auf „alle neuen Fragen und Bedürfnisse der Wissenschaft einzugehen". Ein stark nationaler Ton fehlte in der Denkschrift nicht. „Die Wehrkraft und die Wissenschaft sind die beiden Pfeiler der Größe Deutschlands, und der Preußische Staat hat seinen glorreichen Traditionen gemäß die Pflicht, für die Erhaltung beider zu sorgen." 127 1 2 6 Harnack an von Valentini vom 7. September 1 9 0 9 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Rep. 8 9 Η Nr. 2 1 2 7 8 , Bl. 22). 1 2 7 „Ew. Kaiserliche und Königliche Majestät...". Denkschrift Harnacks vom 2 1 .
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N a c h Übersendung der Denkschrift „nebst weiteren 2 5 Exemplaren" an das G e h e i m e Zivilkabinett teilte dessen Chef, R u d o l f von Valentini, am 10. Dezember 1 9 0 9 mit, „daß mir Seine Majestät am vergangenen M i t t w o c h gestattet hat, Ihre Denkschrift W o r t für W o r t vorzulesen und mich darauf beauftragte, Ihnen für die prachtvolle Arbeit Allerhöchsten wärmsten D a n k zu übermitteln ... Ich erfülle den Auftrag, mich über die weiteren Schritte der künftigen Förderung mit dem Herrn Ministerpräsidenten in Verbindung zu setzen. Infolgedessen habe ich schon gestern mit H e r r n von B e t h m a n n Hollweg konferiert und ihm die Denkschrift ü b e r g e b e n . " 1 2 8 Glänzender konnte Harnacks Erfolg als Geburtshelfer der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" nicht sein. Das darauffolgende Jahr 1 9 1 0 sah H a r n a c k in reger Tätigkeit. Nachdem der Reichskanzler und die zuständigen Ministerien — Kultusministerium, Finanzministerium, Reichsamt des Innern — mit der Durchführung des Projekts befaßt waren und W i l h e l m II. im April 1 9 1 0 ausdrücklich „weitere Förderung" befohlen h a t t e 1 2 9 , galt es, die Masse der finanz- und organisationstechnischen Probleme und die Statutenfrage zu klären. U m die Einengung der künftigen Gesellschaft a u f den Raum Berlin zu vermeiden, waren Forschungsinstitute auch in den preußischen Provinzen zu planen, vor allem in den rheinisch-westfälischen Ballungsgebieten der Industrie. Das hatte die E i n b e ziehung der O b e r p r ä s i d e n t e n zur Folge. A m 6. J u n i 1 9 1 0 bat Reichskanzler B e t h m a n n Hollweg — „Vertraulichst!" — die Oberpräsidenten um finanzielle Unterstützung zur Durchführung des Gesamtplans. 1 3 0 Harnack stellte eine für finanzstarke Sponsoren modifizierte Fassung seiner D e n k s c h r i f t h e r . 1 3 1 A m 13. M a i 1 9 1 0 fand im K ö n i g l i c h e n Staatsministerium eine Besprechung mit hochrangigen Repräsentanten der Industrie wie D r . Krupp von Bohlen und Halbach und D r . W a l t h e r Ra-
November 1 9 0 9 . 11 Seiten (als Manuskript gedruckt) (Nachlaß Harnack, Kasten 2 3 ) . Vgl. Band II, Nr. 1/5. 1 2 8 V o n Valentini an Harnack vom 10. Dezember 1 9 0 9 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem Rep. 8 9 Η Nr. 2 1 2 7 8 . Bl. 46-47"). 1 2 9 Von Valentini an Bethmann Hollweg vom 13. April 1 9 1 0 (Ebenda, Bl. 6 8 69')· 1 3 0 Bethmann Hollweg an die Oberpräsidenten vom 6. Juni 1 9 1 0 (Ebenda, Bl. 9 9 -
101 r ). 131 Gedanken über die Notwendigkeit einer neuen Organisation zur Förderung der Wissenschaften in Deutschland von Adolf Harnack. Berlin, im Mai 1 9 1 0 . 12 Seiten (als Manuskript gedruckt). Bibliographische Details zu den Versionen der Denkschrift im „Nachweis der Drucke" zu Teil II, Nr. 1/5.
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thenau statt. Mit Rathenau, den Harnack schon bei seinen ersten Anhörungen im Herbst 1909 konsultierte hatte, entstanden Unstimmigkeiten. Sie veranlaßten den Industriellen, Weltbürger und Schöngeist zu einem eigenen „Promemoria" über Aufgaben und Ziele der Wissenschaftsförderung. 1 3 2 Unter die nichtstaatlichen Zuwendungsgeber der „KaiserWilhelm-Gesellschaft" reihte sich Rathenau nicht ein. Im Frühsommer 1910 führte Harnack zahlreiche „Stifterbesprechungen" durch. Die zu gründende Gesellschaft sollte ein Organ staatlicher Forschungsförderung sein, aber deshalb nicht auf die Hilfe industrieller und privater Geldgeber verzichten. Auch in der Statutenkommission unter Vorsitz des Kultusministers von Trott zu Solz arbeitete Harnack mit. 1 3 3 Für die Feier zum hundertjährigen Bestehen der Friedrich-WilhelmsUniversität sah das Protokoll eine „Ansprache seiner Majestät" vor, in welcher der Kaiser die Gründung der Gesellschaft und erster Institute bekanntgab. Am Text der Ansprache des Kaisers vom 11. Oktober 1910 arbeitete Harnack mit. 1 3 4 Die „konstituierende Versammlung" der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" fand einige Wochen später, am 11. Januar 1911, im großen Sitzungssaal der Königlichen Akademie der Künste am Pariser Platz statt. Trott zu Solz telegraphierte 13.10 Uhr dem Kaiser die entsprechende Vollzugsmeldung. 1 3 5 Auf Wunsch des Kaisers wurde Harnack Präsident der Gesellschaft. Ahnlich wie bei seiner Berufung zum Generaldirektor der Königlichen Bibliothek rief auch diese personalpolitische Entscheidung Kritik hervor. „Viele auch unter seinen Fachgenossen, haben es nicht verstanden, daß er, der Theologe und Kirchenhistoriker ..., an die
1 3 2 Zum Vorgang Burchardt: Wissenschaftspolitk, aaO. (Anm. 123), S. 39. Im Nachlaß Harnack, Kasten 2 3 findet sich eine „Abschrift des Konzepts des Briefes von Dr. W . Rathenau an Geheimrat von Harnack, betreffend das Promemoria Dr. W . Rathenaus für die Begründung einer Königlich Preußischen Gesellschaft für die Förderung der Künste und Wissenschaften vom März 1 9 1 0 , undatiert". 1 3 3 In den Akten ist ein Satzungsentwurf mit Bleistiftnotizen Harnacks erhalten (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, aaO. [Anm. 128], Bl. 1 2 1 - 1 2 9 r ) . 1 3 4 Ansprache seiner Majestät bei der Universitätsfeier am 1 1 . Oktober d. Js. (Entwurf) (Nachlaß Harnack, Kasten 23). 1 3 5 Trott zu Solz an Wilhelm II. (Telegramm) vom 11. Januar 1 9 1 1 (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, aaO. [Anm. 128], Bl. 203). Eine erste Präsentation der neuen Gesellschaft war die Publikation: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Berlin 1 9 1 1 . 4 3 Seiten.
1. Wissenschaft als Großbetrieb
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Spitze der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft getreten ist, wenn er auch ihr Entstehen und ihre Gestaltung entscheidend beeinflußt hatte. Wie konnte der gelehrte Theologe sich einer Aufgabe widmen, die ihn mit zwei der Theologie so fern stehenden Gebieten wie der Naturwissenschaft und der Wirtschaft in nahe Beziehung bringen mußte?" 1 3 6 Das Skandalon lag diesmal nicht nur in der Berufung eines Fachfremden in ein hohes Amt, sondern, jedenfalls in konservativen Wissenschaftlerkreisen, in der Verschmelzung von Wissenschaft und Kapital. Die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" besaß ihren Sockel in der Staatsfinanzierung, integrierte gleichzeitig jedoch zur Förderung ihrer Forschungsaufgaben das wohlhabende Bürgertum, Handel, Bankwelt, Landwirtschaft. 1 3 7 1912 unternahm Harnack den unorthodoxen Versuch, das Modell der privaten und industriellen Sponsorschaft auf die Königlich Preußische Akademie zu übertragen. Außerdem wollte er die „Kaiser-WilhelmGesellschaft", die in manchen Kreisen als unseriös galt, enger an die Akademie heranrücken. „Die Akademie m u ß ins Leben hinein, weil die Wissenschaft heutzutage mitten im Leben steht — ganz anders als noch vor zwanzig Jahren. Zu diesem Zweck m u ß sie die großen Industriellen, die über wissenschaftliche Stäbe in ihren Werken kommandieren, in ihre Mitte aufnehmen und sich ebenso zum Mittelpunkt machen für die zahlreichen wissenschaftlichen Vereine auf dem Gebiete des Geistes (Historische Vereine etc.)... 3-4 Dutzend mindestens müßten wir haben jener großen Unternehmensleiter wie Ballin, Rathenau, James Simon, Arnhold, die Vorsteher der Höchster - und Elberfelder Farb-Werke, Krupp etc." Harnack wollte die Industriellen nicht bloß zu Ehrenmitgliedern der Akademie gemacht sehen, sondern sie in einem Beratungsausschuß organisieren. Eine enge Kooperation zwischen „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" und Akademie zu planvoller Wissenschaftsförderung läge nahe. Auf besondere Gegenliebe stieß Harnack mit solchen Ideen bei der traditionsbewußten Akademie nicht. 1 3 8
136 Friedrich G l u m : Adolf von Harnack. In: Berliner Tageblatt u n d Handelszeitung N r . 271 vom 11. Juni 1930. G l u m schrieb diesen Artikel als Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. 137 Ü b e r „Clique u n d Kapital" Burchardt: Wissenschaftspolitik, aaO. (Anm. 123), S. 35; Vierhaus/vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld, aaO. (Anm. 2), S. 483. 138 Abschrift eines vertraulichen Briefes vom 28. O k t o b e r 1910 (Nachlaß Harnack, Kasten 23).
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
Die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" begann ihre Arbeit mit Instituten für Chemie (stark geprägt von der Vorgeschichte der „Chemischen Reichsanstalt"), für physikalische Chemie, für Kohlenforschung und für Biologie. Unter Harnacks Präsidentschaft kamen schnell weitere Institute hinzu, beispielsweise das Institut für experimentelle Therapie und das Institut für Arbeitsphysiologie, das auf das Frankfurter Institut für Gemeinwohl zurückging. Insgesamt wuchs die Zahl der Institute bis zu Harnacks Tod auf mehr als 30. Harnack steuerte den von Jahr zu Jahr wachsenden Organisationsapparat mit jener ruhigen Bravour, die man auch sonst an ihm kannte. Die Ausrichtung an industriepolitischen Erfordernissen blieb dominant, während den Geisteswissenschaften damals allenfalls eine temporäre Teilförderung zugute kam. Vorstöße zur Koordination historischer Großforschungen von 1911 durch Dietrich Schäfer und 1913 durch Paul Kehr führten nicht zum gewünschten Erfolg. 139
2. Sozial- und
Bildungspolitik
Literarische und wissenschaftsorganisatorische Arbeit genügte Harnack nicht. Bereits zu Beginn seiner Berliner Wirkungszeit Schloß er sich der protestantischen Sozialbewegung an. Auftrieb erhalten hatte sie nach Einleitung des „Neuen Kurses" durch eine Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrats vom 17. April 1890. Im Zuge des sozialpolitischen Aufbruchs entstand auf Initiative Adolf Stoeckers, Hermann Kropatscheks, Adolph Wagners und Ludwig Webers der „Evangelisch-soziale Kongreß". 140 Vom 1 3 9 Dietrich Schäfer u. a. an Kultusminsterium v o m 2 8 . Februar 1 9 1 1 zwecks G r ü n d u n g eines K a i s e r - W i l h e l m - I n s t i t u t s f ü r Geschichte; Paul K e h r v o m 6. September 1 9 1 3 (und öfter) zwecks K o o r d i n i e r u n g der „Germania sacra" u n d „Germania profana" (Burchardt: Wissenschaftspolitik, aaO. [Anm. 1 2 3 ] , S. 1 1 9 f; Vierhaus/vom Brocke [Hg.] Forschung im Spannungsfeld, aaO. [Anm. 2], S. 1 5 4 ΟΙ 4 0 Z u s a m m e n s t e l l u n g der wichtigsten Literatur bei V o l k e r Drehsen: „Evangelischer G l a u b e , brüderliche W o h l f a h r t u n d w a h r e Bildung". D e r Evangelischsoziale K o n g r e ß als sozialistisches u n d praktisch-theologisches F o r u m des K u l t u r p r o t e s t a n t i s m u s im W i l h e l m i n i s c h e n Kaiserreich. In: Hans M a r t i n M ü l l e r (Hg.): K u l t u r p r o t e s t a n t i s m u s . Beiträge zur einer Gestalt des m o d e r nen C h r i s t e n t u m s . G ü t e r s l o h 1 9 9 2 , S. 1 9 0 - 2 2 9 ; hier S. 2 2 2 - 2 2 9 ; illustrierende statistische D a t e n bei G a n g o l f Hübinger: K u l t u r p r o t e s t a n t i s m u s u n d Politik. Z u m V e r h ä l t n i s v o n Protestantismus u n d Liberatiismus im w i l h e l minischen Deutschland. T ü b i n g e n 1 9 9 4 , S. 5 9 (berufssoziologische A n g a ben zu den K o n g r e ß t e i l n e h m e r n u n d Delegierten 1 8 9 6 - 1 9 0 3 ) .
2. Sozial- und Bildungspolitik
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27. bis 29. Mai 1890 versammelten sich in Berlin nahezu 800 Pfarrer, Professoren der Theologie, Vertreter der Kirchenleitungen, evangelische Lehrer und Beamte, um über die „soziale Frage" zu verhandeln. Deutschlands W e g in die industrielle Massengesellschaft warf sozial- und kulturpolitische Folgeprobleme auf, an denen das protestantische Milieu nicht achtlos vorübergehen konnte. Stoecker beabsichtigte, nach dem Fall des Sozialistengesetzes aus dem „Evangelisch-sozialen Kongreß" ein schlagkräftiges politisches Instrument zu formen. Harnack machte vor Eröffnung des Kongresses deutlich, daß er die Dinge ganz anders sah. Sein Anliegen bestand in der Abwehr falscher Ansprüche der kirchlichen Sozialpolitik. Der „Evangelisch-soziale Kongreß" dürfe sich nicht in Aufgaben des Gesetzgebers einmengen. Er dürfe kein eigenes, angeblich „kirchliches" Sozialprogramm entwerfen. Er dürfe bei aller berechtigten Kritik an der staatlichen Politik keine Obstruktion betreiben. Auf gar keinen Fall dürfe der Kongreß der Versuchung erliegen, „das Evangelium in einen neuen Islam" zu verwandeln. Außerdem sprach sich Harnack gegen den sozialpolitischen Mißbrauch der „Judenfrage" aus. 141 Harnacks V o t u m stand am Beginn eines sozialpolitischen Wirkens, welches ihn im Laufe der Jahre bis in die Präsidentschaft des „Evangelisch-sozialen Kongresses" führte. Auf der Berliner Versammlung von Ende Mai 1890 wählten die Delegierten zum Präsidenten zunächst den Landesökonomierat Moritz August Nobbe. Nobbe war ein Kompromißkandidat, von dem eine Strategie zur Integration der kirchen- und sozialpolitisch heterogenen Mitglieder erhofft war. Zwecks Ausbalancierung des Kräftefeldes beriefen die Delegierten Stoecker und Harnack zu stellvertretenden Vorsitzenden. Auch im „Aktionskomitee" waren die Vertreter der verschiedenen kirchlich-theologischen Richtungen annähernd proportional vertreten. Die Harnack-Fraktion stand als Garant dafür, daß der „Evangelisch-soziale Kongreß" keine politische und weltanschaulichen Agitationszentrale gegen die Sozialdemokratie wurde. Er sollte die Plattform für eine umfassende und vorurteilsfreie Debatte von Problemen der Sozialethik und Sozialpolitik sein. Das Interesse an der sozialen Frage war zu Beginn der 1890er Jahre in Preußen weit verbreitet. Harnack stellte also keinen Sonderfall dar. Dennoch erhebt sich die Frage nach den Motiven, die den Kirchen- und Dogmenhistoriker in die Sozialarbeit führten. Die Biographin Agnes von
141 Adolf von Harnack: Der Evangelisch-soziale Kongreß zu Berlin (Teil II, Nr.
III/l).
66
III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
Zahn-Harnack teilt mit, daß Harnacks Übersiedlung nach Berlin 1888 ihm „neue soziale Gesichtspunkte" vermittelt habe. „Die große Stadt wurde für Harnack geradezu ein Studiengegenstand". Bei den Gängen durch die Vororte und Fabrikgegenden wuchsen Solidaritätsempfindungen mit den sozial Unterprivilegierten. Für Harnack galt das neutestamentliche Wort: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?" 1 4 2 Darüber hinaus betrachtete Harnack die Sozialpolitik als Bewährungsfeld für die Praxis christlicher Lebensführung im Geist des Kulturprotestantismus. Nationalökonomie und Volkswirtschaft und die aus ihnen resultierenden sozialen Verhältnisse schlugen auf die gesamte Gesellschaft durch: auf ihre Kulturideen, auf die Stellung der Kirche in der Gesellschaft und auf das religiöse Leben. Insofern war die soziale Frage eine Kulturfrage. Zwischen Volkswirtschaft, Kulturtheorie und Kulturpraxis gab es Wechselwirkungen. Ihre Klärung war Aufgabe der theologischen Sozialethik. Der „Evangelisch-soziale Kongreß brach 1896 auseinander. D i e seit Anbeginn vorhandenen Spannungen zwischen der sozialkonservativen Stoecker-Fraktion (den sogenannten „älteren" Christlich-Sozialen) und der jungen, an sachbezogener Sozialpolitik orientierten Generation ließen sich nicht mehr überbrücken. Stoecker und seine Gesinnungsfreunde trennten sich v o m Kongreß. Stoecker gründete eine eigene „Freie Kirchlich-soziale Konferenz". Vorausgegangen war das Drängen Harnacks und weiterer Mitglieder, Stoecker möge sein A m t als zweiter Vorsitzender niederlegen. D o c h auch in den Kreisen der sozialpolitisch zu neuen Konzepten drängenden Christlich-Sozialen herrschte keine Einmütigkeit. Friedrich N a u m a n n , der bedeutendste Sozialpolitiker der jungen Generation, vermochte nicht mehr zu erkennen, wie aus den Impulsen des Evangeliums Sozialpolitik zu gestalten war. Auch er verließ den Kongreß. Eine zusätzliche Belastung erlebte der Kongreß durch die kirchenbehördliche Bremsung des sozialpolitischen Engagements der preußischen Pastoren in der Ära S t u m m . 1 4 3 Unter dem führungsschwachen Landesökonomie-
142 A g n e s von Z a h n - H a r n a c k : H a r n a c k , a a O . (Anm. 2), S. 2 2 7 . 143 Z u m sozialpolitischen Zickzack-Kurs des Evangelischen Oberkirchenrats in den 1 8 9 0 e r J a h r e n Klaus Erich P o l l m a n n : Landesherrliches K i r c h e n r e g i m e n t u n d soziale Frage. D e r evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche u n d die sozialpolitische B e w e g u n g der Geistlichen nach 1 8 9 0 . Berlin 1 9 7 3 ; zur „Ära S t u m m " neuerdings G ü n t e r B r a k e l m a n n : C a r l F e r d i n a n d S t u m m ( 1 8 3 6 - 1 9 0 1 ) . Christlicher Unternehmer, Sozialpolitiker, Antisozialist. B o c h u m 1 9 9 3 ( S W I - S t u d i e n 13).
2. Sozial- und Bildungspolitik
67
rat Nobbe konnte die Krise des Kongresses nicht überwunden werden. 1901 stellte Nobbe im Aktionskomitee die Frage, „ob das Bestehenbleiben des Kongresses noch wünschenswert sei". 14 Die Kulturprotestanten, die nach Lage der Dinge jetzt die Hauptträger des Kongresses waren, hatten sich zu entscheiden. Die Entscheidung fiel eindeutig aus: Weiterarbeit. 1902 räumte Nobbe den Platz des Präsidenten und machte Harnack den Weg in die Nachfolge frei. Auch in der Position des Generalsekretärs erfolgte ein Wechsel. Neuer Generalsekretär wurde der Berliner Pfarrer Wilhelm Schneemelcher. Nach Nobbes Abgang äußerte Schneemelcher: „Bei aller Hochachtung vor den Verdiensten des Mannes muß ich doch sagen: das ist gut so". Die „Zeit der ängstlich abwartenden Vorsicht, die am liebsten nur aus dem Fenster sieht, aber nicht ins Leben hinaustritt, [ist] nun vorüber." 1 4 5 Harnack führte den „Evangelisch-sozialen Kongreß" von 1903 bis 1911. W a s ihn für die Funktion des Präsidenten empfahl, waren seine wissenschaftliche Reputation, seine Beiträge zum sozialethischen Diskurs und sein Organisationsgeschick. Die Vorbereitung der alljährlichen Tagungen, die Betreuung der „Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses" (ab 1903 „Evangelisch-Sozial") und die weitgespannte Vortragsund Bildungsarbeit erforderten eine tatkräftige Hand. Details der Organisationsarbeit sind in den zahlreichen Briefen überliefert, die der Generalsekretär mit dem Präsidenten wechselte. Unter Harnacks Ägide wurde der Kongreß zu einer theologischen Richtungsorganisation. Es dürfte nicht übertrieben sein, ihn als „ein kulturprotestantisches Forum" zu bezeichnen. 1 4 6 Die kaiserzeitliche Gesellschaft sollte zum Ausgleich der „Agrararistokratie und des Industrialismus, der Bevölkerungsmasse und der verfügbaren Güter, des aufwachenden Selbständigkeits- und Bildungsdranges der Masse und des alten festen Kreises von Bildung und Besitz" gebracht werden. Das waren Worte Ernst Troeltschs, der zu den bedeutenden Theoretikern des Kongresses gehörte. 1 4 7 Als Leitsterne einer sachverstän-
1 4 4 Sitzung des Aktionskomitees v o m 2 3 . J u n i 1 9 0 1 (Archiv des Evangelisch-sozialen Kongresses Leipzig A 1/2 [unpaginiert]). 1 4 5 Schneemelcher an Harnack v o m 2 9 . Januar 1 9 0 5 (Nachlaß Harnack, K a s t e n 4 l ) . 1 4 6 S o Drehsen: „Evangelischer G l a u b e ...", aaO. ( A n m . 1 4 0 ) , S. 2 0 3 . 1 4 7 Ernst Troeltsch: Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft. In: D i e V e r h a n d l u n g e n des f ü n f z e h n t e n Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Breslau am 2 5 . u n d 2 6 . M a i 1 9 0 4 . G ö t t i n g e n 1 9 0 4 , S. 4 0 - 5 7 ; hier S. 4 0 . D i e erweiterte Fassung erschien unter dem Titel: Politische Ethik u n d C h r i s t e n tum. Göttingen 1 9 0 4 .
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
digen Sozialpolitik galten die Teilhabe aller an den Gütern der materiellen und immateriellen „Wohlfahrt" und das Prinzip der sozialpolitischen Sachkompetenz. Obwohl der Kongreß zwischen 1903 und 1911 eine neue Blüte erlebte, kann man nicht von einer umfassenden Erfolgsgeschichte sprechen. Das kulturprotestantische Individualprinzip förderte nicht den Willen zu selbstloser Kooperation. Manches Kongreßmitglied verstand sich allzu sehr als Solist. Als Harnack sich wegen Überlastung durch das Amt des Generaldirektors der Königlichen Bibliothek und des Präsidenten der „KaiserWilhelm-Gesellschaft" aus der Präsidentschaft zurückziehen wollte, gab es ein desillusionierendes H i n und Her um die Nachfolge. Das Amt mit einer Harnack ebenbürtigen Persönlichkeit zu besetzen, erschien als dringend notwendig, um dem einflußstarken Nachfolger Stoecker im Vorsitz der konservativen „Freien Kirchlich-sozialen Konferenz", Reinhold Seeberg, etwas entgegenzustellen. „Ein neuer Präsident?" sinnierte Schneemelcher besorgt; ,,v[on] Soden wird keine Autorität haben, so sehr ich ihn persönlich mag. Titius ist ein rechtschaffender Mann, nur fern von Berlin". Doch sei Titius „immer noch besser wie Troeltsch ..., praktischer, faßlicher, demokratischer". 1 4 8 Als Troeltsch dennoch auf die Präsidentschaft angesprochen wurde, gab der Heidelberger Theologe Harnack einen Korb. „Es thut mir wirlich leid, daß ich Ihnen die Sorge um den Congreß, der in dem letzten Jahrzehnt Ihr Werk u[nd] Ihr Beitrag zum öffentlichen Leben gewesen ist, nicht so abnehmen kann wie Sie es wünschen oder gewünscht haben. Allein die Hindernisse sind bei mir teilweise ähnliche wie bei Ihnen, noch vermehrt dadurch, daß ich mit der Veröffentlichung meiner Arbeitsergebnisse erst beginne und auf meine Arbeitsruhe Rücksicht zu nehmen allen Anlaß habe." 1 4 9 Die Präsidentschaft übernahm schließlich der Kieler Theologieprofessor O t t o Baumgarten, der nicht zu den Favoriten gehört hatte. Entgegen seiner ursprünglich bekundeten Absicht, gemeinsam mit Harnack auszuscheiden, führte Schneemelcher das Amt des Generalsekretärs bis zum Jahr 1921. Harnack nahm über den Generalsekretär auf die Kongreßarbeit weiterhin Einfluß, beispielsweise bei der Beratung über T h e m e n und Referenten. Neben der Sozialpolitik engagierte sich Harnack in der Bildungspolitik. Beiträge zur Bildungspolitik Preußens und des Reichs leistete er bei
148 Schneemelcher an Harnack vom 18. November 1910 (Nachlaß Harnack, Kasten 41). 149 Troeltsch an Harnack vom 29. November 1911 (Nachlaß Harnack, Kasten 44).
2. Sozial- und Bildungspolitik
69
Festlegung des Unterrichtsaufbaus und der Lehrinhalte an den Gymnasien, bei der Umbildung der höheren Mädchenschulen sowie bei der Lehrerinnenausbildung. Da das humanistische Gymnasium einen starken Überhang in der philologisch-historischen Ausbildung besaß, wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts der Druck auf die preußische Unterrichtsverwaltung, die Realgymnasien und die Oberrealschulen auszubauen. Bildungsreformer forderten im Zuge der naturwissenschaftlich-technischen Verstärkung der Abiturzweige eine Reduktion der Bildungsgüter des humanistischen Gymnasiums. Vom 6. bis 9. Juni 1900 fand im preußischen Kultusministerium eine Schulkonferenz statt. Sie erbrachte eine gleichberechtigte Anerkennung aller drei Gymnasialformen. Harnack sah in der Gleichstellung des humanistischen Gymnasiums, des Realgymnasius und der Oberrealschule kein Problem, mehr noch, er hielt sie für erforderlich. Gegen eine Herabsenkung des Niveaus des humanistischen Gymnasiums setzte er sich jedoch zur Wehr. Im Kampf um die „Notwendigkeit der Erhaltung des alten Gymnasiums" wußte er sich mit weiteren Universitätsprofessoren und mit den Direktoren der humanistischen Gymnasien einig. 1 5 0 Die Kenntnis der Antike und der alten Sprachen war für jene Kulturgesellschaft, die Harnack vorschwebte, unverzichtbar. Uber den Unterrichtsaufbau im humanistischen Gymnasium ließ er mit sich reden, über die Sache selber nicht. Mit erheblichem Zeitaufwand verbunden war Harnacks Mitwirkung an der Reform der schulischen Mädchenbildung und der Ausbildung von Lehrerinnen. 1 5 1 Mehr als es ihm lieb war, befand er sich auf diesem Gebiet im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen. Auf der einen Seite stand die preußische Unterrichtsverwaltung, auf der anderen die Frauenbewegung, die energisch die bildungs- und berufspolitische Gleichstellung der Mädchen und Frauen forderte. Zwischen diesen beiden Polen
1 5 0 Vgl. Teil II, Nr. II/2. 151 Grundlegend zur Mädchenschulreform James C. Albisetti: The Reform of female Education in Prussia, 1 8 9 9 - 1 9 0 8 . Α Study in Compromise and Containment. In: German Studies Review 8 ( 1 9 8 5 ) , S. 1 1 - 4 1 ; Zusammenfassung der Problemlage bei Bernd Zymek: Ursachen und Konsequenzen der Verkoppelung des Mädchenschulwesens mit dem höheren Schulsystem in Preußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Karl-Ernst Jeismann (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1 9 8 9 , S. 2 3 2 - 2 4 4 ; ders.: Der Strukturwandel des Mädchenschulwesens in Preußen, 1 9 0 8 - 1 9 4 1 . In: Zeitschrift für Pädagogik 34 ( 1 9 8 8 ) , S. 1 9 1 - 2 0 3 ; in regionaler Perspektive mit Blick auf Preußen Martina Käthner: Der weite Weg zum Mädchenabitur. Strukturwandel der höheren Mädchenschulen in Bremen ( 1 8 5 4 - 1 9 1 6 ) . Frankfurt/New York 1 9 9 4 .
70
III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
bewegten sich in teilweise wechselnder Formation die Gegner und Befürworter der Frauenemanzipation. Die wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der privaten und kommunalen Träger der höheren Mädchenschulen kamen hinzu. Die höheren Mädchenschulen waren in Wahrheit Bildungsanstalten minderen Ranges: sie führten nicht zum Abitur. Lediglich auf dem W e g von Aufbaukursen war die Studienreife zu erlangen. Die höhere Mädchenschule mit speziellen Gymnasialkursen zu kombinieren, hatte in den 1890er Jahren die Zustimmung von Frauenrechtlerinnen wie Helene Lange gefunden. Einige Jahre später wurde dieses Modell jedoch als unzureichend empfunden. Aus Anlaß der Schulkonferenz vom Juni 1900 forderte der Verein „Frauenwohl" unter Vorsitz von Minna Cauer (Berlin) die Einbeziehung der höheren Mädchenschulen in die Reformpläne. Reformbedarf meldeten auch der „Verein für Frauenstudium" und der „Deutsche Verein für das höhere Mädchenschulwesen" an. 1 5 2 Die Wege zum Abitur sollten ausgebaut und rechtlich abgesichert werden. Am 17. März 1902 stellte der preußische Kultusminister Dr. Studt im Abgeordnetenhaus fest, „die Frage der Frauenbildung und des Frauenstudiums beschäftigt die öffentliche Meinung in neuerer Zeit in stetig zunehmendem Maße". Allerdings sah der Minister Strukturreformen nur in begrenztem Ausmaß als notwendig an. Ein „allgemeines Bedürfnis nach gelehrten Schulen" war nach seiner Auffassung nicht vorhanden. Der Minister wollte das Abitur und damit die Hochschulberechtigung besonders begabten Mädchen vorbehalten. 1 5 3 Mit dieser Meinung fand sich die Frauenrechtsbewegung nicht ab. Helene Lange behauptete energisch, die Zahl der abiturwilligen Mädchen sei groß, und ihr müsse Rechnung getragen werden. Harnack wurde durch eine weitere Frauenrechtlerin, die Königliche Oberlehrerin in Berlin Marie Martin, gedrängt, die Partei der Frauen zu ergreifen. Eine Denkschrift Marie Martins — Harnack überarbeitete sie stilistisch und sachlich — enthielt scharfe W o r t e der Kritik an den preußischen Ministerialbehörden. „In Frankreich, England, Amerika ist das Ziel einer gleichwertigen Frauenbildung mit Erfolg angestrebt; Deutschland ist weit zurückgeblieben". Die Widerstände gegen eine zeit-
152 Minna Cauer an Kultusministerium vom 19. Mai 1900; Anita Augspurg („Verein für Frauenstudium") an Kultusministerium vom 19. Mai 1900; Drucksache des „Deutschen Vereins für das höhere Mädchenschulwesen" (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Schmidt-Ott Rep. 92 XXXXVI6 [Frauenstudium, Mädchenschulwesen] H A I , Bl. 155-157 v ). 153 Beilage der Frauenbewegung. Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung. Nr. 9 vom 1. Mai 1902.
2. Sozial- und Bildungspolitik
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gemäße Frauenbildung wüchsen an. Weder Mädchenschulpädagogen noch Frauen hätten Anteil an den Reformüberlegungen. „Im Finanzministerium ist hoffnungsloser Widerstand gegen jede Mehrausgabe für die Frauenbildung; den Widerstand kann nur der Kaiser brechen". Marie Martin drängte Harnack, die Kaiserin für die Ausbildungsrechte der Frauen zu interessieren und fragte, wer einen entsprechenden Brief schreiben solle: „Sie oder ich, Sie und zVA?"154 Ende Januar 1906 fand in Berlin eine Konferenz zur Mädchenschulreform statt. Zu den Teilnehmern gehörten u. a. Harnack, Helene Lange, Marie Martin, Kardinal Kopp, Reinhold Seeberg. Die Konferenz zeichnete Entscheidungen vor, die 1908 in die Bestimmungen über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen einmündeten. 1 5 5 Die Festlegungen erbrachten eine Qualifizierung und den weiteren Ausbau bereits bestehender Abiturmöglichkeiten. Insofern bedeuteten sie die „logische Fortsetzung einer langfristigen schulpolitischen Neuordnung des traditionellen Schulwesens als modernes Gesamtsystem." 1 5 6 Die höhere Mädchenschule, ab 1912 Lyzeum genannt, blieb als Zehnklassenschule der vorherrschende Typus der „höheren" Mädchenbildung. Hinzu kam die weitere Verregelung des Wegs zum Mädchenabitur. Die Ankoppelung der Abiturstufe wertete die höheren Mädchenschulen zu Lehranstalten höherer Ordnung auf. Allerdings hatten von den 945 Mädchenschulen, die 1906 in Preußen bestanden, vier Jahre später erst 339 die Anerkennung als höhere Schule erringen können. Wie Harnack die Mädchenschulreform beurteilte, geht aus einem Aufsatz in der „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" hervor. 157 Bei den Überlegungen zur Lehrplangestaltung in den höheren Mädchenschulen und in den zum Abitur führenden Klassen beteiligte sich Harnack mit detailintensiven Zuarbeiten. Als die Mädchenschulreform ins Werk gesetzt war, bekämpfte er einen fatalen, vom Ministerium nicht vorhergesehenen Nebeneffekt: die Reform der Mädchenschulen eröffnete vor allem männlichen Lehrern mit entsprechender Qualifikati-
1 5 4 Die Denkschrift („Vertraulich!") findet sich im Nachlaß Harnack, Kasten 22; Marie Martin an Harnack o. D. [ 1 9 0 6 ] ebenda. 1 5 5 Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen. Hg. vom Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten 1 9 0 8 , S. 6 9 4 ff.; dazu die Bestimmungen zur Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens vom 3 1 . Mai 1 8 9 4 (Zentralblatt... 1 8 9 4 , S. 4 4 6 ff.). 1 5 6 Zymek: Ursachen, aaO. (Anm. 1 5 1 ) , S. 2 3 8 . 1 5 7 Vgl. Teil II, Nr. II/4.
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
on — akademisches Studium, Oberlehrerexamen — ein neues Berufsfeld. Die Reform barg die Gefahr der Verdrängung weiblicher Lehrerinnen, da deren Qualifikation angesichts der gewachsenen Anforderungen im Bildungsgang der Mädchenschulen in aller Regel nicht mehr ausreichte. Harnack postulierte, die Leitung der Mädchenanstalten gehöre in erster Linie in Frauenhand. Das Prinzip der Parität sei in diesem Falle nicht ausreichend. Problemlos war Harnacks Verhältnis zur Frauenrechtsbewegung nicht. Er beklagte ihre widersprüchlichen Zielvorstellungen und den Mangel an Besonnenheit. W o Solidarität mit ihren berechtigten Forderungen geboten war, zögerte er nicht, die Partei der Frauen zu ergreifen. Für Marie Martin, die unbequeme Mahnerin, die nach Posen versetzt werden sollte, brach er eine Lanze. „Hochverehrte Exzellenz! Soeben erhielt ich diesen Brief! Auch hier kann man nur sagen: Welche Infamie! Ich werde mir erlauben, morgen früh 8 3/4 bei Exzellenz vorzusprechen." 158 Am besten verstand Harnack sich wohl mit Gertrud Bäumer. Hier fand er eigene kritische Urteile über die Frauenbewegung vorweggenommen. 1911 dankte Gertrud Bäumer Harnack im einem Gruß zum 60. Geburtstag namens des „Preußischen Zentralverbandes für die Interessen der höheren Frauenbildung" für seine Mitarbeit an der „Sache der Frauenbewegung". 1 5 9
3. Internationale
Kulturpolitik
Im Grenzbereich zweier Kulturen geboren, besaß Harnack einen wachen Blick für die kulturellen Eigenarten der Völker Europas. Engstirniger Nationalismus lag ihm fern. Harnack verstand die Kulturen der Menschheit als Ausdifferenzierung eines vom göttlichen Geist durchseelten Körpers. Die Kulturen waren untereinander verbunden; sie lösten einander ab und arbeiteten jeweils mit dem Kapital der versunkenen Kultur weiter. Das Menschheitsideal durchlief kulturelle und geographische Metamorphosen und läuterte sich dabei immer klarer zum Ideal des Wahren und Guten. Anklänge an das 18. Jahrhundert, vor allem an Herders Menschheitsideen, sind in Harnacks Schriften allenthalben spürbar. In ethisch-sittlicher Hin1 5 8 Handschrifliche Notiz Harnacks auf einem Brief Marie Martins vom 8. April 1 9 0 6 (Nachlaß Harnack, Kasten 22). 1 5 9 Gertrud Bäumer an Harnack vom 6. Mai 1 9 1 1 (Nachlaß Harnack, Kasten 26). In einem Brief vom 15. Februar 1 9 1 3 bezeichnete sich Gertrud Bäumer als „Schülerin" Harnacks (Ebenda).
3. Internationale Kulturpolitik
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sieht schlossen sich die kulturellen Manifestationen der Völker zu einer eschatologischen Einheit zusammen. Sein Kosmopolitismus hinderte Harnack freilich nicht daran, sich als Preuße und Deutscher zu sehen und darauf stolz zu sein. Die Symbiose der Kulturen gelang erst, wenn jede Kultur ihre Besonderheit in die Menschheitskultur einbrachte. 1899 schlug Paul Sabatier, Abkömmling einer alten Hugenottenfamilie, Harnack die Beteiligung an einer europaweiten Zeitschrift vor. Sie sollte unter den Titel „Le Mouvement intellectuel et religieux" erscheinen und in ihrem Kopf das Motto von Vinet tragen: „La verite n'est rien sans la recherche de la verite". In einem längeren Expose beschrieb Sabatier das Organ als Plattform eines konfessionenübergreifenden Diskurses, welcher aus der Mitarbeit von Korrespondenten mehrerer europäischer Länder lebte. „Puis je compter sur votre affectueux concours? II faudrait que Berlin devrait pour notre feuille un centre de diffusion et d'aetion." 1 6 0 Besondere Aufmerksamkeit wollte Sabatier dem protestantisch-katholischen Austausch schenken. Harnack war im Rahmen einer europaweiten Konfessionspolitik dem Katholizismus nicht abgeneigt. Auch die preußische Kultusbürokratie arbeitete an einer Entkrampfung der Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche. Am 29. Februar 1904 wandte sich Friedrich Althoff an Georg von Hertling, den Vorsitzenden der Görres-Gesellschaft, um seiner Besorgnis über das Luther-Buch Heinrich Denifles Ausdruck zu verleihen. „Ich verstehe gar nicht, wie man es in Rom ruhig mit ansieht, daß in dieser Weise neuer Haß und neue Zwietracht in Deutschland gesät werden. Herr Denifle ist päpstlicher Beamter. An Ihrer Stelle würde ich, ganz vertraulich bemerkt, einmal Merry del Val sprechen, damit der Skandal aufhört. Ich schreibe das aber nicht etwa als Lutheraner, sondern als Freund des Friedens unter den Konfessionen in Deutschland." 161 Harnack zeigte sich bestrebt, die bestehenden konfessionellen Gräben nicht zu vertiefen und nach Verständigungsmöglichkeiten zu suchen. Wo er es für notwendig hielt — bei den Publikationen Denifles und Grisars sowie bei der Borromäus-Enzyklika von 1910 — benutzte er die Waffe der Polemik. 1 6 2 Dennoch versuchte er, der Idee der konfessionellen Versöhnung
1 6 0 Paul Sabatier an Harnack vom 20. Dezember 1 8 9 9 mit Projektbeschreibung des Organs „Le Mouvement intellectuel et religieux" (Nachlaß Harnack, Kasten 4 1 ) . 1 6 1 A l t h o f f an Hertling vom 29. Februar 1 9 0 4 (Abschrift) (Nachlaß Harnack, Kasten 26). 1 6 2 Teil I, Nr. III/5- und 6.
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
den Vorrang zu geben. Bei der Feier zum Geburtstag Wilhelms II. am 27. Januar 1907 hielt er eine Rede über „Protestantismus und Katholizismus in Deutschland". Sie enthielt „fromme Wünsche" zum friedlichen Umgang der Konfessionen. Der „Christenstand" sei wichtiger als der Konfessionsstand. Im Blick auf die Zentrumspartei plädierte Harnack für die Trennung von Konfession und Politik. Das Zentrum müsse als politische Kraft behandelt werden. 1 6 3 Die Mehrheit der protestantischen Zuhörer fand Harnacks Argumente unerhört. Nach dem Vortrag regte sich kaum eine Hand zum Beifall. Das Hauptgewicht der internationalen Kommunikation in konfessioneller Perspektive lag auf dem näheren Zusammenrücken der protestantischen Kulturen und Länder. Auf Harnack ruhten besondere Hoffnungen. Nicht nur deutsche Freunde und Weggenossen hielten ihn für den wichtigsten protestantischen Meinungsführer der Deutschen. Bereits 1896 hatte Lord John Emmerick Acton Harnack gebeten, im Rahmen der „Modern Cambridge History", deren Planung und Realisierung in seinen Händen lag, den Beitrag über die Protestanten zu schreiben. Harnack sollte das „Weltgeschichtliche" des Protestantismus, die „Stellung des Lutherischen Gedankens in der kirchlichen Entwicklung im Großen und Ganzen" darstellen. 164 1905 unterbreitete Althoff Harnack den Vorschlag, ein „Jahrbuch für die evangelische Welt" zu gründen. Wilhelm II. gab seine „lebhafte Zustimmung". Er befand sich damals auf einer Mittelmeerreise. Am 5. April 1905 sollte der kaiserliche Hochseedampfer in Neapel einlaufen. An Harnack erging die Nachricht: „S. M. würden sich sehr freuen, wenn Sie am 5 t e n und den nachfolgenden Tagen ebenfalls in Neapel wären." 1 6 5 Besondere Bedeutung für die protestantische Ökumene besaßen die Beziehungen zur anglo-amerikanischen Welt. Ein Markstein zum Ausbau des deutsch-amerikanischen Verhältnisses war der wissenschaftliche Weltkongreß von 1904 in St. Louis. Der „Congress of Arts and Science" fand im Zusammenhang mit der Weltausstellung von St. Louis statt. Er führte zahlreiche nationale Wissenschaftsdelegationen in die USA. Mitglieder der deutschen Delegation waren u. a. Max Weber, Ernst Troeltsch, Harnack. Eine Reihe namhafter Gelehrter — ζ. B. Edmund Husserl und Wilhelm
1 6 3 Teil I, Nr. III/3. 1 6 4 Acton an Harnack vom 14. Dezember 1 8 9 6 (Nachlaß Harnack, Kasten 26). 1 6 5 A l t h o f f an Harnack vom 5. März 1 9 0 5 (Vorschlag zur Gründung des „Jahrbuchs für die evangelische Welt"); Althoff an Harnack vom 26. März 1 9 0 5 (Bericht über die Reaktion Wilhelms II. und Einladung nach Neapel) (Nachlaß Harnack, Kasten 26).
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Windelband - hatte wegen der zu geringen Reisekostenentschädigung abgesagt. Der Eröffnung am 19. September 1904 in der Festival Hall mit ihren dreitausend Sitzplätzen folgten in den nächsten Tagen 128 „section meetings". Harnack sprach über „The relation between ecclesiastical and general history". Nach dem Kongress bereiste er mehrere amerikanische Universitäten und gab „speeches" and „adresses". Präsident Butler von der Columbia-Universität äußerte sich 1905 höchst anerkennend über die Resonanz des Kirchenhistorikers in den USA, was Wilhelm II. zu der Bemerkung veranlaßte, Harnack müsse „bald wieder hin". Der Pflege der deutsch-britischen Beziehungen dienten in den letzten Friedensjahren des Kaiserreichs mehrere Initiativen. 1906 besuchte eine Delegation deutscher Zeitungsredakteure die britische Hauptstadt, um am Abbau wechselseitiger Vorurteile mitzuwirken. Die Zusammenkunft Wilhelms II. mit King Edward 1908 auf Schloß Friedrichsdorfstand im Zeichen der „Anbahnung eines besseren Verständnisses zwischen dem Deutschen Reiche und England". Ein „Deutsch-Englisches Verständigungskomitee" unter Präsident Dr. von Holleben wirkte ebenfalls in diesem Sinne. 1 6 6 1909 hielt Harnack beim Empfang einer britischen Theologendelegation in Berlin eine Ansprache, 1911 sprach er in London über „Der Friede die Frucht des Geistes." 167 Anlaß der Londoner Rede war eine Friedenskundgebung auf dem Hintergrund der wachsenden Spannungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich im Agadir-Konflikt. Überlegungen zur deutschen Englandpolitik enthielt auch der offene Brief an Friedrich Siegmund-Schultze von 1912. 1 6 8 Harnacks Auslandsbeziehungen waren weitgespannt. Zwischen 1900 und 1914 bereiste er die USA, die Niederlande, Italien, Schweden, Norwegen, Österreich, Finnland, das Baltikum, Großbritannien. Veranlaßt waren diese Reisen zum Teil durch seine Aufgaben als Bibliotheksdirektor, zum Teil als Referent bei Vortragsveranstaltungen, schließlich auch durch seine weiteren amtlichen Funktionen. Recht häufig weilte Harnack als 1 6 6 Die „Pressefahrt" der deutschen Journalisten fand einen breiten publizistischen Niederschlag (Nachlaß Althoff, aaO. [Anm. 38] Rep. 9 2 A I Nr. 308). „The Anglo-German Courier" unter der redaktionellen Leitung von Leo Weinthal diente der Verbesserung der deutsch-englischen Pressekorrespondenz. V o m 14. bis 2 0 . Mai 1 9 0 6 besuchten Vertreter deutscher Städte die britische Hauptstadt (Beilage zur Allgemeinen Zeitung [München] Nr. 1 2 1 vom 26. Mai 1 9 0 6 ) . Das „Deutsch-Englische Verständigungs-Komitee" galt seit 1 9 0 8 als „politischer Verein" im Sinne des Reichsvereinsgesetzes. 1 6 7 Teil II, Nr. IV/1. und 2. 1 6 8 Ebenda, Nr. IV/3.
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
Beiratsvorsitzender des Preußischen Historischen Instituts in Rom. Der italienische König verlieh ihm das Großkreuz des Ordens der italienischen Krone. 1 6 9 Als Baltendeutscher verfolgte Harnack mit besonderer Aufmerksamkeit die Entwicklungen im Russischen Reich sowie die Lage der deutschen Minderheiten in Ost- und Ostmitteleuropa. 1906 setzte er sich für die Verbesserung der Lage der Reichsdeutschen in Rußland ein. Berichte des „Hilfsausschusses für die notleidenden Deutschen Rußlands" lagen vor. 1 7 0 Im Gouvernement Elisabethpol litt die Bevölkerung unter Tartarenüberfällen. In den russischen Ostseeprovinzen machten sich wegen der schlechten Ernteerwartungen Spenden notwendig. In Riga blieben wegen der politischen Unruhen 1905 das Polytechnikum, in Dorpat die Universität geschlossen. Harnack bat dringlichst darum, allen baltischen Studenten, die in Preußen studieren wollten, Unterstützung angedeihen zu lassen. 171 In Zusammenarbeit mit dem Sohn seines einstigen Lehrers in Dorpat, Roderich von Engelhardt, organisierte Harnack 1913 H o c h schulkurse in Riga, bei denen als Referent auch Ernst Troeltsch auftrat.
4. Weltkrieg und Staatsumbruch In den Jahren des Ersten Weltkriegs entwickelte sich Harnack, der Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisator, zum Politiker. D a ß im Krieg die wissenschaftliche Arbeit hinter die Interessen der Politik zurückzutreten bzw. ihnen zu dienen haben, galt in der Gelehrtenwelt Deutschlands weithin als selbstverständlich. Der Historiker H e r m a n n Oncken drahtete aus Heidelberg: „stelle mich auswärtigem amt grundsaetzlich sofort zur Verfügung." In Straßburg bot Georg Simmel dem preußischen Kriegministerium seine Dienste zur Abfassung von Propagandaschriften an. 1 7 2
169 Verleihungsurkunde vom 9. August 1908 (Nachlaß Harnack, Kasten 1). Weitere Dokumente zu den Auszeichnungen und Ernennungen Harnacks ebenda. 170 Nachlaß Althoff, aaO. (Anm. 38), Rep. 92 A II Nr. 161, Bl. 13-15 r . 171 Bleistiftnotiz Harnacks vom 23. März 1906 auf dem von Althoff in Umlauf gesetzten „Lagebericht ..." (Ebenda). 172 Oncken telegraphisch an Ministerialdirektor Dr. Schmidt vom 12. November 1914; Zentralstelle für Auslandsdienst an Minsterialdirektor Dr. Schmidt vom 10. April 1915 mit Bezug auf ein Schreiben Simmeis an das Preußische Kriegsminsterium (Nachlaß Schmidt-Ott, aaO. [Anm. 152], Rep. 92 B-LXXXV, Bl. 12; Bl. 63).
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Harnack stand mit den Spitzen des Deutschen Reiches auf vertrautem Fuße. Sich ihnen eigens zu empfehlen, war in seinem Fall nicht nötig. In den ersten Kriegstagen entwarf er auf Wunsch von Staatssekretär Clemens Delbrück die Ansprache Wilhelms II. an das deutsche Volk. Der berühmt-berüchtigte Aufruf „An die Kulturwelt!" vom 4. Oktober 1914, der eine Solidarisierung von 93 Intellektuellen und Künstlern mit der Kriegsnation enthielt, trug neben vielen weiteren prominenten Unterschriften — M a x Planck, Wilhelm Nernst, Wilhelm Waldeyer, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf- auch die Unterschrift Harnacks. 1 7 3 Das deutsche Heer sei nichts anderes als „das deutsche Volk in Waffen", erläuterte Max Planck später unter Dämpfung der nationalistischen Tonlage im „Algemeen Handelsblad" die Zielstellung des Aufrufs, „und wie alle Berufsstände sind auch die Gelehrten und Künstler unzertrennlich mit ihm verbunden". 1 7 4 Harnack hielt es für selbstverständlich, daß „Wehrkraft und Wissenschaft" miteinander in engste Verbindung zu treten hätten. Als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek sorgte er für die Zusammenstellung von Feldbibliotheken und für die Dokumentation des Krieges durch die Sammlung von Flugblättern, Plakaten, phonographischen Platten. Als Gelehrter stellte er sich für Bildungsvorträge des deutschen Heeres zur Verfügung, beispielsweise in Warschau, Brüssel und Budapest. Als Wissenschaftsorganisator war er an der Wiederherstellung oder am Neuaufbau von Universitäten und Bibliotheken in den besetzten Gebieten beteiligt. Die deutsche Gelehrtenwelt hegte die Überzeugung, gegen das Deutsche Reich werde nicht nur auf den Kriegsschauplätzen gekämpft. Die Feindnationen hätten auch einen „Kulturkrieg" angezettelt. Das preußische Kultusministerium und die Reichsinstanzen verstärkten im Gegenzug die Einladungspolitik für deutsche Gelehrte in neutrale Länder und förderten Vortragsreisen zur „Aufklärungsarbeit". Friedrich Meinecke plante in Zusammenarbeit mit der Verlagsbuchhandlung R. Oldenbourg eine Serie von Monographien unter dem Titel „Fünf germanische Nationen". Mitarbeiten sollten Autoren der Schweiz, der Niederlande, Däne-
1 7 3 B e r n h a r d v o m Brocke: „Wissenschaft u n d Militarismus". Der A u f r u f der 9 3 „An die Kulturwelt!" und der Z u s a m m e n b r u c h der internationalen G e l e h r t e n republik im Ersten Weltkrieg. In: W i l l i a m M . Calder III u. a. (Hg.): W i l a m o w i t z nach 5 0 Jahren. D a r m s t a d t 1 9 8 5 , S. 6 4 9 - 7 1 9 . 1 7 4 Brief M a x Plancks an Η. A . Lorentz, publiziert im A l g e m e e n Handelsblad v o m 1 1 . A p r i l 1 9 1 6 . Eine K o p i e dieses Briefes w u r d e v o n Lorentz an n a m h a f t e G e l e h r t e übersandt.
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marks, Schwedens und Norwegens. „Deutschland wird auch auf diesem Gebiete zeigen, dass das Gerede, es wolle die kleinen Nationen vergewaltigen, eine d u m m e und gehässige Verleumdung ist." 1 7 5 Nach einer polemischen Veröffentlichung französischer Gelehrter über „Les Allemands et la science" wurde Harnack gebeten, geeignete Aktionen vorzuschlagen. Im Auswärtigen Amt und im preußischen Kultusministerium gingen Ideen zu einer umfassenden Darstellung der „science allemande" um. Der ebenfalls hinzugezogene Ernst Troeltsch erkannte freilich schnell, daß mit Apologien nicht viel zu gewinnen sei. „Der Hauptanstoß in der Welt sind ... unsere inneren Verhältnisse. Die Tatsache selbst ist völlig klar und es wäre fast kindlich zu meinen, daß wir durch Darlegung unserer wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen irgend etwas daran ändern können." 1 7 6 Unter waffentechnischen und kriegswirtschaftlichen Aspekten kam den Instituten der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" erhebliche Bedeutung zu. Ein kriegswirtschaftliches Gesamtkonzept wurde in der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" nicht entwickelt, wohl aber beteiligten sich mehrere Institute an der Kriegsführung. 1 7 7 In Fritz Habers „Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie" wurden die sogen a n n t e n Ni-Geschosse entwickelt, Schrapnells mit chemischer Reizwirkung, außerdem weitere Waffen für den Gaskampf. Seit Februar 1916 stand das Institut unter militärischer Leitung. Das „Kaiser-Wilhelm-Institut für experimentelle Therapie" befaßte sich mit der Serum-Entwicklung gegen Paratyphus, Fleckfieber, Ruhr und Gasbrand. Im „KaiserWilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie" experimentierte man auf dem Gebiet der Kriegsernährung. Harnack, der Präsident, war im Rahmen der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" an den Beiträgen der Wissenschaft zur Kriegsführung beteiligt. Er verstand sich nicht als Gelehrter, der nur mit der Waffe des Wortes arbeitete. Er wollte ein Mitgestalter der Politik sein. Als die deutschen T r u p p e n im Frühjahr 1915 auf Riga zumarschierten, bot er dem Reichskanzler seine Spezialkenntnisse als Balten-
175 Expose Friedrich Meineckes und der Verlagsbuchhandlung R. Oldenbourg vom Herbst 1915 (4 Schreibmaschinenblätter) im Nachlaß Schmidt-Ott, aaO. (Anm. 152), Bl. 132-133". 176 Troeltsch an Dr. Schmidt vom 30. März 1917 (Abschrift) Nachlaß SchmidtOtt, aaO., (Anm. 152) Rep. 92 B-LXXXV, Bl. 159 r v. 177 Lothar Burchardt: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg. In: Vierhaus/ vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld, aaO. (Anm. 2). S. 163-196.
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deutscher an. „Was mir vorschwebt, ist, der, sei es militärischen, sei es Zivil-Verwaltung zur Beratung beigegeben zu werden." 1 7 8 An die Einverleibung des Baltikums in das Deutsche Reich dachte Harnack allerdings nicht. Diese Position trug ihm schwere Vorwürfe der alldeutschen Annexionisten, aber auch zahlreicher baltendeutscher Landsleute ein. Harnack meinte, das Deutsche Reich führte einen Verteidigungskrieg. Angesichts der Stärke des Gegners sei es schon ein Erfolg, wenn Deutschland seinen geopolitischen Bestand, das Kolonialreich eingeschlossen, erhalten könne. Aus G r ü n d e n politischer Vernunft gehörte Harnack zu den Anhängern einer maßvollen Kriegszielpolitik. Er war Mitglied der „Freien Vaterländischen Vereinigung". Konzeptionell im „Mittwochabend" von Harnacks Schwager Hans Delbrück vorbereitet, unterstützte die „Freie Vaterländische Vereinigung" die politische Leitung des Reiches gemäß dem Kriegszielprogramm des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Im „Deutschen Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden" unter Vorsitz des Generaladjutanten des Kaisers, Karl Fürst von Wedel, fungierte Harnack als zweiter Vorsitzender. Dieses „Komitee zur 'Propaganda der Vernunft'", wie es der Chef des Geheimen Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, nannte, stand unter dem Einfluß von hohen Beamten der Reichskanzlei und des Auswärtigen Amtes. 1 7 9 Eine politische Denkschrift Harnacks vom Sommer 1916 ist im Zusammenhang mit der damaligen Kriegszieldiskussion zu sehen. 180 Die Diskussion sollte in einem Umfange erfolgen, „welcher die Sicherheit der belagerten Festung Deutschland nicht gefährdet." Durch innenpolitische Reform wollte Harnack mit seiner Denkschrift den kommenden Frieden vorbereiten helfen. Ende 1916 stellte der Ausschuß wegen mangelnder organisatorischer Kraft seine Tätigkeit
178 Agnes von Z a h n - H a r n a c k : H a r n a c k , aaO. (Anm. 2), S. 465. 179 Willibald Gutsche: Deutscher Nationalausschuß f ü r einen ehrenvollen Frieden ( D N A ) . In: Dieter Fricke u. a. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen u n d kleinbürgerlichen Parteien u n d Verbände in Deutschland (17891945). In vier Bänden. Leipzig 1983-1986. Band 2 (1984), S. 197-200; hier S. 197. 180 Teil II, Nr. IV/9. H a r n a c k versuchte die Kriegszieldiskussion, in der es auch u m die stärkere V e r b i n d u n g von A u ß e n - u n d Innenpolitik ging, mit politischen Meinungsträgern in der deutschen Gelehrtenwelt abzustimmen. Eine Beleg d a f ü r sind Briefe H e r m a n n O n c k e n s an H a r n a c k vom 18. April u n d vom 1. O k t o b e r 1916 (Nachlaß Harnack, Kasten 38). 181 D r u c k : Schultheß' Europäischer Geschichtskalender, N e u e Folge, 1. Teil, 32. Jahrgang 1916. M ü n c h e n 1921, S. 345.
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
ein. Gleichwohl gingen die von der Führung des Reiches als notwendig angesehenen Debatten u m die außenpolitischen Ziele und die künftige Gestalt Deutschland weiter. Im J u n i 1917 legte Harnack eine weitere politische Denkschrift vor. Sie enthielt Forderungen nach Erhaltung der physischen und sittlichen Kraft des deutschen Volkes auf der Basis einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen N e u o r d n u n g D e u t s c h l a n d s . 1 8 2 Dieser reformpolitische Ansatz sollte der Stabilisierung der Monarchie durch Modernisierung dienen. Im Mai 1917, mithin kurze Zeit vor seiner zweiten Denkschrift, stellte Harnack in einer Berliner Vortragsreihe, an der auch Friedrich Meinecke, Max Sering, Ernst Troeltsch und O t t o Hintze mitwirkten, klar: „Wir wollen die Freiheit aus unserer Vergangenheit und mit unserer Vergangenheit: denn nur so können wir sie behaupten und fördern! D a z u gehört die untrennbare Einheit mit unserem sozialen Kaiser- und Königtum, von dem uns keine Macht der Erde scheiden k a n n . " 1 8 3 Diese starken Worte enthielten ein Treuebekenntnis zur Monarchie, doch auch die Einsicht, daß die deutsche Geschichte noch anderen Gesetzen gehorchte als denen der Loyalität zu Wilhelm II. D i e Berliner Vorträge waren Teil des Aktivitätenspektrums der „Deutschen Gesellschaft 1914". A m 28. November 1915 gegründet, bestand ihre Aufgabe in der Pflege der „Einheit des Vaterlandes", d. h. in der innenpolitischen Integration über alle Partei- und Gruppengrenzen hinweg. N u r wenn der „Burgfrieden" bewahrt blieb und seine Vertiefung im politisch-kulturellen Diskurs erhielt, vermochte das Deutsche Reich unter dem äußeren D r u c k des Krieges und dem inneren D r u c k der gesellschaftlichen Widersprüche in Deutschland zu bestehen. Als prominentes Mitglied der „Deutschen Gesellschaft 1 9 1 4 " wehrte sich Harnack gegen die Preisgabe sittlicher Maßstäbe zugunsten militärischen Machtgewinns. D e n „Abschied von der weißen Weste", d. h. von der Moral, hielt er für nicht statthaft. 1 8 4 U m der im Kriegsverlauf spürbar wachsenden Resignation etwas entgegenzusetzen, stellte Harnack unter dem Titel „Aus der Friedens- und Kriegsarbeit" einen neuen B a n d seiner „Reden und Aufsätze" zusammen. Im Wintersemester 1 9 1 6 / 1 7 wiederholte er seine Vorlesung über „ D a s Wesen des Christentums". Die Berliner Theologische Fakultät nahm unter den Verhältnissen des Krieges die seit 1870 stillgelegte Tradition des Akademischen Gottesdienstes wieder auf. Seit dem 5. N o v e m -
182 Teil II, Nr. IV/10. 183 Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge. Gotha 1917, S. 17. 184 Teil II, Nr. IV/7.
4. Weltkrieg und Staatsumbruch
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ber 1916 predigten die Professoren im festen Turnus. Harnack trat am 4. März 1917 und am 28. Juli 1918 auf die Kanzel, um die Hoffnung auf das Reich Gottes und den „inwendigen Menschen" auch im Ausnahmezustand des Krieges nicht erlahmen zu lassen. 185 W i e energisch Harnack an der Neige des Kaiserreichs für einen Ausgleich im Gesellschafts- und Klassenantagonismus kämpfte, bewies eine von ihm in den Räumen der Königlichen Bibliothek geleitete Sitzung vom 10. Oktober 1918. An ihr nahmen Vertreter der Annexionistenpartei ebenso teil wie Vertreter des Verständigungsfriedens. Die Teilung Deutschlands in unversöhnliche politische Lager sollte für den Fall des Friedensschlusses durch gemeinsames Handeln überbrückt werden. „... im Fall der äußersten Not können wir uns doch wieder treffen und gemeinsam miteinander arbeiten." 1 8 6 Die innenpolitische Reform des Deutschen Reichs kam zu spät und war nicht kraftvoll genug. Mit der sich im Herbst 1918 grell abzeichnenden Kriegsniederlage trieb die Entwicklung auf den Staatsumsturz zu. Im November 1918 dankte Wilhelm II. als deutscher Kaiser und preußischer König ab. Sofern im Gedanken des Volkskaisertums die Volksherrschaft angelegt war, war der Wandel der staatlich-politischen Form Deutschlands in der Novemberrevolution 1918 weniger revolutionär, als es auf den ersten Blick schien. So sah es Friedrich Meinecke. Mit Meinecke deuteten auch andere nationalliberale Gelehrte den Staatsumsturz nicht als Katastrophe, sondern als zwar schmerzlichen, doch notwendigen Prozeß der Erneuerung. Harnack verbot sich vor den Ereignissen des Novembers 1918 eine regressive Haltung. Hochkonservative Monarchisten legten ihm das als üblen Opportunismus aus. Harnack verteidigte sich: „Wenn die Wissenschaft nicht sterben, die Studenten nicht verhungern, die materiellen Interessen nicht alles verschlingen sollen, so muß man sich auf den Boden des Gegebenen stellen und nicht nur das Beste aus ihm zu machen versuchen, sondern es selbst verbessern. Dazu brauchte man eine freundliche Verhandlung mit Reich und Staat und mit Reichstag und 1 8 5 Teil I, Nr. V/7. und 8. Der Akademische Gottesdienst wurde zuerst in den Jahren 1 8 4 7 - 1 8 7 0 gehalten, nachdem C. I. Nitzsch 1 8 4 7 an der Universität eine evangelische Predigerstelle begründet hatte. Seine Aufhebung erfolgte wegen „Mangel an Bedürfnis" im Jahr 1 8 7 0 . Nach Wiederaufnahme am 5. November 1 9 1 6 wurde der Gottesdienst bis 1 9 2 3 gehalten (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, Reichserziehungsministerium Nr. 1 2 3 9 , Bl. 3; Rep. 7 6 V a Sekt. 2 Tit. I Nr. 8). 1 8 6 Das Protokoll dieser Sitzung ist abgedruckt bei Günter Brakelmann: Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1 9 1 7 . Witten 1 9 7 4 , S. 2 9 7 - 3 0 8 (Kirche und Politik 1).
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III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
Landtag und dies fort und fort... der Ideologe wird k e i n Vaterland mehr vorfinden, das er nach seinem Plan formen kann, wenn er sich aus der Gegenwart zurückzieht." 187 Harnack war kein politischer Programmatiker, sondern ein Denker des Situativen. Seine Domäne war die konkrete Arbeit. Vor politischen Grundsatzfragen wich er zurück. Das galt für die Staatsverfassung, den militärischen Sektor, den sozialen Aufbau der Gesellschaft und anderes mehr. Die Unentschiedenheit im Programmatisch-Politischen, die allerdings nicht mit Indifferenz in der politischen Ethik zu verwechseln war, befähigte ihn, im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik in gleicher Loyalität an den öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken. War es schon im religiös-theologischen Bereich schwer, ihn umstandslos einer bestimmten Fraktion zuzuordnen, so galt das nun auch für die Politik. Sicher war nur, daß man Harnack nicht unter den Status-quo-Konservativen suchen durfte. Indem er sich für die Wandlungen der politischen Geschichte Deutschlands offenhielt, stand er aus Gründen der historischen und pragmatischen Vernunft auf der Seite des Neuen, ohne sich parteipolitisch zu binden. Die Evangelische Kirche der Altpreußischen Union ließ ihr distanziertes Verhältnis zu Harnack in den Umbrüchen von 1918/19 dem Geist der Zusammenarbeit weichen. Bei den schwierigen Problemen der Trennung von Kirche und Staat sowie bei der verfassungsrechtlichen Neubestimmung der Kirche in der Gesellschaft konnte sie auf einen Theologen von Harnacks Kompetenz nicht verzichten. Sie berief ihn in den Vertrauensrat der Altpreußischen Landeskirche, ein aus Mitgliedern des Evangelischen Oberkirchenrats, des Generalsynodalvorstands und „kirchlichen Vertrauensmännern" zusammengesetztes Gremium. 1 8 8 Die Arbeitsgegenstände des Vertrauensrats waren die Neuordnung der Kirchenverfassung, die Schaffung eines kirchlichen Wahlgesetzes, die Neuordnung der kirchenregimentlichen Funktionen nach Abdankung von Wilhelm II. als surnmus episcopus. Harnack arbeitete im Unterrichtsausschuß mit.
1 8 7 H a r n a c k an W i l h e l m Stapel v o m 24. S e p t e m b e r 1 9 2 5 . D r u c k : Agnes von Z a h n H a r n a c k : H a r n a c k , a a O . ( A n m . 2). S. 4 8 3 f. 188 Z u r T ä t i g k e i t des Vertrauensrats generell J o c h e n Jacke: Kirche zwischen M o n archie u n d R e p u b l i k . Der preußische Protestantismus nach d e m Z u s a m m e n bruch von 1 9 1 8 . H a m b u r g 1 9 7 6 ( H a m b u r g e r Beiträge zur Sozial- u n d Zeitgeschichte 12); zur M i t w i r k u n g H a r n a c k s in diesem G r e m i u m Evangelisches Z e n t r a l a r c h i v Berlin ( E Z A ) 7 / 8 5 3 ( D i e T r e n n u n g v o n S t a a t u n d K i r c h e 1.3.1919-30.4.1919).
4. Weltkrieg und Staatsumbruch
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Ihm oblag die Mitarbeit bei der Neugestaltung des Religionsunterrichts an den Schulen und die Sicherstellung der theologischen Fakultäten an den Universitäten. Um liberalen Forderungen nach Herausbrechung der theologischen Fakultäten aus dem Universitätsbetrieb entgegenzuwirken, verfaßte Harnack eine Denkschrift an das preußische Kultusministerium. Für den Fall, daß die theologischen Fakultäten wegfielen, hatte die Kirche Sorge zu tragen, daß die dann einzurichtenden kirchlichen Seminare in Universitätsstädten errichtet und die Theologen den Studenten an den Universitäten gleichgestellt wurden, „um den geistlichen Beruf gegen andere akademische Berufe nicht absinken zu lassen." 1 8 9 Unter veränderten Verhältnissen erneuerte Harnack Überlegungen von 1895 zum Übergang der akademischen Theologenausbildung in die Verantwortung der Kirche. Seine Präferenz lag nach wie vor bei den staatlichen theologischen Fakultäten. In den einschlägigen Bestimmungen der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 wurde der Bestand der theologischen Fakultäten an den staatlichen Hochschulen sichergestellt. Nicht immer blieb Harnack in den Debatten um das Theologiestudium als Berater unumstritten. So fand seine Erwägung, zur Entlastung des Studiums und zugunsten der etwaigen Aufgaben der Pfarrer als Religionslehrer auf die hebräische Sprachausbildung zu verzichten, keinen Beifall. Gegen diesen Vorschlag wandte sich Graf Baudissin mit einer gutachterlichen Äußerung. Auch der Evangelische Oberkirchenrat meinte klipp und klar: Hebräisch müsse bleiben. Harnacks Vorschlag war der Annahme entsprungen, das Studium werde von acht auf sechs Pflichtsemester zusammengestrichen. Nur Reinhard Mumm, der westfälische Sozialpfarrer und Mitglied der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, der Anfang 1919 ebenfalls von der drohenden Reduktion der Pflichtsemester ausging, hatte sich Harnacks Vorschlag angeschlossen. 190
1 8 9 Vgl. Teil I, Nr. VI/6; Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Evangelischem Oberkirchenrat, Generalsynodalvorstand und Vertrauensrat vom 10. April 1 9 1 9 (EZA 7/853). Der preußische Kultusminister Haenisch dankte Harnack ausdrücklich für dessen in den „Preußischen Jahrbüchern" veröffentlichte Denkschrift. „Mir selbst war es von Anfang an klar, daß bei der Neuordnung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche die Frage der theologischen Fakultäten eine besonders wichtige Rolle zu spielen haben werden. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich gerade diese Angelegenheit mit allem Ernst und aller Gewissenhaftigkeit behandeln werde. Dabei wird mir Ihr Aufsatz, gegebenenfalls auch Ihr persönlicher Rat, von allergrößter Wichtigkeit sein" (Haenisch an Harnack vom 12. März 1 9 1 9 [Nachlaß Harnack, Kasten 32]). 1 9 0 EZA 7/853 (Sitzungsprotokoll vom 10. April 1 9 1 9 ) .
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IV. Die letzten Lebensjahre
Auch die Politiker nahmen Harnacks Rat in Anspruch. Im Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung äußerte sich Harnack als Sachverständiger der Regierung in den Beratungen vom 1. bis 4. April 1919 zur Trennung von Kirche und Staat und zum Religionsunterricht. 1 9 1 Wenige Tage später nahm er an den Verhandlungen der Reichsschulkonferenz in Berlin zu Problemen der schulischen Organisation und der Lehrerbildung teil. Den egalitären Gedanken der Einheitsschule lehnte er ab und plädierte für ein mehrstufiges Schulsystem, in welchem die gymnasiale Oberstufe einen klar erkennbaren Platz behielt.
IV. Die letzten Lebensjahre Ein Gesetz des Freistaats Preußen von 1920 bestimmte, daß Lehrer an wissenschaftlichen Hochschulen nach Vollendung des 68. Lebensjahres von ihren amtlichen Verpflichtungen zu entbinden seien. Mit dem Datum des 1. April 1921 fand das Gesetz auch auf jene Professoren Anwendung, die die Altersgrenze überschritten hatten. „Die amtliche Tätigkeit Eurer Exzellenz", teilte der preußische Kultusminister Haenisch am 17. März 1921 mit, „wird somit zu meinem Bedauern am 1. April d. Js. ihr Ende erreichen". 1 9 2 Mit diesem Bescheid endete Harnacks Laufbahn als aktiver Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Berlin. Einige Wochen vorher war Harnack auf eigenen Wunsch aus dem Amt des Generaldirektors der Staatsbibliothek ausgeschieden und führte die Geschäfte bis zur Neubesetzung nur noch kommissarisch. Im Blick auf die Universitätsprofessur äußerte der Minister die Hoffnung, „daß die Berliner Universität ihren großen Forscher und Lehrer auch nach der Emeritierung in ihrem Kreise weiter wirken sieht". Haenischs Vorgänger im Ministeramt, Schmidt-Ott, versuchte zu trösten: „Was kann Ihnen der wertevernichtende sozialistische Staat anhaben, selbst wenn er, was ich noch nicht glauben kann, mit der dummen Altersklausel in Ihr amtliches Wirken eingreift. Er richtet sich damit selbst". Als Emeritus führte
1 9 1 Jacke: Kirche zwischen Monarchie und Republik, aaO. (Anm. 188), S. 1 1 9 151. 1 9 2 Der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Harnack vom 17. März 1 9 2 1 (gez. Becker) (Archiv der Humboldt-Universität/Personalakte Harnack). Eine ausführliche Fassung dieses amtlichen Schreibens im Nachlaß Harnack, Kasten 1.
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Harnack sein „Kirchenhistorisches Seminar" bis zum Sommer 1929 weiter. In den letzten Semestern hielt er es in seinen Privaträumen ab. 1 9 3 Am 7. Mai 1921 feierte Harnack seinen 70. Geburtstag. Die Gratulanten waren diesmal noch zahlreicher als bei der Feier des 60. Geburtstages 1911. Freunde, Schüler und Mitarbeiter veranstalteten drei Festschriften. „Die Christliche Welt" widmete dem Jubilar eine eigene Nummer. Auch andere Zeitschriften brachten Sonderausgaben heraus. Nathan Söderblom, Erzbischof von Uppsala, telegraphierte: „der bahnbrecher im wunderlande der kirchengeschichte der begeisternde lebensspender für religiöses forschen und denken der meister der universalen geisteswissenschaften wird dankbar und herzlich gehuldigt" 1 9 4 . Die Geburtstagsgrüße erweckten nicht den Eindruck, als habe es die gelehrte Welt mit einem Abschied zu tun. Tatsächlich scheinen die Schatten über Harnacks letztem Lebensjahrzehnt weniger durch die kulturpolitischen Realitäten als durch eine bestimmte theologiepolitische Sichtweise verursacht zu sein. Der theologische Paradigmen Wechsel nach 1918 erzeugte die Suggestion, als sei der Kulturprotestantismus hoffnungslos überlebt. Dieser theologischen Binnenperspektive steht im Falle Harnacks ein weiterhin äußerst reichhaltiges Wirkungsfeld in Kultur, Gesellschaft und Staat gegenüber. Zweifellos paßte manches von Harnacks kulturellem und theologischen Stil nicht mehr in die zwanziger Jahre. Einige Reden und Aufsätze aus jener Zeit wirken, als seien die Erschütterungen der Epoche folgenlos an ihnen vorübergegangen. 1 9 5 Andererseits war die Gesellschaft Weimars noch immer
1 9 3 Schmidt-Ott an Harnack vom 15. Dezember 1 9 2 2 (Nachlaß Harnack, Kasten 4 1 ) . Vgl. zu den Hintergründen der Entpflichtungsvorgänge den Briefentwurf Harnacks vom 2 1 . Januar 1 9 2 1 mit dem Gesuch, die Generaldirektorenstelle zurückzugeben, um sich ganz der Universitätsprofessur zu widmen. Möglicherweise stand dabei § 1.3 des „Gesetzes betr. Diensteinkommen der unmittelbaren Staatsbeamten" vom 7. Mai 1 9 2 0 im Hintergrund. Das Gesetz verfügte lediglich einmalige Gewährung des Grundgehalts bei Tätigkeit in mehreren Amtern. Mit Datum des 1. April 1 9 2 0 war die Universitätskasse angewiesen worden, Harnacks Bezüge als Universitätsprofessor nicht mehr auszuzahlen. Ein Schreiben Haenischs an Harnack vom 25. Januar 1 9 2 1 enthielt Harnacks Entlassung als Bibliotheksdirektor mit Wirkung vom 1. Februar 1 9 2 1 bei gleichzeitiger (Neu-) Bewilligung eines Professorengehalts von 1 9 0 0 0 , - D M mit Zuschlägen (Nachlaß Harnack, Kasten 1). Diese Neubewilligung trat mit der Anwendung der Ruhestandsklausel auf Harnacks Professorentätigkeit in ein verändertes Licht. 1 9 4 Sammlung zu Harnacks 70. Geburtstag (61 Blatt) im Nachlaß Harnack, Kasten 1. 1 9 5 Teil II, Nr. II/6; Nr. III/8.
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traditional geprägt. Maßgebliche Akteure und Meinungsführer in der Politik, der Wirtschaft, der Staats- und Wissenschaftsbürokratie feierten in Harnack nach wie vor den „fesselnden Großwürdenträger deutschen Geisteslebens". Der sozialdemokratische Reichspräsident könne ihm ebenso seine H u l d i g u n g darbringen wie der in D o o r n exilierte Kaiser, meinte die „Vossische Z e i t u n g " . 1 9 6 In der Politik blieb Harnack ein M a n n für alle Fälle. A m 15. April 1921 nahm er an einer Protestversammlung gegen die Abtrennung Oberschlesiens v o m deutschen Reichsgebiet teil und forderte „im N a m e n Europas", einem entwaffneten Volk Recht und Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. I m Herbst 1921 ersuchte ihn die deutsche Reichsregierung, den Posten des Botschafters in Washington zu übernehmen. 1 9 7 Für diesen personalpolitischen Schachzug in der deutschen Nachkriegspolitik sprach Harnacks überragendes Ansehen in der anglo-amerikanischen Welt. 1924 engagierte sich Harnack auf einer internationalen K u n d g e b u n g über „ D a s Friedenswerk von Paris und die N o t der Völker". Bei großen Wissenschaftsund Kulturereignissen, etwas bei der Feier zum 700jährigen J u b i l ä u m der Universität Neapel, bat ihn das Auswärtige A m t um Teilnahme als Repräsentant Deutschlands. 1 9 8 1 9 2 7 organisierte die Sorbonne im G e b ä u d e des College de France eine Harnack-Ehrung. 1 9 9 Als Anwalt intereuropäischer Zusammenarbeit stand Harnack in Frankreich in hohem Ansehen. N a c h seiner Eröffnungsansprache bei der G r ü n d u n g der „commission nationale de Cooperation intellectuelle allemande", einer S u b k o m m i s s i o n des Völkerbundes, bezeichnete eine französische Kulturzeitschrift ihn als „grand promoteur des relations intellectuelles internationales." 2 0 0 Innenpolitisch beteiligte sich Harnack an der Festigung der Republik. Er lehnte den Dünkel der Konservativen vor dem Alltag der Weimarer Demokratie ab. Deutschland konnte seine Rolle in der Weltkultur und auf d e m Parkett der europäischen Politik nur spielen, wenn Staat und Gesellschaft sich auf der Linie des demokratischen Kräfteausgleichs bewegten. 196 V o s s i s c h e Z e i t u n g v o m 1. J u n i 1 9 2 3 . 1 9 7 Agnes v o n Z a h n - H a r n a c k : H a r n a c k , a a O . ( A n m . 2 ) , S. 5 0 6 f. 198 Auswärtiges A m t an H a r n a c k v o m 16. Februar 1 9 2 4 ( N a c h l a ß H a r n a c k , K a sten 2 6 ) . 199 Universite de Paris/Facultd des Lettres an H a r n a c k v o m 1. M a i 1 9 2 7 ( N a c h l a ß H a r n a c k , Kasten 4 6 ) . A u s K r a n k h e i t s g r ü n d e n k o n n t e H a r n a c k nicht nach Paris reisen ( „ N o u s avons tres vivement r e g r e t votre absence et regrette - surtout — qu'elle vous f ü t i m p o s t par o r d o n n a n c e de m e d e c i n " ) . 2 0 0 L a C o o p e r a t i o n intellectuelle. Revue de l'Institut international de c o o p e r a t i o n intellectuelle de la societe des nations N r . 19 v o m 15. Juli 1 9 3 0 , S. 3 6 2 f.
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Rechte und linke Extreme fand er schädlich. Es würde gern einmal eine „Psychologie der Mittleren" schreiben, meinte er. Die „Mittleren" sähen „nichts punktuell, sondern fassen alle äußeren und inneren Vorgänge auf einer Linie auf; darum haben sie eigentlich auch keinen Standort, sondern nur eine Richtung". Vor unbequemen Entscheidungen schreckte Harnack nicht zurück. Als es in der Reichspräsidentenwahl von 1925 um Hindenburg oder Wilhelm Marx ging, entschied sich Harnack für Marx. Er fragte, ob die Anhänger des Generalfeldmarschalls a. D. wirklich glaubten, daß die kulturellen, religiösen und staatsbürgerlichen Belange Deutschlands bei Hindenburg besser aufgehoben seien als bei dem erfahrenen Politiker und erprobten Staatsmann Marx. Harnacks Votum kam in zahlreichen republiknahen Tageszeitungen zum Abdruck. 2 0 2 Zuvor hatte sich Harnack im Zusammenhang mit dem sogenannten Magdeburger Beleidigungsprozeß gegen Friedrich Ebert an die Seite des ersten Präsidenten der deutschen Republik gestellt. Wenig beachtet von der späteren Forschung ist Harnacks Engagement gegen den Antisemitismus der zwanziger Jahre. Als im Vorfeld der Reichstagswahlen 1928 die Schändungen jüdischer Friedhöfe und Synagogen zunahmen und sich während des ganzen Jahres weiter fortsetzten, verurteilte Harnack im Organ des „Central-Vereins deutscher Staatbürger jüdischen Glaubens" die „Schmach der Friedhofsschändungen". Versuchten Agitatoren des Antisemitismus, Äußerungen Harnacks über den Rang des Alten Testaments für die christliche Verkündigung auszunutzen, setzte er sich zur Wehr. 2 0 3 Blickt man auf den Wissenschaftler, so entfaltete Harnack in den Jahren der Neige seines Lebens noch einmal seine literarische Produktivität. Zu Weihnachten 1920 lag der „Marcion" vor, die Frucht lebenslanger, durch die Amtsgeschäfte immer wieder unterbrochener Studien zu Leben, Werk und Wirkung des häretischen „Hyperpaulinisten" aus Sinope. 2 0 4 Aus Vorlesungen in Münster und Bonn, die Harnack mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums 1925/26 hielt, er-
2 0 1 Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 4 8 7 . 2 0 2 Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen W e g des deutschen Protestantismus zwischen 1 9 1 8 und 1 9 3 2 . 2. Aufl. W e i m a r und Göttingen 1 9 8 8 , S. 1 6 0 ff. 2 0 3 Kurt Nowak: Kulturprotestantismus und Judentum, aaO. (Anm. 8 1 ) . 2 0 4 Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion. Darmstadt 1 9 8 5 (unveränderter reprographischer Nachdruck der 2. verbesserten und vermehrten Auflage Leipzig 1 9 2 4 ) .
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wuchs der B a n d „ D i e Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen D o g m a s " . N a c h dem „Lehrbuch der Dogmengeschichte" und seiner Kurzfassung, der „Dogmengeschichte" (Grundriß), markierten die Vorlesungen einen weiteren Versuch zur Popularisierung des komplizierten Themengebiets. Eingebettet war der historische und dogmatische Stoff in Betrachtungen über die Kulturleistungen des Christentums. Hier sprach der Kirchenhistoriker, doch zugleich der Kulturpolitiker. M a n kann die Vorlesungen als eine groß angelegte Apologie des Christentums lesen. Ihre Standfestigkeit gewann sie durch die kulturellen Erfahrungen des Wissenschaftsorganisators und Gelehrten. 2 0 5 Harnack sah sich als T h e o loge nicht auf dem Abstellgleis. Sein Einsatz für eine dogmenfreie, subjektgeleitete Kultur des christlichen Glaubens, die sich der Wissens- und Erfahrungswelt der Geschichte versicherte, ging weiter. 1 9 2 6 bat der Leipziger Historiker Walter G o e t z H a r n a c k u m M i t w i r k u n g an der „Ullsteinschen Weltgeschichte". Für die Darstellung der Geschichte des frühen Christentums bis zur Wende unter Konstantin dem Großen kam für Goetz kein anderer in Betracht als Harnack. „Ich darf daraufhinweisen, daß ein erfolgreicher Wettbewerb mit der französischen Histoire Generale von Larousse und mit der C a m b r i d g e History nur möglich sein wird, wenn sich die ersten Vertreter unserer historischen Wissenschaft zur Mitarbeit bereit erklären." 2 0 6 Auch sonstige Angebote und Anfragen belegen das Wirkungskontinuum des Gelehrten über die Zäsur des Jahres 1918 hinweg. Unter dem Aspekt von Harnacks weiterhin großem Einfluß auf Wissenschaft und Gesellschaft erscheint die bekannte Diskussion von 1923 zwischen Harnack und Karl Barth, dem Meinungsführer der „dialektischen Theologie", als ein Diskurs, der jedenfalls nicht mit einer Niederlage Harnacks endete. Am Anfang dieser Debatte stand eine Einladung der Veranstalter der Aarauer Studentenkonferenz. „Mit den drei Fragen: Was hat die Naturwissenschaft an fester Erkenntnis zu bieten zur D e u t u n g des Weltgeschehens? Was die Historie? Was die Bibel? möchten wir das Prog r a m m umschreiben", teilte der Kandidat der Medizin Mattheus Vischer mit. Harnack war gebeten, den zweiten Vortrag zu übernehmen. 2 0 7 Der
2 0 5 A d o l f von H a r n a c k : D i e E n t s t e h u n g der christlichen T h e o l o g i e u n d des kirchlichen D o g m a s . Sechs Vorlesungen. G o t h a 1 9 2 7 . 2 0 6 Walter G o e t z an H a r n a c k v o m 25. Februar 1 9 2 6 ( N a c h l a ß H a r n a c k , Kasten 3 2 ) . 2 0 7 E i n l a d u n g der Veranstalter der Aarauer S t u d e n t e n k o n f e r e n z v o m 12. N o v e m ber 1 9 1 9 (cand. med. Mattheus Vischer) (Reise in die Schweiz [7 Blatt] - Nachlaß H a r n a c k , Kasten 1).
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Vortrag über die Bibel fiel Karl Barth zu. Am 1. Februar 1 9 2 0 wandte sich Barth ausSafenwil anHarnack. „Durch die Leitung der Aarauer Studentenkonferenz erfuhr ich soeben, dass Sie zugesagt haben, dies Jahr das Referat des zweiten Tages zu übernehmen. Diese Tatsache freut mich als Hörer der Konferenz, erschreckt mich aber auch als bestimmter Redner des dritten Tages. Ich muss nun sehen, mich mit der mehr als exponierten Stellung, in die ich dadurch Armer gerate, so gut als möglich abzufinden." Barth bat Harnack, ihm in kurzen Strichen den Inhalt seines Vortrags über die H i storie zu skizzieren: „im Interesse der Einheitlichkeit des Ganzen" 2 0 8 . Auf der Aarauer Studentenkonferenz vom 15. bis 17. April 1 9 2 0 , deren hochgemute Veranstalter Harnack die Anreise per Zeppelin empfohlen hatten, hörte Barth Harnacks Vortrag „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?", Harnack den Vortrag Barths „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke". Barth stand zu jenem Zeitpunkt ganz im expressiven Vokabular seiner theologischen „Dialektik". Harnack gewann den Eindruck eines zerplatzenden Meteors: diese Religion lasse sich nicht „ins wirkliche Leben umsetzen" 2 0 9 . Drei Jahre nach der Aarauer Begegnung veröffentlichte er in der „Christlichen W e l t " „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie" . 2 1 0 Harnack verstand sich mit diesem Beitrag als Sachwalter eines wissenschaftlich, kulturell und historisch gesättigten Christentums. W e n n die Verbindung zwischen Kultur und Christentum verloren ging, indem man das in der Menschheitskultur aufbewahrte Gotteswissen und -erleben theologisch für nichtig hielt, dann lautete aus Harnacks Perspektive die Frage: „wie kann man diese Kultur und wie kann man auf die Dauer sich selbst vordem Atheismus schützen?" 211 Harnacks „Fünfzehn Fragen" trafen Barth offenbar unvorbereitet: „Eben lese ich in der 'Christi. Welt' Ihre 15 Fragen, von denen mir einige den Eindruck machen, als ob das Ganze hauptsächlich gegen mich gerichtet sei. W e n n dieser Eindruck zutrifft, wenn ich also der Gefragte oder der hauptsächlich Mitbefragte bin, so bin ich bereit,
2 0 8 Karl Barth an Harnack vom 1. Februar 1 9 2 0 (Nachlaß Harnack). 2 0 9 Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 5 3 2 (Harnack brieflich an Eberhard Vischer). Wie sich die Aarauer Konferenz aus der Perspektive der Barthbiographik ausnimmt, schildert Eberhard Busch: Karl Barth. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten. Berlin 1 9 7 5 , S. 108 f. Barth meinte über eine Begegnung am Tag nach der Konferenz in Basel bei Eberhard Vischer: „Harnack machte den Eindruck eines im Grunde gebrochenen Mannes, er wußte erstaunlich wenig außer seinen erhabenen Witzlein" (S. 108). 2 1 0 Teil I, Nr. V I / 7 . 2 1 1 Fünfzehn Fragen ... (Frage 7) (wie Anm. 2 1 0 ) .
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Ihnen an derselben Stelle Zug um Zug zu antworten. Ich möchte mich aber nicht unnötig exponieren und bitte Sie daher höflichst, mir in zwei Worten zu sagen, ob Ihre Fragen vielleicht mich angehen und ob Sie also von mir Antwort erwarten." 2 1 2 Überblickt man den nach Barths Erkundigung in der „Christlichen Welt" entfalteten Meinungsaustausch in Antwort (Barth), Erwiderung (Harnack), nochmaliger Antwort (Barth) und Schlußwort (Harnack) und vergleicht ihn mit der Korrespondenz beider Kontrahenten, legt sich der Eindruck eines Ungleichgewichts zwischen öffentlichem Diskurs und nichtöffentlicher Kommunikation nahe. Barth versicherte Harnack privatim, wie sehr ihn die „historische und sachliche Relativität" seines „theologischen Versuchs" bedränge. Er sei sich der „letzten Gemeinsamkeit aller theologischen Versuche bewußt". Barth ging noch weiter. Er bezeichnete sein „Pathos der Absolutheit" als zweideutig: als überschießende Reaktion auf vernachlässigte Anliegen. 2 1 3 Harnack erkannte einige Jahre später die Ernsthaftigkeit der neuen Theologie an, auch wenn er weiterhin ihren nach seiner Meinung sektiererischen Geist und kulturell verengten Horizont beklagte. Die Debatte mit Karl Barth blieb für Harnack in der Fülle seiner Aufgaben Episode. Außerdem gab es andere wichtige Gesprächspartner, zum Beispiel Max Planck. Mit dem Physiker und Nobelpreisträger erörterte er Themen im Grenzbereich von Theologie und Naturwissenschaften. 2 1 4 Ein anderer Gesprächpartner war Johannes Müller auf Schloß Elmau, ein religiöser Grenzgänger, der als Leipziger Theologiestudent von Harnacks „Lehrbuch der Dogmengeschichte" einen „unauslöschlichen Eindruck" empfangen hatte. 2 1 5 2 1 2 Karl Barth an Harnack vom 14. Februar 1 9 2 3 (Nachlaß Harnack). 2 1 3 Karl Barth an Harnack vom 16. April 1 9 2 4 (Ebenda). Die Debatte HarnackBarth in der „Christlichen Welt" ist mehrfach dokumentiert, zuletzt bei HansWalter Krumwiede: Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik. Neukirchen-Vluyn 1 9 9 0 , S. 1 5 1 - 1 6 9 (Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 2). Eine kurze Darstellung bietet Erich Fascher: Adolf v. Harnacks und Karl Barths Thesenaustausch von 1 9 2 3 . In: Ders.: Frage und Antwort. Studien zur Theologie- und Religionsgeschichte. Berlin 1 9 6 8 , S. 2 0 1 2 3 1 . Der Kontakt zwischen Harnack und Barth riß bis zu Harnacks Tod nicht ab. Noch am 10. Mai 1 9 3 0 dankte Barth für die Zusendung von Harnacks „Possidius" (Nachlaß Harnack). 2 1 4 Die Korrespondenz mit Max Planck (Nachlaß Harnack, Kasten 39) umfaßt 21 Blatt für den Zeitraum 1 9 0 9 - 1 9 3 0 . 2 1 5 Zur Beziehung Harnack - Müller vgl. Johannes Müller: Adolf von Harnack auf Schloß Elmau. In: Grüne Blätter 3 2 ( 1 9 3 0 ) , Heft 3, S. 1 3 7 - 1 6 3 ; Briefe Adolf von Harnacks an Johannes Müller (Ebenda, S. 1 6 4 - 1 9 0 ) .
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Wissenschaftsorganisation und -pflege nahmen Harnack unter den erschwerten Wirtschaftsbedingungen der deutschen Nachkriegszeit weiterhin stark in Anspruch. Den Universitäten und Forschungsinstituten fehlten Geldmittel für die Zeitschriften- und Bücherbeschaffung. Der Kauf von Apparaten und Substanzen für die experimentellen Fächer war stark eingeschränkt. Mit der beginnenden Inflation schien die Lage hoffnungslos zu werden. Kostete ein Mikroskop in Deutschland vor dem Krieg 800,Mark, so betrug sein Preis im Dezember 1922 schon 600 000,- Mark. Zahlreiche Wissenschaftler konnten ihre Arbeiten wegen der überteuerten Papier- u n d Herstellungskosten nicht mehr zum Druck bringen. Die privaten Lebensumstände vieler Akademiker waren bedrückend. Ein Schlaglicht auf die Situation warf ein Brief von Friedrich Schmidt-Ott an Professor Francis G. Peabody. Schmidt-Ott hatte mit dem Quäker-Komitee Verb i n d u n g aufgenommen, um „Frau Althoff (seil.: der Witwe Friedrich Althoffs) und einigen anderen besonders würdigen Persönlichkeiten durch Lebensmittelpakete zu helfen". Aus noch vorhandenen Beständen ließ die Hilfsorganisation der Witwe und dem Herausgeber der von Althoff begründeten „Internationalen Monatsschrift", Professor Cornicelius, ein Lebensmittelpaket zukommen. 2 1 6 Harnack trat der in westlichen Ausland kursierenden Meinung entgegen, die Elendsschilderungen der deutschen Wissenschaft seien übertrieben. 1922 beschrieb er „Die Krisis der deutschen Wissenschaft" und hielt dem Viscount Haidane (Großbritannien) vor: „... wie kann auch die stärkste Leidenschaft für die Wissenschaft, die Sie uns so freundlich zubilligen, noch brennen, wenn alles Lebendige vom tödlichen Frost des Elends er griffen wird!" 2 1 7 I η der wirtschaftlichen Notlage, welche die internationale Konkurrenzfähigkeit des deutschen Wissenschaftsbetriebs beeinträchtigte, bestand sogar die Gefahr der Veräußerung unersetzlicher Bibliotheksbestände. Dem Herzog von Ratibor und Corvey gegenüber zeigte sich Schmidt-Ott besorgt über Pläne zum Verkauf von Beständen des Klosters Corvey. 2 1 8 An der Behebung der Engpässe arbeitete die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft". Ihr Präsident war Friedrich Schmidt-Ott, der einstige Mitarbeiter Althoffs und spätere Nachfolger des Kultusministers T r o t t zu Solz. W ä h r e n d seiner Tätigkeit als Kultusminister hatte sich
2 1 6 Schmidt-Ott an Francis G. Peabody vom 31. Mai 1921 (Nachlaß SchmidtOtt, aaO. [Anm. 152] Rep. 92 D 1, Bl. 137""). 2 1 7 Teil II, Nr. 1/11. 2 1 8 Schmidt-Ott an Herzog von Ratibor und Corvey vom 18. April 1921 (Nachlaß Schmidt-Ott, aaO. [Anm. 152] Rep. 92 D 1, Bl. 168).
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Schmidt-Ott 1917/18 vor allem für den Ausbau der Auslandsstudien in Preußen und im Reich eingesetzt. Harnack widmete „dem Freund, Patron und Haushalter der deutschen Wissenschaft" 1922 die Neuauflage seiner „Dogmengeschichte". Die „Notgemeinschaft", 1920 ins Leben gerufen, stellte einen Zusammenschluß aller Akademien, Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen in Deutschland dar. Teilweise erhielt sie Geldzuwendungen vom Reich, teilweise von der Industrie. Carl Duisburg telegraphierte: „Interessengemeinschaft Farbenindustrie hat zehn Millionen für Notgemeinschaft gezeichnet ,.." 2 1 9 Weitere Geld- u n d Sachzuwendungen kamen von ausländischen Wissenschaftlern, die ihre Ausbildung in Deutschland erhalten hatten. Die Industrie stellte zu herabgesetzten Preisen Apparaturen, Werkzeuge und Maschinen zur Verfügung. Der Stifterverband der „Notgemeinschaft" war ein finanzstarker Honoratioren-Verein, dem bekannte Industrieunternehmer und Vertreter von Bankhäusern angehörten. Reichstagsausschuß und Reichsregierung stellten Ende 1922 400 Millionen Mark zur Verfügung. 2 2 0 Harnack arbeitete in der „Notgemeinschaft" an führender Stelle mit, außerdem im „Kuratorium des Bücherbeschaffungsfonds". D e m Kuratorium oblag die Versorgung der deutschen Staats- und Universitätsbibliotheken mit Literatur. 1929 berief der Hauptausschuß Harnack zum Ehrenmitglied. „Ich brauche nicht zu sagen", schrieb Friedrich Schmidt-Ott, „in welchem Maße mich selbst bei diesem Anlaß der D a n k für allen Rat und alle Hilfe erfüllt, die Euere Exzellenz der Notgemeinschaft seit Ihrem Bestehen zur Verfügung gestellt haben." 2 2 1 Harnacks Schwerpunkt als Wissenschaftsorganisator lag in den Jahren der Weimarer Republik weiterhin bei der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft". Ein prekäres T h e m a nach dem Untergang der Monarchie war der
2 1 9 Ebenda, Bl. 208 (Telegramm). 2 2 0 S c h m i d t - O t t an H a r n a c k vom 15. Dezember 1922 (Nachlaß Harnack, Kasten 41). Ab 1923 erhielt die „Notgemeinschaft" regelmäßig ansehnliche Mittel aus dem Reichsetat; 1930 war sie als dauernde Einrichtung in den Reichshaushalt a u f g e n o m m e n (Kurt Düwell: Staat u n d Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Z u r Kulturpolitik des Ministers C. H . Becker. In: Historische Zeitschrift, Beih e f t 1: Beiträge zur Geschichte der W e i m a r e r Republik, hg. von T h e o d o r Schieder. M ü n c h e n 1971, S. 31-74; hier S. 56 f.).; Ulrich Marsch: N o t g e m e i n schaft der Deutschen Wissenschaft. G r ü n d u n g u n d f r ü h e Geschichte 19201925. F r a n k f u r t / M . u.a. 1994 ( M ü n c h n e r Studien zur neueren u n d neuesten Geschichte 10). 221 S c h m i d t - O t t an H a r n a c k vom 18. Dezember 1929 (Nachlaß H a r n a c k , Kasten 41).
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Name der Gesellschaft. Bei der Gründung war die Bezeichnung „KaiserWilhelm-Gesellschaft" als Kompromiß zur Ausbalancierung von preußischen und Reichsinteressen verstanden worden. In postmonarchischer Zeit mutete der Name als hinderliches Relikt an. Entgegen der Auskunft der Biographin, Harnack habe sich dem „Ansinnen" einer Umbenennung „immer widersetzt", muß auf eine interne Ausarbeitung von ihm verwiesen werden. „Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sieht sich, um die Zwecke noch ferner erfüllen zu können, die sie sich im Einvernehmen mit ihrem ehemaligen Protektor gesetzt hat, genötigt, auf den Namen 'Kaiser Wilhelm Gesellschaft' zu verzichten. Bis die Hauptversammlung über einen neuen Namen entschieden haben wird, führt sie die Bezeichnung: 'Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften'." 2 2 2 Die neugefaßten Statuten von 1921 rückten die Gesellschaft näher an den Staat heran. Der alte Name blieb zur Überraschung mancher Zeitgenossen jedoch erhalten. Er besaß die Qualität eines Markenzeichens für die naturwissenschaftliche und technische Grundlagenforschung in Deutschland. Wegen seines Alters war es Harnack nicht mehr möglich, sich mit allen Einzelheiten der Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Institute zu befassen. Er rückte in einen repräsentativen Status ein, der jedoch weiterhin mit viel Organisationarbeit verbunden blieb. Ein Höhepunkt war 1929 die Eröffnung eines Gesellschaftshauses der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" in Berlin-Dahlem. Während die Geschäftsräume der Gesellschaft, die sich seit dem politischen Umbruch im Berliner Schloß befanden, ausreichten, herrschte Bedarf an Fest- und Vortragssälen. Die Assistenten der Institute konnten wegen Platzmangel an vielen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Aus pragmatischen wie symbolischen Gründen war deshalb der Bau eines den Wissenschaften und ihrem internationalen Verbund gewidmeten Hauses betrieben worden. Aus Reichs-, Länder- und nichtstaatlichen Förder-
2 2 2 A n den Senat und die Mitglieder der Kaiser Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (Entwurf; vielfach verbessert) (Nachlaß Harnack, Kasten 23). Im Kontrast dazu Agnes von Zahn-Harnack: Harnack, aaO. (Anm. 2), S. 4 9 3 . Vgl. auch Harnack „namens des Verwaltungsausschusses an die Mitglieder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" vom 18. Dezember 1 9 1 8 : „Die Katastrophen, welche unser Vaterland betroffen haben, erstrecken sich auch auf unsere Gesellschaft; durch die Abdankung des Kaisers hat sie ihren Protektor verloren ... Durch die Abdankung des Protektors ist für die Gesellschaft eine Reihe von Satzungsänderungen notwendig geworden. Zugleich erhebt sich die Frage, ob auch eine Abänderung des Namens der Gesellschaft erfolgen soll" (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem I. HA Rep. 8 9 [2.2.1] Nr. 2 1 2 7 9 ; Bl. 87-88').
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IV. Die letzten Lebensjahre
mittein finanziert, erlebte das „Harnack-Haus" der „Kaiser-WilhelmGesellschaft" am 7. Mai 1929 (Harnacks Geburtstag) seine feierliche Eröffnung. Reichsaußenminister Stresemann sprach ein Grußwort, in dem er das Ziel der internationalen Wissenschaftskommunikation unterstrich. „Ich bin mir klar über die große Bedeutung, die dieses Zusammenleben und Zusammenwirken nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für das Völkerleben und das Verständnis der Völker untereinander hat ..." 2 2 3 Im Oktober 1929 eröffnete Harnack in Dortmund und Münster den Neubau des schon seit längerem in kleinerer Form bestehenden „KaiserWilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie". Die Eröffnung fiel in eine Phase wissenschaftspolitischer Spannungen. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker sah in der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" zuviel staatsferne Selbstherrlichkeit und bemängelte den undurchsichtigen Geschäftsbetrieb. Auch schien das Humboldtsche Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung neu zur Geltung zu bringen zu sein. Bedurfte es neben den Universitäten und den Technischen Hochschulen wirklich eigener Forschungsinstitute? Harnack versicherte, mehr als „Hilfsinstitute" neben den Hochschulen und Akademien wollten die Institute nicht sein; „an und für sich aber sind sie die einzigen Stätten, in denen die Regierungen, die Wissenschaft und das deutsche Volk ohne Ansehen der Parteien in Frieden zusammen wirken, um dem Fortschritt, der Forschung und dem Vaterlande zu dienen". 2 2 4 Persönliche Interessenkonflikte schufen zusätzliche Belastungen. Becker liebäugelte nach Beendigung seiner Tätigkeit als preußischer Kultusminister mit dem Amt des Präsidenten. Harnack lehnte jedoch seinen Rücktritt zugunsten Beckers ab. Der wissenschaftspolitische Druck auf die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" war erst 1930 mit dem Übergang des Kultusministeriums von Becker auf Adolf Grimme beendet. 2 2 3 Ansprachen bei der Einweihung des Harnack-Hauses der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften am Dienstag, den 7. Mai 1 9 2 9 , 11 Uhr vormittags im Goethe-Saal des Harnack-Hauses zu Berlin-Dahlem (Manuskriptdruck). Stresemanns Ansprache S. 10. 2 2 4 Adolf von Harnack: Ansprache bei der Einweihung des Neubaus des Kaiser Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie am 22. und 23. Oktober 1 9 2 9 in Dortmund und Münster. In: Ders.: Aus der Werkstatt des Vollendeten. Als Abschluß seiner Reden und Aufsätze hg. von Axel von Harnack. Mit zwei Bildnissen. Glessen 1 9 3 0 , S. 2 4 8 - 2 5 3 ; hier S. 2 5 1 - 2 5 3 (Ansprache in Münster). Eine Darstellung der Auseinandersetzungen um die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gibt Dietrich Gerhard: Adolf von Harnacks letzte Monate als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1 9 7 7 , S. 2 4 5 - 2 6 7 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 54).
V. Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
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Am 24. Mai 1930 reiste Harnack in Begleitung seiner Ehefrau Amalie zur 18. Jahresversammlung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" nach Heidelberg. Die Eröffnung sollte am 26. Mai 1930 stattfinden und mit der Einweihung des Heidelberger Instituts für medizinische Forschung verbunden sein. Harnack, ohnehin kränkelnd und zusätzlich geschwächt durch die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen um die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", mußte sich einen Tag vor Eröffnung der Jahresversammlung in klinische Behandlung begeben. Nach zweiwöchigen Krankenlager in der Klinik Ludolf von Krehls verstarb er am 10. Juni 1930. Am darauffolgenden Tag fand in Heidelberg eine Trauerfeier statt, der sich in den nächsten Tagen weitere Trauerfeierlichkeiten anschlossen. Die Feiern zu Ehren des Verstorbenen, die Nachrufe in der Tagespresse und die Gedenkartikel in wissenschaftlichen Fachorganen des In- und Auslandes verdeutlichten noch einmal eindrucksvoll das hohe Ansehen, welches sich Harnack als Gelehrter, Wissenschaftsorganisator und Kulturpolitiker während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik erworben hatte. Martin Dibelius, Sprecher auf der Heidelberger Trauerfeier vom 11. Juni 1930 und einstiger Schüler Harnacks, faßte Harnacks Verdienste um die Wissenschaftsförderung mit folgenden Worten zusammen: „Aus der Kraft der Konzentration in die Geschichte der Alten Kirche erwuchs die Fähigkeit zum Begreifen, Darstellen und Organisieren des Geistigen überhaupt. So konnte dieser Kirchenhistoriker der Gesamtwissenschaft dienen, ohne der eigenen Wissenschaft untreu zu werden. So konnte er sich ein Arbeitsfeld erwerben, so weitgesteckt, wie es keinem modernen Gelehrten sonst zuteil wird." 2 2 5
V. Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang Im Jahr 1904 hatte Harnack begonnen, seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen „Reden und Aufsätze" in eigenen Bänden zusammenzufassen. Bis 1923 war das Unternehmen auf sechs Bände gediehen: „Reden und Aufsätze" (Zwei Bände 1904; 2. Auflage 1906); „Aus Wissenschaft und Leben" (Zwei Bände 1911); „Aus der Friedens- und Kriegsarbeit"
2 2 5 Adolf von Harnack zum Gedächtnis. Rede bei der Trauerfeier in Heidelberg am 1 1 . Juni 1 9 3 0 gehalten von Martin Dibelius (6 Schreibmaschinenblatt) (Nachlaß Harnack, Kasten 3).
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V. Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
(1916); „Erforschtes und Erlebtes" (1923). Im Todesjahr Harnacks brachte der Sohn, Axel von Harnack, als „Abschluß des Werkes" noch einen siebenten Band heraus: „Aus der Werkstatt des Vollendeten" (1930). Um den inneren Zusammenhang der Bände zu unterstreichen, hatte Harnack die auf die „Reden und Aufsätze" von 1904 folgenden Bände als „Reden und Aufsätze. Neue Folge" deklariert. Mit dem posthumen Band „Aus der Werkstatt des Vollendeten" war Axel von Harnack dieser Nomenklatur gefolgt. Das in den Bänden von 1904 bis 1923 Zusammengetragene war aus Harnacks Bedürfnis erwachsen, „zu einem weiten Kreis ihm bekannter und unbekannter Schüler, Freunde und Leser zu sprechen. Es war sein Wunsch und sein Stolz, durch diese Sammlungen kaum minder als durch sein 'Wesen des Christentums' auch da Gehör zu finden, „wo die Stimme des Professors häufig nicht hindringt". Dem Zeugnis des Sohnes zufolge gehörten die „Reden und Ausätze" zu jenen Büchern, die Harnack „besonders am Herzen lagen". 2 2 6 Bei der Zusammenstellung des posthumen Bandes konnte sich Axel von Harnack auf „vorgefundene Sammlungen" stützen. Deshalb ist auch der Band „Aus der Werkstatt des Vollendeten" zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ein Ausdruck von Harnacks Präferenzen. Enthalten sind in ihm Texte aus den letzten Lebensjahren sowie „einige frühere, wenig bekannte und besonders charakteristische Stücke ..., welche einzelne Höhepunkte im Lebensgange des Verfassers klar hervortreten lassen". 227 Die Aufnahme der frühen Stücke geht wahrscheinlich auf den Sohn zurück, da schwer einzusehen ist, warum Harnack sie nicht hätte berücksichtigen sollen, als er die ersten sechs Bände zusammenstellte. Bei der dokumentarischen Präsentation Adolf von Harnacks als Zeitgenosse wurde ein vordergründig-aktualistisches Verständnis des Begriffs Zeitgenosse bzw. Zeitgenossenschaft vermieden. Es war notwendig, die tieferen Verzweigungen von Harnacks Selbstverständnis als Christ und Bürger aufzuzeigen. Diesem Zweck ist Teil 1 unter der Überschrift „Der Theologe und Historiker" gewidmet. Im übrigen sind auch in diesen Texten zum Verständnis Jesu, der Reformation, des dogmenfreien Christentums, der Theologie als Wissenschaft und der (Kirchen-)Geschichte zahlreiche zeitgeschichtliche Bezüge enthalten oder sogar vom Autor prononciert nach vorn gerückt worden. In den Texten, die sich scheinbar vom Aktualismus des Tages abheben, werden mitunter signifikantere Au-
2 2 6 Harnack, Werkstatt, aaO. (Anm. 2 2 4 ) , Vorwort. 2 2 7 Ebenda.
V . Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
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ßerungen zum Geist der Zeit sichtbar als in den unmittelbar auf das T a gesgeschehen bezogenen Stücken. Beispiele dafür finden sich in den Texten zur „Person und Botschaft J e s u " , zum „Protestantismus" und zu den „Katholika", aber auch in den Stücken zur „Theologie als Wissenschaft". D e r theologisch-historische K o s m o s , aus d e m heraus sich H a r n a c k s Wirken entfaltete, m u ß gegenwärtig sein, damit das Weitere zureichend verstehbar ist. Poiniert könnte man sagen, daß Teil 1 die Innenseite von Harnacks Zeitgenossenschaft zeigt, während Teil 2 unter der Überschrift „ D e r Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker" dann deren Außenseite präsentiert. Teil 1 und 2 verhalten sich komplementär zueinander und bilden ein Ganzes, das u m die jeweils eine oder andere D i m e n sion zu verkürzen nicht angängig ist. Im Anhang des posthumen Bandes „Aus der Werkstatt des Vollendeten" war ein „Systematisches Inhaltsverzeichnis" der sieben Bände gedruckt. Der Leserschaft des Jahres 1930 sollte ein Hilfsmittel zum besseren U m gang mit den Texten an die H a n d gegeben werden. D i e Sachgruppen, nach denen die O r d n u n g der Texte erfolgte, waren zum Teil an die von Harnack selber gebildeten Sachgruppen angelehnt (vgl. die Zwischenüberschriften in den Bänden von 1904 bis 1923), zum Teil neu gebildet. Entgegen der Angabe, es handele sich um ein „Systematisches Inhaltsverzeichnis", erfolgte die Bildung der Sachgruppen nach mehreren Gesichtspunkten. Sie waren formalen, chronologischen und jedenfalls nur in eingeschränktem M a ß systematischen Gesichtspunkten verpflichtet. Harnack hatte seine Sachgruppen von Band zu Band entwickelt, also im Prozeß des Sammeins und der Zusammenstellung von immer neuen Stücken. D a s „Systematische Inhaltsverzeichnis" Axel von Harnacks am Ende des posthumen Bandes stellte einen Versuch dar, auf der Basis des nunmehr als vollständig angesehenen Textmaterials eine neue Sachgruppenordnung zu entwickeln. Wegen der Anlehnung an Harnacks eigenen O r d n u n g mußte sie zugleich deren Inkonzinnitäten reproduzieren. Die Handhabbarkeit der Bände, die infolge ihres iterativen Charakters ohnehin eingeschränkt war, verbesserte sich durch das „Systematische Inhaltverzeichnis" nicht. D i e in der vorliegenden Ausgabe entwickelte Sachgruppenordnung folgt anderen Prinzipien. 1. D u r c h Ausschreiten der jeweiligen Themenkreise wird dem Aufbau der inneren und äußeren Welt Harnacks Rechnung getragen. 2. In den jeweiligen Sachgruppen wird die Chronologie der Texte sichtbar gemacht. 3. Angesichts der Fülle der von Harnack veröffentlichten Texte, innerhalb derer die „Reden und Aufsätze" ein eigenes Genus bilden, war dem Prinzip der Transparenz besondere Beachtung zu schenken. Insgesamt handelt es sich um eine nach neuen Gesichtspunkten
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V. Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
geordnete Darbietung jener Texte Harnacks, die ihm außerhalb seines fachwissenschaftlichen Werkes wichtig genug waren, um ihnen besondere Pflege angedeihen zu lassen. Aus heutiger Sicht bilden sie einen wesentlichen Beitrag zur Theologie- und Kirchengeschichte, zur Wissenschafts-, Kultur· und Sozialgeschichte des Wilhelminischen Reichs und der Weimarer Republik. D i e Ausgabe möchte dazu beitragen, dem Kulturprotestantismus größere theologische und historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. D i e Grundlage für den D r u c k bilden die Bände der Jahre 1904 bis 1930. D i e ursprüngliche Paginierung erscheint in eckigen Klammern. D i e Ausstattung mit einem kritischen Apparat wäre aus technischen G r ü n d e n schwierig gewesen. In manchen Fällen gehen Harnacks Texte ohne Seitenumbruch ineinander (vgl. z.B. S . 1 3 8 1 ) . Eine Ausgabe auf photomechanischer Basis kann und will nicht leisten, was das Anliegen einer historischkritischen Edition von Harnacks Werk sein müßte. Der Verzicht auf einen kritischen Apparat erfolgte im Vertrauen darauf, daß Sachverhalte, die in den Texten angesprochen werden, wahrscheinlich nur in seltenen Fällen dem heutigen Leser nicht mehr auf Anhieb verständlich sind. D i e „Historische E i n f ü h r u n g " versteht sich als Angebot zur Einordnung der Texte in den zeit- und werkgeschichtlichen Zusammenhang. Der bibliographische Anhang besteht aus zwei Teilen: dem Nachweis der Drucke sowie bibliographischen Ergänzungen und Nachträgen zur Harnack-Personalbibliographie von S m e n d / D u m m e r . Der Nachweis der Drucke folgt einem festen Schema. Unter Ziffer 1. erscheinen die Nachweise der Druckvorlagen entsprechend ihrem Fundort in Harnacks Reden- und Aufsatzbänden. Unter Ziffer 2. wird der bibliographische Ort des Erstdrucks angegeben. Er ist nur in Ausnahmefällen mit dem D r u c k in den „Reden und Aufsätzen" identisch. Unter Ziffer 3. werden weitere D r u c k e in deutscher Sprache sowie Übersetzungen aufgeführt. Anspruch a u f V o l l ständigkeit wird nicht erhoben. In erster Linie ging es in diesem bibliographischen Teilbereich um die Qualifizierung der mitunter ungenauen Angaben in der Harnack-Bibliographie, da sich herausstellte, daß der seinerzeit so verdienstvolle Bibliograph Smend an nicht wenigen Stellen die Trennlinie zwischen Titelaufnahme und paraphrasierender Kurzbeschreibung der Texte verwischte. Auch sonst ist die Smend-Bibliographie defizitär, an einigen Stellen irreführend. Die Druckgeschichte der Texte Harnacks ist weit verzweigt. Sie bildet einen nicht unwesentlichen Teil von Harnacks Wirkungsgeschichte in Kirche und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. Bereits aus der Häufigkeit der Drucke wie auch aus dem Druckort lassen sich Aufschlüsse gewinnen, welche Aspekte von Harnacks Werk ein stärkeres und welche ein geringeres Echo fanden. Hinweise auf Differen-
V . Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
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zen im T e x t b e s t a n d sind in spitze K l a m m e r n gesetzt. G e m e i n t sind jeweils die Differenzen z u m D r u c k in den „Reden u n d Aufsätzen". D a die Arbeit an einer erschöpfenden G e s a m t b i b l i o g r a p h i e H a r n a c k s nach aller bisherigen E r f a h r u n g nur das W e r k vieler H ä n d e sein kann, werden, u n a b h ä n g i g v o n d e n N a c h w e i s e n der D r u c k e , bibliographische E r g ä n z u n g e n u n d N a c h t r ä g e zur Personalbibliographie veröffentlicht. D i e Ergänzungen u n d N a c h t r ä g e verstehen sich als Fortschreibung der H a r n a c k - B i b l i o g r a p h i e von S m e n d / D u m m e r u n d als Beitrag zu einer künftigen G e s a m t b i b l i o graphie. D i e Autorschaft für den bibliographischen A n h a n g in seinen beiden T e i l e n liegt bei H e r r n H a n n s - C h r i s t o p h Picker (Kiel). B e i m N a c h w e i s der D r u c k e arbeitete H e r r Martin Koenitz (Leipzig) als studentische Hilfskraft mit.
Teil 1 Der Theologe und Historiker
I. Person und Botschaft Jesu
ALS DIE ZEIT ERFÜLLET WAR.
Erschienen in der: „Christlichen Welt" 1899 Nr. 51 und 1900 Nr. 2.
„Dieser Tag hat der ganzen Welt ein andres Aussehen gegeben; sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem nun Gebornen für alle Menschen ein gemeinsames G-lück aufgestrahlt wäre." „Richtig urteilt, wer in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens und aller Lebenskräfte für sich erkennt; nun endlich ist die Zeit vorbei, da man es bereuen mußte, geboren zu sein." „Von keinem andern Tage empfängt der einzelne und die Gesamtheit soviel Gutes als von diesem allen gleich glücklichen Geburtstage." „Unmöglich ist es, in gebührender Weise Dank zu sagen für die so großen Wohltaten, welche dieser Tag gebracht hat." „Die Vorsehung, die über allem im Leben waltet, hat diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, daß sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat; aller Fehde wird er ein Ende machen und alles herrlich ausgestalten." „In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt; er hat nicht nur die frühern Wohltäter der Menschheit sämtlich übertroffen, sondern es ist auch unmöglich, daß je ein Größerer käme." „Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften [Evangelien] heraufgeführt."
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I. Person und Botschaft Jesu
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„Von seiner Geburt muß eine neue Zeitrechnung beginnen. " Von wem wird hier gesprochen? Wer ist der "Weltheiland, der hier begrüßt und gefeiert wird? Der römische Kaiser! "Wo ist so von ihm geredet worden? In der Provinz Asien! Und wann hat man ihn so verherrlicht? Um das Jahr 9 vor Christi G-eburt! Wem sind bei diesen Worten nicht unsre alten Weihnachtssprüche und -lieder eingefallen? „Das ewge Licht geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein;" „Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los;" „Was der alten Väter Schar höchste Lust und Sehnsucht war." Und weiter: „Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird." „Wir singen dir, Immanuel, du Friedefürst" usw. Die oben mitgeteilten Sätze klingen wie Reminiszenzen aus ihnen, und doch sind sie lange vor ihnen, lange vor unsern Evangelien, ja noch vor Christi G-eburt geschrieben. Daß unter dem Kaiser Augustus in der Provinz Kleinasien der Julianische Kalender eingeführt, und daß dieses Ereignis durch Tafeln mit Inschriften, die in den Städten aufgestellt wurden, verkündigt worden ist, wußte man seit längerer Zeit. Reste solcher, von dem asiatischen Landtage gesetzter Inschriften kannte man aus Apamea, Eumenea und Doryläum, aber sie waren trümmerhaft. Nun ist von der deutschen Expedition eine fast vollständig erhaltene griechische Inschrift (84 Zeilen lang) in Priene entdeckt worden, und Mommsen und von Wilamowitz-Möllendorff haben sie in den Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts (Athenische Abteilung) Bd. 23, Heft 3, Seite 275 bis 293 herausgegeben und bearbeitet. Die Inschrift zerfällt in zwei Teile. Der erste enthält den Antrag des Statthalters an den Landtag Asiens wegen der Kalenderveränderung, der zweite den Beschluß des Landtags: der Jahresanfang und der Antrittstag für sämtliche Magistrate
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1. Als die Zeit erfüllet war. ( 1 8 9 9 )
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soll auf den 23. September verlegt werden, den Geburtstag des Kaisers Augustus. Mommsen hat gezeigt, daß die Inschrift zwischen die Jahre 11 und 2 vor Christi Geburt, wahrscheinlich aber in das Jahr 9 fällt. Dieser Inschrift sind die oben übersetzten Stücke entnommen. Wilamowitz hat natürlich die Bedeutung, die sie für die Geschichte der religiösen Sprache und insbesondre für die Ausbildung der christlichen Sprache haben, sofort erkannt. Er hat dazu eine andre Inschrift (aus Halikarnaß) verglichen, die sich jetzt im Britischen Museum befindet (No. 994). Sie lautet: „Da die ewige und unsterbliche Natur des Alls [die Gottheit] den Menschen das höchste Gut zu ihren überschwänglichen "Wohltaten bescherte, hat sie, damit unser Leben glücklich werde, den Cäsar Augustus uns gebracht, der der Vater seines Vaterlandes, der göttlichen Roma, ist, der väterliche Zeus aber und Heiland des ganzen Menschengeschlechts, dessen Vorsehung die Gebete aller nicht nur erfüllt, sondern auch übertroffen hat. Denn es erfreuen sich Land und Meer des Friedens; die Städte blühn in wohlgeordnetem Zustande, in Eintracht und in Reichtum; jegliches Gute ist in Hülle und Fülle vorhanden . . . Usw." Der Weltheiland, der Kaiser, hat der Welt den Frieden gebracht und führt das goldne Zeitalter herauf! Wilamowitz meint, niemand dürfe diese Religion in ihrer Aufrichtigkeit bezweifeln: „Wenn der Kaiser selbst den Glauben ausgesprochen hat: „Gottes Gnade wird mich in die himmlische Glorie hinaufführen" (Sueton, Augustus 71), so hatten die dankbaren Asiaten diesen Glauben schon jetzt." Ob die Aufrichtigkeit wirklich so unzweifelhaft ist, mag dahingestellt bleiben; aber unzweifelhaft richtig ist es, wenn Wilamowitz fortfährt: „Im Hintergrunde dieser Religiosität steht die stoische „Vorsehung", die der Welt den Heiland sendet, den man als „väterlichen Zeus" bezeichnet, weil er in Rom „Vater
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I. Person und Botschaft Jesu
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des Vaterlands" Iieißt. "Wenn vor seinem Erscheinen die Menschen im Chaos der Revolution*) nur wünschten, nicht geboren zu sein, so ist es jetzt eine Freude, zu leben. Und mit der Freudenbotschaft, den „Evangelien", hat der Tag begonnen, wo der Welt der Heiland geboren ward. Daß diese Anschauung und dieser Ausdruck griechisch ist, daß gerade Asien um Christi Q-eburt in diesem Glauben lebte, dürfte keine geringe Bedeutung haben." In der Tat — diese Inschrift ist für die Geschichte des „Christentums" ungleich wichtiger als die meisten christlichen Inschriften. Sie lehrt uns aufs neue und eindrucksvoller als irgend ein früheres Dokument, welchen Umfang wir dem Satze „Als die Zeit erfüllet war" zu geben haben. Als der Apostel Paulus seine große Mission in Asien unternahm, da konnte man schon seit fast zwei Menschenaltern auf den Marktplätzen aller bedeutendem Städte Asiens diese Inschrift lesen von dem Weltheiland, der erschienen sei, der die sehnsüchtigen Wünsche aller erfülle, der dem Menschengeschlecht den Frieden bringe, ja das Leben erst lebenswert mache. Wenn wir nachmals diese Sprache als christliche lesen und heute nur als christliche empfinden, so irren wir uns: sie ist von den Griechen geprägt und zuerst auf den Cäsar Augustus gemünzt worden. Das Christentum hat sie einfach übernommen und auf Jesus Christus übertragen. Das konnte geschehen und das durfte geschehen; denn die religiöse Sehnsucht hatte hier eine Tiefe, die religiöse Hoffnung einen Umfang, die religiöse Sprache eine Kraft gewonnen, die sie zum Ausdruck einer geistigen Weltreligion fähig machten. Aber alles dies war angeschlossen an den Kaiserkultus; er gab den Worten doch ein eudämonistisch-politisches Ge*) Ob nur an das Chaos der Revolution zu denken ist?
Ob sich
nicht in dem Geständnis „nun braucht man es nicht mehr zu bereuen, geboren zu sein", ein tiefer Pessimismus in Bezug auf das Leben überhaupt ausspricht?
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1. Als die Zeit erfüllet war. (1899)
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präge und ließ den Missionaren, die vom Alten Testament und vom Evangelium her kamen, diese Religion als eine Spottgeburt erscheinen. Paulus hat darum nirgendwo an den Kaiserkult angeknüpft, so verlockend es sein mochte, von ihm auszugehen, sondern an „den unbekannten Gott". Er hat auch jene religiöse Sprache des Kaiserkultus, so zweckmäßig es scheinen konnte, sie als Gefäß für die Predigt von Jesus Christus zu gebrauchen, noch nicht benützt. Erst in den Pastoralbriefen, bei Lukas und bei Johannes zeigt sich eine Annäherung an sie. Dann gewinnt sie die Oberhand. Aber indem man sie annahm, weil sie in so majestätischen Hymnen den Weltheiland feierte, bekämpfte man um so nachdrücklicher den Kaiserkultus selbst. Man nahm ihm die "Waffen weg; man bekämpfte ihn mit den eigenen Waffen. Der Kampf des Christentums gegen das Heidentum war im zweiten Jahrhundert ein Kampf gegen die Religion des Kaiser-Heilands. Alle übrigen Religionen kamen als Feinde eigentlich gar nicht in Betracht, und wenn der Apokalyptiker Johannes an die G-emeinde von Pergamum schreibt: „Ich weiß, wo du wohnst — wo der Thron des Satans ist", so meint er den Kaiserkult, der in jener Stadt seinen Hauptsitz hatte. Nur ein Apologet des zweiten Jahrhunderts, der Bischof Melito in der kleinasiatischen Stadt Sardes, hat sich (in einer höchst bedenklichen Ausführung, die uns Eusebius in seiner Kirchengeschichte mit Beifall aufbewahrt hat) dazu verleiten lassen, die Verkündigung vom "Weltheiland Augustus, die auch er in Sardes auf einer Prunkinschrift gelesen haben wird, friedlich mit der Predigt von Jesus Christus zu verbinden und von der Milchschwesterschaft des Kaiserreichs und des Christentums zu sprechen. Er hat mit Hilfe jener Inschrift, oder einer ähnlichen, das Thema „Augustus — Jesus Christus", das Lukas angeschlagen hatte, in einer Weise ausgeführt, die dieser weit von sich gewiesen hätte: die Welt hat nach diesem Bischöfe zwei Heilande, die gleichzeitig
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I. Person und Botschaft Jesu
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erschienen sind, den Augustus und den Christus! Zum Glück sind ihm wenige Christen damals noch in dieser Richtung gefolgt. Aber die Sprache des Kaiserkultus ist die christliche geworden. Wir beklagen das nicht; sonst müßten wir sie heute abstreifen; aber wir haben keine bessere. Oder ist's möglich, überall zu der schlichten Sprache zurückzukehren, die Christus selbst gesprochen hat? Vielleicht ist das kommenden Geschlechtern beschieden. Einstweilen lernen wir, jedem das Seine zu geben, und erkennen immer mehr, in welchem Maße die Gefäße vorbereitet waren, um das Evangelium aufzunehmen. Aber noch mehr: das Evangelium selbst stellt gleichsam nur einen neuen, entscheidenden Kraftpunkt dar. Das meiste von dem, was wir sonst noch der Originalität des Christentums zuschreiben, lag längst teils im Judentum, teils in der ernsten religiösen Arbeit der Griechen fertig vor und wurde von der Kraft des Evangeliums einfach in Beschlag genommen. So entstand das „Christentum".
Christus als Erlöser. Die christliche Religion hat zwei Brennpunkte: Heiligkeit und Vergebung. Ihr einfachster Ausdruck ist das Bekenntnis zu dem allmächtigen, heiligen Gott als dem Vater; aber eben dieses Bekenntnis schließt die Verpflichtung und die Kraft zu einem heiligen Leben, weil die Gewißheit der Vergebung in sich. Das Christentum ist die Religion der Erlösung, denn es ist die Religion der Vergebung. Die Bitte: „Vergib uns unsre Schuld", entspricht der festen Überzeugung, daß Q-ott wirklich Sünden vergibt. Nicht Luther, als er in seinem kleinen Katechismus die Worte schrieb: „Wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit", war der Erste, der Vergebung und seliges Leben in Eins gesetzt hat — Jesus selbst ist es gewesen, der in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn, diesem Paradigma des Evangeliums, gezeigt hat, daß das Sohnesrecht mit der Vergebung zusammenfällt. Der verlorene Sohn erhält an allem Teil, was der Vater besitzt; in der Vergebung hat er die Erlösung und Seligkeit gefunden. Aber wenn wir auf die Christenheit der Gegenwart blicken, so scheint es, als habe der Glaube an Erlösung seine Gewißheit verloren, ja selbst die Sehnsucht und der Wunsch nach ihr ist wie erloschen. Tausende, die an dem Gottesglauben oder doch an der Ethik des Christentums festhalten, scheinen von Erlösung nichts wissen zu wollen. Tür sie ist dieser Gedanke unkräftig oder sinnlos, nichts
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I. Person und Botschaft Jesu
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anderes als die historische Überlieferung einer vergangenen Frömmigkeit, im besten Falle die Ursache einer vorübergehenden Rührung. Vollends die Vorstellung von Erlösung mit der Person Jesu zu verbinden, erscheint ihnen als eine Unmöglichkeit. Sie fühlen sich befriedigt durch ein Christentum ohne Christus und ohne Erlösung. Eben deshalb setzen sie auch den Lehren der Kirchen von Christus als dem Erlöser einen starken Widerspruch entgegen oder schieben sie stillschweigend beiseite. Die Gründe für diese negative Stellung sind verschieden. Die Einen sagen, daß sie die Notwendigkeit einer Erlösung überhaupt nicht fühlen, und die Anderen erklären, daß sie ihre Möglichkeit nicht zugeben können. "Wieder andere sehen in dieser Lehre etwas Schwächliches und "Weibisches, was sich mit einer ernsten, männlichen Ethik nicht verträgt. Es gibt aber auch solche, die die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Erlösung wohl empfinden, aber ihre Beziehung auf Jesus Christus für eine Illusion erklären: Wie kann ein Mann, der vor 1800 Jahren gelebt hat, der Erlöser für die Gegenwart sein? Fast alle aber sind mehr oder weniger von dem affiziert, was sie die „moderne Weltanschauung" nennen; diese gestatte es nicht mehr, den Gedanken der Erlösung festzuhalten: Die Psychologie hat uns ein neues Bild vom Menschen gegeben; die Forschungen über den Ursprung der Moral haben unsre Ansichten über das Böse und die Sünde geändert; die historische Wissenschaft hat uns einen geschichtlichen Christus gegeben statt eines himmlischen; die kritische Philosophie hat mit scharfen Linien die Grenzen des Erkennbaren und des Wirklichen umzogen — wo bleibt da Raum für Erlösung und für einen Erlöser? Aber ist wirklich die Sache selbst erschüttert worden? Die Formen, in denen frühere Zeiten empfanden und sich über Erlösung und Erlöser aussprachen, sind für solche, die scharf denken, gewiß zum Teil zerstör^ aber wie steht
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2. Christus als Erlöser. (1899)
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es mit dem Kern? Liegt in ihm nicht ein Hauptstück des religiösen Glaubens, und kann dieser Glaube je seine Kraft verleugnen, sich, jedem Angriff gegenüber zu behaupten? „Und wenn du mich bis zur Wurzel ausrottest, werde ich doch wieder blühen", lautet ein triumphierender alter Spruch. „Die Menschheit schreitet immer fort, und der Mensch bleibt immer derselbe", hat Goethe einmal gesagt. Diese Erkenntnis von der Konstanz des Menschlichen — sie hat gewiß auch etwas Niederschlagendes — ist auch erhebend. Der Mensch bleibt nicht nur derselbe in dem, was niedrig und gemein ist, sondern auch in jenem höhern Streben, das ihn über das irdische Leben hinausführt. A u g u s t i n s Wort: „Du, Herr, hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir", wird seinen Widerhall in den Herzen der Menschen finden, solange Menschen auf Erden leben, und ebenso wird die frohe Botschaft von der Erlösung und dem Erlöser nie verloren gehen. Im folgenden sollen einige Gesichtspunkte festgestellt werden, die den christlichen Glauben von Erlösung rechtfertigen. Es ist dabei nicht meine Aufgabe, einen bestimmten Standpunkt zu vertreten; ich werde vielmehr bestimmte Tatsachen ins Gedächtnis zurückrufen. 1. Die, welche behaupten, daß sie die Notwendigkeit einer Erlösung nicht empfinden, täuschen sich entweder selbst oder sie denken nur an eine bestimmte Art der Erlösung. Ich meine hier nicht den gewöhnlichen Wunsch, die eigene Lage zu verbessern, gewissen Schranken zu entfliehen und sich von Lasten zu befreien, sondern vielmehr jenes tiefere Gefühl — die Sehnsucht, frei zu werden von dem gemeinen Lauf des Lebens und ein höheres und tieferes Dasein zu gewinnen. Wir brauchen nur unsre Augen aufzutun, so gewahren wir Hunderte von Erlösern, die sich anbieten und der sehnsüchtigen Menschheit Erlösung versprechen. Es gibt auch teuflische Erlöser: der Rausch und die Ausschweifung. Aber auch Wissenschaft und Kunst
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I. Person und Botschaft Jesu
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versprechen ihren Jüngern Befreiung. Es gibt solche, die ihre Erlösung von Schriftstellern, Dichtern und Philosophen erwarten und die verkündigen, daß sie durch diese den Weg zur Freiheit gefunden haben. Die Welt ist voll von Propheten, Meistern und Erlösern, wenn auch nur wenige heute so genannt werden. Das, was sie nicht verschwinden und sterben läßt, was sie immer aufs neue erweckt, ist eine edle Sehnsucht. Überall lebt in der höher entwickelten Menschheit der Wunsch, sich über den Strom des gewöhnlichen Tun und Leidens zu erheben; man will in ihm nicht untergehen und verschwinden. Frei werden vom Dienst des vergänglichen Wesens — wer ist's, in welchem dieser Wunsch, sei es auch unkräftig und verschüttet, nicht lebt? 2. Aber dieses Sehnen nach Erlösung, wie es unter uns sich ausspricht, kann noch genauer bestimmt werden. Wohin nur immer die christliche Religion gekommen ist, wo auch nur ein schwächlicher Strahl von ihr geleuchtet hat, da hat die Erkenntnis Wurzel gefaßt, daß Unschuld und Reinheit das höchste G-ut und daß Schuld der Übel größtes sei. Rein sein und innern Frieden haben, das ist die Sehnsucht aller Sehnsucht. Sprecht nur das rechte Wort zu den Menschen, sucht den Weg zu ihrer Seele, und ihr werdet finden, daß dies Sehnen in niemandem ausgestorben ist — jene Sehnsucht, der Schuld ledig zu sein und edle Gedanken und ein reines Herz zu haben. Es ist nicht wahr, daß die große Mehrzahl der Menschen so in das gewöhnliche, sinnliche und selbstsüchtige Treiben versunken ist, daß sie nicht nur das Heilige und Reine selbst, sondern auch das Gefühl für dasselbe und die Sehnsucht nach ihm, verloren haben. Es ist auch nicht wahr, daß irgendeine Wissenschaft und Welterkenntnis dies Gefühl ertöten könne. Gewiß, man muß zugeben, daß die moderne Entwicklung die Gefahr mit sich heraufgeführt hat, das Innenleben zu unterschätzen und durch den Nachweis des Ursprungs unserer sittlichen Empfindungen ihren Wert aufzulösen. Allein
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dieser Erfolg kann nur ein vorübergehender sein. Es ist gleichgültig, wie wir unsere moralischen Fähigkeiten erworben haben — mögen wir einst was immer gewesen sein, mag uns Freiheit in jedem Sinne gefehlt haben — heute empfinden wir sie in bezug auf Gut und Böse und stellen, wie immer unsre Theorien lauten mögen, praktisch an uns selbst und an andre Ansprüche, welche die Freiheit und Verantwortlichkeit zur Voraussetzung haben. Und das, was sich auf dieser Höhe abspielt, das schätzen wir als das eigentliche Leben, dem das physische Leben sich unterordnen soll. Was bedeutet es, wenn wir dem Schmetterlinge zeigen, daß er einst eine Raupe gewesen ist und nur kriechen konnte? Jetzt ist er ein Schmetterling und über die Bedingungen erhoben, die ihn einst beherrscht hatten. Die Menschheit hat in stufenweiser Entwicklung Metamorphosen von noch höherer Art erlebt. Wann sie begonnen haben, kann niemand sagen; denn ihr Ursprung liegt jenseits der erkennbaren Geschichte, aber ihr Ergebnis liegt vor uns. Der Mensch ist ein gesetzgebendes und nachschaffendes Wesen geworden, und diesem Wesen entspricht die Freiheit, die Freiheit zum Guten. Eine der letzten Phasen in dieser Entwicklung können wir auch geschichtlich noch erkennen; es ist die Zeit der israelitischen Propheten und die Zeit des Sokrates und Plato. Diese Zeit erscheint innerhalb der Grenzen der griechisch-römischen Welt vollendet durch Christus und seine Jünger. Sie haben uns einen neuen Sinn und ein neues Leben gebracht, das wir nicht nur als ein äußeres Sollen, sondern auch als die Entschleierung unserer wahren Natur und als ein erreichbares Ziel empfinden. Äußerlich betrachtet scheint sich freilich die Geschichte der Menschheit wenig verändert zu haben; sie ist noch immer erfüllt von geheimem und offenem Krieg, von Blutvergießen und von dem Kampf um den irdischen Besitz. Und doch ist etwas Neues hinzugetreten. Jedes geöffnete Auge ge-
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wahrt es, und der unbestochene Historiker muß es bestätigen. Das tiefste Thema des persönlichen Lebens und das eigentliche Thema der Weltgeschichte ist der Kampf des Glaubens mit dem Unglauben geworden, der Kampf um Gott und die Erlösung. Der einzelne und die Menschheit, unterstützt von der Macht des Sittlichen und Heiligen, ringen, frei zu. werden vom Dienst des vergänglichen "Wesens und ein Reich der Liebe, das Reich Gottes, aufzurichten. Moderne Ge» schichtsschreiber wollen uns überzeugen, daß dieses eine Illusion sei, und daß das Thema der "Weltgeschichte noch immer lediglich der Kampf um die Futtermenge und den Futterplatz sei. Sie irren sich. "Wenn es gefordert würde, würden sich heute Tausende und Tausende finden, die um des sittlichen Ideals willen sich aller irdischen Güter, ja selbst ihres Lebens, entäußern würden. Es wird gefordert, und sie tun es. Täglich werden solche Opfer im stillen gebracht in der Gewißheit, daß das Leben der Güter höchstes nicht ist. Diese Gewißheit braucht keine reflektierte zu sein; auch das Sittliche, das Leben mit Gott, kann mit der sanften Gewalt eines Naturgesetzes wirken. 3. "Wenn dem so ist, so sind wir hier in der Sphäre, zu welcher die Erlösung gehört. Im höchsten Sinn kann Erlösung nur die Macht sein, die uns hilft, ein reines und heiliges Leben, ein Leben mit Gott, zu führen, und die uns mit der Überzeugung erfüllt, daß es sich hier nicht um eine Illusion handelt, sondern daß wir das Leben gewinnen, wenn wir es verlieren. Aber daraus folgt auch, daß es für uns keine Erlösung geben kann als etwas „Objektives", außerhalb unserer Persönlichkeit Fallendes. Die größten Ereignisse mögen sich auf Erden oder zwischen Himmel und Erde abgespielt haben — sie sind wertlos für uns, wenn sie nicht unser Erlebnis sind. Unser Erlebnis können sie nur werden im Schauen oder im Glauben. Aber noch etwas anderes folgt hier: wenn es gilt, frei zu werden von der "Welt und Bürger
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in einem überweltlichen Reiche zu werden, d. h. ein neues Leben zu gewinnen, so ist offenbar, daß nichts Irdisches Erlösung zu bringen vermag, und daß nur Gott selbst der Erlöser sein kann. So ist es auch immer empfunden worden, wo nach wirklicher Erlösung ausgeschaut worden ist. Die Propheten und Psalmisten haben es nicht anders gewußt; sie suchten nach keinem menschlichen Erlöser, sie suchten Gott. „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Herr, zu dir." „Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du, Herr, doch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil." Bis auf unsre Tage hat noch niemand, der nach wirklicher Erlösung suchte, etwas anderes begehrt als daß ihm Gott gegenwärtig sein möge. Sie baten ihn, daß er ihnen aufgehen möge, daß er zu ihnen käme, wie arm und unwert sie sich auch fühlen mochten; sie baten ihn um die Vergebung ihrer Schuld, um ein reines Herz und um einen gewissen Geist. 4. So scheint es also, als sei ein menschlicher Erlöser eine Unmöglichkeit. Es scheint nicht nur so, es ist so. Nur Gott ist der Erlöser. Ein geheimnisvolles Band verknüpft jeden Menschen mit Gott, und nur wenn er dieses persönliche Band empfindet — „Rede Herr, dein Knecht höret" — kann er erlöst werden. Und doch nennt die Christenheit Jesus von Nazareth als ihren Erlöser? Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Es gibt Menschen, in denen die religiöse Anlage so stark ist, daß sie fähig sind, fast ohne Hilfe Anderer Gott zu finden und in Gott zu leben; aber die Religionsgeschichte zeigt uns, daß solche Menschen selten sind, und daß die große Mehrzahl unsres Geschlechts die Religion nicht so erlebt wie jene sie erleben. Die Propheten sahen Gott, hörten ihn, fühlten seine Gegenwart, und in diesem Erlebnis fanden sie den deutlichsten Beweis für seine Existenz und für sein Wesen. Die Religionsgeschichte zeigt uns aber ferner, daß
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jene Männer den lebhaftesten Antrieb, ja das zwingende Gebot empfanden, das, was sie erfahren hatten, auszusprechen, ihren Mitbrüdern Gott zu verkündigen und die schwache Gotteserkenntnis in ihnen zu steigern. Ihre Predigt war nicht vergeblich. Es ist hier wie in bezug auf die Kunst. Wir alle haben eine gewisse künstlerische Anlage, aber nur durch die Hilfe des Künstlers wird sie gestärkt, sonst verkümmert sie. Aber auch ein Künstler bedarf oft des anderen, und ein Prophet salbt den anderen. Dies ist eine geschichtliche Ordnung und geschichtliche Verkettung. Freiheit, Unabhängigkeit und ein höheres Leben sind selten lediglich natürliche Gaben; sie sind das Ergebnis von Abhängigkeit und Erziehung. Es war die bedeutendste Stufe in der Religionsgeschichte, als man Gott nicht mehr in dem Strahle der Sonne, im Sturm oder in paradoxen Erscheinungen des "Weltlaufs suchte, sondern in den "Worten heiliger Männer wie der Propheten. Erst jetzt wurde die Religion ein Bestandteil des inneren Lebens und mit der Moral verbunden. Die Menschheit büßte die Ehrfurcht nicht ein, mit der sie die Gottheit in dem "Walten der Schöpfung ahnte, aber sie sah zu dem Gott, der in den Propheten redete, mit noch größerer Ehrfurcht auf; denn in ihrem Geist und "Wort war er offenbar. Jetzt lernte sie, daß die wirkliche Offenbarung Gottes nur im Menschen geschehen könne, denn Gott ist der Heilige; Heiligkeit aber kann sich nicht in der Natur offenbaren. Deshalb lauschte man den Propheten, und deshalb räumte man ihnen eine so einzigartige Stellung ein. Man fühlte, daß man ohne sie in der Unwissenheit und einer ewigen Knechtschaft verhaftet geblieben wäre. Indem man aber den Propheten glaubte und ihnen folgte, ging ein Teil von dem, was sie erfahren hatten, in die Seelen ihrer Hörer über. In diesem Sinne waren schon sie Erlöser, weil Gott der Heilige und der Erlöser an ihnen kund geworden war. Es war ja nicht ihr eigenes Feuer, das in ihren Seelen brannte,
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sondern sie waren die Packeln, die Gott entzündet hatte. Diese Fackeln setzten die glimm enden Dochte in Brand. 5. Jesus Christus war ein Prophet. Wer ihm nahe kommen will, muß mit dieser Betrachtung seiner Person und seines Werkes beginnen. Wer unfähig ist, die Propheten und ihre Aufgabe in der Geschichte zu verstehen, kann auch Jesus Christus nicht verstehen. Aber die Christenheit nennt ihn nicht nur einen Propheten, sondern unterscheidet ihn auch von allen Propheten, indem sie ihn als den Erlöser bekennt und indem sie im Hinblick auf ihn von keinem Erlöser weder vor ihm noch nach ihm mehr wissen will. Wie ist dies Bekenntnis zu verstehen und zu rechtfertigen? Der einfachste Weg scheint der zu sein, sich auf das Zeugnis Jesu über sich selbst zu berufen. Ist es doch unzweifelhaft, daß er zwischen sich und allen Propheten unterschieden und für sich eine einzigartige Stellung beansprucht hat. Allein diese Berufung würde eindruckslos bleiben müssen, wenn sie nicht durch den Nachweis unterstützt würde, daß er zu solchem Zeugnis berechtigt war. Blinde Unterwerfung hat keinen sittlichen Wert. Jesus Christus war ein Prophet, aber er war der letzte Prophet. Die nach ihm kamen, waren schwache oder falsche Propheten oder sie haben bekannt, daß sie aus seiner Fülle Gnade um Gnade genommen haben. Eben deshalb sind wir nicht berechtigt, die großen Gottesmänner, die ihm gefolgt sind — Paulus, den vierten Evangelisten, Augustin, Franziskus, Luther und die übrigen — Propheten zu nennen. Jesus Christus war ein Prophet; aber während die anderen Propheten nur kleine Kreise für sich gewannen, wurde er der Prophet für viele Völker und für eine Epoche, die kein Ende gefunden hat. Jesus Christus war ein Prophet; aber während die anderen Propheten nur eine unvollkommene Gotteserkenntnis besaßen und sich gegenseitig korrigierten, brachte er die
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vollkommene Gotteserkenntnis, indem er Gott ausschließlich als den heiligen und allmächtigen Vater und darum als die barmherzige Liebe, verkündete. Jesus Christus war ein Prophet; aber während Erkenntnis und Tat bei den früheren Propheten oft im Zwiespalt waren oder sich doch nicht deckten, konnte auch das geschärfte Auge des Hasses keinen Zwiespalt entdecken zwischen dem, was er lehrte, und dem, was er tat. Seine Speise war, den Willen seines Vaters im Himmel zu tun. Dies sind geschichtliche Tatsachen, und um dieser Tatsachen willen ist es wahr und recht, Jesus nicht als einen Propheten wie andere zu beurteilen. Wir sind gezwungen, ihn aus ihrer Schar herauszuheben, ihn nicht nur an ihre Spitze, sondern über sie zu stellen. Er nannte sich „den Sohn Gottes", und wir verstehen, daß er das Recht hatte, sich so zu nennen. Er lehrte seine Jünger den Vater erkennen, und er führte sie zu ihm. Und noch heute führt sein Evangelium die Menschen aus Eigenlust und Weltlust, aus Gottesangst und Gottlosigkeit zu einem Leben mit Gott, dem Erlöser. Es ist, weil sie seine Stimme gehört haben, daß sie sprechen: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen." 6. Aber auch dies ist noch nicht alles. Gewiß, wer das erfahren hat, was eben kurz beschrieben ist, der ist ein Jünger Christi, und niemand darf ihm diesen Namen verweigern. Aber das Bekenntnis der ältesten Christenheit zu Christus umfaßt noch mehr. Erstlich wird Christus darin der Versöhner genannt, und es wird verkündigt, daß er für unsere Sünde gestorben ist. Zweitens wird in ihm gelehrt, daß er der Lebendige geblieben ist, in den Gläubigen wohnt, sie erfüllt, leitet und regiert. Bei diesem letzteren Punkte will ich nicht verweilen: daß er, der der Prophet, Führer und Herr ist, innerlich Besitz von den Seinen ergreift, das ist keine Paradoxie oder ein bloßer Gedanke, sondern eine Tatsache. Aber das, was
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hinter dieser Tatsache liegt, was in dem Bekenntnis ausgedrückt ist: „Christus lebet in mir", die Uberzeugung von dem ewigen Leben Christi, von seiner Macht und Herrlichkeit, das ist ein Geheimnis des Glaubens, das aller Erklärung spottet. Der erste Punkt aber fordert noch eine genauere Betrachtung. Christus starb für unsre Sünden? Christus hat uns mit Gott versöhnt? "Wie, forderte Gott eine Versöhnung? Ist er nicht die Liebe? "Will er, der die Sünden vergibt, eine Entschädigung? Fordert der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn eine Genugtuung, ehe er dem Sohn vergibt? Heißt es nicht vom Zöllner, der da betet: „Gott sei mir Sünder gnädig": „Dieser ging gerechtfertigt in sein Haus?" Gewiß, so ist es. Gott ist die Liebe. Er ist immer die Liebe gewesen und wird sie ewig bleiben. "Worin anders besteht der Trost des Evangeliums, als daß es uns Gott als die ewige Liebe offenbart? Fern sei der Gedanke, daß Gott sich vom Zorn zur Liebe gekehrt habe oder, daß irgend etwas für ihn geopfert oder an ihn bezahlt werden mußte, damit er die Menschen liebe und ihnen vergebe. Und dennoch — mit dieser Erkenntnis ist die Sache nicht erschöpft. Es gibt ein unverbrüchliches Gesetz, das den Gottund Friedelosen zwingt, Gott entweder zu negieren oder ihn als den zornigen Richter zu fürchten und zu fliehen. Das ist die eigentliche und härteste Strafe der Sünde, d. h. der Entfernung von Gott; denn es gibt keine andere Sünde. Diese Strafe entleert entweder das Herz von allem Hohen und Heiligen oder verwandelt den Gottesglauben in einen peinigenden Schrecken. Oft tut sie Beides, und die Seele schwankt zwischen dem Nichts und den unbestimmten Gefühlen einer schlechthin untilgbaren Schuld oder eines lähmenden Drucks. Dieser Zustand ist unnatürlich und falsch, aber andererseits doch nicht verkehrt und falsch, weil er die normale Folge der selbstgewollten, verkehrten Bestimmung ist. Wie kann er überwunden, wie kann der
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Mensch, von ihm befreit werden? Nicht durch „Selbsterlösung", sondern immer nur durch eine Kraft, die von außen kommt, um das Verschüttete zu befreien und der nie ganz ausgerotteten höheren Triebkraft Leben zu bringen. Und nur Taten, nicht Worte, vermögen hier wirksam zu sein, oder vielmehr Worte, die zugleich Taten sind. Wenn der Heilige sich zu den Sündern herabläßt, wenn er mit ihnen lebt und wandelt, wenn er sie nicht für zu gering hält, sie seine Brüder zu nennen, wenn er nichts von ihnen verlangt als daß sie seine Gegenwart unter ihnen sich gefallen lassen, wenn er ihnen dient und für sie stirbt — dann glauben sie wieder an das Heilige, weil sie es tatsächlich erleben, und es schmilzt zugleich der Schrecken vor seiner richterlichen Strenge. Sie erfahren, daß das Heilige die Barmherzigkeit ist und das es etwas Mächtigeres gibt als die Natur, ja etwas Mächtigeres als die Gerechtigkeit — die allmächt i g e Liebe. In diesen Zusammenhang muß man das Leben, das Wort und den Tod Jesu setzen. So hat es gewirkt und so wirkt es noch. Er schafft die Überzeugung, daß die vergebende Liebe eine Tatsache ist, die höchste Offenbarung alles höheren Lebens, und daß diese Liebe größer ist als die strafende Gerechtigkeit, also daß diese nun nicht mehr als das letzte Wort des höheren Lebens erscheint. Wer das glaubt, der ist versöhnt, ist versöhnt mit Gott; denn nicht Gott bedarf der Versöhnung, sondern der Mensch muß zu ihm zurückgeführt werden. Der Versöhnende aber ist Christus; denn er erlöst die Menschen von dem Gesetz der Sünde, dem sie verfallen waren, Gott entweder zu negieren oder als schrecklichen Richter sich zu denken. Wie erlöst er? Nur dadurch, daß sein Wort, sein Leben, sein Tod, d. h. er selbst, zum Erlebnis der Seele wird und sie in diesem Erlebnis von dem Zwang des Gesetzes der Sünde, von diesem unnatürlichsten Naturgesetz, befreit. Das ist die Grundform des christlichen Glaubens von
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der Versöhnung und dem Versöhner. Ich will nicht sagen, daß jeder Christ sich bewußt sein muß, so zu glauben, und noch weniger will ich behaupten, daß Gottes "Wege hiermit erschöpft sind. Aber das ist offenbar und muß jedem Christen in seiner Bedeutung offenbar geworden sein, daß Christus nicht die Gerechten zu sich gerufen hat, sondern die Sünder und die, welche, nach der Gerechtigkeit hungernd, vor ihr zittern. Und auch das lehrt die Geschichte, daß die tiefsten und reifsten Christen Jesus nicht nur als den Propheten, sondern auch als den Erlöser und Versöhner erfaßt haben. Ja noch mehr — sie befriedigten sich nicht dabei, die Versöhnung nur in seinem Wort und Lebenswerk zu sehen: sie betrachteten auch sein Leiden und seinen Tod als stellvertretend. Wie konnten sie anders? Wenn sie, die Sünder, sich dem Gericht der Gerechtigkeit entnommen wußten, ihn aber, den Heiligen, leiden und sterben sahen, wie sollten sie da nicht erkennen, daß er gelitten hat, was sie hätten leiden sollen? Vor dem Kreuz ist kein anderes Gefühl und keine andere Beurteilung möglich. Aber in diesem Gefühl und dieser Beurteilung ist auch das erschöpft, worauf es hier ankommt. Jede rechnende Spekulation muß auf diesem Gebiet ins Ungewisse und Bodenlose geraten; denn über die Linie des Gerechten hinaus vermögen wir nicht zu spekulieren. Auch entflieht die Ehrfurcht, wenn die allmächtige Liebe auf ihr Naturrecht und ihre Mittel geprüft werden soll. Sie ist immer nur als Tatsache uns offenbar und liegt an der Grenze des mit der Vernunft Erfaßbaren. Das Kreuz Christi ist wie alles Kreuz, das im Dienst der Brüder steht, und wie die barmherzige Liebe selbst ein heiliges Geheimnis, den Klugen und Weisen verborgen, aber die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes.
Der Heiland. I n dem kleinen Aufsatz „Als die Zeit erfüllet war" (Christi. "Welt 1899 Nr. 51) habe ich auf Grund einer neuentdeckten Inschrift vom Jahr 9 vor Christi G-eburt gezeigt, daß unsre religiöse Sprache in Bezug auf Jesus Christus ihre Vorbereitung auch an der religiösen Sprache der Griechen gehabt hat. Genauer noch muß man sagen, daß die Christenheit seit dem Ausgang des ersten Jahrhunderts besonders solche Begriffe und Worte bevorzugte, die ihr sowohl von dem Alten Testament als von den Griechen identisch geboten wurden. Es ist nämlich eine der wichtigsten religionsgeschichtlichen Erkenntnisse, daß sich im Zeitalter der Entstehung des Christentums auf der jüdischen und auf der griechischen Linie zahlreiche religiöse Begriffe und Ausdrücke finden, die sich decken und also einfach ineinander übergehen konnten. Diese merkwürdige Erscheinung ist zum Teil dadurch bedingt gewesen, daß das Griechentum seit den Tagen Alexanders des Großen auf das Judentum eingewirkt hat, und daß in bescheidenen Grenzen auch das Umgekehrte der Fall gewesen ist. Aber ein anderer Teil der Erscheinungen läßt sich so nicht erklären; vielmehr hat die innere Entwicklung der Religion dort und hier dieselben Empfindungen, Erkenntnisse und Ausdrücke hervorgerufen. Die wichtige Aufgabe, alle diese Begriffe und Worte zusammenzustellen, um sie einheitlich zu überschauen, ist bisher noch nicht in Angriff genommen, geschweige gelöst. Und doch wird man erst dann ein
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sicheres Urteil über die Originalität und über die Anpassungskraft des Evangeliums gewinnen können. Der Prozeß aber, wie die ältesten Christen Schritt f ü r Schritt die religiöse Sprache der Griechen aufgenommen haben, läßt sich in seinen frühesten Stadien schon im Neuen Testamente verfolgen, wenn man die älteren Schriften darin mit den jüngeren vergleicht. Durchweg erkennt man, daß Markus, Matthäus und Paulus am wenigsten von der religiösen Sprache der Griechen beeinflußt waren, während Lukas, Johannes und namentlich der Verfasser der Pastoralbriefe und des 2. Petrusbriefs viel stärker von ihr abhängig sind. Es ist ein neuer Beweis f ü r die wunderbare Originalität und K r a f t des Paulus, daß er, obgleich er Jahrzehnte unter den Griechen wirkte, doch aus ihrer religiösen Sprache so wenig aufgenommen hat. Umgekehrt hat Lukas den Versuch gemacht, die ihm schon in festen Sprachformen überlieferte evangelische Geschichte mit schonender Hand sprachlich zu korrigieren und der Empfindung, der Begriffswelt und dem Verständnis der Griechen näher zu bringen. Darauf ist man längst aufmerksam geworden; in neuester Zeit aber hat namentlich Professor N o r d e n in seinem schönen Buche über die „antike Kunstprosa" eine Reihe vortrefflicher Beobachtungen über diesen Punkt angestellt. Von ganz besonderem Interesse ist übrigens in dieser Richtung die dem Lukas eigentümliche Vorgeschichte Jesu (Luk. 1 u. 2). Unzweifelhaft hat er hier eine judenchristliche Quelle benutzt — es gibt kaum einen größeren Abschnitt im Neuen Testament, der uns so „alttestamentlich" in seiner Sprache anmutet wie jene Kapitel —, aber er hat es verstanden, ohne das Sprachkolorit zu verwischen, so nachzuerzählen, daß jene Verkündigungs- und Geburtsgeschichten grade auch den echten Griechen besonders verständlich und erbaulich sein mußten. I m folgenden will ich an einem Beispiele zeigen, wie ein Wort sich eingebürgert hat, das f ü r uns heute zum
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eisernen Bestände der christlichen Sprache gehört, aber ursprünglich in ihr gefehlt hat — das Wort Heiland für Jesus Christus. In den Evangelien des Markus und Matthäus sucht man es vergebens: weder im Munde Jesu noch in den Berichten der Evangelisten kommt es vor. Freilich, wenn Jesus dem Täufer Johannes auf dessen Frage, ob er der Messias sei, antworten läßt: „Die Blinden sehen usw.," so ist keine Bezeichnung für ihn zutreffender als die des „Heilandes". Allein das Wort ist nicht gebraucht. Das ist um so bemerkenswerter, als die griechische Übersetzung des Alten Testaments die Bezeichnung „Heiland" (für Gott selbst) wohl kennt; erinnert sei nur an die berühmte Stelle im Hiob: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt." Aber unter den vielen Bezeichnungen des zukünftigen Messias im Judentum fehlt die Bezeichnung „Heiland". Darum ist sie auch nicht in die ursprüngliche evangelische Verkündigung gekommen. Dagegen war bei den Griechen das Wort „Heiland" eine sehr häufige Bezeichnung der Götter. Ursprünglich bedeutete es „Nothelfer" in den vielen kleinen und großen Kalamitäten des Lebens. Die Dioskuren waren die „Heilande" der Schiffer, der Nil war der „Heiland" Ägyptens; auch Feldherrn wurden mit dem Ehrentitel „Heiland" geehrt. In dem Maße aber als sich die Religion erweiterte und vertiefte, bekam auch das Attribut „Heiland" für die Gottheit eine weitere und tiefere Bedeutung: der Mensch bedarf des Heilands überhaupt. Gottes höchste Kraft ist, daß er Heiland ist; die göttliche Vorsehung ist die des „Heilandes". So bekam die uralte Formel „Zeus der Heiland", „Gott der Heiland", einen neuen umfassenden Sinn, und als der irdische Gott, der Kaiser, neben den Zeus trat, wurde auch er als Heiland, ja als Weltheiland, gefeiert. Grund genug für Paulus, die Formeln „Gott der Heiland", „Christus der Heiland" beiseite zu lassen. Sie war
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ihm wohl nicht bezeichnend genug. Nur zweimal in seinen echten Briefen hat er das Wort „ H e i l a n d " f ü r Christus gebraucht, aber nicht als Name: Epheser 5, 23 und Philipper 3, 20. Die erstere Stelle dürfen wir beiseite lassen — die Auslegung ist strittig —; an der zweiten schreibt er: „Unser Staatswesen ist im Himmel, von dannen wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten." Der Q-egensatz ist klar: „Unser Staatswesen ist nicht das römische Reich mit seinem Kaiser-Heiland." Weit entfernt also, daß man aus unserer Stelle entnehmen dürfte, dem Apostel sei der Ausdruck „Heiland" für Christus geläufig gewesen, folgt vielmehr umgekehrt aus ihr, daß er nur um des Gegensatzes willen zu ihm gegriffen hat. Aber nicht lange nach der Zeit des Paulus wurde es anders. Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe*) bezeichnen den Umschwung, und zwar nehmen sie sowohl die antike (und zugleich alttestamentliche) Formel „Gott der Heiland" auf, als sie auch die neue Formel „Christus der Heiland", „Christus, der Herr und Heiland" bilden. Lukas bietet bereits in seiner Vorgeschichte Jesu beide; er läßt Elisabeth (1, 47) „Gott mein Heiland" aufjubeln, und er hat den Satz an den Anfang der heiligen Geschichte gestellt (2, 11): „Euch ist heute der Heiland geboren." Der ganze Vers ist in allen seinen Worten so gestaltet, daß er Juden und Griechen gleich heimisch lautete — das Neue war, daß „Christus der Herr in der Stadt Davids" dieser Heiland ist, dessen Frohbotschaft „allem Volke" gilt. Auch in der Apostelgeschichte hat Lukas noch zweimal (5, 31; 13, 23) von dem gesprochen, „den Gott zum Fürsten und Heiland" erhoben hat, oder von dem „Heiland Jesus". I n den Pastoralbriefen, so kurz sie sind, wird Gott selbst nicht weniger als sechsmal „Gott der Heiland" ge*) Diese Briefe können nicht von Paulus geschrieben sein; doch liegen ihnen höchst wahrscheinlich Paulinische Briefzettel zu Grunde.
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nannt, Christus aber heißt viermal „unser Heiland". Eine Stelle ist ganz besonders merkwürdig; denn sie lautet mit antiker Feierlichkeit: „Wir erwarten die herrliche Zukunft unseres großen Grottes und Heilandes Christus Jesus." Ähnlich heißt es im 2. Petrusbrief: „Unser Grott und Heiland Jesus Christus." Dieser späte Brief ist deshalb in der Geschichte der christlichen Sprache wichtig, weil er zeigt, daß auch der Ausdruck „Unser Herr und Heiland Jesus Christus" bereits formelhaft geworden ist. Er kommt in dem kleinen Briefe nicht weniger als viermal vor. Seitdem ist diese Zusammenstellung eine besonders bevorzugte in der Christenheit geworden. Johannes aber ist es gewesen, der die Bezeichnung „"Weltheiland", die in der Antike auch schon bekannt war (für den Kaiser), auf Christus übertragen hat. Nur zweimal findet sich bei ihm das Wort „Heiland", aber beide Male mit dem Zusatz „der Welt". „Nicht mehr um deiner Rede willen," erklären die Samariter dem Weibe, „glauben wir; denn wir haben nun selbst gehört und wissen, daß dieser wahrhaftig der Heiland der Welt ist" (Joh. 4, 42). Und 1. Joh. 4, 14 heißt es: „Wir bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt." Jesus Christus trat dem Kaiser, dem Weltheiland (auch „Schöpfer und Heiland" wird Hadrian genannt), gegenüber, und es erfüllte sich das Wort: „Wenn ein starker Gewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das Seine mit Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Harnisch, darauf er sich verließ." Der Harnisch war die Heilands würde.
Einige Worte Jesu, die nicht in unseren Evangelien stehen. Neben der Überlieferung von Jesus-Worten in unseren Evangelien sind uns noch ein paar Dutzend Auesprüche Jesu teils in den übrigen Schriften des Neuen Testaments, teils in späteren Evangelien, teils bei den Kirchenvätern, teils auf ägyptischen Papyrusblättern (hier als kleine Spruchsammlungen) erhalten. Sie sind von ungleichem Werte, und die wenigsten können als echte Worte Jesu gelten; aber auch ein Teil der zweifelhaften Worte bietet ein hohes Interesse, weil sie schon sehr frühe Jesus zugeschrieben worden sind und entweder aus seinem Geiste stammen oder doch das Bild verdeutlichen, welches sich die alten Christen von ihm gemacht haben. Im Folgenden sind einige der bestbezeugten und wertvollsten Worte mitgeteilt und besprochen. 1. Geben ist seliger als Nehmen. In der Apostelgeschichte (20,35) heißt es: „(Erinnert euch) der Worte des Herrn Jesus; Er hat gesagt : ,Geben ist seliger als Nehmen'." Das Wort steht in der Rede, die Paulus gehalten hat, als er sich von seiner Ephesinischen Gemeinde verabschiedete. Die Zitationsformel schon ist lehrreich; denn sie setzt voraus, daß der Gemeinde Sprüche Jesu (in einer Sammlung?) bekannt und geläufig waren. Stark ist im griechischen Text das „Er" betont; es soll damit ausgedrückt werden, daß die Worte Jesu schlechthin autoritativ sind.
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Seligpreisungen sind bekanntlich eine Eigentümlichkeit der Reden Jesu; aber sonst werden Personen selig gepriesen; hier wird eine Handlung als „selig" bezeichnet (vgl. Jakobusbrief 1,25: „Ein solcher wird selig sein in seiner Tat"). Sie ist damit mit dem Himmlischen und Göttlichen in Beziehung gesetzt, also in die höchste Sphäre erhoben. Weil das Geben aus der Liebe fließt und diese zu Gott gehört, darum wird es so hoch gewertet, und durch diese Wertung und als Seligpreisung (nicht Gebot) unterscheidet sich der Spruch Jesu von ähnlich lautenden Sprüchen der griechischen Philosophen. Der Zusammenhang, in welchem der Spruch in der Apostelgeschichte angeführt wird, ist auch noch wichtig. Es handelt sich dort nicht um Almosengeben, sondern um Hilfeleistung jeder Art in Bezug auf die Schwachen, und zwar um eine Hilfeleistung, zu der man sich die Mittel durch harte Arbeit erst verschafft. Jede Tat opferfreudiger Liebe, und nur sie, ist Gabe und ist ein seliges Geben. 2. An eben diesem Tage sah Jesus einen arbeiten am Sabbath und sprach zu ihm: „Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig; wenn du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes." Der Spruch steht nur in einer alten griechisch-lateinischen Bibelhandschrift im Text des Lukas unmittelbar nach der Geschichte von den Jüngern, die am Sabbath Ähren ausrauften und aßen (c. 6); er ist sonst von Niemandem bezeugt. Da das negative Glied am Schluß steht, ist es das betonte; also richtet sich das Wort an diejenigen, die sich leichtfertig über das Gesetz hinwegsetzen, ohne es innerlich durch eine tiefere Einsicht überwunden zu haben. Der ethische Tiefsinn des Spruchs muß jedem aufgehen: der gewöhnliche Mensch ist in Religion und Moral an äußere Gesetze gebunden — wehe ihm, wenn er sie übertritt! —, aber wer die höhere Erkenntnis erworben hat, für den gibt es kein Religionsgesete mehr, son-
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dem er handelt aus der Freiheit heraus, die sich aus der Erkenntnis entwickelt, und empfindet sich in solchem Sein und Handeln als ein seliger Mensch. Wie wahr und wie tief! Kann der Spruch von Jesus stammen? Ich meine, durchaus. Auch seine Prägnanz und die absolute Form, in der er gegeben ist, weisen auf Ihn; so hat weder Paulus gesprochen noch sonst ein Jünger Jesu. Ist er von Jesus, so ergänzt er unsre Kenntnis der Stellung Jesu zum Gesetz in bedeutungsvoller Weise; denn er hat in den Evangelien wohl Anknüpfungspunkte, aber bringt doch etwas Neues. 3. Wer den Geist seines Bruders betrübt, ist des schwersten Verbrechens schuldig, ü. Und niemals sollt ihr fröhlich sein, außer wenn ihr euren Bruder in Liebe seht. 5. Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Gott (oder „deinen Herrn") gesehen. Die beiden ersten Sprüche stammen aus dem verloren gegangenen Hebräerevangelium, der dritte ist uns γοη den Kirchenvätern überliefert; sie sagen zwar nicht ausdrücklich, daß er als ein Spruch Jesu zu ihnen gekommen sei, aber dies ist die nächstliegende Annahme. Alle drei Sprüche sind Zeugnisse dafür, wie hoch Jesus die Nächstenliebe geschätzt und wie enge er sie mit der Gottesliebe verbunden hat. Der erste Spruch ist Matth. 5,22 so verwandt, daß man keinen Grund hat, ihn in der hier vorliegenden neuen Fassung als Spruch Jesu zu beanstanden. Eine besondere Feinheit liegt noch in dem Worte „den Geist seines Bruders betrüben". Es scheint nämlich „den Geist (den heiligen Geist) betrüben" ein geläufiger Ausdruck für eine sehr schwere Sünde gewesen zu sein. Hieran soll wohl absichtlich erinnert werden, um das Betrüben des Bruders damit auf eine Stufe zu stellen. Der zweite Spruch ist, wie das „Und" beweist, der Schluß eines Redestücks gewesen, das wir leider nicht wieder herzustellen vermögen. Der Spruch bildet eine
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schöne und eigentümliche Parallele zu Matth. 5,24. Hier heißt es, die Jünger sollen nicht vor Gott treten, ohne sich mit dem Bruder versöhnt zu haben; in unsrem Spruch wird die Liebe, d.h. die Versöhnung, als die Bedingung jeder Freude gefordert. Daß Jesus seinen Jüngern nicht „das Freuen" verwehrt, sei auch angemerkt. Für Liebe steht im Griechischen „Agape", und da dieses Wort auch für das christliche Liebesmahl gebraucht wurde, so hat man gemeint, unser Spruch sei zu übersetzen: „Niemals sollt ihr fröhlich sein, außer wenn ihr euren Bruder beim Liebesmahl seht." Allein, abgesehen davon, daß es ein schwerer Anachronismus ist, Jesus vom Liebesmahl sprechen zu lassen — nichts deutet darauf hin, daß das Wort „Liebe" hier nicht seinen eigentlichen und umfassenden Sinn hat. Der dritte Spruch ist wie eine kurze, gesteigerte Zusammenfassung vieler Sprüche im Neuen Testament. Man erinnert sich vor allem an Matth. 2 5 , 4 0 : „Was ihr getan habt einem der Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan". Die Einheit der Gottes- und Nächstenliebe kann nicht schärfer ausgesprochen werden als in unsrem Spruch. 6. Werdet gute (erprobte) Geldwechsler, die die falsche Münze zurückweisen und nur die gute behalten. Unter allen Sprüchen, die nicht in unser η Evangelien stehen, wird keiner so oft von den Kirchenvätern zitiert wie dieser. An vielen Dutzenden von Stellen führen sie ihn als ein Wort Jesu an und erklären ihn in verschiedener Weise. Welches der ursprüngliche Sinn des Spruchs ist, ist schwer zu sagen — wahrscheinlich bedeutet er: Weist die irdischen Güter als falsche Güter zurück und behaltet die ewigen Güter. 7. Bittet um das Große, und das Kleine wird euch noch dazu gegeben werden, und bittet um die himmlischen Güter, und die irdischen werden euch noch dazu gegeben werden.
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Diesen Spruch haben uns zwei alte alexandrinische Kirchenväter überliefert und der Kirchenhistoriker Eusebius. Er ist eine weitere Ausführung des Gedankens Matth. 6,33: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch auch das sonst Nötige hinzugefügt werden". Auch an das „Schätzesammeln" auf Erden und im Himmel (Matth. 6,19f.) denkt man; aber was in diesem Spruch als Kontrast erscheint, erscheint hier als Stufe. Jesus hat Beides gesagt: man soll nicht nach irdischen Gütern begehrlich sein, vielmehr auf sie verzichten, und man soll gewiß sein, daß Gott auch die irdischen Güter geben wird, deren man zum Leben bedarf. Der Spruch hat vielleicht im Hebräerevangelium gestanden, 8. Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Vater; wer fern von mir ist, ist ferne vom Reich. Dieses nicht stark bezeugte Wort kann sehr wohl von Jesus herrühren; allerdings lautet es in seiner überlieferten Fassung: „Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Feuer"; aber „Feuer" ist sehr wahrscheinlich ein alter Lesefehler für „Vater": denn „Feuer" und „Reich" bilden keinen Parallelismus; auch ist nicht deutlich, was „Feuer" hier bedeuten soll. Soll man an Luk. 12,49 denken („Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen") oder an Luk. 3,16 („Er wird euch mit Geist und Feuer taufen")? Was das Feuer an unsrer Stelle bedeutet, müßte ausdrücklich gesagt sein. Ferner aber ist in der griechischen Schrift die Abkürzung für „Vater" dem Worte „Feuer" im Genitiv (dieser Kasus steht hier) so ähnlich, daß die Annahme einer Verwechselung sehr nahe liegt. Man muß sie hier annehmen. Der Spruch ist deshalb so bedeutend und wichtig, weil er Jesus und den Vater und wiederum Jesus und das Reich ganz nahe zusammenrückt, ohne doch johanneisch zu lauten; denn der Spruch bei Johannes: „Wer mich stehet, siehet den Vater" geht über die Aussage: „Wer nahe bei mir ist, ist nahe beim Vater", weit hinaus.
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9. Nicht soll ruhen der Suchende, bis er findet, wenn er aber findet, wird er staunen, wenn er aber staunt, wird er herrschen, wenn er aber herrscht, wird er Ruhe finden. Dieser Spruch ist uns auf einem ägyptischen Papyrusblatt und bei einem sehr alten Kirchenvater erhalten, der bemerkt, daß er aus dem Hebräerevangelium stamme. Der Spruch ist nicht so schwierig, wie er auf den ersten Blick erscheint; er steht in nächster Verwandtschaft mit den Gleichnissen vom Himmelreich bei Matthäus (c. 13). Zur ersten Zeile ist das Gleichnis vom Kaufmann zu vergleichen, der köstliche Perlen sucht, s. auch Matth. 6 , 3 3 : „Suchet am ersten das Gottesreich", und Matth. 7 , 7 : „Wer da sucht, der findet". In der zweiten Zeile ist nicht an das Platonische „Staunen" zu denken, sondern es ist das Staunen über ein überschwängliches Glück, das in hohe Freude übergeht. Die nächste Parallele bietet Matth. 13,44: „Das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker, den ein Mensch fand und verbarg, und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat und kauft den Acker". Die dritte Zeile zeigt, daß das Reich das zu suchende und zu findende Gut ist, und zwar wird der, der gefunden hat und in Freude staunt, ein vollbürtiger Teilnehmer am Reich werden; denn das besagt das W o r t : „Er wird herrschen". Daß die Seineh nicht nur ins Reich gelangen, sondern auch mit ihm herrschen werden, hat Jesus öfters verheißen (s. z.B. Matth. 19,28). Die vierte Zeile bringt die sich steigernde Satzkette durch „Er wird Ruhe finden" nicht nur zu einem vollkommenen Abschluß, sondern sie nimmt auch das „Nicht soll ruhen" der ersten Zeile wieder auf und rundet so in kunstvoller Weise das Ganze ab. Die „Ruhe" ist die Seligkeit; vgl. den Spruch: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes". In einer Predigt aus der Mitte des 2. Jahrhunderts steht ein Satz, der dem Grundgedanken unsres Spruchs sehr nahe kommt (II. Glem.
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5,5): Die Verheißung Christi ist groß und staunenswert und enthält die Ruhe des zukünftigen Reichs". 10. Ich habe mir die Guten erwählt; die Guten sind die, welche mir mein Vater im Himmel gegeben hat. Den Spruch hat der Kirchenhistoriker Eusebius einem alten judenchristlichen Evangelium entnommen. Er widerstreitet dem Spruche nicht, daß Jesus die Sünder zu sich ruft und nicht die Gerechten; denn es sind ja nicht die „moralisch" Guten, die hier gemeint sind, sondern sie werden näher bestimmt durch den Satz: „welche mir mein Vater im Himmel gegeben hat", und auf ihm liegt der Schwerpunkt des Spruchs. Er hat also etwas paradoxes, aber eben diese Paradoxie ist echt evangelisch. Zum Gedanken, daß der Vater es ist, der Jesus die gegeben hat, die seine Gemeinde bilden, siehe das hohepriesterliche Gebet Jesu bei Joh. 17,2. 6. 9. 24. 11. Worin ich euch finde, darin werde ich (euch) auch richten. Dieser Spruch wird an mehr als zwanzig Stellen in schwankender griechischer Fassung, die auf ein aramäisches Original zurückweisen, zitiert und hat Anspruch darauf, als Wort Jesu zu gelten; denn der Apologet Justin in der Mitte des 2. Jahrhunderts bezeichnet ihn ausdrücklich als solches. Im Anschluß an Ezech. 33 mag ihn Jesus gesprochen haben. Über den Sinn des Worts kann kein Zweifel sein; Hieronymus hat es richtig erklärt: „Gott schaut nicht auf das Vergangene, sondern auf das Gegenwärtige". Gemeint ist das in drohendem Sinn: Nichts wird euch frühere Bewährung helfen, wenn ihr nicht in der letzten Stunde besteht. Man kann an das Gleichnis von den törichten und klugen Jungfrauen denken. 12. Wo Zwei sind, sind sie nicht ohne Gott, und wo Einer allein ist, siehe, da bin ich mit ihm. Richte den Stein auf, und du wirst mich finden; spalte das Holz, und ich bin da.
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Die erste Hälfte des Spruchs erinnert an Matth. 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen"; aber sein Sinn geht doch nach einer anderen Richtung: bei Matthäus wird dem Zusammensein der Jesusjünger, sei es auch in kleinster Gemeinschaft, die Gegenwart Jesu zugesagt; an unsrer Stelle aber gilt der Spruch den Einzelnen: „selbst der Einsame ist nicht ohne Gottes Gegenwart und Beistand. Nach Johannes (16,32) hat Jesus von sich selbst gesagt: „Ich bin nicht allein; denn der Vater ist mit mir". Das ist die beste Parallele zur ersten Hälfte unsres Spruchs. Der Kirchenvater Ephraem hat den Matthäusspruch und die erste Hälfte unsres Spruchs in freier Fassung verbunden, wenn er schreibt: „Wo Einer ist, da bin auch ich, und wo Zwei sind, da werde auch ich sein, und wenn wir drei sind, da werden wir gleichsam eine Gemeinde bilden". Die zweite Hälfte des Spruchs ist schwierig und hat zu sehr verschiedenen Auslegungen Anlaß gegeben. Sicher zurückzuweisen ist die Auslegung, die beim Stein an den Stein auf dem Grabe Christi und beim Holz an das Kreuzesholz denkt, oder die, welche auf die Imperative Gewicht legt, die angeblich besagen sollen, daß viel Anstrengung dazu gehört, um die Erfüllung der Verheißung der ersten Hälfte des Spruchs zu erleben. Aber auch die pantheistische Auslegung des Spruchs — sie hat etwas Bestechendes — erscheint mir unrichtig, die die Gegenwart Gottes im Stein und im Holz und damit in dem All sehen will. Zum Beweis beruft man sich auf ein gnostisches Evangelium (Ev. der Eva), in welchem es heißt: „Ich bin du und du bist Ich, und wo du bist, da bin Ich, und in Allem bin ich ausgesät, und wo du sammeln willst, da sammelst du Mich; Mich aber sammelnd, sammelst du dich selbst". Wenn dieser pantheistische Gedanke in unsrem Spruch gemeint wäre, bliebe das gewählte Ausdrucksmittel ganz unverständlich. Dieses (an Pred. Salom. 10,9 angeschlossen) verlangt, daß bei der Auslegung nicht übersehen wird, daß es sich um die einfachste harte Handarbeit hier handelt. Dann besagt unser Spruch, daß Gott
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bei den Einzelnen ist, auch wenn sie ihre einfache Tagesarbeit verrichten — also nicht nur bei ihren religiösen Übungen, wie Fasten, Gebet und Almosen. Eine gewisse Schwierigkeit macht bei dieser Auslegung allerdings der Ausdruck: „Du wirst mich finden"; aber man braucht ihn nicht zu pressen; er braucht nichts anderes zu bedeuten als der gleich folgende parallele Ausdruck „Ich bin da". Ist diese Auslegung die richtige, so ist der Spruch von hoher Bedeutung: Gott ist bei euch und bei jedem Einzelnen alle Tage und bei jeder Hantierung. Die zwölf Sprüche, die hier kurz beleuchtet sind, sind von sehr verschiedenem Inhalt und ihre „Echtheit" ist, wie bemerkt, nicht sicher. Aber sie fügen sich sämtlich zu dem uns sicher bekannten Evangelium und sind in diesem Sinne echt.
VORFRAGEN DIE GLAUBWÜRDIGKEIT DER EVANGELISCHEN GESCHICHTE BETREFFEND
Zwei Vorlesungen als Einleitung zu Untersuchungen evangelischen Geschichte, gehalten Universität Berlin, erschienen 23. Februar und
über die Glaubwürdigkeit der im Sommersemester 1904 an der in der „Christlichen Welt", 6. April 1905.
Erste Vorlesung. In diesen Morgenstunden soll uns eine große und schwierige Aufgabe vereinigen: die U n t e r s u c h u n g der G l a u b w ü r d i g k e i t der e v a n g e l i s c h e n Geschichte, d. h. wir wollen in G-rundzügen feststellen, was wir von Jesus Christus wissen können — von ihm selber, nicht von der Staffage und den Kulissen seines Lebens; denn von diesen zu handeln, dazu fehlt uns die Zeit. „Was wir von ihm wissen können" — um exaktes Wissen handelt es sich. Exaktes Wissen ist ein Wissen, welches durch die Art, wie es gewonnen ist, sich die Anerkennung zu erzwingen und gegen jedes andere, vermeintliche Wissen sich zu behaupten vermag. Wenn ein Wissen zur Wissenschaft wird, entsteht regelmäßig eine Krisis. In dieser Krisis befinden wir uns in bezug auf die Grundlagen der christlichen Religion schon seit einer geraumen Zeit. Aber man darf wohl sagen, daß erst in der Gegenwart die störenden Elemente energischer weggeräumt sind, die es nicht zu einer reinen wissenschaftlichen Erkenntnis kommen ließen: Vorurteile religiöser und philosophischer Art, Mangel an geschichtlichem Sinn, an Elastizität und Eeinfühligkeit in der Auffassung, und andere. Ebendarum haben wir in besonderer Weise in dieser unserer Gegenwart den Beruf, Wissenschaft auf dem wichtigsten Gebiete der Geschichte zu gewinnen; denn es können auch wieder andere Zeiten kommen! Keine Einbuße droht
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uns dabei; denn die kritische Behandlung geschichtlicher Überlieferung ist der einzige Weg, auf welchem man sich der Wirklichkeit, die sie einschließt, zu nähern vermag, und sie ist das einzige Mittel, durch welches man von dem Objekt soviel zu sehen bekommt, als man überhaupt zu sehen vermag. Alle anderen Methoden lassen uns im Unsicheren, nicht nur darüber, was Kern und was Schale ist, sondern auch was ursprünglich ist und was späterer Zusatz oder Übermalung. Aber auch die größte Gefahr, den eigenen Geist an die Stelle des gesuchten zu setzen, kann nur durch strenge Kritik abgewendet werden. Freudig ist unsere Wissenschaft wie jede Wissenschaft; denn sie geht ihrem hohen Gegenstände entgegen mit der siegreichen Zuversicht, ihn zu erfassen, seiner inne zu werden, vieles zu empfangen und niemals etwas zu verlieren. — Wir gehen sofort zur Sache selbst, indem wir die Frage aufwerfen, unter welchen besonderen Schwierigkeiten die Behandlung unserer Aufgabe steht; denn das ist immer das erste, was bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung gefragt werden muß. Diese „Schwierigkeiten", wenn man sie mißachtet oder übersieht, werden zu verhängnisvollen Fehlerquellen, welche alle Erkenntnis verwirren oder ersticken. Ich meine hier nicht die subjektiven Schwierigkeiten, die in uns selber liegen — von ihnen wird später kurz zu reden sein —, sondern die objektiven, wie sie in der Natur des Gegenstandes und in der Art seiner Uberlieferung gegeben sind. Erstlich erinnere ich daran, daß Jesus Christus nichts Schriftliches hinterlassen hat, ja es wird uns überhaupt nicht berichtet, daß er etwas geschrieben habe, oder vielmehr, an einer Stelle wird es erzählt. In der Geschichte von der Ehebrecherin heißt es, er habe in den Sand geschrieben — was, das wissen wir nicht. Niemand sollte es lesen, und die Spur war in der nächsten Stunde verwischt. Überlegen Sie es sich nun, was es bedeutet, daß
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die evangelische Geschichte hauptsächlich evangelische Verkündigung gewesen ist, daß wir aber kein von dem Prediger selbst aufgezeichnetes "Wort besitzen! Alles ist uns lediglich durch andere, durch die, die ihn gesehen und gehört haben, vermittelt! Damit sind der „Authentie" ganz bestimmte Grenzen gezogen, die wir bei der Untersuchung nie vergessen dürfen. Eine zweite Schwierigkeit ist noch viel größer. Schon eine flüchtige Kenntnis der evangelischen Uberlieferungen zeigt Ihnen, daß Jesus Christus dem Kreise von Vertrauten, die sich ihm angeschlossen hatten, als der Lehrer gegenüberstand. „Lehrer und Schüler" — diese einfachen Namen sprechen das ursprüngliche Verhältnis aus, und der Titel „die zwölf Schüler" blieb für jene Vertrauten auch in späterer Zeit noch bestehen. Aber andrerseits wissen wir, daß unmittelbar nach dem Kreuzestode Jesu seine Schüler und andere Gläubige ihn als ein im Himmel thronendes, alle Gewalt besitzendes, göttliches "Wesen erkannt und verehrt haben, und wir wissen, daß diese Erkenntnis alles überstrahlte und umbildete, was sie an Jesus und mit ihm erlebt hatten. Notwendig mußte von hier aus jeder Zug der Geschichte Jesu ein neues Licht und ein neues Verständnis empfangen. Ist dann aber nicht zu befürchten, daß viele ursprüngliche Farben verschwunden oder vielmehr in dem Goldglanz untergegangen sind, der sich nun auf alles legte? Kann das anders sein? Wir haben freilich für einen solchen Umschwung kaum irgendwo in der Geschichte eine Parallele — die, die mit Jesus gegessen und getrunken haben, verehren ihn nun als den Herrn der "Welt! —, aber um festzustellen, daß diese Tatsache umschaffend auf die Erinnerung an das irdische Leben Jesu eingewirkt hat, dazu bedürfen wir keiner Analogien. Auch wenn wir dessen gewiß sind, daß Jesus sich selbst im Laufe seiner "Wirksamkeit als den Messias bezeichnet hat und seine Jünger ihn schon bei seinen Lebzeiten als solchen anerkannt haben, so ist
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das zwar an sich von fundamentaler "Wichtigkeit, ändert aber nur wenig an der Tatsache des ungeheuren Umschwunges in den Jüngern, den der Glaube an die Auferstehung Jesu bezeichnet. Wir werden davon in einer der folgenden Vorlesungen handeln. Es wird sich zeigen, daß die Jünger Jesum vor der Auferstehung nur in Stunden besonderer Erhebung als den Messias erkannt, daß sie keineswegs noch die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen und daß sie sie in den Leidenstagen preisgegeben haben. Der Wechsel bleibt also ein jäher, und seine Folgen für das geschichtliche Gedächtnis müssen außerordentliche gewesen sein. Indessen — wir dürfen andererseits nicht übersehen, daß die Predigt Jesu g e w a l t i g war und daß diese Predigt die Schüler zur N a c h f o l g e gerufen hatte. Unvergeßlich müssen bestimmte Worte und Ermahnungen, Gleichnisse und Wechselreden, Eindrücke und Situationen gewesen, unvergeßlich die Grundzüge seines Seins und Wesens geblieben sein. Wäre er selbst nicht stärker in ihnen gewesen als die Gedanken über ihn, so hätte nie eine e i n h e i t l i c h e Christenheit entstehen können. Wir müssen also erwarten, daß in der Uberlieferung über ihn zwei Schichten zu finden sein werden, eine Unterschicht, in der er uns selbst entgegentritt, in scharfen, ursprünglichen Zügen, und eine Oberschicht, in welcher die Reflexe der Glaubensüberzeugung der Jünger mit aufgenommen sind. Wären nur die beiden Schichten stets deutlich zu unterscheiden! aber so einfach geht es in der Uberlieferung in der Regel nicht zu! Nicht nur sind jene Reflexe von verschiedener Stärke, sondern die Schichten liegen auch nicht gradlinig übereinander, sondern durchbrechen sich an vielen Stellen. Auf Gewißheit werden wir daher an sehr vielen Stellen verzichten, und alle Grade der Wahrscheinlichkeit werden wir aufbringen müssen. Eine andere Schwierigkeit hängt mit der soeben besprochenen aufs engste zusammen. In dem Augenblicke,
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in welchem die ersten Schüler und die G-emeinde fest überzeugt waren, Jesus sei der verheißene Messias, mußten sie auf ihn eine Fülle von Prädikaten, Gedanken und Geschichten übertragen; denn der Begriff „Messias" war ein definierter und in den G-rundzügen fester. Es gab im Judentum damals eine „messianische Dogmatil·;", die in den Einzelheiten schwankend, in den Hauptlinien aber bestimmt war. Schon lange war das ganze Alte Testament unter messianischen Gesichtspunkten durchforscht und schulmäßig künstlich ausgelegt worden. Das Bild des zukünftigen Messias, welches man so gewonnen hatte, war ein detailliertes; es umfaßte Wesensprädikate und Ehrenprädikate, Heldentaten und Erlösungstaten, sogar schon Biographisches. Da man dies alles als echte "Weissagung betrachtete — obgleich das meiste aus klügelnder exegetischer Phantasie geschaffen war —, so mußte es sich in dem Messias, d. h. in Jesus, erfüllt haben. Mit einem Schlage trat neben seine wirkliche G-eschichte eine zweite unwirkliche, und mit den tatsächlichen Erinnerungen an seine Person verbanden sich die Züge eines konstruierten Messias, der niemals gelebt hat. Nicht darüber dürfen wir uns wundern, daß diese Verklitterung überhaupt eintrat und das geschichtliche Gedächtnis trübte, sondern darüber, daß sie nicht noch mehr Unheil angerichtet hat; denn im ganzen sind diese aus der messianischen Dogmatik und der alttestamentlichen „Weissagung" stammenden Trübungen nach Zahl und Erfolg weniger bedeutend, als man erwartet. Die messianische Dogmatik des Judentums ist nicht nur aus der Schriftgelehrsamkeit erwachsen, sondern zeigt auch starke Einflüsse von anderen Religionen her. Damit kommen wir auf eine neue Schwierigkeit. Das Christentum bezeichnet nicht nur die Religionswende, sondern es ist selbst in einem Zeitalter der Religions wende entstanden; seine Erfolge wären außerhalb dieser geschichtlichen Bedingung schwer denkbar. Volks- und Nationalreligionen
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und allerlei Kulte wandelten sich damals und strebten "Weltreligionen zu werden. In der Form von Vergeistigungen und durch Austausch, Erweiterungen und Aufnahme neuer Elemente vollzog sich dieser Prozeß. Auf dem Boden, den erst Alexander der G-roße, dann Roms Feldherren abgesteckt und bereitet hatten, fanden die Entwicklungen und Transformationen statt. Es war das Zeitalter des relig i ö s e n Synkretismus, welches anbrach. Im allgemeinen bedeutete es einen großen Fortschritt in der Geschichte der Religionen: sie hoben sich aus niederen Stufen zu höheren empor und ergriffen statt des Volksgenossen nun das Individuum. Aber in jedem religiös bewegten Zeitalter kommt das neue Leben auch der Stärkung fast schon abgestorbener und vergessener Elemente zugut; denn Religion ist zu einem Teile stets Überlieferung. Es war damals nicht anders: neben der Vergeistigung, Versittlichung und Individualisierung der Religionen gewinnen uralte Riten und obsolete Kultweisheit eine neue Bedeutung. Als Mysterien und als „Sakramente" wissen sie. sich selbst in die persönlich gewordene Religion einzudrängen, ihre phantastischen Reflexe den religiösen Weltanschauungen aufzunötigen und ihre mythologischen Märchen in die „Offenbarungsgeschichte" einzufügen. Das Judentum ist in den drei Jahrhunderten vor dem Zeitalter Christi außerordentlich stark von diesem Synkretismus betroffen worden; selbst der Pharisäismus vermochte sich ihm keineswegs zu entziehen. Wenn wir nun einen jüdischen Synkretismus (oder Grnostizismus) und bereits im ersten Jahrhundert auch einen christlichen konstatieren müssen, so erhebt sich notwendig die Frage, ob nicht Jesus Christus selbst oder doch bereits die älteste Uberlieferung über ihn unter diesen synkretistischen Bedingungen gestanden hat. Wenn Erscheinungen, um die es sich hier handelt, weder aus dem gesetzlichen Judentum noch aus der religiösen Eigenart der Persönlichkeit erklärt werden können, so ist der Versuch in der Tat geboten, sie
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aus diesen fremden Einflüssen abzuleiten. Aber man sieht sogleich, wie außerordentlich subtil und schwierig die Fragen hier sind. "Wie weit reicht die Eigenart der Persönlichkeit? wie weit darf man Paradoxes als solches bestehen lassen? wie oft hat sich Analoges spontan gebildet? von welchem Punkte an bietet die Analogie eine kausale Erklärung? lassen die allgemeinen geschichtlichen Umstände im gegebenen Fall überhaupt die Beeinflussung einer bestimmten Religion durch dieses oder jenes fremde Mythologumenon zu? Die religionsgeschichtliche Forschung leidet gewiß oft genug an künstlicher Isolierung der Probleme; aber noch tiefere Wunden schlägt ihr jene vergleichende Mythologie, die alles mit allem kausal verbindet, feste Zäune niederreißt, trennende Abgründe spielend überbrückt und aus oberflächlichen Ähnlichkeiten Kombinationen spinnt. Auf diese Weise kann man im Handumdrehen Christus zum Sonnengott oder zu irgendeinem anderen G-ott, die Maria zur großen Mutter, die zwölf Apostel zu den zwölf Monaten machen, sich bei der G-eburtsgeschichte an alle GötterGreburtsgeschichten zugleich oder an eine beliebige einzelne erinnern lassen, um der Taube willen bei der Taufe alle mythologischen Tauben einfangen, dem Esel bei dem Einzug in Jerusalem alle berühmten Esel beigesellen, und so mit dem Zauberstab der „Religionsgeschichte" jeden spontanen Zug glücklich beseitigen. In der Tat — alles in dieser Weise erklären, heißt alles beseitigen, und man wundert sich am Schluß nur noch darüber, daß einst, in grauester Vorzeit, den Menschen soviel eingefallen ist, den späteren aber gar nichts mehr. Indessen soll der Mißbrauch dieser Kombinationen den besonnenen, kritischen Gebrauch nicht aufheben: daß Jesus in einem Zeitalter des religiösen Synkretismus aufgetreten ist, erschwert die Untersuchung über ihn; denn wir müssen uns auf allerlei Seltsamkeiten, die aus dem Alten Testament nicht erklärt werden können, gefaßt machen. Aber es erleichtert auch andrerseits die
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Untersuchung mancher Probleme; denn es eröffnet neue Möglichkeiten der Erklärung. Eine weitere Schwierigkeit kommt von ganz anderer Seite. Unsre Hauptquellen für die evangelische Geschichte sind die vier Evangelien. Diese sind aber weder Biographien noch bloße Memorabilien, sondern es sind — wir werden später darauf genauer einzugehen haben — Bücher der Evangelisation und Erbauung. Gewiß wollen sie wirkliche Geschichte erzählen, aber solche G-eschichtserzählung stand im Altertum an sich schon unter anderen Bedingungen, als wir sie heute voraussetzen, und hier kommt, wie bemerkt, noch der besondere Zweck der Evangelisation und Erbauung hinzu. Glauben wollen sie wecken und Sicherheit dem schon erweckten Glauben bieten. Dadurch aber mußte das urkundliche Zeugnis notwendig leiden; dieses gleicht einer sehr empfindlichen Platte; von jedem Lichtstrahl wird sie berührt und verändert. Wie ßich die Berichterstattung unter solchen Umständen gestaltet, können Sie noch heute lernen, wenn Sie einen Prediger eine evangelische Geschichte wiedererzählen hören. In den meisten Fällen wiederholt er nicht einfach das geschriebene "Wort, sondern gibt es ausgestattet mit allerlei Zügen wieder, die erbaulich und packend auf seine Hörer wirken sollen. Wenn er ein gewissenhafter Mann ist, ändert er nicht gradezu, aber er unterstreicht, ergänzt, kombiniert wohl auch zwei Geschichten miteinander und sucht die b e t r e f f e n d e Erz ä h l u n g den V e r h ä l t n i s s e n d e r G e g e n w a r t m ö g l i c h s t nahe zu bringen. Daß die Evangelisten ähnlich verfahren sind, werden wir erwarten müssen, sobald wir erkannt haben, daß ihre Bücher bestimmte praktische Zwecke verfolgten. Die Bücher werden dadurch nach einer anderen Seite hin freilich besonders wertvoll: wir lernen den Glauben ihrer Verfasser kennen und tun einen Blick in ihr inneres Leben. Aber als Quellen für die evangelische Geschichte darf man sie nicht benutzen, ohne sich stets daran zu
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erinnern, welche Zwecke ihre Verfasser im Auge gehabt haben. Die Überlieferung unserer vier Evangelien bietet eine neue Schwierigkeit. Ihr ursprünglicher Text ist nicht unverändert geblieben: das hat uns die Textgeschichte, die in der Neuzeit mit so vielem Fleiß durchforscht worden ist, gezeigt. Und zwar fallen die wichtigsten Veränderungen sämtlich in das zweite Jahrhundert. Nach dieser Zeit ist kaum irgend etwas, von Formalien abgesehen, geändert worden — die Texte waren nun heilig, und das schützte sie —, aber bis zu dieser Zeit waren sie noch im Flusse. Dieselben Interessen der Evangelisation und Erbauung, die bei ihrer Entstehung gewirkt haben, wirkten auch noch bei ihrer ersten Verbreitung und forderten und gestatteten es, im einzelnen kleinere und, wenn auch seltener, größere Veränderungen vorzunehmen. Dazu kam das sehr erklärliche Bestreben, die Bücher einander zu konformieren und den Text des einen Evangeliums nach dem Text des anderen (des gelesensten — und das war Matthäus) zu korrigieren. "Wie die verbreitetsten Texte im dritten Jahrhundert gelautet haben, das vermögen wir mit großer Genauigkeit heute festzustellen, aber wie eben diese Texte im zweiten Jahrhundert aussahen, das wissen wir an zahlreichen Stellen nicht mehr. Indessen darf man diese Schwierigkeit nicht überschätzen: so empfindlich sie an einzelnen Stellen ist, so gering ist doch schließlich die Zahl der Fälle, wo man vermuten muß, daß sich Fremdes eingedrängt hat, während wir das Ursprüngliche nicht mehr zu ermitteln vermögen. Wo sich alte Alternativ-Lesarten finden, kann in vielen Fällen noch entschieden werden, welches die ältere Lesart ist, und wo das nicht möglich ist, kommt ebensooft auf die Entscheidung nicht viel an. Jesus hat einen aramäischen Dialekt gesprochen; die Evangelien liegen uns in griechischer Sprache vor und enthalten nur ein paar aramäische Sätzchen. Hieraus ergibt
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sich wiederum eine Schwierigkeit. Bei der Ubersetzung aus einer Sprache in die andere geht unvermeidlich etwas Ursprüngliches verloren, und etwas Fremdes schiebt sich an die Stelle. Eine jede Sprache hat ihren Genius und gibt den Gedanken ihr Gepräge: das läßt sich nicht übersetzen. Es gehört zu dem Merkwürdigsten, was das Christentum in seiner Geschichte erlebt hat — keine andere Religion hat Ahnliches erfahren —, daß es schon in seiner frühesten Jugend aus der Denk- und Empfindungsweise des Semitischen und Jüdischen herausgeführt worden ist und sich mit dem griechischen Geiste vermählt hat. Nur im Gewände dieses Geistes besitzen wir die Sprüche Jesu und die Aufzeichnungen über ihn. Doch wie wir in einem anderen Zusammenhang bereits eine Ober- und eine Unterschicht unterscheiden konnten, so dürfen wir auch hier sagen, daß die Transposition in die neue Sprache das ursprüngliche Idiom, in dem alles konzipiert war, noch immer erkennen läßt. Die Ubersetzung ist in allen Evangelien, besonders aber im Markus- und Matthäus-Evangelium, keine vollkommene gewesen; auf vielen Sprüchen und Erzählungen liegt das Griechische nur wie ein leichter Schleier auf. Ganz deutlich blicken die aramäischen Worte, Begriffe und "Wendungen noch durch, selbst leicht erkennbare Mißverständnisse fehlen nicht, und die Kenner behaupten, daß ganze Kapitel sich ohne Schwierigkeit ins Aramäische oder Hebräische zurückübersetzen lassen. Trotzdem kann natürlich von Authentie im strengen Sinne nicht die Rede sein, wenn wir die Worte Jesu nur in der Fassung einer fremden Sprache vor uns haben. Wir kommen zur letzten Schwierigkeit, die wir ins Auge fassen müssen; sie ist gewiß nicht geringer als die bisher betrachteten. Unmittelbar auf Jesus folgt der Apostel Paulus — ein Mann von der kräftigsten Eigenart, schulmäßig theologisch gebildet, des Wortes und der Schrift mächtig, von unbeugsamem Willen und lebhaftestem Tem-
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peramente, von seiner heißen Natur gefördert, aber auch gehemmt, ein unermüdlicher Arbeiter und ein Held zugleich, aber um die „Lehre" ebenso gewaltig und eifersüchtig ringend wie um die Seelen. Er wird von Jesus gewonnen, von dem Jesus, den er persönlich nicht gekannt hat, wirft sich ihm zu Füßen und wird für Leben und Sterben der Knecht des im Himmel thronenden Christus. Dieser Paulus ist der Hauptmissionar Jesu geworden. Er vor allem hat die neue Predigt in der Heidenwelt verbreitet, und sein Christusbild und Christusglaube stehen seitdem vor dem Jesus, den er verkündigt hat. Es ist ein leuchtender Beweis für die relative Treue unserer drei ersten Evangelien, daß der „Paulinismus" — von einem solchen muß man sprechen; denn Paulus verkündete bei aller Hingebung Jesum nicht, wie ihn der heilige Franziskus gepredigt hat — ihnen kaum bemerkbare Züge aufgeprägt hat; aber er hat etwas anderes bewirkt: so mächtig hat er sich aufgedrängt, daß die, welche die Evangelien lesen, sie schon seit 1700 Jahren und heute noch unwillkürlich unter dem Gesichtswinkel der Theologie des Paulus lesen. Man könnte sagen, dies sei keine objektive Schwierigkeit mehr, sondern eine subjektive; allein so fest hat sich das Verständnis und die Auslegung der Evangelien im Laufe der Q-eschichte mit der paulinischen Theologie verbunden und so selbstverständlich ist in allen Kirchen diese Verbindung, daß sie wie eine objektive Tatsache wirkt und auch der unbefangenste Forscher bei jedem Schritt sich kontrollieren muß, ob er nicht wider seinen Willen nach paulinischen G-edanken die Evangelien versteht. In der Geschichte welcher Religion haben wir eine ähnliche Tatsache zu verzeichnen, daß dem Stifter unmittelbar ein Mann folgt, der sich ihm ganz zu eigen weiß — „Nicht ich lebe, sondern Christus lebet in mir" —, und der zugleich der selbständigste und durch seine Eigenart einflußreichste Anhänger gewesen ist, den diese Religion in ihrer ganzen Geschichte zu verzeichnen hat? Das Problem
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wird dadurch, nicht geringer, daß dieser Paulus auf entscheidenden Linien Christus näher gekommen ist als irgendein anderer — als T h e o l o g e verhält er sich doch ganz disparat zu ihm, und von seiner Theologie ist Paulus nicht zu trennen. Niemanden anders wollte er zwar kennen und gelten lassen als Jesum Christum allein, aber sein Christus war in mancher Hinsicht eben nur der seinige. Hier haben wir schon das G-ebiet der subjektiven Schwierigkeiten, mit denen unsre Aufgabe belastet ist, betreten. Wer könnte sie alle aufzählen? Die wichtigsten unter ihnen lassen sich jedoch zusammenfassen: wir treten in der Regel mit Erwartungen an die Berichte über die evangelische G-eschichte, die sie nicht erfüllen, und stellen Fragen, die sie nicht beantworten. Wer aber falsche Fragen stellt, erhält unrichtige, im besten Fall nur halbwahre Antworten. Wie die richtige Fragestellung schon die halbe Antwort ist, so kann man durch falsches Fragen alles verwirren. Die Fassung der Probleme ist daher stets aus dem Stoff selbst zu gewinnen; sie darf niemals Sache der Willkür sein. Mit diesen Andeutungen will ich das Kapitel der „Schwierigkeiten" verlassen. Noch manches wäre zu nennen, vor allem die seltsame Methode jener Zeit, heilige Texte bald zu vergeistigen, bald die bildlichen Ausdrücke wörtlich zu nehmen. Wer darauf nicht achtet, muß vieles notwendig miß verstehen. Sie werden bemerkt haben, daß wir, indem wir die „Schwierigkeiten" kurz besprachen, in Wahrheit unseren großen G-egenstand in seiner g e s c h i c h t l i c h e n Bed i n g t h e i t k e n n e n gelernt haben. Dies aber war die Absicht dieser Vorlesung. Zu genaueren Darlegungen fehlt uns die Zeit. Sie müssen mir vertrauen, daß ich diese geschichtlichen Bedingungen stets im Auge behalten werde. An nicht wenigen Stellen werden Sie sich übrigens bei der Untersuchung an sie aufs neue erinnert sehen.
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Die „Schwierigkeiten" sind groß, aber sie lassen, wie sich zeigen wird, doch Raum für die Grund züge einer zuverlässigen Geschichte. Ein Mittel gibt es freilich, um sie alle mit einem Schlage los zu werden: sobald wir an die Inspiration der Evangelien im altkirchlichen Sinne des Wortes glauben, sind sie alle beseitigt! Hier kann man sich klarmachen, was die Annahme inspirierter Texte für unsre Aufgabe bedeutet — nicht weniger als alles ändert sich! Es gibt dann überhaupt kein kritisches Problem mehr; alles ist klar und gewiß; man braucht nur noch zu erzählen und — zu harmonisieren. Allein die Annahme der Inspiration der Texte ist gescheitert, gescheitert an Hunderten von sicheren Erkenntnissen, ja schon an der Notwendigkeit der Harmonisierung, denn diese erweist sich immer aufs neue als völlig undurchführbar! Also bleibt kein anderer "Weg als der der kritischen Untersuchung. Ihn wollen wir betreten.
Zweite Vorlesung. Wir gehen zu den Quellen der evangelischen G-eschichte über. Die erste Frage lautet hier stets: besitzen wir alte Zeugnisse völlig uninteressierter Schriftsteller über Jesus, also nicht christliche, auch nicht jüdische, sondern heidnische? Man setzt dabei voraus, daß solche Zeugnisse die glaubwürdigsten und also die wichtigsten sein müßten. Diese Voraussetzung ist doch nur zum Teil zutreffend. In der Religion wie in der Kunst ist von solchen Berichterstattern, die nicht in ihr leben, wenig zu erwarten. Ihr Unverständnis der Sache macht sie sehr häufig blind oder läßt sie nur verzerrte Bilder sehen. Noch immer haben die „Unbefangenen" die Anfänge aller großen, aus der Begeisterung geborenen Bewegungen völlig verkannt und ihre
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Urheber verlacht tind verleumdet. Indessen — wir brauchen den Wert solcher „unbefangener" Zeugnisse, die in äußeren Fragen gewiß nützlich sein können, nicht zu erwägen, denn es gibt keine solchen. Die drei ältesten heidnischen Schriftsteller, die von dem Christentum Notiz genommen haben (Anfang des zweiten Jahrhunderts), Tacitus, Sueton und Plinius — man kann noch einen vierten, Phlegon, hinzunehmen —, bringen in bezug auf Jesus kaum das Spärlichste, und es ist dazu sehr wahrscheinlich, daß es nicht auf selbstständiger Kenntnis beruht, sondern auf Hörensagen, letztlich also auf christlicher Uberlieferung. Tacitus unterscheidet in der bisherigen Q-eschichte des Christentums zwei Perioden, eine, die mit dem Tode Jesu endigte und auf Judäa beschränkt blieb, und eine neue „Eruption", in der es bis Rom vorgedrungen ist. Den Stifter selbst bezeichnet er als „auctor nominis" (d. h. als den Urheber des Namens der „Christen" genannten Sekte) und beschränkt sich in bezug auf ihn auf die Bemerkung, „Christus" — der Name „Jesus" fehlt — sei unter der Regierung des Tiberius auf Anordnung des Prokurators Pontius Pilatus hingerichtet worden. Der Ursprung in Judäa, die Zeitbestimmung, die Erwähnung der Hinrichtung durch Pilatus und die Ausschließlichkeit der Verknüpfung des Christentums mit Christus sind gewiß beachtenswert; aber Tacitus kann das alles aus christlichen Aussagen aufgelesen haben. Verworren ist die Notiz des Sueton über „Christus": es scheint, er hat geglaubt, Jesus habe selbst in Rom gewirkt und die dortige Judenschaft aufgeregt. Von Plinius erfahren wir nur, daß die Christen ihren Stifter Christus wie einen Gott verehren, und daß er sie bei allem Aberglauben doch zu strengster Sittlichkeit angeleitet habe. Phlegon, der Freigelassene Hadrians, kennt die Sonnenfinsternis zur Zeit des Todes Christi. Nach dem Zeugnis des Origenes hat er aber so konfus über Jesus berichtet, daß er ihn sogar mit Petrus verwechselt hat. Erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts
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hat sich für heidnische Augen das Christentum deutlicher von dem Judentum abgehoben. Bis dahin beurteilte man es, wenn man überhaupt Notiz von ihm nahm, als eine jüdische Sekte und hatte natürlich für solch eine Erscheinung gar kein Interesse. Wie ungeheuer zahlreich waren zudem die Kulte und religiösen Bewegungen im ersten Jahrhundert! Wer beachtete sie, es sei denn, daß er durch Zufall oder Geschick auf sie geführt wurde? Als Celsus zur Zeit Marc Aurels das Christentum wirklich ernsthaft zu studieren unternahm — nun war es nicht mehr zu übersehen —, hatte er kaum andere schriftliche Quellen zur Verfügung als diejenigen, welche wir jetzt noch besitzen, nämlich christliche. Wie steht es mit jüdischen Zeugnissen? Gegen Ende des ersten Jahrhunderts hat das Judentum einen bedeutenden Geschichtsschreiber besessen, der erst ein jüdischer Patriot, dann mehr und mehr ein griechischer, von den Kaisern hochgeehrter Literat gewesen ist, Josephus. Als solcher hat er zahlreiche geschichtliche und apologetische Werke verfaßt. Diese Werke enthalten schlechterdings nichts über Jesus und das Christentum, oder vielmehr, sie enthalten eine Stelle über Jesus (Antiq. XVIII, 3, 3), aber diese kann nicht echt sein, obgleich sie jetzt in allen Handschriften steht. Sie lautet: „Zu dieser Zeit lebte Jesus, ein weiser Mann, wenn anders man ihn einen Menschen nennen soll. Er war nämlich ein Schöpfer wunderbarer Werke, ein Lehrer solcher Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnehmen, und viele Juden, aber auch viele aus griechischem Geschlecht zog er zu sich heran. Er war der Messias. Und als ihn auf Anklage unsrer ersten Männer Pilatus mit dem Kreuze bestraft hatte, ließen die nicht ab, welche ihn zuerst geliebt hatten. Denn er erschien ihnen nach drei Tagen wieder lebendig, da die göttlichen Propheten dieses und tausend anderes Wunderbare über ihn gesagt hatten. Noch bis
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heute hat das Geschlecht derer nicht aufgehört, die von ihm den Namen ,Christen' empfangen haben." Wenn Sie diese Worte sorgfältig überlegen, werden Sie finden, daß sie nur von einem Christen geschrieben sein können — von einem Christen, der die Maske des Juden ziemlich ungeschickt angenommen hat. Man hat versucht, wenigstens einen Teil des „Zeugnisses" zu retten — selbst R a n k e hat sich an diesen Versuchen beteiligt —, allein auch das war vergeblich. Wir müssen die ganze Stelle beiseite schieben. Die Tatsache, daß der jüdische Geschichtsschreiber am Ende des ersten Jahrhunderts, der so viele Werke verfaßt, von Jesus und der christlichen Bewegung gar keine Notiz genommen hat, ist sehr merkwürdig. Das Schweigen kann affektiert sein, ja muß so beurteilt werden; denn Josephus muß vom Christentum gehört haben. Daß er es ignorieren konnte, ist eine Mahnung, die intensive Ausbreitung des Christentums im Zeitalter Domitians nicht zu überschätzen, so groß die extensive auch schon war. Wäre jene auch schon bedeutend gewesen, so hätte das Schweigen des Josephus das höchste Befremden bei seinen Lesern erregen müssen. Was andere jüdische Quellen betrifft, so ist ihre Zeit zu unsicher oder ihr Inhalt zu spärlich, als daß wir auf sie einzugehen brauchen. Es sind abgerissene Notizen von zweifelhaftem Wert. Wichtiger ist es, daß wir schlechterdings nirgends hören, die Juden hätten je die geschichtliche Existenz Jesu bestritten. Wir haben für die jüdische Polemik gegen das Christentum sehr alte Zeugnisse. Schon unsre Evangelien, namentlich das Matthäus- und Johannes-Evangelium, berücksichtigen sie, ferner die Apologeten des zweiten Jahrhunderts, vor allem Justin in seinem weitschichtigen Dialog mit dem Juden Trypho. Endlich hat Celsus seine Polemik gegen das Christentum, wie er selbst andeutet, zum Teil von der jüdischen gelernt. Aber niemals hat ein Jude be-
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zweifelt, daß Jesus gelebt habe; niemand weiß es anders, als daß er zur Zeit des Tiberius als angeblicher Messias den Kreuzestod erlitten hat. Seine Jünger, so behauptete man, haben seinen Leichnam gestohlen und auch das Märchen von der Geburt aus der Jungfrau aufgebracht, während man doch wisse, daß er im Ehebruch erzeugt worden sei von einem römischen Soldaten. Warum erzähle ich das? Nun, alle paar Jahre und jüngst wieder tritt irgend jemand auf, behauptet, Jesus habe nie gelebt, und verlangt dabei, ernsthaft genommen zu werden. Der Neueste, der diese Entdeckung wieder gemacht hat, ist ein Pastor K a l t h o f f in Bremen. Die Behauptung ist absurd, aber doch nicht ganz so absurd, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Α priori können wir sagen, es muß doch irgendwo in der Überlieferung von Jesus eine Möglichkeit gegeben sein, eine so abenteuerliche Hypothese aufzustellen. Eine solche ist in der Tat vorhanden, und wir haben sie schon in der ersten Vorlesung kennen gelernt: die Christenheit haftete von dem Momente an, in dem sie sich von der Auferweckung Jesu überzeugt hatte, mit ihrem ganzen Interesse, Fühlen und Denken an dem göttlichen "Wesen, das nun im Himmel thronte, und sie übertrug die ganze messianische Dogmatik, das Bild des erdachten Messias, auf ihn. Notwendig traten dem gegenüber die Züge des wirklichen Jesus und seines irdischen Lebens zurück. Denken Sie an ein naheliegendes Beispiel. Paulus will seiner Philipper-Gemeinde die Demut und Selbsterniedrigung Jesu vor die Augen malen. Was tut er? Greift er irgendeine besonders charakteristische Geschichte aus dem Leben Jesu heraus? Nein, sondern er sagt: „Jesus Christus, ob er gleich in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode." Da er überzeugt war, daß dieser Jesus Christus in schon göttlicher Gestalt existiert hatte, bevor er Mensch wurde,
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so war die Annahme ebendieser Knechtsgestalt ein viel deutlicherer Beweis seiner Demut als jeder Zug aus seinem irdischen Leben. "Von hier aus, d. h. auf Grund der an sich richtigen Beobachtung, daß die Gemeinde Jesu in der Anschauung der Postexistenz und Präexistenz des Christus lebte und seine baldige Wiederkunft in des Himmels Wolken erwartete, ferner in Hinsicht auf die so verschiedenen Christusdarstellungen — die drei ersten Evangelien, Paulus, das Johannes-Evangelium — versteht man es wenigstens, daß radikale und geschichtlich nicht hinreichend gebildete Geister auf den Versuch verfallen konnten, den wirklichen Jesus ganz zu eliminieren. Das konstruierte Messiasbild, der Glaube an einen im Himmel schon vorhandenen Messias und die stürmische Erwartung seiner Ankunft gelten bei dieser Auffassung als die Ausgangspunkte; dann habe sich — man weiß freilich nicht wie, vielleicht in Erinnerung an irgendeine Persönlichkeit, die einen flüchtigen Eindruck gemacht hatte — der Glaube verbreitet, der Messias sei auf kurze Zeit schon da gewesen, und nun habe sich an diese erträumte Persönlichkeit allerlei in bezug auf Leben und Lehre ankristallisiert. Gegen diese Vorstellung aber, die, wie wir noch sehen werden, überall auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt und selbst dann nicht haltbar wäre, wenn wir als Quelle für Jesus nur das Johannes-Evangelium besäßen, spricht unter anderem eben die Tatsache, daß die Juden niemals die Existenz Jesu bezweifelt haben. Sie hätten sie bezweifeln müssen, wenn hier auch nur der Schatten einer Unsicherheit vorhanden gewesen wäre; denn eine schlagendere Widerlegung konnte es nicht geben. Von den jüdischen Quellen, die uns so wenig lehren, gehen wir zu den christlichen über. Wir wollen zunächst von Paulus und den Evangelien absehen und die übrigen Quellen durchmustern, dann das Zeugnis des großen Apostels und endlich die Evangelien betrachten. Wir besitzen aus der Zeit von Domitian bis Hadrian, d.h.
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aus den fünfzig Jahren von dem Jahre 80 bis gegen das Jahr 130 eine ganze Reihe christlicher Schriften, teils innerhalb des Neuen Testaments, teils außerhalb desselben — mehr als zwei Dutzend zählt man mit leichter Mühe zusammen. Es sind hauptsächlich Briefe, aber auch ein Geschichtswerk, die Apostelgeschichte ist dabei, und Apokalypsen fehlen nicht. Neben neutestamentlichen Schriften stehen die Briefe des Clemens, des Ignatius, des Polykarp, des Barnabas, die „Apostellehre", die „Verkündigung des Petrus", und die Offenbarungsschrift des Hermas. In fast allen diesen Schriften ist der Gottessohn, der erschienen ist und nun im Himmel thront, der Mittelpunkt. So gewiß er jetzt ein himmlisches Wesen ist, so gewiß war er auf Erden und hat unter den Menschen geweilt. Aber weiter, fast alle bezeugen es: er heißt Jesus, und auf Betreiben der Juden hat er den Kreuzestod erlitten. Ganz verschieden ist die Deutung dieses Todes; aber die Tatsache selbst unterliegt keinem Zweifel. Einige von diesen Schriftstellern erzählen auch Details. Im ersten Petrusbrief heißt es: „Welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohete, da er litt; er stellte es aber dem heim, der da recht richtet." Im Hebräerbrief lesen wir: „Jesus hat in den Tagen seines Fleisches G-ebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu dem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen." Also der Sohn Gottes hat gezittert und gezagt! In der Offenbarung Johannis ist von einem Lanzenstich, den Jesus erhalten, die Rede, in den Ignatiusbriefen von der Taufe des Johannes und der Verfolgung des Herodes. Von den Versuchungen, die er erlebt und überwunden, spricht der Hebräerbrief an einer anderen Stelle. Der Verfasser muß also Kunde von dem Leben Jesu besessen haben. Auch der erste Petrusbrief blickt auf ein Leben Jesu in der Öffentlichkeit zurück, wenn er sagt: „Welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden." In der Apostelgeschichte lassen sich neben der
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Bezeugung des Todes und der Auferweckung noch manche Bausteine zu einer Geschichte Jesu finden: die Johannestaufe als Beginn der öffentlichen Wirksamkeit, die Johannesjünger, die Mutter Jesu, die Brüder, Frauen in seiner Begleitung, die zwölf Apostel, Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn getan hat, Herodes, Pilatus, der Verrat und der Tod des Judas. Die Auswahl der zwölf Jünger durch Jesus ist öfters in unsrer Gruppe von Schriften bezeugt. Barnabas berichtet uns, daß sie vor ihrer Berufung besonders sündige Menschen gewesen seien, und deutet damit einen sehr wichtigen Zug in der Geschichte Jesu an, seinen Verkehr mit den Sündern. Auch Worte Jesu sind uns überliefert, die nicht in unseren Evangelien stehen wie der Spruch: „Geben ist seliger denn Nehmen", und manche andere. Zum Teil sind sie nur etwas anders redigiert wie die in den Evangelien, zum Teil sind sie ihnen durch den Inhalt verwandt. In dem 1. Petrusbrief, dem Jakobusbrief und im Hermas finden sich außerdem zahlreiche stillschweigende Beziehungen auf Worte Jesu. Aber noch wichtiger ist, daß alle diese Schriftsteller oder fast alle es nicht anders wissen, als daß Jesus, dieses himmlische Wesen, Lehrer gewesen ist und Gebote des Lebens, ein „Gesetz" — ein Gesetz der Freiheit, ein königliches Gesetz, ein Gesetz „ohne das Joch des Zwanges", aber andrerseits ein schweres Gesetz — gegeben hat. Und in der näheren Bestimmung dieses Gesetzes stimmen sie merkwürdig zusammen; nicht Gebote einer prinzipiellen Askese führen sie auf ihn zurück, nicht Mönchsordnungen leiten sie von ihm her, sondern das Gebot einer ungeteilten Gottes- und Nächstenliebe bis zur Feindesliebe und die Verpflichtung, die sündige Welt zu fliehen. Auf das Vorbild Jesu weisen sie hin und meinen eben die Liebe, die Sanftmut, die Demut und die vollkommene Heiligkeit. Das sind die charakteristischen Züge in der Erinnerung an Jesus, wie sie sich in diesen Schriften finden. Sie sind
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sehr wichtig, aber sie sind nicht zahlreich. Indessen — man darf ein Dreifaches nicht vergessen: erstlich, daß diese alten Christen nicht nur von Erinnerungen lebten, sondern viel mehr noch von dem Geiste Jesu, den sie in ihrer Mitte spürten und wußten, zweitens daß sie Christus in ihren Gedanken mit Q-ott selbst oftmals verschmolzen und daher das irdische Leben Jesu für sie zurücktrat, drittens daß die Schriften, die wir besitzen, größtenteils Gelegenheitsschriften sind und uns nur einen kleinen Ausschnitt von dem bieten, was diese Christen von Jesus wußten. Wenn dieser Jesus überhaupt nicht existiert hätte, so müßte man die seltsamste Verschwörung gegen die Wahrheit annehmen: eine ganze Gesellschaft geheimnisvoller Personen müßte sich verabredet haben, die Welt zu betrügen, oder ein schaffender Dichter müßte in den toten Haufen messianischer, aus der Hoffnung erzeugter Legenden eine lebendige Seele gehaucht haben. Wo ist dieser Dichter, und wo sind die ersten, die sich das einreden ließen? Aber wir besitzen, von Paulus und unseren Evangelien abgesehen, noch eine Gruppe sicherer Zeugnisse für die geschichtliche Existenz Jesu. Von seinen Brüdern, deren Kindern und Enkeln, ferner von einem Vetter wird uns erzählt in einer so schlichten und zuverlässigen Weise, daß an den Berichten nicht zu rütteln ist. In Jerusalem wurde ein Bruder Jesu, Jakobus, einige Jahre nach der Kreuzigung Jesu, Vorsteher der Gemeinde. Nach dessen Tode erhielt ein Vetter Jesu das Amt. In andren palästinensischen Gemeinden treten andere Verwandte an die Spitze. Einfache galiläische Landleute waren es, und die Legende hat sich ihrer kaum bemächtigt. Das aber, was die Geschichte von jenem Jakobus berichtet, erinnert in keinem Zuge an die Gestalt Jesu selbst: er, der zuverlässige Christ und gesetzeseifrige Jude, war kein Wundertäter, kein Heiland, kein Prophet. Auch die Verehrung der Gemeinde für die Verwandten Jesu ging über das Maß einer gewissen Pietät
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nicht hinaus. „Kalifen" sind sie nicht geworden. Jedenfalls sind Ansätze zu einer solchen Schätzung schnell unterdrückt worden; auch die Mutter Jesu verschwindet alsbald aus der Q-eschichte. Verehrung von „Heroen", zumal lediglich um ihrer Abstammung willen, lag dem ältesten Christentum fern; die Verehrung Jesu war etwas anderes als Heroendienst. Bis in das zweite Jahrhundert hinein gab es in Palästina Verwandte Jesu, die zugleich seine Anhänger waren. Sie bezeugen seine Existenz und den bürgerlichen Stand, dem er angehört hat. Wir kommen zu Paulus. Er ist die hellste G-estalt im Urchristentum, und wir dürfen erwarten, von ihm Bedeutendes über Jesus zu hören. Freilich, wie die Kritik der Urgeschichte des Christentums bis heute das äußerste Extrem eines radikalen Kritizismus noch immer nicht überwunden hat, so fehlt es auch nicht an ein paar Gelehrten, welche sämtliche Briefe des Paulus für unecht und für Fälschungen des zweiten Jahrhunderts erklären. Ich kann mich hier kurz fassen: einige den Namen des Paulus tragende Briefe sind wirklich unecht (die Pastoralbriefe, der Hebräerbrief), andere sind zweifelhaft (Epheser, 2. Thessal., Kolosser) — mir scheinen die Zweifel nicht durchschlagend zu sein. Aber die Mehrzahl ist echt, und wer einen Brief wie den ersten Korintherbrief für unecht erklären kann, wer nicht sieht, daß er Abschnitt für Abschnitt wirklich in der Situation entstanden ist, aus der er stammen will, dem ist die Fähigkeit abzusprechen, in geschichtlichen Urkunden zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden. Man ist berechtigt, ihn seinem Skeptizismus, die Hypothese selbst aber dem heilenden Einfluß der Zeit zu überlassen. Paulus ist noch im Jahre des Kreuzestodes selbst oder drei bis vier Jahre später auf dem Wege nach Damaskus ein Jünger Christi geworden. Er hat sich vorher als eifriger Pharisäer an der Unterdrückung der Gemeinde beteiligt. Also hat er mit Christen gesprochen und disputiert; aber
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er schreibt seine Bekehrung nicht den so gewonnenen Eindrücken oder auftauchenden eigenen Erinnerungen an Jesus zu — solche hat er augenscheinlich n i c h t besessen —, sondern einem wunderbaren Erlebnis, in welchem ihn der himmlische Christus ergriffen und sich zu eigen gemacht hat. D i e s e r Christus war sein mächtiger Herr, nicht ein mühsam zum Leben erwecktes Erinnerungsbild eines Vergangenen wohnte in seinem Herzen. Aber daß der himmlische Christus als Mensch jüngst gelebt hatte und durch den Kreuzestod hindurch in seine Herrlichkeit eingezogen "war, war ihm ebenso gewiß und ebenso wichtig. Wir dürfen noch mehr sagen: das isolierte Faktum des Kreuzestodes war an sich natürlich nicht imstande, die Messianität dieses Jesus zu erweisen oder dem Paulus auch nur nahezulegen — im Gegenteil, es setzte an und für sich ihrer Anerkennung das stärkste Hemmnis entgegen. Nahm Paulus sie an, so müßte er ein unzurechnungsfähiger Schwärmer gewesen sein, wenn er von diesem Jesus nicht mehr gewußt hätte, als daß ihn Pilatus auf Betreiben der Juden hat kreuzigen lassen. Das ohnehin schon psychologisch schwer verständliche Faktum, daß aus dem Saulus ein Paulus geworden ist, würde jeder Erklärung spotten, dürfte man nicht annehmen, daß der Apostel ein umrissenes Bild Jesu als des Lehrers, des Propheten und des Heilandes, vor allem aber ein Bild seiner sittlichen Größe und Hoheit besessen hat. Wie er es gewonnen hat, ist nicht undeutlich. Die Jünger Jesu, die er bekämpfte, haben es ihm gebracht, und wenn er auch nach seiner Bekehrung gewiß war, keiner Unterweisung von Menschen nun noch zu bedürfen, so ist es doch undenkbar, daß er bei seinen Begegnungen mit Petrus, Jakobus und anderen persönlichen Jüngern zu dem ihm schon Bekannten nichts Neues von und über Jesus gehört hat. Daß er mit Petrus und Jakobus drei Jahre nach seiner Bekehrung 15 Tage in Jerusalem zusammen gewesen ist, sagt er uns selbst, und auch sonst wissen wir
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von Zusammenkünften mit diesen. Fest steht, daß er mit Petrus und anderen Uraposteln auch Spannungen und Reibungen gehabt habt; aber viel deutlicher und sicherer noch ist nach dem Zeugnis des Paulus, daß in der Verkündigung von Jesus Christus, d. h. in den Tatsachen, zwischen ihnen keine Differenzen bestanden haben. Wir dürfen also gewiß sein, daß das, was Paulus Tatsächliches von Jesus Christus berichtet, nahezu so zuverlässig und wertvoll ist, als hätten es die persönlichen Jünger Jesu selbst erzählt. Ich sage „nahezu so zuverlässig", weil ein subjektives Element nie ganz auszuschalten ist. Aber im großen und ganzen muß sich das, was Paulus von dem geschichtlichen Jesus Tatsächliches mitteilt, mit der ältesten Verkündigung gedeckt haben. Eine Kontroverse hierüber hat es zwischen den Aposteln nicht gegeben. "Was bezeugt aber Paulus? Es ist erstaunlich, daß es nicht mehr ist; aber wir kennen schon die Gründe. Auch er lebte in der Anerkennung und Gemeinschaft des himmlischen Christus und — es sind nur Gelegenheitsschriften, die wir von ihm besitzen. Zu dem Erstgenannten trat aber noch ein Besondres bei ihm hinzu: der Kreuzestod war zwar allen Christen von höchster Wichtigkeit, aber für Paulus war er schlechthin die Tat und das Werk Christi. Ich kann darauf hier nicht näher eingehen; es muß genügen zu wissen, daß dem so gewesen ist. Seine Predigt war die Verkündigung der durch das Kreuz und die Auferstehung geschehenen Erlösung. Dies bot ihm einen so unerschöpflichen Inhalt des Trostes und der Ermahnung, daß alles übrige dem gegenüber ganz zurücktrat. Aber es ist doch nicht ganz weniges, was er darüber hinaus mitteilt oder streift. Ich hebe folgendes hervor: Seinen geschichtlichen Bericht über die Erscheinungen des Auferweckten in 1. Kor. 15. Fast einem Zufall, könnte man sagen, verdanken wir es, daß wir ihn besitzen — den Auferstehungsleugnern in Korinth gegenüber hat ihn der
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Apostel seinem Briefe einverleibt. Daß ein solcher Bericht dem Paulus zu G-ebote stand, ist doch wohl ein Beweis dafür, daß er auch noch andre detaillierte Kenntnisse besessen hat; indessen könnte man einwenden, daß es sich hier nicht um Tatsachen des Lebens Jesu handle. Übrigens sei gleich hier bemerkt: Paulus bezeugt nicht, daß der erschienene Christus gesprochen und daß er gegessen und getrunken habe mit seinen Jüngern. Nur daß er gesehen worden ist, teilt er uns mit, Seinen ausführlichen geschichtlichen Bericht über die Einsetzung des Abendmahls in 1. Kor. 11; man ist heute meines Erachtens skeptischer gegen diesen Bericht als die Feierlichkeit, in der Paulus ihn mitgeteilt hat, und die Ausführlichkeit es erlaubt, Seine Mitteilung über die Zeit des Kreuzestodes in 1. Kor. 5, Seine Mitteilung, daß Jesus zwölf Jünger erwählt habe, und über Jakobus, den Bruder des Herrn, (Die GTeburt Jesu von einem Weibe), Das Leben Jesu in der Beobachtung des G-esetzes (Jesus kein Revolutionär gegen das G-esetz), Eine eigene sittliche Gesetzgebung Jesu („das Gesetz" Christi), wie immer sie erfolgt sein mag, Das Leben Jesu in Niedrigkeit und Gehorsam, Einige Sprüche Jesu. Nunmehr ist die Bahn zur Untersuchung der drei ersten Evangelien frei gemacht. Es stellt sich da sofort heraus, daß sich diese nicht auf eine erträumte Person beziehen, sondern auf eine wirkliche, nämlich auf die, von welcher Paulus und die Verfasser der ältesten christlichen Kirche reden; denn sie bestätigen das von diesem Erzählte. Ohne Schwierigkeit aber läßt sich weiter zeigen, daß die drei ersten Evangelien auf zwei Quellen zurückgehen, nämlich auf eine geordnete Sammlung von Reden und Sprüchen Jesu und auf eine Schrift, die wir unter den Evangelien
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selbst noch besitzen, das Markus-Evangelium. Es läßt sich aber ferner zeigen, daß das dritte Evangelium von einem selbständigen Freunde des Paulus verfaßt worden ist, der lange Zeit in seiner Gesellschaft war und der auch persönliche Schüler Jesu kennen gelernt hat. Damit ist die weitere Untersuchung auf einen festen Boden gestellt. Markus, Lukas — wir wissen freilich nur wenig von ihnen, aber wir wissen, wohin sie gehören. Es sind keine anonymen, nach Zeit und Umständen unbekannten Berichterstatter.
HAT JESUS GELEBT?
Es ist für einen wissenschaftlichen Theologen beschämend, daß er die Frage, ob Jesus überhaupt gelebt hat, beantworten soll, nachdem doch die Forschung des Lebens Jesu nun fast ein Jahrhundert hindurch in Deutschland mit Aufbietung der besten Kräfte am "Werke gewesen ist. Aber wenn man in Zeitschriften, wie das „Freie "Wort" (1909, Seite 491) lesen muß: „Die Religionswissenschaft ist allmählich zu dem Resultat gelangt, daß ein Jesus Christus als historische Person nicht mehr aufrechtzuerhalten ist", so bleibt, um die geschichtliche "Wahrheit nicht verdunkeln zu lassen, nichts übrig, als zur Feder zu greifen. Das „Freie "Wort" läßt seiner Behauptung die Worte folgen: „Die Evangelien werden von zahlreichen Forschern ersten Ranges in Amt und Würden (sie!) für Mythensammlungen erklärt." Das ist, gelinde gesagt, eine grobe Irreführung des Publikums. Ich kenne überhaupt keinen „Forscher", geschweige ersten Ranges, der hier genannt werden könnte. Die drei „G-elehrten", mit deren Namen die jüngste Leben Jesu-Bewegung in Deutschland verknüpft ist, Kalthoff (f), Jensen und Drews, haben die ernsten Studien nicht gemacht, die nötig sind, um das Recht zu erlangen, in der Wissenschaft vom Urchristentum mitsprechen zu dürfen. Sie sind Dilettanten, deren grobe geschichtliche Verstöße und ungezügelte Kombinationen beweisen, daß sie eine methodische Schulung in bezug auf die Kirchengeschichte
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niemals empfangen haben. In jeder anderen Wissenschaft würde man über sie zur Tagesordnung übergehen. In der Tat wird es auch keinem neutestamentlichen Gelehrten einfallen, wenn er einen Kommentar schreibt oder eine historische Untersuchung zur Geschichte des Urchristentums anstellt, sich mit jenen Männern auseinanderzusetzen, da nichts von ihnen zu lernen ist; aber „das Publikum" greift nach ihren Schriften; da fordert die Pflicht, es vor Mystifikationen zu schützen. Dieser Pflicht haben sich bereits nicht weniger als fünf erprobte Forscher unterzogen. Bornemann („Jesus als Problem", 1909), v. Soden („Hat Jesus gelebt?", 1910), Beth („Hat Jesus gelebt?", 1910), Jülicher („Hat Jesus gelebt?", 1910) und Weinel („Ist das ,liberale' Jesusbild widerlegt?", 1910), sind den Aufstellungen jener Männer entgegengetreten und haben gezeigt, wie haltlos sie sind. Sie haben ferner gezeigt, daß jene unkritischen Stürmer untereinander völlig uneins sind. Einig sind sie nur in der Negation; wie sie sich positiv die Entstehung des Christusbildes und des Christentums denken, das ist so verschieden, daß einer den anderen einfach aufhebt. Ich habe nicht die Absicht, und es wäre auch überflüssig, in dieser Zeitung den Streit fortzusetzen. Wer sich orientieren will, der findet in den genannten Schriften ausreichende Belehrung. Aber die beiden Fragen interessieren mich und vielleicht auch die Leser, wie es zu erklären ist, daß trotz der hingebenden und mit Erfolg gekrönten Arbeit der wissenschaftlichen Theologie dennoch die Frage, ob Jesus gelebt hat, auftauchen konnte, und warum anscheinend ein nicht geringer Teil des Publikums die negative Antwort mit Genugtuung begrüßt. Man könnte geneigt sein, sich mit der Beantwortung zu begnügen, daß bei geschichtlichen Problemen der Mindestbietende stets Aussicht auf Erfolg hat, weil er vor sich selber und vor dem Publikum als der „kritischste" Forscher erscheint, und weil es in der Tat einen nicht geringen Reiz
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hat, einem schwierigen Problem dadurch zu begegnen, daß man es einfach aufhebt. Allein, so gewiß solch eine Stimmung hier mitspielt, so wenig reicht doch die Erklärung aus; denn die, welche das Leben Jesu auszulöschen trachten, tun das mit einem gewissen Fanatismus; dieser Fanatismus will erklärt sein. Man muß hier daran denken, daß der menschlichen Natur nicht nur, wie Schelling behauptet hat, ein Zug „zum Großen" innewohnt, sondern noch viel stärker ein Zug zum „ewig Gestrigen", ein Zug, der alles zu nivellieren strebt und dem es unerträglich ist, daß etwas Ungewöhnliches, Geniales, auf sich ^selber Ruhendes überhaupt existiert haben soll. Die Geschichtsschreibung weiß von den Bemühungen kleiner Geister, auch das Erhabene in den Staub zu ziehen, und nicht zu ruhen, bis auch das Große klein und gemein geworden ist oder am besten ganz verschwindet, genug zu berichten. Die willkommenste „Sensation" ist niemals diejenige, die durch die Erscheinung eines Bewunderungswürdigen und Einzigartigen hervorgerufen wird, sondern vielmehr die, welche durch die Vernichtung eines Erhabenen entsteht: „Das sind wir nun auch glücklich los; wir haben es ja immer geahnt, daß es nichts damit sei!" Diese Empfindung ist vielen eine besonders erquickliche, weil sie ihnen das Recht zu verleihen scheint, sich in ihrer Kleinheit fürderhin nicht stören zu lassen. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß diese unerfreuliche Art an der Aufnahme, die Kalthoff, Drews und Jensen gefunden haben, einen bedeutenden Anteil hat. Aber es wäre ein schweres Unrecht, die Bemühungen dieser Männer selbst in diese Beleuchtung zu rücken. Ihnen war es wirklich um geschichtliches "Wissen zu tun — so unzureichende Vorstellungen sie auch davon hatten und so lückenhaft ihre Kenntnisse waren. Auch mit dem Vorwurfe, Sensation machen zu wollen, wird man sie nicht belasten dürfen, so bedenklich die Mittel sind, welche Jensen
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und Drews angewendet haben, um sich Gehör zu verschaffen. Wie sind sie dann aber zu ihrer haltlosen These, Jesus habe überhaupt nicht gelebt, gekommen? Soviel ich sehe, sind es zwei Gründe ganz verschiedener Art, die hier zusammengewirkt haben. Erstlich — Jesus erschien ihnen, auch wenn man alles abzieht, was die Glaubensverehrung aus ihm gemacht hat, sowohl an sich als auch in seinen Wirkungen immer noch zu groß, um als wirkliche Person gelten zu können. Es erschien ihnen unmöglich, daß ein Einzelner die Fülle in sich getragen hat, die aus den überlieferten Worten und Gleichnissen Jesu spricht, die aus armen Fischern Helden, aus einem Saulus einen Paulus und aus der heidnischen Welt eine neue Gesellschaft gemacht hat. Nur Kollektivideen und Kollektivpotenzen können die Wirkungen hervorgebracht haben, um die es sich gehandelt hat; kein Einzelner kann also hier die entscheidende Kraft und der entscheidende Führer gewesen sein. Bei Drews ist es die Hegel-Hartmannsche Philosophie, bei Kalthoff die moderne Soziologie, die zu diesem Urteil angeleitet hat. Ihre Bezweiflung der Existenz Jesu ist also, da derselbe tatsächlich doch gelebt hat, im Grunde eine außerordentliche Ehrenerklärung für ihn. Doch dies mag auf sich beruhen. Beide verkennen die Macht und den Spielraum persönlichen Lebens, sie verkennen, daß solch eine Bewegung, wie die Entstehung der christlichen Religion sie darstellt, in ihren Anfängen ohne eine begründende geschichtliche Persönlichkeit schlechthin undenkbar ist, ja, daß sie gefordert werden müßte, wenn die Überlieferung zufällig nichts von ihr berichtet hätte. Während die wirkliche Geschichte uns lehrt, daß es keinen Mohammedanismus ohne Mohammed, keinen Buddhismus ohne Buddha, keine Franziskaner ohne den heiligen Franziskus usw. gegeben hat, ist eine Gruppe unserer heutigen Geschichtsschreiber überall nahe daran, den Sachverhalt umzukehren und den Mohammedanismus zum Vater Mo-
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hammeds und die franziskanische Bewegung zur Mutter des heiligen Franziskus zu machen. In dieser Umkehr liegt unzweifelhaft ein gewisses Recht; denn der Mohammedanismus hat sehr vieles, was schon vor Mohammed vorhanden war, und der Buddhismus, was vor Buddha da war; aber dennoch hätte es weder diesen noch jenen je gegeben, wenn Mohammed und Buddha nie gelebt hätten. Seit mehr als einem Menschenalter braucht man die Geschichtswissenschaft nicht mehr darüber zu belehren, daß der große Mann, der eine neue Bewegung begründet, deshalb so groß ist, weil er erfüllt, was die Zeit bedarf, was sich also schon angebahnt hat. Es ist demnach lediglich ein kindlichnaiver Eifer, welcher der Anerkennung dieser einfachen Wahrheit dadurch zum Siege verhelfen will, daß er entweder den großen Mann ganz streicht oder doch sein Auftreten für wesentlich überflüssig erklärt: „es hätte sich alles auch von selbst gemacht und hat sich von selbst gemacht!" Das ist der Irrtum, in welchen Kalthoff und Drews geraten sind. Erfüllt von der Zuversicht zu ihrer Soziologie und Philosophie, die, mit Umsicht angewandt, zu solchen Schlüssen freilich keineswegs nötigten — denn welche Philosophie darf sich anmaßen, weiser sein zu wollen als die Tatsachen — haben sie die Tatsachen gewaltsam zu meistern unternommen. Das ist nicht zum erstenmal hier geschehen und wird sich stoßweise immer wiederholen; denn Q-eschichte schreiben ist schwer. Wer seinen Geist nicht durch methodische Untersuchungen und erworbene Lebenserfahrung so diszipliniert hat, daß er ebenso aufgeschlossen ist für die Erkenntnis persönlichen Lebens wie für den ehernen Gang der Entwicklung, und wer die Verflechtung dieser Größen nicht zu sehen und zu beurteilen gelernt hat, der wird immer, sei es nach links oder rechts, in Abgründe geraten. Aber es spielt bei dem schweren Irrtum der JesusStürmer noch ein zweites Moment mit. Wenn es heute jemandem einfallen würde, zu behaupten, Alexander der
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Große oder Sokrates haben nicht gelebt oder die Fische hätten sich aus den Säugetieren entwickelt, so würde das Publikum sehr ruhig bleiben; es würde auf die Fachmänner verweisen und sagen: „Allem zuvor wollen wir von diesen hören, was sie zu den neuen seltsamen Thesen sagen." Aber die wissenschaftliche Theologie genießt zurzeit dieses Vertrauen in der Öffentlichkeit noch nicht, im Gegenteil — das große Publikum, ja nicht nur dieses, sondern auch viele Gelehrte bezweifeln offen oder versteckt in solchen Fällen die Kompetenz der theologischen Fachmänner und halten zum Beispiel jeden Philologen, mag er auch die ältesten Urkunden des Christentums kaum jemals eines flüchtigen Blickes gewürdigt haben, für viel kompetenter als die wissenschaftlichen Theologen. Einige, wie zum Beispiel Häckel, gehen sogar soweit, daß sie, obgleich sie eine theologische Fakultät neben sich haben, ihre Kenntnisse des ältesten Christentums lieber aus den abgeschmacktesten Büchern schöpfen, deren Namen in den Kreisen der wissenschaftlichen Theologen kaum bekannt sind! "Wie ist diese traurige Tatsache zu erklären? Es ziemt den Theologen, daß sie vor allem fragen, welche Schuld sie selbst an ihr tragen, und ich stehe nicht an, zu erklären, daß die wissenschaftliche Theologie nicht ganz ohne Schuld ist. Sie hat den Grenzstrich zwischen sich und dem, was sich auch theologische Wissenschaft nennt, noch immer nicht fest genug gezogen, und andererseits sind einige ihrer Vertreter von dem Vorwurfe nicht freizusprechen, daß sie richtige Erkenntnisse übertrieben und hin und wieder sehr gewagte Hypothesen aufgestellt haben. In anderen Disziplinen schadet letzteres wenig; aber die Theologie ist keine "Wissenschaft wie die Mathematik, die ihre Arbeit mit Ausschluß der Öffentlichkeit treibt. Sie steht auf dem öffentlichen Markt vor dem ganzen Volk, weil die Fragen, die sie behandelt, Lebensfragen sind. "Wie ihre Vertreter daher über ihre strenge "Wissenschaftlichkeit und Sachlichkeit
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keinen Zweifel lassen dürfen, so müssen sie auch andererseits zwischen Tatsachen und Hypothesen noch schärfer unterscheiden als jede andere Wissenschaft, sonst verleiten sie die, welche sich nicht selbst ein Urteil bilden können, leicht zu Irrtümern. Nur so können sie das Vertrauen gewinnen und behaupten, das sie bedürfen. Aber wenn ich zugestehe, daß hier die wissenschaftliche Theologie noch nicht alles getan hat, was zu tun ist, so bin ich doch weit entfernt, für die traurige Tatsache, von der ich oben gesprochen habe, lediglich sie verantwortlich zu machen. Viel stärker fällt hier das schwere und ungerechtfertigte Vorurteil ins Gewicht, daß dem, welchem Religion eine wertvolle Sache ist, keine vorurteilslose Prüfung der Geschichte der Religion möglich ist, daß man von ihm also nur parteiische Urteile erfährt. Solange dieses Vorurteil nicht gebrochen ist, wird sich das Schauspiel immer wiederholen, das wir bei der jüngsten Leben Jesu-Bewegung erlebt haben. Die Wissenschaft vom Urchristentum wird zwar ihren Weg ruhig fortschreiten, denn sie weiß, daß sie auf dem richtigen Wege ist, und sie sieht auf eine Fülle sicherer Ergebnisse zurück; aber es kann für die Mitarbeiter nicht gleichgültig sein, ob sie von dem Vertrauen der G-ebildeten und Einsichtigen getragen sind oder nicht und ob, wie zurzeit, die äußerste Rechte und die äußerste Linke gemeinsame Sache machen, um die Arbeit der Wissenschaft zu diskreditieren. In dem Maße, als das Vertrauen zu der wissenschaftlichen Theologie wachsen wird, werden die von Dilettanten unternommenen Sprengversuche aufhören. Ich habe oben bemerkt, daß es unnötig ist, zu den trefflichen Widerlegungen der Stürmer, die wir bereits besitzen, eine neue hinzuzufügen; aber ich will diesen kleinen Aufsatz nicht hinausgehen lassen, ohne einige positive Fingerzeige zu geben. Ich kleide sie in die Form von Fragen, die schlechterdings nicht beantwortet werden können, wenn es wahr wäre, daß Jesus nicht gelebt hat.
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1. Wenn Jesus nicht gelebt hat — wie konnte von seinen Brüdern und Schwestern erzählt werden, wie konnte ferner berichtet werden, daß sein Bruder Jakobus die Gemeinde von Jerusalem geleitet hat? 2. Wenn das Leben Jesu lediglich als ein messianisches Gedicht zu beurteilen ist, warum heißen die Anhänger Jesu am Anfang und eine lange Zeit hindurch seine Schüler (und er selbst ihr Lehrer), während der Name „Knechte Christi" (Christus „der Herr") erst allmählich aufkommt? 3. Wenn das Leben Jesu ein messianisches Gedicht ist, wie konnte man in der ältesten Überlieferung von Jesus erzählen, daß er dort keine Wunder tun konnte, wo man ihm nicht Glauben schenkte? 4. Wenn das Leben Jesu bloß eine Dichtung wäre, wie konnte die Uberlieferung ihn sagen lassen, seine Jünger sollten nicht zu den Samaritern und Heiden gehen, während sie doch zu ihnen gegangen sind? 5. Wenn das Leben Jesu bloß eine messianische Dichtung wäre, wie konnte erzählt werden, daß Jesus sich der Bußtaufe des Johannes unterzogen und daß er es abgelehnt habe, „gut" („guter Meister") genannt zu werden? 6. Wenn das Leben Jesu bloß eine messianische Dichtung wäre, wie konnte die älteste Uberlieferung als letztes Wort Jesu den Ausruf erdichten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen," ohne ihre ganze Dichtung zu gefährden? Solche und ähnliche Fragen lassen sich noch viele aufwerfen; es mag aber mit diesen sechs genug sein. Natürlich kann man auch sie beantworten, weil man jede Frage durch irgendeine Auskunft beschwichtigen kann; aber eine befriedigende Antwort vermag niemand auf sie zu geben, wenn Jesus nicht gelebt hat. Und doch hängt schließlich die Sicherheit der Existenz Jesu auch nicht an den Einzelbeobachtungen, die diesen Fragen zugrunde liegen. Wer an dem, was die drei ersten Evangelien — auch nach der
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schärfsten historischen Kritik — bieten, nicht empfindet, daß eine gewaltige, die Herzen bezwingende, unerfindbare Persönlichkeit hier zum Ausdruck kommt, dem ist die Fähigkeit abzusprechen, geschichtliches und persönliches Leben aus Urkunden aufzunehmen und von Dichtungen zu unterscheiden. Dasselbe gilt von den Hauptbriefen des Apostels Paulus. Wer sie als Fälschungen des zweiten Jahrhunderts glaubt beurteilen zu dürfen, hat das Recht verwirkt, in den höheren Fragen der Literaturgeschichte und Geschichte gehört zu werden. Ist denn auch jemals in der Polemik zwischen Christen und Juden, die so alt ist als das Christentum, von diesen behauptet worden, Jesus (oder Paulus) habe nicht gelebt? Wie leicht wäre ihnen, namentlich in ältester Zeit, die Kontroverse geworden, wenn sie dieses Argument hätten geltend machen können! Aber sie haben es niemals getan, weil es unmöglich war, so zu argumentieren. Die Tatsache der Existenz Jesu war zu mächtig, und auch das Judentum hat sie stets respektiert.
DAS DOPPELTE EVANGELIUM IM NEUEN TESTAMENT
Die nachstehende Skizze lag der Bede zugrunde, die auf dem Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt zu Berlin, August 1910, gehalten worden ist. Sie erscheint hier zum erstenmal im Original; eine englische Übersetzung ist in den Verhandlungen des Kongresses veröffentlicht worden.
Vielleicht gibt es kein zweites Wort unter den großen christlichen Hauptbegriffen, welches eine so mannigfaltige und reiche G-eschichte in der Christenheit erlebt hat, wie das "Wort „Evangelium" („evangelisch"). Diese G-eschichte beginnt schon im apostolischen Zeitalter und ist auch heute noch nicht abgeschlossen; denn noch immer wird das Wort „Evangelium" („evangelisch") durch neue Bedeutungen in Anspruch genommen. Manche von diesen Bedeutungen haben nur eine geographisch bzw. landeskirchlich beschränkte Geltung. Daher bin ich keineswegs sicher, daß mir alle Bedeutungen, in denen das Wort heute in den verschiedenen Kirchen gebraucht wird, bekannt sind. Blicken wir auf die deutsche Christenheit, so sehen wir, daß die Protestanten sich im Gegensatz zu den Katholiken die „Evangelischen" nennen und daß sie unter „Evangelium" in erster Linie die Botschaft von der freien G-nade Gottes in Christo im Gegensatz zum Gesetz sowie zur Hierarchie und dem Priestertum verstehen. Wir sehen aber auch, daß unter ihnen kleinere Kreise, die sich enger zusammenschließen wollen und in den großen Kirchen den rechten Ernst vermissen, die Bezeichnung „evangelisch" für sich in besonderer Weise in Anspruch nehmen, etwa unter dem Titel „Evangelische G-emeinschaft" oder ähnlich- Wir erkennen ferner, daß die Worte „Evangelisch" und „Protestantisch" in eine gewisse Spannung geraten: Liberalere Evangelische nennen sich mit Vorliebe „Protestanten" und konservativere Protestanten mit Vorliebe „evangelisch". Ferner gewahren wir, daß man die Bezeichnung „Evangelisch" gebraucht, um dadurch auszu-
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drücken, daß man weder streng lutherisch, noch streng calvinisch sein wolle, sondern sich den großen Grundgedanken der Reformation anschließe. Daneben ist aber auch in dem deutschen Protestantismus nicht vergessen, daß Evangelium die Predigt Jesu vom Reiche Gottes bedeutet. Von hier aus entsteht im Sprachgebrauch geradezu ein Widerspruch; denn während einerseits die Definition vom „Evangelium" im Sinne der Botschaft von der freien G-nade G-ottes in Christo auch so gefaßt wird, daß die Verkündigung von Jesus Christus, dem G-ottessohn, allein das Evangelium ist, wird andererseits das Evangelium als Evangelium Jesu in Gegensatz gestellt zu dieser apostolischen Verkündigung. Es wird also dasselbe Wort gebraucht für die paulinische Predigt und für die Botschaft Jesu in scharfem Unterschied von der paulinischen Predigt. In letzterer Bedeutung wird als das spezifische des Evangeliums der Reich-GottesG-edanke, aber auch die Bergpredigt oder die Seligpreisungen oder einfach „die Moral Jesu" hervorgehoben. Damit nähert man sich dem katholischen Sprachgebrauch, der namentlich seit der Zeit des heiligen Franziskus — doch ist die Sache und die Bezeichnung viel älter — gewisse Sprüche Jesu als „evangelische Räte" („consilia evangelica") bezeichnet und in den Mönchsregeln die Wiedergabe der höchsten Gebote Jesu zur Erlangung der christlichen Vollkommenheit erkennt. Hiernach ist in gewissen Geboten der Bergpredigt und in Matth. 10 der Höhepunkt des Evangeliums zu suchen, und „evangelisch" im vollen Sinne („adsertor evangelii") ist nur der, welcher diese Gebote wörtlich erfüllt, damit aber auch aus dem weltlichen Leben heraustritt. Damit verbindet sich dann der Gedanke der vollen Nachfolge und Nachahmung der Apostel, vor allem aber Jesu selbst („imitatio Christi"), und das Evangelium erscheint als die Anweisung, das eigene Leben möglichst nach dem armen Leben und dem bitteren Leiden Jesu zu gestalten. Auch zu den evangelischen Christen ist durch die Erbauungsliteratur etwas davon übergegangen,
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namentlich sind die „evangelischen Gemeinschaften", die wir oben gestreift haben, von diesem Gedanken schon seit dem 17. Jahrhundert mehr oder weniger stark bestimmt worden. An diesem Punkte berührt sich also („les extremes se touchent") der liberale Protestantismus mit dem Pietismus, sofern sie beide, wenn auch in verschiedener Weise, das „Evangelium" in einer Lebensanweisung erblicken. So außerordentlich mannigfaltig und zum Teil widerspruchsvoll ist in einem einzigen Kirchengebiet der Sprachgebrauch in bezug auf „Evangelium" und „evangelisch". Ihm gegenüber ist es von doppelter "Wichtigkeit, auf die älteste Zeit zurückzugehen und festzustellen, was im Neuen Testament „Evangelium" bedeutet. Hat der so verschiedene Sinn, den das Wort heute hat, vielleicht seine Wurzel schon im Neuen Testament? In der Tat — so ist es. Niemand kann in Abrede stellen, daß bereits dort das Wort „Evangelium" in sehr verschiedener Bedeutung gebraucht wird. Ich will hier keine gelehrte Untersuchung anstellen, zumal da ich bereits an einer anderen Stelle den Tatbestand im Neuen Testament geprüft habe. Soviel ist gewiß, daß man geradezu von einem doppelten Evangelium im Neuen Testamente sprechen muß. Hier ist „Evangelium" eine Freudenbotschaft, die den Armen und mit ihnen den Sanftmütigen, den Friedfertigen und denen, die reines Herzens sind, gepredigt wird; es ist die Botschaft, daß das Reich Gottes nahe sei und daß dieses Reich den Kummer der Elenden stillen, sie mit Gerechtigkeit erfüllen und ihnen die Gotteskindschaft samt allen Gütern bringen werde; mit sich bringt es eine neue, über der Welt und ihrer Politik erhabene Lebensordnung. Dort aber ist es die Predigt, daß der Gottessohn vom Himmel herabgestiegen, als Mensch erfunden worden ist, durch seinen Tod und Auferstehung den Gläubigen die Erlösung von Sünde, Tod und Teufel gebracht und somit den ewigen Heilsratschluß Gottes verwirklicht hat. Auch hier ist das Evangelium die Botschaft vom
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Reiche Gottes; aber sie erscheint in der Verkündigung von Jesus Christus vollkommen beschlossen; denn nur durch den G-lauben an ihn als den G-ekreuzigten und A u f erstandenen kann man die Reichsgüter gewinnen. Die Frage, wie das „zweite" Evangelium entstanden ist und wie es sich zu dem „ersten" verhält, ist bekanntlich eines der umstrittensten Probleme der kirchengeschichtlichen Forschung. Immer wieder und jüngst noch mit besonderer Energie von dem frühzeitig uns entrissenen Forscher Wrede ist behauptet worden, daß das zweite Evangelium gegenüber dem ersten etwas ganz Neues sei, daß es, sofern es das, was wir historisches Christentum nennen, enthalte, eine neue Religion darstelle, an welcher Jesus Christus selbst keinen oder nur einen entfernten Anteil habe, und daß der Apostel Paulus der Stifter dieser Religion sei. Einige von denen aber, oder vielmehr die meisten, die so urteilen, halten dieses zweite Evangelium nur gegenüber dem ersten für neu, an sich aber für etwas viel Älteres. Sie meinen, daß es schon vor Jesus, sei es in oder mit der damaligen messianischen Dogmatik des Judentums, vorhanden gewesen sei, und daß es auf irgendeine jüdische synkretistische Gruppe oder gar auf die weitverbreiteten heidnischen "Vorstellungen von einem sterbenden und auferstehenden Gott zurückgehe. Um gegenüber diesen Annahmen das Richtige zu finden, muß man allem zuvor feststellen, daß die Vorstellungen von der grundlegenden Bedeutung des Apostels Paulus für das „zweite Evangelium" bedeutend, ja wesentlich herabzustimmen sind. Den Satz, daß Christus „gestorben ist für unsere Sünden nach den Schriften", bezeichnet Paulus als ein überliefertes, also allgemein christliches Lehrstück ersten Ranges, und dasselbe sagt er von der Auferstehung Christi. Hiernach ist gewiß, daß auch die Urapostel und die jerusalemische Gemeinde diese Überzeugung und Lehre geteilt haben. Dies wird auch durch die ersten Kapitel der Apostel-
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geschichte bezeugt, deren Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht nicht anzufechten ist. Somit ist das Problem zeitlich von Paulus bis zu den ersten Jüngern Jesu zurückzuschieben. Schon sie haben den Sühnetod und die Auferstehung Christi verkündigt. Haben sie sie aber verkündigt, so haben sie sie natürlich auch als die Hauptstücke, also als „das Evangelium" im Evangelium anerkannt, und das zeigt sich in der Tat sofort im ältesten geschriebenen Evangelium, welches wir besitzen, nämlich in dem des Markus. Das ganze "Werk des Markus ist so disponiert und aufgebaut, daß Tod und Auferstehung als die Ziele der ganzen Darstellung erscheinen. Hat aber auch die paulinische Predigt gewiß den Markus beeinflußt, so hat doch auch das palästinensische Evangelium des Matthäus denselben Aufbau übernommen; er wird also den palästinensischen Christen nicht neu gewesen sein. Steht somit die älteste Verkündigung dem Paulinismus näher, als viele Kritiker zugeben, so steht auch umgekehrt Paulus dieser Verkündigung näher, als viele seiner Beurteiler meinen. „Das Evangelium Christi" ist bei Paulus nicht das Evangelium von Christus, sondern das Evangelium, welches Christus verkündigt hat. Paulus hat sich freilich an einigen Stellen seiner Briefe auch so ausgedrückt, daß Christus der Inhalt des Evangeliums sei; so bedeutsam und wichtig das ist, so ist es aber doch stets als eine verkürzte Redeweise zu beurteilen. Das Evangelium ist nach Paulus die Botschaft von dem durch die Propheten verkündeten, durch den Tod und die Auferstehung Christi verwirklichten Heilsratschluß Gottes. Hierzu muß man ferner beachten, welche bedeutende Rolle auch bei ihm die Idee „des Reiches Gottes" spielt, um nicht in der Darstellung der paulinischen Theologie „paulinischer" zu werden, als der Apostel selbst war. Die Idee der Reichsstiftung und Vollendung durch den Sohn ist auch für Paulus die oberste und umfassendste. Rücken somit die älteste Verkündigung vom Reiche und die paulinische Verkündigung vom Gekreuzigten und
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Auferstandenen, also das „erste" und das „zweite" Evangelium, geschichtlich näher zusammen, als es beim ersten Blick erschien, so fragt sich noch immer, wo die Wurzeln des „zweiten" Evangeliums zu suchen sind. Man darf, indem man nach einer Antwort auf diese Frage sucht, sofort voraussetzen, daß sie keine einfache sein kann. Ein Glaube, der sich so schnell und so siegreich durchgesetzt hat und an die Stelle der Verkündigung Jesu selbst getreten ist, muß mehrere und starke Wurzeln besitzen; er muß aus einem Wurzelgeflechte von besonderer Kraft hervorgegangen sein. Sehe ich recht, so sind es vier große Voraussetzungen, die hier zusammengewirkt haben. Sie liegen erstlich in der Verkündigung Jesu selbst, zweitens in den messianischen Anschauungen des damaligen Judentums, drittens in der Theologie des Paulus und viertens endlich in gewissen religiösen Vorstellungen bezw. weitverbreiteten Mythen des Heidentums. Dies alles mußte zusammenwirken und hat zusammengewirkt, um den an die Person Jesu Christi angeknüpften kirchlichen Erlösungsglauben zu erzeugen und als Hauptstück der christlichen Verkündigung erscheinen zu lassen. 1. Die Verkündigung Jesu kommt hier insofern in Betracht, als er nicht nur die Notwendigkeit und Wirklichkeit der Sündenvergebung gepredigt, sondern unzweifelhaft auch seine Person und sein Wirken mit ihr in Beziehung gesetzt hat. Nicht nur die Macht, Sünden zu vergeben, hat er in Anspruch genommen, sondern er hat bei der Feier des letzten Mahles auch seinen Tod mit der Befreiung der Seelen in Verbindung gebracht. Aber selbst wenn man das in Abrede stellt, so ist doch soviel gewiß, daß der Anschluß an seine Person, d. h. die Jüngerschaft, von ihm selbst gewollt worden ist. Wer sich aber ihm anschloß, der mußte ihn irgendwie als „den Weg" zum Vater und zu allen Gütern des Reichs empfinden und wissen („Kommet her zu mir!").
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2. Daß der Messias leiden und sterben werde, war gewiß keine allgemeine Erwartung des Judentums im Zeitalter Christi. Allein vollständig fehlte diese Erwartung nicht. Nachdem Johannes der Täufer enthauptet worden war, hielten ihn trotzdem manche für den Messias und glaubten, er sei vom Tode auferstanden. Sein Tod galt also keineswegs als ein sicheres Zeugnis gegen seine Messianität. Hieraus ersieht man, daß man sich gegebenenfalls mit der Frage eines leidenden Messias beschäftigt und sie nicht einfach negativ beantwortet hat. Aber auch die alttestamentliche Prophetie mußte auf den leidenden Messias führen, vor allem Jesaj. 53. Sträubte man sich auch in weiten Kreisen gegen diese Annahme, so war bei der herrschenden Exegese ein Ausweichen doch nicht leicht möglich. Sobald einmal der persönliche Messias in den Vordergrund gerückt war — und eben im Zeitalter Jesu scheinen sich die messianischen Erwartungen in dieser Form verstärkt zu haben —, konnte es nicht ausbleiben, daß sich wenigstens einzelne Lehrer zu der Annahme gedrängt sahen, in Stellen wie Jesaj. 53 sei vom Messias die Rede. Bezog man aber Jesaj. 53 auf den persönlichen Messias, so war damit nicht nur Leiden und Tod desselben zu erwarten, sondern auch die Heilsbedeutung dieses Todes erschien in klaren "Worten gelehrt. 3. Das Denken des Apostels Paulus war durchweg ein antithetisches, und sein Geist ruhte nicht, bis er Alles auf bewegende große Gegensätze hinausgeführt und auf eine paradoxe Formulierung gebracht hatte. Hatte er einerseits aus dem Alten Testament gelernt, daß „verflucht sei, wer am Kreuze hängt", andererseits aber den Glauben gewonnen, daß „Jesus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift", so konnte ihm doch das bloße „nach der Schrift" nicht genügen, vielmehr mußte das „Warum" sachlich klargestellt werden. Es mußte nachgewiesen werden, daß Jesus eben dadurch, daß er zum Fluche geworden war, das Heil ge-
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bracht habe. Das konnte aber nur dann erwiesen werden, wenn der Kreuzestod als das Notwendigste und damit als die Hauptsache im Leben des Christus erschien. Er war aber deshalb das Notwendigste, weil nichts notwendiger ist, als der göttlichen Gerechtigkeit und dem heiligen Gesetze Gottes genug zu tun, welches den Tod des Sünders verlangt. Diese Genugtuung hat sich im gehorsamen Tode Jesu vollzogen; die Schuldforderung des Gesetzes ist nun erfüllt; also ist sie nunmehr erloschen, weil der Christus den Tod nicht als ein einzelner Mensch, sondern als der zweite Adam und Sohn Gottes erduldet hat. Allein diese dialektischjuristische Betrachtung genügte dem Apostel nicht; denn weder kam in ihr die andere große Tatsache, die Auferstehung, zu ihrem Rechte, noch genügte sie seinem auf den wirklichen Zustand der Menschheit gerichteten Denken. Der Mensch wird erfahrungsgemäß durch das Sündenfleisch beherrscht, dessen Wirkung zum Tode führt. Also kann ihm nur geholfen werden, wenn dieses Sündenfleisch abgetan und an seine Stelle der Geist Gottes, der Geist des Lebens, eingepflanzt wird. Christus hat durch seinen Tod das Sündenfleisch überwunden und abgetan, und wie er durch seine Auferweckung sich als Geist offenbart hat, so beginnt er nun eine Wirksamkeit in der Menschheit, die das Sündenfleisch überwindet und den Geist als Machtprinzip an seine Stelle setzt. So ist der gestorbene und auferstandene himmlische Christus nicht nur das große Paradigma der Überwindung des Fleisches durch den Geist, sondern auch die bewegende Kraft in der Neuschöpfung der Menschheit, die durch ihn zu einer „neuen Kreatur" wird. 4. Es ist schlechterdings unwahrscheinlich, daß Paulus zu der zentralen Vorstellung vom gestorbenen und auferstandenen Gottessohn durch den Einfluß vorderasiatischer Mythen gekommen ist; die Prämissen seines Denkens und die geschichtlichen Prämissen, die in dem Kreuzestode und dem Glauben an die Auferstehung Jesus lagen, mußten von
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sich aus dazu führen; auch handelt es sich bei ihm primär um die Schuld und ihre Austilgung, erst sekundär um das Leben. Allein es ist wohl möglich, daß sowohl auf die kosmologische Ausführung der Idee als auch auf die Entschlossenheit und Kraft, mit der der Apostel sie vortrug, der jenen Mythen zugrunde liegende Gedanke einen Einfluß gewonnen hat, ohne daß er es wußte. Wohin Paulus kam, von Syrien bis Korinth, mußte ihm der Mythus vom sterbenden und auferstandenen Gott in verschiedenen Gestalten entgegentreten. Dieser Mythus, der ursprünglich der Ausdruck für die allgemeinsten und wichtigsten Naturvorgänge war, hatte längst eine Geschichte erlebt, in der er zum Exponenten für Unsterblichkeitshoffnungen und sittliche Läuterungen geworden war, ohne seinen ursprünglichen Sinn vollkommen zu verlieren. Aber wie dem auch sein mag, und ob der Apostel Paulus etwas und wieviel jenem Mythus verdankt, darüber kann kein Zweifel bestehen, daß die Predigt vom gekreuzigten (gestorbenen) und auferstandenen Gott die Herzen von Tausenden wunderbar und befreiend berühren mußte, die diesen Glauben bisher aus unsicheren und dunklen Quellen empfangen hatten und ihn nun aus einer Geschichte schöpften, die sich gestern ereignet hatte und deren Zeugen sie vor sich sahen. Die Botschaft vom Tode und der Auferstehung des menschgewordenen Gottes Jesus Christus ist das Evangelium der großen Kirche geworden und neben die Verkündigung Jesu vom Reiche, seinen Gütern und seinen sittlichen Forderungen getreten. Scheinbar hat sogar — zumal wenn man die „Dogmatik" der Kirchen ins Auge faßt — das „zweite" Evangelium das „erste" fast verdrängt. Allein nicht einmal für die Dogmatik ist das richtig. Nicht nur in den Herzen aller, die es mit der christlichen Religion ernst nehmen, lebt das „erste" Evangelium, sondern auch in der Dogmatik der Kirchen fehlt es nicht, ja es ist ein entscheidender Richtpunkt in ihnen. Durch die ganze Kirchen- und Dog-
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mengescliichte gehen also die Ströme beider Evangelien; man kann sie unterscheiden, aber sie sind nicht getrennt, und die Lebenskraft des Christentums scheint darauf zu beruhen, daß keiner dieser beiden Ströme versiegt, die schließlich doch auch eine gemeinsame Quelle haben. Wie steht nun die Gegenwart zu diesen beiden Evangelien? Bei oberflächlicher Beurteilung könnte man meinen, sie komme dem einen, welches frei von "Wundern und Mythologien sei, entgegen, lehne aber um so entschiedener das andere ab, weil es die Vorstellung eines menschgewordenen G-ottes, seines Todes und seiner Auferstehung, enthalte. Allein dieses Urteil vermag nicht zu bestehen. Um "Wunder oder Wunderlosigkeit handelt es sich heute in erster Linie nicht mehr, sondern um die Fragen, ob die Menschenseele einen ewigen "Wert hat, der sie von allem Übrigen unterscheidet, ob das sittlich Ohrte ein konventionelles Produkt ist oder das Lebensprinzip des Q-eistes, und ob es einen lebendigen G-ott und Erlösung gibt oder nicht. "Wer diese Fragen verneint — und in weiten Kreisen werden sie gegenwärtig sowohl tatsächlich als auch im Namen der "Wissenschaft verneint —, der muß das Evangelium Jesu vom Reiche G-ottes und alle Gedanken und Anweisungen der Bergpredigt ablehnen. Er muß eine ganz neue Ethik, wenn von einer Ethik überhaupt noch gesprochen werden kann, an ihre Stelle setzen. Das geschieht auch wirklich, und so steht das „erste" Evangelium, das Evangelium Jesu heute in einem heißen Kampfe, weil seine letzten Voraussetzungen und mit ihnen alles Übrige angegriffen wird. Umgekehrt kann man sagen, daß für das „zweite" Evangelium heute günstigere Zeiten sind als in mancher früheren Periode. Nicht nur die „modern positive" Theologie verteidigt dasselbe in seiner überlieferten Gestalt, sondern auch die neueste Phase in der Entwickelung der Philosphie kommt ihm entgegen. Philosophen aus der Schule Hegels und Hartmanns versichern uns, daß die tiefste philoso-
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phische und religiöse Erkenntnis zugleich in dem „zweiten" Evangelium enthalten sei. Aber hier gilt in Wahrheit der Satz: „Timeo Danaos et dona ferentes." Der christlichen Theologie kann wenig oder nichts an der Zustimmung dieser Philosophen gelegen sein, wenn sie dabei die Person Jesu eliminieren und aus seiner Erscheinung, seinem Leiden und Sterben, ein begriffliches Gedicht machen. Die Unterstützung, welche sie dem christlichen Glauben bieten, ist demnach von sehr geringem Werte. Das „zweite" Evangelium ist in der G-estalt der ZweiNaturen-Lehre nicht zu halten; denn es widerspricht der geschichtlichen, ja jeder möglichen Erkenntnis. Jede Aussage über Jesus Christus, die sich nicht in dem Rahmen hält, daß er ein Mensch war, ist unannehmbar, weil sie mit dem geschichtlichen Lebensbilde Jesu streitet. Aber durch dieses Zugeständnis ist das „zweite" Evangelium keineswegs widerlegt. Wenn es auch gewiß ist, daß kein Gott erschienen und kein Gott gestorben und auferstanden ist, so ist es doch ebenso gewiß, daß wir durch unsere Sinne und unsere Naturerkenntnis von Gott überhaupt nichts wissen, daß also das persönliche höhere Leben und die Ethik das einzige Gebiet sind, auf welchem wir Gott zu begegnen vermögen. Gott ist die Heiligkeit und Gott ist die Liebe. Wenn dem so ist, so ist Gott nur an persönlichem Leben, also an Menschen, offenbar, wirkt durch Menschen, erlöst durch Menschen und vollendet durch Menschen. Und für die Menschen in diesem Sinne gibt es keinen Gattungsbegriff; denn als Einzelne und Besondere kommen sie hier allein in Betracht. In welchem Maße Gott aber den einzelnen erfüllt und zu seinem Organ für andere macht, das kann man lediglich aus den Tatsachen selbst, d. h. aus der Geschichte lernen; keine Philosophie vermag hier Aufschluß zu geben oder Grenzen zu ziehen. Das „zweite" Evangelium verkündet, daß Gott Jesus von Nazareth zu dem Herrn und Christ für die Menschheit gemacht hat, daß sein Werk
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G-otteswerk gewesen ist, und die Geschichte hat ihr Siegel darunter gesetzt. Dieses Siegel ist nicht das Kirchensiegel — denn die große Verbreitung und tatsächliche Herrschaft des Christentums kann an sich nichts beweisen —, sondern es besteht darin, daß seit bald neunzehn Jahrhunderten und bis auf den heutigen Tag der Glaube an Jesus Christus Q-otteskinder schafft, die sich erlöst wissen, die sich über die Welt erheben, ohne sie zu verachten, die von brennender Liebe und von Tatkraft gegen ihre Brüder erfüllt sind und die ihres Weges fröhlich gehen, weil sie Q-ott gefunden haben und daher mitten in der Zeit bereits von dem ewigen Leben erfüllt sind. Das doppelte Evangelium, wie es im Neuen Testamente beschlossen liegt, ist der Gegenwart so nötig, wie es zu allen Zeiten der Vergangenheit nötig war. Das „erste" Evangelium enthält die W a h r h e i t , das „zweite" Evangelium enthält den Weg und beide zusammen bringen das Leben. Dabei ist es keineswegs nötig, daß jeder sich Jesu Christi als des Wegs klar bewußt ist, auf dem er zur Wahrheit gekommen. Christus ist auch dadurch Christus, daß ein Bruder dem anderen ein Christus wird. Immer ist es persönliches Leben in Gott, welches sich anderen zur Erfahrung bringt und dadurch allein neues Leben zu erzeugen vermag; denn nicht nur von dem Propheten gilt, daß einer den anderen salben muß. Hinter ihnen allen aber steht Jesus Christus. Zu ihm gehört, wer Gott gefunden hat, und wer ihn gefunden hat, der wird, je mehr er fortschreitet, auch um so gewisser in der Erkenntnis fortschreiten, daß Jesus der Christus ist.
Der gegenwärtige Christus*). (1928)
Die innere Kirchengeschichte verdankt ihr Leben hauptsächlich der Erfahrung, daß Christus durch seinen Geist in ihr fortwirkt: Die Christenheit hat nach dem Pfingsttage durch ihre ältesten Zeugen, sodann durch den Apostel Paulus, d i e g e i s t i g e G e g e n w a r t C h r i s t i in ihrer Mitte als Kraft ihres Seins und Lebens aufs mannigfaltigste und sicherste für die ganze Bruderschaft und für jeden Einzelnen bezeugt. Das Eigentümlichste dieser Erfahrung setzte sich in einer Reihe von Erlebnissen und ihnen entsprechenden Erkenntnissen auseinander, zu denen sich nach Fülle und Art in anderen Religionen nur dürftigere Analogien finden. Ohne Schwanken wurde in dem Wirken eines als neue, gewaltige Kraft empfundenen Geistes das Wirken G o t t e s *) In der Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom 22. 12. 1927 legte Adolf v. Harnack eine Abhandlung vor, die überschrieben ist: Christus praesens — Vicarius Christi. Wir geben das erste der acht Kapitel hier wieder, die betitelt sind, wie folgt: 1. Die Gegenwart Christi als eine geistige, 2. Der Christus der Vergangenheit als gegenwärtiger, 3. Die sakramentale Gegenwart Christi, 4. Die Gegenwart Christi als eine übersinnlich oder sinnlich wahrnehmbare, 5. Die Gegenwart Christi als Re-Inkarnation, 6. Ersatz durch einen Fortsetzer (Nachfolger), der sein Wirken ergänzt, bzw. noch Größeres bringt, 7. Ersatz (Vertretung) durch Vikare (den Episkopat), 8. Ersatz durch e i n e n Vikar: Kaiser oder Papst. Die Anmerkungen sind weggelassen, nur zwei Fundstellen sind eingefügt. (Anm. des Herausgebers der „Christlichen Welt".)
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selbst und das Wirken C h r i s t i als streng zusammenfallend empfunden — das war die paradoxeste Erfahrung, die aber für den Gläubigen jeder Paradoxie entbehrte: Heiliger Geist, Geist Gottes, Geist Christi sind identisch. Die „theologia Christi" hat hier ihre älteste und tiefste Wurzel. Der i m H e i l i g e n G e i s t e gegenwärtige Christus wurde als das neue, das Dasein bestimmende Lebensprinzip empfunden. Zur stärksten Aussage hat das Paulus gebracht; aber in dem höchsten Ausdruck, den er für sie gefunden hat, hat er keinen Zweifel darüber gelassen, daß diese Gegenwart Christi eine noch nicht vollendete Glaubenstatsache ist: „Nicht mehr ich lebe, sondern es lebt in mir Christus; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich in dem Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat" (Gal. 2, 20). Die Wirkungen des im Heiligen Geiste wirksamen Christus wurden in einer Skala von inneren und äußeren Tatsachen und ihren Deutungen angeschaut, die alle denkbaren Stufen einschließt; übergeordnet aber blieben die Wirkungen, in denen die S c h ö p f u n g d e s n e u e n M e n s c h e n und sein neues Leben zum Ausdruck kommt. Die Kraft des im Heiligen Geiste gegenwärtigen Christus, welche den neuen Menschen schafft, wurde (die alttestamentliche Uberlieferung hat hier mitgewirkt) auch als das „ W o r t Gottes" oder Christi bezeichnet; dieses „Wort Gottes" wurde daher den Gleichungen „Christus = Gott = Heiliger Geist" als identisch beigesellt. Eben diese Kraft, d. h. der Heilige Geist ( = Christus), wurde aber auch als der Geist der berufenen heiligen Gemeinschaft („Heilige K i r c h e " ) empfunden, aus welcher und für welche der einzelne Geist geboren wird. Somit trat zu den Gleichungen „Christus = Gott = Heiliger Geist — Wort Gottes" die K i r c h e als identisch hinzu. In dem Bekenntnisse, daß die Kirche der Leib, bzw. die Braut Christi sei, in dem anderen: Credo in spiritum sanctum, sanctam
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8. Der gegenwärtige Christus. (1927)
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ecclesiam, und in dem dritten: Ecclesia ipsa est spiritus kam dies zum Ausdruck. Die Immanenz des durch den Heiligen Geist in der K i r c h e gegenwärtigen Christus erhielt ihre stärkste und deutlichste Folge in der Glaubensüberzeugung der ältesten Christenheit, daß sie, wo sie als ganze oder auch nur als eine Gruppe in Gebet, Selbstzucht, Anweisung oder Ermahnung ihres Amtes walte, aus dem Heiligen Geist handle, also n i c h t i r r e n k ö n n e . (Apgesch. 15, 28. 1. Klem. 63.) Die Immanenz des gegenwärtigen Christus in jedem e i n z e l n e n Christen erhielt ihren stärksten und deutlichsten Ausdruck 1. in der Glaubensanschauung, daß Christus der Bräutigam der Seele sei, 2. in der Erfahrung, daß jeder christliche Bruder dem andern ein Christus sein könne und solle, eine Gewißheit, die in keinem Jahrhundert der Christenheit gefehlt hat. Der Glaube erkennt in dem hilfreichen Bruder den gegenwärtigen Christus; aber er erkennt auch in dem hilfsbedürftigen Bruder den Herrn Christus. In dem hier Zusammengestellten liegen die wichtigsten Erfahrungen in bezug auf den „Christus praesens" beschlossen, und man darf sagen, daß sie durch nichts übertroffen werden können, ja auch keiner Ergänzung bedürfen; denn indem das „Wort Gottes", die „Kirche" und die „Seele des einzelnen Gläubigen" in sie hineingezogen sind, sind sie vollständig.
II. Der Protestantismus
MARTIN
LUTHER
IN SEINER BEDEUTUNG F Ü R DIE GESCHICHTE DER WISSENSCHAFT UND DER
BILDUNG
Einmütig haben wir uns in diesen hohen Räumen versammelt, den vierhundertjährigen Geburtstag des deutschen Reformators, Dr. M a r t i n L u t h e r s , festlich zu begehen. I n der Geschichte unseres Geschlechtes haben die Ereignisse — gemeinsames Aufstreben und gemeinsamer Niedergang — weit häufiger Epoche gemacht als die Personen; aber daß mit Luthers "Wirken eine neue Stufe der Entwicklung begonnen hat, ist zweifellos. Wenig zahlreich sind die Geister, welche den Hohen und den Niederen, den Gebildeten und den Ungebildeten zugleich neuen Sinn und neues Leben erweckt haben; aber noch heute zehren wir Deutsche, so verschieden wir sind, allzumal von den Gütern, die uns Luther gebracht hat. Unsere Alma mater aber schaut in einem zweifachen Sinne, als deutsche und als hessische Universität, dankbar auf zu dem Manne, dessen Name heute auf aller Lippen ist. Als deutsche Universität: denn das herrliche Erbe einer reichen und edlen Bildung, welches zu schützen wir mitberufen sind, trägt unverwischbar den Stempel seines Geistes. Als hessische Universität: denn diese, von einem hochherzigen Fürsten gegründet, ist die erste protestantische Hochschule Deutschlands gewesen, die erste Hochschule, die gestiftet ist ohne päpstliche Privilegien in dem freien Geiste Luthers. Und wenn heute die Schranken längst gefallen sind, welche die deutschen Universitäten nach der Reformation getrennt hielten, wenn derselbe Geist mutiger Forschung auf allen eine Stätte gefunden hat, so ist das auch eine Folge der "Wirksamkeit des Mannes, der unsere
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Nation befreit hat, indem er ihre Entwicklung in neue Bahnen lenkte. Unsere Nation — denn f ü r die gesamte Nation nehmen wir ihn in Anspruch und die gesamte Nation f ü r ihn. I n jenen herrlichen Tagen, da er die Geister erweckte und „es eine Lust war zu leben", da war das ganze deutsche Volk, Adel, Bürger und Bauer, von ihm gewonnen. Aber auch heute noch ist Luthers Bedeutung nicht zu ermessen an dem Bestände und Umfang der Kirchen, die sich mit seinem Namen schmücken; nein — überall tritt sie uns entgegen, wo wir die Eigenart und Größe der idealen Güter schätzen wollen, die wir als Christen und als Deutsche besitzen. "Wir reden mit seinen "Worten, wir urteilen nach seinen Maßstäben und wir finden die Macht seines Geistes in unseren Vorzügen und in unseren Fehlern wieder. Aber weiter: fast jede Partei unter uns hat ihren Luther und meint den wahren zu haben. Die Verehrung f ü r Luther vereinigt mehr als die Hälfte unserer Nation, und die Auffassung Luthers trennt sie. Von Luthers Namen läßt so leicht kein Deutscher. Ein unvergleichlicher Mann ist er allen, ob man ihm nun aufpaßt, um ihn anzugreifen, oder ob man ihn rühmt und hoch preist. Trotzdem — wer kennt ihn selbst und wen verlangt es, ihn wirklich zu kennen? Man will ihn verehren, wie man ihn sich wünscht, als den Träger der eigenen Ideale; aber im geheimen argwöhnt man, daß er doch ganz anders gewesen sei. Sein Charakter imponiert allen, seine Uberzeugungen läßt man dahingestellt sein oder verarbeitet sie zu kursfähiger Münze. Ist er so groß, daß er uns unbequem ist? oder sind wir innerlich doch so weit von ihm entfernt, daß ein Bedürfnis nach näherer Bekanntschaft nicht mehr aufkommt? Ist er zu schneidig f ü r unsere Milde, zu bewegt f ü r unsern Gleichmut, zu überzeugt f ü r unsere Zurückhaltung, zu altertümlich f ü r uns Moderne? "Wie war er wirklich, der wundersame Mann, der gewaltig wie ein Heros
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und einfältig wie ein Kind gewesen ist? ohne Klugheit ein Weiser, ohne Politik ein Staatsmann, ohne Kunst ein Künstler, inmitten der Welt ein weltfreier Mann, in kräftiger Sinnlichkeit und doch rein, rechthaberisch ungerecht und doch stets von der Sache getragen, der Autoritäten spottend und an die Autorität gebunden, die Vernunft verlästernd und befreiend! Nur ein Meister vermag hier Antwort zu geben und gleichsam die ganze Summe der Existenz Luthers zu ziehen. Ihr Redner muß sich die Aufgabe beschränken. Welche Bedeutung Luther in der Geschichte unserer Bildung und Wissenschaft gehabt hat, und welcher Wert den reformatorischen Ideen hier zukommt, das möchte er Ihnen, so gut er es vermag, in Kürze vortragen. Aber gerade diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierigkeit. Luther hat nichts entdeckt, was der Entdeckung des Kreislaufs des Blutes oder des Gravitationsgesetzes oder eines neuen Weltsystems ähnlich wäre. Auch seine historische und philosophische Gelehrsamkeit erhob sich nicht über das Durchschnittliche. Ferner: wir besitzen kein literarisches Werk von ihm, von dem man sagen könnte: das ist's — das ist der ganze Luther. Die göttliche Komödie ist uns Dante, der Faust ist uns in gewissem Sinne der ganze Goethe: nichts dergleichen besitzen wir von Luther. Das Werk, welches noch am meisten die ganze Tiefe und den Reichtum seines Geistes abstrahlt, ist eine Übersetzung: die Ubersetzung der Bibel. Dennoch wäre es möglich, eine ansehnliche Summe von einzelnen wichtigen Erkenntnissen Luthers auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft zusammenzustellen, und verbrämt mit einer Reihe von Zitaten, in welchen Luther der freien Forschung das Wort redet und einen gründlichen Unterricht verlangt, ließe sich vielleicht ein eindrucksvolles Bild erzielen. Aber ich müßte fürchten, daß der Reformator selbst es nicht als das seinige aner-
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kennen würde. Ein solcher Luther wäre ihm, um mit ihm selber zu reden, nur ein „gemalter". Nein — von welcher Seite man auch immer seine gewaltige Persönlichkeit in ihren Wirkungen ins Auge fassen will, man wird ihr niemals gerecht werden, wenn man nicht von Luther, dem kirchlichen Reformator, ausgeht. Denn er war im vollsten Sinne eine monarchische Natur. Was er getan und geleistet hat, das ist bei ihm aus dem religiösen Leben herausgeboren. Das war das Geheimnis und die Stärke seines Lebens, daß er nahezu niemals aus dem Kreise herausgetreten ist, der ihm als kirchlichem Reformator vorgezeichnet war. Freunde und Gregner haben ihn zum Nationalhelden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer neuen Kirche machen wollen. Er ist das alles nicht gewesen, und er hat allen diesen Versuchen Widerstand geleistet. Mit dem Instinkte des Genius fühlte er die Beschränkung, die ihm jede dieser Tätigkeiten in ihrer Besonderung aufgenötigt hätte. Er hatte Größeres zu tun. Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschlichen Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit der Gewissen — sie war das einzig Treibende in seinem Leben. Alles übrige, was er geleistet hat, es ist ihm zugefallen. Es war nicht direkt beabsichtigt; eben darum verkündete er es, wenn er darauf geführt wurde, mit derselben Kraft, mit der er das Evangelium predigte. So blieb er der bahnbrechende Reformator, weil er sich seiner Grenzen, der Fortifikationslinie seines Daseins und seines Berufs, bewußt geblieben ist. Damit ist's schon gesagt, in welchem Sinne wir Luthers Bedeutung für die Wissenschaft zu würdigen haben. Sie kann in der Hauptsache nur eine indirekte gewesen sein. Aber dieses Indirekte ist nicht das Geringere, sondern das Größere. Denn nicht der ist der Größere, der einzelnes Neue — sei es auch das Gewaltigste — entdeckt, sondern der ist es, welcher die Gesinnungen der Menschen zur Er-
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kenntnis der Wahrheit reinigt und die Hemmnisse wegräumt, welche die Vergangenheit von Jahrhunderten als elementare Last auf die Bahnen der Zukunft lagert. Werfen wir einen Blick auf die geistigen Zustände beim Ausgang des 15. Jahrhunderts. Vielleicht hat das Abendland niemals stärker unter der Last der Vergangenheit getragen als in der Epoche, welche dem Auftreten Luthers unmittelbar vorherging. Die Kirche war noch immer die alles beherrschende G-rundlage der allgemeinen Ordnung. I n ihrem großen Gefüge allein waren die idealen Güter, die Gesetze, Erkenntnisse und Gewohnheiten der Menschen festgestellt. Die größte und humanste Idee, welche das Mittelalter hervorgebracht, die Idee des Papsttums, beherrschte noch immer die Gemüter. Sie war durch eigene Schuld der Päpste kompromittiert und tief erschüttert worden; aber sie war eigentlich nirgendwo entwurzelt. An der Geschichtsbetrachtung der Zeit läßt sich das am besten studieren. Noch immer galt die Erde als das Jammertal, dessen Regierung dem Papste und dem Kaiser anvertraut sei, bis die Stunde des Gerichtes schlüge. Die literarischen Widersacher der Päpste im 14. Jahrhundert hatten versucht, den Bann dieser Auffassung zu sprengen. Aber was sie ihr entgegenzusetzen wußten, war teils von ihr selbst erborgt, teils vage und wirkungslos. I m 15. Jahrhundert, nachdem das Papsttum siegreich aus dem Kampfe mit den konziliaren Ideen hervorgegangen, beherrscht die päpstliche Legende, wie sie durch den siebenten Gregor begründet, durch den dritten Innocenz ausgebaut worden ist, wiederum die Publizistik. Wohl fühlte man ihren Druck; die Politik der Fürsten hatte sich auch lange schon ihrem Banne entwunden; aber die Erkenntnis fand keinen Ausweg. Sie begann, um die Geschichte zu verstehen, regelmäßig bei dem Sündenfall; sie war den kirchlichen Fabeln gegenüber fast völlig wehrlos und sie endete konsequent mit dem Rechte des Papstes über die Welt — andernfalls
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mit leeren Ausflüchten und luftigen Sophismen. Helle Köpfe deckten zwar dies und jenes Einzelne auf; aber das änderte nichts an dem Ganzen. Und nun das dogmatische System. Seit mehr als tausend Jahren hatte sich an demselben wenig geändert. Wie die Väter der alten Kirche, vor allem Augustin, das große G-efüge konzipiert und gezimmert hatten, so war es geblieben: das neue Testament mit dem Testament der Antike seltsam und, wie es schien, untrennbar verbunden. Wohl hatte auf diesem Grunde eine stete Bewegung im Mittelalter stattgefunden. Die von den Päpsten geleitete Entwicklung der Kirche hatte sich den Bedürfnissen und Stimmungen der Menschen jahrhundertelang anzuschmiegen verstanden. Aber seit anderthalb Jahrhunderten schien das System seine Elastizität erschöpft zu haben: es konnte sich weder erweiten noch entlasten. I n dem Momente begannen auch der Zweifel und das Mißtrauen zu erstarken. Von sehr verschiedenen Seiten kamen die Einwürfe. Aber, genau betrachtet, bezogen sie sich immer nur auf Einzelnes, und wo sie an den Fundamenten rüttelten, da stellten sie sofort nicht nur die Kirche, sondern die Gesellschaft, das ganze sozial-politische System, in Frage. Wirkliche Revolutionen stiegen dräuend auf aus den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Aber das Programm derselben war in den positiven Zielen so unklar und undurchführbar, wie in den negativen radikal. Schwärmerische Frömmigkeit hatte es diktiert. Sie wollte auf den Trümmern der alten Ordnungen ein Paradies, ein Traumreich, gründen und rechnete auf himmlische Hilfe. Eine neu gestimmte Religiosität kündigte sich in wilden Bewegungen und in den stillen Kreisen unter den Laien an. Sie fühlte sich von der alten Kirche abgestoßen und doch wiederum angezogen. Glaubenssehnsüchtiger als die Generation, welche seit der Rekonstruktion des Papsttums im 15. Jahrhundert in Deutschland aufwuchs, ist kaum je eine andere gewesen. Die ruhelose Frömmig-
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keit, das unbefriedigte Suchen, die neuen Formen — Heilige, Wunder, Bruderschaften und genossenschaftliche Kulte, kühne Kritik und rasches Erschlaffen — sie erinnern lebhaft an jene große Epoche des Altertums, als die Völker an den Küsten des Mittelmeeres unter der Regierung der Antonine und ihrer Nachfolger sich anschickten, die alten Götter mit dem Gott der Erlösung zu vertauschen. Hier wie dort höchste Steigerung und Umformung des Überlieferten, aber noch kein Durchbruch und kein Umschlag. Die Wissenschaft. Sie stand augenscheinlich unter dem Prinzipate der Theologie, die Theologie aber auf der Autorität der Kirche. Die Menschheit war seit einem Jahrtausend in der Erkenntnis nicht vorwärts gekommen. Sie hatte sich geübt zu distinguieren und zu deduzieren. Sie lebte in künstlerischen Idealen und Illusionen. Aber kaum irgendwo hatte sie sich weiter bewegt. Was sie in den letzten Jahrhunderten gelernt hatte, das hatte sie alles eingebaut und eingesponnen in eine kunstvolle Mythologie von Begriffen. Keine Betrachtung ist kurzsichtiger und unrichtiger als die, für diesen Zustand priesterliche Herrschsucht oder die besondere Borniertheit der Theologen verantwortlich zu machen. Man muß sich nur erinnern, welche Aufgabe die untergehende Antike der Wissenschaft gesetzt hatte. Die Theologie sollte der Abschluß und die Krone des gesamten Welterkennens sein; die Philosophie aber sollte einerseits die Einleitung zur Theologie bilden, andererseits ihr die Beweise liefern. Beide sollten über diese Welt des Sinnlichen hinausstreben, hinter ihrem Schein das wahre Sein aufsuchen. Erkenntnis und Andacht zugleich sollten diesem wahren Sein gelten, dem die Objekte der religiösen Dogmen einzugliedern seien. Daneben gab es nur eine formale Schulung. So war es im Ausgang des Altertums von den Neuplatonikern verstanden worden, und diese Erbschaft hat die mittelalterliche Wissenschaft angetreten. Die Theologie entbehrte auf diese Weise eines ihr eigentümlichen
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Gebietes. Sie sollte Fundament und Spitze des G-anzen sein. Aber diese Erhebung war faktisch eine schwere Beeinträchtigung, nicht nur f ü r die "Weltwissenschaft, sondern nicht weniger für die Theologie. Jener Prinzipat beschwerte sie mit einem immensen Stoff, verwickelte sie in alle denkbaren Fragen und täuschte sie über ihre wirklichen Aufgaben. Und in Wahrheit war der Prinzipat der Theologie doch nur scheinbar. Sie selbst wurde, wie alles andere im Mittelalter, regiert durch die weltbeherrschende Kirche und die weltflüchtige Metaphysik. Jede Welterkenntnis, die sich hier nicht einfügen ließ, brachte Theologie und Philosophie zugleich zu Fall. Jeder Versuch mußte Verdacht erregen, in welchem man es wagte, die Welt als etwas Selbständiges zu nehmen. Man hatte kein gutes G-ewissen mehr, sobald man das sinnlich Erkennbare der theologischen Beleuchtung entrückte. Ohne diese war ja die Welt des Teufels, waren alle ihre Stimmen Sirenenstimmen, war ihre Schönheit ein Fallstrick, war die Wissenschaft von ihr Schwarzkunst und Magie. Selbst noch ein P e t r a r c a hat sich schwere Vorwürfe gemacht und sich schleunigst in die Confessiones des hl. Augustinus vertieft, als er einmal entzückt der herrlichen Natur der Riviera ins Angesicht gesehen. Die Weltilüchtigkeit als die Grundstimmung des mittelalterlichen Menschen hemmte alle Wissenschaft. Wo keine Naturfreudigkeit ist, da ist auch keine Naturerkenntnis. So war ein Fortschritt nach keiner Seite möglich. Aber die Kritik des Verstandes wurde doch immer mächtiger. Im Unvermögen, die herrschenden Vorstellungen zu sprengen, geriet man auf die Theorie von der doppelten Wahrheit Sie ist das Schlußwort des Mittelalters. Man behauptete, eine andere Wahrheit gelbe für die Theologie, eine andere f ü r die Philosophie. Es war der Protest eines formal geschulten Denkens wider die Irrationalitäten des kirchlichen Dogmas. Aber man tastete dasselbe doch nicht an; man stellte es um so entschlossener unter den Schutz
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der heiligen Autorität der Kirche. In dieser unerträglichen Lösung des 14. Jahrhunderts zeigt sich der Bann der Uberlieferung am stärksten. Die Kritik arbeitete mit hundert Mächten im Bunde; in den Augen Unzähliger war die ganze Scholastik bereits diskreditiert: überall Empfindung der Enge und des Drucks. Indessen schien das große Gebilde der Vergangenheit für ewige Dauer bestimmt zu sein und allem Widerspruch zu trotzen. Aber schien es wirklich so? Haben wir nicht übersehen, daß bereits seit mehr als einem Jahrhundert, vornehmlich in Italien, sich eine neue Bildung, die Bildung der Renaissance, entfaltet hatte? Noch jüngst hat ein geistvoller Schriftsteller geurteilt: „Die italienische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Kultur verdankt." Gewiß — man wird zugestehen müssen, daß ohne die Renaissance das Mittelalter schwerlich gesprengt worden wäre. Unser moderner Staat, die Entwicklung von freien und eigenartigen Individuen, die Entzifferung der Vergangenheit, die Entdeckung der Welt und des Menschen, die Ausgleichung der Stände, die Ausbildung einer höheren Form der Geselligkeit, die äußere und innere Verfeinerung des Lebens, vor allem aber die Fähigkeit, das Konkrete überhaupt wieder sehen und in künstlerischer Form zur Darstellung bringen zu können, das alles verdanken wir hauptsächlich der Renaissance. Aber war das alles und war dies alles sichergestellt? Schon die Geschichte der Renaissance vermag uns eines Besseren zu belehren. Bereits vor der brutalen Hispanisierung Italiens und vor der Epoche der Kontrareformation war die Renaissance im Niedergang. Woher dieser Niedergang? Nun — die Wiedererweckung der Antike, der Rückgang auf das Altertum ist der Kernpunkt im geistigen Leben der Renaissance. Hier lag ihre Schönheit und Stärke, hier lag aber auch ihre Schwäche und Schranke. Die Antike führte die Humanisten aus der Welt des Mittelalters heraus; aber
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festen Halt und neue Ordnungen vermochte sie ihnen nicht zu geben. Sie befreite das Leben und Denken von der kirchlichen Bevormundung; aber Freiheit von der philosophischen und theologischen hat sie nur in einigen Geistern erzeugt, die weder die achtungswertesten noch die einflußreichsten waren. Die geistige Luft, in der die Humanisten atmeten, der Boden, auf den sie den neuen Betrieb der Wissenschaft stellten, war der Piatonismus mit seiner Mystik, seiner Naturspekulation und Theologie. Die neue Bildung hat im einzelnen tausend Bande gesprengt und dauernde Grundlagen gelegt; aber als Weltanschauung hat sie ihren Jüngern keine andere Wahl gelassen als die zwischen Frivolität und Mystik. Die Philosophie, f ü r welche man sich in den Gärten der Mediceer begeisterte, war die platonische. Die Formeln der alten Wissenschaft waren in ihrer Hohlheit erkannt: das entzückte Auge sah gleichsam zum ersten Male die Welt und blickte den Dingen freudig und kühn entgegen. Aber sobald man die Summe zog, blieben die Erkenntnisse von demselben lichten Nebel umflossen, in welchem das lebensmüde Altertum dieselben geschaut hatte. Die Renaissance hat weder den Weg zu einer neuen kräftigen Sittlichkeit gefunden, noch die Grenzlinien entdeckt, welche Glauben und Wissen, Geist und Natur, Schönheit und Wahrheit scheiden. Ihr Lebensideal war ein künstlerisches; eben darum blieb sie unsicher, wo sie sich über das Einzelne zu erheben strebte. Aber eben darum ist die Kirche des Mittelalters imstande gewesen, sie zu ertragen. Diese Kirche überwindet jede Bedrohung, die aus der Indifferenz oder Frivolität, aus dem Ästhetischen oder Mystischen entspringt. So streng abstoßend sich die alte Bildung der Kirche und die neue der Renaissance entgegenstanden — ein geheimer Zug der Wahlverwandtschaft war in einer Hinsicht doch vorhanden, eine Wahlverwandtschaft auf wirklicher Verwandtschaft beruhend; denn das
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Gebäude der Kirche war selbst mit den Mitteln der Antike gebaut worden, und die geheimsten und zartesten Regungen dort verleugneten ihren Ursprung nicht. Die Renaissance und der Humanismus sind des Mittelalters nicht mächtig geworden, weil sie es lediglich mit dem Altertum bekämpften. Mochte auch eine ferne Zukunft den Überwundenen gehören: zunächst blieb die Kirche mit den kümmerlichen und verzerrten Resten des Altertums Siegerin. J a sie wurde der Zufluchtsort für viele, als die neue Zeit ein unerbittliches Dilemma aufnötigte und die Barbarei neben die Freiheit zu stellen schien. Da wurde in der Zelle eines deutschen Klosters ein Seelenkampf siegreich ausgekämpft, dessen Folgen unermeßliche werden sollten. Innere Unruhe, die Sorge um sein Heil, trieben M a r t i n L u t h e r in das Kloster. Fromm werden und genug tun wollte er, damit er einen gnädigen Gott kriege. „Ist je ein Mönch gen Himmel kommen durch Möncherei", durfte er später sagen, „so wollte ich auch hineingekommen sein." Aber indem er alle die Mittel benutzte, welche die mittelalterliche Kirche ihm bot, wuchsen seine Anfechtungen und Qualen. E r hatte das Bewußtsein mit allen Mächten der Finsternis zu ringen. Wenn ihn nachmals auf der Höhe seines Wirkens Kleinmut überfiel, so bedurfte es nur der Erinnerung an jene klösterlichen Schrecknisse, um ihn wieder zu festigen. I n dem Systeme von Sakramenten und Verpflichtungen, dem er sich unterwarf, fand er die Grewißheit des Friedens nicht, die er suchte. E r wollte sein Leben für Zeit und Ewigkeit auf einen Fels gründen; aber alle Stützen, diö man ihm anpries, zerbrachen unter seinen Händen und der Boden wankte unter seinen Füßen. Nun — er glaubte mit sich und seiner Sünde allein zu kämpfen; aber in Wahrheit rang er zugleich mit der Macht einer tausendjährigen Uberlieferung, mit ihren Idealen des Heiligen, mit ihrer Schätzung der Güter, mit ihren Qualen und Tröstungen.
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„Er trug den Kampf in breiter Brust verhüllt, „Der jetzt der Erde halben Kreis erfüllt; „Sein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiet, „Mich wundert's nicht, daß er Dämonen sieht."
I n solcher Not ging es ihm am Neuen Testamente auf, was das "Wesen und die K r a f t der christlichen Religion sei. Aus einem weitschichtigen Systeme von Büßungen und Tröstungen, von strengen Satzungen und unsicheren Gnaden führte er sie heraus zu energischer Konzentrierung. Der lebendige Gott — nicht die philosophische oder mystische Abstraktion —, der offenbare, der gewisse, der jedem Christen erreichbare, gnädige Gott. Unwandelbares Vertrauen des Herzens auf ihn, der sich in Christus zu unserem Vater gegeben hat, persönliche G-laubenszuversicht: das wurde ihm die ganze Summe der Religion. Uber alles Sorgen und Grämen, über alle Künste der Askese, über alle Vorschriften der Theologie hinweg wagte er es Gott selbst zu ergreifen, und in dieser Tat seines Glaubens gewann sein ganzes Wesen selbständige Festigkeit. „Mit unsrer Macht ist nichts getan." E r kannte jetzt die Macht, die unserem Leben Halt und Frieden verleiht, und wußte sich f ü r immer in ihr geborgen. Glauben — das hieß ihm nun nicht mehr das gehorsame Fürwahrhalten kirchlicher Dogmen, kein Meinen und kein Tun, sondern die persönliche und stetige Hingabe des Herzens an Gott, welche den ganzen Menschen umschafft. Das war sein Bekenntnis vom Glauben: ein lebendig, geschäftig, tätig Ding sei derselbe, eine gewisse Zuversicht, die da fröhlich und lustig macht gegen Gott und alle Kreaturen, und die da immer bereit ist, Jedermann zu dienen und allerlei zu leiden. Unser Leben ist trotz aller Übel, trotz aller Sünde geborgen in Gott, wenn wir ihm nur herzlich vertrauen wollen: das wurde der Grundgedanke seines Lebens. I n diesem hat er den anderen mit gleicher Gewißheit erkannt und erlebt, den Gedanken von der Freiheit eines Christenmenschen. Diese Freiheit war
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ihm nicht eine leere Emanzipation oder der Freibrief für jegliche Subjektivität, sondern Freiheit war ihm die Herrschaft über die Welt in der Gewißheit, daß, wenn Gott für uns ist, niemand wider uns sein kann; frei von allen menschlichen Gesetzen war ihm die Seele, die in der Liebe Gottes ihr höchstes Gesetz und das Motiv ihres Lebens erkannt hatte. Wohl hat er von den alten Mystikern gelernt; aber er hat gefunden, was sie suchten. Sie blieben stecken in erhabenen Gefühlen und brachten es nicht zur dauernden Empfindung des Friedens. E r drang durch zu einer aktiven Frömmigkeit und zu seliger Gewißheit. E r hat das Recht des Individuums zunächst für sich selber erkämpft; die Freiheit des Gewissens hat er erlebt. Aber das freie Gewissen war ihm das innerlich gebundene, und das Recht des Individuums verstand er als die heilige Pflicht, es mutig auf Gott zu wagen und dem Nächsten selbständig und selbstlos in Liebe zu dienen. So wurde er der Anfechtungen quitt. Aber was er gefunden, das stellte sich ihm nicht als neue Lehre dar; im Gegenteil: er glaubte jetzt nur die alte Wahrheit erkannt zu haben, die eine üble Praxis und eine falsche Gelehrsamkeit verdeckt gehalten hatten. Seine Pietät gegen die alte Kirche behauptete sich zunächst unerschüttert: so blieb er denn auch weiterhin noch ein Mönch, und nur an der steigenden Freudigkeit, mit welcher er den neuen Lehrberuf in Wittenberg versah und sich in mancherlei Geschäften seines Ordens bewegte, zeigte es sich, daß er ein Anderer geworden. Wahrlich! dieser Reformator ist das Gegenbild zu allen leichtfertigen und vermessenen Reformern. Durch schwere Erfahrungen ist er erst in der Position fest geworden und hat an einen Angriff auf das Bestehende durchaus nicht gedacht. Aber eben die Position macht den wahren Reformator. E r bedarf einer persönlichen Idee, die zunächst ihn selbst völlig erfaßt und bemeistert. Aber er
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bedarf noch mehr. E r bedarf vor allem der unmittelbaren Einsicht in das, was den Bau der Gesellschaft zusammenhält. E r muß die neue Stütze immer schon in Bereitschaft haben, wenn er die morsche, alte wegnimmt. Sonst ist der erste Angriff entweder der Beginn eines allgemeinen Zusammenbruches, oder der kühne Neuerer wird selbst bei seite geschleudert. Nun — das ist das Großartige an Luther, in welcher Umsicht und Stetigkeit er vorgeschritten ist aus der Peripherie bis ins Zentrum. I n einer bewunderungswürdigen Folgerichtigkeit entwickelte sich sein Angriff auf das herrschende System in den sechs Jahren von 1517—23. Das war keine kluge Berechnung; es war die segensreiche Folge der Pietät, mit welcher er selbst an dem Überlieferten hing. Ihm waren die alten Hüllen teuer; er hat sie sich selbst Stück für Stück vom Leibe reißen müssen, er hat mit schweren, inneren Kämpfen, mit seinem Herzblute, jeden Protest und Angriff bezahlt. Man hat ihm nicht mit Unrecht Unsicherheiten und Schwankungen in seinem Auftreten bis 1521 vorgeworfen, namentlich in seinem Verhältnis zum Papst. Aber man hat dabei nicht bedacht, wie ehrenvoll für ihn dieses Schwanken gewesen ist, und wie der Erfolg der Reformation davon abhing, daß er sich nicht überstürzte. Erst als er die ganze Verwirrung der Gewissen empfunden hatte, erst als er die babylonische Gefangenschaft erkannt hatte, in welche das Evangelium und das deutsche Volk durch das Papsttum geführt worden war, erst dann brach in ihm mit dem heiligen Zorn der Furor teutonicus los und entlud sich in furchtbaren Schlägen. Wie bescheiden, aus dem nächsten Kreise seines Berufes heraus, hatte er angefangen. Die Aufnahme des Thesenstreites mit T e t z e l war seine Pflicht als "Wittenberger Seelsorger und Professor gewesen. Zur Buße hat er sein Volk da gerufen und die K r a f t des Evangeliums der K r a f t der Ablässe entgegengestellt. Dann aber hatten ihn, wie er selbst angibt, die
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Gegner berühmt gemacht und zugleich immer weiter getrieben. Sie schlugen in die Kohlen: diese sprangen umher und zündeten. Sie suchten zu löschen, und sie zeigten Luther damit den Umfang des Brandes. E r hat sich nicht zum Reformator aufgeworfen — wer darf das? —, sondern dieser Beruf ist ihm aufgezwungen worden. Aber an jenem weltgeschichtlichen Tage zu "Worms, da er vor Kaiser und Reich gestanden, da hat er das Szepter des Reformators erhalten und genommen. Jenes berühmte „Ich kann nicht anders" war das innerste Geständnis seiner Seele. Das Gewaltige und Gute tut nur, wer nicht anders kann. Den Schrecknissen, die jeder Umsturz zur Folge hat, vermag nur der ins Auge zu sehen, dem wider das Gewissen zu handeln der höchste Schrecken ist. Aber die ernsten Folgen des Protestes zeigten sich nicht gleich anfangs. Ein Geistesfrühling zog über die deutschen Lande. Was sich nach Freiheit und Aufklärung sehnte, das begrüßte begeistert den Reformator. Zu Nürnberg protestierten die Stände des deutschen Volkes einmütig wider das alte System. Die verschiedenen unkräftigen Versuche zur Reform der Kirche, der Gesellschaft, der Wissenschaft, sie schössen gleichsam zusammen und schienen nun einen Krystallisationspunkt gefunden zu haben. Aber bald wurden auch alle selbstsüchtigen Begehrungen und Wünsche der Menschen entbunden. Jeder Stand — Fürsten, Magistrate, Adel, Bürger und Bauer — hoffte bei der ungeheuren Bewegung zu gewinnen. Das „Evangelium" drohte das Schlagwort zu werden für alle denkbaren Freiheiten, von der Freiheit eines Christenmenschen bis herab zur wilden Freibeuterei. Ernste Männer, die zuerst gewonnen gewesen, wandten jetzt der neuen Sache empört wieder den Rücken. Denn mit der Entwurzelung der alten Vorstellung von der Kirche war alles ins Schwanken geraten. Hat Kopernikus das alte ptolemäische Weltsystem gestürzt: der Umsturz des Kirchensystems war zunächst
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von ungleich bedeutenderen Folgen. Er griff in alle Verhältnisse der Gesellschaft, des Staates, der praktischen Weltanschauung, des Kultus und der Sitte ein. Die Kirche nicht mehr unfehlbar, ein Gebäude, an dem auch Irrtum und Sünde gezimmert — welche Autorität sollte noch gelten, wenn die Säule der Wahrheit zusammenbrach? Alle Ordnungen des Glaubens und Lebens gerieten in Verwirrung. Die Fundamente der Gesellschaft schienen zu wanken. Aber Luther kannte einen festen Boden, auf den er sich und sein Volk stellen wollte, das Wort Gottes, und er wußte von einer Kraft, mächtiger im Bauen als im Niederreißen, der lebendige Glaube. „Staunenswert", hat ein großer Historiker gesagt, „ist der Ernst, die Tiefe, die Wahrhaftigkeit des Geistes, der in sich gerungen, bis er jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr erfüllte; staunenswürdiger, daß er angesichts der ungeheuren Bewegung, die sich auf ihn berief, auch nicht einen Augenblick irre geworden ist." Luther ist kein eitler Volksmann geworden, als die Wogen einer allgemeinen Begeisterung ihn erhoben, und er hat nicht verzagt, als er sein Schiff durch wilde Wellen steuern mußte. E r führte nicht seine Sache; das Seelenheil der ganzen Nation trug er auf dem Gewissen. Diese Verantwortung — wer von uns kann sie nachempfinden? — erhob ihn über alle Bedenken; sie stählte seinen Mut und sie legte ihm die neue Sprache des Zorns und der Liebe, trotziger Männlichkeit und kraftvoller Simplizität auf die Lippen. An seiner Person lag ihm nichts. Wohl wußte er sich als ein auserwähltes Rüstzeug: „Martinus Luther im Himmel, auf Erden und in der Hölle wohlbekannt" — aber von jedem selbstischen Interesse war er frei. „Gott kann zehn Doktor Martinus' schaffen, wo der einige alte ersöffe": in diesem Vertrauen auf seine Sache war er täglich bereit zu sterben. Diese Sache war ihm ganz und gar das Wort Gottes, das Evangelium. Mochten Andere hunderte von Nebenab-
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sichten haben, reine und unreine, er kannte nur diesen einzigen Leitstern. Keine Menschensatzungen sollten mehr gelten, sondern nur das Wort Gottes. Gewiß, es war die segensreichste Entlastung, es war ein ungeheurer Fortschritt. E r bedeutete nicht nur den Bruch mit der Kirche des Mittelalters, sondern in Wahrheit auch die Auseinandersetzung mit der Kirche des Altertums, mit dem Katholizismus, der sich in die Trümmer der Antike eingebaut hatte. Wie die Humanisten den Rückgang auf das klassische Altertum lehrten, auf die Quellen aller Bildung, so verkündete Luther den Rückgang auf das Evangelium, auf die Quelle der Religion. Was christlich ist, das sollte nun nicht mehr zweifelhaft sein. Keine priesterliche Geheimwissenschaft, kein wüstes Gremenge von Satzungen unter dem Schutze des Heiligen — nein jeder Laie, jeder schlichte Christ sollte in den Stand gesetzt sein, zu prüfen und zu erkennen, was christlicher G-laube ist. Das Wort Gottes nach dem reinen Verstände. In dieser These war die unbefangene Ermittelung des wirklichen Wortsinnes der heil. Schrift gefordert. Jede willkürliche Auslegung nach Maßgabe von Autoritäten war abgeschnitten. Luther hat, soweit er zu sehen vermochte, mit dieser Forderung Ernst gemacht. Er konnte freilich nicht ahnen, wie weit sie führen würde. Aber seine methodischen Grundsätze vom „Dollmetschen", sein Respekt vor den Sprachen haben die Schriftwissenschaft begründet. Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Sie barg in sich ein schweres Problem; denn — was ist die Bibel? ist sie nicht selbst ein Stück der kirchlichen Überlieferung? deckt sie sich so einfach mit dem Evangelium Christi? war es überhaupt möglich, dies komplizierte Buch, so wie es ist, zur unmittelbaren Richtschnur des Glaubens und Lebens zu erheben? Was ließ sich nicht aus der Bibel erweisen? berief sich nicht auch die herrschende Kirche für Glauben und Leben auf die Bibel?
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Gewiß! Aber hier traten f ü r Luther zwei maßgebende Gedanken ein. E r hat sie nicht in systematischer Klarheit durchgedacht, aber in lebendiger Uberzeugung gehandhabt. E r hat den einen in entscheidenden Momenten seines Lebens aus den Augen verloren, aber er hat sich doch immer wieder auf ihn besonnen. Das eine war die Erkenntnis, daß der christliche G-laube ausschließlich an Gott und an die Person Christi gebunden sei, und daß daher nicht der Buchstabe der Schrift verpflichte, sondern allein das Evangelium, welches sie enthält. Das andere war die Gewißheit, daß alle selbsterwählten Formen der Frömmigkeit vom Übel seien, daß die Bewährung der Religion daher in den großen Ordnungen des menschlichen Lebens, in Ehe, Familie, Staat und Beruf, erfolgen müsse. Eben weil er davon durchdrungen war, daß kein Mensch um Gottes willen etwas tun könne und dürfe, eben weil er das ganze Verhältnis des Menschen zu Gott nicht auf ein Tun und nicht auf ein Wissen, sondern lediglich auf die gläubige Gesinnung gründete, so erkannte er keine Übungen als wertvolle mehr an, die angeblich in besonderem Sinne „Gottesdienst" sein sollten. Es gibt nur einen direkten Gottesdienst: das ist die kräftige Zuversicht auf Gott; sonst gilt die ausnahmslose Regel, daß man Gott in der Nächstenliebe zu dienen habe. "Weder mystische Kontemplation noch asketische Lebensführung liegen in dem Evangelium beschlossen. Es ist ausdrücklich zu konstatieren, daß diese beiden Grundgedanken sich für Luther aus dem Religionsbegriif ergaben, wie er ihn erfaßt hatte. Die Freiheit vom Gesetz des Buchstabens und das Recht der natürlichen Lebensordnungen — sie waren f ü r ihn keine selbständigen Ideale. Aber sie fielen ihm zu, indem er das Evangelium durchdachte, verkündete und anwandte. Die Wirkungen waren unermeßliche; denn es war nun mit einem Schlage die Religion aus der Verkuppelung mit allem ihr Fremden
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befreit und zugleich das selbständige Recht der natürlichen Lebensgebiete — darum auch der "Wissenschaft von ihnen — anerkannt. Die Religionslehre soll nun nichts anderes mehr sein als die Darlegung des Evangeliums, wie es die christliche Gemeinde erzeugt hat und zusammenhält. Ihre Gewißheit soll nicht mehr beruhen auf einer äußeren Autorität, aber auch nicht auf philosophischen Erwägungen. Die Philosophie ist nicht mehr die gefürchtete Dienerin der Theologie, sondern ihre Bemühungen sind unabhängig von jeder theologischen Bevormundung. Uber dem großen Gebilde, welches wir Mittelalter nennen, über diesem Chaos unselbständiger und in sich verschlungener Gestaltungen, schwebte der Geist des Glaubens, der seine eigene Natur und darum seine Schranken erkannt hatte. Unter seinem Wehen rang sich alles, was ein Recht auf freie Geltung hatte, zu selbständiger Entfaltung empor. Vor Luther hat kein Anderer so klar und entschieden die großen Gebiete des Lebens getrennt. Wunderbar! dieser Mann wollte die Welt nichts Anderes lehren als was das Wesen der Religion sei-, aber indem er ein Gebiet in seiner Eigentümlichkeit erkannte, kamen alle anderen zu ihrem Rechte. Der Staat — nicht mehr ein fatales Gebilde aus Zwang und Not, bestimmt sich an die Kirche anzulehnen, sondern die souveräne Ordnung des öffentlichen gemeinschaftlichen Lebens; das Recht — nicht mehr ein undefinierbares Mittelding zwischen der Macht des Stärkeren und der Tugend des Christen, sondern die selbständige, von der Obrigkeit gehütete Norm des Verkehrs; die Ehe — nicht mehr eine Art von kirchlicher Konzession an die Schwachen, sondern die gottgewollte, aber von jeder kirchlichen Bevormundung freie Verbindung der Geschlechter, die Schule der höchsten Sittlichkeit; die Armenpflege und Liebestätigkeit — nicht mehr ein tendenziöses Getriebe zur Versicherung der eigenen Seligkeit, sondern der freie Dienst am Nächsten, der in der
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wirklichen Hilfleistung seinen letzten Zweck und seinen einzigen Lohn sieht. Aber über das Alles: der bürgerliche Beruf, die schlichte Tätigkeit in Haus und Hof, in Geschäft und' Amt — nicht mehr die mißtrauisch beurteilte, weil vom Himmel abziehende Beschäftigung, sondern der rechte geistliche Stand, die Sphäre, in welcher sich die Gesinnung und der Charakter zu bewähren hat. Nun — alle diese Überzeugungen sind heute Gemeingut bei uns geworden; aber nur zu häufig wird es vergessen, durch wen sie zu kräftigem Leben geweckt worden sind. Wir behaupten sie heute unabhängig von jedem religiösen Glauben, und es scheint vielleicht den Meisten unter uns, daß sie desselben völlig entbehren könnten. Ja in Hinblick auf die irrationalen Formen des Kirchenglaubens, welche Luther nicht aufgegeben hat, stellt sich wohl, bald mehr bald minder deutlich formuliert, das Urteil bei Vielen ein, die Reformation an und für sich sei eine Reaktion gewesen, die mehr geschadet als genützt habe; der Fortschritt sei neben ihr und unabhängig von ihr durch eine Reihe günstiger Konjunkturen entstanden. Ein Moderner hat das jüngst also ausgedrückt: „Eine Vergleichung zwischen dem alten und dem neuen Kirchenglauben zeigt keinen Kulturgewinn. In der römischen Kirche war der Begriff der Wahrheit verloren gegangen und im Protestantismus nicht wieder entdeckt worden. Die Grundlage der alten Kirche blieb in ihrem Kerne unberührt. Das luftige Gebäude des Aberglaubens ward nicht zerstört, vielmehr durch den Bibelglauben noch mehr befestigt. Die Vernunft hat an dem Werke der Reformation ebensowenig Anteil als die Freiheit." Dies Urteil ist von jedem Standpunkt aus irrig; denn daß durch die Reformation das Gebiet des Aberglaubens mindestens eingeschränkt worden ist, ist unfraglich. Doch dies nur nebenbei. Vor allem sind hier die eigentümlichen Bedingungen verkannt, an welche jeder entscheidende Fort-
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schritt der Menschheit gebunden ist. Zerstörung des Aberglaubens f ü r sich allein — so notwendig dieselbe ist — vermag weder in die Tiefe noch in die Breite zu wirken, Es bedarf eines durchschlagenden neuen Ideals praktischer Lebensgestaltung, welches an das Vorhandene anknüpft um es umzubilden, es bedarf einer Erhöhung der sittlichen K r a f t und des Gefühls der Verantwortlichkeit, um die Erschütterungen, die jeder Fortschritt mit sich bringt, zu überwinden; und es bedarf endlich einer Persönlichkeit, die in der Sache aufgeht und sie auf diese "Weise in die "Welt wirksam einführt. Man kann unbedenklich zugeben, daß Luther in mehr als einer Hinsicht eine mittelalterliche Erscheinung gewesen ist, man muß sogar behaupten, daß sein Auftreten das Absterben gewisser mittelalterlicher Ideen verzögert hat — aber was will das sagen? Wenn alles verderblich ist, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, so ist nichts segensreicher und fördersamer — auch f ü r die Befreiung des Geistes — als die Kräftigung seiner sittlichen Natur und die Versicherung seines Adels. Das aber hat die Reformation geleistet. Sie hat vor allem die Geister erst fähig gemacht, die Erkenntnisse, welche die Zukunft bringen sollte, zu ertragen, ohne die Herrschaft über sich selbst zu verlieren; denn sie hat ihnen eine unerschütterliche Stellung über der "Welt angewiesen. Nun nehme man auch alles zusammen, was man zum Nachteile der Reformation anführen muß, die harten Ungerechtigkeiten, die neuen Irrtümer, die teilweisen Rückschritte, die unsäglichen Erbärmlichkeiten in der Durchführung — das alles verschwindet gegenüber dem, was wir ihr schuldig sind, und zwar wir alle, nicht nur die evangelischen Deutschen. Darf ich es mit den Worten Goethes sagen: „Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsen-
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den Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen." Gewiß, hier liegt es, und hier liegt zugleich die epochemachende Bedeutung Luthers für die Wissenschaft. Luther hat nicht nur angefangen, die Erkenntnis der Wahrheit vom Machtspruch der Uberlieferung zu befreien und damit eine reine Betrachtung der Geschichte zu ermöglichen, sondern er hat die Freiheit und Verantwortlichkeit des Arbeitenden verkündet. E r hat die Arbeitsgebiete getrennt und sie eben dadurch einzeln in ein helles Licht treten lassen. E r hat ferner das selbständige Recht jeder Berufsarbeit, und so auch der wissenschaftlichen, geltend gemacht. Aber über das alles: er hat dem wissenschaftlichen Arbeiter eine Gewißheit seines Gott geschenkten, persönlichen Wertes und damit einen unverwüstlichen Idealismus eingehaucht, der ihn wappnet gegen die Erschütterungen des Selbstbewußtseins, die eine Folge aller empirischen Erkenntnis und aller Mystik sind. Demgegenüber kann man wohl dreist behaupten, daß dies alles auch ohne Luther von unserem Geschlecht, oder gar von uns selbst, errungen worden wäre; aber eine solche Behauptung wäre zum mindesten eine völlig undiskutierbare These, eine geschichtliche Kannegießerei. Nur das Gewordene, nicht „was geworden wäre", vermögen wir zu erkennen. Geworden aber ist infolge der Reformation nicht infolge der Renaissance oder der wiedertäuferischen Mystik, jene unbefangene, nüchterne und gottvertrauende Gesinnung und Stimmung, die uns den klaren Blick f ü r die Dinge dieser Welt erst ermöglicht und uns erlaubt hat, dieselben mutig und freudig zu erfassen. Luther hat die Wissenschaft befreit, indem er den Christen wieder gezeigt hat, der an dem Evangelium erwachsene Glaube trage
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seine Zuversicht in sich selber; er bedürfe weder noch dulde er äußere Autoritäten und philosophische Umdeutungen. Die Renaissance hatte — zum Teil wider ihren Willen — f ü r das alte System gearbeitet. Was man „Luthers Lehre" nennt, sieht ihm äußerlich recht ähnlich. Achtet man aber auf die Absichten und schließlich auch auf den Erfolg — die Absichten kommen in Betracht, und ungebrochene Erfolge gibt es in der Geschichte nicht —, so ist das Walten eines neuen G-eistes unverkennbar. Aber die Enge und Unvernunft des theologischen Systems, welches die lutherische Orthodoxie aufgerichtet hat! Nun zunächst bei Luther selbst herrscht die K r a f t und Form einer unmittelbaren Uberzeugung. Das Systematische tritt zurück, und wo er systematisiert, ist's nicht zum Vorteil seiner Sache. Erst hinter den hellen und lebendigen Uberzeugungen ruht bei ihm wie bei allen energischen, großtätigen und fortschreitenden Naturen ein geheimnisvoller Glaube, der den kleingesinnten und auf sich selbst beschränkten Menschen ein Ärgernis, den rückschreitenden und schwachen eine Gefahr und den verständigen ein Rätsel ist. Sie selbst haben freilich allzumal keine Rätsel, noch weniger sind sie solche. Das Glaubenssystem, welches sich auf Luthers Predigt auferbaute, mußte unter den Zeitumständen schnell gezimmert werden. Noch war der Horizont der Menschen ein eng begrenzter, ihre Vorstellungen vielfach mittelalterliche. Man hatte ein Volk in Kirche, Schule und Haus zu erziehen. Man hatte ein neues Kirchenwesen zu gründen. Man hatte die Stürmer und Dränger abzuwehren. Welche Aufgaben! Daß die neue Idee, welche in die Erscheinung trat, wirklich im Laufe von kaum zwei Menschenaltern einen Leib erhielt, daß überhaupt Formen auf allen Gebieten des Lebens gefunden wurden, daß in diesen Formen wirklich auch die Sache, der evangelische Glaube, zum Ausdruck gekommen ist — wahrlich nur im Verdruß über die
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seltsame Zumutung, das altprotestantische Glaubenssystem für das reine Evangelium zu nehmen, kann man dieses System selbst anklagen und für unwert halten. Auf seinem Boden hat doch im 17. Jahrhundert nicht nur ein P a u l G e r h a r d t mit seiner lebendigen Frömmigkeit, sondern auch ein K e p p l e r gestanden. Sie fühlten sich durch dasselbe nicht beengt, sondern erweitet und bestimmt. Was wir heute als Last empfinden, das war es damals noch nicht. Aber die heftigen theologischen Streitigkeiten und die traurigen Spaltungen, welche sich so schnell bei den Protestanten einstellten! Auch sie lassen ein günstigeres Urteil zu. Sie waren eine Folge des Zusammenbruchs der äußeren Autoritäten; sie waren aber zugleich eine Folge der neuen protestantischen Gewissenhaftigkeit in Glaubenssachen. Man muß sie zusammenhalten mit der Bereitschaft der Gegner, um Dogmen zu markten und zu handeln. Luther und seine Schüler zeigten keine Toleranz. „Unsere Liebe ist bereit, für jedermann in den Tod zu gehen; aber unser Glaube ist uns unantastbar wie unser Augapfel." Nun in der Tat, es gibt nichts Intoleranteres als die "Wahrheit; sie kennt keine Konzessionen. So lag auch damals der Fehler nicht in dem Mangel der Toleranz, sondern in der Beschränktheit der Erkenntnis. Daher, als Luther zu Marburg Zwingli die Bruderhand verweigerte, da handelte er in Kraft der höchsten Gewissenhaftigkeit. Wir können seine Auffassung als eine irrtümliche beklagen, aber wir müssen die Festigkeit seines Charakters bewundern. Seitdem sind Spaltungen auf Spaltungen erfolgt. Aber trotz alles Jammers, den sie angerichtet, trotz aller Verkümmerungen, die sie verursacht, trotz aller Übel, die sie über unser Vaterland gebracht haben — die Protestanten tauschen nicht mit der scheinbaren Einheit und Geschlossenheit der Gegner; denn sie achten die Voraussetzung dieser Einheit nicht für ein Gut, sondern für ein Übel. Wohl wissen wir, was die Reformation uns Deutschen gekostet
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hat und noch immer kostet. Sie hat unsere politische Einigung um Jahrhunderte verzögert; sie hat uns den dreißigjährigen Krieg gebracht; sie hat es uns erschwert, der Kirche des Mittelalters, ja auch der alten Kirche, gerecht zu werden — man bricht nicht mit der Geschichte ohne sie zu verdunkeln —; sie hat uns in eine konfessionelle Spaltung geführt, die noch eben für unsere "Weiterentwicklung verhängnisvoll ist. Aber sie hat zugleich alles das begründet, was wir heute als unsere Eigenart und Größe schätzen dürfen. Wir sind nicht dazu verurteilt, die Reformation lediglich so zu rühmen und zu verteidigen, daß wir an ihre Anfänge erinnern. Durch Martin Luther ist die Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Neue Faktoren sind eingetreten; aber der Grund ist im 16. Jahrhundert gelegt worden. Und die Segnungen der Reformation haben sich über alle Deutschen erstreckt, auch über die römischen; ja der Katholizismus selbst hat sich bei uns ihren Einwirkungen nicht entziehen können. E r hat nicht nur ehrwürdigere Priester und einen reineren Kultus, sondern geradezu eine andere Gestalt, eine andere Tiefe und einen höheren Ernst erhalten als in den romanischen Ländern. Man kann es jenseits der Alpen von kompetenter Seite nicht selten hören: „die Deutschen sind alle Häretiker". "Was anders soll damit gesagt sein, als daß sich bei uns in Sachen der Religion das Bewußtsein einer persönlichen Verantwortlichkeit ausgebildet hat, wie es die romanischen Völker in diesem Grade nicht zu kennen scheinen? Aber wir wollen uns nicht selbst bespiegeln. Auch bei uns im Lande der Reformation, sind Passivität und Stumpfheit die eigentlichen Feinde. Wir haben die theologischen Formeln der Vergangenheit beiseite legen müssen; aber was haben so viele unter uns — die Frage ist heute wohl erlaubt — an ihre Stelle gesetzt? Eine durchweg relative Weltanschauung und eine historische Stimmung.
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Reichen sie wirklich, aus, damit wir das Höchste leisten? Ist der Standpunkt wohlwollender Indifferenz, auf welchem der religiöse Grlaube harmlos wird, der erhabenste, der uns alles Große und Edle verbürgt und nur die alten Schatten verscheucht? Anders hat sich darüber jüngst ein nicht befangener Schriftsteller, R e n a n , in öffentlicher Rede geäußert: „Es ist", sagt er, „vielfach den heute widerlegten G-laubensformeln zu verdanken, wenn noch ein Rest von Tugend in uns übrig ist. Wir leben von einem Schatten, von dem Duft einer leeren Flasche; nach uns wird man leben vom Schatten des Schattens, und oft bin ich bange, daß man doch zu wenig daran haben werde." Ein mutiges, aber ein trauriges Bekenntnis! Sind auch wir schon so weit? Ist mit der Widerlegung der theologischen Glaubensformeln der Vergangenheit das Evangelium selbst widerlegt und abdekretiert? Haben wir es nicht mehr nötig? oder brauchen wir es nicht mehr wie je in Hinblick auf unsere fortschreitende Naturerkenntnis, in Hinblick auf die geistige Beschränkung, welche uns unsere Arbeitsteilung auferlegt, in Hinblick auf unsere verödete Geselligkeit und auf die stets zunehmende und leider notwendige Mechanisierung unseres öffentlichen Lebens? Wir brauchen es und dankbar wollen wir es halten. Zu überwundenen Stufen geistiger Entwicklung können wir allerdings nicht mehr zurückkehren. Aber Luther hat uns kein Religionssystem fertig gezimmert — Systeme entstehen und vergehen —, sondern er hat uns auf einem festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir sollen uns auf dem Grunde des Evangeliums stets aufs neue reformieren und wider Gesinnungslosigkeit und Machtsprüche mutig allzeit protestieren. Auf dem Grunde des Evangeliums, denn — „mag die geistige Kultur nur immer fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitern wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet,
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wird er nicht hinauskommen." Wohl müssen wir die alten Bäume niederschlagen, wenn sie überstämmig und morsch geworden sind; aber wir rotten nicht den alten Wald aus, sondern wir suchen ihn eben dadurch frisch und kräftig zu erhalten. Die Zukunft unserer Nation und schließlich auch aller unserer Arbeit hängt davon ab, daß wir die Antriebe zur Indifferenz und Stumpfheit, aber auch zu Rückschritt und Obskurantismus überwinden und uns zu einem freien Christentum der Gresinnung und der Tat emporringen. Den Weg zu diesem Ziele aber hat uns nach einer langen Nacht der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen dürfen: E r war die Reformation. Was in ihr Großes, Gewaltiges, für alle Zeiten Dauerndes und Vorbildliches enthalten war, das ist einzig gegeben und verkörpert gewesen in seiner Person, in der Person des Wittenberger Professors Dr. Martin Luther.
ZUR GEGENWÄRTIGEN LAGE DES PROTESTANTISMUS
Vortrag gehalten am 6. Okt . 1896 in einem kleinen Kreise von Freunden zu Eisenach. Erschienen als Nr. 25 der „Hefte zur Christlichen W e l t " bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen.
Vorwort. Ursprünglich war es nicht meine Absicht, diesen Vortrag, der am 6. Oktober in Eisenach in einem Kreise von Freunden gehalten worden ist, zu veröffentlichen. Aber nachdem er auf Grund tinvollständiger Referate die heftigsten Angriffe erlebt h a t , scheint es mir um der Sache willen Pflicht zu sein, ihn der Öffentlichkeit zu übergeben. Der Reichsbote (10. Oktober) hat ihm „radikale Verwerfung des Christentums, des christlichen Grottesglaubens und Grottvertrauens, die sich auf die geschichtliche Offenbarungstatsache Grottes in Christo gründen" nachgesagt, und er hat seinen Lesern nahegelegt zu glauben, daß ich alles das leugne, was er in einem Referat über den Vortrag (von fünfzig Zeilen!) nicht gefunden hat. Auf eine solche Polemik zu erwidern, wird mir niemand zumuten. Sie zeigt nur, daß ich in meinem Vortrage die Art, in der heute das „Bekenntnis" vertreten wird, noch viel zu milde charakterisiert habe. Ich habe den Vortrag acht Tage, nachdem er gehalten war, wesentlich aus dem Gredächtnis niederschreiben müssen und mich dabei bemüht, ihn vor übelwollendem Verständnis zu schützen, ohne seinen Inhalt irgendwo zu ändern. Nicht überflüssig wird es sein, daran zu erinnern, daß ich nur zur Lage des Protestantismus habe sprechen wollen. Diese Lage umfaßt noch andre schwere Probleme, die ich absichtlich beiseite gelassen habe.
I. Ich gedenke nicht von der Gegenwart und Zukunft unsrer protestantischen Landeskirchen zu sprechen, sondern von der Gegenwart und Zukunft des Protestantismus. Daß dabei der Zustand der protestantischen Landeskirchen ins Auge gefaßt werden muß, versteht sich von selbst. Aber — um gleich meine Meinung zu sagen — ich gehöre nicht zu denen, die unsre protestantischen Landeskirchen in einem Zustande der Zersetzung sehen und meinen, daß sie in Bälde untergehen werden oder doch einer gewaltigen Krisis entgegensteuern. Ich glaube umgekehrt, daß sie sich zur Zeit in einer Epoche kräftiger Konsolidierung befinden, daß sich diese noch verstärken wird, und daß somit irgend welche Anzeichen des Untergangs oder der Zersetzung nicht vorhanden sind. So wie sie sich teils von ihrem Ursprung her, teils in besonders kräftiger Weise in unserm Jahrhundert an den Staat, die Gesellschaft, den Patriotismus, die Uberlieferung, die Autoritäten und die populäre religiöse Stimmung angeschmiegt haben, sind sie sehr feste und schwer angreifbare Gebilde geworden. Sie haben sich in der gegenwärtigen Zeitepoche eingerichtet, wie sich einst das alte Christentum im römischen Reich eingerichtet hat, und nichts deutet darauf hin, daß sie eine kürzere Dauer haben sollten als unsre Epoche. Sind doch um die Wette Regierung und Gesellschaft, frommer Sinn und Indifferenz, in gewisser Weise Freund und Eeind bemüht, den Kirchen auf der Entwicklungslinie, auf der sie sich befinden, zu Hilfe zu kommen, damit sie immer mehr das
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werden, was die natürliche Entwicklung der Dinge sie werden läßt. Aber sehr anders gestaltet sich freilich der Ausblick, wenn wir statt auf die protestantischen Landeskirchen auf den Protestantismus sehen. Die alte Firma „protestantisch" ist allerdings noch immer vorhanden; aber Firmen täuschen bekanntlich in der Geschichte. Die weltgeschichtliche Täuschung der Firma „apostolisch" hat die Reformation am Katholizismus aufgedeckt. Aber sind die protestantischen Kirchen vielleicht nur noch in dem Maße protestantisch, wie die katholischen apostolisch? Jedenfalls entscheiden die Worte nicht, und eine Garantie dafür, daß es dem Protestantismus nicht ebenso geht wie allen Konfessionen — daß sie nämlich teils durch Beharrung, teils durch allmähliche Umformungen ihren Charakter verändern — ist nicht gegeben. II. "Was war der alte Protestantismus? Was sind seine wesentlichen Merkmale? Eine Kirche, die ausschließlich auf den aus der heiligen Schrift gewonnenen Articuli fid ei ruhte, die Kenntnis und das Verständnis derselben allen ihren Gliedern zugänglich machen wollte, und die überzeugt war, daß sie alles Wesentliche getan habe, wenn sie den richtigen Bibelglauben verkündigte. I m Protestantismus besteht also ein festes, ja ausschließliches Verhältnis zwischen Theologie und Kirche. Die Glaubenslehre, die im Grunde identisch ist mit dem Bekenntnis und der Theologia sacra, trägt die Kirche. Nur diese Theologia sacra hat die Kirche zu predigen und zu lehren, alles übrige wird sich dann von selbst finden. Eifrig wachte man gegenüber „Schwarmgeistern" und ähnlichen Leuten, daß nicht ein Mehreres geschah. Ein strenger Puritanismus in der Religion und der religiösen Pädagogie
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war die Folge. Nur diese bewußte und gewollte Einseitigkeit schuf die Kraft, um das Größte zu leisten, was in der Geschichte geleistet werden kann, eine alte, mit tausend Wurzeln im Boden haftende Religion zu reformieren. Das Wort allein, und darum die Lehre allein, und der Glaube allein! Zugeschnitten war diese „Lehre" auf einen zwar tief bewegten, aber einförmigen Seelenzustand und auf ein gedrücktes, immerfort gefährdetes irdisches Dasein. Daß das gepredigte Wort K r a f t und Leben wird, ist — das war eine G-rundüberzeugung — allein das Werk des heiligen Geistes, dem man vertrauen und den man erwarten soll. Der Kirchenglaube muß aber als Notitia, Assensus und Fiducia in völlig gleichartiger Weise persönlicher Besitz jedes Einzelnen geworden sein, und ein jeder soll sich von nichts anderm nähren als von dem Wort, dessen Ausgestaltung die Theologia sacra ist. Diese Theologia sacra im Sinne einer unfehlbaren Bibellehre hat sich aufgelöst. Doch lassen Sie mich mit ein paar Worten des Ursprungs der „Theologie" gedenken. Sie war nicht von Anfang an vorhanden. Ursprünglich gab es nur Prophetie und pneumatisches Lehren. Wer im Namen der Religion eine Erkenntnis vortrug oder eine religiöse Anweisung gab, tat das vom Geiste getrieben, und die ihn hörten, waren überzeugt, daß er aus dem Antrieb des Geistes redete. Aber diese Periode dauerte nicht lange. Die Prophetie und das pneumatische Lehren hörten auf, und an ihre Stelle trat die verstandesmäßige, nach bestimmten Regeln arbeitende Theologie, die in bezug auf das Alte Testament schon längst vorbereitet war. Diese Theologie war aber doch Theologia sacra; denn sie hatte einen heiligen Text — nun einen doppelten, den des Alten und Neuen Testaments, zur ausschließlichen Unterlage, und man behauptete, daß nur ein geheiligter Verstand ihn auszulegen vermag. Doch über diesen letzteren P u n k t blieb ein Schwanken bestehen. Daß bereits der natürliche Yer-
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stand den rechten Sinn der heiligen Schrift, mindestens bis zu einem gewissen G-rade erkennen könne, wurde doch auch behauptet, und daß man ein Maß von „weltlicher" Wissenschaft für die Auslegung nötig habe, konnte nicht leicht verkannt werden. Aber eben deshalb wurde die Theologie von Anfang an mit Mißtrauen in der Kirche betrachtet. Bereits der erste große Theologe, Origenes, hat das erfahren müssen. Ein „weltliches" Element war notwendig in die Theologie aufgenommen, wenn auch seine Abgrenzung gegenüber dem Heiligen, ja überhaupt sein Existenzrecht zweifelhaft blieb. I n der Kirche der Reformation, dem alten Protestantismus, änderte sich das nicht wesentlich. Alles Heilige wird noch ausschließlicher, als es im Katholizismus geschehen war, in die Urkunde geschoben, und eben deshalb bleibt die "Wissenschaft, die sich mit ihr beschäftigt, Theologia sacra. Auf diese stützte sich der Protestantismus noch entschiedner als der Katholizismus, der sich eine viel kompliziertere, aber dem Leben und seinen Bedürfnissen abgelauschte Grundlage geschaffen hat. Der Doppelcharakter der Theologie blieb übrigens ungeklärt. Einerseits sprach man so, als sei der „reine Verstand" der heiligen Schrift eine Sache natürlicher Vernunft und gewissenhafter Erkenntnis, andrerseits sollte doch nur der den Schriftsinn treffen können, der vom heiligen Geiste erleuchtet war. Als die Wiedertäufer die reformatorische Theologia sacra in pneumatische Intuition (die „fortgesetzte Offenbarung", das „innere Licht") und „natürliche Wissenschaft" zu spalten versuchten, wurden sie abgewiesen und verdammt. Dennoch löste sich die Theologia als sacra (als ein absolutes göttliches, weil aus dem inspirierten Bibelkodex geschöpftes Wissen) allmählich auf. Wie das geschehen ist, das darzulegen würde zu weit führen. Erst löste sich das Kirchenrecht ab und ging in die Form einer rein weltlichen Disziplin über; dann folgte die Kirchengeschichte:
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es wurde anerkannt, im Prinzip allgemein in den protestantischen Kirchen anerkannt, daß wer seinen Standort in der G-eschichte nimmt, ihn nicht zugleich in dem jeweiligen Zustande des Staats oder der Kirche nehmen kann; es wurde eine allgemeine Forderung, die G-eschichte der Kirche unparteiisch zu erzählen ohne Rücksicht auf die vermeintlichen oder wirklichen Grundlagen und Ansprüche einer Partikularkirche. Dann folgte der entscheidendste Schritt: das Verständnis und die Auslegung des Alten und Neuen Testaments darf sich weder durch ein „Bekenntnis" etwas vorschreiben lassen, noch darf sie sich um der Heiligkeit des Textes willen andrer Methoden bedienen, als der allgemein anerkannten philologischen und historischen. Die Revolution, die dieser Grundsatz in der Theologie hervorgerufen hat, zittert noch in ihrer gesamten Arbeit nach. Aber im Prinzip wird er zur Zeit nur noch selten im Protestantismus bestritten; selbst die bestreiten ihn in der Regel im Prinzip nicht, die seine Durchführung im einzelnen als sakrilegisch brandmarken. Wie ist das gekommen? "Wer hat das aufgebracht? Niemand und alle! Es ist die Folge der Entstehung des historischen Sinnes, die keine geringere Umwälzung in der Geschichte der Menschheit bedeutet als die naturwissenschaftlichen Entdeckungen. Der Begriff der Wissenschaft ist ein andrer geworden; wir wissen es alle — wer der Wissenschaft die Ergebnisse, zu denen sie gelangen soll, vorschreibt, der löst sie damit auf. Und das, was hier hervorgebrochen ist, kann nicht mehr gehemmt werden. „Die Wahrheit ist wie ein Quellwasser, welchem man entweder seinen Lauf lassen oder gewärtig sein muß, daß es anderweit ausbreche, wo es uns am wenigsten gelegen ist." Daß auch seltsame Uberstürzungen nicht fehlen, wird niemanden wundern, der den Lauf menschlicher Dinge kennt. So wird in einer jüngst erschienenen Abhandlung: „Das Dogma vom Neuen Testament" alles Ernstes verlangt, man
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solle jedes Werturteil aus der Betrachtung der Urgeschichte des Christentums ausschließen, also alles auf eine Fläche nebeneinander stellen. Aber auch in dieser Forderung, die die Geschichtschreibung der Kritiklosigkeit überantwortet und auf eine ganz niedrige Stufe zurückführen würde, zeigt sich das gewissenhafte Streben, die wissenschaftliche Erkenntnis rein zu erhalten und ihr nichts Fremdes beizumischen. Daß übrigens die Emanzipation der exegetischen und historischen neutestamentlichen Forschung zu immer radikaleren Ergebnissen geführt hat, kann kein Einsichtiger behaupten. Das Gregenteil ist der Fall. Nicht nur die Fragen des Ursprungs und der Echtheit neutestamentlicher Schriften werden mit größerer Vorsicht und höherm Respekt gegenüber der Tradition behandelt als früher, sondern auch die Eigenart der christlichen Religion und die Eigenart religiösen Lebens überhaupt wird objektiver und schärfer bestimmt als früher. Auch ist darüber kein Zweifel: nur der vermag das Bibel wort wirklich zu verstehen, der von seinem Greiste innerlich berührt ist. Aber freilich — es gibt keine heilige Uberlieferung, vor der die geschichtliche Forschung einfach kapituliert. ΙΠ. Also ist es die Wissenschaft gewesen, die die Theologie im alten Sinne des Worts gesprengt und ihr die „Heiligkeit" genommen hat? J a — aber sie ist nur der eine Faktor in diesem Prozeß. Der andre ist in der Kirche selbst zu suchen, und die, die am lautesten über den Verlust der Theologia sacra klagen, sind an ihrer Auflösung sehr stark beteiligt. Parallel nämlich mit der Umbildung der Theologie geht seit Jahrzehnten eine Umbildung des Verhältnisses von Theologie und Kirche. Seit S c h l e i e r m a c h e r s Darlegungen über das Wesen der Religion und der Kirche ist in allen Richtungen der deutschen evangelischen Kirchen das altprotestantische, ausschließliche Ver-
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hältnis von Theologie und Kirche gesprengt. Nicht nur gegen dogmatische Systeme ist man skeptisch und, was mehr bedeutet, indifferent geworden — das Wort: „die Systeme sind das Malheur der Wissenschaften" wird in bezug auf die Dogmatik in allen kirchlichen Lagern unterschrieben —, sondern auch gegen die Theologie als Lehre und geschichtliche Erkenntnis überhaupt herrscht eine Abneigung und Geringschätzung, in der hervorragende Führer der verschiedensten kirchlichen Richtungen zusammenstimmen. Einst waren im Protestantismus die Theologen die Schiedsrichter in allen kirchlichen Fragen, heute sitzt man nur noch über sie zu Gericht. Einst herrschte die Theologie unbedingt in der Kirche; heute wird sie zurückgeschoben oder ihre Arbeit als eine Quantite negligeable, als unfruchtbar und unpraktisch f ü r den kirchlichen Dienst bezeichnet. Das gilt keineswegs nur von der sogenannten modernen Theologie. Daß auf die Theologie „überhaupt nicht soviel ankommt", ist ein Satz, der mir, freilich häufiger leise geflüstert als laut proklamiert, in Wort und Schrift unzählige Male entgegengebracht worden ist. Doch werden die Bemühungen der Theologieprofessoren vom Standpunkt der „Kirche" allmählich immer offner als überflüssig und störend bezeichnet. „Undogmatisches Christentum" oder Liebestätigkeit oder irgend etwas andres, das man noch nicht kennt, soll an die Stelle treten. Mit der Theologie ist nichts mehr zu erreichen; sie stört nur die lebendige Verwertung der Kräfte der Religion. Ich meine diese Überzeugung, wenn auch in sehr verschiedner Weise, sowohl aus dem Reichsboten wie aus den kräftigen Predigten N a u m a n n s und den ernsten Ratschlägen v o n S o d e n s herauszuhören. Ich urteile nicht, sondern ich suche einen Tatbestand, so wie er vorliegt, darzustellen. Daß dieser Zustand eine notwendige Reaktion ist gegenüber jener altprotestantischen Einseitigkeit, Lehre und Religion ausschließlich miteinander
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zu verbinden, ist gewiß, und daß hinter der relativen Gleichgültigkeit gegen die Theologie auch das Bestreben wirksam ist, die Religion aus dem Intellektualismus herauszuführen und ihren verschiednen Kräften und Ausdrucksformen gerechter zu werden, ist unverkennbar. Aber — wendet man ein — wie darf man von Nichtachtung der Theologie in einem Zeitalter sprechen, das den Ruf: Rückkehr zum Bekenntnis, so laut und stürmisch erschallen läßt, und wie kann man sich über den Mangel an schuldigem Respekt vor der Theologie beklagen in einer Epoche, in der ein so energischer Theologe wie Ritsehl gewirkt und eine so allgemeine Beachtung gefunden hat? Was den ersten Einwurf betrifft, so werden wir über ihn sofort ausführlicher zu reden haben; was aber den zweiten anlangt, so ist es richtig, daß in Ritschis Theologie das altprotestantische doktrinäre Element kräftig hervortritt. In dieser Hinsicht ist er bis auf weiteres der letzte lutherische Kirchenvater; denn seine Eigenart bestand darin, daß er die beiden Elemente des Protestantismus, das doktrinäre und das originalreligiöse, verstärkt und in enger Verbindung gehalten hat. Aber wie er in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet, so zeigte auch die Aufnahme seiner theologischen Arbeit, daß der Protestantismus für diese seine Haltung keine Sympathie und kein Verständnis mehr besaß. Nur einige altlutherische Theologen von striktester und daher undiplomatischer Observanz erkannten die altprotestantische Haltung seiner Lehre dankbar an; die übrigen — von seinen Schülern abgesehen — fühlten sich von seinen energischen theologischen Ansprüchen vielleicht noch mehr abgestoßen als von einzelnen bedenklichen Lehren. Daß er ganz und gar Theologe war und von der Theologie aus Vorschriften zu geben wagte, daß ihm jeder Zug des Traditionalisten, des Liturgikers, des Virtuosen, der mit sich reden läßt, des Latitudinariers, der andre reden läßt, des Kirchenpolitikers, der mit in-
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direkten Mitteln arbeitet, fehlte — das war das Befremdlichste und Anstößigste an dieser kraftvollen Persönlichkeit. Die Aufnahme, die Ritsehl, der lutherische Theologe, gefunden hat, ist also nur ein neuer Beleg für die "Wahrnehmung, daß die Schätzung der Theologie in der Kirche reißend abnimmt. Während sich die Theologie den Ansprüchen der allgemeinen "Wissenschaft unterwarf, hat sich teils infolge hiervon, teils von ganz andern Kräften bestimmt die Kirche von der Theologie getrennt oder doch das ausschließliche Verhältnis von Theologie und Kirche gesprengt. IV. Welches sind diese „andern Kräfte"? Man kann sie in einem Worte zusammenfassen: es ist die fortschreitende Katholisierung unsrer protestantischen Landeskirchen. Ich will versuchen, aus dem ungeheueren und weitschichtigen Material, das f ü r die Begründung dieser Behauptung zu Gebote steht, einiges herauszugreifen. Dabei wird auch deutlich werden, in welchem Sinne das Wort „Katholisierung" hier verstanden ist. Allem zuvor hat man den Finger auf den Kirchenbegriff zu legen. Der evangelische Kirchenbegriff ist nahezu verschwunden, und wer an ihn im praktischen Leben zu erinnern wagt, wird als unpraktischer Träumer verschrieen. Die Mehrzahl unsrer einflußreichen Kirchenzeitungen, zu denen auch ein paar politische Zeitungen zu rechnen sind, arbeitet mit einem katholischen Begriff der Kirche. Ich lese seit acht Jahren regelmäßig den Reichsboten und kann mich nicht erinnern, unter den unzähligen Ausführungen über die „Kirche" auch nur ein einziges Mal einer Stelle begegnet zu sein, in der der siebente Artikel der Augsburgischen Konfession zu seinem vollen Rechte gekommen wäre. Dagegen wird in der Regel einfach so gesprochen, als sei die Kirche Jesu Christi das kirchliche Institut mit seinen Majoritäten, Lehrordnungen und Ausstattungen —
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solange es im Sinne der Kirchenzeitungen arbeitet. Unbedenklich werden auf dieses Institut alle Verheißungen Christi übertragen. Ein Unterschied zwischen der Kirche des G-laubens und der Landeskirche wird kaum mehr gemacht, und alle Ordnungen und Fixierungen der Landeskirche, die den Majoritäten genehm sind, werden unter den Schutz und die Autorität des Heiligen gestellt. „Die Kirche spricht", „die Kirche verlangt" — diese Wendungen werden wie dem Staate, so Andersdenkenden gegenüber in einem Sinne gebraucht, als handle sich's um die Stimme Gottes gegenüber der Stimme der "Welt, während es sich sehr häufig nur um die Wünsche kurzsichtiger Majoritäten handelt und zugleich um Fragen, in denen der auf christlicher Kultur erwachsene Staat eine sehr viel sichrere Bürgschaft bietet. Dieser Prozeß der Katholisierung des evangelischen Kirchenbegriffs vollzieht sich so zielsicher und siegreich und mit so elementarer Gewalt, daß die Kirchenregierungen augenscheinlich große Mühe haben, sich ihm zu widersetzen. Sie zensurieren ab und zu diese oder jene „Irrlehre" mit der Umsicht und Weisheit, die eine lange kirchliche Erfahrung verleiht; aber sie sind fast machtlos gegenüber der tiefgreifenden Umbildung des Kirchenbegriffs, die sich unter ihren Augen vollzieht, weil sie allmählich die Autorität eines neuen Dogmas gewinnt und sich untrennbar mit der Religion der Majorität der Frommen zu verbinden scheint, die jedes Kirchenregiment respektieren muß. Daß wir Evangelische mit diesem katholischen Kirchenbegriff, der die Kirche des Glaubens und die empirische Kirche identifiziert, allmählich auch alle Folgen des katholischen Kirchenbegriffs mitbekommen — den Fanatismus, die Herrschsucht, die Ungeduld, die Yerfolgungssucht, die kirchliche Uniform, die kirchliche Polizei — liegt auf der Hand und kündigt sich schon an. Nicht Gott der Herr baut sich ja innerhalb der Landeskirchen seine Kirche der Gläubigen, sondern die Majoritäten müssen
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sie bauen und tragen die ganze Verantwortung! Da kann sich niemand wundern, wenn sie unter der "Wucht dieser Aufgabe keinen Mut, keine freudige Zuversicht, keine Geduld mehr besitzen, sondern scheltend und jammernd, schmähend und verfolgend, politisierend und alle Mächte der Welt in Bewegung setzend ihr saures Tagewerk abarbeiten. Selbst die Sprache hat für jeden Kenner bereits wieder den Ton Cyprians und der mittelalterlichen Polemiker erreicht, und der Appell an die Gewalt, der Schrei nach Unterdrückung aller Andersdenkenden in der Form der „Kirchenzucht" ist sehr begreiflich — noch ist nicht abzusehen, wie weit er gehen und ob der Staat ihm etwa gar seinen Arm leihen wird. Die Katholisierung des Kirchenbegriffs ist die stärkste Wurzel der tiefgreifenden Umbildungen, die der Protestantismus im neunzehnten Jahrhundert erlebt. Aber mit selbstständiger Kraft setzen sich einige ihrer wichtigsten Folgeerscheinungen durch. Hier ist vor allem die Stellung zum Bekenntnis zu nennen. Es wurde oben bemerkt, daß in den evangelischen Kirchen der Gegenwart die Theologie zurückgeschoben wird, weil man nach einer breiteren Basis sucht und ungestört sein will. Um so lebhafter wird die Autorität des Bekenntnisses gefordert. Aber in welchem Sinne? In demselben Sinne, in dem die katholische Kirche die Respektierung der Tradition neben der Schrift verlangt. In der katholischen Kirche ist die Tradition in erster Linie Rechtsordnung, die zum Gehorsam und zu Devotion verpflichtet, nicht sowohl Lehre, als die bestimmte, irreformable Form des Kirchendaseins selbst. Der alte Protestantismus aber, so ernst er es mit dem Bekenntnis nahm, hat doch nie vergessen können, daß das Bekenntnis Zusammenfassung des Heilsglaubens ist, lediglich für den Glauben besteht und immerfort gewärtig sein muß, sich aus dem besser verstandnen "Worte Gottes berichtigen zu lassen. "Wer dem gegenüber das Bekenntnis, sei es nun das streng Lutherische,
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sei es irgend ein Exzerpt aus ihm, als irreformable Rechtsordnung aufrichtet und allem zuvor verlangt, daß man sich ihm unterwirft, ja in solcher Unterwerfung die Vorbedingung evangelischer Christlichkeit sieht, der denkt in diesem P u n k t katholisch. Aber wie weit sind wir auf dieser Linie schon vorgeschritten! Die geistige Aneignung und Vertretung der gesamten spröden altprotestantischen Lehre wird eigentlich niemandem mehr zugemutet — soweit man nach den öffentlichen Kundgebungen schließen kann, ist die Beschäftigung mit den Bekenntnisschriften eine höchst geringe; Kirchenzeitungen und Männer, die sich für orthodox halten, lassen sich grobe Verstöße gegen die alte Kirchenlehre zu Schulden kommen; die evangelischen Lehren von der Freiheit und Gnade, von der Rechtfertigung, von der Kirche usw. werden im Namen der Orthodoxie durch Häresien entstellt, ohne daß sich auch nur eine Stimme dagegen erhebt, weil niemand es zu merken scheint; selbst die altdogmatische Christologie wird häufig in einer so rohen Verkürzung reproduziert, daß man an ein innerliches Erfassen derselben bei ihren Vertretern nur schwer zu glauben vermag —; aber um so lauter wird die Forderung einer Geltung des Bekenntnisses sans phrase erhoben. Es mag jedem überlassen bleiben, wie er sich innerlich zu den einzelnen Stücken verhält; aber er soll das Bekenntnis in keinem Punkte anzweifeln oder antasten; denn es soll die intangible Grrundordnung der Kirche sein. Während bei dem eigentümlichen "Wesen des Protestantismus kirchliche Kontroversen über einzelne Lehren unausbleiblich sind und als Zeichen des Lebens und des innerlichen Anteils mit Ruhe und Greduld sachlich ausgefochten werden sollten in der Grewißheit, daß das Licht des Evangeliums nicht erlöschen wird, wird vielmehr in jeder Kontroverse eine Auflehnung wider „die Kirche" erkannt. Folgerecht wandeln sich — wie im Katholizismus — die Lehrprozesse in Insubordinationsprozesse: der Q-ehorsam und die Devotion
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erscheinen als angetastet, und die Entgegnung der herrschenden Partei erfolgt aus der erbitterten und angstvollen Stimmung heraus, die verletzter Autorität und beleidigtem Selbstgefühl eigentümlich ist. Wie der angefochtene Lehrpunkt sachlich zu verteidigen ist, ist die geringste Sorge — nur so nebenbei werden einige apologetische Bemerkungen gemacht, die nirgends rechten Kredit finden; denn man kommt mit ihnen auf das heikle und unbequeme Gebiet der Theologie; wenn man notgedrungen dieses betreten muß, erfolgt nur ein hilfloses Stammeln und das Aufgebot wilder Kontraste und Extremitäten —, die Person des Gregners muß vielmehr niedergeschlagen und ihm deutlich gemacht werden, daß seine Häresie in der Auflehnung wider eine Rechtsordnung besteht. Das Bekenntnis so handhaben heißt es katholisch gebrauchen, und folgerecht wird es damit immer mehr dem innern Leben der Gemeinden entzogen und zu einem Gesetz für den geistlichen Stand. Ich möchte es nicht glauben, daß neulich einmal das "Wort gefallen sein soll: „Träte doch Ν. N. aus der theologischen Fakultät in die philosophische! Dann hätten wir statt eines ungläubigen Theologen einen gläubigen Philosophen"; aber unmöglich ist es bei der stark vorgeschrittenen Stimmung nicht. Welcher Glaubensbegriff und welche Vorstellung von dem Verhältnis der Geistlichen und Laien diesem Worte zu Grunde liegt, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden. Hand in Hand mit der veränderten Stellung zum Bekenntnis gehen die Bestrebungen, die gottesdienstlichen Ordnungen überall kirchenpolizeilich zu uniformieren und die Lehre agendarisch festzulegen. Dem alten Protestantismus waren diese Bestrebungen völlig fremd; wir aber stehen bereits mitten in einer liturgischen Katholisierung unsrer Kirchen. Nach evangelischen Grundsätzen soll der Gottesdienst etwas Freies und Innerliches sein, und so gewiß er Normen braucht, so gewiß sollen diese eben nur
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Normen sein, nach, denen sich der einzelne Geistliche, die Gemeinde und der einzelne Christ frei bewegen kann. Eine Gottes dienstordnung als Rechtsordnung auferlegen, den pünktlichen Vollzug eines vorgeschriebnen Rituals für eine höchst wichtige, notwendige und heilige Sache erachten, das Ritual mißbrauchen, um gewissenhafte Christen zu bedrücken, zu ängstigen, die Aussprache ihres Glaubens zu zwingen und zu belasten, ist nicht evangelisch. An diesem Punkte gerade hat die Reformation eingesetzt, und hier ihren Puritanismus und ihre Freiheit anzutasten, bedeutet eine Verletzung ihres Wesens. Aber wie unsicher sind Tausende von Protestanten an diesem Punkte geworden. Geht man doch geradezu so weit, die agendarischen Ordnungen der Kirche für den Gottesdienst zu benutzen, um durch sie mißliebige theologische Richtungen zu bekämpfen! Mit vollen Segeln steuert man in das gefährlichste Fahrwasser, und die Indifferenz ist, wie immer, der stille Bundesgenosse katholisierender Majoritäten: „eine Kirche muß doch feste Ordnungen haben"; „erst wenn wir das Vorbild der katholischen Kirche in dieser Beziehung erreicht haben, wird der Protestantismus eine Kirche und eine Macht sein!" Neben diesen prinzipiellen Umbildungen sind Symptome in Fülle vorhanden, die die verhängnisvolle Annäherung an katholische Formen bekunden. Die Sakramente werden in unevangelischer Weise vom Wort getrennt und ihnen neben diesem ein besondrer geheimnisvoller Wert beigelegt. Der Puritanismus des Protestantismus wird durch Redensarten wie „die heiligen Gefäße" und viele ähnliche sowie durch eine Art von Heiligkeit, die man gottesdienstlichen Dingen, Formen und Zeiten beizulegen anfängt, gröblich verletzt. Schilderungen von Kirchenvisitationen und andern kirchlichen Feiern werden in einem Tone gegeben, als handle es sich um hierarchische Veranstaltungen. Der geistliche Stand wird in bedenklicher Weise aus den übrigen christlichen Ständen herausgehoben.
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Die in jedem geordneten Kirchenwesen unvermeidliche Aufsicht und Kontrolle und die Abstufungen kirchlicher Amter erscheinen mit einem Schimmer des Heiligen umflossen. Von den Generalsuperintendenten redet man gern als von „Oberhirten" und möchte sie in dem Glänze und der Würde katholischer Bischöfe sehen; ihr öffentliches Auftreten wird beschrieben, als käme der Bote Gottes zu den Gemeinden, und an ihren Gräbern ist, wie Zeitungen versichern, schon gebetet worden: „Erhöre uns um Deines Knechtes willen." Wie schwer haben es diese Männer, der unevangelischen Auffassung entgegenzutreten, die sich an ihr Amt heftet, und welches volle Maß katholischer Gelüste wird unter dem Titel „Selbständigkeit der Kirche" zum Ausdruck gebracht! Vom Kirchenregimente — gewiß dem schwersten Amte, das es heute gibt — wird verlangt, daß es überall eingreife, überall Verordnungen erlasse, nichts werden und wachsen, nichts kommen und vergehen lasse, sondern statt Geduld, Unparteilichkeit und indirekte Pflege zu üben, vielmehr das Polizeiamt sei, das in den kirchlichen Tagesstreitigkeiten von den Majoritäten die Weisungen empfängt. Aber nicht nur in diesen bedenklichen Entwicklungen zeigt sich die Umbildung des alten Protestantismus in eine neue Form, sondern auch in erfreulichen Erscheinungen. Doch läßt sich auch hier von einer Katholisierung, d. h. Verallgemeinerung und Politisierung der evangelischen Kirchen sprechen. Einst war der Protestantismus Predigtkirche und Katechismusschule, nichts mehr; denn „das Wort allein muß es tun" — wie viel reicher, wie viel komplizierter sind seine Lebensformen nun geworden! Ein blühendes Vereinsleben auf evangelischer Grundlage hat sich ausgestaltet. I n segensreicher Weise wirken Diakonissinnen und Diakonen, Stadtmissionare, Sonntagsschullehrer und -Lehrerinnen, kurz die Verkündigung des Worts und die Praxis der Religion hat sich die verschiedensten, abgestuften Organe geschaffen. Auch die religiösen Ver-
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Sammlungen selbst haben sehr mannigfaltige Formen angenommen in freien Erbauungsversammlungen und bis zur äußersten Grenze der Familienabende". I n alle menschlichen Berufsverhältnisse und Korporationen dringt die Religion ein und schafft in ihnen christliche Gemeinschaft und christlich-sittlichen Halt. Auf die Fülle der Fragen, die man die soziale Frage nennt, werden die Kirchen aufmerksam und suchen an ihrem Teile der Not und dem Elend zu steuern. Welch ein andres Bild, wenn man den Protestantismus, wie er vor dreihundert Jahren bestand, mit dem Protestantismus der G-egenwart vergleicht! I n allen diesen Momenten zusammen stellt sich das dar, was man die Katholisierung des Protestantismus nennen darf, und wir sind ein jeder in irgend welchem Maße von dieser Umbildung affiziert. Aber das eben ist das Kritische unsrer Tage, daß die alte, enge, doktrinäre Form des Protestantismus verschwindet, daß das alte Verhältnis von Theologie und Kirche nicht mehr besteht, daß die Religionspädagogie der altern Zeit sich als unzureichend erwiesen hat, daß sich also mit Recht etwas Neues in Erweiterung, Umbildung und Konsolidierung durchsetzt, während die klare Einsicht in die Lebensbedingungen des Protestantismus im Schwinden begriffen ist. Fehlt aber dieses Korrektiv, so kann es nicht ausbleiben, daß wir eine Doublette zum Katholizismus werden. Das kann dann noch immer eine Kirche sein, die Großes zuwege bringt und Seelen tröstet und stärkt; aber der Geist des evangelischen Glaubens und der Freiheit wird aus ihr entschwunden sein. Y. Ein aufgeklärter französischer Katholik hat vor ein paar Jahren in der Revue des deux mondes einen merkwürdigen Aufsatz geschrieben. Ich will einige Ausführungen aus ihm, verbunden mit verwandten Gedanken, wie ich sie im Gedächtnis habe, mitteilen: -Frankreich ist das ortho-
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doxeste Land; denn es ist das religiös indifferenteste Land. Der Katholizismus, wie er ist, ist uns aber gerade recht. Eine weitschichtige Religion von Mythen, Superstitionen, Absurditäten und wiederum, voll tiefsinniger Gedanken, sinnvoller Riten, reichblühender Symbolik mit allen künstlerischen Reizen im Bunde und doch asketisch, allen Stimmungen entgegenkommend, jeden Ring der Geschichte in seinem mächtigen Stamme bewahrend. Zweifel und seelenquälende Fragen gibt es nicht, und wo sie auftauchen, ist die Autorität sofort zur Stelle. Niemandem, am wenigsten einem gebildeten Laien wird aber zugemutet, sich dieses ungeheure System „Religion" geistig und gläubig anzueignen. Vielmehr sind alle Stellungen zu ihm und in ihm möglich und erträglich, und selbst der Spötter bemerkt noch eine Seite, vor der sein Spott stille hält. Also findet hier jede Individualität ihre Rechnung; anders lebt sich die Frau hier ein, anders der Mann, anders der Gläubige, anders der Freigeist: er respektiert und er lächelt. Die Priester allein sind beauftragt, das Ganze in K r a f t zu erhalten; das können sie natürlich nur, wenn sie schon frühzeitig in dies System eingeführt und gegen die moderne Bildung, namentlich gegen die "Wissenschaft, abgesperrt werden. Die seminaristische Erziehung ist daher durchaus am Platze. Nur keine verständige Religion; denn diese wird sofort zudringlich und sucht sich der Köpfe und der Gewissen zu bemächtigen! So steht es, sagt der Katholik, mit dem Protestantismus; er ist eng, borniert, anmaßend und zudringlich. E r verlangt, daß alle dasselbe glauben, und daß sie alles wirklich innerlich glauben, was die Kirche glaubt, und ihre ganze Weltanschauung und Lebensordnung darnach richten. Darum ist er auch zersplittert und politisch machtlos, ein Schlupfwinkel für verschrobne und enge Köpfe. Wie groß, wie universal, wie elastisch ist dem gegenüber der Katholizismus! α Das Bild, das hier vom Katholizismus entworfen wird,
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ist das Bild, das uns droht! Aber sollen wir nicht auf diese drohende Entwicklung eingehen? Sollen wir nicht einen Strich unter unsre Privatmeinungen und unsre Theologie machen und uns in der unter der Hand sich neubildenden Kirche so einrichten, wie sich Origenes in der Kirche des dritten Jahrhunderts eingerichtet hat — in dieser Kirche, die, wie es scheint, unabwendbar kommt, an deren Herstellung die Majoritäten, die Zeitungen, die Indifferenten so zielsicher arbeiten? Und teilen wir nicht selbst ihre Voraussetzungen? Haben nicht auch wir mit dem Intellektualismus in der Religion gebrochen? Wünschen nicht auch wir, daß die Religion, ungehemmt durch lastende Doktrinen, elastisch und frei auf alle die komplizierten Zustände und Stimmungen des Lebens eingehe? Erkennen nicht auch wir an, daß der alte Protestantismus eng \ind spröde war? Also warum zögern? Finden wir uns vielmehr mit dieser Kirche durch Unterwerfung, durch Fides implicita ab — in einem Willensentschluß ist es geschehen — und eilen wir dann unsern Brüdern in die Arme, um die Streitaxt zu begraben und friedlich und wetteifernd mit ihnen die Kirche zu bauen! Die Menschen sind nun einmal in Grlauben und Lehre nicht unter eine Formel zu bringen; also möge der Klügere nachgeben und so fort, bis die handfestesten Bekenntnisse allein das Feld behaupten. Wer eine große Kirche will, muß sich ihrer Natur und Montur anbequemen. Die Vernünftigen, Geistigen und Innerlichen sind immer nur eine unscheinbare Sekte in der Kirche gewesen! Sie mögen ihre Gedanken unter Hüllen produzieren! Es gibt hundert verschiedne Weisen, um sich mit einer gegebnen Formel elastisch auseinanderzusetzen, und ebensoviele Mittel, um eine erkannte Wahrheit zu verschleiern! Und ist die Wahrheit unter dem Schleier nicht besonders reizvoll? Man hebt den Schleier, deutet an, und senkt ihn wieder! Und läßt sich das Letzte in der Religion überhaupt in Worte fassen? Wenn nicht — warum
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soll man sich nicht Worte gefallen lassen, und warum soll man nicht schweigen? Wirklich — das ist verlockend! Welchen Denkenden und Sorgenvollen hat diese Versuchung nicht schon gepackt. Aber es ist die Versuchung; denn so wird der Protestantismus , das Evangelium und die Wahrheit preisgegeben. Ginge unmerklich die Entwicklung so weiter, und würden wir einfach ihr gegenüber kapitulieren, so würde sich aus der Konsolidierung des Protestantismus ein zweiter Katholizismus bilden, nur dürftiger und religiös minder ernst als der erste; denn — der römische Katholizismus hat den Papst und er hat die Heiligen und Mönche. Die werden wir nicht bekommen. In der mönchischen Tendenz auf die Heiligenbildung, in dieser hingebenden, weltflüchtigen Frömmigkeit liegt im Katholizismus ein ungeheurer religiöser Antrieb und ein Korrektiv gegenüber der verweltlichten, komplizierten Kirche, das wir nicht besitzen. Und im Papsttum liegt die Kraft der Anpassung an die Zeitlage, die persönliche Autorität gegenüber der Autorität des Buchstabens, die Konservierung des Gedankens, wenn auch in politischer Umformung und Verzerrung, daß die Kirche Gottes letztlich nicht von einer Tradition regiert werden darf, sondern von lebendigen, vom Geiste Gottes bewegten Menschen. Aber im Protestantismus, wenn er dauernd auf die Linie des Katholizismus geriete, wären diese Größen nicht mehr zu erreichen; denn sie sind durch seine Voraussetzungen ausgeschlossen. Das bleibt in ihm, mag er auch noch so tiefgreifende Wandlungen erleben, unveränderlich bestehen, daß er Gläubige und nicht Heilige erziehen will, und daß er somit die Ausgestaltung des äußern und innern Lebens in der Form asketischer Frömmigkeit den Einzelnen überläßt. Zwar ist auch hier in dem Gebiet des Protestantismus ein Wetterleuchten zu bemerken, das katholische Tendenzen beleuchtet. Als neuste Erkenntnis und Weisheit wird uns mitgeteilt,
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daß die originale und klassische Form der Religion stets die Ekstase, die Vision und die asketische Yita coelestis sein und bleiben muß. Diese Annahme führt direkt auf die katholische Spur, daß die „Heiligen" die eigentlichen Religiosi sind, an die die Gläubigen als Religiosi zweiter Ordnung sich anlehnen. Sie verwirft die protestantische Überzeugung, daß überall der Glaube vorangeht, daß er das Ganze ist, und daß er selbständige und freie Gotteskinder in mannigfaltiger Ausprägung schafft. Aber wir dürfen diese atavistische Betrachtung der Religion, aus der wir freilich Beherzigenswertes lernen können, beiseite lassen, sie wird im Protestantismus nicht zur Herrschaft kommen, und sie wird die Uberzeugung nicht verdrängen können, daß eine Religion um so höher steht, je ruhiger, freudiger und friedvoller sie den ganzen Menschen durchdringt. VI. Es sind bedenkliche und sorgenvolle Ausblicke, die wir bisher eröffnet haben. Aber, Gott sei Dank, noch gibt es ein Gegengewicht, noch gibt es Kräfte in unsern evangelischen Landeskirchen, die einer unprotestantischen Konsolidierung entgegenarbeiten. Sie werden längst erwartet haben, daß ich sie nenne; denn sie stehen Ihnen vor der Seele. Es sind zwei Elemente, die noch im ganzen Gebiet des Protestantismus lebendig sind. Das eine — es wurde eben angedeutet — ist die Überzeugung, daß die Religion letztlich nichts andres ist als die stetige Stimmung des Herzens im kindlichen Vertrauen auf Gott, jene feste, freudige Zuversicht zu Gott, wie sie Paul Gerhardt in seinem Liede „Ist Gott für mich, so trete gleich alles, wider mich" ausgesprochen hat. Das andre ist, daß dieses Kindesvertrauen untrennbar verbunden ist mit der schlichten, einfachen Moral, daß das sittliche Leben mit seinem ganzen heiligen Ernst das Korrelat zur Religion ist, ohne das sie Abgötterei und Seelentäuschung wird. Diese Überzeugungen
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— in den Seligpreisungen der Bergpredigt sind sie zusammengefaßt — sind die starke K r a f t des Protestantismus und sein verborgner Schatz. Wie sie ohne Frage sein Wesen innerhalb des gemein Christlichen begründen, so sind sie zugleich der wesentliche Inhalt des Evangeliums selbst; denn man mag noch so viel an den Worten Jesu Christi herumforschen und sie mit zeitgeschichtlichen, apokalyptischen und asketischen Gedanken zusammenhalten, man wird doch schließlich wieder bei der alten kirchlichen Einsicht anlangen, daß das Wesen des Evangeliums nicht in diesen Nebendingen zu suchen ist, sondern in der Verkündigung der Kindschaft und der Sündenvergebung und in dem heiligen Ernst, mit dem das Sittengesetz hier aus irreligiösen Verbildungen herausgeführt und dem Gewissen eingeprägt ist. Aber ich kann von diesen hohen Dingen nicht reden, ohne einen Ehrenkranz des innigen Dankes auf das Grab A l b r e c h t R i t s c h i s zu legen. E r hat die Grundgedanken des Evangeliums und der Reformation kräftig und klar erfaßt und aus den romantischen, kirchenpolitischen, philosophischen und mystischen Verklitterungen und Banden herausgeführt. Er hat nichts neues entdeckt, und andre mögen andern zu Dank verpflichtet sein, aber die große Mehrzahl derer, die in diesem Saale versammelt sind, verdanken ihm die christliche Zuversicht und Freudigkeit. Das soll ihm bei uns nie vergessen sein! Die beiden Grundelemente christlicher Religion, die ich eben genannt, leben aber noch in unsern protestantischen Landeskirchen; sie leben auch im Herzen unsrer evangelischen Brüder, mit denen wir als Theologen zu kämpfen gezwungen sind; darum war es eine pessimistische, einseitige Betrachtung, die uns am Protestantismus zu verzweifeln antrieb. Nein — wir bleiben auch in diesen kritischen Zeitläufen treu bei seiner Fahne; wir bleiben in unsern Landeskirchen und kämpfen in unsrer Kirche, die ihr Erb-
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gut nicht verloren hat, f ü r die Kirche, damit sie ihre Krone behalte, damit sie innerhalb der Konsolidierung, Verbreiterung und Politisierung, die sie in unsrer Epoche erlebt, nicht ein heilig-weltliches Institut werde, damit sie eine Kirche des Glaubens, der Freiheit und der Geduld bleibe. Wir sind nicht in der Lage, sie zu leiten; aber wir können ein Gregengewicht ausüben, und weil wir es können, ist es unsre heilige Pflicht, der wir nicht entsagen dürfen. Vergessen wir auch nicht, daß der Protestantismus in jeder Epoche, die er durchlebt, unter den schwersten inneren Gefahren gestanden hat: einen begrifflich reinen Protestantismus hat es niemals gegeben. Wir kämpfen also nur, wie unsre Väter auch gekämpft haben. VII. Was aber ist uns not? Was kann geschehen? Ich will drei Tragen aufwerfen und sie kurz zu beantworten versuchen. 1. Wenn der Intellektualismus des alten Protestantismus gebrochen ist und sich unsre Landeskirchen auf breiterer Grundlage konsolidieren — wie fassen wir den evangelisch-protestantischen Glauben? Gewiß, es ist möglich, eine Zeit lang eine Gesinnungsgemeinschaft zu bilden ohne eine Bekenntnisgemeinschaft, eine Gesinnungsgemeinschaft, die feste Prinzipien hat und sie durch die Tat bewährt. Aber die Aufgabe, den vorhandnen evangelischen Bekenntnissen ein Bekenntnis hinzuzufügen, das die wesentlichen Punkte des Heilsglaubens als Norm des kirchlichen Amts und der Kirchenleitung enthält, darf nur aufgeschoben, nicht aufgehoben werden; denn eine solche feste Form ist ein der Kirche unentbehrliches Schutz- und Kampfmittel. Auch kann sich ein solches Bekenntnis nicht ohne entschiedne Auseinandersetzung mit der Zeitbildung, mit den Erkenntnissen in Natur und Geschichte entwickeln, als ein kurzer Inbegriff der Glaubenslehre, deren eigentliche Auf-
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gäbe immer darin bestehen wird, auch Apologetik zu sein. Die Forderung eines undogmatischen Christentums und die Behauptung, man könne die Selbständigkeit der Religion dadurch am besten betätigen, daß man die andern Geistesgebiete sich selbst überläßt, ist verfehlt. Das Moralische freilich braucht man nicht erst zu formulieren, denn das versteht sich, Gott sei Dank, im Protestantismus immer von selbst. Unsre alten Bekenntnisse haben also ganz recht, wenn sie das eigentliche Wesen der christlichen Religion, d. h. den G-lauben an Gott und an Jesus Christus, den Sohn Gottes, im Bekenntnis zum Ausdruck gebracht haben. Auf ihren Spuren haben wir uns zu halten; aber einfach bei ihnen beruhigen können wir uns nicht; denn wir sind durch eine verwickelte Geschichte von ihnen getrennt, und niemand unter uns kann sich einfach in die Situation, die Vorbedingungen, den Erkenntnisstand zurückversetzen, aus dem sie entstammen. Darum können sie heute in der Kirche gar nicht mehr scharf und bestimmt in Wirksamkeit gesetzt werden; Abstriche und Abmilderungen müssen vielmehr überall gemacht werden. Dieser Zustand muß einmal aufhören; sonst droht die Greschichte der protestantischen Kirchen in unberechenbare Zufälle zu versinken und der arbiträren Leitung der Majoritäten zu verfallen. Mag auch die heutige Zeit nach menschlichem Ermessen f ü r eine Bekenntnisbildung so ungeeignet wie möglich sein, mögen die auch Spott und Hohn ernten, die diese Forderung stellen — die Aufgabe, den alten evangelischen Glauben neu, schlicht und klar in der Sprache der Gegenwart auszusprechen, dürfen wir nicht preisgeben. J e breiter und fester sich die Landeskirche konsolidiert, um so notwendiger ist es, ihre evangelisch-protestantische Eigenart in einem Bekenntnis der Gegenwart zum Ausdruck zu bringen; denn die evangelischen Kirchen sind die Kirchen des Worts, des Glaubens und der innerlichen Zustimmung. Und in diesem Sinne müssen wir wünschen, daß das altprotestan-
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tische Verhältnis von Theologie und Kirche nicht hinfalle. Die Theologie muß eine Fiihrerin der Kirche bleiben: denn ihre Hauptaufgabe — wenn sie auch eine geschichtliche Wissenschaft geworden ist — kann doch nur die sein, das Bild der Persönlichkeit Jesu Christi, des Herrn und Heilandes, sicherer zu erfassen und darzustellen. 2. Wenn der Intellektualismus des alten Protestantismus gebrochen ist und sich unsre Landeskirchen auf breiterer Grundlage konsolidieren — wie erziehen wir uns selbst und unser Volk in der Religion? Wir haben die Überlieferung durch die alte Glaubenslehre zu erziehen, und gewiß — wir wollen die Schätze, die in ihr liegen, fleißig brauchen. Wir wollen auch nicht vergessen, daß alles, was wächst, in Rinden wächst, und daß wir überall an die Vergangenheit anzuknüpfen haben. Aber auf ein Doppeltes glaube ich doch besonders hinweisen zu müssen. Wir sind nicht elastisch genug in der Ausbeutung und Verwertung der modernen Gedankenschätze zu gunsten der religiösen Erziehung. Wie sehr ist uns hier das Christentum in England voraus! Welch ein breiter und tiefer Strom religiöser Gedanken durchzieht dort die Literatur, und umgekehrt, wie energisch und umfassend nimmt dort die Religion Anteil an allen Bewegungen des Geistes! Bei uns dagegen sind nur bescheidene Anfänge in dieser Hinsicht vorhanden, und wo die Religion Fühlung sucht mit der Literatur, da geschieht es in der Regel noch immer in einer kindlichen Weise. Und doch — welche Schätze birgt auch unsre Literatur, und gerade die klassische, die zur Vertiefung und Verteidigung des religiösen Sinns dienen können. Ich weise nur auf G o e t h e hin, ζ. B. auf seine Gespräche mit Eckermann, seine „Maximen und Reflexionen" und vieles ähnliche. Wir können nicht erwarten, daß unser Glaube eine Macht in dem geistigen Leben unsers Volks wird, wenn wir nicht zu zeigen vermögen, daß sich in ihm die tiefsten Erkenntnisse des Menschenlebens und
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der Geschichte zusammenschließen und durch ihn K r a f t und Weihe erhalten. Aber nach einer andern Seite hin bedarf unsre religiöse Erziehung einer Ergänzung. Den Satz unsers Katechismus verstehen lernen: „Wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit", ist das Ziel alles christlichen Unterrichts; aber ich meine nicht zu irren, wenn ich behaupte: daß der evangelische Glaube (eben weil er Glaube an die Sündenvergebung ist) freudige, mutige und selbständige Persönlichkeiten schafft, das muß gezeigt werden. Und damit im Zusammenhang gilt auch hier — wir müssen elastischer und reicher werden! Wie viele Typen religiösen Lebens und christlicher Eigenart hat der mittelalterliche Katholizismus erzeugt und ertragen. Suchen wir doch in dieser Beziehung auf evangelischem Boden ihn nachzuahmen. Unsre Zeit bedarf wahrlich nicht einförmige Institute, sondern erweckte, geschlossene und selbständige Persönlichkeiten in mannigfaltigster Ausprägung. Eben deshalb habe ich die N a u m a n n s c h e Bewegung freudig begrüßt, weil sie mir ein Zeichen zu sein scheint, daß auf positiver christlicher Grundlage freie und selbstständige Persönlichkeiten ein großes Werk unternehmen. Gewiß, das Evangelium hat kein gesetzliches soziales Programm; aber das christliche Gewissen in bezug auf die Not und das Elend der Brüder zu gemeinschaftlicher Hilfeleistung verfeinert sich, und diese Vertiefung des Gewissens muß der christlichen Charakterbildung zu gute kommen. Endlich, 3. AVenn der Intellektualismus des alten Protestantismus gebrochen ist und unsre Landeskirchen in Gefahr stehen, in einen falschen Katholizismus überzugehen — wie fassen wir unsre Stellung in diesen Kirchen auf? Nach dem Ausgeführten habe ich darüber wenig mehr zu sagen: es gilt, zu bauen und Geduld zu üben. Weder können wir gegebne Kirchen leiten noch sprengen noch neue stiften wollen. I n diese Landeskirchen gehören wir hinein; hier
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haben wir unsern Beruf empfangen, mit ihnen wissen wir nns einig in den Hauptstücken evangelischen Glaubens, und in ihnen haben wir noch immer Spielraum und Freiheit, nach unserm Gewissen zu leben und zu wirken. Die Kämpfe werden nicht ausbleiben, sie werden heißer werden, aber müde machen sollen uns auch die Mächtigsten nicht, und auch nicht unfreudig. Impossibile est, ut non laetetur qui sperat in Domino!
PHILIPP MELANCHTHON
Rede bei der Feier zum vierhundert jähr igen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchthon's gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin am 16. F e b r u a r 1897.
Unsere Hochschule entschließt sich selten dazu, die stille Arbeit in den Hörsälen zu unterbrechen und die Kommilitonen in diesen festlichen Raum zu laden. Der Geschichte der Wissenschaft und unserer Geschichte ist er geweiht, und nur das, was f ü r sie bedeutungsvoll ist, kann hier eine Feier beanspruchen. So beweist Ihnen bereits unsere Einleidung, daß auch die Universität den Mann, dessen Andenken heute alle Protestanten einigt, dankbar verehrt und sich seiner universalen Bedeutung f ü r die Wissenschaft und Bildung wohl bewußt ist. Hier bei uns ist jüngst seine Stellung sowohl in der Geschichte der Geisteswissenschaften als des gelehrten Unterrichts bestimmt worden, und unserer Hochschule gehört der Gelehrte an, der unermüdlich tätig ist, verborgene Schriften und Briefe des großen Mannes ans Licht zu ziehen. Nicht mit leeren Händen kommen wir zum Feste. P h i l i p p M e l a n c h t h o n , der Professor zu Wittenberg, war kein Prophet und Heros wie L u t h e r , kein kühner Denker wie S e r v e t u s oder S e b a s t i a n F r a n c k , kein Entdecker und kein Erfinder. Aber alle die Kräfte und Tugenden, die in diesen Räumen am höchsten geschätzt werden, haben ihn ausgezeichnet — das unermüdliche wissenschaftliche Streben, die ausgebreitetsten Kenntnisse, die Erfurcht vor der Wahrheit, der zuversichtliche Glaube an die sittigende Macht der Bildung und, nicht zum letzten, eine unvergleichliche Lehrgabe. Indem er dies alles mit der höchsten Pflichttreue ausbildete, mit unsäglichem Fleiße befestigte und in den Dienst eines fortschreitenden Zeit-
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alters stellte, wurde er der Lehrer des Protestantismus und der Lehrer Deutschlands. Auch M a r t i n L u t h e r ist ein deutscher Professor gewesen; aber er stand zugleich in einem höheren Beruf, und so tollkühn wird niemand unter uns sein, ihn als vorbildlichen Kollegen in Anspruch zu nehmen. P h i l i p p M e l a n c h t h o n aber hat zeitlebens nichts anderes sein wollen als der unsrige, ist der unsrige geblieben — außerhalb der Universität gab es f ü r ihn kein Leben — und hat in diesem Beruf alle seine Kräfte entwickelt. E r hat den Typus des deutschen Professors geschaffen; er hat dem Vaterland einen neuen führenden Stand erweckt, den ehrenfesten und erleuchteten, nicht priesterlichen Stand des akademisch gebildeten Beamten und des höheren Lehrers. E r hat dadurch den Grund zur Größe protestantischer Gemeinwesen gelegt. Dieser bescheidene Professor, der sich nie als Prometheus empfand, außer wenn er seine Fesseln in einer barbarischen Umgebung beklagte, formte doch Menschen nach seinem Bilde; aber während wir heute staunend und dankbar die Erüchte seiner Arbeit überschauen, beschloß er sein großes Tagewerk, ohne zu ahnen, was er der "Welt geleistet hatte. „Wir haben beide ausgehalten in der Niedrigkeit des Schullebens", r u f t er kurz vor seinem Tode seinem Herzenfreunde C a m e r a r i u s zu, „und an unserem Ort getan, was wir konnten. Einigen hat doch wohl unsere Arbeit genützt, Schaden hat sie gewiß — das darf ich hoffen — niemandem gebracht." So spricht der Mann, dessen Lebensarbeit sich an Umfang nur mit der von L e i b n i z und K a n t vergleichen läßt, dessen Einfluß aber, dank der geschichtlichen Stelle, an der er gestanden, die "Wirksamkeit jener beiden Männer doch noch weit übertroffen hat. E r hat die deutsche Bildung von der priesterlichen Bevormundung befreit und von der klerikalen Stufe zunächst auf die philosophisch-theologische gehoben — das war der notwendige Durchgangspunkt, um eine gediegene Laienbildung vorzubereiten, die doch den
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Zusammenhang mit der Religion und der Geschichte nicht verlieren sollte. Sein christlicher Humanismus ist Klammer und Brücke zugleich gewesen. Wenn wir heute fragen, wem es unsere Nation hauptsächlich zu verdanken hat, daß aus der Reformation nicht ein Bruch in ihrer Religionsund Kulturgeschichte entstanden ist, so müssen wir antworten: nächst dem Reformator selbst, unserem M e l a n c h t h o n . J a , wir dürfen noch mehr sagen — L u t h e r wäre wahrscheinlich ohne diesen Mitarbeiter nicht imstande gewesen, jene Vermittelung des Neuen mit dem Alten durchzuführen, die allein das "Wachstum und die Zukunft einer über den ganzen Umfang des geistigen Lebens sich erstreckenden Bewegung sicher stellte. Neben dem Propheten muß der Pädagog stehen. Grewiß, L u t h e r war selbst Pädagog — ein Blick auf seinen Katechismus beweist das. Aber auch seine Pädagogie hat etwas Heroisches. Ein Grundgedanke erfüllte seine Seele; das Ziel hatte er im Auge, nicht den Weg. Die Kleinarbeit, die langsame, geduldige Erziehung zum Sittlichen auf allen den unzähligen Linien, auf denen sich das menschliche Leben bewegt, war nicht seine Sache. Hier tritt der Freund ein; er erzieht das gegenwärtige G-eschlecht. Oftmals scheint er herabzustimmen, zu hemmen, Altes und Neues zu mischen — Kraft, Reiz und Schmelz des frischen G-eistes scheinen verschwunden, sind wirklich oftmals verschwunden. Aber wer darf klagen! Vielleicht gibt es im Leben des Einzelnen stürmische Erweckungen, die nachhaltig sind; im Leben der Völker sind die Ekstasen, auch wenn sie ein wahrhafter Prophet erweckt hat, nur flüchtige, ja bedenkliche Erscheinungen. Das Bessere wächst nur langsam, und weder der Lehrende noch die Lernenden bieten der Welt ein entzückendes oder aufregendes Schauspiel. Aber die Geschichte urteilt schließlich gerecht: ein jedes Kind weiß heute zu erzählen, daß unser Vaterland zwei Reformatoren besessen hat, nicht mehr und nicht
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weniger — Luther und Melanchthon. Trotz des ungeheuren Abstandes ist der Pädagog dem Propheten unter dem Namen „Reformator" beigesellt worden. Die Geschichte hat keinen ruhmvolleren Kranz zu verleihen! — Der stille Gelehrte, dem alles Stürmen und Drängen zuwider war, hat doch einst selbst zwei Sturm- und Drangperioden erlebt, bis er die Eigenart und die Grenzen seiner Anlage und Bildung erkannte. Aber er ist den Idealen, die ihm jede dieser Perioden geschenkt hat, nicht untreu geworden — ihrer Bewahrung und Yermittelung hat er sein Leben geweiht. Geboren zu Bretten in Baden, dort wo der fränkische und der allemannische Stamm sich verschmelzen, ist er, der Großneffe R e u c h l i n s , aufgewachsen unter einem milden Himmelsstrich und edlen hochstrebenden Menschen. Zeitlebens hat er dort seine Heimat gesehen und sich an der Elbe im Exil gefühlt. Frühreif, mit vierzehn Jahren Heidelberger Baccalaureus, mit siebzehn Tübinger Magister, unter dem Prinzipate der neuen Philologie in alle Wissenschaften zugleich eindringend, erwarb er sich durch seinen eisernen Fleiß und sein ungemeines Formtalent das bewundernde Lob des Erasmus. „At deum immortalem", ruft dieser aus, „quam non spem de se praebet paene puer Philippus Melanchthon, utraque litteratura paene ex aequo suscipiendus! quod inventionis acumen! quae sermonis puritas et elegantia! quanta reconditarum rerum memoria! quam varia lectio, quam verecundae regiaeque prorsus indolis festivitas!" Die Bekämpfung der Scholastik und die Herstellung der wahren Philosophie, d. h. des echten Aristoteles, waren sein Ziel, und voll jugendlichen Frohmutes stellte er sich in die Reihe der kecken Geister, die der alten Welt den Krieg erklärt hatten. Es waren die Frühlingstage jener klassischen, in Wahrheit romantischen Bewegung, denen doch kein Sommer gefolgt ist. Der herrliche, aber in seiner Isolierung undurchführbare Gedanke des Erasmus,
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die Kirche und die Gesellschaft durch, die Wissenschaft zu reformieren, und die schimmernde Hoffnung, durch die Form jede Schwierigkeit des Denkens und Lebens zu überwinden, begeisterten die Gemüter. Zuversichtlicher und rücksichtsloser hat kaum einer diesen G-edanken geltend gemacht als der jugendliche Melanchthon in seiner Rede: „De corrigendis adolescentiae studiis", mit der er im August 1518 sein Lehramt an der Universität Wittenberg antrat: Alles was bisher auf den Universitäten nach der alten Methode getrieben worden ist, ist nur Dunkelwerk und Possen gewesen; eine radikale Reform ist notwendig. Wie sie mit den Mitteln der griechischen Sprache, des wahren Aristoteles und mit Hilfe reiner Ausdrucksformen durchzuführen ist, werde er zeigen. So dozierte mit dem Eifer des Stürmers und Drängers, aber auch auf dem Grunde anerkannter Leistungen der junge Professor, und weil man auch in Wittenberg der Scholastik den Krieg erklärt hatte, zündete sein Wort. Aber M e l a n c h t h o n hatte sich noch nicht selbst gefunden, als er so sprach. Berückt von dem neuen Geist und noch wehrlos gegen den Zauber blendender Rhetorik hat er die gediegenen und maßvollen Kräfte seiner Eigenart noch nicht erkannt. Durchschlagender Beweis hierfür ist, daß der kühne Humanist im Laufe weniger Monate in Wittenberg eine vollkommene Umstimmung erlebte. Daß das originale, biblische Christentum etwas anderes sei als die scholastische Kirchenlehre, wußte er bereits, als er nach Wittenberg kam. I n dieser Uberzeugung lag das Band, das ihn und die Humanisten mit L u t h e r verband, der im J a h r zuvor mit seinen Thesen Deutschland erweckt hatte. Aber was nun folgte, war doch ganz unerwartet: L u t h e r s Persönlichkeit und K r a f t bemächtigte sich nicht nur vollkommen des neuen Kollegen, sondern sie bestimmten ihn auch dazu, alle seine früheren Ideale, den ganzen bisherigen Inhalt seines Lebens zunächst preiszugeben. Wie der Mann
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im Gleichnis, der alle seine Habe verkaufte, um die eine köstliche Perle zu kaufen, so gab Melanchthon zunächst alles dahin, und wie er bisher in Erasmus gelebt hatte, so stellte er sich nun mit Leib und Seele in den Dienst L u t h e r s . Doch man darf das persönliche Element nicht übertreiben. Wer kann leugnen, daß es der christliche Glaube, wie Luther ihn verkündete, gewesen ist, der seine Seele wirklich erfaßte! Ihn hat er ergriffen und bis zu seinem Tode als die K r a f t seines inneren Lebens festgehalten. Die schlichten Worte in seinem Testament: „Ago gratias reverendo domino Doctori Luthero, quia ab eo evangelium didici", lehren hier mehr als hundert Beweise. „Ich habe von ihm das Evangelium gelernt" — das ist das große unerschütterliche Erlebnis, das ihn fortan trotz aller Spannungen und Täuschungen an die Sache der Reformation und Wittenbergs gekettet hat. Dennoch aber sind wir überrascht, in welchem Maße er in den ersten Jahren seiner Wittenberger Wirksamkeit L u t h e r gleichsam aufgesogen hat. Die Stelle, wo sein Fuß bleiben wird, hat er zwar gefunden, aber noch immer ist er nicht er selbst. Denn nun ist er drei Jahre lang Stürmer und Dränger in der reformatorischen Bewegung: Die Schulphilosophie ist Abgötterei, die philosophische Ethik Widerchristentum; Griechenland lehrt nur heidnische Werke und verdirbt die Jünglinge; Paulus, niemand anders als Paulus, soll in der Kirche und in der Wissenschaft gelten. Der Humanist wandelt sich in den Theologen, aber der Rhetor droht zu bleiben. I n diesem Sinne hat der jugendliche Lutheraner geschrieben. I m heißen Kampfe wider ein absterbendes Zeitalter vermag das aufstrebende nur Kontraste zu erkennen und verkennt die Nuance; die ernüchternde Erfahrung bleibt aber nicht aus, daß man nicht ungestraft die Kräfte der Vergangenheit preisgibt. Doch aus jener lutherischen Sturm- und Drangperiode M e l a n c h t h o n s besitzen wir ein Werk von unvergäng-
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licher Bedeutung. An diesem Werke hat die Rhetorik keinen Anteil, die loci communes, die erste evangelische Dogmatik (1521). I n diesem Buche haben die reformatorischen Gedanken L u t h e r s ihre zusammenhängende Darstellung gefunden. Zum ersten Male in der abendländischen Kirche wird die christliche Religion nicht beschrieben im Schema eines Gott-Welt-Dramas und einer heiligen Physik, sondern als die Erweckung und der Prozeß eines neuen inneren Lebens. Die Form der loci hemmt zwar die äußere Ausbildung eines straffen Zusammenhangs, aber im Grunde ist alles einheitlich gedacht. L u t h e r selbst hat dieses Werk als ein kanonisches bezeichnet; es ermöglichte erst den vollen Uberblick über sein Gedankengefüge. Uber seine Gedanken — denn es ist vielleicht beispiellos in der Geschichte, daß ein Mann von den Fähigkeiten M e l a n c h t h o n s sich ganz und gar zum Organon eines anderen gemacht hat. Indem ihn L u t h e r s Persönlichkeit überwältigt hatte, scheint alles Eigene zerschmolzen. Nur die Form, diese klare, natürlich fließende Darstellung, gehört dem großen Schüler an; sonst ist alles übernommen, das Evangelium Luthers mit seinen Konsequenzen nach rückwärts und vorwärts, mit seinem Tiefsinn und seinem dunklen Hintergrund, in welchen die Antike, der Humanismus und die Freiheit zu versinken drohten. Aber die Rüstung des Gewaltigen, der seiner eigenen Logik folgte, konnte nicht die Rüstung des Professors bleiben. Als die Schwarmgeister in Wittenberg erschienen, da zeigte es sich, daß der Professor dies Schwert nicht zu führen verstand, daß vielmehr der ungestüme Held die Bildung und den Zusammenhang mit der Geschichte schützte. Seitdem, d. h. seit den Jahren 1522 und 1523, bemerkt man, wie M e l a n c h t h o n unsicher wird, ob man mit Paulus und der Theologie allein die Christenheit bauen könne. Zu seinem Schauder erblickt er unter den Kräften, die die Reformation in den Gemütern entfesselt hat, auch die K r a f t
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der Barbarei, die sich mit dem G-lauben zu decken sucht, und sieht eine „dümmere und gottlosere Sophistik" und eine Zuchtlosigkeit der entfesselten Massen heraufsteigen. Diese Erfahrung — und sie wiederholte sich täglich — hat einen Druck auf sein Wesen ausgeübt, der niemals geschwunden ist. Auch Luther hat zürnend die konträren Folgen der Reformation empfunden, aber er wußte, daß er mit seinem Gott im Bunde war; der Lauf der Welt kümmerte ihn wenig. Griff er einmal in denselben ein, so traf er den Nagel auf den Kopf und zeigte, daß er auch der Bildung und der Wissenschaft ihr Recht gab. Melanchthon aber war es nicht gegeben, auf dieser Höhe zu atmen und das Sorgen zu lassen. Allein eben aus dieser unermüdlichen Sorge gestaltete sich der ihm eigentümliche Beruf des Reformators; in ihr fand er sich selber; denn die Sorge spornte seine Gewissenhaftigkeit, zunächst für seine Studenten, dann für die reformatorische Wissenschaft, dann für den ganzen Umfang der Reformation im deutschen Vaterland. Seit dem Jahre 1524/25 etwa ist die Entwicklung des Mannes vollendet. Mit dem Entwurf der Visitationsartikel betritt er dann die Linie, die er nicht mehr verlassen sollte. Dreiunddreißig Jahre hat er nun gearbeitet als der große, universale Lehrer des Protestantismus. Welche Ziele ihm dabei vorschwebten und welche Mittel er in Wirksamkeit setzte — sowohl in seiner kirchlichen wie in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit; denn beides geht immer Hand in Hand —, das lassen Sie mich mit wenigen Strichen angeben. I m Vordergrund steht auch ihm das reine Evangelium, das erneuerte Christentum mit seiner Glaubensgewißheit und Innerlichkeit, deshalb auch Recht und Pflicht des Einzelnen, dasselbe ohne priesterliche Bevormundung sich anzueignen. Wie Luther ist er davon durchdrungen, daß dies die eigentliche Aufgabe des Zeitalters ist, und in Luther verehrt er den Führer und Propheten. Aber daneben ist
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er zurückgekehrt zu seiner ersten Liebe, zum Ideale seiner Jugend, und ist überzeugt, daß das klassische Altertum unersetzliche G-üter erarbeitet hat, nämlich eine wohlgefügte, natürliche und wissenschaftliche Erkenntnis Gottes und des Menschen, feste sittliche Richtlinien und eine sichere Methode, die Wahrheit zu ergründen und darzustellen. Darf dieser herrliche Ertrag nicht preisgegeben werden, weil er allein vor der Barbarei und Sittenlosigkeit schützt, so gilt es, die Sache des erneuerten Christentums mit ihm zu verbinden. Das neu gewonnene innere Verhältnis zu dem Unsichtbaren soll seine Ausgestaltung in der Welt des Denkens und Handelns mit Hilfe der Kräfte empfangen, die die Menschheit in ihrer klassischen Zeit erarbeitet hat. „ Sapiens et eloquens pietas" — in dieser Losung schließen sich alle Ideale zusammen. Aus der Frömmigkeit im Bunde mit den Sprachen und Wissenschaften soll sich ein Strom von sittigenden Wirkungen über das ganze Leben und über alle Gremeinschaftsformen ergießen. Der Bund aber zwischen dem christlichen Glauben und der Klassizität ist so gedacht, daß diese einerseits die G-rundlage abgibt, sofern sie die Freiheit und die natürliche Anlage des Menschen zum Sittlichen nachweist, andererseits die Ausgestaltung der Glaubenserfahrung in allen empirischen Beziehungen des Lebens übernimmt. Die Aufgabe, die Melanchthon aus dieser Erkenntnis erwuchs, war eine theoretische und praktische zugleich. Als theoretische ergänzte sie die Aufgabe Luthers, mußte aber auch in Konflikt mit ihr geraten. Melanchthon wollte das Leben vei'bessern, Luther es neu begründen. Luther schien den Grlauben allein zuzulassen und alle übrigen Kräfte abschätzig zu beseitigen. Wer ihn predigen und schreiben hörte, konnte wohl meinen er wolle ein entscheidendes inneres Ergebnis — einen Gott haben — allein gelten lassen und aus diesem Kapitale alles, auch alle Sittlichkeit, alle Bildung und alle Erziehung bestreiten. Daß
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gerade er den frischeren und tieferen Blick auch für die Selbständigkeit des natürlichen Lebens besaß, daß er viel sicherer als irgend ein Anderer das Heilige und das Profane unterschied, daß seine harte Lehre vom gebundenen Willen endlich einmal den reizenden Schleier zerriß, der aus Religion und fragwürdiger Philosophie gewoben war, das ahnte niemand. Was Melanchthon hier als Gefahr empfand, was jeder gebildete Zeitgenosse so empfinden mußte, war die Bedrohung des sittlichen Lebens und einer fortschreitenden Entwicklung. Die dogmengeschichtlichen, augustinischen Hüllen, von denen Luther seine tieferen Anschauungen nicht zu befreien vermochte, ließen diese Wirkung in der Tat befürchten, und wenn kleinere Geister anfingen, auf ihren Instrumenten die Töne Luthers nachzuspielen, welch eine barbarische Musik mußte da entstehen! Niemand hat das tiefer gefühlt, als der zartsinnige, sittlich rein empfindende Melanchthon, und so bemühte er sich, vorsichtig, prüfend, rücksichtsvoll die Gedanken Luthers zu bearbeiten, zu beschneiden und zu ergänzen. Ein saures, mühsames Tagewerk, das ihm Niemand recht dankte und das doch ganz unerläßlich war, wenn das gegenwärtige Geschlecht erzogen werden sollte. Welch eine Summe von Fleiß, welch eine Umsicht bezeugen die immer wieder aufs neue durchgefeilten dogmatischen Arbeiten Malanchthons! Neben der ängstlichen Sorge, durch keine Paradoxie zu blenden, durch keinen pädagogischen Mißgriff zu verwirren, jede Überstürzung zu vermeiden, neben mancher schulmeisterlichen Trivialität — wieviel originale und treffliche Griffe! Wie glücklich ist der Gedanke, den gefährdeten Zusammenhang der Religion mit der Sittlichkeit unter dem Titel „der neue Gehorsam" sicher zu stellen, und wie ist Melanchthon seinem Ziele, eine kräftige evangelische Moral theoretisch zu begründen, gerecht geworden durch seine herrlichen Ausführungen über die evangelische Vollkommenheit, die er der mönchischen
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Vollkommenheit entgegensetzte! Gewiß — er hat die Schulgestalt der evangelischen Dogmatik begründet und damit manche frische Erkenntnis beseitigt und der Sache selbst schwere Fesseln angelegt. Aber er hatte doch nicht die Wahl zwischen freieren und gebundeneren Auffassungen und wählte die gebundeneren, sondern er hat eine Schulgestalt überhaupt erst schaffen müssen. Wer wirken will, muß formulieren und gestalten können; Gestaltungen aber improvisiert man nicht, sondern muß ihre Grundlinien dem Schatze des Erarbeiteten entnehmen. Und wer die Einbuße beklagt, die der Gedanke in der Fessel des Schulbuchs erleidet, der soll sich fragen, wie lange sich ein Gedanke rein erhalten wird, der gestaltlos wie ein Glockenton durch die Lüfte dringt. Die große Aufgabe, das erneuerte Christentum zu lehren, und im Zusammenhang mit der Bildung des Zeitalters zu halten, hat Melanchthon seit dem Jahre 1525 unter den Augen Luthers getrieben und dann noch 14 Jahre fortgesetzt. Die theologische Arbeit war ihm im Grunde kein inneres Bedürfnis; er trieb sie unter dem kategorischen Imperativ der Pflicht; nur systematisch-pädagogische Formgebung reizte ihn hier; sonst entsprachen seiner Neigung immer mehr die gewohnten philologischen Studien. Hat je einer unter der theologischen Aufgabe geseufzt, so war er es; aber er wußte, daß ihm niemand die Arbeit abnehmen konnte, darum blieb er bis zuletzt auf dem Posten. Gespannt fragt man, wie sich nun das persönliche Verhältnis zu Luther gestaltete. Eine herzliche Vertraulichkeit, wenn sie je bestanden hat, verschwand bald; aber ein gegenseitiges Vertrauen behauptete sich trotz aller Verschiedenheiten der Charaktere, der Stimmungen und der Arbeit. „Ich bin dazu geboren", erklärt Luther, „daß ich mit Rotten und Teufeln muß kriegen, darum meine Bücher viel kriegerisch sind. Ich bin der grobe Waldrechter, der Bahn brechen
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muß. Aber Magister Philipp fährt säuberlich stille daher, säet und begießt mit Lust, nachdem ihm Gott gegeben seine Graben reichlich". Nicht mit Unrecht sagt man, daß Melanchthon an Luther zu tragen hatte — imperatorische Gewalt in oft schroffen, rücksichtslosen Formen —, aber die Gegenrechnung zeigt, daß in Wahrheit Luther der geduldigere sein mußte. Mit welcher heroischen Langmut hat er dem Freunde das Kleinliche, Angstliche und Empfindliche nachgesehen! Wie hat er ihn imττιer wieder aus der Sorge und Furcht auf jene Höhe erhoben, von der allein eine solche Bewegung geleitet werden konnte! Wie hat er an dem Genossen jene ihm so antipathische erasmische Weise ertragen im Vertrauen auf die Ubereinstimmung in dem Kerne der Uberzeugungen! Mit welcher Einsicht und Großmut hat er endlich Melanchthon auf seinem Gebiete schalten lassen, dem der Pädagogie und Kirchenpolitik, und ist selbst dann nicht an ihm irre geworden, wo er allen Grund hatte, ihm in die Würfel zu greifen. I n jenen Jahren — auch der Augsburger Reichstag fällt in diese Zeit —, in denen Melanchthon es fast um jeden Preis versuchte, die Einheit der Kirchenlehre und Verfassung festzuhalten und die Reformation auf die Stufe eines bloßen Kampfes gegen Mißbräuche herabzudrücken — in jenen Jahren hat Luther das volle Zutrauen zu Melanchthon bewahrt, daß er die Sache selbst trotz aller Politik und Pädagogik doch nicht preisgeben werde. Nicht immer hat Melanchthon diesem Zutrauen entsprochen. Es kamen Momente — sowohl bei Luthers Lebzeiten als zur Zeit des Schmalkaldischen Krieges und des Interims —, in denen Melanchthon die Probe nicht bestanden hat. Nicht sich selbst ist er dabei untreu geworden, wohl aber der Aufgabe, die ihm, wollend und nicht wollend, zugefallen war, der Hüter des lutherischen Erbes und die Säule der Kirche Luthers zu sein. Dort in Augsburg, wo er in der Formulierung der evangelischen Glaubensartikel bereits bis an die
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äußerste Grenze der Konzessionen gegangen war, drohte er in den Verhandlungen, die ihnen folgten, jeden Halt zu verlieren. Doch hat er sich in der ausgezeichneten Apologie des Augsburger Bekenntnisses wieder gefunden. Aber mit voller K r a f t drängte sich in und nach dem unglücklichen Verlauf des Schmalkaldischen Krieges alles in ihm hervor, was er seit Jahren zurückgedrängt hatte, seine Antipathie gegen die Gewaltsamkeiten eines Bruches der Geschichte, seine Hochschätzung überlieferter Formen, die trauten Kindererinnerungen an die alte Kirche, dazu persönliche Bitterkeit und Kleinmut. Nicht Melanchthon, sondern die engen Köpfe, wie Flacius, und neben ihnen — Moritz von Sachsen haben damals den Protestantismus gerettet. Aber mit der Rettung war es nicht getan. "Wieder galt es zu bauen und zu pflegen, ein evangelisches Kirchentum und eine evangelische "Wissenschaft auszugestalten, weit genug, um den Strom der Geschichte in dieses Bett zu leiten. Auf Melanchthon allein fiel wiederum diese Aufgabe, und in schwerem Konflikt mit seinen Neigungen, fast möchte ich sagen, mit seinen Überzeugungen, kämpf end für sein Ideal, aber zugleich blutend f ü r manche Lehren, die nicht die seinigen waren, ist er auch nach der Wiederherstellung des Protestantismus rastlos tätig gewesen, die Kirche mit der "Wissenschaft zu bauen, Luthers Autorität und Luthers Lehre als die gegebene Grundlage anzuerkennen und sie doch nach seiner wissenschaftlichen Einsicht und nach den Bedürfnissen der geläuterten Frömmigkeit zu erweitern und zu erweichen. Die Seelenqualen des Vermittlers haben ihn nie verlassen, und die Angriffe nicht nur des theologischen Fanatismus, sondern auch ehrlicher spröder "Überzeugungen drangen immer drohender auf ihn ein. Aber er ließ das Steuer nicht aus der Hand, das er gefaßt hatte, und er warf nichts über Bord, um sein Schiff zu erleichtern; denn er meinte, daß die Zukunft kein Stück entbehren könne. So ist er in seiner "Weise fest geblieben in dem
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Streit der Epigonen. Mit den Worten: „Du wirst der Sünde abscheiden, du wirst von allem Kummer frei werden und von der fanatischen Wut der Theologen", sah er dem Tode als einer Erlösung entgegen. Im Gedächtnis seiner Kirche war sein Andenken zunächst gefährdet, und fast jahrhundertelang ist sein Name im lutherischen Protestantismus nicht ohne Miß trauen genannt worden, aber sein Werk blieb bestehen. Bereits die Konkordienformel bedeutet bei allem Argwohn gegen Melanchthon doch eine Absage an das strengste und engste Luthertum im Sinne Melanchthons. Bald aber entstanden in Deutschland viele Kirchen, die sich reformiert nannten, in Wahrheit jedoch melanchthonisch waren, und in ihnen entwickelte sich der Greist der Unionsgesinnung, aus welchem der große Fortschritt im inneren Leben des Protestantismus hervorgehen sollte. Luthers Glaubenskraft ist Kleinod und Ziel des Protestantismus geblieben, er selbst der Heros eponymos, aber seine Theologie ist in seiner Kirche nicht kanonisch geworden, und das war gut. Melanchthon ist als Person in der Kirche zurückgetreten, aber entscheidende Richtlinien, die er der neuen Theologie gegeben hat, sind geblieben, und das war auch gut. Er hat den Protestantismus für die Wissenschaft und die Wissenschaft für den Protestantismus gerettet — in Verkettungen, die heute nicht mehr in voller G-eltung stehen, die aber in ihrer Zeit Kirche und Bildung zusammengehalten haben. — Das kirchlich-theologische Lebenswerk Melanchthons habe ich skizziert, auch mit seinen peinlichen Eindrücken und doch — ein großes segensreiches Werk! Vergessen wir dabei nicht, unter welchen Verhältnissen er gearbeitet hat! Die Schwierigkeiten der inneren Lage sind schon berührt worden, die äußeren waren schrecklich. Auch heute erfährt jeder schweres Leid, der von Innen an der religiösen Frage rührt, aber damals erfuhr man noch buchstäblich, daß die Welt voll Teufel war, wenn man kirchliche Verhältnisse
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antastete; denn vom Mittelalter her umstanden noch, furchtbare Wächter die Religion, Gefängnis, Schläge, Folter — der Tod. Unter dem Schirm seiner Landesherrn, der erlauchten Fürsten, und unter dem Schild des Helden, der alle schützte, der die ganze Bewegung trug — auch als er nicht mehr unter den Lebenden weilte —, hat Melanchthon sein "Werk vollendet, er hat die Lehre begründet und die Kirche gebaut. — Aber blicken wir nun von seiner dogmatischen und kirchlichen Tätigkeit auf die allgemein wissenschaftliche. Mit reiner Bewunderung können wir zu ihm aufschauen. Hier war er ganz in seinem Elemente und hat dem christlichen Humanismus einen weiten und festen Bau aufgerichtet, in welchem die Wissenschaft und ihre Jünger mehr als anderthalb Jahrhunderte gewohnt haben. Hier hat er sich auch des allgemeinen Vertrauens erfreut durch die Lauterkeit seiner Gesinnung, die Selbstlosigkeit und Unbestechlichkeit seiner Ratschläge und eine von niemandem erreichte didaktische Sachkenntnis. Jener Bau war kein Neubau im vollen Sinne des Worts. Vergleichen wir ihn mit dem des 13. und des 18. Jahrhunderts, so steht er jenem viel näher als diesem. Noch immer ist Wissenschaft nicht Forschung, sondern Lehre, noch immer führt die Theologie das Szepter über alle Wissenschaften, noch immer gilt die durchsichtige Form fast soviel wie die Sache. Aber der Bau umfaßte die alten Elemente in gereinigter Gestalt und enthielt auch wesentliche neue Elemente des Fortschritts: nicht nur die Kenntnis des Griechischen, die die unerläßliche Vorbedingung jeder wissenschaftlichen Vertiefung war, sondern überhaupt die Aufforderung, die Uberlieferung so kennen zu lernen, daß man überall auf die Originale zurückging. In erster Linie hat Melanchthon f ü r den ganzen Kreis der Wissenschaft gearbeitet durch seine Lehrbücher. Nicht nur Grammatiken hat er herausgegeben, sondern Kompen-
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dien der Rhetorik, der Dialektik, der Physik, der Psychologie und der Ethik, dazu auch einen ziemlich ausführlichen Leitfaden der Geschichte; ja er ist einer der ersten gewesen, der regelmäßig Vorlesungen über Geschichte gehalten hat. Alle diese Lehrbücher dienten dem akademischen Unterricht. Als unübertroffene Muster von Klarheit, Ordnung und eleganter Angemessenheit des Vortrages werden sie von einem Meister der Geschichte der Philosophie gerühmt, und treffend f ü g t derselbe hinzu, Melanchthon habe durch sie die philosophischen "Wissenschaften von der Kasuistik des scholastischen Denkens befreit, den ins Maßlose getriebenen Distinktionen der Begriffe, der verkünstelten Sprache und dem ganzen Staube des Mittelalters. Dabei hielt er aber zugleich den Humanisten gegenüber die logische Gründlichkeit im Vortrag aufrecht. In der Tat — die Befreiung von der Kasuistik, wie in der theoretischen Philosophie, so vor allem in der Ethik, war der größte Fortschritt in diesem akademischen Unterricht. E r war die Vorbereitung und Uberleitung zu einer einheitlichen Erkenntnis der Natur und des Geistes, wie sie einem späteren Zeitalter aufgehen sollte. Aber auch die Zurückdrängung der Bildlichkeit des Vorstellens einerseits und der Kampf gegen die Begriffsmythologien andererseits erhoben die enzyklopädischen Arbeiten Melanchthons über die Stufe einer in den Formen steckengebliebenen Philosophie. "Was er in seine Lehrbücher schrieb, das trug er in lebendiger Rede vom Katheder herab vor, immer unverdrossen, mochten es viele hunderte Zuhörer sein oder kaum ein Dutzend. Noch in dem Jahre seines Todes las er gleichzeitig sechs Vorlesungen, über die griechische Grammatik, über Euripides, über den Römerbrief, über Dialektik, über Ethik und über Geschichte. Alle Studenten sollten diese Vorlesungen hören, vor allem aber die Theologen; denn — davon war Melanchthon durchdrungen — eine ungelehrte, unwissenschaftliche Theologie ist eine „Ilias malorum".
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Aber der große Lehrer, unter dessen Händen alles didaktisch wurde, die Religion nicht weniger als die Poesie, lehrte nicht nur, sondern er bildete. Nie ist der Beruf des Gelehrten, des Professors, idealer und größer gefaßt, nie würdiger verwirklicht worden, und darum sammelte er nicht nur Zuhörer, sondern erzog sich Schüler. Daß der Lehrberuf eine sittliche Gemeinschaft der Strebenden hervorrufen müsse, daß der Gelehrte dem Gelehrten wie ein Freund gegenüberstehe, daß eine Gemeinschaft aller Lehrenden im Dienste der Wissenschaft kein bloßer Traum sei, sondern ein erreichbares Ideal, das war ihm gewiß. In diesem Sinn hat er gewirkt und seine Schüler sowohl wie jeden Gelehrten als Freund an sich gezogen, im persönlichen Verkehr — nichts ging ihm über eine docta et amica confabulatio — und in einem unermeßlich reichen Briefwechsel. Yiele tausende von Briefen sind heute bekannt, und noch immer steigt die Zahl. Soweit es an ihm lag, blieb Melanchthon mit jedem Schüler in Zusammenhang, beantwortete jede Frage, nahm an den Lebensschicksalen der jungen Freunde teil und leitete aus der Ferne von seinem Schreibtisch um Mitternacht ihre Schritte. Die Folge war, daß er die Universitäten und gelehrten Schulen besetzte, nicht nur im evangelischen Deutschland, sondern auch in Schottland und England, in Polen und Ungarn. Ihn fragten die Fürsten, ihn die Magistrate, wenn es galt, tüchtige Lehrer zu gewinnen; sie wußten, daß er niemals etwas für sich begehrte und nur der Sache diente. So empfing der Protestantismus einen einheitlichen Lehrerstand neben einer einheitlichen Bildung. Jenes hohe Gut des Mittelalters, welches durch die Reformation in Frage gestellt war, die Einheit der Kultur — es blieb dem Abendland erhalten, soweit die Spaltung der Religion und die immer komplizierter werdenden Bedingungen der äußeren und inneren Lage es zuließen. Der eine Melanchthon hat im 16. Jahrhundert das geleistet, was im 12. und 13. die stolze Reihe
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großer Lehrer vom Lombarden bis zu Duns Scotus geleistet hat. Aber dort war schließlich alles mönchich orientiert; auf allem weltlichen Handeln lag der Bann der Kirche; hier dagegen waren Grottesdienst und weltlicher Beruf in dem Element des Ethischen versöhnt; neue Aufgaben waren der sittlichen Lebensbewegung gestellt. Doch noch habe ich das letzte Verdienst Melanchthons um die höhere Bildung nicht genannt. Zwar war er zum Herrscher nicht veranlagt, aber er war ein vorzüglicher Organisator. Nicht nur die Universität Wittenberg hat erst er nach unvollkommenen Anfängen wirklich eingerichtet und blieb zeitlebens ihr Haupt und ihre Seele, auch die kursächsische Schulordnung hat er entworfen. Beide Lehrpläne wurden vorbildlich für einen stets wachsenden Kreis von protestantischen Universitäten und gelehrten Schulen. Solche in allen Gebieten unseres Vaterlandes einzurichten, den Verhältnissen anzupassen und sie zu beraten, ist er rastlos tätig gewesen. Bis zur Stiftung der Universität Halle, d. h. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ist seine Organisation des gelehrten Unterrichts in Deutschland maßgebend geblieben. Hier sind die Generationen gebildet worden, die sich durch den dreißigjährigen Krieg nicht niederwerfen ließen. Vor allem aber die evangelischen theologischen Fakultäten sind sein Werk. Dankbar blicken sie an dem heutigen Tage zu ihm auf und geloben, das ihnen anvertraute Grut zu bewahren und ihre Arbeit unter das schöne Bekenntnis zu stellen, das er abgelegt hat: „Ich bin mir bewußt, mit meiner ganzen theologischen Arbeit nie einen anderen Zweck verfolgt zu haben, als das Leben zu berichtigen und zu veredlen." — So lehrend und bauend, sittigend und erziehend, hat er ein großes, einheitliches Lebenswerk geleistet. Anders als es sich der frühreife Jüngling gedacht, hatte sich die Aufgabe gestaltet, und in Stunden des Verdrusses und des theologischen Haders hatte er den Eindruck, aus seinen
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eigentlichen Bahnen geworfen zu sein. In Wahrheit hat er sie nicht verlassen und alles das entwickelt, was in seiner Natur angelegt war, und was das große Erlebnis des Zeitalters, die Reformation, in einer solchen Natur zu entzünden vermochte. — Der heutige Tag regt aufs neue in uns die Frage an, welche innere Wahrheit und welches Recht dem Ideale des christlichen Humanismus zukommt. Herüber und hinüber wogt der Streit der Meinungen. Soviel aber ist gewiß, daß Christentum und Antike nicht wie zufällig von Epigonen zusammengeschweißt sind, sondern daß bei allem Gegensatz auch ein wirklicher, uralter Zusammenhang besteht. Gewiß ist auch, daß unsere Kultur und Gesittung trotz der Umwälzung unserer Weltanschauung solcher Männer bedarf, die im Geiste Melanchthons zu wirken vermögen. Für einen bloßen Klassizismus ist ebensowenig Raum und Verständnis mehr in unserem Zeitalter vorhanden, wie für eine Theologie, die sich gegen die fortschreitenden Erkenntnisse absperren zu können meint. Aber der christliche Humanismus Melanchthons, bereichert und vertieft, ist auch heute noch die Kraft unseres höheren Lebens, und sein Schwert wird noch immer aufblitzen, wo es gilt, das Erbe der Geschichte zu verteidigen, den Adel des Geistes zu schützen und die Reinheit der Seele.
DIE BEDEUTUNG DER REFORMATION INNERHALB DER ALLGEMEINEN RELIGIONSGESCHICHTE
Erschienen in der: „Christlichen Welt" 1899 Nrn. 1—6 (5. Jan. bis 9. Febr.)
Was die Reformation innerhalb der Kirchengeschichte bedeutet, ist seit dem sechzehnten Jahrhundert Gegenstand des Nachdenkens bei Freund und Feind gewesen, und ihr Wesen gegenüber dem Katholizismus ins Licht zu setzen, ist auch heute noch eine Hauptaufgabe der historischen und der systematischen Theologie. Daß bei diesen Bemühungen die Grundfragen der Religion überhaupt gestreift werden, ist unvermeidlich; aber, so viel ich sehe, ist die Frage, ob und inwiefern durch die Reformation ein neuer Religionsbegriff zum Durchbruch gekommen ist, noch nirgendwo mit der gebührenden Aufmerksamkeit untersucht worden, oder — wo es geschehen ist — hat man das Problem in einen zu engen Rahmen gespannt. Wohl hat R i t s e h l fast alle Beobachtungen in bezug auf die Reformation angestellt, die ihn zu einer umfassenden Beantwortung der Frage befähigt hätten; aber bei der grundsätzlichen Beschränkung auf die Kirchengeschichte, die sich dieser große Theolog auferlegt hat, sah er davon ab, seine Erkenntnisse auf den weiten Plan der allgemeinen Religionsgeschichte zu stellen. Man muß katholischen Historikern den Ruhm lassen, daß sie sicherer als die protestantischen über die willkürlichen Schranken hinausblicken, die dem vollen Verständnis der Reformation durch den Namen „Reformation" gezogen sind. D ö l l i n g e r sagt (Akad. Vorträge, 3. Band, S. 58): „Luther müssen wir unzweifelhaft zu den Religionsstiftern rechnen, wenn er auch selbst diese Bezeichnung entschieden zurückgewiesen haben würde — nur Reformator wollte er sein. Aber so ist es ja von jeher gegangen, daß Reformversuche
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zur Bildung eigner Religionssysteme ausgeschlagen sind oder im Lauf der Zeit sich dazu entwickelt haben. Die Genossenschaft, die die Wittenberger Lehre zu der ihrigen machte, hat das auch richtig erkannt und unbedenklich von der „lutherischen Religion" in Büchern und im Leben gesprochen. Die Grabe der sozialen Organisation ging dem Wittenberger Reformator freilich ab; er vermochte, möchte man sagen, eine Religion, aber keine Kirche zu gründen." Dies Urteil Döllingers wird protestantischen Ohren empfindlich sein — auch ich möchte es nicht ohne Vorbehalt unterschreiben —, aber es ist doch tiefer, freier und darum wertvoller als die meisten Schlagworte, in denen man Luthers Bedeutung zusammenzufassen pflegt. Vor allem dadurch, daß es Luther von der „Kirche" abrückt und zur „Religion" stellt, eröffnet es die richtige Perspektive. Aber leider hat Döllinger nicht angedeutet, worin er die religionsgeschichtliche Bedeutung Luthers erkennt, ja er hat die ganze Frage vollständig verdunkelt, indem er Heinrich VIII. von England, Cromwell und Calvin ebenfalls zu den „Religionsstiftern" zählt. Bereits diese Zusammenstellung lehrt, daß der Begriff „Religionsstifter", wie er ihn faßt, weder den allgemeinen Sprachgebrauch für sich hat, noch aufklärend ist, vielmehr notwendig Verwirrung anrichtet. Wir lassen daher die Frage nach den Religionsstiftern aus dem Spiel und setzen dafür die andre ein nach dem Religionsbegriff. Wer den wesentlichen Begriff der Religion, wie er ihn vorfand, durchgreifend geändert hat — nicht in Büchern, sondern im wirklichen Leben —, der kommt gewiß den Religionsstiftern sehr nahe, aber ob er zu ihnen gerechnet werden darf, ist eine zweite Frage, deren Beantwortung von mehr als e i n e r Erwägung abhängt. Hat Luther den wesentlichen Begriff der Religion, wie er ihn vorfand, umgebildet und zwar so umgebildet, daß die Modifikation nicht nur den Katholizismus betrifft, sondern die Religion überhaupt? — das ist die entscheidende
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Frage. Ich stelle die Antwort an die Spitze und werde sie dann zu erläutern und zu rechtfertigen versuchen. I. Die R e f o r m a t i o n b e d e u t e t einen epochemachenden U m s c h w u n g in der R e l i g i o n s g e s c h i c h t e überhaupt; denn L u t h e r h a t das, was m a n bisher f ü r d a s W e s e n d e r R e l i g i o n h i e l t , als v o r ü b e r g e h e n d e oder s e k u n d ä r e oder g a r als b e d e n k l i c h e Erschein u n g b e t r a c h t e t , u n d er h a t d a s , w a s b i s h e r a l s a b g e l e i t e t e " W i r k u n g d e r R e l i g i o n g a l t , als i h r W e s e n b e u r t e i l t , o d e r d o c h den A n s t o ß zu s o l c h e n Beurteilungen gegeben. Das Wesen der Religion kommt in der direkten persönlichen Inspiration*) und der ihr entsprechenden Heiligkeit des Lebens zum Ausdruck — das ist die allgemeine Überzeugung der katholischen Kirchen, in denen nur die Heiligen und die Mönche als die eigentlich „Religiösen" gelten. Die Kirchen mögen sich diese Uberzeugung selbst verdunkeln, es bleibt doch dabei, daß in ihnen Inspiration und weltflüchtige Heiligkeit die Religion konstituieren. Indem die katholischen Kirchen diesen Begriff festhalten, bejahen sie einen Religionsbegriff, den sie nicht geschaffen, sondern übernommen haben,**) und der zugleich der höchste zu sein scheint; denn er faßt den Einzelnen als selbständige und selbst verantwortliche Persönlichkeit, bezeichnet die Beziehung auf Gott als reale Einwohnung der Gottheit und unterwirft ihr das ganze Leben. Neben der so gefaßten Religion können andre Ausprägungen derselben nur eine Religion zweiter Ordnung darstellen, und so ist es *) Ich brauche das Wort „Inspiration" in seinem ursprünglichen, weitern Sinne, nach dem es die wirkliche Einwohnung Gottes (des Geistes Gottes) bedeutet, die sich in mannigfaltigen übernatürlichen Wirkungen bekundet. **) Davon wird Später noch die Rede sein.
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tatsächlich im Katholizismus: das Gefüge von Religion, das in ihm durch die Sakramente und die Bußordnungen einerseits, durch den Yorsehungs-, Yergeltungs- und Erlösungsglauben andrerseits zustande kommt, gilt zwar als das eben noch zureichende Minimum von Religion, scheint aber qualitativ von der Religion verschieden zu sein. Doch ist die qualitative Verschiedenheit nicht so stark zu betonen wie die Abstufung. Man kann das zwischen ihnen bestehende Verhältnis am besten so ausdrücken: Die Religion stellt sich als ein engerer und als ein weiterer Kreis dar. Der engere Kreis ist bestimmt durch die Einwohnung des G-ottesgeistes (Christusgeistes) und das engelgleiche Leben; der weitere Kreis ist bestimmt durch die Sakramente, durch den Glauben an das, was jene andern tatsächlich erfahren, und durch möglichste Annäherung an das engelgleiche Leben innerhalb des natürlichen weltlichen Lebens. Die christliche Religion ist eben deshalb die absolute und zugleich die Offenbarung der vollkommenen Barmherzigkeit Gottes, weil sie außer und neben ihrer wahrhaften Art und Erscheinung, die sich nicht alle aneignen können, in Heilsmitteln, Grlauben und Werken eine zweite abgeleitete Form darbietet, auf die jedermann einzugehen vermag. Diese Grundanschauung, die der Katholizismus mit dem Buddhismus sowohl als auch mit der philosophischen Religion der untergehenden Antike teilt, ist von Luther umgestürzt worden. I n den Heilsmitteln (Wort und Sakrament) und dem Grlauben erkannte er die Religion, neben der es keine andere, also gewiß auch keine höhere gibt. Der göttliche Akt ist die Schenkung des Grlaubens (durch Wort und Sakrament), und die Betätigung der Religion ist der Erlösungs- und Vorsehungsglaube. Daneben hat weder die Inspiration, noch die Heiligkeit, wenn sie etwas andres sein will als die Lebensführung im kindlichen Vertrauen zu Gott, irgend welchen wesentlichen Spielraum. Sie können bei diesem oder jenem als individuelle Züge
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erträglich sein; sie können bei Andern besondre und für ihren eigentümlichen Beruf notwendige Begabungen darstellen — in der Regel werden sie aber als Anmaßungen „stolzer Heiliger" und darum als irreligiöse Erscheinungen zu beurteilen sein; denn Religion haben ist nichts andres als an Gott glauben, das heißt sich in die Hände des versöhnten Gottes mit Leib und Seele beschließen. Der Erlösungs- und Vorsehungsglaube ist die Religion; die „Inspiration" und die „Heiligkeit" sind daneben nichts. Eine gründlichere Umkehrung des alten Religionsbegriffs ist nicht denkbar! Die letzten scheinen die ersten geworden zu sein, und die ersten müssen zufrieden sein, wenn sie unter jenen überhaupt noch einen Platz finden! Eine Fülle von Fragen drängt auf uns ein, wenn wir über diesen Wechsel nachzusinnen uns anschicken. Ist diese Yertauschung nicht vielmehr eine Unifizierung, d. h. eine Zusammenziehung des doppelten Religionsbegriffs zu einem einzigen? Oder ist sie vielleicht gar eine Säkularisierung der Religion? Entzieht sie nicht der Religion ihr eigentümliches Leben? Weiter, bedeutet sie nicht eine furchtbare Verstärkung des autoritativen Elements in der Religion, das sie an die Stelle eignen Erlebens setzt? Das ist die eine Reihe der Fragen; aber auch eine andre taucht auf. Hat nicht schon Augustin oder doch sicherlich Paulus den neuen Religionsbegriff? Wie steht es mit dem ganzen ältesten Christentum? Gelten im Katholizismus wirklich Inspiration und Heiligkeit allein als die konstituierenden Faktoren der Religion? Ist nicht schon in ihm eine kompliziertere Auffassung vorhanden? Diese Fragen sollen uns in den folgenden Artikeln beschäftigen. Hier möge zum Schlüsse eine geschichtliche Parallele stehen. Nicht durch die Reformation sind zum erstenmal in der Religionsgeschichte die letzten die ersten geworden. I m ersten Jahrhundert der Kirchengeschichte hat sich schon einmal ein ähnlicher Prozeß abgespielt. Um die
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zahlreichen Synagogen im römischen Reiche fanden sich überall heidnische Proselyten geschart, sie hielten das Gesetz nicht, sondern nur einige wenige Gebote desselben, aber sie glaubten an den einen geistigen Gott, an seine Vorsehung und an sein Gericht; sie suchten ein tugendhaftes Leben zu führen und faßten alle Erzählungen des Alten Testaments geistig. Sie galten nicht als volle Juden, nicht als wirkliche Söhne Abrahams; aber man sagte ihnen, daß sie als Juden zweiter Ordnung auch Aussichten auf ein bescheidnes Erbe hätten. Da kamen die christlichen Missionare und verkündigten ihnen, daß gerade sie die rechten Kinder Israels seien, daß unter der Bedingung des Glaubens an Christus ihr Verhalten dem Gesetz und dem Alten Testamente gegenüber das richtige und gottgewollte sei, ja daß es geradezu Sünde sei, Zeremonialgesetze zu beobachten. Das, was bisher für Religion erster Ordnung gegolten — das pünktliche Halten eines Zeremonial- und Kultusgesetzes —, wurde gestürzt, und die Religion zweiter Ordnung — eine Vergeistigung, aber in gewissem Sinne auch eine Säkularisierung supranaturaler Größen — rückte mit souveräner K r a f t in den Mittelpunkt. II. Wir haben in dem ersten Artikel das Problem scharf zu bestimmen versucht, indem wir es also formulierten: Die Reformation bedeutet einen epochemachenden Umschwung in der Religionsgeschichte überhaupt; denn Luther hat das, was man bisher für das "Wesen der Religion hielt, als vorübergehende oder sekundäre oder gar als bedenkliche Erscheinung betrachtet, und er hat das, was bisher als abgeleitete Wirkung der Religion galt, als ihr Wesen beurteilt, oder doch den Anstoß zu solchen Beurteilungen gegeben. Als das, was man bisher f ü r das Wesen der Religion gehalten hatte, bezeichneten wir die Inspiration und das engel-
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gleiche Leben; als das, was Luther dafür eingesetzt, den Erlösungs- und Vorsehungsglauben. Bevor wir die Fragen erörtern, die die Erkenntnis dieses Umschwungs hervorruft, wollen wir uns die Verschiedenheit der Frömmigkeit, wie sie sich hier und dort darstellt, vergegenwärtigen. Auf beiden Seiten schildern wir ihre klassische Gestalt: Dort ist es das Innewerden der Gottheit, das alles beherrscht; nicht nur der Geist und die Seele, sondern auch die geheiligten Sinne nehmen sie wahr: Gott wird gefühlt, gehört, geschaut und geschmeckt. Diese überwältigenden Erfahrungen reißen den Frommen aus der Welt heraus und führen ihn hoch über sie. E r kann gar nicht mehr in und mit der Welt leben oder vielmehr — nur d i e irdischen Dinge bleiben ihm übrig, die Gott als Mittel erwählt hat, um sich ihm erkennbar zu machen: die heilige Speise, das Kruzifix, der Geißelstrick, der arme Bruder. Aber wer Gott nur in der Einsamkeit vernehmen kann, der muß in die Wüste ziehen. Ein Unterschied der Begabungen zeigt sich hier: der heilige Antonius, der ihn nur dort findet, und der heilige Franziskus, der ihn an der Sonne, den Blumen und den Fischen, im Elend, in der Krankheit und im Hunger sich offenbaren sieht. I n der Sache ist kein Unterschied, und darum auch nicht in der Lebensführung. Sie beide sind jedem weltlichen Beruf und jeder irdischen Aufgabe entrückt: der Franziskaner, der dem Hungernden ein Süpplein erarbeitet, dem Mütterchen das Holz abnimmt und den Pestkranken pflegt, sieht Christus in ihnen und dient Christo, das heißt Gott. Das Irdische ist ihm nur ein leichter Schleier, hinter dem ihn überall die Gottheit selbst anblickt; je tiefer die Not und Armseligkeit, um so heller und tiefer ihr großes Auge. Wie ein Träumender schaut, handelt und hilft er. Außere Gefahren und Hemmungen von Menschen gibt es eigentlich nicht mehr; aber zwei mächtige Feinde lauern: der Teufel und das Fleisch. J e
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lebendiger sich, die G-ottheit zu erkennen gibt, desto heftiger werden die Anläufe jener. Sie suchen die Seele aus der Gemeinschaft mit Gott zu reißen; sie verdunkeln seinen Lichtglanz und stürzen den G-eist in Finsternis. Ein fortwährender Kampf ist die Folge, und das Schrecklichste ist: die Gottheit scheint sich selbst manchmal zurückzuziehen: Willst du mich sogleich verlassen, Warst im Augenblick so nah, Dich umfinstern Wolkenmassen, Und nun bist du gar nicht da.
Im Augenblick noch unter Chören von Engeln, und vielleicht schon im nächsten Moment unter Teufeln; eben noch geborgen im Schöße Gottes, und gleich darauf gepeitscht vom bösen Feind; eben noch auf "Wolken schwebend als Seher und Prophet — ein Sturz, und am Boden krümmt sich ein zertretner Wurm. I n diesen Kontrasten spielt sich, aufregend und zermarternd, das innere Leben ab, und es gibt nur noch ein inneres. Aber all die Not und Qual wird immer wieder ausgelöscht durch einen Moment wirklichen Gottesgefühls. I n ihm erscheinen auch die erlittnen Anfechtungen als gerechte Strafen des heiligen Gottes, und man erkennt, daß sie nicht ausbleiben konnten. Und nun vergleichen wir damit den Frommen im Sinne Luthers. E r hat die Gottheit nie geschaut, und wenn er sie gefühlt hat, will er sich auf dies Gefühl nicht verlassen. Worauf er sich verläßt, das ist das Wort Gottes, das Evangelium, das ihm verkündigt ist. Weil er dem Worte glaubt, glaubt er an Gott, und das Wort wandelt seine unsichern oder schrecklichen Gottgefühle in ein tröstliches Wissen und in eine lebendige G-ewißheit. Zu wissen braucht er nur Eines: daß das dunkle und heilige Wesen, dem gegenüber er sich verantwortlich und schuldig fühlt, für ihn nicht mehr der schreckliche Richter ist, sondern der Vater.
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Im Worte, d. h. in, mit und unter Christus, ist er davon überzeugt worden. Die Erweckung dieser Überzeugung ist das grundlegende und alles bestimmende Erlebnis. Es wirkt sich aus in dem kindlichen G-ebet und in der Zuversicht, fortab bei Gott geborgen zu sein. „Laß dir an meiner Gnade genügen" und „Wir wissen, daß denen, die Grott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" — diese beiden Worte bezeichnen die Eigenart des innern Lebens, das nun entstanden ist. In der Breite und Peripherie des irdischen Lebens ändert sich gar nichts, und auch nach „hohen Offenbarungen" schaut ein solcher Mensch nicht aus. Es gibt nur eine Bitte: „Herr, stärke mir den Glauben." Wohl tritt die ganze Welt und der Weltlauf in das Licht des väterlichen G-ottes, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt; aber nichts Einzelnes — weder im Sittlichen noch im Physischen — erhält an sich eine besondre Bedeutung; ja, größer als die Sorge, G-ottes Walten überall zu erkennen, ist die Scheu, die G-nade, die das Herz fest macht, nicht mit andern Eindrücken und Erlebnissen zu vermischen: „Freuet euch nicht, daß euch die G-eister Untertan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind." Der Seher, der Heilige, der Asket — sie sind verschwunden; sie haben dem Gläubigen Platz gemacht. Die Wirkungen dieses Umschwungs umfassen den ganzen Bereich der Erscheinungen des religiösen Lebens. An die Stelle fortwährender Erregungen eines psychischen Reizzustandes ist eine stetige Stimmung getreten; man vergleiche die Meditationen und G-esänge katholischer Mystiker mit den Kreuz- und Trostliedern Paul Gerhardts! Aber auch das Weltbild, das dort und hier entsteht, ist ein ganz verschiednes: in eine Welt, die des Teufels ist, greift Gott hinein mit Wundern und Zeichen, offenbart an diesem und jenem seine leibhaftige Gegenwart und schafft mitten in der Welt der Sünde und des Todes eine zweite
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Welt des Heiligen — so ist es dort; nein, er leitet diese Welt mit ihrer Not und ihrem Elend zu seinem Ziele — so ist es hier. Der ungeheure Wechsel, der hier entstanden ist, muß zunächst mit der ganzen Stärke des Kontrastes empfunden werden, wenn man beiden Teilen gerecht werden will. Erst dann darf man nach den geschichtlichen und sachlichen Vermittlungen fragen und nach dem Rechte, das jeder der beiden Auffassungen gebührt. Wie fremd aber den evangelischen Christen der frühere Religionsbegriff geworden ist, davon kann man sich gerade in unsern Tagen leicht überzeugen. Da alle geschichtlichen Erscheinungen heutzutage vorurteilsloser, ich möchte sagen positiver studiert werden, als in dem Zeitalter der philosophischen Konstruktionen, so kam man auch dazu, die altern Erscheinungsformen der Religion sicherer zu beobachten und genauer wiederzugeben als früher. Man begnügte sich ζ. B. nicht mehr damit, die Unterschiede des Protestantismus und Katholizismus nach den Katechismen darzustellen und das, was nicht im Katechismus der katholischen Kirche steht, als unerhebliches Beiwerk zu betrachten, sondern man suchte die wirkliche Lebensgestalt der Frömmigkeit zu ermitteln und sich klar zu machen. Man wollte auch das alte Christentum nicht mehr nur an seiner Dogmengeschichte studieren, sondern in allen seinen Erscheinungen und an allen seinen Kundgebungen. Diese Versuche hatten für die, die sie anstellten, ein unerwartetes Resultat. Es wurde uns mitgeteilt, daß nun erst das Wesen der Religion entdeckt sei, und daß es mit der Religion eine ganz andre Bewandtnis habe, als wir bisher geglaubt hatten. Die einen erzählten uns, dort, wo die Religion wirklich lebendig sei, sei sie eine mit Zauberei verbundene Art von Manie, und man müsse sie studieren, wie man psychische Ekstasen und Alchemie studiert; sie lebe im Absurden, gefalle sich in tausend seltsamen Hervorbringungen, und wo sie anfange
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vernünftig zu werden, da sei ihr bereits Fremdes beigemischt. Die andern aber berichteten noch Überraschenderes von ihrem Streifzug in das Land der Religion. Sie brachten im Unterschied von jenen die Religion als ein Gut nach Hause, aber als ein Gut, vor dem der evangelische Glaube nicht mehr bestehen könne. Sie teilten uns mit, daß Religion Inspiration und asketische Weltflucht sei. Es war der alte Religionsbegriff und die katholische Religion, die sie entdeckt hatten; aber sie wußten das nicht. So fremd waren sie innerlich dieser Art von Religion geworden, daß sie sie nicht einmal zu identifizieren vermochten. Aber freilich, noch fremder standen sie der evangelischen Religion gegenüber; denn jene, wenn sie sie auch bisher nicht gekannt hatten, begrüßten sie nun wie eine Offenbarung, diese aber verblaßte ihnen augenblicks und schien überhaupt nichts mehr zu sein als ein wesenloser Schein oder als ein verfehltes geschichtliches Experiment. Unter der Oberfläche der Ereignisse und geistigen Entwicklungen bereitet sich, soweit überhaupt die Religion unter uns noch lebend ist, eine erschütternde Krisis vor. Es gilt dem Protestantismus, es gilt dem evangelischen Christentum in dem Grundprinzip seines Daseins. Man sagt uns, der Protestantismus habe mit dem Ultramontanismus zu kämpfen und es drohe ihm von diesem große Gefahr. Das ist wahr, aber diese Gefahr ist nicht die höchste. Viel ernster ist die Krisis, die über den evangelischen Religionsbegriff selbst hereinbrechen wird, ja schon hereingebrochen ist. Es handelt sich zum zweitenmal um eine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus; denn der „neue" Religionsbegriff ist in Wahrheit der katholische. "Wie viele die Krisis bereits empfinden, tut nichts zur Sache. Um ihren Anbruch zu verkündigen, bedarf es keines Propheten mehr. Um welche Gegensätze es sich handelt, haben wir in den beiden Artikeln kurz darzustellen versucht, in den folgenden soll sich die Beurteilung anschließen.
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III. „Eure Kurfürstliche Gnaden weiß oder weiß nicht, so lasse Sie es Ihr hiemit kund sein, daß ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unsern Herrn Jesum Christum habe, daß ich mich wohl hätte mögen, wie ich denn hinfort tun will, einen Knecht und Evangelisten rühmen und schreiben." So hat Luther, als er von der Wartburg zurückkehrte, an den Kurfürsten geschrieben. Selten und nur auf den Höhepunkten seines Lebens hob sich sein reformatorisches Bewußtsein zu dieser Höhe; aber die Grewißheit seiner christlichen Erfahrung und seines Berufs, die aus diesen Worten spricht, war doch das Fundament seines ganzen Wirkens. Die Kirche, die nach ihm genannt worden ist, hat diese Uberzeugung bis zur Zeit der Aufklärung festgehalten. Man braucht nur an den bekannten Spruch zu erinnern: „Grottes Wort und Luthers Lehr vergehen nun und nimmermehr" und an den Abschnitt „Von Luthers Berufung" in lutherischen Dogmatiken. J a noch im achtzehnten Jahrhundert hat der Großvater J u n g S t i l l i n g s , übrigens ein Reformierter, seine Sehnsucht nach dem Himmel in die Worte gekleidet: „Ich erwarte ohne Furcht den wichtigen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreit werden soll, um mit den Seelen meiner Voreltern und andrer heiliger Männer in eine ewige Ruhe eingehen zu können. Da werd ich finden: Doktor Luther, Calvinus, Okolampadius, Bucerus und andre mehr, die mir unser seliger Pastor, Herr Winterberg, so oft gerühmt und gesagt hatte, daß sie nächst den Aposteln die frömmsten Männer gewesen." Der Maßstab, nach dem die Frömmigkeit und die Bedeutung dieser Reformatoren hier gemessen ist, war nicht die Inspiration oder die asketische Heiligkeit, sondern ihr
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Glaube. Weil sie den rechten Glauben auf den Leuchter gestellt und den "Weg zu ihm gewiesen haben, darum haben sie ein apostelgleiches Ansehen. Der alte Stilling hatte ganz richtig empfunden. Es war durch jene Männer im sechzehnten Jahrhundert wirklich etwas geschehen, dem sich kein Vorgang aus der früheren G-eschichte der Kirche an die Seite setzen ließ. Entweder waren sie Yerstörer oder trotz aller persönlichen Schwächen Männer, denen ein Platz neben Paulus gebührte. Aber waren sie nicht Verstörer? Das ist eine ernste Frage. Je und je sind im G-ebiet des Katholizismus Männer aufgetreten, die den doppelten Religionsbegriff, wie er dort herrscht, unerträglich fanden und zu einem einzigen zusammenziehen wollten. Aber dann war es stets der mönchische, den sie allein gelten ließen, und dem die Religion der in der Welt stehenden Christen, die Glaubensreligion, als eine halbschlächtige und unwerte weichen sollte. So oft sich solche Propheten erheben, zuletzt noch T o l s t o i und vor ihm der Protestant K i e r k e g a a r d , geht ein Zittern durch die ganze Christenheit. Wo nur immer ernstere Christen sind, da regt jene Verkündigung alle Tiefen der Religion auf, erschüttert die Gewissen und entfesselt Stürme in den Abgründen der Seele. Jene Männer aber des sechzehnten Jahrhunderts suchten die Einheit zu schaffen, indem sie die Glaubensreligion zur einzigen erhoben. Gewiß, darin liegt eine Art von Säkularisierung der Religion mit den schwersten Gefahren. Haben sie alle die lebendigen, sinnlich-übersinnlichen Empfindungen der Frömmigkeit für gleichgültig oder nebensächlich oder bedenklich erklärt, haben sie das Opfer abgelehnt, das in der Darbringung des ganzen weltlichen Lebens besteht, so haben sie unzweifelhaft ein gewagtes Spiel gespielt. Wo ist dann noch die Religion? Ist ihr nicht ihr eigentümliches Leben entzogen? Ist es nicht sehr bequem, Religion zu haben, wenn sie nichts andres ist als die Weiterführung des täglichen
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Lebens, wie man es lebt, nur begleitet von einem rätselhaften Glauben, der selbst nur auf Treue und Glauben hingenommen wird — ohne Feuer in der Seele, ohne Furcht und Zittern im Gewissen, ohne Energie in der Tat? J a , das ist die Gefahr! Aber Gefahren entscheiden nicht über das Recht und die "Wahrheit einer Sache. Mit „Gefahren" können wir auch von der andern Seite reichlich aufwarten; denn Religion ist, wie man sie auch nimmt, immer „gefährlich". Oder sind die Säulenheiligen, die Geißlerbrüderschaften, die Ertötung des Lebens, die Verödung der ganzen Schöpfung und wiederum die Ausbrüche ekstatischer Leidenschaft, die Raserei der Seele, die Blendung des Verstandes, die Verkehrung aller Vernunft — sind das alles keine Gefahren? Von den Gefahren wollen wir daher absehen. Dagegen bietet sich sofort ein andrer Maßstab der Beurteilung an. Wie steht es mit den Früchten dort und hier? Nun, man darf wohl, ohne sich dem Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen, behaupten, daß es mit ihnen bei den protestantischen Völkern mindestens nicht schlimmer steht als bei den katholischen. Allein dieser Maßstab ist doch nicht ohne weiteres brauchbar; denn man kann ihm entgegenhalten, es müsse zuvor untersucht werden, was bei jenen wirklich aus ihrem evangelischen und bei diesen aus ihrem katholischen Christentum geflossen ist. Das ist eine schwierige, wenn auch nicht aussichtslose Untersuchung, und darum muß sie hier beiseite bleiben. Es fragt sich, ob nicht die richtige Beurteilung aus der Sache selbst gewonnen werden kann. „Mihi adhaerere Deo bonum est" (Gott anhangen, das ist mein Gut) — in diesem Satze liegt doch wohl das Gemeinsame, was die beiden Standpunkte verbindet, sofern sie wirklich Religion sind und nicht leere Ekstase oder toter „Glaube". "Wo aber der Gedanke des von der "Welt unterschiednen, lebendigen Gottes sich der Seele bemächtigt hat und als Wirklichkeit festgehalten wird, da ist
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immer Inspiration, und zugleich spaltet sich in dem Bewußtsein der natürliche und der geistliche, der alte und der neue Mensch. I n dieser Erfahrung, die durch das Gebet bejaht und gekräftigt wird, ist zwischen dem Ekstatiker, wenn anders er in Gott lebt, und dem schlichtesten evangelischen Christen kein Unterschied. „Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den G-eist aus Gott, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist" — der nüchternste Lutheraner muß in diesem Bekenntnis sein eignes sehen, oder seine Religion ist überhaupt keine. Und nicht anders ist es in bezug auf die Lebensführung: in der Bitte um ein reines Herz und in dem kräftigen Streben nach Freiheit von der Welt treffen sich die Standpunkte. Aber doch ist der Unterschied noch ein sehr großer. Dort bleibt der innere Sinn scheinbar lebendiger und inniger an der Wirklichkeit Gottes haften, und darum stößt er die Welt ab als einen eklen Schein oder als die Beute des Todes. Hier dagegen scheint die Kräftigkeit des Erlebnisses schwächer zu sein; denn jene Energie offenbart sich nicht so sinnenfällig. Nein — sie ist nicht schwächer, sondern stärker; denn sie ist mit dem klarsten Bewußtseir bezogen auf e i n e n P u n k t : Frieden in Gott, der die Schuld vergibt und die Seele bewahrt. Alles übrige fällt ab und wird bedeutungslos gegenüber diesem Herzstück. Selbst die „hohen Offenbarungen" stürzen zusammen und werden gleichgültig für einen Menschen, dem Gott aufgegangen ist als die gnädige Macht, die den innern Zwiespalt aufhebt, und als der, der seine Flügel breitet über sein Kind. Einst offenbarte sich die Gottheit den Menschen an heiligen Zeichen, an Zeremonien und an einer Kultusordnung. Fürwitz und Torheit wäre es, zu leugnen, daß sie nicht wirklich an ihnen empfunden wurde. Aber als die, Zeit erfüllt war, wurden dieselben Zeremonien und dieselbe Kultusordnung als Götzendienst erkannt. Einst offenbarte
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sich die Gottheit den Menschen in einer Fülle erhabner Gefühle, in überschwänglichen Erlebnissen, und in der Wüste der Askese leuchtete ihr Feuer. Fürwitz und Torheit wäre es zu leugnen, daß sie nicht wirklich in ihnen empfunden wurde, ja noch empfunden wird. Aber als die Zeit erfüllt war, wurden dieselben erhabnen Gefühle und überschwenglichen Erlebnisse eine geringe Sache gegenüber dem schlichten Bekenntnis: „Ich glaube an Gott, der Sünde vergibt, und ich befehle mich in seine Hände." Ist Luther wirklich im absoluten Sinn der Erste gewesen, der der Religion diese Wendung gegeben und ihren Bereich und ihre Form durchgreifend korrigiert hat? Dann wäre er Religionsstifter im vollen Sinne des Worts. Das ist er nicht gewesen; denn das, was er in der Kirchengeschichte vollzogen hat, ist nur die Enthüllung dessen, was in der Weltgeschichte längst aufgeleuchtet, aber wieder verdunkelt war. IV. Vor bald zwei Jahren schrieb ich in einer wissenschaftlich-theologischen Zeitschrift: „Wenn nicht alles trügt, gehen wir in bezug auf die Erklärung und geistige Vermittlung des Urchristentums und der ältesten Kirchengeschichte einer Epoche entgegen, die man als altertümelnde bezeichnen darf. Im Gegensatz zu jener Betrachtung, die die geistigen Höhepunkte einer geschichtlichen Erscheinung hervorhebt, werden wir angewiesen, vielmehr ihre breite Basis und substanzielle Natur zu studieren. Aus dem Wurzelgeflecht, aus Stamm und Rinde sollen wir Blüte und Frucht bestimmen. Wir werden gewiß viel dabei lernen; aber mögen die Zukünftigen besonnene Lehrer bleiben, sonst gibt es einen vorzeitigen Rückschlag. Die teleologische Betrachtung der geschichtlichen Erscheinungen ist die entscheidende. Nur
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sofern sich etwas aus seinen Ursprüngen losgerungen hat, ist es eine Macht geworden." Der Unfug, der auch sonst in der modernsten Geschichtschreibung mit dem „Milieu" getrieben wird — die Sache ist so wenig anziehend wie das Wort —, dringt auch in die Kirchengeschichte ein und wird uns dort als die „religionsgeschichtliche Betrachtung" empfohlen. I n dem „Milieu" werden dann noch die barocken Züge mit besonderm Eifer aufgesucht und so erklärt, als hätte in ihnen das eigentliche Leben pulsiert. Wie wäre es, wenn heute einer in unsre Kirchen träte und daselbst dekorative Fruchtguirlanden, spielende Engel u. dergl. ins Auge faßte, pünktlich nachwiese, woher diese Dinge kommen, und nun behauptete, die Gemeinde huldige noch einem heimlichen Naturdienst? Oder wenn er die religiösen Bilder, die wir brauchen, mit vieler Gelehrsamkeit auf ihre Ursprünge zurückführte, um dann zu erklären, die babylonisch-assyrische Religion sei unter uns noch nicht ausgestorben? Nicht wesentlich anders mutet uns manches an, was wir heute über Religionsgeschichte und näher über das Urchristentum zu lesen bekommen, oder was uns angekündigt wird. Wer sich dagegen einen Sinn für das Produktive und Fortwirkende in der Geschichte bewahrt hat, der wird bei allem Interesse für die Formen Schale und Kern nie verwechseln können. — Wir haben den vorigen Artikel mit der Behauptung geschlossen, Luther sei nicht der erste gewesen, der jene Wendung in der Religionsgeschichte herbeigeführt habe, die durch das Bekenntnis kurz bezeichnet ist: „Ich glaube an Gott, der Sünde vergibt, und ich befehle mich in seine Hände"; wohl habe er zuerst in der Kirchengeschichte die christliche Gemeinde ausschließlich auf dies Bekenntnis gestellt, aber er habe damit nur etwas enthüllt und in K r a f t gesetzt, was lange vor ihm bereits vorhanden gewesen sei.
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Auf wen wir damit abzielten, konnte wohl nicht zweifelhaft sein. Der Herr selbst hat diese Religion verkündigt. Gewiß, er hat nichts aufgelöst von der väterlichen Religion, und so mögen uns jüdische und christliche Rabbiner belehren, daß er eben nur ein Jude gewesen sei. Oder es mögen andre kommen und uns sagen, seine Verkündigung sei nichts andres gewesen als eine erschütternde Predigt von dem Gericht und dem zukünftigen Grottesreich, in dem man mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen werde. Oder es mögen die Dritten erklären, die Botschaft von der bessern G-erechtigkeit, d. h. von dem neuen Gesetze, sei der eigentliche Inhalt seiner Predigt. Diese sind der "Wahrheit schon nahe gekommen, aber verfehlt haben sie sie auch; denn das Hauptstück seiner Predigt ist der Gott, der Sünde vergibt und die Haare auf dem Haupte gezählt hat. Darum sind der Zöllner im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner und „der verlorne Sohn" die großen Paradigmen seiner Religion. Wie kann man das beweisen? Nun, aus der Sache selbst und aus der Entwicklung, die sie in den achtzehn Jahrhunderten genommen hat. Aus der Sache selbst; denn es ist unmöglich, daß jene Verkündigung ein nebensächliches Element darstellt. Mag sie von noch so verschiednen Momenten begleitet und in sie verflochten gewesen sein: wo sie überhaupt ist, ist sie das Hauptstück; denn alle übrigen haben neben ihr etwas Fragmentarisches und Unstetiges. Aber sie tritt auch in der Predigt Jesu mit souveräner K r a f t hervor. Jüngst ist ein herrliches Buch erschienen: J ü l i c h e r , Die Gleichnisreden Jesu (Freiburg, 1899). Dreiundfünfzig Gleichnisse und Parabeln sind hier ihrem ursprünglichen Sinn zurückgegeben, gegenüber jener Exegese, die viele Künste treibt und nur weiter vom Ziele kommt. Dieses Buch sollte in den nächsten Monaten von allen Theologen gelesen werden; denn besser als irgend ein andres r u f t es zur Erkenntnis des "Wesent-
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liehen. Es wird die Zuversicht zu dem „evangelischen" Glauben beleben und stärken, zu jener Überzeugung, daß der demütige Kindessinn gegenüber dem Yater im Himmel in der G-ewißheit seiner Gnade und seines Schutzes das Geheimnis der christlichen Religion ist, das den "Weisen und Klugen verborgen, aber den Unmündigen geoffenbart ist. Und die Geschichte dieser Religion — was lehrt sie anderes vom Urchristentum an bis zu Augustin, von Augustin zu Franziskus, von Franziskus zu Luther, als die Enthüllung dieses Evangeliums? Gewiß, man kann in der Geschichte sehr verschiedne Linien konstruieren mit ganz verschiednen Effekten. Aber nach mühsamen Experimenten kehrt man zuletzt zu der Linie zurück, die die Geschichte selbst mit ehernen Zügen auf ihre Tafeln eingegraben hat. Sie schreibt auch allerlei daneben, und die Gelehrten sollen es lesen; aber sie führt nicht irre. I m Urchristentum entwickelte sich mit einem Schlage alles zur höchsten K r a f t , was irgendwie Religion des Heiligen war. Die apokalyptischen und eschatologischen und wiederum die weltflüchtigen und sittlichen Elemente strebten empor; ein jedes suchte an dem neuen Erlebnis Halt zu gewinnen und den ganzen Bereich des Religiösen allein auszufüllen. Aber mitten aus dieser unruhigen und stürmischen Bewegung heraus vernehmen wir den sichern Glockenton: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen." „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?" und in dem hohen Liede der Liebe (1. Kor. 13) schwingt sich der große Apostel über alle Propheten und über alle Virtuosen der Selbstaufopferung. I n der „Kirche" hat man das nicht überhört, aber nicht so gehört, wie sich's gebührt. Sie stellte sich bald, ja eigentlich von Anfang an, auf andre Grundlagen. Eine kompliziertere Struktur, als diese Kirche schon nach drei Menschenaltern aufweist, hat niemals eine religiöse Gemeinde empfangen, freilich ein Beweis ihrer Universalität
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und der ungeheuern positiven K r a f t , mit der sie alles Positive an sich zog. "Was seit den Tagen des Moses und des Plato an der Religion erlebt und über sie gedacht worden war, das zog die Kirche in ihren Organismus hinein, bildete es als eines ihrer Organe aus und benutzte es, sei es als Waffe, sei es als Ellammer. Das Zöllnerbekenntnis, Rom. 8, und 1. Kor. 13 waren dabei wahrlich nicht vergessen, aber die heilige Einfalt und Schlichtheit der Gesinnung, von der sie zeugen, der sichere Trost, den sie gewähren, und die Tatkraft, mit der sie das Herz erfüllen, waren niedergehalten. Aber nun begannen die Reduktionen. Man kann nicht nur, man soll und muß die ganze innere Religionsgeschichte der christlichen Kirchen bis auf Luther beschreiben als eine Geschichte, in der sich das Evangelium herausarbeitet aus Apokalyptik, Eschatologie, asketischer Weltflucht und wiederum aus Metaphysik, Prädestinationslehre, Kirchendogmatik, um das innere Leben allein zu bestimmen. An dem Bilde Christi und an seinen Worten arbeitete es sich heraus: Mittel und Zweck fallen hier zusammen. Soll ich erzählen, wie ein Clemens Alexandrinus innere Freiheit gewinnt am Evangelium, und wie sein dem Evangelium scheinbar so fremdes Ideal „der wahre Gnostiker" ihm in Wahrheit so nahe gekommen ist? Soll ich an Augustins „Konfessionen" erinnern, daran erinnern, wie dieser tiefsinnigste und gefährlichste Spekulant doch nahe daran gewesen ist, alle Spekulation zu verabschieden: „Wer Glaube, Liebe und Hoffnung hat, hat alles, hat Gott selbst und bedarf nichts anderes, keine »Offenbarungen«, kein Mönchtum, kein Gesetz." Soll ich der großen Wendungen im Mönchtum gedenken, als der Weltschmerz in die Gottesfreude, das beschauliche Leben in das tätige überging, bis zuletzt M a r t i n L u t h e r kam und der Christenheit den Grund und das Ziel dieser ganzen Entwicklung enthüllte und deutete? E r hat vieles stehen gelassen und trug, wie
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wir alle, das G-ewand seiner Zeit. Aber er hat in einer Gemeinschaft von Millionen die Überzeugung erweckt, daß Gott mit uns nicht anders handelt als durch den Glauben, daß Gott das Wesen ist, auf das man sich verlassen kann, und daß er größer und gütiger ist als unser Herz. Auf dieser Überzeugung, mit Ablehnung alles Enthusiasmus' und aller selbstgewählten "Werke, hat vor ihm niemals eine religiöse Gemeinschaft, eine Kirche, gestanden. Längst war sie aufgeleuchtet — in der Verkündigung Jesu selbst —, darum ist Luther kein Religionsstifter; aber in der Kirchengeschichte, als die Grundlage einer Gemeinschaft, hat er sie durchgesetzt, und in diesem Sinn gebührt ihm auch eine Stelle in der allgemeinen Religionsgeschichte. V. „Den einzelnen Verkehrtheiten des Tags," sagt G o e t h e einmal, „sollte man immer nur große weltgeschichtliche Massen entgegensetzen." Die Kirchenhistoriker, die zum Glück noch nicht Historiker e i n e s Jahrhunderts sind, sollen das universalgeschichtliche Material, das ihnen zu Gebote steht, brauchen, um den Verkehrtheiten zu begegnen, die aus der Überspannung einzelner Beobachtungen und aus der Tagesmode entspringen. Falsche Querschnitte, die in der Geschichte gemacht werden, werden als solche durch richtige Längendurchschnitte erwiesen. I n diesen taucht o f t gar nicht oder an ganz untergeordneter Stelle auf, was im willkürlich gemachten Querdurchschnitt sehr bedeutend erscheint. Ein Beispiel: es ist nicht schwer, an einer bestimmten Stelle der Kirchengeschichte einen Querschnitt so durchzulegen, daß der Engelglaube als eines der wichtigsten Stücke in Lehre, Kultus und Leben hervortritt; aber jeder Längendurchschnitt, den man an der Kirchengeschichte vollzieht, wird beweisen, daß jener Glaube ein höchst untergeordnetes Moment gewesen ist. Das Produk-
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tive, Fortwirkende und darum Wesentliche in der Geschichte läßt sich immer nur an ihrem Verlaufe ermitteln und studieren; in der großen Frage, die uns hier beschäftigt, legt dieser Verlauf Zeugnis dafür ab, daß das, was in der Predigt des Herrn die Hauptsache war, auch das sich durchringende Hauptstück geblieben ist, aber erst durch Luther das ausschließliche Fundament einer religiösen Gemeinde wurde. Ist das geschichtliche Urteil an der Erkenntnis des Verlaufs der Geschichte gereift, so wird es auch Sicherheit gewinnen in der Abstufung und "Würdigung der charakteristischen Momente eines bestimmten Zeitalters. Ich wähle wiederum ein Beispiel. Nichts scheint sicherer zu sein als die Tatsache, daß die Christen des zweiten Jahrhunderts von einem massiven „Geistes"-, Geister- und Dämonenglauben so beherrscht waren und so sehr in einer Welt von Visionen, Wundern und Mirakeln lebten, daß daneben alles andre unkräftig war, oder doch nur ein streng autoritatives Kirchentum, das die Enthusiasten in Schranken hielt, aufzukommen vermochte. Sieht man aber näher zu, so gewahrt man erstens, daß jene Welt der Ekstase und der Wunder den Christen damals keineswegs eigentümlich gewesen ist, sondern ein gemeinsames Merkmal des Zeitalters gebildet hat, zweitens, daß sich die ernsteren Christen — und überall dürfen nur sie in Betracht gezogen werden — nicht unbedingt auf jene Erscheinungen verlassen haben, und drittens, daß das Erlebnis, durch die Gottesoffenbarung Sündenvergebung, sichere Freudigkeit und die Kraft zu einem sittlichen Leben gewonnen zu haben, das eigentliche Hauptstück ihres neuen Bewußtseins gewesen ist. Diese Erkenntnis getraue ich mir gegen jedermann streng historisch zu erweisen. Ist dem aber so, dann legt auch das zweite Jahrhundert Zeugnis dafür ab, daß Luther etwas zum Fundament der Gemeinde gemacht hat, was schon in den frühern Jahrhunderten die hinter den Ekstasen einer-
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seits und den Kirchenlehren andrerseits ruhende K r a f t gewesen lind aus der Predigt Jesu Christi geflossen ist. Aber, wendet man ein, es mag mit dem Religionsbegriff Luthers oder selbst des Herrn wie immer stehen — entsprungen sei er schließlich doch aus jener primitiven Religion des Pathos und des Enthusiasmus; daher müsse er entweder diese Züge noch tragen oder sei, wenn sie ihm fast ganz fehlen, als ein schwächliches Endprodukt zu beurteilen. Dieser Einwand verlangt eine besondre Beachtung; denn in ihm steckt der Grundfehler der entwicklungsgeschichtlichen Methode in ihrer Anwendung auf die Geschichte. Wir leugnen das Recht der entwicklungsgeschichtlichen Methode nicht, aber wir fordern, daß, wer sie anwendet, seinen Blick schärfe und befreie und sich nicht bei einfältigen Betrachtungen beruhige. Die Entwicklung verläuft doch nicht nur in auf- oder absteigenden kontinuierlichen Linien, sondern sie steigert sich an den Knotenpunkten zu Metamorphosen. I n der Naturgeschichte ist uns diese Tatsache ganz geläufig: aus der Raupe wird der Schmetterling, der unter völlig andern Lebensbedingungen steht wie die Raupe. Käme heute jemand und teilte uns als neuste und tiefste Weisheit mit, der Schmetterling könne gar nicht fliegen, da ja die Raupe nur gekrochen sei, man müsse deshalb den Flug des Sommervogels wider den Augenschein als eine Art gesteigerten Kriechens beurteilen, so würden wir seine „entwicklungsgeschichtliche Betrachtung" für Unsinn erklären und ihn auslachen. Ist es in der Geschichte anders? Dennoch lachen dort nur wenige, wenn ihnen als das Ergebnis „entwicklungsgeschichtlicher Studien" mitgeteilt wird, es gebe keinen freien Willen, denn einst habe es nur einen unfreien gegeben, es gebe keine Religion ruhiger und stetiger Zuversicht, denn einst habe es nur eine pathetische gegeben, die Religion habe nichts mit dem Sittlichen zu tun, denn einst sei sie
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von ihm ganz getrennt gewesen. Solange sich die Entwicklungshistoriker noch nicht davon überzeugt haben, daß die Dinge innerhalb der Entwicklung anders werden, daß Bewußtsein und Willenskraft sich transformieren, ja daß ein neues psychologisches Vermögen sich entwickelt, das so sicher funktionieren kann wie eine primitive Naturkraft — solange wirken sie verwirrend und gemeinschädlich. Dem heutigen, durch die Geschichte, d. h. durch die christliche Religion wirklich erzognen Menschen ist das Sittengesetz als natürliches Gesetz in das Herz geschrieben; es ist zur Natur seiner vernünftigen Seele geworden, und er kann es schlechterdings nicht los werden. Daß das früher nicht so war, liegt am Tage, aber deshalb den heutigen Tatbestand leugnen wollen, ist ein verkehrtes Unterfangen. Die dilettantische Rede vom „Übermenschen" hat ihr gutes Recht, nur sucht sie ihn am falschen Ort. Der „Übermensch" ist längst da: die Geschichte des sittlichen Menschen ist seine Entwicklungsgeschichte — die Geschichte des sittlichen Menschen im Bunde mit dem Gott, der sich ihm nicht mehr als geheimnisvoll stürmische Macht, sondern als Norm, K r a f t und Schutz seines sittlichen, überweltlichen Daseins offenbart. I n dieser Betrachtung sind wir zum Kern der Frage gelangt, die uns hier beschäftigt; denn das, was durch Luther zum ausschließlichen Fundament einer religiösen Gemeinde gemacht worden ist, was in der frühern Periode der Kirchengeschichte sich durchzuringen strebte, was das Hauptstück in der Verkündigung Jesu gebildet hat — es ist die exklusive, das ganze Gebiet des Religiösen beherrschende Verbindung der Religion mit dem Sittlichen. Man schwächt sie aber bereits ab, ja zerstört sie, wenn man ihr den Charakter des „Natürlichen" nimmt. So tritt sie in den Reden Jesu hervor; man schlage ein beliebiges Gleichnis auf. Die Voraussetzung ist immer die, daß jeder Mensch sittliche Person ist, und daß daher das, was er, Jesus, sagt,
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außerhalb jeder Kontroverse liege und zugleich das natürliche Verhalten bezeichne. Der Einwurf, daß man einst so nicht zu den Menschen sprechen konnte, verschlägt nicht: jetzt konnte man so zu ihnen sprechen, und von jetzt an soll man so zu ihnen reden. Die ganze gewaltige Predigt von der Gottheit fällt jetzt nicht mehr wie eine rein außerweltliche, fremde Kraft über das armselige Menschenleben her, um es zu zerbrechen oder zu entsetzen, sondern sie gehört als die Predigt von dem allmächtigen und heiligen Yater-G-ott in den Ring seines eignen Daseins hinein. Darum mußten die Ekstasen und die Mirakel aufhören und mußte die alte Religion einer neuen weichen, in der das Supranaturale ein Stetiges, ja ein Natürliches geworden ist. Man wird mich nicht mißverstehen: nichts andres meine ich als jenen gut lutherischen Satz, daß wir für diese Religion geschaffen sind, daß sie nicht irgendwie nur eine Zugabe zu unserm Leben ist, sondern die Sphäre unsres Daseins. Und nicht fürchten sollen wir uns vor den „Entwicklungshistorikern", als könnten sie uns in dieser Uberzeugung beunruhigen: der Schmetterling hat sich nicht nur aus der Raupe entwickelt — es war auch ihre Bestimmung, nicht immer am Boden zu kriechen, sondern einst im neuen Sonnental die Flügel rasch und freudig zu entfalten. VI. Die These, die es zu beweisen galt, ist in den vorangehenden Artikeln gerechtfertigt worden: Die Reformation bedeutet einen epochemachenden Umschwung in der Religionsgeschichte überhaupt; denn Luther hat das, was man bisher für das Wesen der Religion hielt, als vorübergehende oder sekundäre oder gar als bedenkliche Erscheinung betrachtet, und er hat das, was bisher als abgeleitete "Wirkung der Religion galt, als ihr Wesen beurteilt oder doch den Anstoß zu solchen Beurteilungen gegeben.
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So wollten wir diesen Satz verstanden wissen: Luther hat den Religionsbegriff, der das Hauptstück in der Verkündigung Jesu gebildet hat, der aber in der Kirchengeschichte vor ihm sich vergeblich durchzuringen suchte, in den Mittelpunkt gerückt, nachdem er ihn aus der Verbindung mit dem altern gelöst hat. Dieser Religionsbegriff aber wurzelt in der Überzeugung, daß Gott mit uns nicht anders handeln will als durch den Glauben. Der Glaube aber ist die sichere und stetige Zuversicht auf den Gott, der Sünde vergibt und uns an seiner Hand hält. So zu Gott aufzublicken ist dem „natürlichen" Menschen fremd; aber es ist doch das „Natürliche" in höherm Sinne; denn für dieses Verhältnis zu Gott sind wir geschaffen. Es erübrigt noch einige hier auftauchende Probleme wenigstens kurz zu berühren. Sie zu erschöpfen ist unmöglich, aber sie mögen zur Sprache kommen, um zum weitern Nachdenken anzuregen. Zugleich werden dabei einige Einwürfe beseitigt werden, denen unsre Betrachtung ausgesetzt sein kann. Erstens, daß der evangelische Religionsbegriff, so einfach er erscheint, psychologisch und historisch am schwierigsten zu fassen ist, liegt in der Natur der Sache. Er ist innerhalb der geschichtlichen Entwicklung geworden, was er ist — nicht durch bloße Evolution, sondern immer durch ein Zusammenwirken von Evolution und Persönlichkeit —; er kann daher nur durch Rückgang auf seine Vorstufen verstanden werden. In diesem Sinne ist die Arbeit der Religionshistoriker nicht nur berechtigt, sondern schlechthin notwendig; gerade das innerlichste Element der Religion, das Bewußtsein einer überweltlichen Kraft und eines überweltlichen Verhältnisses, wird nur so in ein helles Licht gerückt werden können (vgl. oben S. 308 ff.). Diese Überweltlichkeit ist freilich hier anders bestimmt als auf den frühern Stufen, trägt psychologisch ein andres Gepräge und offenbart sich in andern Ausdrucksformen — das darf
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nicht übersehen werden —; aber der Gegensatz „Geist Gottes" und „Geist der "Welt" wird nicht schwächer empfunden als früher. Dankbar haben wir jede psychologische Analyse der Religion entgegenzunehmen, die uns ihren paradoxen Charakter enthüllt; aber um so sicherer müssen wir unsern Blick auf das Ende der Entwicklung richten, in dem jener paradoxe Charakter nicht untergegangen, wohl aber mit der gesamten geistig-sittlichen Lebensbewegung in eine Einheit gesetzt ist. Durch den evangelischen Religionsbegriff ist zweitens der Unterschied einer Religion erster und zweiter Ordnung — Religion der Ekstatiker und Religion der Laien — aufgehoben. Dennoch besteht dieser Unterschied in der Form individueller Nuancen fort, nicht nur weil die ältere Stufe niemals in der Geschichte durch die folgende ganz beseitigt wird, sondern auch weil Temperament, sittliche Disziplinierung des eignen Lebens und besondrer Beruf f ü r diesen und jenen bestimmtere und strengere religiöse Ausdrucksformen fordern. Alles, was wir in der Geschichte des Protestantismus „Pietismus" nennen, gehört hierher, und weit entfernt ihn zu verurteilen, wünschen wir vielmehr, er wäre kräftiger unter uns, vorausgesetzt, daß er die Grundlage des evangelischen Religionsbegriffs nicht wieder in Frage stellt. Einen Antonius, einen Franziskus, einen Franz Xavier, ja selbst einen Doctor seraphicus oder angelicus*) kann und soll es im Gebiet des Protestantismus so gut geben wie im Katholizismus; aber nicht der hohen Offenbarungen oder des armen Lebens soll er sich rühmen, sondern des Herrn, und die Gemeinde soll seine Wirksamkeit lediglich nach der K r a f t des Glaubens beurteilen, die ihn trägt und die er entzündet. So leicht ist es freilich *) Mit diesem Beinamen zeichnet die katholische Kirche ihren großen Normaltheologen Thomas yon Aquino, mit jenem den mystischen und gelehrten Franziskaner Bonaventura aus.
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den „Virtuosen der Religion" nicht mehr gemacht wie im Katholizismus, emporzustreben und sich eine Wirksamkeit zu schaffen, in einer Q-emeinde, in der die Regel gilt: „Es gibt kein christlicheres Werk, als daß die Ehlichen ihre Kinder erziehen"; aber ein Spielraum f ü r ihre Tätigkeit fehlt wahrlich nicht; wollte Gott, sie wären zahlreicher! Umgekehrt freilich soll man nicht die Schwächlichkeit, die in religiösen Besonderheiten schwelgt oder gar nur so weit kommt, sie zu bewundern und andern zu empfehlen, für Stärke halten. Wenn wir heute die Neigung im Protestantismus wahrnehmen, uns ältrer Religionsformen mit tiefsinniger Miene zu rühmen und nach ihnen die evangelische zu kritisieren, so ist das häufig nur ein Beweis f ü r die Unsicherheit und Zerfahrenheit des Glaubenslebens und die Überschätzung unbestimmter Religionsgefühle, die hier zum Ausdruck kommt. Die Ironie Jesu: „Korban, wenn ich's opfere, so ist's viel nützer," gilt nicht nur den Virtuosen kultischer Religionsübung. Drittens ist das autoritative Element im evangelischen Religionsbegriff in der Tat stärker ausgeprägt, als auf den früheren Stufen. An das Wort Jesu haben seine Jünger geglaubt; dieses Wort hat sie zu Gott geführt, und auf das Wort haben sie sich verlassen. Nicht anders hat es Luther empfunden und gewußt. Nicht eignen Gefühlen oder Offenbarungen hat er getraut, sondern dem Worte Gottes. Aber Autorität kommt diesem Worte, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, zu, weil es kein fremdes ist, sondern weil es die Seele selig macht, und weil wir für dieses Wort geschaffen sind. Als ein lebendiges trifft es unser Herz. Das braucht nicht immer direkt das in das Bild des lebendigen Christus gefaßte Wort zu sein — ein Christ kann dem andern ein Christus werden —, aber immer muß uns dies Wort in dem Teuer einer lebendigen Persönlichkeit treffen, wenn es zünden soll. I n diesem Sinne nimmt der evangelische Glaube die ganze
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Kirchengeschichte, ja die ganze Religionsgeschichte für sich in Anspruch. E r weiß sich befreit vom. Zwang und Joch jeglicher religiösen Zumutung, die beängstigt oder verwirrt; er braucht die Geschichte nicht, um zu leben, wohl aber um sich Rechenschaft zu geben von seinem Recht und es zu behaupten. *
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Luther ist kein Religionsstifter gewesen — was er verkündigt hat, ist vor ihm verkündigt worden —, aber dennoch gebührt ihm in der Religionsgeschichte ein Platz, und dieser Platz liegt nicht auf einer Linie, die abwärts führt, sondern aufwärts. Ich darf nicht hoffen, daß die Betrachtungen, die ich vorgeführt habe, die mächtige Strömung, die das Bett der evangelischen Religion zu verlassen droht, korrigieren werden; aber vielleicht werden sie zeigen, daß man „entwicklungsgeschichtlich" denken kann und doch nicht zu primitiven Stufen zurückzukehren braucht. Oder soll die Theologie, zur Höhe der „Religionsgeschichte" erhoben, den Zeitgenossen ihren wissenschaftlichen Charakter dadurch bezeugen, daß sie gewissenhaft alle Irrtümer der wissenschaftlichen Mode mitmacht? Doch nicht mit einer Abweisung will ich schließen. Jüngst hat eine verehrte Freundin der „Christlichen Welt" die schönen Worte geschrieben: „Unter den vielen entgegengesetzten Strömungen, die unsre Zeit durchziehen, macht sich e i n Moment auf allen Gebieten geltend: man begnügt sich nicht mehr dabei, das Leben in der Prägung überkommner Vorstellungen hinzunehmen; der Einzelne will seine Mysterien selbst erleben. Und das gilt von allen seinen Erscheinungen und Manifestationen. Was wir nicht in uns selbst erleben können, besitzt keine Wahrheit, noch weniger eine Autorität f ü r uns. Man spricht vom Erlebnis der Liebe, der Freund-
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schaft, der Natur; vom Erleben einer Musik, eines Kunstwerks. So auch vom religiösen Erleben. . . . Hier berühren wir uns mit den Uranfängen des G-otterlebens im menschlichen Gremüt." Auch wir begrüßen diese Entwicklung als einen Fortschritt zur innern Wahrhaftigkeit und darum zur Wahrheit; aber fördern wird er allein dann, wenn uns die Religion nicht nur die Fackel ist, die zündet, sondern die helle Sonne, in deren Lichte wir leben.
PROTESTANTISCHE KULTUR PROTESTANTISCHE KULTUR UND DR. MAX MAURENBRECHER
Erschienen in der „Noris", Nürnberg 1912, in Form eines Schreibens an den Herausgeber Prof. Pöhlmann auf Grund einer Umfrage. Der Anhang „Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher" erschien in der „Christlichen AVeit" 1912 Nr. 1.
Herrn Professor Pöhlmann. B e r l i n , den 14. Juli 1911. Hochgeehrter und lieber Herr Professor! Ihre Fragen unter dem Titel „Protestantische Kultur" will ich in Kürze beantworten, so gut wie ich es vermag. Das ist keine Redensart — die Problemstellung ist mir nicht geläufig, da sich mein Nachdenken stets mehr auf die einzelnen Hauptgebiete gerichtet hat, die man unter dem Namen „Kultur" zusammenfaßt, als auf die Zusammenfassung selbst. Sie fragen e r s t e n s : „Ist P r o t e s t a n t i s c h e K u l t u r ein geeigneter und genügender Ausdruck f ü r die höchsten Welt- und Lebensziele?" Ich antworte: „Gewiß", wenn in den Begriff „ K u l t u r " wirklich a l l e s aufgenommen wird, was das höhere geistige Leben umfaßt, und wenn alles dort seinen r i c h t i g e n Platz erhält. Sie wissen, daß das nicht immer geschieht; man spricht daher nicht ohne Grund in tadelndem Sinn von „Kulturseligkeit". Wenn aber die drei großen Kreise, der religiöse, der wissenschaftliche und der ästhetische, in dem Begriff „Kultur" zu ihrem Rechte kommen und wenn in ihm ebenso auf die Ausbildung des geschlossenen und freien Individuums Bedacht genommen wird wie auf die Entwicklung der besten und gerechtesten Formen des gemeinschaftlichen Lebens, so darf der Ausdruck „Kultur" sehr wohl als die Bezeichnung f ü r die höchsten Welt- und Lebensziele gelten. „Protestantisch""
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aber ist diese Kultur, weil erst der Protestantismus den Entwicklungen F r e i h e i t gegeben und sie aus der Bevormundung durch die Kirche herausgeführt hat. Ob er das gleich anfangs getan hat und absichtlich, braucht uns hier nicht zu kümmern, ebensowenig ob er es allein getan hat oder mit Unterstützung anderer Mächte — gewiß ist, daß alle die großen Kulturbewegungen der letzten vier Jahrhunderte geschichtlich und sachlich mit der Bewegung eng verknüpft sind, die im Jahre 1517 in Wittenberg begonnen hat. Durch diese bejahende Antwort der ersten Frage ist die zweite erledigt. Ihre d r i t t e Frage lautet: „Welche Grenzen und Richtlinien muß die Kultur anerkennen, um eine protestantische zu bleiben ?" und Sie wollen eine Antwort hören hinsichtlich der W i s s e n s c h a f t (besonders der theologischen), der K u n s t , des W i r t s c h a f t s l e b e n s , des S t a a t s und der K i r c h e . Hier vermisse ich zunächst eine Frage hinsichtlich der Religion. Sie nennen sie nicht und durch theologische Wissenschaft und Kirche wird sie nicht ersetzt. Ich antworte, als ob Sie die Frage gestellt hätten: Protestantisch bleibt unsere Kultur nur, wenn sie das Streben, ein festes Verhältnis zu dem Ewigen und Guten zu gewinnen, an die Spitze stellt und wenn sie die Erkenntnis Gottes als des Vaters in K r a f t erhält. In dieser Erkenntnis ist eine ganz bestimmte Welt-, Lebens- und Selbstbeurteilung gegeben. Nicht jedermann braucht sie gewonnen zu haben, aber die Führer dürfen sie nicht vermissen lassen, und die, welche sie nicht teilen, müssen sie wenigstens achten. Von Grenzen und Richtlinien der Wissenschaft weiß ich nichts zu sagen. Der Trieb nach Erkenntnis schafft sich selbst seine Richtlinien, und er kennt keine Grenzen außer denen, die ihm die Undurchdringlichkeit des Objekts zieht. „Übergriffe" der Wissenschaft, wenn es wirklich Wissenschaft ist, die hier handelt, gibt es nicht. Wohl aber gibt es zahlreiche Übergriffe der Forscher und Gelehrten,
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die die Natur der Objekte verkennen, falschen Analogiebildungen nachgehen, relative Urteile verabsolutieren, messen und wägen wollen, wo es nichts zu messen gibt, und so fort. Mit Grenzen und Richtlinien der Wissenschaft darf man dem gegenüber nicht kommen, sondern man muß die dürftigen Anschauungen beschränkter Forscher zu bereichern, ihre Fehler zu berichtigen suchen und das übrige dem heilenden Einfluß der Zeit überlassen, die vorschnelle Abschlüsse und ungerechtfertigte Vermischung der Erkenntnisgebiete stets noch korrigiert hat. Mit der theologischen Wissenschaft aber steht es nicht anders als mit der Wissenschaft überhaupt. Der Protestantismus hat daher keine Forderungen an die Theologie zu stellen, wie und in welchen Grenzen sie ihre Arbeit treiben soll. Sofern er aber verlangt, daß innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte die Eigenart der christlichen Religion nicht verwischt werden soll, verlangt er nur etwas, was in der Sache selber liegt; denn die Gotteserkenntnis dieser Religion hebt sie aus allen übrigen heraus. Und wenn er weiter fordert, daß die Theologie diese Religion nicht in Ideengeschichte auflöse, sondern ihren geschichtlichen und sachlichen Zusammenhang mit Jesus Christus als ein wesentliches Moment zum Ausdruck bringe, so erinnert er auch mit dieser Forderung nur an ihre eingeborene Eigenart. Diese ist in der Erkenntnis, welche die klassische Philosophie des deutschen Idealismus von ihr gewonnen hat, nicht verletzt, vielmehr haben wir dieser, aus dem Protestantismus selbst geborenen Philosophie eine wirkliche Vertiefung zu verdanken, und der Protestantismus soll ihr daher als einer Richtlinie auch weiter noch folgen. Aber die Eigenart der christlichen Religion kann durch den philosophischen Idealismus verletzt werden, wenn er der Gefahr erliegt, die Bedeutung und den Wert des Persönlichen und Geschichtlichen zu unterschätzen. Sie kann freilich ebenso durch einen Historizismus verletzt werden, der das Gegebene nicht zu einem Erlebten werden läßt. Zwischen diesen Gefahren
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liegt die wirkliche Erkenntnis, liegt die Wissenschaft vom Christentum, und sie muß das Herzstück des Protestantismus bleiben; denn sie ist — von seinem Ursprung her — sein Gewissen. Was die Kunst betrifft, so erlassen Sie mir ein Urteil; andere mögen sich zu diesem Punkte äußern, die eingehender über sie nachgedacht haben und reichere Erkenntnisse mitzuteilen vermögen, als ich sie besitze. Nur soviel möchte ich bemerken, daß der Protestantismus — vor allem der kalvinische, aber auch der lutherische — von Haus aus kein Verhältnis zur Kunst besessen hat, da er die sinnlich-ästhetischen und symbolischen Elemente um seines Gegensatzes zum Katholizismus willen ablehnen mußte. Aber zuerst auf dem Gebiet der Musik durch Bach, dann auf allen anderen Gebieten der Kunst in dem Zeitalter der Klassik und Romantik hat der deutsche Protestantismus das aus der Tiefe erhobene Element der Kunst als neue Gabe hinzu erhalten und in seine Kultur mit aufgenommen. Es ist ihm nun ein unveräußerliches Element geworden, und es muß daher mit den anderen Elementen gepflegt und vor Verweichlichung und Verrohung geschützt werden. Aber auch davor muß es geschützt werden, daß ihm nicht zuviel aufgebürdet wird. Hier muß vielmehr die Warnung Goethes in K r a f t bleiben: Jüngling, merke dir bei Zeiten, Wo sich Geist und Sinn erhöht, Daß die Muse zu begleiten, Doch zu leiten nicht versteht.
Eine rein ästhetische Kultur ist keine protestantische K u l t u r ; aber sehr schnell wird es sich erweisen, daß sie überhaupt keine Kultur ist, weil ihr der Ernst der Wahrheitserkenntnis und die K r a f t des sittlichen Willens fehlt. Was das Wirtschaftsleben betrifft, so muß innerhalb der protestantischen Kultur an der Regel Luthers festgehalten werden, daß Geistliches und Weltliches nicht zu verwischen ist, daß also ein W i r t s c h a f t s p r o g r a m m im Namen der
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Religion nicht aufgestellt werden darf. Aber diese Regel wird von denen mißverstanden und mißbraucht, die nun folgern, das Wirtschaftsleben sei lediglich durch materielle Gesichtspunkte und Kräfte bestimmt und zu bestimmen. Demgegenüber muß in der protestantischen Kultur die Einsicht als oberste Richtschnur gelten, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt. Diese Erkenntnis muß jedem ins Gewissen greifen und in der Seele brennen; sie muß ihn notwendig zu hingebender sozialer Arbeit entflammen. Brot können wir nicht beliebig vermehren und richtiger verteilen; dazu gehört eine lange Arbeit, und diesem Streben sind eiserne Grenzen gesetzt, die nur langsam verschoben werden können. Auch an diesen Bemühungen soll sich jeder nach Maßgabe seiner Kräfte und seines Berufs beteiligen. Aber unmittelbar und mit wirklichem Erfolg kann jeder in seinem Kreise jenes Brot austeilen, welches zum Leben so notwendig ist wie die leibliche Nahrung — Menschenliebe, Güte, Brüderlichkeit ! In wirtschaftliche und Standes-„Klassen" werden die Bürger e i n e s Staats stets zerfallen; aber jener enge Klassengeist, der zum Kastengeist wird, ist aufs kräftigste zu bekämpfen, weil seine Wirkungen sich wie ein lähmender Bann auf die Unterdrückten und — die Unterdrücker legen. Unser soziales Leben würde sich ganz anders entfalten, wenn an die Stelle der Gleichgültigkeit und Nichtachtung der unteren Stände, aber auch an die Stelle begönnernder und das Selbstgefühl verwundender Teilnahme überall wahrhafte Brüderlichkeit träte. Gewiß hat sich hier bereits vieles gebessert, aber wieviel bleibt noch zu t u n ! Über das hinaus aber, was der einzelne hier durch die rechte sittlich soziale Gesinnung und ihre Betätigung zu tun vermag, geht noch eine weitere Forderung: Niemand, der auf dem Boden protestantischer Kultur stehen will, darf sich von den Bestrebungen ausschließen, die sich das Ziel setzen, einem jeden im Staate wenigstens die elementarsten Vorbedingungen f ü r ein sittliches Leben schaffen zu helfen und die schlimmsten
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Feinde abzuwehren. Ich denke hier in erster Linie an die Wohnungsfrage und den Kampf gegen die Trunksucht. Unserer Zeit ist die Aufgabe gesetzt, hier Wandel zu schaffen, und nicht um Utopien handelt es sich, sondern um erreichbare Ziele. Die Hauptrichtlinie gemeinsamer sozialer Arbeit weist uns heute auf die Besserung der Wohnungsbedingungen und auf den Kampf gegen den wahren Erbfeind. Ist jenes erreicht und dieser Feind niedergeworfen, dann wäre wirklich eine neue höhere Stufe in unserm Wirtschaftsleben erreicht! Sie fragen noch nach dem Verhältnis der protestantischen Kultur zu Staat und Kirche. So leicht die Antwort in bezug auf jenen ist, so schwierig in bezug auf diese. So wie sich unser deutscher Staat entwickelt hat, darf und soll er ein Gegenstand freudiger Wertschätzung f ü r uns bleiben. Von den Ursprüngen des Protestantismus her ist ihm die Hochschätzung und Liebe f ü r Vaterland und Staat eingeboren. Wie er ihre Entwicklung aufs kräftigste beeinflußt hat, so ist er selbst durch Volkstum und Staat formiert worden. Die Hochschätzung des eigenen Staats aber und die volle Hingebung an ihn ist aufs beste vereinbar mit jenem echten Weltbürgertum, welches das eigene Volk und den eigenen Staat, die heimische Wissenschaft, Kunst und Industrie auch deshalb pflegt, um den anderen Nationen etwas bieten und innerhalb der Verbrüderung der Völker ein wirksames Glied bleiben zu können. Protestantische Kultur gebietet, in beiden Kreisen heimisch zu sein und sie auszubauen, den engeren Kreis des eigenen Staats und Volks und den weiteren der Kulturvölker. Damit ist von selbst gegeben, daß sie auf die Vertiefung des freundschaftlichen Verständnisses bedacht sein muß. Der Weltfriede ist eine F r u c h t , man kann ihn nicht direkt pflegen; aber freundschaftliche Beziehungen können und sollen gepflegt und verstärkt werden. Die Kirche — die Antwort ist deshalb so schwer, weil auch der Einsichtigste heute nicht mit Sicherheit zu sagen
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vermag, was uns für die nächste Generation frommt, ob die Erhaltung unserer Landeskirchen im Sinne einer freieren Gestaltung oder ob die Lösung jedes Bundes zwischen Staat und Kirche und die Auflösung der letzteren in zahlreiche kirchliche Gemeinschaften. Für dieses wie für jenes spricht viel — ich brauche das nicht erst nachzuweisen; daher befinden sich die in einer schweren Täuschung, welche in der Auflösung der Landeskirche nur Vorteile und Fortschritt zur Wahrheit und Freiheit erblicken. Solange uns nicht aus sittlichen Nötigungen heraus und mit Feuerzeichen dieser neue Weg gewiesen wird, ist es Pflicht, auf dem alten zu verharren. Morgen schon k a n n uns die neue Weisung deutlich werden, aber heute ist sie m. E. noch nicht gegeben. Also haben wir die Landeskirchen zu pflegen und die Güter auszubauen, die sie enthalten. Das muß in erster Linie so geschehen, daß das Leben jeder einzelnen Gemeinde gestärkt und lebendiger wird, gleichzeitig aber so, daß die Ordnungen der Landeskirche den einzelnen Gemeinden eine viel größere Selbständigkeit geben als bisher und daß sie in Lehre und Gottesdienstordnung den verschiedenen Ausprägungen evangelischer Erkenntnis und Frömmigkeit genügenden Raum gewähren. Noch kennt die Kirchengeschichte keine Kirchen, die an ihrer Freiheit gestorben wären, aber zahlreiche Kirchen, die in ihrer Unfreiheit verkümmert und wertlos geworden sind! Wie sich aber auch die Zukunft gestalten wird in bezug auf die deutschen Landeskirchen, ob sie bleiben werden oder nicht — gewiß ist, daß der Protestantismus nicht als Kirche Kulturmacht sein wird, sondern nur als Lebens- und Geistesmacht. Als Kirche ist ja der deutsche Protestantismus im Unterschied vom kalvinisch-romanisch-englischen überhaupt nur in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine progressive Kulturmacht gewesen; als Geistesmacht ist er es im 18. Jahrhundert wieder geworden. Kirchen als Träger der Kultur werden schwerlich je wieder hergestellt werden, selbst wenn sich die
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Landeskirchen freier ausgestalten und wenn sich ein regeres und selbständigeres Gemeindeleben in ihnen entwickelt. Aber auch bei voller Anerkennung dieser Tatsache sind doch die Kirchen in keinem Falle etwas Überflüssiges; im Gegenteil, der Protestantismus als Geistes- und Lebensmacht würde sich verdünnen und verflüchtigen, wenn nicht stets solche vorhanden wären, die die Kirchen als hohes Gut schätzten und pflegten. Schließlich noch ein kurzes Wort: man pflegt Religion, Moral, Staat, Wissenschaft und Kunst unter dem Begriff „ K u l t u r " zusammenzufassen und bedenkt häufig dabei nicht, daß man damit Größen in eins bindet, die disparat sind, von denen jede ihre eigene selbständige Bewegung hat und sich nicht nach einem und demselben Tempo der Entwicklung kommandieren läßt. Sofern aber die Kultur, d. h. die Gesamtentwicklung, ein stetiges und langsames Fortschreiten verlangt und keine Überraschungen und Sprünge duldet, entstehen zwischen ihr und der Entwicklung jener Einzelgrößen fort und fort schwere Konflikte, die schwersten stets zwischen der fortschreitenden Wissenschaft und der Kultur. Die Wissenschaft als solche darf keine Wissenschaftspolitik kennen, der Kulturfortschritt aber vollzieht sich durch Politik, und bei der Pflege der Kultur müssen bereits erkannte Wahrheiten oft genug zeitweise beiseite gelassen werden. Die Bezwingung dieses Problems — soweit es überhaupt bezwungen werden kann — ist die höchste Aufgabe einer Kulturpolitik, die immer größere Massen umspannen und zugleich fortschreiten will.
Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher. Der Herausgeber des Jahrbuchs „Noris", Professor P o h l m a n n , hatte sich Antworten auf die Frage erbeten: „Ist ,Protestantische Kultur' ein geeigneter und genügender Aus-
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druck f ü r die höchsten Welt- und Lebensziele Diese Antworten hat er im Jahrbuch f ü r 1912 (S. 4 f f . ) abgedruckt. Unter ihnen fesselt der Bescheid, den Dr. M a u r e n b r e c h e r gegeben hat. Mit der ihm eigenen Offenheit und Bestimmtheit lehnt der Verfasser den Begriff „Protestantische Kult u r " als geeigneten Ausdruck f ü r die höchsten Welt- und Lebensziele rund ab. Diese Ablehnung hat mich zum Widerspruch bewegt, nicht zum wenigsten weil sie vom Standpunkt Maurenbrechers mit Energie durchgeführt ist. Also kritisiere ich d i e s e n Standpunkt, indem ich die Ablehnung kritisiere, und ich tue es mit der Freudigkeit, mit der man in die offene Feldschlacht zieht. Hier ist kein Hinterhalt zu gewärtigen; dieser Feind zeigt sich mit offenem Visier und mit reinen Waffen. Fünf Gründe f ü h r t Maurenbrecher ins Feld. Der e r s t e lautet: „Der Begriff Protestantismus ist in diesem Zusammenhang historisch falsch." Der Protestantismus gehört zu Luther, Luther aber gehört wesentlich zu Paulus und Augustin, gehört zum Mittelalter, nicht aber zu Kant, Goethe, Nietzsche, Marx, zu denen wir gehören. Luther hat nicht die Bahn f ü r Gewissensfreiheit, Subjektivismus in der Religion und autonome Ethik gebrochen; er steht jenseits des breiten Grabens, der die neue Kultur vom christlichen Mittelalter trennt. Der Anfang unsres modernen Weltbildes liegt bei Kopernikus, dessen Werk Luther auf Grund der Autorität der heiligen Schrift verworfen hat. Bei diesen Urteilen ist, wie so oft in unsrer ideologischen deutschen Geschichtschreibung, die Bedeutung der Τ a t zu Gunsten der Idee und des Gedankens übersehen. Luther, kein anderer, hat uns von Rom und von der ungeheuren Autorität der großen Weltkirche befreit. Diese Tat ist so eminent und bedeutet einen solchen Einschnitt in die Geschichte der Emanzipation Europas, daß ihr überhaupt keine andre Befreiungstat an die Seite gesetzt werden kann.
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Und er hat diese Befreiung gebracht — nicht als ein blinder oder fanatischer Stürmer, dem ein dauernder Erfolg in den Schoß gefallen ist, sondern mit dem sicheren und großen Bewußtsein der Tat und nach langer Vorbereitung. In der ganzen Peripherie seines Daseins war und blieb er gewiß ein mittelalterlicher Mensch, auch war er kein Prophet; aber eben deshalb war er der wirkliche Reformator des sechzehnten Jahrhunderts und der Folgezeit, weil er in den Grenzen s e i n e r Zeit die entscheidende Arbeit getan hat. Einen Reformator, wie ihn sich Maurenbrecher denkt, hat es nie gegeben, kann es nie geben. Wer sich im Luftballon über seine Zeit erhebt, kann das Feld nicht umpflügen und neuen Samen streuen; auch gehört Mehr und Größeres dazu, diese harte Arbeit zu leisten, als Entdeckungen zu machen oder in „Gedanken" die Entwicklung von Jahrhunderten vorwegzunehmen. Neuen Samen hat er aber wirklich gestreut. Wenn Maurenbrecher seine Glaubensart und seinen Glaubensbegriff nicht dafür gelten läßt, so müßte er doch auch von seinem Standpunkt die perfectio Christiana, das Vollkommenheitsideal, gelten lassen, welches Luther dem mönchisch-katholischen Ideal entgegengesetzt hat; denn von hier aus hat sich ein wesentlicher Teil der neuen Ideale und Kräfte entbunden, die das höhere Leben der folgenden Jahrhunderte bewirkt haben. Der z w e i t e Einwurf Maurenbrechers lautet: „Der Begriff Protestantismus paßt nicht für unser Wollen": Luthers ganzes Streben ist noch auf das Jenseits gerichtet und liegt in dem Wort beschlossen: „Schaffet, daß ihr selig werdet"'; unser Zukunftswille aber ist auf die Gestaltung der erfahrungsmäßigen Welt gerichtet. Er setzt sich die Menschheit als Gattung voraus sowie die Einheit von Natur und Geist als Schöpfungen eines in der Geschichte sich abspielenden Weltprozesses. Uns ist die Geschichte der Prozeß eines individuellen Wachstums von gesellschaftlichen Institutionen, Vorstellungen und Willensrichtungen, was für
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Deutschland erst Herder und Kant entdeckt und Hegel ausgeführt hat. Die Reformation bietet aber dafür gar keine brauchbare Tradition. Gegen diese Ausführung ist mehr als e i n e Einwendung zu machen — abgesehen von der Berufung auf Kant und Herder, die mich ebenso seltsam anmutet wie die Berufung auf Goethe (s. oben). Erstlich hat sich Maurenbrecher nicht von der oberflächlichen Betrachtung befreit, als hemme ein auf das Jenseits gerichtetes Streben stets das Streben, die Entwicklung im Diesseits zu befördern. Die Geschichte erhebt fast auf jedem Blatte Protest wider dieses ganz oberflächliche Urteil. Wohl gibt es ein Jenseitsstreben, welches die Dinge dieser Welt laufen läßt; aber selbst im abendländischen Mönchtum ist der Geist fördernder Teilnahme an dem „Weltprozeß" kräftig gewesen, abgesehen davon, daß jeder Mensch, der nach dem Guten strebt, den „Weltprozeß" direkt oder indirekt fördert. Aber es bedeutet nicht weniger als die Verkehrung der geschichtlichen Grundtatsachen, wenn man behauptet, daß die Männer, welche nach der ewigen Seligkeit getrachtet haben, unfähig gewesen seien, in „Wirtschaft, Technik, sozialer Neuorganisation, Politik und in Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion" die Menschheit zu fördern. Das Gegenteil ist wahr, und nur die durch eine nichtsnutzige Theorie Verblendeten vermögen das zu übersehen: „Gläubige" sind die kräftigsten Arbeiter und die größten Wohltäter der Menschheit gewesen. Vielleicht wird es nun anders werden; das wollen wir abwarten! Einstweilen aber haben die die Geschichte f ü r sich, welche behaupten, daß nicht die zutreffende Erkenntnis des Weltbildes an sich schon die Kräfte schafft, um die Welt zu verbessern, so wichtig diese Erkenntnis ist, sondern daß der am besten auf die Welt wirkt, der sich mit ihr nicht einläßt, nichts von ihr erwartet und seines überweltlichen Standorts gewiß ist. Maurenbrecher steht selbst auf diesem Standpunkt, aber er sieht nicht, wo er steht
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und täuscht sich eine Weltseligkeit vor, die er gar nicht besitzt. Indem Maurenbrecher die Losung „Schaffet, daß ihr selig werdet" bekämpft, räumt er aber nebenbei ein, Luther habe den Zusatz: „mit Furcht und Zittern" in den anderen verwandelt: „mit Freudigkeit und Vertrauen". Ich würde das meinerseits nicht so unbedingt behaupten, aber im wesentlichen ist es richtig. Dann aber hätte Maurenbrecher sich klar machen müssen, welche Umwandlung das bedeutet! Es bedeutet das Zutrauen zu dem Weltlauf, stellt also eine sichere Brücke her zwischen dem „Jenseitsstreben" und der Arbeit im „Diesseits". Das „Jenseitsstreben" ist wahrlich kein eindeutiger Begriff! Der d r i t t e Einwurf Maurenbrechers lautet: „Der Begriff Protestantismus ist viel zu eng". Dieselben Keime und Triebe, die wir heute im protestantischen Deutschland fühlen, regen sich in allen Kulturgemeinschaften, im Katholizismus, bei den Juden, in Indien usw. Der transszendente Mythus erweicht sich unter dem Einfluß teils autochthoner, teils importierter Kultur und macht einer entwicklungsgeschichtlich und ethisch gerichteten Immanenz Platz. Es ist eine Weltwelle, nicht nur ein Gekräusel in unsrer mitteleuropäischen Bucht. Daher ist selbst der Ausdruck „Neuoder Freiprotestantismus" zu eng, zumal da der Katholizismus, genau besehen, für die Transmutation in die moderne Auffassung besser disponiert ist als der Protestantismus; denn durch seine „Kirche" mit ihrer zwingenden Autorität ist er an Zwang gewöhnt, wird also der Erkenntnis von dem „Zwang des Werdens" leichter sich beugen als der Protestant, der an seinem individuellen Gewissen hängt. Der Katholik, sobald er das Unhaltbare der Offenbarung eingesehen, wird sich dem Weltgeschehen gegenüber in derselben Stimmung befinden, wie früher der spezifischen Kirchengeschichte gegenüber: es wird ihm schaffender und gestaltender Zwang sein. Die Bindung an das Überindi-
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viduelle, an die Zukunft der Gattung, an Opfer und Hingabe f ü r die Gattung wird er in dieser monistisch-sozialistischen Frömmigkeit wiederfinden, wie er sie früher im Gehorsam gegen die Kirche erlebt hat. Der protestantische Subjektivismus aber ist ganz hilf- und zukunftslos, während es deutliche Fäden neben ihm gibt, die von der historisch gebundenen Eeligion (Katholizismus) zur Hegeischen historisch orientierten Menschheitsreligion (und damit zu Marx) laufen. Der Titel „Protestantische K u l t u r " ist allerdings etwas anspruchsvoll, und es läßt sich manches Erhebliche gegen ihn einwenden. Allein die Einwendung, welche Maurenbrecher vorbringt, bedarf der stärksten Zurückweisung; denn in ihr wird das teuerste Gut, welches uns die bisherige Entwicklung gebracht hat, geradezu verraten — die Freiheit und die Persönlichkeit. Wieder steht es so, daß Maurenbrecher das preisgibt, wovon er selbst den stärksten Gebrauch macht, weil sein Auge nur auf die rotglühenden Punkte des Sozialismus und Monismus gerichtet ist. Der Protestantismus wird als unfruchtbare Episode aus der Geschichte ausgeschaltet, und doch ist er es, der Maurenbrecher befähigt hat, diesen Artikel zu schreiben und diese Stellung einzunehmen! Und wenn der Zwang des Katholizismus uns hier als Vorstufe der Erkenntnis vom „schaffenden und gestaltenden Zwang des Werdens" empfohlen wird, so weiß ich nicht, ob noch ein stärkerer Beleg f ü r die Eigenbrödelei des „protestantischen Subjektivismus" möglich ist, der sich hier selbst überschlägt. Also der Katholizismus hat die rechte Einsicht noch nicht ganz verleugnet; Freiheit aber, individuelles Gewissen, der eine, wenn's sein muß, wider alle — sollen f ü r nichts gelten! D a f ü r soll uns zum Trost der Zwang als „schaffender und gestaltender" eingeredet werden! Wann hat denn jemals der Zwang im Menschlichen etwas schaffen und gestalten können, wenn ihn nicht eine Persönlichkeit in ihren Willen aufgenommen, zur Tat
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gestaltet und geleitet hat? Soll die Seelenknechtschaft und Sklaverei f ü r nichts gelten, in die uns sowohl die physischen als die historischen Zwänge bringen, wenn wir ihnen nicht begegnen? K a n n uns irgendeine wahre oder falsche Theorie von Freiheit und Notwendigkeit diesen Kampf ersparen ? Gilt es nicht, wider alle Theorie ein freier Mann zu sein und die kommende Generation zur Freiheit zu erziehen ? Sollen wir uns an den Moloch des Gattungswillens verkaufen und dem Köhlerglauben von heute huldigen, die neue K u l t u r s t u f e sei gegeben, wo nur immer die monistischsoziale Erkenntnis gewonnen sei? Maurenbrecher glaubt, daß Opfer, Hingabe und monistisch-sozialistische Frömmigkeit hier nicht fehlen werden, und ist in dieser E r w a r t u n g mit dem liebenswürdig naiven Schwärmer O s t w a l d einig; aber woher sollen sie denn kommen? Wie es wirklich aussehen wird, darüber m a g er sich von M a x S t i r n e r belehren lassen, der richtig erkannt hat, daß Gattungswille und dergleichen auch zu dem idealistischen „Dusel" gehört, von dem sich der Einzelne narren läßt. Eine neue Moral und R e l i g i o n also — g e g e n die Konsequenzen des Naturalismus — muß der schaffen, der die neue monistisch - sozialistische K u l t u r s t u f e mitschaffen will. Das sieht auch Maurenbrecher im Grunde ein. Mag sie aber noch so dünn und platt werden, ihr „Überindividuelles" wird ein eifriger Gott werden voll H ä r t e und Zwang, und dann kann — nun auf dem Boden der I n t e r n a t i o n a l s t — die ganze Entwicklung von neuem beginnen, die einst von dem N a t u r g o t t und vom Stadtgott a u f w ä r t s g e f ü h r t h a t ! Nichts ist gewisser, als daß sie kommen würde, wenn das erst eingetreten ist, was Maurenbrecher wünscht und sieht; denn seine Religion und Moral f ü h r t zu den primitiven A n f ä n g e n der Religion. Was sie braucht, ja in diesem ihren Propheten schon hat, obschon er es verleugnet, ist „protestantischer Subjektivismus". Viertens
erklärt Maurenbrecher, der Begriff
„Pro-
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testantische Kultur" sei auch dann zu verwerfen, wenn er nur relativ gebraucht werde und lediglich die Ü b e r g a n g s l i n i e bezeichnen solle, die aus der alten Zeit in die neue führe; denn er sei nicht die einzige Übergangslinie und — Übergangslinien im strengen Sinne gäbe es überhaupt nicht; es handle sich um etwas grundsätzlich Neues und um einen Graben, über den wir hinüber müssen, auch wenn er breit und gefährlich sei. I m neunzehnten Jahrhundert habe sich ein ganz neuer Kulturwille entwickelt (durch den Kapitalismus, durch die Reaktion wider ihn, durch die Wissenschaft und die auf Biologie und Kulturgeschichte sich gründende neue Ethik) ; sei an ihm auch die Arbeit großer Denker beteiligt (Goethe, Hegel, Marx, Nietzsche), so sei die Resultante aus diesen Komponenten doch eine neue Erscheinung, die aber zugleich bereits die Welt in ihrer Breite erfaßt habe. Das werde lediglich verschleiert, wenn man den neuen Zustand mit seinen neuen Forderungen noch an das Alte anknüpfe. „Wir haben die weltgeschichtliche P f l i c h t , dieses Neue zuerst jeder Tradition zu entkleiden, die nicht in der Sache selbst liegt, und es ganz rein und direkt zur Aussprache zu bringen." Alles Umdeuten, wie es fort und fort geübt werde, ist daher aufzugeben. Dann zeigt es sich, daß der Protestantismus nicht mehr die Tradition ist, in der wir leben; man soll den neuen Wein nicht in schon zerrissene Schläuche füllen. Hierauf ist Folgendes zu sagen: Ein breiter Graben zwischen alter und neuer Weltanschauung besteht allerdings f ü r Tausende noch immer — das ist das Wunder. Über diesen Graben müssen sie herüber; soweit stimme ich Maurenbrecher bei; ferner stimme ich ihm auch darin bei, daß man nichts willkürlich und feige umdeuten soll, was sich nicht selbst umgedeutet hat. Von Letzterem scheint Maurenbrecher allerdings wenig zu wissen. Aber wie kann ich ihm hier ein collegium historicum darüber lesen, wie die geschichtliche Entwicklung ihre Fortschritte durch Um-
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deutungen vollzieht? Sie tut es, ob wir es billigen oder nicht, nach dem Prinzip der Sparsamkeit, des Zusammenhalts und der Pädagogie der Kräfte, und weil alles, was wächst, zunächst in seinen alten Rinden wächst. Auch f ü r die sozialistischen Entwicklungen stehen hier Beispiele zur Hand. Doch dem sei, wie ihm wolle — wir hören immer gern die kräftige Stimme derer, die sich den Umdeutungen entgegenstellen; denn sie befördern heilsame Prozesse, Aber wenn nun Maurenbrecher in einem Atem behauptet, d a ß d e r h e u t i g e W i l l e zu e i n e r h ö h e r e n u n d e d l e r e n F o r m des M e n s c h e n — so faßt er die Sache des monistischen Sozialismus — etwas grundsätzlich Neues darstelle, daß uns dies aber nicht etwa nur von Marx und Nietzsche, sondern auch von Goethe und Hegel zugeflossen sei, so weiß man nicht, was man zu diesem Widerspruch und zu dieser Undankbarkeit sagen soll. Nur die beispiellose Selbstgefälligkeit unseres Zeitalters, das im höheren Leben ganz und gar von Überlieferung lebt, aber dabei ein unausstehlicher Gernegroß ist, erklärt diese Undankbarkeit, während der Widerspruch auf Rechnung der lockeren Logik und der schwachen Begriffsbildung zu setzen ist, in welchen eben dieses Zeitalter geradezu exzelliert. Angenommen, Maurenbrecher sei im Rechte mit der Behauptung, der Kern des sozialistischen Strebens sei der Wille zu einer höheren und edleren Form des Menschen, wie darf er behaupten, dieses Streben sei neu und es würde daher seine Ursprünglichkeit und Durchschlagkraft gefährdet, wenn man es noch mit „Protestantischer K u l t u r " in Verbindung brächte? Was haben denn die Mystiker, Luther, Leibniz, Kant, Goethe, Schiller, Humboldt anderes gewollt? Sozialisten waren sie freilich nicht; sie mit einer und derselben Geste fortzustoßen und herbeizuziehen, das bringt aber nur ein Ideologe fertig, der in die Nacht der „sozialistischen Weltanschauung" geraten ist, aber noch von Sonne, Mond und Sternen träumt, und der ein strenger Entwicklungstheoretiker sein will,
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aber dabei von der „grundsätzlichen Neuheit unseres Erlebnisses" wie ein Hierurg spricht. Wenn irgendwo, so ist der Begriff „Protestantische Kultur" dort am Platze, wo es sich um das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit im Sinne der Tradition handelt, mag die Gegenwart noch so viele neue Erkenntnisse haben. F ü n f t e n s endlich gibt uns Maurenbrecher folgendes zu bedenken: Wer an dem unendlichen Wert der Einzelseele festhält, an eine übergeschichtliche Welt glaubt und demgemäß sein Denken und Sorgen auf Individuum und Gattung zugleich einstellt, der hat wohl ein Recht in Nachfolge von Luther, Kant, Schleiermacher und Eitschl von „Protestantischer Kultur" zu sprechen. Allein er soll bedenken, daß er — er mag wollen oder nicht — auf einem kulturfeindlichen Standpunkt steht; denn — zumal bei der Zuspitzung der Gegensätze — die überweltliche Hoffnung des Individuums wird immer durchschlagen und die Kultur degradieren! Der Fortschritt der Kultur in der Gegenwart und Zukunft ist, nachdem durch die Soziologie der substantielle Seelenbegriff aufgelöst ist, ausschließlich an den Stolz, die Gelassenheit und das Selbstgefühl gebunden, die auch gegenüber der klar erkannten Notwendigkeit sich behaupten, daß wir Individuen um des Gesamtprozesses willen wieder verklingen müssen wie ein ausgesungenes Lied. Wer aber die individuelle Unsterblichkeit in den Mittelpunkt seiner Religion stellt, der erzieht die neue Generation wiederum zur Weltflucht des Pietismus, läßt das alte Sirenenlied ertönen von der Seele und ihrer ewigen Heimat und wirft damit das entscheidende Interesse und alle Ziele in ein Jenseits, d. h. er wirkt kulturfeindlich. Aber noch mehr: da der Protestantismus ja überhaupt nur ein Kompromiß ist, so wirkt der Neuprotestant f ü r d e n K a t h o l i z i s m u s . Dieser sammelt und verstärkt sich bereits, um in einer nicht allzufernen Zukunft a l l e Zerbrochenen, Enttäuschten, Besiegten, Energiegeschwächten, Übersättigten,
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die nach Überweltlichkeit verlangen, aufzunehmen. Zwischen der Weltanschauung des sozialistischen Monismus und dem Katholizismus wird einst der große Kampf, der vielleicht nochmals 2000 Jahre dauern wird, geschlagen werden! Von dem schwächlichen Protestantismus wird dann überhaupt nicht mehr die Rede sein. Die also, welche diesen heute zu stützen suchen, betreiben die Geschäfte der römischen Kirche. Den hier vorgetragenen Gedanken, bei deren Darlegung ein Unterton männlicher und schmerzlicher Resignation deutlich zu spüren ist, sind folgende Tatsachen und Erwägungen entgegenzuhalten: Erstlich, es ist eine große, hartnäckig festgehaltene Täuschung, daß der Kampf „Seele oder Seelenlosigkeit", „monistischer Gattungsgedanke oder unendlicher Wert des einzelnen", „Freiheit oder Notwendigkeit" ein neuer sei. Dieser Kampf ist schon unter den Palmen Indiens, im Schatten der Pyramiden Ägyptens und in den Säulenhallen Athens gekämpft worden. Er ist im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert i n t e n s i v nicht minder lebhaft gewesen als im zwanzigsten. Schärfer als er an mich an den Ufern des Embachs vor vierzig Jahren herangetreten ist, kann er auch die heutige Generation nicht treffen, und es ist vollkommen unrichtig zu behaupten, daß ihm irgendeine Entdeckung der allerneuesten Zeit sachlich eine neue Fassung gegeben habe. A m scheinbarsten ist noch die Verweisung auf die Arbeit der materialistischen Soziologie. Allein auch hier sehe ich nicht, daß das prinzipiell und an Schärfe überboten worden, was bereits im achtzehnten Jahrhundert und in der ersten Hälfte des neunzehnten ausgeführt worden ist. Man verwechselt hier augenscheinlich die intensive und die extensive Seite der Sache. E x t e n s i v hat die Frage allerdings ein total anderes Gesicht bekommen, weil hinter der materialistischen Entscheidung heute Tausende stehen (oder zu stehen scheinen), wo früher ein Dutzend stand: das gibt dem Problem gewiß eine ganz neue
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Bedeutung; allein seit wann kommt f ü r den selbständig Denkenden in Betracht, wie viele hinter einer Entscheidung stehen? Für die Nichtdenkenden ist das freilich ausschlaggebend ; der Denkende aber sieht sich heute nicht nur keiner neuen Fragestellung gegenüber, sondern er kann auch in den Argumenten pro et contra schlechterdings nichts wesentlich Neues erblicken; nur Verfeinerungen und Verstärkungen sieht er auf beiden Seiten. Wohl aber ist aus einer individuellen Frage heute eine soziale geworden, welche den ganzen Bestand unseres Daseins ergriffen hat. Das ist die Neuheit der Situation! Zweitens, es ist ein ebenso hartnäckig festgehaltenes Vorurteil Maurenbrechers und seiner Gesinnungsgenossen, durch das kopernikanische Weltbild sei das „Jenseits" zerstört und durch die physiologische und soziologische Psychologie die „Seele". D a s Jenseits und d i e Seele, welche nicht erst wir meinen — denn man kannte sie schon, als noch die naivsten Vorstellungen vom Weltgebäude und vom Menschen herrschten —, haben wir nicht von den Tatsachen abgelesen, die man zählen, wägen und betasten kann, sondern aus der inneren Erfahrung und der Geschichte; auch die soziologische Psychologie vermag ihnen nichts anzuhaben. Durch den „Himmel" und die „individuelle Unsterblichkeit" sind sie mißverständlich bezeichnet; wohl aber sind wir überzeugt, daß dem Gefühle, welches uns zu einem Übersinnlichen und Ewigen treibt, eine Wirklichkeit entspricht, und daß es eben dieses über die Welt erhabene Wirkliche ist, welches in dem Streben nach Freiheit und Güte zum Ausdruck kommt. Von hier aus ist uns gewiß, daß wir mit unsern Sinnen nur einen Teil der Wirklichkeit wahrnehmen, deren andere und höhere Teile uns als Werte zum Bewußtsein kommen, die uns um so deutlicher werden, je entschlossener wir in ihnen leben. Da wir nicht wissen, wie sich Gattung und Individuum wirklich verhalten, so wäre es eine Vermessenheit, rund individuelle Unsterblich-
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keit zu behaupten; denn da wir eine solche nur als Fortsetzung unseres gegenwärtigen Daseins vorzustellen vermögen, ist diese Vorstellung sicher falsch. Aber weil wir fähig sind im Ewigen zu leben und über die Welt emporgehoben sind, empfinden wir es als einen sehr viel größeren Irrtum, die gewisse Hoffnung auf die Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens abzuschneiden. Drittens, in dieser gewissen Hoffnung werden wir bestärkt durch die Einsicht, d e r s i c h a u c h M a u r e n b r e c h e r n i c h t v e r s c h l i e ß t , daß „ohne edlen Stolz, Gelassenheit, Selbstgefühl und wiederum Opfer und Hingabe" wohl die vernunftlose Kreatur, nicht aber die menschliche Gesellschaft bestehen kann. Woher aber sollen diese Kräfte kommen, da sie auch nach Maurenbrecher sich „ g e g e n ü b e r der klar erkannten Notwendigkeit des Weltprozesses" behaupten müssen, also, wie es scheint, doch nicht a u s dieser Notwendigkeit stammen? Maurenbrecher vertraut dennoch darauf — der Widerspruch liegt auf der Hand —, daß sie sich aus der Hingebung an den Gattungsbegriff, an die Großartigkeit der Wellenbewegung des Weltprozesses entbinden werden. Wie soll das zugehen? Das durchgehende Manko in seiner Abhandlung liegt in der Tatsache, daß er in ihr das große neue Schauspiel der Zukunft, wenn erst der breite Graben überwunden ist, vorführt, aber von den Akteuren so gut wie nichts sagt, die es aufzuführen haben. Und wenn er von ihnen spricht, imputiert er ihnen als selbstverständlich Kräfte und Tugenden, ohne zu sagen, woher sie sie nehmen werden, oder er ergeht sich in Widersprüchen. Viertens, auf die grundlose Behauptung, jedes „Jenseitsstreben" entspringe aus Schwächlichkeit oder Übersättigung, führe zur Weltflucht und schädige die progressive Weltkultur, bin ich bereits oben eingegangen und setze ihr nicht nur einzelne Tatsachen und Personen, sondern einfach den Gang der Geschichte selbst gegenüber, der sie
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widerlegt. Denn, wer hat diese Geschichte gemacht, etwa die Materialisten und Positivisten? Nein — protestantische Männer, und zwar solche Männer, die die Weltanschauung, die uns Maurenbrecher empfiehlt, auch kannten, aber als den Tod aller Freiheit und alles Fortschritts ablehnten. Ausdrücklich bedarf noch die Prophezeiung der Widerlegung, daß in nicht allzuferner Zeit der Katholizismus und der sozialistische Monismus die einzigen Weltanschauungen sein werden, die übrig bleiben. Hier liegt die seltsamste Verwechselung der Zukunft der protestantischen Kirchen — und des Protestantismus vor. Das Schicksal der heutigen protestantischen Kirchen vermag freilich niemand zurzeit zu enträtseln; aber die Entwicklung, die der evangelische Protestantismus in ihnen erlebt hat und noch erlebt, ist doch kein Absterben? Oder werden in der Geschichte Totenscheine vom Geschwätz der Journalisten und den Abstimmungen der Masse ausgestellt? Einzuräumen ist, daß von der mächtigen Welle, von der sich Maurenbrecher hilflos überflutet sieht — um dann aus der großen Not eine Tugend zu machen —, sich auch mancher wackere Bootsmann als bedrängt empfindet; aber daß die Segel gestrichen werden, vermag ich nicht zu sehen. Einst, als die antike Welt unterging, war das letzte Segel, das noch über den Wassern schwebte, das Segel des mit Plato verbündeten Christentums, und es hat den zukunftskräftigen Rest der alten Kultur in eine neue Epoche übergeführt. Wenn es dem monistischen Sozialismus je gelingen sollte, unsere Kultur zu zerstören, so wird das Segel des Protestantismus als letztes über den Wassern schweben, und es wird den Rest, den die Barbaren übrig gelassen haben, einer neuen Zeit zuführen. Einer neuen Zeit — nichts ist an dem Aufsatze Maurenbrechers erfreulicher als die kräftige Entschlossenheit, in die Zuk u n f t zu blicken und ihr zu dienen. Er weiß sich als Bürger eines neuen Zeitalters und will abstoßen, was, aus der Vergangenheit stammend, die Entwicklung dieses Zeit-
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alters hemmt. Das ist die Stimmung und der Entschluß eines tüchtigen Mannes; aber statt seinen Standort so hoch zu nehmen, daß er die Maße der Gegenwart nicht gegenüber den Maßen der Vergangenheit überschätzt, verfährt er wie ein schlechter Photograph, auf dessen Bildern der Vordergrund so übermäßig erscheint, daß der Hintergrund zur quantite negligeable wird, und urteilt nicht wie ein Entwicklungshistoriker, sondern wie ein Sektierer, der seinen Besitz für ganz neu und den Besitz anderer für ganz veraltet hält.
Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers. (1926)
1. E i n l e i t u n g . Von der kirchengeschichtlichen oder von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Reformation Luthers zu handeln, wäre überflüssig; denn hier steht das Urteil in den Grundzügen fest. Niemand bezweifelt, daß seit dem Beginn des Mittelalters kein anderes Ereignis in der Kirchengeschichte an Bedeutung der Reformation gleichkommt, und allgemein wird anerkannt, daß nach dem Zusammenbruch des Kaisertums der Staufer die deutsche Reformation und die französische Revolution die einschneidendsten Ereignisse in der Geschichte Westeuropas gewesen sind. Streit ist über das Maß des Verdienstes oder der Schuld; dieser Streit wird voraussichtlich niemals geschlichtet werden, weil die Entscheidung von dem Glauben und der Weltanschauung abhängt. Aber was die Reformation in r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e r Hinsicht bedeutet, darüber fehlt es durchaus noch an Klarheit. Was heißt hier religionsgeschichtlich? Nun, die Frage ist, ob die Reformation nur ein häuslicher Streit in der abendländischen Kirche gewesen ist und noch ist, oder ob sie umgekehrt eine neue Religionsstiftung bedeutet, oder ob weder dieses noch jenes richtig ist, sondern die Reformation innerhalb des Christlichen eine neue Religionsstufe von charaktervoller Eigenart darstellt — neu
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in der Erfassung, neu in der Begrenzung der Religion, neu auch in dem ganzen Aufbau des Heiligen an sich und gegenüber der Welt. Die positivistische Geschichtschreibung sieht in der Reformation nur einen innerkirchlichen Zank, an dem der Mensch des 20. Jahrhunderts keinen Anteil mehr zu nehmen vermag — im besten Fall den Beginn der erwünschten Säkularisierung der Religion oder auch umgekehrt die unliebsame Hemmung ihres Verfalls. Dagegen erkennen Andere in ihr eine neue Religionsstiftung. So schreibt Döllinger: Luther müssen wir unzweifelhaft zu den Religionsstiftern rechnen, wenn er auch selbst diese Bezeichnung entschieden zurückgewiesen haben würde — nur Reformator wollte er sein. Aber so ist es ja von jeher gegangen, daß Reform versuche zur Bildung eigener Religionssysteme ausgeschlagen sind oder im Laufe der Zeit sich dazu entwickelt haben. Die Genossenschaft, die die Wittenberger Lehre zu der ihrigen machte, hat das auch richtig erkannt und unbedenklich von der „Lutherischen Religion" in Büchern und im Leben gesprochen. Die Gabe der sozialen Organisation ging dem Wittenberger Reformator freilich ab; er vermochte, möchte man sagen, eine Religion, aber keine Kirche zu gründen.
Dieses Urteil ist unrichtig; denn Luther hat an der Grundvoraussetzung der alten und mittelalterlichen Kirche nichts geändert, daß nämlich die christliche Religion die Religion der Erlösung von Sünde und Schuld zum ewigen Leben durch Christus sei, und er stützt sich auf dieselbe Quelle, wie jene, auf die Heilige Schrift. Also kann von einer neuen Religionsstiftung nicht die Rede sein — nur um eine neue Erfassung eines und desselben Inhalts kann es sich handeln. Dabei kann der Unterschied freilich so groß sein, daß die eine Fassung die andere aufhebt; aber immer ist bei der Bestimmung des Wesens der Reformation von der mittelalterlichen Kirche auszugehen; denn aus dem Schöße dieser Kirche hat sie sich entbunden. Wer sie daher in ihrer Eigenart erfassen will, muß zuvor den mittelalterlichen Katholizismus ins Auge fassen.
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2. D e r m i t t e l a l t e r l i c h e K a t h o l i z i s m u s . Was ist sein Charakteristisches, wie es noch heute Wesen und Eigenart der römisch-katholischen Kirche bestimmt? Der K i r c h e n b e g r i f f und der S a k r a m e n t s b e g r i f f sind, auch wenn man die Gesamtgeschichte der Religionen aller Zeiten ins Auge faßt, das Originalste und das Bedeutendste, was die katholische Kirche hervorgebracht hat und besitzt. Mit diesen Begriffen löst sie eines der schwierigsten Probleme in allen höheren Religionen, nämlich, wie das Innerliche und Ewige der Religion, indem es sich notwendig im Äußerlichen, in der Zeit, also im Relativen, darstellen und verwirklichen muß, sich doch als das Innerliche, Ewige, Unwandelbare und Absolute zu behaupten vermag, also, im Äußerlichen sich auswirkend, so heilig und göttlich bleibt wie im Innerlichen. Was hier gemeint ist, mag ein Wort von G o e t h e veranschaulichen: Alles, was sich aufs Ewige bezieht, sollte sich von Rechts wegen außer Streit setzen, obgleich auch hier manches Hindernis obwaltet. Denn indem wir durch unsre Denk- und Empfindungsweise auch äußere Verhältnisse gründen, eine Gesellschaft um uns bilden oder uns an sie anschließen, so wird ein Inneres zum Äußerlichen; ein solches, wohl aufgenommen oder feindlich bestritten, muß erhalten, es muß verteidigt werden, und so sind wir auf einmal vom Geistlichen ins Weltliche, vom Himmlischen ins Irdische und vom ewig Umwandelbaren in das zeitlich Wechselhafte zurückgezogen.
Durch den Kirchenbegriff und den Sakramentsbegriff holt die katholische Kirche das Heilige, die Gnade, vom Himmel herab und verschmilzt es mit dem Leben der Gegenwart. Alles erdenkliche Große und Hohe sagt sie von der Kirche aus: Sie ist der gottmenschliche Organismus, der Leib Christi; sie ist der lebendig gegenwärtige Christus, seine Braut; sie ist die Verbrüderung der Menschheit zu einer wirklichen und wahren Einheit; sie ist die Gesinnungsgemeinschaft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung; sie ist ein sichtbares Reich, regnum externum, civitas dei,
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geleitet auf Erden durch den Statthalter Christi, den römischen Bischof. Das sind nicht zwei oder mehr Kirchen, sondern alles das ist eine und dieselbe Kirche, für die es gleich wesentlich ist, daß sie Leib Christi, Gesinnungsgemeinschaft und auch sichtbares Reich ist. Ferner aber — in den Sakramenten ist eine zweite Natur gegeben über der Natur, eine zweite Substanz über der Substanz, d i e G n a d e n s u b s t a n z ; nicht nur um Geist und Wort handelt es sich, sondern um substanziell gewordenen Geist und um das heilige Element göttlichen Seins und Lebens. Wohl fließt hier Alles aus dem „Verdienst des Leidens Christi", der sich in dem Meßopfer täglich in Realpräsenz darstellt, und hat letztlich seinen Zweck in der Sündenvergebung und der Mitteilung von Kräften des ewigen Lebens; aber es appliziert sich wie ein heiliger Stoff, eine heilige Medizin, die unter der Voraussetzung des Glaubens das ganze irdische Sein und Leben tatsächlich in ein gnadenhaftes und gottmenschliches umwandelt. Mit diesen beiden Glaubensgedanken von der Kirche und von den Sakramenten überbrückt die Kirche den Gegensatz von Ewigkeit und Zeit, von Absolutem und Relativem, von Innerlichem und Äußerlichem. Durch sie ragt die obere Welt tatsächlich und substanziell hinein in diese zeitliche, schuldhafte und dem Tode verfallene Welt. Das internum aeternum ist hier zu einem externum aeternum geworden, und der Geist wandelt daher nicht nur im Diesseits und im Glauben und Hoffen, sondern er steht im Diesseits und Jenseits zugleich, weil das Jenseits herabgestiegen ist und sich mit dem Diesseits verschmolzen hat. So ist diese arme Welt in der Kirche und durch die Sakramente noch einmal gesetzt, nun aber als das Himmelreich auf Erden, und der Christ ist nicht nur Bürger einer zukünftigen Welt, sondern er besitzt zugleich auch schon in geheimnisvoller Weise das übernatürliche Wesen selbst. Aus diesem allgemeinen Kirchen- und Sakramentsbegriff ergeben sich fast überall mit Notwendigkeit die einzelnen
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Lehren über die Kirche, der Unterschied zwischen Klerus und Laien, Regierern und Regierten bis zur Unfehlbarkeit der monarchischen Spitze und bis zur Behauptung: „Extra ecclesiam nulla salus", und wiederum die Lehren von der Gnade und Rechtfertigung bis zur Behauptung, daß alle „Gerechtigkeit" und der ganze Prozeß der Rechtfertigung und Heiligung ausschließlich in den Sakramenten ihre Quellen haben. Auch können die Überzeugungen nicht mehr frappieren, daß es religiöse Selbständigkeit und reine Innerlichkeit für Niemanden geben darf, daß der Gehorsam gegenüber der Kirche, sei es auch nur als kirchlicher Patriotismus, schlechthin notwendig und verdienstlich ist, daß der Glaube nur die Bedeutung eines Anfangsakts haben kann, und daß das „Wort" a l l e i n unfähig ist, wahre Gerechtigkeit zu erzeugen. Aber in dem Kirchen- und Sakramentsbegriff erschöpft sich noch nicht das Eigentümliche der abendländisch-katholischen Kirche, vielmehr tritt noch ein drittes Moment hinzu, das jedoch in einem tiefen innern Zusammenhang mit der Fassung jener Begriffe steht. Es ist d e r U η i ν e r s a l i s m u s d e s R e l i g i ö s e n , das hier so umfassend ausgebildet ist wie in keiner anderen Religion. Zwar ist, wie bemerkt, letztlich Alles bezogen auf den e i n e n Punkt der Erlösung von Sünde und Tod, aber dieser Gedanke hat hier die erstaunlichste Ausgestaltung erfahren. Es ist die complexio oppositorum und diversorum, welche die Dogmatik dieser Kirche charakterisiert. Sie vermag das Verschiedenste zu umklammern, jedem religiösen Bedürfnis zu entsprechen, auch den inferiorsten religiösen Mitteln und Stimmungen gerecht zu werden und ihnen eine Stelle anzuweisen, gleich als handle sie nach dem Grundsatz: „Verdirb es nicht; es ist ein Segen darinnen." Das zeigt sich in jedem Punkte der Lehre, den man ins Auge faßt. Ein paar Beispiele. Diese Kirche umklammert in der wundervollen Gotteslehre Thomas' von Aquino, die sie sich angeeignet hat — wundervoll vom Standpunkt des Denkens — den Gottesbegriff des
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Alten und Neuen Testaments, des Augustin, des Aristoteles und den der Legalität. Sie weiß ferner in ihrem Begriff der christlichen Vollkommenheit die im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung gegebene Vollkommenheit mit dem strengen asketischen Ideal auszugleichen. Sie vermag weiter das Paulinische Wort: „Was hast du, das du nicht empfangen hast" mit der Verteidigung der Werkgerechtigkeit zu verbinden und die „Gnade" und das „Verdienst" in eine Art von Gleichgewicht zu setzen. Sie ordnet das Religiöse dem Moralischen unter, aber sie ordnet es ihm auch über. Sie will nur von solchen Gnadenmitteln wissen, die aus dem Verdienste des Leidens Christi fließen, aber sie kennt zugleich unzählige religiöse Hilfsmittel zweiter und dritter Ordnung und ebenso viele Nothelfer, die sie in eine künstliche Verbindung mit Christus setzt. Sie weiß, was allein wahre Heiligkeit ist, und wer allein der Heilige ist, und empfiehlt doch abgestufte Heiligkeiten bis herab zum Weihwasser und Amulett und wiederum bis zu heilig und selig gesprochenen schwachen Menschen. Es ist, als ob dieser Universalismus zeigen wollte, daß alle denkbaren Religionsstufen in ihm „aufgehoben" sind, und daß er, wie er die Welt noch einmal setzt, so auch Alles, was sich als Religion anbietet, dadurch adelt und konserviert, daß er es sich unter- und einordnet. In der Tat — diese Kirche scheint einen Zauberstab zu besitzen, durch welchen sie jedes minderwertige Metall in Gold zu verwandeln vermag, und sie spielt ein Orchester, aus welchem Jeder das Instrument heraushören kann, das ihm das vertrauteste und liebste ist. Daß dieser Universalismus in folgerechter Verbindung mit dem Kirchenund Sakramentsbegriff steht, die selbst schon eine eigentümliche complexio oppositorum darstellen — wer kann das verkennen? Diese Entwicklung der Religion zur Kirche der Kirchlichkeit und des Sakraments wird protestantischerseits häufig aus einer Verweltlichung abgeleitet; aber so gewiß diese einen mächtigen Anteil an ihr hat, so wenig wird man dem
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Tatbestande allein durch diese Erklärung gerecht. Vielmehr hat hier, wie bereits bemerkt, ein kräftiges religiöses Element gewirkt: Im Urchristentum bestand die Gefahr, den ganzen Ertrag der Religion in die Zukunft zu werfen und von der Zukunft zu erwarten. Bereits der Apostel Paulus hat sich, ohne sich dabei seiner Frontstellung bewußt zu sein, dieser Verkümmerung entgegengeworfen mit seiner Verkündigung der gegenwärtigen Gotteskindschaft; aber diese Verkündigung fand nicht den Widerhall und die Aufnahme, die ihr gebührt, vielmehr blieb sie unentwickelt, und die Kirche suchte neben ihr auf einem anderen Wege das Heil als einen gegenwärtigen Besitz zu erfassen und das Heilige und Ewige in das diesseitige Leben überzuführen. Eben durch die Ausbildung des Kirchlichen und des Sakraments geschah dies und durch jene umfassende Stufenbildung des Religiösen, die trotz des asketischen Ideals einer Weltverklärung im Rahmen der Kirche gleichkommt. 3. L u t h e r . In dieser weitschichtigen Welt der Religion ist Luther auf gewachsen; in ihr hat er zuerst gelebt; mit ihr hat er sodann gerungen; von ihr hat er sich endlich losgerissen — nicht, weil er ihr ein bestimmtes Dogma, sei es auch das wichtigste, entgegensetzen mußte, sondern weil diese Welt voll Religion seiner Gotteserfahrung nicht entsprach. In der Tat, niemand wird Luther gerecht, der hier nicht alles auf diese Gotteserfahrung bezieht, d. h. auf die Erfahrung „Gott in Christus", und daher wird auch niemand ihm gerecht, der diese Erfahrung bei ihm anders faßt, als das über alles G e w i s s e und als das stetig T r ö s t l i c h e . Eben deshalb aber ist es auch nicht unbedenklich, sich mit Vorliebe mit dem „Durchbruch" bei Luther zu befassen oder mit seiner Bußlehre oder mit seiner „Dialektik" des Gottesbegriffs oder mit den Details seiner Rechtfertigungslehre. Das alles muß notwendig von der Hauptsache, die bei ihm vorliegt, abführen. Diese Hauptsache aber ist seine Got-
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teserfahrung — im Sinne des Gottes alles Trostes — als das unerschütterliche Fundament seines Lebens. W i e hätte er denn auch leben, diese Welt von Sünde und Feindschaft ertragen und sein Werk auf seine Schultern nehmen können, wenn ihm der gnädige Gott nicht das Sicherste, das Eindeutigste, das Stetige und das Unwandelbare gewesen wäre! Das Positive, nicht das Problematische, das Einfache, nicht das Dialektische, das kündlich Große, nicht das Verborgene, hat seinem Leben und seiner Verkündigung die Kraft gegeben; zu ihm ist er täglich zurückgekehrt, nicht nur aus den Anfechtungen von Sünde, Tod und Teufel, sondern auch aus den Zweifeln seiner Theologie, aus den Widersprüchen und Nöten, in die sie ihn versetzte, und aus dem Steckenbleiben in der Traurigkeit der Buße. Im Grunde war ihm Alles in dem Einen gegeben, daß „wir glauben sollen, Gott sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder", und als Reformator kannte er nur die e i n e Paradoxie der Religion: „Ich glaube die Vergebung der Sünden". Es soll mit seinen Worten hier stehen, daß es so ist: Was Ein
heißt
Gott
Zuflucht anderes oft
„einen
heißt
das,
haben
in
ist, denn
gesagt
habe,
Gott wozu
allen ihm
daß
haben" man
Nöten,
von
oder
sich also
Herzen
allein
das
was
versehen daß
und und
„Gott"?
soll
einen
trauen
Trauen
ist
alles
Gott
Antwort:
Guten
haben
glauben Glauben
— des
und
nichts
wie
ich
Herzens
machet beide, Gott u n d Abgott. Ist das Glauben u n d Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, u n d wiederum, w o das Vertrauen falsch und
unrecht
gehören
hängest u n d stehst lich
du das
ist, da
ist auch
zusammen,
Glaube
verlassest,
nun ganze
das
leichtlich, Herz
allein und N i e m a n d
der und
des
Gott
nicht;
Worauf
du
ist eigentlich
was
anders
rechte Gott.
und
wieviel
Menschen . . . .
und
dein
Gott
denn nun . . . .
die
dein
zwei Herz
Also
dies
Gebot fordert,
alle
Zuversicht
vernäm-
auf
Gott
D a s heißt ihn aber gefasset,
wenn
ihn das Herz ergreift u n d an ihm hanget. Mit dem Herzen aber
an
ihm hangen ist nichts anderes, denn sich gänzlich auf ihn verlassen. Hast du ein solches Herz, das sich eitel Gutes zu ihm versehen kann, sonderlich in N ö t e n u n d Mangel, dazu alles gehen u n d f a h r e n lassen, was
nicht Gott ist, so hast du den einigen rechten
Gott.
Wenn man von diesen Worten aus auf den katholischen Kirchenbegriff und die Sakramente samt dem „Universalis-
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m u s " der Religion zurückblickt, so ist mit e i n e m Schlage klar, daß sie für Luther nicht mehr bestehen können. Was ihn treiben mußte, sie aufzugeben, ist ebenso klar — der E r n s t der Religion und ihre G e w i ß h e i t. Ist das heilige Tröstliche für die Seele der lebendige Gott selbst und nur Er, so wird die Religion um ihren Ernst gebracht, wenn hier ein Peripherisches vorgeschoben wird, welches, sei es als irdischer Organismus, sei es als Substanz, ihn vertreten soll, und noch mehr, wenn es abgestufte heilige Trostmittel geben soll statt des Tröstens selbst. Das Gleiche gilt von der Gewißheit. Der Zusammenschluß mit Gott als Person im Vertrauen kennt kein Mehr oder Weniger und auch keinen Zweifel, ob man ihn hat oder nicht hat; denn Er selbst ist da. Kirche und Sakrament aber sind Größen, bei denen die Unsicherheit über das zureichende Maß des Anteils nie ausgeschlossen werden kann. Luthers Zweifel sind nicht an der Autorität erwacht — diese hat er sich ja erst später Stück für Stück und schmerzlich von der Seele reißen müssen 1) —, sondern am Sakrament und zwar, wie zu erwarten, am Bußsakrament, weil es das Sakrament des Trostes sein sollte. Aber weder seinem Ernste genügte es noch seinem Ringen nach Gewißheit. Was er ihm entgegensetzte, weil er es erleben durfte, war die ausschließliche Zusammengehörigkeit des lebendigen Trostgottes und des stetigen bußfertigen, d. h. demütigen, Vertrauens. Die Religion war damit auf e i n e n Punkt zusammengezogen, wollte sich fortan nur in diesem behaupten und stieß ihre ganze bisherige Peripherie, d. h. ihre Projektion in das Gewebe und in die Substanz des Irdischen als Täuscherei ab. Das große, vom Katholizismus erbaute Gebäude der heiligen Weltkirche und des substanziell Gott-Menschlichen fiel dahin — nur in den vertrauenden Gotteskindern, den neuen Menschen, lebt auf dieser Erde Gott, als Geist und in seinem Wort. *) Allmählich freilich wurde ihm die fehlende biblische und geschichtliche Begründung des katholischen Kirchen- und Sakramentsbegriffs zu einem Hauptargument gegen ihn.
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Eine ungeheure R e d u k t i o n der Religion aus dem Vielfachen zum Einen war die Folge dieser Glaubenserkenntnis. Diese Reduktion war im Innerlichsten nicht geringer als im Inneren und im Äußeren. Im Inneren und Äußeren tritt sie bei ihm, angefangen von der Schrift über die „Babylonische Gefangenschaft", so mächtig in die Erscheinung, daß es überflüssig ist, darüber etwas zu sagen oder noch von den Resten zu sprechen, die er übrig gelassen hat, und von den Widersprüchen, aus denen er sich nicht zu befreien vermochte. Die Kirche als regnum externum mit allem, was zu ihrer Organisation gehört, fiel dahin, die Kirchenautorität samt der Buchstaben-Autorität fiel dahin, das Sakrament fiel dahin — denn was hier übrig blieb, war das Wort, das sich mit sakramentalen Zeichen verbindet — dazu der komplizierte Gottesbegriff und jenes Vollkommenheitsideal, welches dem stetigen Vertrauen auf Gott noch etwas hinzufügen zu müssen meinte. Aber gleich wichtig ist hier die Reduktion im Innerlichsten: Alle bloßen religiösen Stimmungen, die ganze Stufenleiter erhebender übersinnlicher Gefühle und die bunte Welt der Nothelfer und der heiligen Dinge hat hier keinen Platz mehr, weil im Wort und Glauben Gott selbst als der Gott alles Trostes gegenwärtig ist. Alles Trostes — damit war zugleich die Distanz gegeben, aus der die Ehrfurcht und Demut entspringt; denn nichts ist unbegreiflicher, ernster und heiliger als die Erfahrung zuvorkommender und unverdienter Liebe. „Verarmte Leute" — so bezeichnen die katholischen Gegner Luther und seine Anhänger, und noch schlimmer: sie sagen, hier sei das Geheimnis und die Kraft der christlichen Religion, daß sie einen Kosmos des Gott-Menschlichen auf der Erde schaffe, preisgegeben, und das Letzte: diese Reduktion auf den „Fiduzialglauben" sei seelengefährlich, weil dieser Glaube von der ihn nährenden Wurzel der Kirche und des Sakraments abgeschnitten sei. Sie haben von ihrem Standpunkt vollkommen Recht, und wir sollen uns nicht beklagen, wenn sie in deutlichen Worten uns der Irrlehre
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zeihen. Hat doch Luther selbst diese Anklage aufs schärfste zurückgegeben, ja alles „Heilige" als seelengefährlichen Irrtum zurückgewiesen, was nicht in das Gebiet des Gewissens fällt, und was ohnmächtig ist, den neuen Menschen zu schaffen. Der Kampf der Uberzeugungen kann und darf hier nicht aufhören; aber hinter den Uberzeugungen stehen die lebendigen Menschen, die oft genug ihre eigenen Uberzeugungen nicht kennen und aus tiefen unbewußten Quellen ihr wirkliches geistliches Leben schöpfen. Ist das Verhältnis „Gott (offenbar in Christus und seinem Wort) und Glaube" ein exklusives und erschöpfendes, so ist damit der Heilsbesitz als gegenwärtiger ebenso sicher nachgewiesen wie im Katholizismus, und auch der Vorwurf kann die Lehre Luthers nicht treffen, sie sei spröde und kühl. Denn so gewiß sie den „gottmenschlichen Kosmos" der Kirche und der Sakramente ablehnt, so gewiß entfaltet sie sich in Fülle und Kraft im Leben. Erstlich nämlich hat Luther darüber keinen Zweifel gelassen, daß die Erweckung und Ausbreitung des Glaubens in g e s c h i c h t l i c h e r Weise zu denken ist: eine unsichtbare Gemeinde der Gläubigen ist da, die Kirche; aus ihr wird der einzelne Gläubige geboren, wie aus einer Mutter; ein Bruder wird dem anderen ein Christus, und die unsichtbare, aber spürbare Gemeinschaft trägt und stärkt den Einzelnen, der mit der Gottesliebe die Liebe zu den Brüdern empfängt, zu den Ebenbildern Gottes. Gottesliebe gleich Bruderliebe, Bruderliebe gleich Gottesliebe — kann es etwas geben, was mächtiger in das Leben eingreift als dieses Evangeliuml Sodann, das Leben im Glauben entfaltet sich in einer Fülle von Strahlen. Es ist Zuversicht, es ist freudige Ergebung und Geduld, und wiederum Mitarbeit am Werke Gottes; denn Mitarbeiter Gottes sind die erlösten Gotteskinder — keine Ausschnitte des Heiligen gibt es im weltlichen Leben, kein an sich heiliges Tun und keine heiligen Werke; aber A l l e s wird geheiligt, was als Gotteswerk übernommen wird. „Und streck' nun aus mein' Hand, greif' an das Werk mit Freuden, dazu
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mich Gott bescheiden in mein'm Beruf und Stand." Das dingliche Gebiet des Heiligen ist aus der Welt verschwunden; aber in Wahrheit ist das Heilige umfassender und aktiver geworden; denn Alles ist Gottes Acker, wo immer ein Christenmensch steht und arbeitet. Auch kann es kein prinzipielles Mißtrauen mehr gegenüber der Kultur geben, wie im Katholizismus, weil es kein an sich heiliges Gebiet auf Erden gibt. Und noch Eines — die christliche Verkündigung muß auf der Höhe bleiben, auf der sie allein rein und lebendig sein kann; aber es gibt Vorstufen, und das Pädagogische hat einen weiten Spielraum. Darüber hat Luther keinen Zweifel gelassen; hat er doch unbedenklich sogar aus dem „Gesetz", dem großen Gegner der Gnade, eine Vorstufe gemacht, und hat er doch, der wie kaum ein Anderer die Unmündigen und Halbmündigen kannte und liebte, von der Naturbetrachtung, der Wissenschaft und der Kunst und vom sozialen und politischen Leben für den Glauben den edelsten Gebrauch gemacht. Auch für die Religion gelten die beiden großen Gesetze des Lebens — nicht nur: „Alles ist Frucht und Alles ist Same", sondern auch: „Alles ist gegensätzlich und Alles ist Stufe." Darum muß die Religion die Schule und die Kultur — als Vorhof und als Lebensgebiet — neben sich haben, und ebenso auch den Staat und das Recht. Aber wie leicht kann der Glaube, wie ihn Luther gefaßt hat, trivialisiert werden und zur Banalität herabsinken! Gewiß, das kann er; die Geschichte hat es reichlich bewiesen, und die Gegenwart lehrt es Jeden. Aber „Corruptio optimi pessima" *), und die Gefahr ist im Katholizismus nicht geringer. Sie wird in ihm nur dadurch verdeckt, daß, wenn er verderbt wird, immer noch politische Größe, dazu Ästhetisches und Romantisches übrig bleibt, was den Schein eines christlichen Lebens vorzuspiegeln vermag, während im Pro*) „Je besser etwas ist, um so schlimmer wird es, wenn es verderbt wird."
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testantismus bei der Trivialisierung und Verwahrlosung nichts nachbleibt, ja weniger als nichts. Der Lutheraner C l a u s H a r m s ist es gewesen, der das herbe Wort gesprochen hat, daß sich im Katholizismus die Menschen die Sündenvergebung wenigstens noch etwas kosten lassen, die Protestanten sich ihre Sünden selbst vergeben. Aber so beschämend dieses Wort ist, so wenig kann es an der Einsicht irre machen, daß der Katholizismus prinzipiell ein breites Stück Welt in das Heilige selbst aufgenommen hat, während der Protestantismus wenigstens vor dieser Täuschung bewahrt bleibt. Worin besteht also die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers? Darin, daß sie die Religion aus allen Verklitterungen herausgezogen, alles Peripherische und Halbe abgestoßen, alle äußeren Autoritäten beseitigt und sie ausschließlich auf ihren heiligen Ernst und auf ihren Trost beschränkt hat, der in dem exklusiven Verhältnis „deus et fides" („Gott in Christus und kindliches Vertrauen") gegeben ist — darin besteht ihre Bedeutung. Indem man ihr das zugesteht, erscheint sie wirklich als eine neue Stufe in der Religionsgeschichte; denn wo findet sich hier etwas Ähnliches, wenn man hinzunimmt, daß sie bei solcher Haltung nicht einem asketischen Ideal das Wort redete, sondern die Religion mitten in das Leben, wie es gelebt wird, hineinsetzte? Die Letzten sind hier die Ersten geworden; denn wenn im Katholizismus die Ordnung galt, daß das Mönchtum den Höhepunkt der Christlichkeit bezeichnet, und der Glaube etwas nur Vorläufiges ist, so wird hier alle Kräftigkeit der Religion an dem Glauben allein bemessen. Die heutigen Herostraten der Kultur aber, die sich auf Luther berufen, sind ebenso in einem Abfall von ihm begriffen wie die Hochkirchler, welche die sakramentale Mystik zurückrufen oder nach einer neuen Autorität, sei es der Kirche, sei es des Buchstabens, ausschauen, und wie die Weltflüchtigen, die es doch nur zu Exklamationen und dilettantischen Versuchen bringen. Gewiß weiß auch der
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schlichteste evangelische Christ, daß die Welt vergeht mit ihrer Lust, und man sie nicht lieben soll; aber es ist ihm keine Paradoxie, und er braucht auch keine Dialektik, um in eben dieser Welt sein Arbeitsfeld zu erblicken. Und eben dieser Christ weiß auch, daß die wahren Heiligen Gottes die Männer sind, die ihren Gott im Glauben ergriffen und alles Andere, was sich als Religion darbietet, abgelehnt haben. Und so mag hier am Schluß das Wort eines schlichten Arbeiters aus dem Siegerland, des Großvaters Jung Stillings, stehen: Ich erwarte ohne Furcht den wichtigen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreit werden soll, um mit den Seelen meiner Voreltern und anderer heiliger Männer in eine ewige Ruhe eingehen zu können. Da werd' ich finden Dr. Luther, Calvinus, ökolampad, Buzer und Andere mehr, die mir unser seliger Pastor, Hr. Winterberg, so oft gerühmt und gesagt hat, daß sie nächst den Aposteln die frömmsten Männer gewesen.
Wer diese Worte recht versteht, sieht in ihnen die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation gegeben.
III. Katholika
WAS WIR VON DER RÖMISCHEN KIRCHE LERNEN UND NICHT LERNEN SOLLEN.
Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der im Januar 1891 im Bunde evangelischer Studierender zu Berlin ohne schriftliche Unterlage gehalten worden ist. Den Wünschen, ihn nachträglich niederzuschreiben, glaubte ich entsprechen zu sollen und ließ den Vortrag in der „Christlichen Welt" 1891 Nr. 18 (30. April) erscheinen.
Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen: vielleicht wird die erste Hälfte der Frage nicht wenige befremden. Sie werden sagen: Von der römischen Kirche haben wir nichts zu lernen. Allein bei näherem Nachdenken wird wohl jeder gestehen müssen, daß es mit der bloßen Abwehr nicht getan ist. Sollen wir doch auch vom Feinde lernen, und die römische Kirche ist nicht in jeder Hinsicht unser Feind. Was ist die römische Kirche? Allem zuvor — sie ist nicht nur religiöse Gemeinschaft, sondern ein Staat, und zwar die Fortsetzung des alten römischen Weltreiches, ja dieses Reich selbst mit demselben politisch-juristisch-religiösen Geiste. Ich spreche hier nicht im Sinne einer Vergleichung, sondern ich bitte, mich ganz wörtlich zu verstehen. Das weströmische Reich lebt in der Form der römischen Kirche wirklich unter uns fort mit seinem Despotismus, mit seinen Heiligtümern — voran die ewige Roma selbst —, mit seinen Rechtsgrundlagen und seiner vorwiegend juristischen Auffassung der irdischen und himmlischen Dinge. Man mag auf die Verfassung, die Disziplin, den Kultus bis auf die Priestergewänder blicken: überall sieht man sich an das alte Reich erinnert, an die vierte Danielische Weltmonarchie, und sehr vieles im Wesen und Leben dieser Kirche wird einem überhaupt nur klar, wenn man bei der geschichtlichen Beurteilung nicht von Jesus und den Aposteln ausgeht, sondern von den Cäsaren, nicht von Galiläa, sondern von Rom, nicht von der Bibel, sondern von dem kaiserlichen Recht.
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III. Katholika
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Einst hat Alphanus von Salerno den großen Hildebrand also angeredet: Nimm des ersten Apostels Schwert, Petri glühendes Schwert, zur Hand! Brich die Macht und den Ungestüm Der Barbaren: das alte Joch Laß sie tragen für immerdar! Sieh, wie groß die Gewalt des Banns: Was mit Strömen von Kriegerblut Einstmals Marius Heldenmut Und des Julius Kraft erreicht, Wirkst du jetzt durch ein leises Wort. R o m , von neuem durch dich erhöht, Bringt dir schuldigen Dank; es bot Nicht den Siegen des Scipio, Keiner Tat der Quiriten je Wohlverdienteren Kranz als dir.
Überzeugter und kraftvoller kann man den G-edanken, die römische Kirche sei das alte Rom, der Papst der Cäsar, die Germanen noch immer die zu unterjochenden Barbaren, nicht ausdrücken, als es dieser italienische Erzbischof getan hat! Nur die Sprache hat gewechselt, nicht der Geist. Die römische Kirche ist zweitens eine Schule und eine Versicherungsanstalt — eine Schule für die ewig Unmündigen, weil sie es bequem finden, in religiösen Dingen unmündig zu bleiben, eine Versicherungsanstalt für die, welche die Güter des Evangeliums wünschen, ohne ergriffen zu sein von der innern Macht des Evangeliums. Keine Kirche vermag sich wider solche sicher zu stellen, aber nur die römische Kirche versichert sie. Die römische Kirche hat aber endlich auch das Evangelium noch immer in ihrer Mitte. Es hat in ihr zu allen Zeiten gute und große Christen gegeben, und ich zweifle nicht, daß es noch heute in ihr solche gibt. Sie wissen sich zugleich als treue Söhne ihrer Kirche, und wir haben kein Recht, das in Frage zu stellen oder sie der Selbst-
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1. Was wir von der römischen Kirche lernen (1891)
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täuschung anzuklagen. Ein jeder wird ungerecht gegen die römische Kirche, der diese Tatsache nicht würdigt. Das Geheimnis dieser Kirche ist, daß sie "Weltstaat, Schule, sakramentale Versicherungsanstalt und Gemeinschaft des G-laubens zugleich ist. "Wer bezweifelt, daß dies möglich ist, soll sich aus der Geschichte belehren, daß es wirklich ist. Was können wir von dieser Kirche für unsre eigne Kirche, für den Protestantismus, lernen? Nun erstlich —· Geduld. "Was die vollkommene und einheitliche Ausgestaltung des Katholizismus betrifft, so hätte ein Kirchenhistoriker des fünfzehnten Jahrhunderts die Frage nach dem Wesen dieser Kirche nur mit großer Schwierigkeit oder vielmehr gar nicht beantworten können, so verschiedene Strömungen, Lehren und Ziele waren damals in ihr vorhanden. Wenn er sich mit seiner Beurteilung nach Gerson oder nach Hus oder nach Thomas von Kempen oder nach Papst Pius Π. oder nach Savonarola oder nach Picus von Mirandola gerichtet hätte, so hätte er jedesmal ein andres Bild bekommen. So vielgestaltig wie die katholische Kirche im fünfzehnten Jahrhundert war, so vielgestaltig ist heute der Protestantismus, der erst dreiundeinhalb Jahrhunderte besteht. Wir können daraus lernen, daß Konfessionen sich sehr langsam entwickeln und erst allmählich ihr wahres Wesen zu eindeutigem, klarem Ausdruck bringen. Der römische Katholizismus hat mehr als 1500 Jahre gebraucht. An diesem Maßstabe gemessen, dürfen wir vielleicht sagen, daß der Protestantismus sich noch in der Zeit der Kinderkrankheiten befindet, und müssen Mut in Geduld fassen. Zweitens können wir aus der Geschichte der katholischen Kirche lernen, daß selbst in dieser Kirche, die so ganz auf die Verfassung gestellt ist, niemals die Verfassungsreformen, sondern stets die lebendigen frommen Personen einen Aufschwung bewirkt und einen Fortschritt herbeigeführt haben. Die großen Mönche haben neue
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III. Katholika
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Stufen in der Entwicklung der Kirche herbeigeführt, nicht die großen Politiker, oder vielmehr die Politiker nur, weil sie auf den Schultern der Mönche standen. Hier können wir lernen, daß es mit Verfassungsveränderungen in der Kirche nicht getan ist, mag man nun stärker binden oder entschlossener lösen. Es kommt überall nur auf die Personen an, die sich von der Welt befreit und in Gott ihre Stärke gefunden haben. Ein Franziskus ist mächtiger gewesen als viele Kirchenfürsten. Der Ruf: Mehr Freiheit für die Kirche! ist letztlich ebenso gleichgültig wie der andre: Man muß der Kirche einen Zaum anlegen. AVenn ein wirkliches Leben fehlt, wird die Freiheit nichts nützen, und wenn es vorhanden ist, wird der Zaum nicht schaden. Ein Drittes, was wir von der römischen Kirche lernen können, ist der Gedanke der Katholizität, der Zug nach einer allgemeinen und wirksamen Verbrüderung der Menschen durch das Evangelium, das Streben nach Verwirklichung des Gedankens Jesu Christi: Ein Hirt und eine Herde. Ich glaube es aussprechen zu dürfen — der ernste Katholik empfindet den Segen einer großen christlichen Gemeinschaft lebendiger, die Spaltung der Christenheit schmerzlicher, die Aufgabe, die allen Gläubigen gesetzt ist, gewissenhafter als wir. Bei uns ist das Bewußtsein um diese Aufgabe, alle Menschen innerlich als Kinder Gottes und Brüder Jesu Christi zu verbinden, in der Regel nur schwach entwickelt. Es gibt bei uns viele, die nicht nur die Trennung zwischen Katholizismus und Protestantismus für normal halten, sondern auch die Spaltung des letztern in unzählige Landeskirchen und Freikirchen, die sich sogar häufig die Bruderhand verweigern. Aber der große Gedanke der allgemeinen durch das Christentum herbeizuführenden Einheit der Völker wird durch andre Ideale nicht ersetzt. Wir freuen uns, wenn in dieser Welt der materiellen Interessen ein edler Patriotismus gepflegt wird. Aber wie armselig ist doch der Mensch, der im Patriotismus sein höchstes
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1. Was wir von der römischen Kirche lernen (1891)
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Ideal erkennt oder im Staate die Zusammenfassung aller G-üter verehrt! Welch ein Rückfall, nachdem wir in dieser Welt Jesus Christus erlebt haben! Wir sollen daher mit aller K r a f t die christliche Einheit der Menschheit erstreben, in unsern kleinen Kreisen aufgeschlossen und weitherzig sein, um fähig zu werden, daran zu glauben, daß die brüderliche Einheit der Menschheit kein Traum der Träumer ist, sondern ein vom Evangelium unabtrennbares Ziel. Daß wir hier stumpfer geworden sind, ist eine Folge unsrer Trennung. Diese Trennung war notwendig; aber nur ein ganz kurzsichtiger Protestant kann verkennen, daß sie nicht nur unsern Gegnern Schaden gebracht hat, sondern auch uns. Ich fürchte nicht, daß das bisher Gesagte auf Widerspruch stößt, auch nicht, daß das, was wir von der römischen Kirche hier lernen können, verkannt wird. Aber ich habe noch andres zu erwähnen, was nicht von vornherein auf Zustimmung rechnen kann. Ich werde mich bemühen, es so zu sagen, daß ich jede Mißdeutung ausschließe. Richten wir unsre Aufmerksamkeit auf das innere Leben der katholischen Kirche. Es ist das Moment der Anbetung, das ich erstlich ins Auge fassen möchte. Unser evangelisches Christentum ist doktrinär geworden, und unser öffentlicher Gottesdienst nicht minder. Dieser Doktrinarismus ist der Schatten unsrer berechtigten Eigenart und unsrer besten Güter, aber er ist doch ein Schatten. Die Religion ist ein Leben, und als ein Leben soll sie sich überall darstellen, wo sie sich einen Ausdruck gibt — sie ist ein Leben in Gott. Leben in Gott ist Anbetung. Wohl ist forcierte Anbetung etwas höchst Abschreckendes, aber ein Sprechen über die Religion, die Formel anstatt der Sache, die Hülse anstatt des Kerns, ist nicht minder schrecklich. Und nun vollends, wenn diese Formeln abgebraucht und schal geworden sind, wenn sie auch den Yer-
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III. Katholika
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stand nicht mehr interessieren, der das Herz so lange getäuscht hat! Oder wenn die Theologie mit ihren historischen und kritischen Problemen sich einmischt in die Frömmigkeit und diese allmählich durchsetzt und zum buntscheckigsten Gewände macht! Eine Studentengeschichte will wissen, ein berühmter Theologe habe einst gebetet: Großer Jahveh, den der unwissende Gesenius noch immer Jehova nennt! Es ist eine schlimme Geschichte, die sicherlich erfunden ist, aber sie ist nicht übel erfunden. Es gibt einen Doktrinarismus in der Religion, der alle Religion profaniert, und es gibt einen andern Doktrinarismus, der sie allmählich lähmt. Ihm gegenüber gilt es, die Religion immer wieder auf sich selbst zurückzuführen und ihr auch in der öffentlichen Darstellung Gelegenheit zu geben, sie selbst zu sein. Wir können hier von der katholischen Kirche viel lernen. Sie fordert energischer und vielfältiger zur Anbetung auf als wir, innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes. Ich vermag keine Ratschläge zu geben, wie wir es machen sollen; aber ich sehe deutlich, was uns fehlt. An der ältesten Kirche können wir uns ein Muster nehmen. Ihre Gemeindezusammenkünfte dienten der gemeinsamen Anbetung und der Nächstenliebe. Wir wollen nicht verlieren, was wir haben; aber wir müssen unser gottesdienstliches Gemeindeleben neu gestalten, um nicht zu verlieren, was wir haben. Zweitens, der Protestantismus richtete sich von Anfang an gegen die Messe und damit gegen das Schema vom Opfer überhaupt. Das war notwendig nach allen den schweren Mißbräuchen, die mit „Opfern" getrieben worden waren. Aber wir haben die Idee des Opfers, die doch eine neutestamentliche ist, im Grunde vollständig verworfen. Ich finde, daß weder in der Predigt noch im Unterricht noch in der praktischen Anwendung der Religion vom Opfer bei uns mehr die Rede ist, es sei denn in der Anwendung des Begriffs auf das Werk Christi. Das ist ein
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ungeheurer Umschwung in der Religionsgeschichte; denn noch hat es keine Religion gegeben, in der nicht die Opferidee das Leben der Religion beherrschte. Aber wir fordern im Protestantismus doch das Höchste, die Hingabe der ganzen Persönlichkeit. Gewiß — nur fürchte ich, daß bei uns das Bessere oft der Feind des Guten ist, und daß wir uns durch eine gewisse abstrakte Strenge, das Höchste zu fordern oder nichts, oftmals die Seelen entgehen lassen. Der Mensch lebt im Leben des Tages nicht deutlich in den großen Kontrasten, sondern in dem "Widerspiel abgestufter Stimmungen und Motive. Hier kann kein andres Schema das des Opfers ersetzen. Man muß Opfer bringen, wenn man Ideale hat und geistige Güter erwerben oder festhalten will. Der Mensch hat nur soviele Ideale, als er Opfer bringt. Es wird bei uns zu wenig Entsagung verlangt, und zu selten hört man die eindringliche Mahnung an unser Geschlecht, daß es opferscheu ist und deshalb lau, mutlos und charakterlos. Das Wort „Opfer" hat fast einen so schlimmen Klang bei uns erhalten, wie das "Wort „Tugend". I n beiden Fällen haben große religionsgeschichtliche Umwälzungen die Quieszierung dieser Begriffe veranlaßt; aber um unser geistiges und inneres Leben gesund zu erhalten, welches mit den geringsten Mitteln gebaut ist, können wir diese Schemata nicht entbehren. Wir müssen den Mißbrauch vermeiden, und doch von Anfang an unsre Jugend wieder lehren, daß alles religiöse und sittliche Leben auf Opfer gestellt ist, und daß nur der das Größere gewinnt, der freudig das Geringere dahingibt. Drittens, die Reformation hat an die Stelle des Sakraments der Buße die aus dem Glauben entspringende bußfertige Gesinnung gesetzt. Es war ihre größte und einschneidendste Tat, daß sie Buße und Vergebung streng und sicher aufeinander bezogen und demgemäß die Beichte und die Satisfaktionen zurückgestellt hat. Aber wir haben
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dabei doch eine Einbuße erlitten, indem die Beichte, weil dogmatisch gleichgültig, verkümmert ist und schließlich in der Praxis so gut wie ganz aufgehört hat. Wohl erziehen wir unsre Kinder so, daß sie ihre Fehler und Sünden mündlich bekennen sollen, und auch die Verbrecher in den Gefängnissen suchen wir zu einem Schuldbekenntnis zu bewegen. Aber über Kinder und Gefangne hinaus haben wir die Einsicht des Segens der confessio verloren. Dafür haben wir uns an allgemeine Schuldbekenntnisse in Bausch und Bogen gewöhnt. Sie fallen uns außerordentlich leicht, so leicht, daß es bereits zum guten Kirchenton gehört, wo nur immer eine christliche Versammlung zur Besprechung einer wichtigen Tagesfrage abgehalten wird, ein allgemeines Schuldbekenntnis vorauszuschicken. Eine seltsame und traurige Verwechslung! Statt dem Einzelnen die Überlieferung und die Gelegenheit zu schaffen, sich zu bekennen und durch Aussprache innerlich zu befreien, tauscht man ein Formular ein. Jenes ist schwer, aber heilsam; dieses ist leicht, aber völlig gleichgültig, ja abstumpfend. Ich bin wohl gegen das Miß Verständnis gedeckt, als wünschte ich eine obligatorische Ohrenbeichte. Sie ist das Schlimmste von dem Schlimmen, denn sie führt, wie die Erfahrung gelehrt hat, zur Lüge. Darum ist jeder andre Zustand ihr vorzuziehen. Aber zwischen der obligatorischen Ohrenbeichte und dem Nichts, das wir an ihre Stelle gesetzt haben, gibt es noch viele Stufen. Ich möchte auch gar nicht in erster Linie die Pfarrer und öffentliche kirchliche Einrichtungen herangezogen wissen, sondern ich möchte, daß man es auch den Erwachsenen eindringlich einprägt, welch ein Mittel für die Gesundheit der Seele und welch ein Mittel f ü r eine geistige Gemeinschaft sie damit preisgeben, daß ein jeder seine eigne Last trägt und darauf verzichtet, sich auszusprechen. Gewiß gibt es Menschen, so stark und so zart, daß sie mit sich und ihrem Gott allein fertig werden können und müssen; aber sie sind
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nicht in der Mehrzahl F ü r die meisten gilt es, daß sie sich von sich selbst und von böser Schuld nur in dem Maße zu befreien vermögen, als sie offen gegen andre sind und ihre Seele von der Liebe eines Bruders führen lassen. Jede Aussprache stärkt bereits den Charakter, und zu wissen, daß eine andre Seele die eigne Last, die man bekannt hat, mit trägt, ist einer der stärksten Hebel zum Guten. Dürfen wir sagen, daß in unsrer evangelischen Kirche in dieser Richtung etwas Nennenswertes geschieht? Haben wir eine Überlieferung hierfür? Können wir hier nicht von der katholischen Kirche lernen, und ist es nicht sträfliche Torheit, der wurmstichigen Früchte wegen den ganzen Baum der Beichte auszurotten? Viertens, die Reformation hat das Mönchtum abgetan und jener vermessenen Frömmigkeit den Krieg erklärt, die da glaubte, fürs Leben über sich entscheiden zu können. Wer aus der Geschichte den Jammer des obligatorischen Zölibats und den Jammer des Mönchtums, der gebrochenen Seelen, der befleckten Gewissen und der gezwungenen „Religion" kennt, wird nicht aufhören, die befreiende Tat der Reformation zu preisen. Aber lag nicht eine Wahrheit in dem Mönchtum? Niemand wird diese Frage verneinen, der die Institution unsrer Diakonissen schätzt. Er wird auch nicht in Abrede stellen, wenn er das Leben kennt, daß ohne Regel keine Gemeinschaft von Arbeitern bestehen kann, und daß die, welche sich zum Dienst am Nächsten im besondern Sinne verpflichten, den besondern irdischen Gütern freiwillig entsagen und Gehorsam üben müssen. Aber was uns erst in diesem Jahrhundert, nicht ohne Widerspruch, in bezug auf die Diakonissen aufgegangen ist, ist uns in bezug auf Diakonen, oder wie man sie nennen mag, noch nicht oder nur in bescheidenster Weise klar geworden. Und doch ist es mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß wir in den sozialen und kirchlichen Nöten der Gegenwart Gemeinschaften brauchen, erfüllt von dem Geiste, wie ihn
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die rechtschaffenen und lauteren Mönche besessen haben und noch besitzen. Wir brauchen Menschen im Dienste des Evangeliums, „die alles verlassen haben", um denen zu dienen, die niemand bedient. Die Parallele mit den katholischen Mönchen schreckt mich nicht. Die evangelischen Mönche werden von Verdiensten nichts wissen und werden deshalb jeden Augenblick zurücktreten können, ohne Schmach und Schande. Man wendet ein, daß die K r a f t des Mönchtums eben in der Unwiderruflichkeit des Gelübdes liegt, also in dem Zwang. Aber wäre das wahr, so wäre das Mönchtum von seiner Wurzel her profaniert, also unmöglich. Die evangelischen Kirchen werden entweder noch kümmerlicher werden, als sie schon sind, oder die Liebe wird sie erfinderisch machen, und sie werden das in sich erwecken, was heute noch keine Form hat, aber sich in dem dringenden Bedürfnis bereits ankündigt und in kleinen Anfängen lebt. So gut wir Missionare haben für die Heiden, die freiwillig vieles entbehren müssen, so gewiß können wir auch Gemeinschaften von Brüdern haben, die um des besondern Berufs willen Entsagung üben, um frei zu sein f ü r den Dienst derjenigen, die an den Landstraßen und Zäunen liegen. Aber noch in einer andern Richtung können wir von den Klöstern lernen. Wir haben Zuchthäuser und Arbeitshäuser, aber wir haben keine Stätten, in welche sich die zurückziehen können, die im Sturme des Lebens Schiffbruch erlitten haben und sich in der großen Welt nicht mehr zu halten vermögen. Wie viele gibt es, die sich zurückziehen sollten, und die es auch wollen, wenn ihnen nur irgend ein Hafen winken würde, sei es zum Ausruhen, sei es vor allem zu neuer Tätigkeit! Wie viele könnten bewahrt werden, wenn sie Rückhalt fänden an einer geschlossenen G-emeinschaft, in der sie nach strenger Regel zu gemeinnützigem Wirken angeleitet würden und sich selber dienten, indem sie andern dienstbar werden. Doch ich darf diesen
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Punkt nicht näher ausführen. Sie würden meine pia desideria vielleicht allzu kühn finden. Aber ich weiß, daß ich nicht der einzige bin, der sie hegt, daß sie vielmehr jeder teilen muß, der nicht den Protestantismus zur Konfession des latenten Christentums fortzuentwickeln den Mut hat, und ich weiß auch, daß die Geschichte der christlichen Kirche, wie sie sich im Mönchtum darstellt, nicht nur die Geschichte eines großen Irrtums ist. Noch manches andre wäre zu nennen, was wir von der katholischen Kirche lernen können. Ich brauche nur zu fragen, in welcher Kirche Deutschlands das sogenannte „Laienchristentum" eine größere Macht ist, ob in der Kirche des allgemeinen Priestertums oder in der römischen Kirche? Doch auf diesen P u n k t einzugehen, würde zu weit führen; denn die „größere Macht", wie sie sich äußerlich darstellt, entscheidet noch nicht und ist nur unter Voraussetzungen wünschenswert, die im Katholizismus nicht erfüllt sind. Ich beschränke mich auf das bisher Angedeutete und wende mich zu der zweiten Frage: „Was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen?" Sie werden antworten, nicht ihre Dogmatik, nicht ihre Verfassung, nicht ihren Kultus. Aber damit ist so viel gesagt, daß ich fürchte, es ist sehr wenig Eindrucksvolles gesagt. Ich werde mich auf einige besonders wichtige Punkte beschränken. Erstlich: wir sollen unser Christentum und unsre Kirche nicht festnageln auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis und Kultur. Die römische Kirche vermag es, alle möglichen Erkenntnisse, Formen und Mittel unsrer Zeit zu ihrem Nutzen zu verwerten; aber im Grunde steht sie beharrlich fest auf der Stufe des Mittelalters, des dreizehnten Jahrhunderts. Alles übrige, was sie herbeizieht, ist nur Dekoration oder politisches Mittel zum Zweck. Die kirchliche Verfassungsform, die sie für die göttliche ausgibt, ist die Kirchenverfassung, wie sie Innocenz III. und IV.
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abschließend ausgebildet haben; die Dogmatik, die sie allein gelten läßt, ist die des heiligen Thomas und seiner laxeren Nachfolger; die Wissenschaft, die sie allein brauchen kann, ist die mittelalterliche. "Wohl liebt sie es, sich durch einige halbgelehrte Leute mit ägyptischen und assyrischen Entdeckungen ausstatten und die Steine in der Weise moderner Archäologie für sich reden zu lassen, auch sich, wo es geht, mit neuester Naturforschung auszustaffieren! Sand in die Augen! An allen wirklichen Problemen muß sie vorübergehen, und das, was heute Geschichte, Kritik und philosophische Erkenntnis heißt, darf f ü r sie nicht existieren. Diese Kirche ist noch immer das Mittelalter, ist um sechshundert Jahre zurück und lebt noch, weil die Modernen Fehler machen und nicht alle Bedürfnisse zu befriedigen verstehen. Auch alles das, was wir in den letzten zweihundert Jahren über die Geschichte der Bibel und des Urchristentums gelernt haben, ist für diese Kirche nicht vorhanden oder doch nur als Spielzeug oder als Mittel, den Verstand zu üben und das, was der geschichtliche Sinn feststellt, durch die Kunst des Geschichtsadvokaten mit ihrer eisernen Geschichtsbetrachtung zu verklittern. Aber wie steht es bei uns? Sind wir nicht seit den Reaktionen am Anfange unsers Jahrhunderts, die uns so viel Gutes und so viel Schlimmes gebracht haben, in Gefahr, es der römischen Kirche nachzutun? Steht der Protestantismus im Bunde mit allen wirklichen Erkenntnissen der Zeit, wie einst die Apologeten des zweiten Jahi*hunderts, oder schleicht er nicht vielmehr hinter der Zeit mißtrauisch und scheltend einher? Schmähen nicht viele seiner angesehensten Vertreter über die Wissenschaft, wie einst Epiphanius über Origenes? Brauchen sie sie nicht lediglich als Dekoration, allen wirklichen Problemen aus dem Wege gehend, Mücken seihend und Kamele verschluckend? Nehmen die evangelischen Kirchen wirklich das in ihren Dienst, was nächst dem Evangelium unsre besten Güter
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sind, die Ausbildung des geschichtlichen Sinnes, die wir erlebt haben, und die sichere Methode der "Wissenschaft auf jedem Gebiet, die uns geschenkt ist? Richten die Kirchen ihren Unterricht ein nach den geschichtlichen und den allgemeinen Erkenntnissen, von denen sich heute nur der Religionslehrer emanzipiert, und auch der nur so lange, als er Religion lehrt? Ist's denn nicht schon so, daß Tausende unsre öffentliche Weise, Religion zu lehren, als eine Superstition empfinden und die Ernstesten sich abwenden, weil sie ihr intellektuelles Gewissen verletzt fühlen? Sollen auch die evangelischen Kirchen zu Petrefakten werden? Man mißachtet die „natürlichen" "Wahrheiten ebensowenig ungestraft wie die „natürlichen" Ordnungen. I n beiden Fällen ist ein Mönchtum schlimmster Art die Folge. Es lebt im Raffinement des Kontrastes und verschüttet die gesunde Quelle heller und freudiger Frömmigkeit. Schon die Unterscheidung natürlicher und übernatürlicher "Wahrheiten ist ein bedenklicher mittelalterlicher Irrtum. Jede Erkenntnis der "Wahrheit ist aus der Gewissenhaftigkeit und Selbstverleugnung geboren und dient dem Herrn der "Wahrheit. Ubernatürlich ist das Leben in Gott; die "Wahrheiten sind „natürlich". Sie mißachten, heißt unfromm und unwahrhaftig werden. "Was aber ist der Protestantismus, wenn er unwahrhaftig wird, er, der überhaupt nur e i n Charisma besitzt, den „vernünftigen Gottesdienst" auf Grund der gewissen Erkenntnis Gottes. AVenn der evangelische Christ nicht jeder "Wahrheit frei, fröhlich und dankbar ins Auge schauen kann, wenn seine Lehre nicht so eingerichtet ist, daß er es darf, so ist er arm, bettelarm! Aber während sonst auf allen Gebieten der Erkenntnis die Frage: "Was ist "Wahrheit? heute die regierende ist und ein unsägliches Maß von ernster Arbeit an sie gesetzt wird, sieht man diese Frage innerhalb der evangelischen Kirchen langsam von der Tagesordnung verschwinden, weil sie im Zeitalter der kirchlichen „Aktua-
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lität" nicht opportun ist. Man hält es f ü r richtiger, Landund Kirchenpfleger zu sein im Sinne der Pilatusfrage: Was ist Wahrheit? Die so tun, wissen oft nicht, was sie tun, und haben den gewichtigen Schild für sich, daß man Kirchen nicht beunruhigen dürfe. Aber um Zehn nicht zu beunruhigen, werden Hunderte abgestoßen, und um die „Schwachen", die sich doch die Starken dünken, zu schonen, treibt man die Starken in die Wüste oder zwingt schließlich einen kleinen Teil von ihnen zur Unterwerfung. I n der römischen Kirche ist das alles wohl verständlich. Sie hat angeblich ein eisernes Gesetz von Gott empfangen und setzt sich auf Grund desselben über Geschichte und Wissenschaft, Individualität und Gewissen hinweg. Aber wir haben nichts dergleichen empfangen und wollen auch nichts andres, als die Verkündigung des Evangeliums Gottes in Christo. Wer zwingt und nötigt uns denn, uns an ein Gesetz zu verkaufen, statt es zu reformieren, wo es in unsern Tagen der Reform bedarf? Damit bin ich schon auf ein Zweites gekommen, was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen: uns zu begnügen mit der Unterwerfung unter das Kirchentum, mit dem bloßen Gehorsam, mit dem, was der Kunstausdruck fides implicita nennt. Einst gab es eine Zeit, wo man im Protestantismus vor diesem Gift nicht zu warnen brauchte; aber es ist lange her. Wo in religiösen Dingen der absolute Gehorsam regiert, da gibt es kein individuelles Gewissen mehr. Das haben uns alle jene Bischöfe gezeigt, die nach der Proklamation der Unfehlbarkeit sich f ü r sie entschieden, obgleich sie ihr vorher heftig widersprochen hatten. Im Sinne der katholischen Religion brachten sie das größte Opfer, und ich würde mich nicht wundern, wenn man sie allesamt selig spräche. I m Sinne d e r Religion, die mit dem Gewissen steht und fällt, haben sie eine schwere Schuld auf sich geladen. Das ist ein drastisches Beispiel. Aber minder drastisch wiederholt sich dasselbe hundertmal
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für jede Seele, die sich ihren "Weg blind durch Autoritäten vorschreiben läßt. Nicht die Abhängigkeit ist das schlimmste, sondern die Selbsttäuschung, in der man an die Stelle der Frömmigkeit, d. h. eines Lebens, die Beobachtung von Vorschriften setzt. Ob man nun in Weise Ludwigs XIV. und Voltaires diese Unterwerfung aus einer unbestimmten Angst übt, die sich mit Frivolität wohl verträgt, oder ob aus Sorge f ü r das Gemeinwesen und den „gemeinen groben Mann" oder aus Unruhe und wirklicher Verzagtheit des Herzens, ist freilich ein sehr großer Unterschied. Aber in dem negativen Ergebnis kommen alle diese Motive auf eins heraus — die Furcht bleibt übrig und die Friedelosigkeit. Diese „Kirchlichkeit" wollen wir der römischen Kirche überlassen, die sie nicht missen kann; denn wie klein wäre die Zahl ihrer Gläubigen, wenn man ihr alle die entzöge, die bloß mittun! Aber noch ein Drittes möchte ich hier anschließen, was wir von der römischen Kirche nicht lernen sollen: nur äußerlich angeeignete Ideale machen fanatisch, und eine Kirche, die auch ein Staat sein will, braucht den Egoismus und Fanatismus des Staates. Wir aber können diesen Fanatismus nicht brauchen; er ist ein fremdes Gewächs auf unserm Boden. Wenn es richtig ist, daß das evangelische Christentum die höchste Stufe in der kirchlichen Ausbildung des Christentums ist, so haben wir diesen unsern Standort dadurch zu bezeugen, daß wir die untern Stufen in ihrer Bildung verstehen, verständig würdigen und in diesem Sinne tolerant sind. Toleranz ist freilich selbst schon ein schlimmes Wort. Wir haben mehr zu üben als Toleranz, nämlich Anerkennung. Auch ist es eine ganz üble Maxime, zu sagen, man müsse gegen alle tolerant sein, nur nicht gegen die Intoleranten. Wodurch will man sie denn sonst gewinnen? Und auf das Gewinnen kommt es doch an, nicht auf das Niederschlagen. Mag uns die römische Kirche wie immer begegnen — so lange
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sie nicht eingreift in die Sphäre des Rechts, das wir zu schützen haben, soll sie unsrer Achtung und ihre Glieder unsrer Liebe sicher sein. Wir können doch unsre eigne G-eschichte nicht verleugnen oder ummachen! Die Geschichte der katholischen Kirche aber bis zum sechzehnten Jahrhundert ist unsre Geschichte, und es steht uns übel an, nützt auch nichts, die Zurückgebliebenen zu schelten. Wir treten aber auf eine niedere Stufe, nämlich auf die Stufe der römischen Kirche, wenn wir sie mit ihren Waffen bekämpfen wollten. Eben diese Waffen haben wir niedergelegt, als wir sie verließen, und trat das auch nicht am Anfang zutage, so muß es heute jedem offenbar sein. Denn daß die Kirche der Reformation verbesserlich, perfektibel ist und seit Luther sehr viel zugelernt hat, das muß auch das blödeste Auge erkennen, und daß wir imstande sind, zuzulernen, das ist unser Stolz und unsre Freude. Noch wäre vieles zu sagen über das, was wir von Rom nicht lernen sollen. Ich könnte zusammenfassend sagen, daß unsre Kirche kein Staat, keine Schule für ewig Unmündige und keine sakramentale Versicherungsanstalt werden soll. Ich könnte den Finger auf den Unterschied von Klerus und Laien legen und fragen, ob uns die Gefahr so fern liegt, von den Geistlichen und Theologen ein andres Christentum zu fordern als von den Laien. Aber ich will diesen P u n k t nicht anders berühren, als indem ich ihn positiv wende: möge sich aus allen Gärungen unsrer Zeit eine evangelische Kirche herausgestalten mit einem festen, aber weiten Bekenntnisse; möge sie es besser lernen, das Evangelium unserm Geschlechte zu verkünden und mit jeder Wahrheit im Bunde zu stehen, und möge sie sich dann entfalten zu einem Bruderbunde inmitten dieser gespaltenen Menschheit, zu einem Bunde, so umfassend, wie das menschliche Leben, und so tief, wie die menschliche Not.
DAS TESTAMENT LEOS XIII. DAS PÄPSTLICHE RUNDSCHREIBEN AN DIE FÜRSTEN UND VÖLKER DES ERDKREISES VOM 20. JUNI 1894.
Erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, Band 77 (1894) Heft 2.
Nach dem Evangelium Johannis hat der scheidende Heiland in der Nacht, da er verraten ward, Abschiedsreden an seine Jünger gerichtet. Sie münden aus in das hohepriesterliche Gebet: ut omnes unum. „Da Wir Stellvertreter des allmächtigen Gottes hier auf Erden sind, und Uns andererseits das hohe und sorgengebeugte Alter mahnt, daß das Ende der Zeitlichkeit f ü r Uns unaufhaltsam herannahe, so haben Wir geglaubt, das Beispiel Unseres Erlösers und Lehrmeisters Jesus Christus nachahmen zu sollen, der kurz vor seiner Rückkehr in den Himmel in heißem Gebete vom ewigen Yater erflehte, daß seine Anhänger und Jünger Eines Sinnes, Eines Herzens seien: «Ich bitte . . . . daß alle Eins seien. >" Also nichts Geringeres hat der gegenwärtige Papst mit diesem Rundschreiben beabsichtigt, als ein Seitenstück zu der letzten Rede, die der vierte Evangelist Jesus in den Mund gelegt h a t , zu liefern — eine hohepriesterliche Gebetsrede, wie sie der Sohn Gottes halten würde, wenn er heute sichtbar in der Mitte seiner Kirche stünde, um von ihr auf Erden Abschied zu nehmen. Den Erlöser in neuen Worten sprechen zu lassen, hat schon manche fromme Seele und mancher Dichter versucht, und wir hörten ihnen mit Teilnahme zu. Aber wenn der Versuch von einem gemacht wird, der sich selbst „den Stellvertreter des allmächtigen Gottes auf Erden" nennt, so regt sich im Grunde unserer Seele etwas wie ein Schauder. Nur weil wir durch die häufige Wiederholung gegen die Anmaßung schon abgestumpft sind, bricht dieser Schauder nicht mehr kräftig
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hervor. Ob es dem, der sie sich, erlaubt, selbst anders geht? oder ob ihm wirklich niemals mehr bei seiner Gottähnlichkeit bange wird? wer kann das wissen! So fruchtlos es ist, darüber nachzusinnen, so interessant und lehrreich ist es aber, die Kundgebung selbst zu betrachten nach der religiösen und nach der von ihr nicht zu trennenden kirchenpolitischen Bedeutung. Was hat der scheidende Hohepriester der römischen Kirche dieser seiner Kirche, was hat er „den Fürsten und Völkern des Erdkreises" zu sagen? Unzweifelhaft haben wir in dieser Enzyklika vom 20. Juni sein Testament zu erkennen, zwar nur sein öffentliches Testament ohne die „Ausführungsbestimmungen", die nicht vor das forum publicum gehören, aber doch seinen letzten Willen, besser seine letzten Wünsche und Ratschläge; denn ein eigentliches Testament kann kein Papst seinem Nachfolger oder der Kirche hinterlassen. Der Papst beginnt mit der Erinnerung an sein Jubiläum. Es hat seinen Mut und seine Freudigkeit gestärkt; denn „in jenen Tagen schien es, die ganze katholische Welt habe gleichsam alles andere vergessen und den Blick ihrer Augen und die Gedanken ihrer Seele nur auf den Vatikan geheftet". Ein sehr optimistischer Zug geht infolgedessen durch das ganze Rundschreiben: „Unsere Zeiten sind der Wiederherstellung der Eintracht und der weiteren Verbreitung der Wohltat des christlichen Glaubens äußerst günstig; denn niemals hat das Gefühl der allgemeinen menschlichen Brüderlichkeit die Geister so tief bewegt, und zu keiner Zeit sah man die Menschen sich eifriger aufsuchen, um sich gegenseitig kennen zu lernen und sich zu nützen." Dieser optimistische Zug der Geschichtsbetrachtung ist den großen Kundgebungen der katholischen Kirche seit den Tagen der Kontrareformation eigentümlich. Nur vorübergehend, wenn die Zeitläufe zu schlimm erschienen, ist er in den Hintergrund getreten. Durch ihn unterscheidet sich der Katholizismus sehr scharf von dem orthodox-pietistischen
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Protestantismus, dessen Vertreter häufig nach d e r Schablone arbeiten, daß es von Tag zu Tag in der Welt schlimmer werde, und durch Jammern und Wehgeschrei Eindruck zu machen suchen. Dieser Kundgebung dagegen ist die hoffnungsvolle Stimmung so scharf aufgeprägt, daß der Papst sich am Schlüsse des Schreibens selbst genötigt sieht, sie etwas zu dämpfen; aber wie es geschieht, ist höchst merkwürdig: „Möglich, daß dem einen oder anderen Unsere Hoffnungen als allzu rosig erscheinen, da sie sich auf Dinge beziehen, die viel mehr zu wünschen als zu erwarten sind. Aber wir setzen all Unsere Hoffnung, all Unser Vertrauen auf den Erlöser des Menschengeschlechts Jesus Christus und ermutigen Uns durch den Gedanken, wie vieles und wie großes einstmals vollbracht ist durch die Torheit des Kreuzes und die Predigt vom Kreuze zum Staunen der "Welt und zur Beschämung ihrer Weisheit." Jeden evangelischen Christen werden diese Worte, in denen sowohl die J u n g f r a u Maria, als auch die Heiligen und die Macht der Kirche aus dem Spiel gelassen ist, erfreuen. Sie stehen aber in dem Schreiben nicht isoliert, vielmehr — und damit hebe ich ein zweites wichtiges Merkmal an diesem Rundschreiben hervor — beobachtet man durchgehends, daß der Papst bestrebt ist, in der religiösen Aussprache lediglich die ökumenisch-christlichen ö-edanken zum Ausdruck zu bringen unter Absehen von allen strittigen Sonderlehren und römisch-katholischen Eigentümlichkeiten. Nur die Erwähnung des „rechtmäßigen Lehramts, das dem Petrus und seinen Nachfolgern übertragen ist", bildet natürlich eine Ausnahme. Aber die Konsequenzen desselben werden mehr angedeutet, als ausgesprochen. Selbst von der Unfehlbarkeit ist nirgends in dem weitschichtigen Aktenstück die Rede, und alle Züge spezifisch-katholischer Frömmigkeit fehlen vollständig. Man darf darum ohne Ubertreibung sagen, daß sich Leo X I I I . in diesem Schreiben so ökumenisch und „evangelisch" ausgedrückt hat, als
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es die Überlieferung seiner Kirche irgend zuläßt — in welch hohem Maße sie es wirklich zuläßt, das zeigen uns eben diese Ausführungen, die ζ. B. in dem f ü r die Protestanten bestimmten Abschnitt mit den Worten schließen: „damit I h r Gott mit Uns in Heiligkeit dient, mit Uns in vollkommener Liebe vereint durch das Bekenntnis Eines Evangeliums, Eines Glaubens, Einer Hoffnung." Daß das „Evangelium" hier besonders genannt und dem Glauben und der Hoffnung vorangestellt ist, erscheint wie eine Akkomodation an die protestantische Ausdrucks weise, natürlich ohne daß deshalb der katholischen Lehre irgend etwas vergeben wäre. Aber zufällig ist es gewiß nicht, zumal wenn man die Kundgebungen Pius IX. vergleicht, daß wir von der allerseligsten Jungfrau, von den Anrufungen der Heiligen, von der Macht des Beichtstuhls, von Ablässen und dergleichen nichts hören. Ein drittes charakteristisches Merkmal dieses Rundschreibens endlich ist der freundliche Ton gegenüber den „Ketzern". Zu allen Zeiten freilich hat die römische Kirche neben dem Stab „Wehe" den Stab „Sanft" zur Verfügung gehabt und je nach den Verhältnissen zwischen den beiden Stäben abgewechselt, auch eine Gruppe von Polemikern streng und fanatisch, eine andere gleichzeitig mild und einladend schreiben lassen, dort mit der Hölle gedroht, hier die „Verirrten" freundlich angerufen. Aber so durchweg milde, so entgegenkommend, so bestrickend ist selten von einem Papste geschrieben worden. Man darf noch mehr sagen — der Papst fordert, wie wir sehen werden, geradezu auf, das Vergangene vergangen sein zu lassen; er räumt, wenn wir ihn recht verstehen, gegenüber den Protestanten sogar ein, daß in der Zeit der Trennung der Kirchen einige dunkle Punkte hegen, die nicht lediglich Schuld der Ketzer sind: darüber möge man sich hinwegsetzen und rein sachlich und von neuem die Frage der Wahrheit erwägen. Nur an e i n e r Stelle wird das Schreiben
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streng, nämlich dort, wo es sich um die Freimaurer handelt, aber das betrifft nicht die fremden Konfessionen, sondern den innern Zustand der romanischen rein katholischen Länder. Davon abgesehen hat der Papst seine Feder nur in Wohlwollen, Liebe und Sehnsucht getaucht. Mit diesem Tone halte man das Verfahren zusammen, welches Jesuiten noch heute gegen die Ketzer als notwendig und heilsam empfehlen und durchführen würden, wenn sie die Macht hätten. Soll auch die Todesstrafe nicht in Anwendung kommen, so doch Kerker, Entziehung der Nahrung, Stockschläge und dergleichen. „Sie behandeln," sagte der Graf Montalembert kurz vor seinem Tode von der Civiltä cattolica und der Kurie,*) „die Kirche wie eine jener wilden Bestien, welche man in den Menagerien herumführt. Betrachtet sie wohl, scheinen sie zu sagen, und versteht, was sie will, und was zum Wesen ihrer Natur gehört. Heute ist sie im Käfig, gebändigt und gezähmt durch die Grewalt der Umstände; aber bedenket wohl, daß sie Klauen und Krallen hat, und wenn sie jemals losgelassen wird, dann wird man es euch wohl zeigen." Wie ist damit der freundliche Ton Leos zu vereinigen? Zu vereinigen ist er wohl; denn auch der Erlkönig im Groetheschen Liede singt: „Ich liebe Dich, mich reizt Deine schöne Grestalt — und bist Du nicht willig, so brauch' ich Grewalt." Dieser letzte Akt aber ist in dem Rundschreiben Leos aus guten Gründen verschwiegen; denn die Zeiten sind der Anwendung von Grewalt nicht günstig, während der Papst Grund zu der Vermutung zu haben glaubt, daß die Friedensschalmeien und freundlichen Einladungen hier oder dort willige Hörer finden werden. Blicken wir nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf das Einzelne. Der Papst beginnt mit der Anfeuerung zur Heidenmission. „Da alles Heil von Jesus Christus kommt, '*) Zitiert nach D ö l l i n g e r , Vorträge III (1891) S. 293.
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und kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, durch den wir selig werden sollen, so haben "Wir keinen sehnlicheren Wunsch, als daß dieser hochheilige Name Jesus recht bald in allen heidnischen Ländern bekannt und anerkannt werde." E r belobt die Kirche dann dafür, daß sie „allezeit" das anvertraute Amt der Mission gewissenhaft zu erfüllen gesucht habe, bittet, daß die Zahl der treuen Arbeiter gemehrt würde, und schließt mit einer befremdlichen Apostrophe an Jesus Christus, wie solche aber öfters in päpstlichen Bullen vorkommen, ζ. B. auch in der Bulle „Exsurge domine", durch die Luther verdammt worden ist: „Du aber Erlöser und Vater des menschlichen Geschlechts, Jesus Christus, eile und säume nicht, das zu vollbringen, was Du einst zu tun verheißen hast, indem Du sagtest, Du würdest, wenn Du von der Erde erhöhet wärest, Alle an Dich ziehen. Steige also endlich (!) herab in die Herzen und zeige Dich all den Unzähligen, die noch bis zur Stunde der größten "Wohltaten beraubt sind, welche Du mit Deinem Blute der Menschheit erworben hast," usw. Hierauf wendet sich der Papst den morgenländischen Kirchen zu. I n der Presse ist dieser Abschnitt als der eigentliche Kern des Rundschreibens betrachtet worden, alles übrige nur als Umrahmung. Grewiß liegt auf ihm ein besonderer Nachdruck, und er ist mit größter Sorgfalt ausgeführt; aber daß er allein den Kern des Rundschreibens und seine wahre Absicht darstellen soll, kann ich nicht finden. Der Papst beginnt damit, daß er alle morgenländischen Kirchen ohne Unterschied der Nation und des Partikularbekenntnisses streng zusammenfaßt; erst in dem letzten kurzen Abschnitt dieses Teiles wendet er sich speziell an die slavischen Völker. „Von dem Morgenlande ist zu Anfang das Heil ausgegangen und hat sich über den ganzen
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Erdkreis verbreitet. Diese captatio benevolentiae stellt er voran, und nun wird alles aus der Kirchengeschichte aufgeboten, was irgend imstande ist auf die Orientalen Eindruck zu machen. Ausdrücklich wird ihnen die Rechtgläubigkeit bescheinigt: „Trennt Uns ja doch auch nicht eine unendliche Kluft, wissen wir Uns ja sogar, wenn wir von einigem Wenigen absehen" — so geringschätzig spricht der Papst von der Differenz in der trinitarischen Lehre — „so vollkommen Eins mit ihnen, daß Wir Selbst bei der Verteidigung des katholischen Dogmas nicht selten aus der Lehre, aus den Sitten und Gebräuchen, wie sie bei den Morgenländern üblich sind, Zeugnisse und Beweise entnehmen. Den wesentlichen Streitpunkt bildet nur der Primat des römischen Papstes." Indem der Papst auf diesen Punkt näher eingeht, vermeidet er die Unfehlbarkeit zu berühren und spricht nur von der obersten Regierungsgewalt der römischen Päpste, die in älterer Zeit von den Griechen anerkannt worden sei, resp. von der „Einheit der Regierung", die zur Einheit des Glaubens hinzukommen müsse, damit die von Christus gewollte wahre Vereinigung der Christgläubigen sich verwirkliche. Hierbei ist aber folgendes noch von Wichtigkeit. Erstlich deutet der Papst, wohl nicht ohne Absicht, darauf hin, daß in der ältesten Zeit nicht wenige Morgenländer auf dem Stuhl Petri gesessen haben — was einst war, kann sich wiederholen, wenn nur die Einheit wiederhergestellt ist; auch ein Grieche kann dann einmal wieder Regierer der Kirche werden. Zweitens widerspricht er ausführlich dem Gedanken, die römischen und die griechischen Kirchen könnten bereits auf Grund ihrer fast vollständigen Glaubenseinheit in eine Art Konföderation treten — nein, „Wir meinen die vollkommene, rückhaltslose Vereinigung. Das kann aber nicht jene sein, die in nichts anderem besteht, als in jeder beliebigen Gemeinschaft von Glaubenslehren und in einer gewissen gegenseitigen brüderlichen Liebe." Es muß „die
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Einheit der Regierung" sein. Diese Ausführung gibt zu denken. Denn sie deutet darauf hin, daß irgend welche Pläne zu einer näheren Verbindung der Kirchen bei voller Gleichordnung derselben an irgend einer Stelle aufgetaucht sein müssen. Wie käme der Papst sonst dazu, dergleichen ausdrücklich abzulehnen? Nun, zwischen den katholischen und den griechischen Slaven gibt es heute „Vermittler" genug, und manche mögen im Interesse des anderen Dreibundes davon träumen, es sei eine Konföderation zwischen dem Zaren und dem Papst und damit auch zwischen den beiden katholischen Kirchen, deren Häupter sie sind, möglich. Diesen Träumen begegnet der Papst: über die kleine Glaubensdifferenz will er hinwegsehen, die Rechte und Privilegien der orientalischen Patriarchen wird er nicht schmälern; die Riten und Gebräuche der einzelnen Kirchen wird er nicht beschränken — ausdrücklich wird das zugesichert: „wir werden gebührende Rechnung tragen ohne alle Engherzigkeit" —, aber „die Einheit der Regierung" ist conditio sine qua non; man soll daher von jedem Gedanken absehen, auf Glaube und Liebe allein ein innigeres Verhältnis zu begründen oder den Bund zwischen dem Papsttum und den griechischen Kirchen als ein Kartell zu gestalten. Nun folgt der besondere Appell an die slavischen Völker (das Wert „russisch" ist vermieden): „Hier möchten Wir Uns noch in besondererWeise an Euch wenden, Ihr slavischen Völker alle, von deren Ruhme uns die Geschichtswerke so Mannigfaches erzählen (?). Ihr wisset, was die Slaven dem h. Cyrillus und Methodius verdanken, diesen Vätern Eures Glaubens, deren Andenken Wir selbst vor einigen Jahren mit neuem Glänze umgaben. Sie sind es, die durch ihre Tugend und ihre Arbeiten den meisten Völkern Eures Stammes (?) die Wohltaten der allgemeinen Bildung und der Erlösung zugänglich gemacht. So geschah es, daß zwischen den Slaven und den Römischen Päpsten lange Zeit die schönste Wechselseitigkeit bestand (?),
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von Wohltaten auf der einen, von treuester Hingebung auf der anderen Seite. Wenn nun eine unglückselige Zeit Eure Yäter zum großen Teile dem Römischen Glauben, den sie einst bekannten (?), entfremdet hat, so bedenket wohl, welchen Segen es Euch bringen wird, wenn Ihr zur Einheit des Glaubens zurückkehret. Auch Euch läßt die Kirche nicht ab, in ihre Arme zurückzurufen, um Euch mancherlei Hilfsmittel zu bieten zur Förderung Eures Heils, Eurer irdischen Wohlfahrt und Eurer Größe." Faßt der Papst ernsthaft die Möglichkeit der „Rückkehr" der Griechen, Orientalen und der griechischen Slaven, bez. eines Teils derselben, ins Auge oder spricht er nur die konventionelle Sprache des römischen Stuhls ? Ich glaube, man darf nicht verkennen, daß er wirkliche Hoffnungen hegt. „Wir haben die Bemerkung gemacht, daß sich die Morgenländer in unseren Tagen viel versöhnlicher gegen die Katholiken zeigen, ja sogar ein gewisses Entgegenkommen und Wohlwollen an den Tag legen." Haben diese Hoffnungen eine tatsächliche Unterlage? Erinnert man sich der Ausführungen eines F a l l m e r a y e r s über den unüberbrückbaren Gegensatz des „Genius von Rom und des Genius vonByzanz", denkt man an die starke Antipathie der Griechen gegen den Papst, die sich auch öffentlich häufig genug noch kundgibt, überschlägt man, daß der echte Grieche die „kleinen" Abweichungen Roms anders beurteilen muß, als Rom selbst sie beurteilt — sie sind ihm Abfall von dem kirchlichen Altertum — , so möchte man die Frage verneinen; aber die Ausführungen Fallmerayers, so viel Wahres sie enthalten, sind doch sehr abstrakt und rechnen zu wenig mit den Verwicklungen der tatsächlichen Verhältnisse. Sieht man zunächst von der großen russischen Kirche ab, so leuchten dem Papste wirklich im Osten einige Hoffnungssterne. Erstlich sind es die unierten Kirchen, mit denen bereits das ganze Gebiet des orientalischen Kirchentums be-
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setzt ist. Es gibt unierte slavische, griechische, armenische, syrische und koptische Kirchen, und sie sind zum Teil zahlreich. Auffallend ist, daß der Papst in dem Rundschreiben von ihnen schweigt, daß er den vorhandenen bedeutenden Besitz Roms im Orient nicht erwähnt. Wir werden sehen, daß er dem Protestantismus gegenüber anders verfährt, daß er sich hier ausdrücklich auf die bereits Konvertierten beruft. Wenn das gegenüber den Orientalen nicht geschieht, so läßt sich vielleicht annehmen, daß er in den unierten Kirchen die Brücke nicht erkennt, auf der er das Ganze herüberführen will. Diese unierten Kirchen haben für beschränktere Gebiete ihre besondere Mission — aber, wenn es sich um die Aussicht handelt, das Ganze zu gewinnen, wird man bei ihnen nicht anzuknüpfen haben; denn sie haben sich durch ihre vorzeitige Union in eine schiefe Stellung zu ihrer Nation gebracht und genießen dort kein Ansehen. Zweitens kommt die Tatsache in Betracht, daß der Patriarchat von Konstantinopel immer mehr abbröckelt und besonders in den letzten Jahrzehnten sehr viel verloren hat. Was er verliert, kommt der Ausgestaltung nationaler orientalischer Staats- und Volkskirchen zugut. Entspricht dieser Prozeß auch in einer Hinsicht der Eigenart des orientalischen Kirchentums, so kann dieses doch als katholisches niemals das Ideal der Selbständigkeit und Okumenizität der Kirche ganz vergessen, ja dieses Ideal wird sich in steigendem Maße geltend machen, je kleiner das Gebiet ist, auf das sich die einzelnen „selbständigen" Kirchen des Orients beschränken müssen und je stärker der Staat die betreffende Kirche beherrscht. Heute müssen sich die zahlreichen orthodoxen orientalischen Kirchen mit der bloßen „Idee" behelfen, daß sie alle zusammen um der Einheit des Glaubens willen die eine orthodoxe Kirche bilden und „geistig" mit dem Patriarchate von Konstantinopel verbunden sind. Es ist nicht wahrscheinlich, daß auf die
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Dauer diese „Idee" genügen wird; denn sie sind eben „katholische" Kirchen, und deshalb muß jede Erstarkung und religiöse "Vertiefung, die sie erfahren — auch die durch eine höhere Bildung, falls sie nicht zu einer Art von Protestantismus führt —, dem Bestreben zugut kommen, die Selbständigkeit und äußere Einheit der Kirche wirksamer darzustellen. Hier nun vermag Rom einzusetzen. Es kann den national gespaltenen und staatlich bevormundeten Kirchen das Bewußtsein und die Form einer tatsächlichen Einheit geben. Jüngst las man in den Zeitungen, in Rom denke man daran, einen römisch-katholischen Patriarchen von Konstantinopel für den Orient zu ernennen. Ein Schritt von der höchsten Bedeutung, aber auch von der höchsten Gefahr; denn, zur Unzeit gemacht, kann er den entgegengesetzten Erfolg haben. Man wird sich daher wohl noch besinnen, ihn zu tun; aber, zur rechten Zeit gemacht, kann er außerordentliche Erfolge haben, zumal wenn der Papst diesen Patriarchen in besonderer Weise „in partem sollicitudinis" beruft, ihm gewisse Regierungsrechte über die Kirche des Orients „abtritt" und sich selbst zunächst sozusagen nur im Hintergrunde hält. Drittens ist zu erwägen, daß die Stellung eines Teils der orientalischen Völker zu Rußland eine ganz andere geworden ist als früher. Solange der Zar-Befreier nicht befreite, war er die Hoffnung, auch die Hoffnung der Gläubigen; nachdem er zu „befreien" begonnen, ist er der Schrecken geworden. Rumänen und Bulgaren, selbst Griechen und Armenier wollen von ihm nichts wissen. Ein patriotischer Armenier sagte mir, trotz aller Schrecken, die die türkische Herrschaft bereite, sei man lieber türkisch als russisch. Rumänen und Bulgaren wissen, wo ihr eigentlicher Feind sitzt, und der Grieche zittert davor, Konstantinopel könnte eines Tages russisch werden. Dazu: die Bildung, welche diese alten und doch jungen Völker aufnehmen, ist die abendländische; in Rumänien und Bul-
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garien sitzen abendländische, katholische Fürsten; das katholische Österreich reicht bis tief in das Herz der Balkanhalbinsel hinein; deutsche und italienische Mönche arbeiten zahlreich und mit großem Erfolge im Nordwesten der Halbinsel, und die Bahn, die nach Saloniki führt, zieht die Nordküste des ägäischen Meeres an die österreichische Monarchie heran. Diese Neugestaltung der Verhältnisse kommt überall der römischen Kirche zu statten; auch hat sie in jenen Ländern nicht nur „unierte" Gläubige, sondern es bestehen dort von altersher große Gruppen römisch-katholischer Bosnier, Serben und Albanesen. Wie sollte sie nicht hoffen, daß ihr dort noch eine große Ernte erwachsen werde, zumal da sie einen Agitator von solcher K r a f t und solchem Ansehen bei den Slaven besitzt, wie den Bischof Stroßmayer? Allein, wendet man ein, das sind schließlich doch alles nur untergeordnete Komplikationen. Die griechische Kirche ist Rußland, und Rußland ist die griechische Kirche. Solange der Papst Rußland nicht hat, hat er nichts, und Rußland wird er niemals bekommen. Wird doch erzählt, die russische Regierung habe dieses päpstliche Rundschreiben verbreiten lassen, weil es ihr nicht nur ungefährlich, sondern sogar willkommen gewesen — zu dem entgegengesetzten Zweck, den der Papst im Auge hatte. Ich weiß nicht, ob daran etwas wahres ist, sonderlich glaubwürdig klingt mir die Nachricht nicht. Rußland wird in dem Rundschreiben überhaupt nicht erwähnt (während ζ. B. Frankreich und Italien ausdrücklich genannt sind); es wird aber auch nicht vor den Kopf gestoßen — denn das eine, was der Papst verlangt, hat er immer verlangt —, im Gegenteil, es wird ihm durch die Zuerkennung der vollen Orthodoxie geschmeichelt. Mehr kann dem offiziellen Rußland gegenüber der Papst heute überhaupt nicht tun; aber das offizielle Rußland ist nicht das ganze Rußland. Die Kenner der russischen Zustände wissen, daß es im
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Herzen Rußlands, in Moskau, und in dem gebildetsten Teil der russischen Gesellschaft eine patriotisch-russische Partei (vielleicht besser „Richtung") gibt, die eine Neugeburt der heimischen Kirche im Sinne der abendländischen Kirche (und zwar der römischen, nicht der evangelischen) ersehnt, vorbereitet und in ihr das einzige Heil f ü r die russische Kirche erkennt. Sie ist auch literarisch, soweit es die russischen Zustände zulassen, mit hinreichender Deutlichkeit hervorgetreten und hat bewiesen, daß Männer von ungewöhnlichen Talenten, unerschütterlicher Vaterlandsliebe und warmer Anhänglichkeit an die griechische Kirche in ihrer Mitte sind. Sie hat auch darüber nachgedacht, wie sich die Weltstellung Rußlands und seine Traditionen mit einer Veränderung des Kirchenwesens im römischen Sinne vereinigen lassen, und glaubt an diese Möglichkeit. I n Westeuropa viel weniger bekannt als die „Stundisten" — die evangelisch-abendländische Richtung in Rußland —, weil sie keine Sekte bildet und sich auf die Kreise der höheren Bildung beschränkt, darf diese Richtung als ein Faktor der inneren Spannungen Rußlands doch nicht gering geschätzt werden. Daß man sie in Rom kennt und würdigt, darüber kann angesichts der Beziehungen, die sie zum Abendland hat, kein Zweifel sein. Daß man von ihr nicht spricht, ist wohl verständlich. Eine politische Bedeutung kann sie zurzeit nur auf indirektem Wege gewinnen; aber wenn einmal das starre Staatskirchentum Rußlands nicht mehr zu halten ist — und wer darf sagen, daß es ewige Dauer in sich trägt? —, so hat diese Partei eine Zukunft, und man versteht es, daß Rom schon jetzt mit ihr rechnet. Ganz anderer Art, aber auch nicht zu unterschätzen, sind die Hoffnungen, die man in Rom auf die Kleinrussen und ihren Q-egensatz zu den Großrussen setzt. Die Kleinrussen stehen durch ihre Geschichte dem Abendland näher als die Grroßrussen und fühlen sich g e drückt — freilich auch durch die römisch-katholischen
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Polen. Immerhin liegen hier Spannungen vor, die eine Rom günstige Lösung als möglich erscheinen lassen. Aber mögen dem Papsttum zurzeit noch so günstige Sterne im Orient leuchten, mag der Abscheu des offiziellen Rußlands vor dem Protestantismus und dem überwiegend protestantischen Deutschland noch so groß sein, mag die politische Konstellation „Rußland — Frankreich — der Papst" den letzteren zu Hoffnungen berechtigen: Rom selbst hat seit dem Jahre 1870 seine Expansionskraft durch die förmliche Proklamierung des Unfehlbarkeitsdogmas außerordentlich geschwächt. Diese Proklamierung mag um der inneren Lage der römischen Kirche willen eine Notwendigkeit gewesen sein und sie hat unzweifelhaft die Einheit der Kirche im Innern gestärkt; aber f ü r die „Wiederbringung" der verirrten Völker bedeutet sie ein schweres Hemmnis. Man wird sich dessen gewiß in Rom bewußt gewesen sein; aber man scheint den Gewinn höher veranschlagt zu haben als die Gefahr der Verengung, in die man sich — notgedrungen — hineinbegeben hat. Solange die Unfehlbarkeit des Papstes nicht definiert war, waren „Einheit der Regierung der Kirche", „Oberstes Lehramt", „Apostolischer Stuhl", „Primat" immer noch sehr dehnbare Begriffe. Galt und gilt doch auch in allen Kirchen des Orients der Bischof von Rom als der erste Bischof der Christenheit, und haben doch selbst Reformatoren erklärt, man könne sich den Papst gefallen lassen, wenn er das Evangelium zuließe! "Welch einen Spielraum besaß Rom, welche Konzessionen konnte es an die Landeskirchen, Bischöfe und Fürsten zeitweilig und dauernd machen, wie konnte es die Begriffe „Primat" und „Regierungsgewalt" dehnen und abmessen, wie konnte es die alten Konzilien betonen, solange es kein Infallibilitätsdogma und keine unzweideutige Lehre gab, daß der Papst in allen Diözesen die ordentlichen bischöflichen Gewalten besitze! Das ist heute anders, und an diesem Zustand vermag der Papst
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durch Verschweigen des Unfehlbarkeitsdogmas, wie er es tut, nichts zu ändern. In der Tat, jenes neueste Dogma ist nicht das einzige, aber es ist das schwerste Hemmnis bei der "Verwirklichung der hochfliegenden Hoffnungen Roms. Es ist nicht abzusehen, wie sie sich jetzt noch erfüllen könnten. Oder kann auch dieses Dogma „elastisch" behandelt werden? Ich sehe nicht ab, wie das möglich ist. Ideen kann man beliebig verdichten oder verdünnen; von Dogmen läßt sich mit geringerer oder größerer Offenheit behaupten, daß sie einen liturgisch-dekorativen Charakter haben und keinen Einsichtigen zu genieren brauchen; aber persönliche Kompetenzen, als Glaubenssätze formuliert, sind starr. Auch die Versicherung, daß man keinen oder einen mäßigen Gebrauch von ihnen machen werde, verbessert nichts; sie bleiben dennoch bestehen. Nicht in der nationalen Eigenart der griechischen und slavischen Völker, nicht in ihrer unzweifelhaft vorhandenen Antipathie gegen den Westen, nicht in dem Stolze der Griechen, die alte Kirche zu besitzen, nicht in der Unveränderlichkeit des russischen Staatswesens, sondern in der Formulierung der Unfehlbarkeit und des Episcopus universalis liegt das stärkste Hemmnis der Propaganda Roms im Orient und die sicherste Bürgschaft der Selbständigkeit der orientalischen Kirchen — wenigstens für einige .Generationen noch; weiter hinaus reicht überhaupt keine menschliche Berechnung. Von den orientalischen Kirchen wendet sich der Papst zu den protestantischen: „Mit nicht geringerer Liebe weilt Unser Blick auf jenen Völkern, welche in neuerer Zeit eine ganz ungewöhnliche Umwälzung aller Zustände und Verhältnisse von der Römischen Kirche getrennt hat. Mögen sie die verschiedenen "Wechselfälle vergangener Zeiten vergessen, ihren Blick über alles Irdische erheben und einzig von dem Wunsche beseelt, die Wahrheit und mit ihr das Heil zu finden, die von Jesus Christus gegründete Kirche
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bei sich betrachten. Wenn sie ihre Religionsgesellschaften mit der Kirche vergleichen und erwägen wollen, wie es in denselben mit der Religion steht, so werden sie leicht einräumen, daß sie, des alten Grlaubens uneingedenk, sich durch mannigfachen Irrtum in vielen und hochwichtigen Stücken zu Neuerungen haben hinreißen lassen." Auf den merkwürdigen Ausdruck: „Mögen sie die verschiedenen Wechselfälle vergangener Zeiten vergessen", habe ich oben bereits hingedeutet. In einem Zusammenhang, in dem wir sonst Schmähworte über Luther und über die Reformatoren als Aufrührern und unsittlichen Menschen, die das ganze Elend der Gegenwart verschuldet haben, zu hören gewohnt sind, werden wir diesmal aufgefordert, aus der Lethe zu trinken und das Vergangene vergessen sein zu lassen. Der Papst scheint zuzugestehen, daß wirklich manches nur durch Vergessen beseitigt werden kann. Das Motiv, die Wahrheit und mit ihr das Heil zu finden, möge uns — das wünscht der Papst — einzig bestimmen. Aber in echt katholischer Weise, gegen die freilich in alter Zeit selbst noch ein Tertullian und Cyprian protestiert haben („Christus se veritatem, non consuetudinem nominavit"), wird dann sofort das Alte und die Wahrheit identifiziert: die „Religionsgesellschaften" haben sich in vielen und hochwichtigen Stücken zu „Neuerungen" hinreißen lassen. Ist schon dieser Appell wenig überzeugend; denn er fordert uns dazu auf, an die Neuerungen der römischen Kirche zu denken, so ist die allgemeine Aufforderung, zu erwägen, wie es in unseren Kirchen „mit der Religion steht", vollends unvorsichtig; denn wie steht es in der römischen Kirche ζ. B. Italiens oder Frankreichs mit der Religion? Allein dies alles ist nur ein Vorläufiges; das Wichtigste folgt in der nächsten Satzgruppe: „Ebensowenig werden sie leugnen, daß ihnen von dem Erbteil der Wahrheit, welches die Urheber der Neuerungen bei ihrer Lossagung von der Kirche mit sich genommen,
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kaum eine sichere und verbürgte Glaubensformel übrig geblieben ist. J a , so weit ist es schon gekommen, daß viele sich nicht entblöden, das Fundament selbst, auf welchem die ganze Religion und alle Hoffnung der Menschenkinder ruht und welches kein anderes ist, als die göttliche Natur des Erlösers Jesus Christus, dieses Fundament anzugreifen. Ebenso sprechen sie den Büchern des alten und neuen Testaments, welche sie ehedem als vom heiligen Geiste inspiriert annahmen, nunmehr alles göttliche Ansehen ab. Freilich dahin mußte es unbedingt kommen, nachdem einmal einem jeden das Recht zugestanden war, die Schrift nach eigenem Gutdünken und Ermessen zu erklären. Daher auch die Erscheinung, daß unter Zurückweisung jeder anderen Lebensregel das Gewissen des Einzelnen als alleinige Norm, als einzige Richtschnur ihrer Handlungen aufgestellt wird. Daher die vielen sich einander widersprechenden Meinungen und Sekten, die schließlich in den erklärten Naturalismus und Rationalismus ausarten. Aus diesem Grunde verzweifeln sie an einer Einigung in den Lehrmeinungen und predigen und empfehlen nur noch eine Vereinigung, deren Band die brüderliche Liebe ist. An diesem letzteren tun sie nun allerdings gut; denn wir alle müssen durch gegenseitige Liebe miteinander verbunden sein. Hat ja doch auch Jesus Christus dieses vor allem anderen anbefohlen und gewollt, daß eben diese gegenseitige Liebe das Kennzeichen seiner Jünger sei. Aber wie kann die vollkommene Liebe die Gemüter verbinden, wenn die Geister nicht durch den Glauben geeinigt sind?" Diese Satzgruppe ist ein Meisterstück kurialer Schriftstellerei, und der Papst hat mit ihr wirklich eine Richtung im Protestantismus in Verlegenheit gesetzt, wie die Haltung einer angesehenen konservativen Zeitung den päpstlichen Worten gegenüber beweist. Sehr geschickt setzt er bei der modernen Entwickelung des Protestantismus ein. Indem er die beiden Richtungen in ihm zu trennen sucht, spricht er
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der einen das Erbteil der "Wahrheit, wenn auch das geschmälerte, der anderen die protestantische Konsequenz zu. Aber sofern sie noch zusammenhalten, sind auch die Altgläubigen f ü r die Neugläubigen verantwortlich: die evangelische Kirche ist das nicht mehr, was sie im 16. Jahrhundert gewesen ist; sie hat den Glauben an die göttliche Natur des Erlösers und an die Inspiration der h. Schriften aufgegeben. Sie konnte freilich nicht anders; denn diese Preisgabe ist eine notwendige Konsequenz des Prinzips der freien Forschung und des souveränen Gewissens. Also sind diese Prinzipien gerichtet; denn sie führen zum Naturalismus und Rationalismus. Leider irrt sich der Papst nicht in der Annahme, daß diese Argumentation in gewissen Kreisen der evangelischen Kirche Eindruck machen wird; denn sie selbst argumentieren so; aber er irrt sich, wenn er meint, daß sie deshalb zum römischen Katholizismus übergehen werden. Davon kann — soviel ich sehe — keine Rede sein; denn der Abscheu vor dem, was man alles mit in den Kauf nehmen muß, wenn man das alte Dogma ungeschmälert aus der Hand Roms wieder empfängt, ist überall in dem protestantischen Gebiete zu groß. Nur einzelne können, wie schon früher, in Betracht kommen. Aber von besonderem Interesse ist, daß selbst der Papst bei dem bloßen Verdikt des modernen Protestantismus als in den Naturalismus und Rationalismus ausartend nicht stehen bleiben kann. Augenscheinlich bemerkt er oder der, der ihm hier die Feder geführt, daß trotz der Auflösung der dogmatischen Einheit Kräfte der Liebe im Protestantismus vorhanden sind, und daß sie ein Gemeinschaftsband bilden, daß also nicht ein allgemeiner Verfall die Folge der theologischen Zersplitterung ist, sondern daß positive Kräfte vorhanden sind. Dieser Beobachtung gegenüber bemüht er sich mit der dogmatischen Exklamation: „Wie kann die vollkommene Liebe die Gemüter verbinden, wenn die Geister nicht durch
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den Glauben geeinigt sind?" Es bedarf wenig Aufmerksamkeit, um den Doppelsinn des "Wortes „Glauben" hier zu erkennen. G-ewiß — eine Verbindung in der Liebe muß durch eine Einheit der Gesinnung getragen sein; aber diese mit dem römisch-katholischen Dogma oder sonst einem ausgeführten theologischen Glauben zu identifizieren, ist ein alter theologischer Irrtum. Der Verfasser verweist nun auf die herrlichen Beispiele protestantischer Konvertiten, die nach ihrem Ubertritt die katholischen Wahrheiten aufs Trefflichste auch durch Schriften bewiesen hätten. E r meint Männer wie M a n n i n g , N e w m a n und wohl auch manchen Deutschen: „Angesichts dieses herrlichen Beispiels so vieler Männer redet vielmehr Unser Herz als Unser Mund zu Euch, teuerste Brüder, die Ihr nun schon dreihundert Jahre von uns im Glauben getrennt seid, und zu Euch, die Ihr Euch in der Folge aus irgend einem Grunde von uns losgesagt: Finden wir uns alle zusammen in der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis Jesu Christi." Die Sehnsucht des Papstes, die Getrennten als Wiedergewonnene begrüßen zu können, ist gewiß eine ungeheuchelte, und die Ausdrucksweise: „Teuerste Brüder" und „finden wir uns alle zusammen in der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis Christi", ist so freundlich und konziliant wie möglich. Allein — was freilich selbstverständlich — über den freundlichen Ton hinaus fehlt jede tatsächliche Konzession. Allerdings von der Unfehlbarkeit wird auch hier nicht gesprochen, obgleich bei denen, die sich in der Folge „aus irgend einem Grunde" von uns losgesagt (die Altkatholiken), die Erwähnung besonders nahe lag und mit Befremden vermißt wird. Aber was hilft das Verschweigen? Man kann vielmehr umgekehrt fragen: Ist das Verschweigen hier so verständlich, wie gegenüber den griechischen Kirchen? Ich möchte diese Frage nicht unbedingt bejahen. So
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paradox es in dem ersten Moment, klingen mag und so unerfreulich es an sich ist — die Unfehlbarkeit ist gegenüber einem Teile der „Protestanten" kein so starkes Hemmnis für die römische Propaganda wie gegenüber den Griechen. Die griechische Kirche ist selbst eine Autoritätskirche; aber die Autorität, d. h. die Unfehlbarkeit der Kirche, ist den Griechen ein Stück Altertum oder vielmehr als der Inbegriff des Altertums die Gewähr für den Wahrheitsbesitz der Kirche. Darüber hinaus hat sie keine Bedeutung. In bezug auf die Frage der persönlichen Heilsgewißheit kommt sie wenig in Betracht, einfach deshalb, weil diese Frage in den griechischen Kirchen keine Rolle spielt. Die Folge hiervon ist, daß nur die Autorität dort ein Recht hat, die das unveränderte Altertum repräsentiert. Den Träger der Autorität ändern heißt die Autorität selbst abtun. Der Grieche empfindet die Unfehlbarkeit eines Einzelnen an Stelle der Gesamtkirche als Revolution, weil sie die stärkste Neuerung ist. Nun hat freilich der Protestant ihr gegenüber noch ganz andere, viel tiefer liegende Bedenken. E r lehnt im Namen des Evangeliums den Gedanken der Unfehlbarkeit der Kirche überhaupt ab, und damit fällt die Frage, wer der Träger derselben ist, einfach fort. Aber der Protestant ist nicht immer der Protestant. Wer gewohnt ist, konservativ-kirchliche Zeitungen zu lesen, der weiß, daß mit dem Gedanken der Autorität der Kirche heute ein begehrliches und höchst bedenkliches Spiel gespielt wird. Man möchte die Kirche womöglich als absolute Autorität hinstellen, ja tut manchesmal so, als wäre sie es. Der Versuch will freilich niemals recht glücken; denn die kleine und höchst kompliziert verfaßte Landeskirche, der man angehört, kann man doch nicht ernsthaft mit dem Schimmer absoluter Autorität bekleiden wollen. Man sieht sich also genötigt, auf einen idealen Faktor in ihr zu verweisen, sei es auf das „Bekenntnis", das man so auszubeuten sucht, wie der Katholik die Tradition, sei es
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auf die heilige Schrift. Aber das Bekenntnis ist auch bei den Strengsten nicht mehr einhellig und unerschüttert, und daß die heilige Schrift der geschichtlichen Kritik unterliegt, wagen wenigstens in thesi wenige mehr zu bestreiten. Solange sich aus diesem Zustande nur kirchenpolitische Schwierigkeiten entwickeln, ist die Gefahr für den Protestantismus noch nicht brennend: solche Schwierigkeiten lassen sich immer noch durch halbe Gedanken und halbe Maßregeln beschwichtigen. Aber brennend wird die Gefahr, wenn das alte evangelische Hauptinteresse, die Frage nach dem Grunde der persönlichen Heilsgewißheit, ins Spiel kommt. Fährt man in den evangelischen Kirchen fort, die Fragenden auf eine äußere formale Autorität zu verweisen, während doch die Autoritäten, die man nennen kann, sämtlich unzureichend sind, so darf man sich nicht wundern, daß schließlich der unfehlbare Papst als die Rettung erscheint. Hier und hier allein geschieht dem äußeren religiösen Autoritätsbedürfnis ein vollkommenes Genüge. Diese Autorität allein läßt keine Zweifel mehr übrig, wie sie eine geschriebene Urkunde oder eine ideale Autorität wie die „Kirche" immer übrig lassen muß. Der Fromme, der heute den Protestantismus verläßt und zur römischen Kirche übertritt, tut das nicht trotz der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes, sondern eben diese Lehre ist es, die ihn anzieht. F ü r den ungeheuren Halt, den sie ihm gewährt, bringt er das Opfer des Intellekts. Gewiß, das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes ist nicht aufgestellt worden, um denen, die in heißem Ringen nach dem Grunde der Heilsgewißheit suchen, einen festen Boden zu gewähren — so tief hat man weder in Rom noch im Jesuitenorden jemals gedacht —, aber es erweist sich tatsächlich als diejenige Fixierung der Autorität, welche allein allen Zweifel ausschließt, sofern man sie selbst nur nicht bezweifelt. Darum sehen wir auch, daß die berühmten englischen und deutschen Konvertiten unserer Tage mit we-
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nigen Ausnahmen überzeugte Infallibilisten waren und sind. Wer eine protestantische Frage, die nach der Heilsgewißheit, katholisch, d. h. mit Beziehung auf eine äußere formale Autorität, und zugleich konsequent beantwortet, der kann weder bei der Unfehlbarkeit der heiligen Schrift noch des Bekenntnisses noch der „Kirche" stehen bleiben: er muß Infallibilist werden. Auf Gl-rund dieser Erwägungen darf man behaupten, daß das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit — mindestens in e i n e r Hinsicht — der römischen Propaganda unter den Protestanten nicht so hinderlich ist wie unter den Griechen. Allerdings gehört diese Erwägung mehr der Zukunft an, wenn sich die große innere Auseinandersetzung des Protestantismus mit seiner eigenen Geschichte und mit seinen Grundlagen, in deren Anfängen wir stehen, schärfer vollziehen wird. Auch dürfen wir hoffen, daß dann nicht nur die Indifferenz oder die vertiefte geschichtliche Bildung, sondern auch das geklärte evangelische Bewußtsein den römischen Lockrufen Widerstand leisten wird; aber immer werden wir gut tun, uns daran zu erinnern, daß die monströse Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes eine Seite hat, durch die sie sich einem zarten, aber gebundenen und unruhigen Gewissen empfiehlt. Wer die Verantwortung für die eigene Seele nicht tragen will oder kann, auf wen sollte er sie lieber abladen als auf den unfehlbaren Statthalter Christi? Daß es einen solchen gibt, ist freilich ein harter G-laube; aber was glaubt der Mensch nicht, wenn er in wirklicher innerer Not ist! Die zweite Hälfte des Rundschreibens bezieht sich ausschließlich auf die katholische Kirche. Wir können uns über sie kürzer fassen; denn diese Hälfte steht nicht auf der Höhe der ersten. Hier wird man vielmehr aufs kräftigste daran erinnert, daß der römischen Kirche die kirchenpolitischen Dinge im Vordergründe stehen und die Religion
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ihnen untergeordnet ist. Der Papst behauptete im Eingang, er wolle in Nachahmung des hohenpriesterlichen Gebets Jesu reden; aber nur gegenüber den Schafen „aus dem anderen Stalle" hat er den Ton des Hirten getroffen; sobald er sich der eigenen Kirche zuwendet, spricht weniger der Hirte als der Herrscher. Um so bemerkenswerter ist, daß, wie in der ersten Hälfte die Unfehlbarkeit fehlt, so in dieser zweiten die Forderung der Wiederherstellung des Kirchenstaates. Das ist gewiß kein Zufall, zumal da der Papst indirekt die Frage berührt und auch den allgemeinen Ausdruck braucht, man habe „die Kirche ihrer G-üter beraubt und ihre Freiheit aufs äußerste beschränkt". Jedenfalls ist auch hier das Bestreben, dieses Rundschreiben an die Fürsten so konziliant wie möglich zu gestalten, wirksam gewesen. Es wird immer denkwürdig bleiben, daß Leo XTTT. in diesem seinem Testamente davon abgesehen hat, rund die Zurückgabe des Kirchenstaates zu verlangen. Zwei Gegner bekämpft der Papst in dieser zweiten Hälfte und nennt sie auch bei Namen: den Febronianismus und die Freimaurerei; sie erscheinen ihm im Schöße des Katholizismus als die schlimmsten Feinde. Der dritte alte Gegner, der Gallikanismus, ist augenscheinlich nicht mehr zu fürchten. Unter dem Namen „febronianische Grundsätze" faßt der Papst alle Bestrebungen zusammen, die wir als „staatskatholische" zu bezeichnen pflegen: die Beschränkung der Freiheit der Kirche durch den Staat, das Mißtrauen gegen die Kirche als eine politische Gemeinschaft, die einseitig staatliche Gesetzgebung usw. Neues oder durch die Formulierung Bemerkenswertes wird nicht vorgetragen. Der Papst kämpft hier gegen die „Trägheit und Fahrlässigkeit", die „Engherzigkeit und das Mißtrauen" nicht der Ketzer, sondern der Katholiken. Hieran schließt sich die Polemik gegen die Freimaurerei, vornehmlich in Italien und Frankreich. Leider bin ich außerstande anzugeben, wie es mit den tatsächlichen Unterlagen
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dieser Polemik steht. Wir hier diesseits der Alpen und des Rheins wundern uns sowohl darüber, daß den Freimaurern eine so ungeheure Bedeutung beigelegt wird, als auch darüber, daß sie so grundschlecht sein sollen. Jedenfalls irrt sich der Papst, wenn er schreibt, daß „die verwerflichen Grundsätze dieser Sekte, ihre gottlosen Pläne, aller "Welt bekannt sind". Auch werden es nicht wenige mit Erstaunen lesen, daß „die Sekte lehrt, der Mensch müsse die Natur verehren und allein aus ihren Grundsätzen Maß und Richtschnur für alle "Wahrheit, Sittlichkeit und Gerechtigkeit nehmen"; ferner: „und was das Traurigste bei der Sache ist; wohin immer sie den Fuß setzt, dringt sie in alle Schichten des Volkes ein, mischt sie sich in alle Einrichtungen des Staates, um schließlich alles und jedes in jeder Hand zu haben . . . ." „Auf diese "Weise muß der Mensch mehr oder weniger in heidnische Sitten und Gewohnheiten zurückfallen, die bei den so vervielfältigten Reizmitteln nur noch um so ungebundener sein werden." Sind die romanischen Freimaurer wirklich so schlimm, wie der Papst sie schildert — in bezug auf ihre Bekämpfung spricht er das etwas brenzliche Wort: „wir schärfen wieder und wieder ein, daß bei so großer Gefahr keine Maßregel wirksam genug ist, um eine andere noch wirksamere überflüssig zu machen" —, so dürfen wir mit Genugtuung darauf hinweisen, daß sie in dieser Gestalt nach dem eigenen Urteile des Papstes eine spezifische Erscheinung katholischer Länder sind. Wahrhaft überrascht ist man nach dieser Bekämpfung des Febronianismus und der Freimaurerei folgendes zu lesen: „Wenn so die zwei Gefahren beseitigt und die Reiche und Staaten wieder zur Einheit des Glaubens zurückgekehrt sind, welch wirksames Heilmittel gegen alle Übel, welch wunderbarer Überfluß an allen Gütern wäre damit der Welt gegeben! Wir wollen die hauptsächlichsten wenigstens berühren." Man sieht, das Rundschreiben nimmt von hier
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ab, indem es sich zum Schluß neigt, eine rhetorische Wendung. Aber daß ein wahrhaft paradiesischer Zustand sich einstellen werde, sobald nur die Kircheneinheit wieder hergestellt ist und Febronianismus und Freimaurerei beseitigt sind, ist doch eine wunderbar oberflächliche Behaupt u n g , die auf einer völligen Yerkennung der christlichen Religion und einer ebenso starken Yerkennung ihrer eigentlichen G-egner beruht. An diesem einen Satze, der übrigens aus den mittelalterlichen Zuständen sofort widerlegt werden kann, vermag man sich den ganzen Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus klar zu machen. Und welche Güter nennt der Papst als die hauptsächlichsten? Erstlich die Wiederherstellung des gebührenden Rangs der Kirche und ihrer Freiheit zum Segen und Heile der Völker, zweitens die wesentliche Förderung der gegenseitigen Annäherung der Nationen — der bewaffnete Friede würde aufhören; „die unerfahrene Jugend würde nicht mehr mit Gewalt auf die gefährliche Militärlauf bahn gedrängt (!)"; die Erschöpfung des Staatsschatzes durch die ungeheuren Ausgaben und die schwere Schädigung des Vermögens der Einzelnen würde ein Ende nehmen (dies ist wohl mit besonderer Beziehung auf Italien gesagt) —, drittens die heilsame Beschleunigung der Lösung der sozialen und, wie es in dem Schreiben heißt, der politischen Frage (d. h. der Frage des Verhältnisses von Freiheit und Autorität). I n Hinsicht auf die soziale Frage findet sich eine sehr treffende, freilich nicht neue Erwägung: „Wie viel mehr als durch alles andere würde die Lösung der sozialen Frage beschleunigt, wenn die Menschen allgemein angeleitet würden, von innen heraus durch die Grundsätze des christlichen Glaubens ihren Sinn für Recht und Pflicht auszubilden." Was die politische Frage betrifft, so bringt der Papst ein, wie man fürchten muß, zu einfaches, ich möchte sagen salomonisches Rezept „aus der christlichen Philosophie": „Wenn man davon ausgeht, was alle zugeben (?), daß nämlich die 19*
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Autorität von Gott komme, gleichviel, welches die Regierungsform ist, so sieht die Vernunft sofort, daß bei den einen das Recht zu befehlen durchaus gesetzlich, bei den andern die Pflicht zu gehorchen ganz ordnungsmäßig sei. Durch den Gehorsam wird auch keineswegs der menschlichen Würde zu nahe getreten; denn schließlich wird doch viel mehr Grott als den Menschen der Gehorsam geleistet. Andererseits wird denjenigen, welche befehlen, von Gott das strengste Gericht angekündigt, wofern sie ihn nicht vertreten, wie sie sollen, als Förderer des Rechts und der Gerechtigkeit. Die Freiheit der Einzelnen kann aber niemandem verhaßt, niemandem verdächtig sein; denn ohne jemandem zu schaden, entfaltet sie sich nur in dem (?), was wahr, was recht, was in vollem Einklänge mit der öffentlichen Ruhe steht." Indem der Papst die herrlichen Güter weiter überschlägt, die der wiederhergestellten Kircheneinheit und Karchenfreiheit folgen werden, erhebt er sich zu einer prophetischen Schilderung: „Wir sehen in der Ferne, welch glückliche Ordnung der Dinge dann auf Erden sich anheben würde, und Wir kennen nichts Angenehmeres, als die Betrachtung der Güter, die daraus erfolgen. Man kann sich kaum vorstellen, welchen Aufschwung, Größe und Wohlstand (hier ist die Ubersetzung nicht in Ordnung) plötzlich auf der ganzen Welt nehmen würden, wenn Ruhe und Frieden der Erde wiedergegeben, wenn die Wissenschaft auf alle Weise gefördert, wenn überdies nach Unserer Anweisung auf christlicher Grundlage Vereine von Landwirten, Handwerkern, Geschäftsleuten gegründet und vervielfältigt würden, mit deren Hilfe der alles verschlingende Wucher aus der Welt geschafft und heilsamen Arbeiten ein weites Feld geöffnet wäre." Auch auf die jetzt noch nicht christlichen Völker würde sich der Segen erstrecken — damit kehrt das Schreiben nach strengem Stile wieder zu seinem Anfang zurück, um mit einer Bitte an die Fürsten, die
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Ratschläge vorurteilsfrei in Erwägung zu ziehen, und dem Votum zu schließen: „Daß sich die Verheißung Christi bald erfüllen möge: Es wird nur Ein Schafstall und Ein Hirte sein." Diese letzten Ausführungen des päpstlichen Schreibens lassen sich nicht kritisieren; denn Prophezeiungen und Zukunftshoffnungen sind nicht zu diskutieren. Offenbar liegt aber überhaupt der Schwerpunkt der ganzen Kundgebung nicht in diesen Abschnitten, sondern in der ersten Hälfte. Tiefe und warme Worte an die Herzen seiner Gläubigen hat der Papst in diesem seinem Testamente nicht zu finden gewußt. Augenscheinlich hat er die Religion sozusagen „vorausgesetzt" und es nicht für nötig gehalten, von ihr zu handeln und sich in ihr wie ein Seelsorger zu bewegen. Der schlichteste evangelische Pfarrer, der seiner Gemeinde ein Testament hinterläßt, würde anders zu ihr sprechen, als dieser Statthalter Christi. E r würde die Religion nicht einfach „voraussetzen", sondern er würde von dem Einen handeln, was not tut. Den ganzen Unterschied des evangelischen "Wesens und dieses Katholizismus kann man an dieser Unterlassung erkennen, und alle freundlichen Lockungen, die im ersten Teile aufgeboten sind, können den Eindruck nicht verwischen, daß die Religion in diesem Testamente zu kurz gekommen ist.
PROTESTANTISMUS UND KATHOLIZISMUS IN DEUTSCHLAND
Festrede gehalten am Geburtstage Sr. Majestät des Kaisers und Königs den 27. Januar 1907 in der Aula der Berliner Universität. Erschienen bei Georg Stilke, Berlin 1907.
Einmütig haben wir uns versammelt, um den Geburtstag unseres Kaisers festlich zu begehen. Vor uns steht sein Bild in den lebendigen Zügen, in denen seine Persönlichkeit in Wort und Tat sich ausgesprochen hat. In dem Herzen eines jeden Deutschen aber lebt auch ein festes Kaiserbild als Niederschlag und Frucht unsrer ganzen Geschichte. In der Einheit dieser beiden Bilder wollen wir unsern Kaiser sehen, und wir danken ihm, wenn er das alte Kaiserbild in uns belebt, und wenn er es mit neuen Zügen bereichert. Zum Dank hat unser Kaiser die Nation in dem verflossenen Jahre noch in besonderer Weise verpflichtet. Er hat die soziale Botschaft seines großen Ahnherrn erneuert und seinen festen Willen erklärt, das aus ihr entsprungene gewaltige Werk in Kraft zu halten und fortzusetzen. Es ist ein Werk des Friedens im eminenten Sinne, wohlgeeignet, die unvermeidlichen Spannungen zu mildern, die eine Folge der sozialen Struktur und der Arbeitsteilung sind. Wir Deutsche sind in dieser sozialen Gesetzgebung allen anderen Nationen vorangegangen; aber wir hatten auch besonderen Grund, uns zu beeilen und Opfer zu bringen. Nicht nur, weil ein stärkeres soziales Pflichtgefühl uns dazu bestimmt, sondern auch, weil wir, mitten zwischen vier Großmächten stehend, doppelte Ursache haben, den inneren Frieden zu behaupten und zu stärken. Aber der soziale Gegensatz ist nicht der einzige, der als schwere Gefahr über der inneren Einheit unsres Volkes schwebt. Es scheint, als habe die Vorsehung dieses Deutschland ausersehen, um alle möglichen Schwierigkeiten gleichzeitig zu erleben und in langer Arbeit durchzukämpfen.
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Neben der sozialen Spaltung stehen bei uns noch immer die schlimmen "Widrigkeiten eines gesellschaftlichen Kastengeistes, und neben diesen steht die konfessionelle Spaltung. Wir befinden uns noch mitten in ihr, während es den anderen großen Völkern auf die eine oder andere "Weise längst gelungen ist, sie im wesentlichen zu beseitigen oder doch aus ihrem politischen Leben auszuschalten. Der Kampf, der zurzeit in Frankreich über die Kirche geführt wird, ist anderer Natur. Hier handelt es sich um die Entscheidung, ob die Kirche, der nahezu alle Franzosen angehören, wie ein Fremdkörper aus dem Organismus der Nation ausgestoßen werden soll, oder ob sie sich noch als ein notwendiger Faktor in ihm zu behaupten vermag. In einer solchen Krisis — vielleicht die Folge der gewaltsamen Unterdrückung des Protestantismus im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich — befinden wir uns nicht. Unser Schwächezustand ist, abgesehen von den Kämpfen, die auch bei uns der politische Katholizismus zeitweilig heraufführt, kein akuter, sondern ein chronischer. In zahlreichen und tiefen Fragen des Lebens und der öffentlichen Wohlfahrt ist unser Volk von vornherein in zwei Lager gespalten, und dieser Zustand wirkt aus dem Mittelpunkt überall in die Peripherie unsres Daseins bis hinab in die Sphäre des Kleinsten und Alltäglichen. Uberall begegnet man dem konfessionellen Vorurteil; überall stößt man auf die Zäune, ja die Mauern der Konfessionen. Als ein stiller, häufig aber auch sehr lauter Koeffizient begleitet sie fast jede öffentliche Lebensäußerung, diktiert überall Zurückhaltungen und Rücksichten, kompliziert alle Verhältnisse und schafft Hindernisse und Hemmungen zuhauf. Daß die eine Partei dazu noch Direktiven aus dem Auslande erhält, erschwert die Lage ganz besonders. G-ewiß hat uns die konfessionelle Spaltung auch Vorteile gebracht; sie trägt mit dazu bei, unsre Nation vor dem schlimmen Dilemma zu bewahren: „Kirche oder Atheismus"; sie schützt uns davor, daß es nicht auch bei uns
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heiße: „"Was man der Religion gibt, das entzieht man dem Vaterland." Aber dieser Gewinn ist zu teuer, viel zu teuer erkauft; denn die Gefahren, welche die Spaltung in sich birgt, sind furchtbare. Sind wir verurteilt, diesen Zustand als einen endgültigen zu betrachten und uns bei ihm zu bescheiden? Die Frage wird so selten unter uns aufgeworfen, daß sie schon dadurch entschieden zu sein scheint. Annäherung der Konfessionen gilt in jedem Sinne wohl den meisten unter uns als eine Utopie, der nachzudenken sich nicht lohnt, ja fast schon als ein Verrat an der eigenen Konfession. Aber andererseits ist doch gewiß — wenn auch nur ein Schimmer von Möglichkeit und Hoffnung einer Besserung hier noch vorhanden ist, so wäre es Gewissenlosigkeit, ihn zu vernachlässigen. Darum sei diese Stunde dem Nachdenken über die Frage geweiht, ob und wie die beiden großen Konfessionen in unsrem Vaterlande sich einander zu nähern oder doch zu einem befriedigenderen Verhältnis zu kommen vermögen. Ein würdigeres Thema können wir für die Feier dieses Festtages nicht finden. Wir folgen, indem wir es aufwerfen, den Spuren von Männern wie Melanchthon, Leibniz, Spener, Zinzendorf und Döllinger, und wir erheben uns bei seiner Behandlung hoch über die augenblickliche kirchenpolitische Lage. Schlaffheit ist es, religiöse und theologische Schlaffheit, die Frage von vornherein abzulehnen oder beiseite zu schieben. Denn, wie es ein unveräußerliches Element der christlichen Religion ist, daß sie Einheit unter ihren Bekennern fordert und stiften will — eine Einheit, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not —, so darf sich auch die theologische Wissenschaft nicht bei dem Zustande einer aussichtslosen konfessionellen Spaltung bescheiden. Sie erkennt viel zu gut, daß nicht wenige Ursachen, die zu der Trennung geführt haben, in geschichtlichen Umständen begründet waren, die längst nicht mehr bestehen. Sie ist daher verpflichtet, die Folgerungen
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daraus zu ziehen. Sie hat aber ferner auch mit steigender Klarheit die ernste Einfalt der christlichen Religion erkannt und zwischen Kern und Schale zu unterscheiden gelernt. Auch hier gilt es, die Konsequenzen mutig ins Auge zu fassen, die sich daraus ergeben. Die Aufgabe, an der Beseitigung oder doch Milderung der konfessionellen Spaltung zu arbeiten, ist also eine Aufgabe der Religion und der Wissenschaft zugleich. Eine solche Aufgabe kann nie überflüssig werden oder unzeitgemäß sein. Setzt man ihr aber die Erwägung entgegen, daß sich zurzeit niemand ein Bild zu machen vermöge, wie und unter welchen Formen der Katholizismus und Protestantismus je sich nähern können, so ist daran zu erinnern, daß sich vor 300 Jahren niemand vorzustellen vermochte, wie sich das Luthertum und der Calvinismus verschmelzen könnten. Und doch haben wir heute die evangelische Union, und Tausende wissen sich als evangelische Christen, ohne von jenem Gegensatze noch etwas zu ahnen, der einst Lutheraner und Calvinisten sich erbitterter bekämpfen hieß als Lutheraner und Katholiken. Ferner aber — wir haben bereits vor hundert Jahren eine Epoche erlebt, in der beide Konfessionen sich viel näher standen als heute. Hat doch hin und her sogar ein Geistlicher der einen Konfession damals für den andern amtiert. Erst im 19. Jahrhundert, der Periode, in welcher sich alle geschichtlichen Gebilde in ihrer Art und in ihren Ansprüchen verstärkt haben, ist auch der Konfessionalismus wieder erstarkt. Weiter — ein unüberwindliches Hindernis kann nicht bestehen, wenn doch in Tausenden von gemischten Ehen Protestanten und Katholiken in friedlicher Einigung zusammenleben, auch in solchen Ehen, die gegen die Religion nicht indifferent sind. Was in den Familien möglich ist, muß auch in der größeren Gemeinschaft, dem Staate, durchzusetzen sein. In der Gesellschaft ist es ja längst, wenn auch nicht durchweg, erreicht. Oder folgt ein freier Katholik — ich meine nicht den religiös indifferenten —
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in Gesinnung und Leben anderen Grundsätzen und Maßstäben als ein freier Protestant? Es bestehen wohl gewisse Unterschiede, aber keine solchen, die eine innere Gemeinschaft unmöglich machen. Endlich — wir alle haben die Konfession, der wir angehören, nicht erwählt, sondern wir sind in sie hineingeboren. Da an eine prästabilierte Harmonie, die katholische Seelen als Katholiken und protestantische Seelen als Protestanten geboren werden läßt, nicht zu denken ist, so darf man hier wohl einfach von Zufall sprechen. Bei einem solchen Zufall dürfen wir uns aber nur beruhigen, wenn er nichts in uns fesselt und keine freie, brüderliche Regung in uns niederhält. Damit sind wir bereits vor die Frage gestellt, in welchem Sinne eine Annäherung der Konfessionen wünschenswert und zu erstreben ist. Die Beantwortung dieser Frage entscheidet über den Weg, den wir einzuschlagen haben, und ist also die Hauptfrage. Indem wir sie aufwerfen, ist jener Ausweg aus den konfessionellen Schwierigkeiten abgelehnt, der uns von manchen Seiten dringend empfohlen wird. Man sagt, man schalte Religion und Kirche aus dem öffentlichen Leben überhaupt aus und überlasse zugleich jede Konfession in Absperrung möglichst sich selbst. Die Konfessionen werden dann bei solcher Isolierung immer kümmerlicher werden; sie werden sich schlechterdings untereinander nicht mehr verstehen und sich wie zwei getrennte Religionen mit geringen Reibungsflächen verhalten; sie werden aber auch gegenüber dem fortschreitenden Gang der großen Entwicklung des Lebens immer rückständiger werden, und zuletzt wird der Zeitpunkt ganz von selbst kommen, wo die Nation sie als ein Überlebtes ausstoßen wird. Besonders in bezug auf den Katholizismus wird uns dieser Ratschlag gegeben, und angesichts mancher Erscheinungen in ihm ist er wohl verständlich; denn es scheint manchmal so, als sei er lediglich ein politisches Gebilde und sei zugleich so starr geworden, daß ihm die Möglichkeit fehlt, auf die neuen
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Erkenntnisse und Bedürfnisse der Gegenwart einzugehen. Allein der Katholizismus lebt, lebt auch noch als Religion; jener Ratschlag aber ist eine kurzsichtige politische Spekulation, die niemals ihren Zweck erreichen wird. Wenn sich in der Politik überhaupt jede Spekulation ä la baisse auf die Dauer rächt und ihr Ziel verfehlt, so gilt dies doppelt an diesem Punkte. Das Umgekehrte ist das Richtige: Überall haben wir für Licht und Luft zu sorgen; jedes Lebendige muß unter die günstigsten Bedingungen gebracht werden; jedem Strebenden muß Freiheit werden, und kranke oder schwache Organe des Gemeinwesens kann man nur dadurch heilen, daß man sie mit Sonnenlicht bestrahlt und sie inniger mit dem Gesamtleben verbindet. Speziell bei uns in Deutschland aber ist jede Politik, die in bezug auf Religion und Konfession ein anderes Verfahren anwenden will, von vornherein gerichtet; denn wir haben die Reformation erlebt, und wir haben die Epoche des deutschen Idealismus, Leibniz und Herder, Kant, Fichte, Schleiermacher und die anderen Großen erlebt. Nicht nur dem deutschen Protestantismus, sondern auch dem deutschen Katholizismus ist dies / » zugut gekommen. Seitdem ist die christliche Religion in den Tiefen unseres inneren und nationalen Lebens verankert, mit unserm höheren Dasein unauflöslich verbunden, und keine Macht vermag sie zu beseitigen. Eben darum kann kein Politiker bei uns wie in anderen Nationen nur Politiker sein. Er muß alle Kulturaufgaben — auch die höchsten und freiesten — zugleich aufnehmen, und die Nation beurteilt ihn letztlich nach seiner Bedeutung für ihr inneres Leben. Eben darum aber können wir auch in der Religionspolitik den "Weg nicht gehen, den die romanischen Völker, mindestens zeitweilig, einschlagen müssen. Wir können auch hier nur eine positive und produktive Politik machen und müssen die religiösen Lebensäußerungen der Nation — einerlei, welcher Konfession sie angehören — in inniger Verbindung mit allen geistigen und nationalen Funktionen halten und fördern.
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"Wie haben wir uns die Annäherung zu denken? Ganz und gar nicht als eine äußere Einheit oder gar Verschmelzung. Daran allein dachte man in früheren Tagen und sann darüber nach, wie man die Dogmensysteme der Kirchen und ihre Verfassungen durch Konzessionen von beiden Seiten in eine leidliche Einheit bringen könne. Daß dieser Weg heute nicht mehr betretbar ist, daß man die Geschichte nicht ungeschehen machen und Stufen der Entwicklung nicht einfach nivellieren kann, darüber sollte kein Zweifel mehr bestehen. Aber, selbst wenn man durch Kompromisse hier etwas zu erreichen vermöchte, würde man im besten Falle statt zweier Konfessionen drei bekommen. Dazu: Eben diese Kompromißversuche haben das ganze Unternehmen immer wieder aufs schlimmste diskreditiert und gegen die Urheber den unauslöschlichen Verdacht erweckt, daß sie es mit der Wahrheit nicht genau oder nicht ernst nähmen, und daß sie der eigenen Kirche die Treue brächen. Aber wurzelt die Religion nicht in der Gesinnung und ist etwas schlechthin Innerliches? Bedarf die Gesinnung bei ihrem Hervortreten der äußeren Einheit und Uniformität, um Gleichgesinnte zu verbinden? Sind die Kirchen nur Lehrschulen, die ihre Kraft lediglich in der Festigkeit ihrer Schuldogmen haben? Nein, sie sind trotz ihrer starren Hüllen Gemeinschaften eines schlichten Glaubens und brüderlicher Liebe, die aus freier und warmer Seele quillen. Daher gilt das Umgekehrte: Ihre Freiheit und die Mannigfaltigkeit in ihrer Mitte ist zu stärken, und jede fortschreitende Erkenntnis ist in der Richtung auf eine höhere und innere Einheit zu entwickeln. Es gibt eine Gemeinschaft der Geister und der Seelen, der Arbeit und der Ziele, welche jede starre und äußere Einheit als eine Fessel empfinden muß, welche sich gerade der Mannigfaltigkeit erfreut und zur Darstellung ihrer Gemeinschaft nichts bedarf als Freiheit. Nicht Toleranz übt sie gegenüber den Verschiedenheiten in ihrem eigenen Kreise — Toleranz ist hier ein hochmütiges und
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intolerantes "Wort —, sondern Anerkennung übt sie. Auf das Niveau einer solchen Gemeinschaft der Geister und Seelen sind die Kirchen hinaufzuführen, soweit sie es noch nicht erreicht haben, und nur auf diesem höheren Niveau kann von Annäherung und Gemeinschaft die Rede sein. Mehr Innerlichkeit, echte Christlichkeit und Freiheit innerhalb der Kirchen, „et cetera adjicientur vobis!" Mag daneben dann eine jede Kirche tun, was sie für recht und gut hält, und wozu sie ihre geschichtliche Überlieferung anleitet — es wird den Frieden nicht mehr stören! Die katholischen Christen wohnen alle zusammen in einem alten Schloß, an welchem die Jahrhunderte gebaut haben. Trotzige Türme flankieren es; durch Gräben und Mauern ist es geschützt, und in dem Innern birgt es prächtige Hallen und dunkle Verließe, gotische Kapellen, trauliche Gemächer und Zellen für Büßende. Die protestantischen Christen wohnen in zahlreichen leichtgebauten Häusern, die recht verschieden sind, und in denen manches Nötige fehlt. Aber um Schloß und Häuser liegt ein gemeinsamer Garten im hellen Sonnenlicht, und des Tages über arbeiten alle Bewohner in diesem Garten; nur des Nachts kehrt jeder in seine Behausung zurück. Mögen die Tage immer länger und die Nächte immer kürzer werden! Möge die gemeinsame Arbeit in Luft und Licht die Arbeitenden immer enger verbinden! Möge vor allem eine jede Kirche ihren Gläubigen die volle Freiheit zu Betätigung und Schaffen geben und in der Religion nur die Religion gelten lassen. Dann wird die Annäherung und Gemeinschaft im höheren Sinne nicht ausbleiben, und einzig eine solche Gemeinschaft können wir erhoffen und wünschen. So paradox das Wort scheinen mag — die Frage der Annäherung der Kirchen fällt mit der Frage der Verinnerlichung und Freiheit in jeder einzelnen Kirche zusammen. Das interkonfessionelle Problem ist in Wahrheit ein konfessionelles; denn es ist in dem konfessionellen Problem der innern "Vertiefung und Erweiterung bereits schon enthalten.
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Das also ist die Annäherung und Gemeinschaft, welche uns vorschwebt — nicht, daß wir uns auf der konfessionellen Fläche näher kommen, Dogmen und Formeln zusammenschieben oder gar der Hierarchie Konzessionen machen, sondern daß der Christenstand überall wichtiger werde als der Konfessionsstand, daß die gemeinsame Arbeit der Konfessionen im Garten G-ottes sie mehr beschäftigen möge als die Verteidigung und Auszierung des eigenen Hauses, daß die Sorge für die sittliche Tüchtigkeit und den Seelenfrieden aller Volksgenossen ihnen wichtiger werde als jede andere Aufgabe. Diesem Programm darf sich keine Konfession entziehen, und keine kann sich ihm gegenüber hinter ihre partikularen Aufgaben oder Bekenntnisse verschanzen; denn dieses Programm ist ihnen von ihrem Ursprung her eingestiftet, und wenn sie es verleugnen wollten, müßten sie ihren Stifter verleugnen. "Was hat nun zu geschehen, und was kann geschehen, um der Ausführung dieses Programms näherzukommen? Für den Laien — für jeden, der seine Kirche nicht berufsmäßig zu vertreten hat — ist die Antwort nicht schwer: er soll sich vor allem als Christ fühlen; er soll sich schämen, kirchlich zu sein und für seine Kirche einzutreten, während ihm das Christliche etwas innerlich Gleichgültiges ist; er soll den konfessionellen Streit, soviel immer möglich, meiden und sich mit Christen der anderen Konfession zu gemeinnützlichem Wirken zusammentun. Aber damit ist freilich das Wünschenswerte noch nicht erreicht. Wenn die Kirchen nicht selbst und in ihren berufsmäßigen Vertretern weitherziger werden, so sind die weitherzigeren Bestrebungen der Laien stets bedroht und gehemmt. Was ist von den Kirchen selbst zu erwarten, und was kann man ihnen hier zumuten? Indem wir die Antwort auf diese Frage suchen, drängt sich uns eine andere Frage auf: Was ist schon geschehen, um die Kirchen zu nötigen, ihre Haltung wider einander zu revidieren und sich
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näherzukommen? Die Frage mag auf den ersten Blick befremden. Nichts ist geschehen — wird man ausrufen, oder vielmehr, alles ist in dem letzten Jahrhundert geschehen, um sie für immer auseinanderzureißen. Wir können nicht leugnen, daß dem so ist, und dennoch — die Eisscholle, auf der die Kirchen im 19. Jahrhundert dem Abend entgegeneilten, die Eisscholle selbst trieb dem Morgen zu! Ebendieselbe Macht, die die Kirchen zunächst angeleitet hat, sich in ihrer Eigenart zu verfestigen — die Rückkehr zur Geschichte, die vertiefte Kenntnis der Geschichte — ist allmählich der stärkste Hebel geworden, um die Konfessionen aus der Enge und aus den Fesseln, in die sie sich selbst geschlagen haben, zu befreien. Wir konstatieren hier denselben Prozeß, den wir mit Staunen im Grange der geistigen Entwicklung an gewissen Höhepunkten beobachten. Was zur Verfestigung des Eigenwesens angerufen wird, die Kenntnis und Autorität der Geschichte, tut zunächst diesen Dienst wirklich; aber dann hebt sie mit starkem Flügel den, der sie gerufen, über sich selbst hinaus und öffnet ihm neue Bahnen, die er nun gehen muß. Denn in der Erkenntnis der Geschichte liegt schließlich immer ein mächtiges, vorwärtstreibendes Element. Sie bleibt nicht die treue Magd, die das alte Hauswesen besorgt, sondern sie wird zur Herrscherin, die eine neue Ordnung der Dinge gebietet. Nicht anders ist es hier. Was hat uns das Studium der Kirchengeschichte im letzten Jahrhundert gelehrt? Nun, es hat uns gelehrt, daß wir alle, wir mögen wollen oder nicht, andere geworden sind, als unsere Väter waren. Es hat uns gezeigt, daß wir durch einen langen Gang der Entwicklung von ihnen getrennt sind, und daß wir ihre Gedanken und Worte unmittelbar überhaupt nicht mehr verstehen und sie noch weniger in dem Sinne brauchen, in dem jene sie brauchten. Es hat uns noch dazu gelehrt, wie die Dinge entstanden sind, und daß die Feststellungen von Lehren und Ordnungen unter Bedingungen und Vor-
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urteilen erfolgt sind, die wir nicht mehr anzuerkennen vermögen. Durch dies alles nötigt uns die Kenntnis der Geschichte der Kirche, uns nicht bei der Scheidung des 16. Jahrhunderts zu beruhigen, sondern das ganze konfessionelle Problem aufs neue durchzudenken. Bevor ich Ihnen das an einigen Hauptpunkten zeige, muß noch einer besonderen, hier einschlagenden Tatsache gedacht werden. Noch vor einem Menschenalter haben die protestantischen Kirchenhistoriker wenig Anlaß gehabt, sich um die Arbeiten aus dem anderen Lager zu kümmern; aber seit einer Reihe von Jahren sind in steigender Anzahl kirchenhistorische Untersuchungen und Darstellungen von Gelehrten beider Kirchen erschienen, die dort wie hier bei den Sachverständigen eine weitgehende Zustimmung und "Wirkung gefanden haben. Sie beziehen sich nicht auf untergeordnete geschichtliche Probleme, sondern behandeln die Hauptfragen. Jüngst erhielten wir eine umfangreiche Kirchengeschichte der drei ersten Jahrhunderte, von einem katholischen Priester in hoher Stellung verfaßt.1) Sie geht an keinem der wichtigen Probleme vorüber — Entstehung der Kirchenverfassung, Entstehung des römischen Primats, des Neuen Testaments, der christlichen Lehre, der Askese usw. Mit Ausnahme weniger wichtiger Punkte wird kein protestantischer Gelehrter hier Ausstellungen machen können; er wird vielmehr wünschen, selbst das Werk verfaßt zu haben. Ferner, das beste Buch zur Kritik der Heiligenlegenden hat in der G-egenwart ein Mitglied der Gesellschaft Jesu geschrieben.2) Ahnlich steht es in bezug auf andere Perioden der Geschichte. Die neueste Untersuchung über Savonarola, ebenfalls von einem katholischen Priester,8) ist an Sachkunde und unparteiischem Urteil nicht zu überDuchesne, ) Del eh aye, s ) Schnitzer, narolas, I. II, 1902. 2
Histoire ancienne de l'6glise, Τ. I, 1906. S. J., Los legendes hagiographiques, 1905. Quellen und Forschungen zur Geschichte S&vo1904.
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treffen. Aber auch zur deutschen Reformationsgeschichte besitzen wir neuere Untersuchungen aus katholischer Feder, die sich der Zustimmung der protestantischen G-elehrten in weitem Maße erfreuen; ja die jüngsten Ausschreitungen konfessioneller Geschichtsbetrachtung sind von Gelehrten derselben Konfession in ihrer Haltlosigkeit aufgedeckt und widerlegt worden.1) Gewiß — es hat noch viel zu geschehen auf beiden Seiten; aber überall befinden wir uns trotz dem schrillen Mißton, der sich jüngst in das Konzert gemischt hat, in bezug auf die Geschichtsbetrachtung in einer Entwicklung, die harmonischer und einheitlicher wird, und die Zahl tüchtiger katholischer Kirchengeschichtsforscher ist bedeutend.2) Wenn heute der Protestant Flacius und der Kardinal Baronius, die Begründer der konfessionellen Geschichtsschreibung, herniedersteigen würden, sie würden erstaunen, was aus ihrer kii-chengeschichtlichen Betrachtung geworden ist. Und wenn sie gar sehen müßten, daß protestantische und katholische Kirchenhistoriker sich friedlich die Hand reichen, um große wissenschaftliche Aufgaben gemeinsam zu erledigen, so würden sie zornig ausrufen, daß hier Christus und Belial zusammengespannt seien. Aber auch abgesehen von der kirchenhistorischen "Wissenschaft — welche Fülle von freiheitlichen Erscheinungen und welcher Fortschritt in der tieferen Erfassung der christlichen Religion begegnet uns auf dem Bodeu der katholischen Kirche in Deutschland und Amerika, in Italien und Frankreich! Die Auffassung und Beurteilung der Geschichte x
) D e n i f l e s Charakteristik Luthers und andere gleichartige Angriffe auf den Reformator sind von deutschen katholischen Theologen zurückgewiesen bzw. widerlegt oder doch ermäßigt worden, vergl. vor allem Merkle in der „Deutschen Literaturzeitung" 1904, No. 20. Die Arbeiten katholischer deutscher Kirchenhistoriker sind besonders wertvoll; denn mit der Kenntnis der Methoden und der Gesichtspunkte deutscher Wissenschaft verbinden sie ein inneres Verständnis des fortwirkenden mittelalterlichen Katholizismus, welches der protestantische Kirchenhistoriker nur schwer zu erreichen vermag.
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als Entwicklungsgeschichte bahnt sich auch hier an, und die Religion wird in ihrem Kerne erfaßt!1) An einem der wichtigsten Punkte freilich ist eine Annäherung, sei es auch durch Umbildung, ganz unmöglich, nämlich in bezug auf die katholische Lehre von der Gewalt der Kirche und des Papstes. Allerdings haben Melanchthon u. a. einst eingeräumt, man könne den Papst an*) Die Bewegungen in Amerika (England), Frankreich, Italien und Deutschland sind verschieden — sie sind ζ. T. in einem und demselben Land sehr verschieden —, aber sie haben doch vieles gemeinsam. Es handelt sich um das Recht der geschichtlichen Kritik, um die Zulassung der modernen Geschichtsbetrachtung, um das Wesen der Autorität, um die Selbständigkeit der Religion der Laien, um die Zurückdrängung der Religion zweiter Ordnung und des Aberglaubens, um die soziale Frage im Zusammenhang mit der Religion, um das Recht nationaler Ausprägungen innerhalb der Kirche und um manches andere — überall aber um Yerinnerlichung, Vertiefung und zugleich um die Überführung der Kirche aus dem mittelalterlichen Zustand in einen der Gegenwart angepaßten. Über die französische und italienische Bewegung ( L o i s y , H o u t i n , L a b e r t h o n n i e r e , d e r E r z b i s c h o f v o n A l b i u. a. — F o g a z z a r o , S e m e r i a , M u r r i u. a.) vergl. P a u l S a b a t i e r , La crise religieuse en France et en Italie („The Hibbert Journal" 1907, Januar). Diese Bewegung ist fast durchweg scharf antiprotestantisch, und nicht nur aus taktischen Gründen. Der Protestantismus, auch der liberale, wird des Buchstabendienstes, des Scholastizismus und eines kümmerlichen Historizismus beschuldigt. Allein diese Anklagen können darüber nicht täuschen, daß die protestantische Kritik die Lehrmeisterin gewesen ist, und daß sich beide Parteien sehr viel näher stehen, als diese katholischen Reformer einräumen. Die Zeit wird das lehren; sie wird auch entscheiden, ob die kirchliche Autorität, wie sie sie bestehen lassen wollen, in Wahrheit doch nur die alte Autorität ist oder überhaupt keine Autorität. Yon dem mittleren Ding, welches sie zu konstruieren versuchen, kann man sich keine Vorstellung machen. Was die Bedeutung aller dieser reformkatholischen Erscheinungen betrifft, so kann man sie als einzelne sämtlich zurzeit f ü r erfolglos halten. Aber die Tatsache, daß sie immer wieder und unausgesetzt aus den Tiefen des Katholizismus aufsteigen, gehört zum W e s e n des heutigen Katholizismus und ist von großer Bedeutung.
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erkennen, wenn er auf das jus divinum verzichte; aber kein Protestant wird sich heute mehr zu solcher Konzession bereit finden. "Was wir in den vier Jahrhunderten seit der Reformation bis zur Erklärung der Unfehlbarkeit des Papstes erlebt haben, das ist genug und übergenug, um jede Vermittlung zu verbannen. Und selbst wenn man uns erklärt, daß die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat der G-eschichte angehören und nie wieder aufleben werden, bleiben wir unerschütterlich; denn wir sehen, wie vieles von diesen Theorien doch noch in Kraft erhalten wird, und wir sind darüber hinaus der Uberzeugung, daß auch in geistlichen Dingen die absolute Autorität der Kirche mit der Freiheit der Religion und mit der Stufe, auf der wir stehen, unverträglich ist. Wir müssen also ruhig abwarten, wie sich im Katholizismus selbst die weitere Entwicklung abspielen wird. Versuche zur Erweichung und Umdeutungen fehlen auch an diesem Hauptpunkte in dem germanischen und romanischen Katholizismus nicht, ja sie zielen sogar auf eine wirkliche Umbildung des Begriffs Autorität. Daß sie aber irgendwelchen Erfolg haben werden, ist zurzeit nicht abzusehen. Indessen darf man nicht vergessen: Hinter jeder absoluten Autorität steht sozusagen eine „Autorite anonyme", von der sie selbst abhängig ist: die Großmacht des Herkommens und die konservative Stimmung der herrschenden Klasse und — der Masse. Ändert sich diese Stimmung, so kann sich zuletzt auch die absolute Autorität einer Umbildung nicht entziehen. Doch das liegt in weiter Ferne. Es ist nun der häufigste Einwand, den man hier hört, im Katholizismus umschlösse die Macht der Kirche in solchem Maße die Religion, daß diese von ihr tatsächlich niemals, ja auch nicht einmal begrifflich getrennt werden könne. Damit wäre freilich jede Aussicht auf eine höhere Verständigung zwischen den Konfessionen von vornherein vernichtet. Aber ich vermag dieses Urteil nicht für richtig
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zu halten. Erstlich, so gewiß die absolute Autorität stets plötzlich hervortreten und ein ganzes Gebäude von Freiheit und Hoffnung mit einem Schlage niederwerfen kann, so gewiß gehört es gerade zur Natur jedes Absolutismus, daß er in der Regel eine weite Latitude läßt und in der großen Distanz dem Einzelnen oft gar nicht merklich wird. Unter den zum Teil undurchführbaren Gesetzen eines weltumspannenden Absolutismus ist der Spielraum der individuellen Freiheit oft größer als unter der konsistorialen Kontrolle. Sodann: Auch der schärfste Druck vermag die wirkliche Religion nicht zu zermalmen. Türmt Berge über sie und häuft allen Schutt der Geschichte auf sie, sie wird noch immer atmen und sich Raum schaffen zu freier Anschauung und Betätigung! Das heißt aber, sie wird auch die Erkenntnis ihres "Wesens und ihrer Geschichte, sowie ihre Bewährung im Leben zuletzt doch nach ihren Grundsätzen bestimmen. Das aber sind die Gebiete, auf denen die Konfessionen in der Gegenwart sich genähert haben und noch weiter nähern werden. Lassen Sie mich Ihnen das an einigen Hauptpunkten zeigen. Absichtlich habe ich die Beispiele bunt gewählt, aber ich beginne mit dem Wichtigsten. R e c h t f e r t i g u n g allein aus dem Glauben oder a u s G l a u b e u n d W e r k e n — hier scheinen wir im Mittelpunkt des Gegensatzes zu stehen, bei welchem jeder Ausgleich unmöglich, ist. Nein, gerade von dieser Lehre und den ihr zugeordneten gilt, daß sie in ihren spitzen Formulierungen unsrer Gefühls- und Erkenntnisweise überhaupt fremd geworden sind, und nur aus den besonderen Verhältnissen einer bestimmten Zeit verständlich gemacht werden können. Es sind Kampfesformeln, in denen sich der Lehrbegriff des 16. Jahrhunderts in beiden Kirchen ausgeprägt hat. I m einzelnen kann das hier nicht nachgewiesen werden; aber wir dürfen ruhig behaupten: Kein evangelischer Christ würde heute, wenn es eine konfessionelle Kontroverse nicht gäbe, den Satz beanstanden, daß
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nur der Grlau.be einen "Wert hat, der sich in der Liebe zu G-ott und den Brüdern bewährt. Auf die spinöse weitere Frage, ob dabei der GTlaube den "Wert hat oder die Liebe, würde er überhaupt nicht geführt werden; denn der G-laube, um den es sich hier handelt, ist von der Liebe schlechterdings nicht zu trennen. Umgekehrt folgt der katholische Christ nur einer hundertmal wiederholten Anweisung seiner eigenen Kirche, wenn er jedes Verdienst ablehnt, das nicht in der Gnade Gottes und im Glauben wurzelt. "Wo liegt also die Kontroverse? Soviel ich sehe, lediglich darin, daß der Katholizismus einer laxen Praxis in seiner Mitte Raum gab und sich dazu noch bemühte, diese auch theoretisch, so gut es ging, zu rechtfertigen. Selbst für diese laxe Praxis besaß er — freilich nicht zureichende — Entschuldigungsgründe und besitzt sie noch. Aus Erwägungen der Erziehung meint er bei unreifen Menschen nicht die höchsten Maßstäbe anlegen und die letzten Forderungen stellen zu dürfen, weil sie bei ihnen versagen; man müsse sich daher hier mit dem Erreichbaren begnügen. Solange die pädagogische Absicht deutlich und die theoretische Rechtfertigung bescheiden war, wurde das ertragen. Als aber hinter der pädagogischen Absicht immer unverkennbarer der "Wille zur Macht und Herrschaft, ja sogar finanzielle Motive sich zeigten, und dazu die theoretische Rechtfertigung immer dreister wurde, da brach der Gegensatz als furor teutonicus et christianus hervor und sprach das Richtige in schärfster Form aus. Eine Annäherung durch Rückkehr zum Einfachen ist an diesem Punkte heute nicht unmöglich, sobald man sich über die wirkliche Natur des Gegensatzes klar geworden ist. Der Protestantismus, wo er nicht zu kämpfen hat, hat die harte Formel längst erweicht, und auch er vermag nicht auf allen Stufen der Erziehung von ihr Gebrauch zu machen. Umgekehrt hat auch heute noch eine Theorie und Praxis im Katholizismus Bürgerrecht, die der evangelischen nahe steht. Es bedarf
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nur ihrer Stärkung und der Zurückdrängung der laxeren G-rundsätze.1) Schrift und Tradition — wie erbittert ist um die Autorität dieser beiden Größen im 16. Jahrhundert und auch später gekämpft worden, in wie scharfen Formeln hat man die Lehre hier niedergelegt! Jetzt aber und eigentlich schon seit Lessing haben protestantische Gelehrte eingesehen, daß die Schrift nicht von der Tradition getrennt werden kann, und daß die Sammlung und Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften selbst ein Teil der Tradition ist. Aber umgekehrt haben auch katholische Geistliche eingesehen, daß keine Tradition kritiklos hingenommen werden darf, und daß das Neue Testament in bezug auf die wichtigsten Fragen des Urchristentums die einzige zuverlässige Quelle ist. Der ganze Streit hat also nicht nur seine Schärfe, sondern wesentlich auch seinen Sinn verloren, sobald man die Schrift selbst als Tradition versteht und nirgendwo eine ungeprüfte Tradition zuläßt.2) K a t h o l i s c h e r und e v a n g e l i s c h e r Gottesdienst, das Opfer, die Messe — wie unversöhnlich standen sich J
) Es braucht nicht ausdrücklich gesagt zu werden, daß auch hier — und hier besonders — die Autorität des Kircheninstituts, der man sich zu unterwerfen hat, wegfallen muß. Die protestantische Formel: „Rechtfertigung allein aus dem Glauben" hat eine doppelte polemische Spitze. Sie richtet sich gegen die „Verdienste" und gegen einen Glauben, der nicht die Natur eigener Glaubensüberzeugung hat, also in Wahrheit kein Glaube ist. Der Entschluß, sich in einen fremden Glauben — lediglich in Gehorsam — hineinzuversetzen, gilt also als Unglaube. Auch in diesem Sinn ist die Formel: „allein aus dem Glauben" vom Protestantismus gebildet worden und kann nicht leicht durch eine andere ersetzt werden. 2 ) Die heute protestantische These, daß die Heilige Schrift nicht das Wort Gottes sei, sondern es enthalte, sowie die andere These, daß der Inhalt der Bibel als G e s c h i c h t e verstanden werden müsse, sprengen das altprotestantische Schriftprinzip. Aber auch dort ist dieses als unzureichend erkannt, wo man eingesehen hat, daß keine Kirche die Reihe lebendiger Zeugen, durch die sie mit der aposto-
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hier die Parteien gegenüber! Aber in einer Abhandlung unter dem schlichten Titel: „Mensa und Confessio" hat jüngst ein katholischer Gelehrter1) über den ursprünglichen christlichen Opferbegriff, sowie über Altar und Messe in einer "Weise gehandelt, an der kein protestantischer Kirchenhistoriker etwas zu tadeln finden wird, und schon vorher hat ebenfalls ein katholischer Theologe das beste Buch über die Geschichte des altchristlichen Gottesdienstes geschrieben.2) Das allmähliche "Werden, fremde Einflüsse — wenn auch noch in bescheidenem Umfange — und gewaltige Umbildungen der gottesdienstlichen Ordnungen werden nachgewiesen. Bei solchem Nachweise vermag sich der spröde, eindeutige Traditionsbegriff und die Vorstellung einer supranaturalen, einfür allemal gegebenen ursprünglichen Festsetzung nicht mehr zu halten. Sobald aber diese erweicht und der Gedanke der Entwicklung und Beeinflussung an die Stelle getreten ist, hat der Protestantismus allen Grund, sich zu fragen, ob die Form des Gottesdienstes, die er im 16. Jahrhundert im Gegensatz zum Katholizismus feststellen mußte, in jeder Hinsicht zureichend und befriedigend ist. Steckt nicht in der katholischen Messe ein Moment und eine Ausgestaltung der Anbetung, wie sie der evangelische Gottesdienst nicht leicht erreicht? Ist nicht der Opferbegriff bei seiner Reinigung im Protestantismus zu stark zurückgedrängt worden? Ist endlich nicht die Herbeiziehung des ästhetischen Elements, der Kunst, im Gottesdienst in größerem Umfang wünschenswert? Selbst wenn die puritanische Form des Kultus die der Mehrzahl der ernsten Christen allein erwünschte sein sollte — könnte nicht, da die religiösen Anlischen Zeit verbunden ist, in ihrer Apologetik missen kann. Umgekehrt bemühen sich ernste katholische Christen, die Heteronomie der autoritativen Tradition zu beseitigen und die Tradition als Geist und Leben zu fassen. *) W i e l a n d , Mensa und Confessio, 1906. D u c h e s n e , Origines du culte chr6tien (1. Aufl.), 1889.
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lagen und Bedürfnisse der Menschen so verschieden sind, die eine Form friedlich neben der anderen stehen? Und hat nicht, um einen noch wichtigeren Punkt zu nennen, bereits die evangelische Union solche Christen an demselben Tische vereint, die über das Sakrament symbolisch denken, und solche, die es realistisch auffassen? Petrus in R o m und die A n f ä n g e des römischen Primats — Flacius und die alten Protestanten leugneten überhaupt die Anwesenheit des Petrus in Rom und schoben die Anfänge des römischen Primats weit herunter. Jetzt wissen wir, daß jene Anwesenheit eine gut bezeugte Tatsache ist, und daß die Anfänge des römischen Primats in der Kirche bis ins zweite Jahrhundert hinaufgehen. Umgekehrt haben katholische Gelehrte anerkannt, daß ein fünfundzwanzigjähriger Aufenthalt· des Petrus in Rom nicht zu beweisen ist, und daß der Primat Roms in der ältesten Zeit ein wesentlich anderer war und unter anderen Bedingungen stand als der spätere des römischen Papstes. Aber auch in der Frage nach dem Ursprung des monarchischen Episkopats ist man sich näher gekommen. Protestantische Gelehrte haben ihre Vorstellungen vom Ursprung der Kirchenverfassung revidiert, und katholische Gelehrte haben zugestanden, daß man zunächst von einem kollegialen Episkopate in jeder Gemeinde ausgehen müsse. Die Frage dreht sich nur mehr darum, ob von Anfang an ein Präsident in diesem Kollegium vorhanden war, wobei anerkannt wird, daß die neben ihm stehenden anderen Bischöfe nicht einfach die Rolle der heutigen Kanoniker gespielt haben. Der geschlossene Gedanke der apostolischen Einsetzung des monarchischen Episkopats, dessen Transformation doch unbefangen eingeräumt wird, muß sich selbst die Transformation in die bescheidenere Vorstellung providentieller Geschichtsleitung gefallen lassen. Askese und Mönchtum — wie hat diese Frage in der Reformationszeit die Gemüter gespalten! Wie ist das
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christliche Lebensideal zu bestimmen? Wer übt die christliche Vollkommenheit? Der Christ, der in seinem bürgerlichen Beruf und Stand Glaube und Liebe bewährt, oder der Mönch? Ein Ausgleich scheint hier hoffnungslos. Aber so oft in den letzten Jahren von protestantischer Seite in Deutschland behauptet worden ist, im katholischen Sinne sei das Mönchtum das höchste Ideal, und der vollkommene Christ sei der Mönch, so oft erfolgte ein dezidierter, starker Widerspruch.1) Zu solchem Widerspruch ist der Katholizismus nicht ganz unberechtigt; denn es finden sich in seinen Kundgebungen zwei verschiedene Auffassungen nebeneinander. Nach der einen ist das Mönchtum der jedem anderen Stande übergeordnete Stand der Vollkommenheit, das überirdische, engelgleiche Leben; nach der anderen ist die Vollkommenheit so ausschließlich in Glaube, Liebe und Hoffnung gegeben, daß daneben alles übrige gleichgültig ist, daß es also auch gleichgültig ist, ob einer dabei mitten im weltlichen Leben oder außerhalb desselben steht; im letzteren Fall kann er jene Tugenden nur leichter und sicherer üben. Keinem Katholiken kann man deshalb rund widersprechen, wenn er diese Anschauung als die seiner Kirche geltend macht; daß dies heute aber so energisch geschieht, ja von der anderen Anschauung behauptet wird, sie sei gar nicht echt katholisch, ist höchst beachtenswert; denn es stellt sich darin eine bedeutende Annäherung an die protestantische Auffassung dar. Aber auch diese hat ihrerseits in der Gegenwart mehr Verständnis für die ideale Seite des Mönchtums gewonnen, als ihr das in der Reformationszeit möglich war. Sie muß anerkennen, daß in den „Evangelischen Räten" doch eine bedeutende sittliche Wahrheit steckt — wie man gesagt hat: die Ethik des Zieles und des Sieges gegenüber der Ethik des sittlichen Kampfes —, *) Besonders D e n i f l e hat in schärfster Weise den Satz bekämpft, das Mönchtum sei das katholische Ideal der Vollkommenheit.
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und daß ein Berufsstand solcher in der Kirche wünschenswert ist, die um des Dienstes am Nächsten willen auf die erlaubten Güter verzichten. In diesem Sinne haben die evangelischen Kirchen im 19. Jahrhundert Diakonissenhäuser und ähnliche Einrichtungen gegründet, und umgekehrt hat der Katholizismus sich neue und freiere Organisationen der berufsmäßigen Liebestätigkeit geschaffen, in denen man das alte Mönchtum kaum mehr wiedererkennt. Es ist möglich, noch an manchen anderen Punkten die Annäherung der beiden Konfessionen in der Praxis der Religion und der Religionslehre aufzuweisen; doch müssen die angeführten genügen. Sie alle haben eine gemeinsame "Wurzel: die bessere, weil einfachere Erkenntnis der Sache und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Zugleich weisen sie aus der Enge des Konfessionalismus hinaus auf ein höheres Niveau, auf dem der alte Streit seine Schärfe verlieren muß. Hätten wir es dort und hier nur mit der Religion zu tun, und stünde nicht das Kirchentum dazwischen, wir wollten schon zu einer Verständigung kommen! Das hat die Geschichte herbeigeführt, nicht durch große Aktionen und Kämpfe, sondern in ihrem stillen Gang, fast wie die Natur, durch sanfte, aber unwiderstehliche Gewalt. Das hat die Geschichte getan — was haben wir zu tun? Nun zunächst: diesen Gang walten zu lassen, ihn nicht zu hemmen und nicht in das Rad der Entwicklung einzugreifen. Aber das genügt noch nicht. Gestatten Sie mir, daß ich zum Schlüsse in einigen „Pia desideria" das zusammenfasse, was uns zu tun Pflicht ist. Erstlich und vor allem die politische Religion und die Verquickung von Konfession und Politik zu bekämpfen. Solange die Konfession ein leitendes Schlagwort ist im politischen Kampf der Parteien, kann es keinen wirklichen Frieden geben. Der Protestantismus weiß das und handelt danach; die große Mehrzahl unserer katholischen Mitbürger muß es noch lernen. Sie muß lernen, daß jene unheilvolle
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Verbindung die Religion und das Vaterland zugleich bedroht; aber sie bedroht schließlich die Konfession selbst; denn auch die mächtigste Konfession kann sich, wenn sie zur politischen Partei wird, zuletzt an der Politik verbluten. Die Geschichte lehrt das! Zweitens aber gilt es, überall die strengste Gerechtigkeit zu üben, jedem das Seine zu gewähren und nicht von außen in das innere Leben der Kirchen einzugreifen. Sodann sind alle unnötigen Streitigkeiten zu vermeiden, und die falsche Kampfesweise ist abzutun. Die falsche Kampfesweise besteht darin, die gute Theorie der eigenen Kirche mit der schlechten Praxis der anderen zu vergleichen; man vergleiche vielmehr Theorie mit Theorie und Praxis mit Praxis. Unnötig aber sind die Streitigkeiten, in denen sich die Kirchen wechselseitig alles das heute noch vorwerfen, was sie in der Vergangenheit gesündigt haben. Die protestantischen Kirchen haben dazu allerdings ein gewisses Recht gegenüber der katholischen; denn diese hat noch nie etwas zurückgenommen und nimmt nichts zurück. Aber dennoch ist es nicht wohlgetan, ihr alles Frühere aufzurücken, da sie doch bei uns manches stillschweigend beseitigt oder umgebildet hat und da das Präsentieren alter Rechnungen keinen Gewinn bringt. Weiter aber mögen sich die Gelehrten beider Kirchen noch ernsthafter bemühen, die Religion in der anderen Kirche besser zu verstehen; denn in jedem Verständnis liegt ein Moment des Friedens. Es schweben aber auf beiden Seiten noch Mißverständnisse und Vorurteile. Es wäre daher mit Freude zu begrüßen, wenn katholische Theologen Vorlesungen evangelischer Theologen hören würden und umgekehrt; es geschieht bereits, aber viel zu selten. Ebenso wünschenswert ist es, daß auf gemeinsamen Kongressen in Deutschland Theologen beider Konfessionen sich träfen und sich zunächst über geschichtliche Fragen verständigten; ein großes Feld, auf dem gemeinsam gearbeitet werden kann, liegt hier vor, und jede geschichtliche Er-
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kenntnis dringt schließlich in die Kirchen selbst ein. Endlich aber und vor allem ist zu wünschen, daß beide Kirchen der freiheitlichen und zu einer höheren Einheit strebenden Entwicklung in ihrer eigenen Mitte Raum geben; denn auf dieser Entwicklung allein, und nicht auf dem Beharren bei dem Hergebrachten, beruhen die Hoffnungen für die Zukunft. Die evangelische Kirche steht bereits auf dieser Linie; aber sie muß noch mutiger werden und statt mühsamer Abzüge und Verschleierungen offen erklären, daß das alte Bekenntnis kein Gesetz für sie ist, das sie ertragen muß, sondern ein Gut, das sie in Freiheit benutzt.1) Aber auch die katholische Kirche in unserer Mitte vermag hier Vieles und Großes zu tun, ohne ihr Gefüge zu sprengen. "Wir sehen sie den Kampf aufnehmen gegen die laxe Praxis, gegen die Religion zweiter Ordnung und gegen den Aberglauben; wir dürfen wünschen, daß er energischer geführt werde, und daß der besondere Typus des germanischen Katholizismus innerhalb der katholischen Völkerfamilie zu seinem Rechte komme. Das liegt auch heute noch nicht außer dem Bereich des Möglichen, obgleich die hierarchische Gewalt mit allen ihren Interessen an den gegenwärtigen Zustand der Dinge gebunden zu sein scheint. "Wenn einmal alle diese Wünsche in unserem Vaterlande verwirklicht sein werden, so wird zwar eine äußere Einheit nicht hergestellt, wohl aber eine höhere Stufe erreicht und eine innere Gemeinschaft gegeben sein, in der die christliche Religion wieder als das Band der Einheit *) Die umgekehrte Anweisung, jede Kirche solle sich streng auf ihr altes Bekenntnis und ihre Vergangenheit stützen, und dann sollen beide Kirchen das, was ihnen gemeinsam ist, gemeinsam gegen Andelsgläubige verteidigen, beruht auf einer Illusion; denn die alten Bekenntnisse der Kirchen sind Fanfaren zum Kampfe und müssen sich schließlich stets in diesem Sinne geltend machen. Wer den Frieden will, muß auf eine freie Entwicklung bedacht sein, die einer höheren Einheit zustrebt.
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empfunden werden wird. Niemand darf erwarten, daß die deutschen Katholiken je Lutheraner werden; aber zu hoffen ist, daß sie das Beste aus der Entwicklung, die mit der Reformation begonnen hat, sich aneignen und in ihrer "Weise ausgestalten werden. Umgekehrt: Niemand darf erwarten, daß die deutschen Protestanten je wieder katholisch werden — wie könnten sie den Kampf gegen priesterliche Herrschaft je vergessen! — aber zu hoffen ist, daß sie ihre weltgeschichtliche Aufgabe in und neben diesem Kampfe immer mehr im Sinne der Freiheit und Brüderlichkeit verstehen lernen. Die Kirchen werden nicht verschwinden; denn die Religion wird nie ohne Kirchen sein; aber ihre Zukunft beruht darauf, daß sie selbst immer mehr Gemeinschaften der Gesinnung und brüderlichen Hilfeleistung werden, und daß ihre Mitglieder die Einheit im Geiste pflegen, damit die Religion rein und das Vaterland stark und friedevoll werde. Diese Gedanken über den Protestantismus und Katholizismus in Deutschland seien Ihrem ernstlichen Nachdenken empfohlen. Sie fügen sich zu der Bedeutung des heutigen Festtages, der alle Deutschen eint. "Wenn sie zum Teil noch unerreichbar erscheinen, so darf das unsere Gesinnung und unsere Tatkraft nicht lahmen. Aller Aufschwung und Fortschritt steht unter dem Zeichen eines Ziels, zu dem man den Weg erst finden muß. Ihm aber, unserem Kaiser und Herrn, der mit Mut und Kraft in die Zukunft schaut und jeden wahrhaften Fortschritt zu fördern bestrebt ist, gilt heute unser ehrfurchtsvoller Gruß. "Wir wünschen ihm ein gesegnetes und reiches Jahr. "Wir geloben ihm aufs neue die Treue und fassen unsere "Wünsche in den Ruf zusammen: Gott schütze und erhalte den Kaiser!
DIE PÄPSTLICHE ENZYKLIKA VON 1907 NEBST ZWEI NACHWORTEN
Der Aufsatz erschien als Schlußwort zu einer Enquete über die päpstliche Enzyklika in der „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik", 29. Februar 1908. Das erste Nachwort erschien in der „Frankfurter Zeitung", 7. März 1908, das zweite in den „Preußischen Jahrbüchern", Band 134 (1908) Heft 3.
Zur päpstlichen Enzyklika haben sich in dieser Wochenschrift zehn Gelehrte (vier protestantische, vier katholische Theologen und zwei Philosophen) geäußert und sie nach allen Seiten erörtert. Die Trage, welche in der grundlegenden Besprechung Paulsens (No. 36, Jahrgang 1907) die Hauptfrage bildet: „"Was wird aus den katholisch-theologischen Fakultäten in Deutschland?", ist dabei für uns zunächst die wichtigste, ja im G-runde die allein wichtige Frage; denn alles übrige sind innerkirchliche Probleme, die für Deutschland zurzeit nur in der Zuspitzung auf das Geschick jener Fakultäten ein öffentliches Interesse besitzen. Die Befürchtungen, die P a u l s e n (a. a. Ο. Sp. 1135) ausgesprochen hat, haben sich bereits zu erfüllen begonnen. Er schrieb: „Es kann jeden Augenblick für jeden katholischen Theologen der kritische Moment kommen, wo er genötigt wird, entweder sich der Zensur zu unterwerfen und damit sein Ansehen als Gelehrter zu kompromittieren, oder sich außerhalb der Kirche gestellt zu sehen." Andererseits aber hat sich auch die Hoffnung verwirklicht, die Mehrzahl der preußischen Bischöfe werde dafür sorgen, das Schlimmste abzuwehren und die katholischen Fakultäten zu schützen, so gut sie es vermögen. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß sie diese Fakultäteil als ein hohes Gut an sich und als ein besonders wichtiges Band zwischen Staat und Kirche schätzen, und daß sie sie in ihrem gegenwärtigen Zustande erhalten wollen. In ihrem gegenwärtigen Zustande, d. h. in der Bewegungsfreiheit, die ihre Gelehrten bisher gehabt haben —
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aber einen anderen Zustand für sie gibt es überhaupt nicht! Auch, das hat P a u l s e n in ernsten und eindringlichen "Worten zum Ausdruck gebracht. So wie die katholischen Fakultäten heute sind, in ihrer doppelten Abhängigkeit von der Kirche und von dem Staat, sind sie das Produkt eines Kompromisses, bei welchem der Staat das Äußerste konzediert hat, was er konzedieren kann, und bei welchem die Universitäten das Äußerste ertragen, was ihnen als wissenschaftlichen Körperschaften auferlegt werden darf. Jenseits dieser Grenze hat der Staat an diesen Fakultäten kein Interesse mehr, und den Universitäten darf nicht zugemutet werden, daß sie diese zu Fremdkörpern gewordenen Institute weiter dulden. Würde, was nicht zu erwarten steht, der Staat den Universitäten dennoch zumuten, die zu Seminaren gewordenen Fakultäten weiter noch in ihrer Mitte zu ertragen, so besäßen die Universitäten selbst Mittel genug, um vor aller Welt zu deklarieren, daß jene Fakultäten für sie nicht mehr existieren, und daß ihre Mitglieder nur noch den Namen einer Würde tragen, die sie verloren haben. Es gibt Stimmen unter uns — sie sind in den Aufsätzen in dieser Wochenschrift nicht zum Ausdruck gekommen —, welche behaupten, die Grenze sei schon überschritten und die katholischen Fakultäten seien aus dem Verbände der Universitäten zu entfernen. Es sind dieselben Stimmen, die sich vor einigen Jahren gegen die Gründung der Straßburger katholisch-theologischen Fakultät erhoben haben. Ich kann mich ihnen auch jetzt nicht anschließen. Wo so viele rechtschaffene Arbeit geleistet wird wie zurzeit in den katholischen Fakultäten — ich habe dies in meiner Rede über „Protestantismus und Katholizismus" gezeigt —, da sind wir nicht berechtigt, den Arbeitern die Tore der Universität zu verschließen. Ich bin nicht unempfindlich gegen die Tatsache, daß die Professoren der katholischen Theologie in besonderem Maße gebunden sind, die bescheidene Forderung „Freiheit im Dogma" sagt in
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dieser Hinsicht übergenug; aber andrerseits darf man doch, nicht verkennen, daß die Wissenschaft nur gegen Gesinnungslosigkeit, Lüge und Heuchelei eine Polizei besitzt, nicht aber gegen Überzeugungen und Voraussetzungen. Dem Heuchler und Plagiator reißt sie die Maske ab und wirft ihn aus dem Tempel, aber auch die sonderbarsten Voraussetzungen muß sie passieren lassen, wenn sie ihr als U b e r z e u g u n g e n entgegentreten, und wenn die, welche sie hegen, sie mit wissenschaftlichen Mitteln darzutun streben. Weit verbreitet ist im Protestantismus freilich der Argwohn, solche Voraussetzungen, wie sie von katholischen Theologen gehegt würden, könnten gar nicht wirkliche Überzeugungen sein, sondern entstünden nur aus blinder Unterwerfung und verdienten daher keine Schonung. Aber eben dies ist ein ganz u n g e r e c h t f e r t i g t e s Vorurteil. Ich kenne Gelehrte von außerordentlichem Wissen und ungewöhnlichem Scharfsinn, die zahllosen katholischen Einrichtungen kritisch gegenüberstehen, die die gegenwärtigen Zustände der Kirche aufs tiefste beklagen, und die doch felsenfest davon überzeugt sind, daß nur die römisch-katholische Kirche die Kirche Christi und ihr Papst sein Statthalter ist. Eben diese Theologen würden im gegebenen Fall nach links und rechts gleichzeitig jedes Opfer bringen, welches die Eigenart ihrer Überzeugung ihnen auferlegt. Sie würden die Strafen auf sich nehmen, die die Kirche über ihre Irrtümer verhängt, aber ihre Erkenntnisse nicht aufgeben, und sie würden andrerseits, wenn es sich um Sein oder Nichtsein ihrer Kirche handelt, für sie durchs Feuer gehen und selbst das Schwerste ertragen, den Hohn ihrer wissenschaftlichen Freunde! Wer das nicht zu begreifen vermag, der suche die Schuld in sich selber; denn er hat nicht ermessen, was es bedeutet, einem Organismus anzugehören, der der Organismus des Sittlichen und Guten sein will, der es auch für Ungezählte noch immer ist, die Menschheit umspannt und beinahe so alt ist wie unsere Zeitrechnung! Die Vorurteile,
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die aus dem Bewußtsein dieser Zugehörigkeit entspringen — es sind Vorurteile, denn es gibt kein Regnum externum des Guten und hat es nie gegeben — verdienen doch wahrlich soviel Schonung und Geduld, wie die Yelleitäten, Idiosynkrasien und blinden Dogmen, die wir sonst ertragen und im Kampf der G-eister widerlegen müssen! Also gehören die katholisch-theologischen Fakultäten unter der Voraussetzung, daß ihre Professoren es ehrlich meinen, an die Universitäten, auch wenn sie über Kirche und Papst so denken, wie das Vatikanum verlangt. Ist doch von der Geschichtsphilosophie, wie sie die Hegeische Rechte lehrte, nur noch ein Schritt nötig, um zu einer katholischen Geschichtsphilosophie zu gelangen, die den ganzen Entwicklungsgang der katholischen Kirche und Kirchenlehre rechtfertigt. "Wenn die Fragen, inwiefern sich die Wissenschaft von den letzten Dingen aus dem tatsächlichen Gang der Geschichte belehren lassen muß, und ob die großen Hervorbringungen der Geschichte „vernünftig" sind, unzweifelhaft auf die Universitäten gehören, so wird man dort atich diejenigen hören müssen, welche wie Newman, Möhler oder L o i s y denken. Loisys Eaitik am Dogma bedeutet viel, aber seine unerschütterte Hochschätzung der Kirche bedeutet noch viel mehr. Tatsächlich haben auch die, welche die katholisch-theologischen Fakultäten von den Universitäten entfernt sehen wollen, die gegenwärtige Krisis bisher nicht benutzt, um diesen Ruf aufs neue zu erheben. Man darf darin einen Fortschritt nationaler Besonnenheit und weiser Geduld sehen. Noch viel weniger hat man nach dem „Kulturkampfe" gerufen, im Gegenteil sich bestimmt gegen ihn verwahrt. Man darf schon jetzt sagen, daß in Preußen alle Beteiligten, der Staat, die Bischöfe, die Professoren, in einem stillschweigenden Einverständnis stehen, zwar ihre Grenzen nicht überschreiten, aber es auch zu keinem „Kulturkampf" kommen zu lassen. Wie die Dinge in Bayern gehen werden, weiß
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man zurzeit noch nicht. Aber auch dort wird man hoffentlich auf beiden Seiten einsehen, welche Verantwortung man trägt; denn was in dem einen Land geschieht, kann schwerlich ohne Folgen für das benachbarte bleiben. Was aber den Inhalt der Enzyklika betrifft, die die Krisis hervorgerufen hat, so kann ich die scharfe Kritik, der sie in dieser Wochenschrift unterzogen worden ist, fast durchweg unterschreiben und muß mich auch denen anschließen, die dazu noch ihre besondere Unvereinbarkeit mit unseren deutschen Verhältnissen beleuchtet haben. Ich glaube aber die ausgesprochenen Urteile in einer Richtung noch verschärfen, in einer anderen zugunsten der Enzyklika ergänzen zu müssen. Die Enzyklika wirft nicht nur der ganzen modernen Wissenschaft den Fehdehandschuh hin, sondern sie ist sittlich minderwertig, weil sie tödliche Streiche gegen den Wahrheitssinn zu führen sucht, wie er sich immer sicherer entwickelt hat. Er aber und nicht diese oder jene wissenschaftliche Erkenntnis oder auch ihr ganzer Komplex ist unser höchstes G-ut. Die Enzyklika steht nicht nur auf der Weltanschauung des 13. Jahrhunderts — das wäre etwas verhältnismäßig Geringes —, sondern sie ist vielmehr der Ausfluß eines Geistes, der sich gegen das intellektuelle und sittliche Gewissen, welches wir erworben haben, verhärtet hat. Dadurch steht sie tief unter Thomas, von Augustin nicht zu reden. Diesen minderwertigen, feindlichen Geist mit allen loyalen Mitteln zu bekämpfen, ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere heilige Pflicht, und niemand soll unsere Geduld so verstehen, als wollten wir uns auch in bezug auf diesen Kampf gedulden. Andrerseits ist man der Enzyklika die Erklärung schuldig, die mir in den Kritiken kaum entgegengetreten ist, daß sie nach langer, langer Zeit von höchster katholischer Stelle die Glaubens- und Weltanschauungsfrage, nicht aber die Frage des Papsttums, in den Mittelpunkt stellt. Wir
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sind daran gewöhnt worden, von Rom aus vor allem diese Frage uns aufgerückt zu sehen; in der Enzyklika aber tritt sie ganz hinter jene andere zurück. Ich stehe nicht an, darin einen Fortschritt zu erkennen. Fast möchte ich sagen, der Papst rüttelt die Gewissen seiner Gläubigen auf! Sollten wir uns darüber nicht freuen? Er zwingt sie freilich alsbald auf einen ganz bestimmten Weg und bringt seine Macht in den Disziplinarvorschriften, die er erläßt, in eine fürchterliche Erinnerung; aber er lenkt ihre Aufmerksamkeit doch auf Glaubensfragen, er lenkt sie auf den „Modernismus", den er nicht ohne Aufbieten von Kenntnissen eingehend schildert! Er nimmt also die unausbleiblichen Folgen aller geistigen Unruhe in den Kauf, weil er die Sache, den wahren, rechten Glauben, für so wichtig hält. Wäre es ihm nur um die eigene Herrschaft zu tun, so wäre diese Enzyklika das ungeschickteste Schriftstück von der Welt —, es ist ihm wirklich um den christlichen Glauben und die rechte Theologie zu tun, wie er sie versteht, also um das Seelenheil seiner Gläubigen! Das soll man nicht verkennen, und darin liegt bei aller Rückständigkeit in bezug auf das Wesen des Wahrheitssinns und der Wissenschaft doch ein erfreuliches Moment. Auch wird ja der Versuch gemacht, den „Modernismus" zu widerlegen, und so kläglich dieser Versuch auch ausgefallen ist — einige unvermeidliche Schatten und Fehler der modernen Wissenschaft sind nicht ungeschickt benutzt, und auf die Abgründe, die sie umgeben, ist nicht ohne Recht hingewiesen. Man hat mich in den letzten Wochen oft gefragt, ob ich die Rede über Protestantismus und Katholizismus, die ich vor einem Jahre gehalten habe, nicht bedaure, und ob ich die Hoffnungen nicht zurückziehe, die ich ausgesprochen habe. Weder bedaure ich sie, noch finde ich Anlaß, jene Hoffnungen fahren zu lassen. Nubicula est — transibit! Es mag auch eine dicke, schwarze Wolke sein, die schweres Unheil über unser Vaterland heraufführt — den Fortschritt
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der Dinge kann sie nicht aufhalten. Das Wahre und Ghite, das in dem „Modernismus" steckt, wie er — nicht als System, sondern als Erkenntnis, Gesinnung und Methode — auch in der katholischen Kirche Deutschlands lebt, ist nicht nur unverwüstlich, sondern es vermag auch keine äußere Macht sein Wachstum aufzuhalten. Kein Verständiger denkt an eine äußere Vereinigung des Katholizismus und Protestantismus, und kein Verständiger denkt an einen Untergang der römisch-katholischen Kirche. Aber daß die Homines bonae voluntatis in beiden Kirchen sich immer näher kommen, und daß die Zahl der Arbeitsfelder, auf denen sie gemeinsam arbeiten —, einschließlich religiöser, sozialer und theologischer — immer größer wird, ist keine phantastische Hoffnung, sondern das ist ein Ideal, dessen Verwirklichung längst begonnen hat. Wird sich die römisch-katholische Kirche selbst einst als Kuppel über zahlreiche und verschiedene Wohnungen, die sie ihren Gläubigen gestattet, wölben, und wird sie ihren Geistlichen und Theologen einst eine größere Freiheit in der Wissenschaft zugestehen? Diese Hoffnung mag der Vorsichtige phantastisch nennen, aber schlechthin unmöglich ist sie nicht.
N a c h w o r t 1.
Ali die Redaktion der „Frankfurter Zeitung". Berlin, den 5. März 1908. Hochgeehrter Herr Redakteur! Erst heute kommt mir der Leitartikel in No. 58 Ihrer geschätzten Zeitung zu, in welchem mein „Schlußwort" in Sachen der päpstlichen Enzyklika (in der „Internationalen Wochenschrift") kritisiert ist. Der Verfasser behauptet, daß ich zwar zunächst alles gesagt, was nötig sei, daß ich
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es aber dann — als „Diplomat" — unterlassen hätte, die Konsequenzen zu ziehen. Gestatten Sie mir dazu ein paar kurze Bemerkungen. 1. Der Verfasser schiebt mir die Meinung unter, die katholischen Fakultäten sollen wie bisher im Schöße der Universitäten verbleiben, auch wenn die neuesten Maßregeln, wie sie die Enzyklika anordnet, durchgeführt würden. Aber ich habe deutlich genug das Gegenteil ausgesprochen: unter diesen Bedingungen können sie nicht bleiben. Allein es ist bereits schon jetzt — das habe ich hinzugefügt — 'begründete Hoffnung vorhanden, daß jene Maßregeln in Deutschland von den Bischöfen so gemildert werden, daß alles beim alten bleibt. 2. Der Verfasser will den Vergleich nicht gelten lassen, den ich zwischen den Vorurteilen der katholischen Theologen und den unbeweisbaren Voraussetzungen anderer wissenschaftlicher Dogmatiker gezogen habe; denn diese seien unbehindert, jeden Augenblick ihre Meinung zu ändern, jene aber seien durch die Autorität für immer gebunden. Daß man sich von einem Vorurteil, welches unter einer weltgeschichtlichen Autorität steht, schwerer losreißt als von einem privaten Dogma, weiß ich auch. Aber auf leichter oder schwerer kommt es hier nicht an. Haben wir es mit ehrlichen Menschen zu tun, so müssen wir annehmen, daß sie jedes nötige Opfer bringen werden, wenn ihre Überzeugung mit kirchlichen Zumutungen in Konflikt kommt. Dieses Opfer hat z.B. Schnitzer in seinem mutigen Artikel gebracht und wartet nun die Konsequenzen ab, und auch Ehrhard hat erklärt, was er zu erklären hatte. 3. Der Verfasser wirft mir vor, daß ich auf jene abscheuliche Bestimmung des Syllabus, betreffend „die innere Zustimmung", nicht eingegangen bin; aber einzelne Bestimmungen zu kritisieren, war nicht die Aufgabe meines Artikels. Geschrieben habe ich: „Die Enzyklika wirft nicht nur der ganzen modernen Wissenschaft den Fehdehand-
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schuh hin, sondern sie ist sittlich minderwertig, weil sie tödliche Streiche gegen den Wahrheitssinn zu führen sucht." Ich denke, das genügt. 4. Liest man den Artikel des Verfassers, so muß man annehmen, er müsse zu dem Schlüsse kommen, die katholischen Fakultäten seien nunmehr sofort aufzuheben, und ebendies sei bei mir der Fehler, daß ich diese Konsequenz nicht gezogen hätte. In der Tat schreibt er: „Wer in Sachen der Wissenschaft nicht diplomatisieren will, dem ist es klar, daß nach den letzten päpstlichen Kundgebungen von einer Gleichwertigkeit der katholisch-theologischen mit den anderen Fakultäten schon gar keine Rede mehr sein kann, und der zögert auch nicht, das auszusprechen." Aber dann fährt der Verfasser zur höchsten Überraschung also fort: „Weniger einfach ist allerdings die Frage der praktischen Konsequenzen, wenn man diese Fakultäten allein ins Auge faßt. Die Erfüllung des mehrfach ausgesprochenen Wunsches, sie aus dem Universitätskörper zu entfernen, würde auf große, kaum überwindliche Hindernisse stoßen, wenn man diese Sache für sich in Angriff nähme. Darum müsse man zur Trennung von Kirche und Staat übergehen." Also die Losung: „sofortige Entfernung der katholischen Fakultäten" gibt auch er nicht aus! Worin besteht dann der ganze Streit zwischen uns? Ich will es ihm sagen: der Unterschied besteht darin, daß ich jene „großen, unüberwindlichen Hindernisse nicht anerkennen würde, sobald ich mich davon überzeugte, daß sich die Bedingungen, unter denen die katholischen Fakultäten bei uns stehen, wirklich geändert haben. Ich würde vielmehr alles daran setzen, um sie aus den Universitäten auszuweisen, und nicht erst auf den fernen Tag warten, an welchem sich einst Staat und Kirche trennen werden. Den schweren Vorwurf des „Diplomatisierens in Sachen der Wissenschaft" durfte also der Verfasser nicht gegen mich erheben, da er gänzlich in sich zusammenfällt. Zutreffender könnte er gegen einen
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Standpunkt erhoben werden, auf welchem man zwar das Verdikt über die katholisch-theologischen Fakultäten bereits ausspricht, aber ihre Entfernung aus den Universitäten „der kaum überwindlichen Hindernisse" wegen ad calendas Graecas zu verschieben bereit ist. In vorzüglicher Hochschätzung ergebenst Prof. Adolf Harnack.
N a c h w o r t II.1) Der Aufsatz in dieser Zeitschrift, unterzeichnet „Jemand der katholisch, aber nicht Theologieprofessor" ist, sucht einen großen Widerspruch nachzuweisen, den ich mir in meinen Betrachtungen der päpstlichen Enzyklika des Jahres 1907 angeblich habe zu schulden kommen lassen: nach den Prämissen, die ich entwickelt, und nach dem, was ich in der Enzyklika anerkannt habe, soll ich verpflichtet gewesen sein, sie zu loben, ja als den Ausfluss höchsten Wahrheitssinnes gelten zu lassen. Die Sache aber steht so: ich habe zugestanden, daß der volle Wahrheitssinn bei solchen katholischen Theologen — von außerordentlichem Wissen und ungewöhnlichem Scharfsinn — bestehen kann, „die zahllosen katholischen Einrichtungen kritisch gegenüberstehen, die die gegenwärtigen Zustände der Kirche aufs tiefste beklagen, und die doch felsenfest davon überzeugt sind, daß nur die römisch-katholische Kirche die Kirche Christi und ihr Papst sein Statthalter ist". Daß dagegen objektiver und subjektiver Wahrheitssinn bei solchen katholischen Kirchenhistorikern vorhanden sein kann, die alle l
) In den Preußischen Jahrbüchern erschien eine anonyme Kritik meines Aufsatzes liber die Enzyklika aus streng katholischer Feder. Die folgenden kurzen Worte antworten auf den Angriff.
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Einrichtungen und Behauptungen der katholischen Kirche und ihrer Tradition in Bausch und Bogen verteidigen, davon vermag ich mir eine Vorstellung nicht zu machen. Es ist mir vielmehr schlechthin unbegreiflich, wie ein kenntnisreicher Theologe imstande ist, all dieses rückständige und geschichtlich längst -widerlegte Zeug nach seinem Inhalt und präsumierten Alter zu rechtfertigen. Was er bei sich zu rechtfertigen vermag, das ist die Existenz und das Recht der Kirche selbst mit ihrer monarchischen Spitze. Weil er davon überzeugt ist und zugleich weiß, wie oft sich die Kirche in ihrer Entwicklung — obgleich sie es sich selbst verdeckt —, gewandelt hat, darum erträgt er die Lasten der Vergangenheit, die sie mitschleppt, in der zuversichtlichen Erwartung, daß sie sie allmählich abstoßen wird. Eben in dieser Erwartung, in der kindlichen Zuversicht zur Kirche und in der G-eduld bewährt er sich als ihr treuer Sohn und meint, indem er das ist, sich in ihr auch mit seiner scharfen Kritik an Dingen behaupten zu dürfen, deren geschichtliches und darum relatives Recht er übrigens nicht verkennt. Kurz, dieser Katholik glaubt an das absolute Recht der Kirche und ihrer religiösen und sittlichen Botschaft, aber als Gelehrter mit modernem Wahrheitssinn — ich scheue mich nicht, mich so auszudrücken; denn auch der Wahrheitssinn hat sich nach den Fortschritten der Erfahrung und Erkenntnistheorie gewandelt — glaubt er nicht an zahllose kirchliche Behauptungen, deren Nichtigkeit, wie er meint, einst der Kirche ebenso aufgehen wird wie der Irrtum des ptolemäischen Weltsystems. Daß dieser Standpunkt ein nicht ungefährlicher ist, wer sollte das verkennen? Er ist ja auch nicht der meinige, sondern ich versuche mich nur in die Seele dieser Katholiken zu versetzen. Über diese Lage der Dinge sind nun Syllabus und Enzyklika hergefahren und erklären, daß alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und Bedenken einfach zu schweigen haben, daß es hier überhaupt nichts Relatives gibt,
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4. Die päpstliche Enzyklika von 1907 (1908)
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daß die Kirche wie im Mittelalter die absolute Dignität alles dessen aufrechterhält, was sie einmal behauptet hat, und daß daher jeder gehalten ist, mit wahrer innerer Z u s t i m m u n g alles zu glauben, was die Kirche glaubt! Und da soll man den Wahrheitssinn des Papstes loben? Entweder weiß er nicht, was "Wissenschaft ist, die dieses Namens wert ist, oder er weiß nicht, was Gewissen ist. Sicher weiß er beides nicht; denn unter "Wissenschaft denkt er noch immer an das scholastische Gebilde und unter Gewissen an ein Ding, das sich beliebig kommandieren läßt. „Gegen den "Wahrheitssinn, wie er sich immer sicherer e n t w i c k e l t hat, führt der Papst tödliche Streiche" — so hatte ich geschrieben, und auf den gesperrten "Worten liegt der Nachdruck. Der Papst hat gewiß auch seinen "Wahrheitssinn, aber non nostri saeculi est; er ist nicht mehr der unsrige und wird es nie wieder werden. Die Theologen aber, gegen die er sich wendet, haben jenen "Wahrheitssinn und betätigen ihn so, wie sie es als Katholiken zurzeit allein vermögen — durch Stillschweigen, Abstinenz und Geduld. Der Widerspruch also, den mir der Verfasser aufzubürden sucht, existiert nicht; er entsteht nur, wenn man übersieht, daß der Wahrheitssinn selbst dort und hier ein anderer ist und daß der Papst einem ganz anderen „Wahrheitssinn" folgt als die, welche er bekämpft. Übrigens sind die Deduktionen des virtuosen Verfassers selbst nichts anderes als ein Probestück jener scholastischen Dialektik, die psychologische, feine und wandelbare Größen als runde, ein- für allemal geprägte Rechenpfennige nimmt und Syllogistik mit ihnen treibt. Vollends aus dem Satze: „Fast möchte ich sagen, der Papst rüttelt die Gewissen seiner Gläubigen auf" zu deduzieren, es sei mit diesem Zugeständnis eigentlich die ganze Enzyklika gerechtfertigt, ist ein höchst seltsames Unterfangen. Daß nach den stets wiederholten Bemühungen, die Gläubigen für die Wiedergewinnung
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des Kirchenstaats zu interessieren, der Papst eine zentrale Frage der Religion und Kirche in den Mittelpunkt rückt, wollte ich beifällig zum Ausdruck bringen. Daß die "Weise, wie er es getan hat, jede Zustimmung unmöglich macht, darüber habe ich nicht den geringsten Zweifel gelassen. Endlich — der Verfasser behauptet, die Enzyklika widerlege überhaupt nicht, und bemüht sich zu zeigen, was hätte geschehen müssen, wenn der Abhandlung die Absicht der Widerlegung zuzuschreiben wäre. Um den Begriff der „Widerlegung" hier zu streiten, scheint mir höchst überflüssig: die Enzyklika tut alles, um den Modernismus als haltlos, widerspruchsvoll, unkatholisch, aufgeblasen und töricht erscheinen zu lassen. Das genügt doch wohl. Doch noch ein Wort — was der Verfasser über Schnitzer bemerkt, beweist nur, daß er für die innere Not moderner katholischer Theologen, die hier zu einem ergreifenden, wenn auch grimmigen Ausdruck gekommen ist, kein Verständnis und kein Herz hat.
PATER DENIFLE, PATER WEISS UND LUTHER DIE LUTHERBIOGRAPHIE GRISARS
Der erste Aufsatz erschien in den „Preußischen Jahrbüchern", Band 136, 1909, Heft 3; der zweite in der „Theologischen Literaturzeitung", 1911, No. 10.
Pater Denifle, Pater Weiß und Luther. Das Werk 3 ) ist das geistige Eigentum von W e i ß . Zwar haben, wie die Vorrede besagt, die umfassenden Sammlungen zur Reformationsgeschichte von Ο no K l o p p dem Verfasser „höchst wertvolle Hinweisungen und Behelfe" geliefert; auch stand ihm die Sammlung von Quellen werken, die D e n i f l e angelegt hat, zu Gebot; aber „von den überaus reichhaltigen Sammlungen, die D e n i f l e selbst hinterlassen hat, konnte ich aus Gründen, die später dargelegt werden sollen, keinen Gebrauch machen. Sie wenden sich nach einer ganz anderen Seite und hätten wahrscheinlich zu einem neuen großen Ergänzungsband über die sittlichen Vorbereitungen auf die Reformation geführt." Wie das „sittlich" zu verstehen ist, sagt uns der Verfasser auf S. 12. Denifle hatte die Absicht, den Abfall vom Glauben in der Reformationszeit einfach auf das furchtbare sittliche Verderben zurückzuführen. „Ich zweifle nicht daran, daß er diese Auffassung ungenügend gefunden hätte, wenn es ihm gegönnt gewesen wäre, diesen Band auszuarbeiten. So aber, wie seine Auszüge vorliegen, hat er ein ungeheures, manchmal wahrhaft ungeheuerliches Material zusammengebracht, um die Ansicht zu erhärten, die R e f o r m a t i o n sei d i e „ C l o a c a m a x i m a " gewesen, der große Abzugskanal, durch den das seit langem angehäufte Verderben abgeleitet wurde, das P. Heinrich D e n i f l e Ο. P. und P. Albert Maria W e i ß 0. P., Luther und das Luthertum in der ersten Entwicklung. Zweiter Band, bearbeitet von P. Albert Maria W e i ß 0. P. Maina 1909.
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sonst, wenn es in der Kirche geblieben wäre, alles verpestet und vergiftet hätte." So also verstand Denifle das Zeitalter der „Kirchenreinigung", durch die Luther augenscheinlich der katholischen Kirche den größten Dienst geleistet, indem er sie vor dem Verpestungstode bewahrt hat. Weiß vermag dieser Anschauung nur „eine teilweise Berechtigung" zuzuerkennen; er erklärt sie für einseitig und übertrieben. „Es bleibt dem unermeßlichen Fleiß, den Denifle auf sie verwendet hat, sein Wert und sein Verdienst gewahrt, wenn wir gleich an diesem Ort von seinen Früchten keinen Gebrauch machen können." Sehr erfreulich! Der Skandal wäre zu groß gewesen! Warum dann aber dieses neue Werk als zweiter Band des bekannten Denifleschen Werks erscheint, darf man mit Fug fragen? Ist es Bescheidenheit, wenn Weiß sein Buch in den Schatten des Denifleschen gestellt hat, welches so ungeheures Aufsehen machte, oder liegt es nicht näher, nach anderen Gründen zu suchen? Doch dem sei, wie ihm wolle — der Verfasser bringt uns seine eigene Reformationsgeschichte, und lediglich diese haben wir zu kritisieren. Die Vorrede und die Einleitung (S.l—9) lassen große Dinge erwarten. „Die Überzeugung wird wohl niemand mehr aus der Welt schaffen, daß man von jetzt an nicht mehr über Luther schreibt ohne gründlichere Kenntnis des Mittelalters und der Scholastik, und nicht mehr über Reformation und Luthertum ohne genaues Eingehen auf die kirchenfeindlichen und zersetzenden Lehren des 14. und 15. Jahrhunderts. Die Zeiten der privilegierten Erhabenheit über die Gesetze der Geschichtschreibung· sind für die Reformationsgeschichte vorüber." (S. VIII.) Die Reformation ist der Abschluß des ausgearteten Mittelalters (S. 11) — das ist die Hauptthese, welche Weiß erhärten will. In dieser These liegt eine gewisse Verwandtschaft mit der skandalösen Denifl.es; aber Weiß will nicht leugnen, daß die Reformation auch den Anfang zu einer künftigen Weiterentwicklung enthielt, „nur
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erfolgte diese erst in einer viel späteren Zeit", und erfreulich ist diese Weiterentwicklung nicht, sondern ein Herabfall zum Nihilismus. Ferner aber legt er darauf hohes Gewicht, daß die Reformation die Irrlehren des 15. Jahrhunderts nur deshalb so zu kräftigen vermochte, weil sie sie unter den Namen und Schutz der Religion gestellt hat — „zum deutlichen Beweis dafür, daß die R e l i g i o n a u c h ein M i t t e l ist, u m die R e l i g i o n zu z e r s t ö r e n , und zwar das wirksamste von allen. Die übrigen Mächte des Umsturzes, die damals an der Arbeit waren, hätten wohl noch lange nicht, vielleicht nie ihr Ziel erreicht, wäre ihnen nicht das Luthertum mit Berufung auf die Religion zu Hilfe gekommen" (S. 8). Die Behauptung ist ganz richtig, nur ist das negative Vorzeichen in ein positives zu verwandeln, und "Weiß versteht unter „Religion" bei Luther in den Jahren 1517—21 nur „Religiöse Kunstsprache" (s.u.). "Weiß hat seinen Stoff in fünf Abschnitte und eine Schlußbetrachtung geteilt; ich folge ihnen in der Berichterstattung und Kritik. Der erste Abschnitt (S. 10—107) ist überschrieben: „Die V o r b e r e i t u n g e n auf die R e f o r m a t i o n . " Der Verfasser präludiert erst mit einigen methodischen Erwägungen und solchen über die sittlichen und theologischen Zustände (private und öffentliche Sittlichkeit, Beurteilung einer Zeit nach der letzteren; die Zeit, aus der die Reformation herausgewachsen, ist eine s c h l e c h t e Z e i t gewesen; Absterben des kirchlichen, des priesterlichen und zuletzt des christlichen Geistes im Klerus; Schlechtigkeit des deutschen Liberalismus „oder, wie man damals sagte, H u m a n i s m u s " , Verfall der Theologie, Herrschaft des Nominalismus, der zum Kritizismus und Skeptizismus geworden war, Eintreten des Laientums in den Kampf gegen die Kirche). Sodann weist er drei Hauptwurzeln für den kirchlichen Abfall, der aus der Untergrabung der kirchlichen Autorität entstanden sei, nach, (1) das große Schisma und seine Folgen, (2) die
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nationalkirchliche Erhebung, (3) die Häresie. Indem er diese Wurzeln aufdeckt und beschreibt, zeigt er, daß sie aufs innigste miteinander zusammenhängen und daß sie sämtlich in der Antithese gegen die Gewalt des Papstes zusammenlaufen. Die Reform-Theologen und Vertreter der konziliaren Ideen, welche die alte Kirchenautorität aufs schmählichste heruntersetzen, sind Gallikaner, näher Pariser; aber auch die Vertreter des Nationalismus in der Kirche, die Staatskirchler, sind Gallikaner, bzw. Pariser, mag auch die ganze Bewegung in England ihren tatsächlichen Ursprung genommen haben. Beide Gruppen aber, beherrscht von dem schlimmen Geist Occams, sind Nominalisten. Endlich auch die gefährlichsten Lehren, nämlich die der Wiclefiten und Hussiten, waren in einem der wichtigsten Stücke nicht minder mit den gallikanischen verwandt. In Deutschland, verglichen mit anderen Ländern, stand es bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts relativ noch am besten; dann wurde es auch dort sehr schlimm. Die Hauptschuld trugen die geistlichen Rechtsgelehrten und Professoren. Sie haben den Geist von Konstanz und Basel in die Massen getragen und den Glauben an das Papsttum, die Rücksicht auf die Autorität der Kirche und schließlich auch die Achtung vor den Konzilien ins Wanken gebracht. Die L e u g n u n g des mit göttlicher Autorität bekleideten Primates und i n f o l g e hiervon die Zerstörung der Kirche war das Endergebnis. An ihre Stelle setzte man die Vorstellung von National- und Landeskirchen. Diese aus Professorenverirrung entstandenen, verheerenden Ideen konnten erst aufkommen, nachdem der Glaube an die Kirche ausgerottet war. „Kirchen und Kirche sind ebenso unvereinbar und widersprechend wie Götter und Gott." „Durch das Schreckgespenst der Auslieferung an die Welschen ließen sich die Deutschen in jene kirchliche Spießbürgerei hineintreiben, die der bürgerlichen als ebenbürtiges Gegenstück zur Seite steht. Uberschlägt man nun, daß gleichzeitig der Nomi-
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nalismus den Glauben in seinem innersten Wesen untergraben, der Gallikanismus aber seine Schutzmauern gestürzt und die hohe Geistlichkeit sich von Rom entfremdet hatte — S. 101 wird ihr sogar die Hauptschuld zugeschrieben —, so kann man sich nicht wundern, daß es in Deutschland zum tatsächlichen Abfall kam, zumal den Deutschen, im Unterschied von den Franzosen, das Gefühl für Gemeinbürgerschaft fehlt und durch Sonderwirtschaft ersetzt wird. Aber auch so wäre vielleicht noch das Äußerste nicht eingetreten, wäre nicht beim Übergang zum 16. Jahrhundert der deutsche Humanismus erschienen. Im Unterschied von dem religiös indifferenten, ja geradezu heidnischen, italienischen Humanismus, der ebendeshalb das sichtbare Gefüge des christlichen Gemeinwesens unangetastet stehen ließ, wurde der deutsche sehr rasch ein ausgesprochener Gegner des Christentums. "Weil er am Christentum irre wurde, wurde ihm der Papst wertlos und verhaßt (S. 104).1) Nun ging das Verderben los; es gelang dem Humanismus die sittliche und die kirchliche Verwilderung in ein Ganzes zu verschmelzen und so die Bresche zu eröffnen, durch die dann Luther eindrang, um die Festung völlig niederzulegen. „Nicht Luther hat eine neue Zeit geschaffen — dieser verunglückte Führer hatte nicht die leiseste Ahnung davon, in welch bedeutsamem Augenblick er sich in den Kampf wagte —, die neue Zeit hat ihn geschaffen; er hat aber ihren Geist besser in sich aufgenommen als die andern, und darum steht er an ihrer Spitze." Das sind die „Vorbereitungen auf die Reformation"! Sie werden jeden umsichtigen und besonnenen Leser aufs tiefste enttäuschen, ja man darf wohl sagen, daß es eine einseitigere und tendenziösere Darstellung der Vorgeschichte der Reformation nicht wohl geben kann. Ich hebe folgende drei Kapitalpunkte gegen sie hervor: Erstlich alle Sünden des Papsttums und alle Beschwerden gegen dasselbe im *) Im folgenden Satze wird freilich genau das Umgekehrte gesagt.
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15. Jahrhundert sind hier einfach totgeschwiegen, während die Sünden aller andern Stände stark betont werden. Das hat bisher meines Wissens überhaupt noch kein katholischer Historiker — auch P a s t o r nicht, der im Vergleich mit W e i ß ein unparteiischer G-eschichtsschreiber ist — fertig gebracht! Lag aber wirklich gegen das Papsttum schlechterdings gar nichts vor, dann sind freilich die Vorreformation und Reformation unbegreifliche, ja frivole Revolutionen. Zweitens die gesamte Entwicklung der Vorreformation im 14. und 15. Jahrhundert wird an der fertigen Kirchen- und Papstlehre des nachtridentmischen Zeitalters (ja des Konzils von 1870) gemessen. Welch ein quid pro quo! Daß es einen augustinischen Kirchenbegriff gegeben hat, daß in bezug auf die Autoritäten, die Sakramente und die sakramentale Praxis vieles, sehr vieles noch schwankend war, daß zahlreiche thomistische Bestimmungen noch kontrovers waren, erfährt man überhaupt nicht. Wie kann man aber die Vorreformatoren beurteilen, wenn man diese Sachlage verschweigt und Tridentinum und Vatikanum einfach antizipiert? Endlich der Nominalismus und der deutsche Humanismus werden gröblich entstellt und verzerrt, wenn man jenen als Skeptizismus, diesen als Antichristentum bezeichnet und sonst nichts über sie zu sagen weiß. Manchmal scheint es, als sei die ganze Reformation für Weiß nur „die Brut von Occam und Marsilius", großgezogen von Erasmus und den anderen deutschen Humanisten. Das geht noch weit über J a n s s e n hinaus, dessen Darstellung im 1. Bande überhaupt und durchweg den Vorzug vor dieser verdient. Somit liegt in diesem ersten Abschnitt lediglich ein schwerer Abfall von der bescheidenen Höhe vor, die die katholische Reformations-G-eschichtsschreibung bereits gewonnen hatte. Der zweite Abschnitt (S. 108—212) behandelt „die L e h ren des L u t h e r t u m s in seiner e r s t e n E n t w i c k l u n g " , d. h. bis zur Wartburgzeit. Der Verfasser will nicht die Entwicklung Luthers schildern — er setzt bei den „Thesen"
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ein —, sondern die des Luthertums, wie sie sich unter des Reformators Führung vollzogen hat. In dieser Führung war aber Luther, wie "Weiß meint, weder schöpferisch, noch übersah er den "Weg, auf dem er wandelte. "Wie ihn die Übelstände der Zeit geschaffen haben, war er kein Heros neuer Gedanken, sondern das Werkzeug der herrschenden Ideen und das Opfer der geistigen Influenza. Sein Eigentum war eigentlich nur die Willenskraft, mit der er die Ideen aufnahm und durchsetzte. Man kann die Zeit von 1517—1521 so zu deuten versucht sein, daß die Folgezeit des Protestantismus als ihre gradlinige Fortsetzung erscheint; man kann aber auch jene Zeit in scharfem Kontrast zu dieser sehen; man kann endlich sich verpflichtet fühlen, einen Mittelweg in der Beurteilung einzuschlagen. "Weiß entscheidet sich ohne Schwanken für die zweite Betrachtungsweise. Nach ihm ist, was sich in jenen Jahren entwickelt hat, der inneren Konsequenz und in vieler Hinsicht auch schon dem ersten Erfolge nach die volle Zerstörung der Kirche und des objektiven Christentums und die Aufrichtung des schrankenlosen Individualismus, Solipsismus und einer sich über alles G-egebene hinwegsetzenden Autonomie des Individuums (dann sei eine schwächliche und inkonsequente Rückbildung eingetreten; s. den folgenden Abschnitt). Weiß sucht das auf allen Hauptlinien nachzuweisen. Schon die „Thesen" greifen nach ihm nicht bloß die Kirche an, sondern leugnen das Christentum in seinem wahren Wesen; denn die Vermessenheit, das Christentum unabhängig gegen die Kirche zu stellen, bedeutet seine Zerstörung. Ferner, im Christentum sei die Vereinigung von Natur und Übernatur das eigentlich Wesentliche. Sofern aber Luther in den Thesen das Hinüberreichen der kirchlichen Macht in die jenseitige Kirche leugnete, indem er die Schlüsselgewalt einzig auf die Milderung der kanonischen Bußen ausgedehnt wissen wollte, war das Werk der Zerstörung, wenn nicht schon
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vollendet, so doch unvermeidlich begründet, wie bereits die ersten Gegner der „Thesen" richtig erkannt haben. Hieran Schloß sich dann alles übrige, zunächst und folgerecht der wilde Angriff auf den Primat und dann — erst unklar, bald aber mit schrecklicher Deutlichkeit — die Zertrümmerung des Kirchenbegriffs. Nachdem Luther sich so die wiclifitischen und hussitischen Anschauungen angeeignet hatte, konnte es eine äußerliche Kirche für ihn nicht mehr geben. „Eine Kirche, deren ganzes "Wesen in dem einzigen "Wort Papst ausgedrückt ist, nimmt das Luthertum nicht an, es müßte sich sonst selber preisgeben" (S. 138). Der Haß gegen das Papsttum, diese erste Kundgebung des wahren lutherischen Geistes, die auch stets sein entscheidendes Merkmal bleibt, hat ihn zur Kirchenzerstörung geführt. Die positive Kehrseite hierzu konnte nicht ausbleiben. Wohl besaß das Luthertum jener Zeit vier "Worte, die es unaufhörlich im Munde führte — Gewissen, Glaube, Evangelium, Christus —, aber diese Begriffe wurden so subjektivistisch verfälscht, daß sie in "Wahrheit zu Schöpfungen des Individuums wurden; denn nur was diesem zusagt oder was es sich selbst bildet, hat Gültigkeit. Somit hat Luther, indem er den objektiven Glauben, das objektive Evangelium und den objektiven Christus abgetan hat, das Individuum zum Schöpfer seiner eigenen Gerechtigkeit, seiner Heilsgewißheit und seines eigenen Heils gemacht. Derselbe Luther, der so unverständig gegen die Werkgerechtigkeit polemisierte, hat in Wahrheit alles Heilige in ein Produkt und Werk des Einzelnen verwandelt und den Seinigen „die Uberzeugung eingeflößt, sie könnten, sie müßten sich selber ihren Glauben schaffen und dadurch selbst ihr Heil bewirken" (S. 162). Die Gläubigen aber hat er zu einem Haufen von Atomen zerschlagen, nachdem er die Kirche zerrieben hatte. Diese selbst wurde in das Reich des Unsichtbaren verwiesen und „das Christentum zu einer rein innerlichen und ausschließlich persönlichen
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R e l i g i o n oder vielmehr zu einem leeren G-edankending gemacht" (S. 182). Lediglich einen christlichen „oder doch religiösen" Schein hat er diesem Treiben verliehen durch die biblischen Kunstausdrücke, die er in so großer Anzahl schmiedete. Durch diese täuschenden einzigen Überreste aus der jüdischen und der christlichen Religion verstand er es, seiner Lehre Anziehungskraft zu verleihen. Aber statt „Gewissen" muß man „die Freiheit des Ohristenmenschen oder den durch Kant und Fichte gebräuchlich gewordenen Ausdruck Autonomie und statt G-laube die moderne Phrase von der persönlichen Religion setzen"; „dann haben wir alles erklärt" (S. 199 f.). „Verfolgt man die Entwicklung der Dinge bei Luther bis zum Jahre 1521, so findet man, daß sich sein System mit einer Konsequenz, die ihm sonst fremd ist, dem Abgrund zu weitergebildet hat. Bis zum Wormser Reichstag, kann man zuversichtlich sagen, war das ursprüngliche Werk Luthers vollendet: das Christentum war seines p o s i t i v e n und übernatürlichen Charakters entkleidet, mit anderen Worten entchristlicht" (S. 198). „Reduzierung des Christentums fast bis auf den Nihilismus" (S. 210), subjektive Anpassung desselben an das e i g e n e Ich ( = Glauben): das war das Ergebnis. Die Formel, bei der Luther im Jahre 1521 stand, kommt also ungefähr auf denselben Inhalt hinaus, auf den die heute vom Logenchristentum gepredigte Humanitätsreligion ihr Glaubensbekenntnis eingeschränkt hat" (S. 209). Das ist die Charakteristik der Lehren des Luthertums in den Jahren 1517—1521! Die Charakteristik der „Vorreformatoren" war schon schlimm, aber diese Entstellung überschreitet alles Maß! Zwar das sei dem Verfasser zum Lobe gesagt, daß er die inneren Konsequenzen der Lutherschen Lehre in jener Zeit in bezug auf Freiheit und Autonomie richtig erkannt hat — daß Kant und Fichte in diesem Luther stecken, bezeugt hier gegen die lutherische Orthodoxie ein Katholik —; aber ich kenne doch keine neuere
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katholische Darstellung der Reformation von solcher Blindheit! Der religiöse Faktor in L u t h e r ist ausdrücklich ausgeschaltet! „Biblische Kunstausdrücke", das ist alles, was zugestanden wird! Also überhaupt kein inneres Verhältnis zur christlichen Überlieferung, keine Zuversicht zu dem gekreuzigten Christus, kein Glaube, keine Buße! Das soll der Luther aus den Jahren 1517—1521 sein? Man greift sich an den Kopf und fragt sich: Wie ist eine solche Entstellung möglich? Leider ist die Antwort ganz einfach. Dieser Dominikaner kennt — ich brauche seine eigenen Worte — nur „eine Kirche, deren ganzes W e s e n in dem e i n z i g e n Wort Papst ausgedrückt ist." Wo diese Kirche fehlt oder bekämpft wird, da vermag er weder objektives noch subjektives Christentum mehr zu sehen, ja nicht einmal mehr Religion. Nach ihm hat Gott neben diese Kirche lediglich den Nihilismus gesetzt, und in dem grellen Lichte der Kirche gewahrt der Thomasschüler wirklich nichts anderes als ihn. Daß Religion und Freiheit zusammengehen können, ist ihm völlig unverständlich, und jeder Glaube ohne den Papst ist ihm eine Phrase. Von diesem Standpunkt schreibt man Religions- und Kirchengeschichte! So nur konnte ein Lutherbild für die Frühjahre der Reformation entstehen, das in den Augen jedes Historikers — ich hoffe auch der katholischen — sich selbst ad absurdum führt. Die Geschichtsschreibung ist hier auf einem Tiefpunkt angelangt, der nicht mehr unterboten werden kann; denn was läßt sich noch schlimmer Verkehrtes über Luther sagen, nachdem man ihm jedes christliche und religiöse Element abgesprochen hat? Indes der Verfasser widerlegt sich zum Teil selbst, und zwar bereits im nächsten Abschnitt. Dieser (S. 213—289) trägt den Titel: „Die R ü c k b i l d u n g des ursprünglichen Luthertums bis zur A u s b i l d u n g des P r o t e s t a n t i s mus." Daß ich es gleich sage — dieses Kapitel, welches die Entwicklung bis 1530 führt, aber bedeutende Ausblicke
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auf die Folgezeit hinzufügt, ist zur größten Überraschung an wichtigen Punkten beifallswert, soweit es nicht auf die Zeit von 1517—21 zurückblickt. Wie es zu einer protestantischen Kirche gekommen ist, wie zu einer protestantischen Lehre und einer Formierung der ganzen Bewegung, das ist in der Hauptsache scharfsinnig und richtig, auch mit bemerkenswerter Ruhe dargestellt. Der Anteil, den der Kampf gegen die Schwärmer, die Sorge für Zucht, Ordnung und Unterweisung, das Interesse der Fürsten und die Arbeit der Theologen, vor allem Melanchthons, dabei gehabt haben, ist zutreffend abgewogen, und wenn durch die ganze Darstellung die Absicht hindurchgeht, zu zeigen, wie stark die Rückbildung gewesen ist, und wie Luther allmählich aus der Rolle des Reformators der Christenheit in die des verehrten und gefürchteten Beraters der neuen Kirchen zurückgedrängt worden ist, so weiß ich, abgesehen von einigen allerdings nicht nebensächlichen Punkten, keinen Widerspruch zu erheben. Daß der Protestantismus — schon um 1530 — etwas sehr anderes gewesen ist als die von Luther beherrschte Bewegung um das Jahr 1520, und daß das Luthertum dieser Zeit nur noch ein Element, wenn auch ein sehr mächtiges, innerhalb des neuen Protestantismus darstellt, ist richtig. Aber freilich — wo nur immer Luthers selbst bei dieser Entwicklung gedacht wird, da ist alles verkehrt: denn in diesem Abschnitt, d. h. für die Jahre 1521 bis 1530, erhalten wir nun einen doppelten Luther, nämlich den früheren, der von Religion und Kirche nichts wissen will, sondern sich auch weiter noch in wildem Subjektivismus ergeht, und einen zweiten, der mit jenem Luther im Streite liegt und von dem christlichen Glauben mit innerem Anteil und in ergreifender Weise zu reden weiß. Angenommen, dieser Zwiespalt in Luther wäre richtig beobachtet — und ein solcher innerer Konflikt ist ja nicht unmöglich —, muß er dann nicht schon in den Jahren 1517—21 in ihm geherrscht haben? Aber für diese Jahre weiß der
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Verfasser (s. ο.) nichts von einem Zwiespalt und von einem religiösen Element in Luther, das ihn treibt. Also fällt die Charakteristik Luthers in dieser Darstellung einfach auseinander, und der Verfasser übt selbst an seinem für die Jahre 1517—21 gezeichneten Lutherbilde eine vernichtende Kritik. Des Näheren denkt sich Weiß die Entwicklung Luthers bis 1530 also: Auf der "Wartburg sei bei Luther eine „Abspannung und Ermattung" eingetreten, die unter dem Druck der Einsamkeit, des Kirchenbanns und der körperlichen Leiden „seinem Verhalten einen psychologisch v ö l l i g neuen Charakter aufdrückte. Zum erstenmal kam er zu sich selbst" (S. 214; 229). Die Folge war, daß sich seine seltsamen Teufelserfahrungen und seine Teufelslehre ausbildete, in der sich sein eigenes unruhiges Gewissen objektivierte. Die Nachrichten aus Wittenberg führten ihn weiter dazu, der von ihm eingeleiteten Bewegung eine rückläufige Richtung zu geben und das von ihm großgezogene „Laientum" zu beschränken. Die bösen Kinder waren freilich seine echten Kinder, die seine Grundsätze richtig aufgefaßt hatten; aber sie führten die Dinge zum Aufruhr, und den wollte Luther nicht. So beginnt er die Reaktion auf dem Gebiete der kirchlichen Praxis. Das reine Laientum wird gedämpft, und damit fängt etwas ganz Neues an, nämlich die Umwandlung des Luthertums in eine weltliche Autoritätsreligion, d. h. in den Protestantismus. Die Rückbildung ist bereits 1528—29 wesentlich vollendet. „Freilich darf man das Wort Reaktion im Sinne Luthers nicht zu ernstlich auffassen; auch sie ist nur halb" (S. 250), und vor allem bleibt aus seiner Sturm- und Drangperiode ungebrochen der Haß gegen den Papst zurück, ja wurde mehr und mehr der einzige Leitstern Luthers (a. a. 0.). Indessen ist doch nicht zu verkennen, daß eine gewisse religiöse Besinnung den Schwarmgeistern und Zwingli gegenüber bei ihm Platz greift; aber auch hierbei gilt, daß er nie aus positiven Gründen und aus positiven Quellen etwas
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Positives leistete (von der Bibelübersetzung — um nur diese zu nennen — wird durchweg geschwiegen), sondern daß er immer nur aus "Widerspruchsgeist einen G-egensatz aufstellte" (S. 249). Immerhin bezeichnet der Verfasser „das Bekenntnis vom Abendmahl Christi" (1528) als ein schönes Bekenntnis und sieht in ihm den Höhepunkt der rückläufigen Bewegung; hier sei die alte Trinitäts- und Christuslehre in "Worten ausgedrückt, die von der Ergriffenheit Luthers ehrenvolles Zeugnis geben (S. 251 f.). Da aber in diesem Bekenntnis doch der antikatholische Haß in grellem Mißtone hervorbreche, „so ging auch diese Stunde der Heimsuchung vorüber". Aber was Luther und mit ihm das Luthertum einmal gewonnen, wird nun weiter ausgebaut. „In der ersten Periode sind die Formeln Luthers mit seltenen Ausnahmen rein subjektiv und irdisch und nahezu allen religiösen Gehaltes bar, in der zweiten (bis ca. 1530) ein seltsames Gemisch von Geistlichem und Irdischem, von Menschlichem und Göttlichem; nun aber werfen sie sich ausschließlich auf das religiöse Gebiet" (S. 258). Der titanenhafte Plan, ein kirchenfreies Christentum, das Christentum Christi, als einzige "Weltreligion an die Stelle der Kirche zu setzen, wird mit dem bescheidenen vertauscht, eine Gegenkirche zu bilden. Damit hört das Luthertum auf, und die protestantische Kirche beginnt. Erst jetzt wird, wie uns Weiß (S. 265 f.) verrät, die Ausbildung der Lehre von der Rechtfertigung in Angriff genommen. „Mit der Einführung dieses Lehrpunkts tritt der Protestantismus in die Geschichte ein. Im Luthertum war ja wohl der zugrunde liegende Gedanke von Christus und vom Glauben betont worden, aber diese zu einem System zu verarbeiten, hatte Luther auch nicht einmal versucht." "Weiß nennt diese Verspätung „das Auffallendste in der ganzen Geschichte der reformatorischen Bewegung". Aber auffallend ist das doch nur, wenn man mit dem Verfasser eine Glaubensüberzeugung solange für eine quantite negligeable hält, als sie noch
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nicht zu einem. System „verarbeitet" ist. Wir hören hier lediglich den Thomisten sprechen, der sich die Zeugnisse über Christus, Rechtfertigung und Glauben bei dem frühen Luther als bloßes Gerede zurechtlegt, weil sie nicht in wissenschaftlicher Bestimmtheit auftreten. Nicht klar wird, ob und wie stark Weiß Luther an der neuen Fassung des Kirchenbegriffs für beteiligt hält, durch den der Protestantismus vom alten Luthertum sich so weit entfernt habe, und dasselbe gilt von der Heiligen Schrift, ihrer Autorität und Auslegung. Im ganzen hat man den Eindruck, daß diese Entwicklungen nach W e i ß über den Kopf Luthers hinweggegangen sind und er geschehen ließ, was er nicht ändern konnte. Aber man muß sich über die Unsicherheiten beklagen, die in diesem Abschnitt walten; denn es fehlen doch Sätze nicht, nach denen das bei Luther selbst hervortretende religiöse Element an den Umwandlungen beteiligt gewesen sein soll. Das Fazit wird also gezogen: „Mit dem Auftreten des Protestantismus hat das Luthertum in seiner ursprünglichen Gestalt ein Ende genommen" (S. 283), aber — wird zu unserer Überraschung hinzugefügt (a. a. 0.) — „die Abweichungen und Änderungen waren groß, aber sie waren doch meistens nicht wesentlich, einzelne Fragen allerdings abgerechnet." „Das Luthertum blieb immer noch, manchmal teilweise, manchmal ganz, einer der Bestandteile, aus denen sich der Protestantismus zusammensetzte" (S. 284). „Nur das ist offenbar, daß schon in der letzten Zeit Luther sehr stark hinter der unfreiwillig von ihm geschaffenen Kirche zurücktrat und bald ihn dort jedermann pries, aber niemand las." Das Luthertum geriet sehr schnell in Vergessenheit und schien tot; aber es ist, freilich sehr viel später, wieder auferstanden — „der Ausg a n g des modernen P r o t e s t a n t i s m u s ist die Rückkehr zum a n f ä n g l i c h e n Luthertum, nicht zwar in der Lehre und im Leben, wohl aber im Denken" (S. 287). Mit dieser Behauptung dürfte sich dieser und jener Protestant
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einverstanden erklären, doch, ist sie in dieser Allgemeinheit falsch und erhält eine ebenso böse wie völlig ungeschichtliche nähere Bestimmung durch den Satz, „das a n f ä n g liche L u t h e r t u m sei j e n e s r e i n e C h r i s t e n t u m gewesen, das H u t t e n u n d die S e i n i g e n als F l e i s c h von i h r e m F l e i s c h u n d B e i n v o n i h r e m B e i n zu W o r m s (!) der W e l t v o r f ü h r t e n " . Die Kritik an diesem ganzen Abschnitt ist in der Analyse bereits vollzogen und braucht nicht wiederholt zu werden: Die Entstehung des kirchlichen Protestantismus ist in mancher Hinsicht richtig gezeichnet — neu ist das freilich nicht —, aber in bezug auf Luther ist das meiste teils verzeichnet, weil ein ganz falscher Ansatz zugrunde liegt, teils recht unklar. Wie wenig aber W e i ß schließlich doch gewillt ist, auch nur dem Luther der Jahre 1521—30 als religiösem Charakter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zeigen die letzten Sätze dieses Abschnitts, in denen er Luthers Entwicklung in jenen Jahren rekapituliert. Hier heißt es (S. 288): „Auf der Wartburg tritt ihm die ganze Gefahr (des bisherigen Ergebnisses seiner Arbeit, nämlich „eines Laienchristentums, das vom Christentum außer den christlichen Phrasen wenig mehr an sich trägt als der Humanismus von damals") vor Augen. Das Christliche kehrt wieder zurück. Zuerst im Schrecken vor dem T e u f e l . Dieser übernimmt jetzt in seinem Geiste die führende Rolle. Unter dem Einfluß der Furcht vor ihm, bald aus dem Bestreben, ihn zu ärgern, sucht er nun wieder seiner Lehre einen positiven Charakter zu geben. Die Umsturzversuche auf kirchlichem wie auf politischem Gebiete bestärken ihn auf diesem Wege. Er ist aber und bleibt ferne von jeder positiven Richtung. Seine Glaubensregel wird jetzt der T r o t z gegen die Sektierer auf der einen, gegen das Papsttum auf der andern Seite." Das ist also Luther als religiöser Charakter! Wie der Verfasser selbst über „das Bekenntnis vom Abendmahl" geurteilt, das hat er wieder ver-
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gessen, oder es kommt schließlich doch nicht in Betracht! Der Teufel und der Trotz haben Luther zu einer Art von Halbglauben zurückgeführt und den stürmenden Revolutionär zum Reaktionär gemacht! Der vierte Abschnitt (S. 290—357) kündigt sich unter der Aufschrift „Der Geist des Luthertums" an. Hier sollen nun endlich die Grundgedanken des Luthertums zur Darstellung kommen; denn der Verfasser bemerkt mit Recht (S. 290), daß er ein tieferes Verständnis für die ganze Bewegung bisher noch nicht erschlossen habe; dabei hat er nur die ursprüngliche Bewegung bis 1521 im Auge. Abgelehnt wird die Erklärung aus Luthers inneren Nöten und Kämpfen als „verspätete Philosophie über einen bereits geschehenen Schritt" (vgl. Denifle). Die Sorge um einen gnädigen Gott scheidet aus; es muß überhaupt alles Persönliche ausscheiden. „Was haben die Volkshaufen, die in den Kirchen hausen wie die Hunnen, mit der Sorge um einen gnädigen Gott zu schaffen?" Um die Triebfedern des Luthertums handelt es sich, welches nach S. 291 identisch war mit Hutten und Sickingen und mit denen, die „nur ein Bauchevangelium suchten". Diese Bewegung, die an stürmerischer Kraft nur mit dem Islam und der französischen Revolution verglichen werden kann, aber nur wirksam war im Zerreißen und Zersplittern, hat sich gleichsam zu ihrem Wahlspruch das Wort erhoben: Was Gott verbunden hat, das muß der Mensch auseinanderreißen. Auf allen Gebieten hat sie so gewirkt, weil sie g r u n d s ä t z lich das Natürliche vom Übernatürlichen getrennt hat. Damit kam sie dem allgemeinen Zug der Zeit entgegen; denn das Übernatürliche hatte bereits Schaden erlitten, längst bevor Luther auftrat. Halbe und Laue waren im Klerus weit verbreitet; der Gallikanismus, Humanismus und Nominalismus hatten dies bewirkt. Da die Theologie diese Elemente in sich aufgenommen hatte, liegt bei ihr ein sehr großer Teil der Schuld; sie liegt aber auch in dem
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übertriebenen Konservatismus vieler Theologen, die sich ruhig in ihren formalen Denkübungen weiter ergingen, während das Haus schon brannte. In erster Linie sind hier die nominalistischen Theologen verantwortlich zu machen, da das Luthertum zunächst aus dem Schoß des Nominalismus hervorgegangen ist (S. 297). Im Unterschied von ihren besseren Vorgängern hatten die jüngeren Nominalisten aus der philosophischen Frage nach den allgemeinen Begriffen eine Weltanschauung gemacht, in die sich alles fügen mußte. In dieser "Weltanschauung erscheint der menschliche Geist als Schöpfer und Herr der Dinge. Hieraus ergaben sich drei Hauptschäden: 1. das Verschwinden des Unterschieds zwischen Mysterien und Vernunftwahrheiten (der Gedanke an das Ubernatürliche tritt völlig in den Hintergrund), 2. das Verschwinden der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche hinter der Logik und Dialektik, 3. das Aufkommen eines dürren Formelwesens und eines leeren Kritizismus, ja eines baren Rationalismus und Skeptizismus. „Man versteht das Schelten Luthers, mit dem er seinem Haß gegen die Scholastik Luft macht." War doch dieser Nominalismus dasselbe — nur die Anwendung war noch nicht so erweitert — wie das, was sich heute als Positivismus, Individualismus, Phänomenalismus und Empirismus darstellt, bzw. auch als Kantianismus. Freilich, die meisten Nominalisten redeten noch nicht so unumwunden wie die heutigen; aber „Occam—Änesidemus, Karneades und Abälard in einer Person — baute die Lehre mit einer solchen Verwegenheit aus, daß er sich selbst genötigt sieht, den Verdacht der baren Skepsis oder der vollendeten Häresie mit der Ausflucht abzuwehren, es handle sich ja nur um Denkübungen" (S. 303). Weiß stellt nun die Hauptirrlehren der Nominalisten dar und markiert die ihnen eigentümliche, gefährliche Methode, sich zuletzt unter den Schutzmantel des Glaubens zu retten, nachdem sie die Schwierigkeiten für unlösbar erklärt hatten. „Der Verlaß auf den Glauben
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wird hier zu einem rein äußerlichen Notbehelf, mit dem die innere eigene Uberzeugung nichts zu tun hat, eine gute Vorschule für Luthers Glauben" (S. 307). Er zieht hier einfach die Konsequenz, indem er die „unschuldigen Denkübungen" im Ernst auf die Glaubenslehren anwendet. Plump und klotzig, wie er war (während seine nominalistischen Lehrer wie Aale waren), führte er, was er vom Nominalismus verstand, in die christliche Praxis ein und öffnete so der Häresie Tür und Tor. Natur und Übernatur auseinanderreißend und nicht mehr Kritik um der Kritik willen, sondern fürs Leben treibend (S. 309), zerreißt er alles Zusammengehörige nun tatsächlich. Das zeigt sich zuerst an seinem Kirchenbegriff. Luthers Kirche ist ein völlig zerriebenes Ding, eine nominalistische Zeremonie und nichts anderes. Er weist das Ubernatürliche kurzweg aus der "Welt heraus. Gott rettet nicht durch menschliche Vermittlung — das wäre unstatthafte Vermengung von Göttlichem und Menschlichem —, sondern „jeder muß allein auf eigene Rechnung und auf eigene Gefahr suchen, wie er mit Gott zurechtkommt". Das „homini homo deus" gibt es nicht mehr. Allen Ernstes wird der Versuch gemacht, sogar Luthers Lehre von Christi Person und Werk auf den Nominalismus zurückzuführen, ebenso seinen Widerspruch gegen die Autorität, die ja nur dort besteht, „wo anerkannt wird, daß Menschen zu Stellvertretern Gottes von Gott eingesetzt sind." Nominalistisch [!] ist es auch, daß jeder Sinn für den Glauben als Gehorsam verloren gegangen ist. Natürlich ist die ganze Sakramentslehre, soweit von einer solchen überhaupt geredet werden kann, nominalistisch, nicht weniger die subjektivistische Lehre von der Heiligen Schrift, die der Bekämpfung des Dogmas dienen muß; die Rechtfertigungslehre Luthers aber ist der Sieg des nominalistischen Subjektivismus. Sie bedeutet, „daß Gott allein alles, und zwar auf rein geistigem Wege, für den Menschen, statt des Menschen und mit jeglichem Ausschluß des Menschen
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zu leisten hat" (S. 327). „Christus allein unser Heil, nicht der historische Christus, sondern der im Glauben, und zwar ebenfalls nicht im historischen Glauben, sondern im subjektiven Glauben angeeignete und zurechtgelegte Christus, von unserer Seite aber nichts, kein Werk, keine Mitwirkung, sondern nur der Glaube, jenes rein innerliche Gefühl, mit dem das Herz sich heraussucht, was es aus dem Werk Christi Trostvolles brauchen kann — eine solche Rechtfertigungslehre konnte sich auch der Nominalist ohne Verletzung seiner Grundsätze gefallen lassen." Nachdem diese Umsetzung vollbracht war, „boten die übrigen Glaubenslehren keine Schwierigkeiten mehr. Die Glaubenslehren wurden zu Glaubensschöpfungen, die Dogmen aus Vorschriften für den Glauben Erzeugnisse des Glaubens. Der Glaube, der früher den Lehren der Offenbarung nachfolgte, ging ihnen jetzt voran und machte sich selbst seine Offenbarung" (a. a. 0.). Aber die relative Konsequenz, die Luther als nominalistischer Lehrer in dieser Tragödie bewährt hat, hat hier ihre Grenze. Als Eklektiker ist er auch vom Realismus abhängig. Der Wirklichkeitssinn des Nominalismus ließ diesen nicht leicht über die sichtbare Kirche hinwegkommen; daher übernimmt Luther von Wiclif und Hus die unsichtbare Kirche — nach Plato ist die Idee das wahrhaft Seiende, also ist auch die Idee der Kirche, d. h. die unsichtbare Kirche, die eigentliche. Nachdem Luther also als Nominalist das Christentum in eine Diesseitigkeitsreligion verwandelt hatte (zu der sich jeder für seine Person durch den subjektiven Herzensglauben vom Jenseits hinzudenken mochte, wonach er Bedürfnis empfand), und nachdem er die Kirche in Nationen und sodann in Atome aufgelöst hatte, rief er den Realismus zu Hilfe — freilich mehr unbewußt — und statuierte die Idee der Kirche, das gnostische Pleroma, als Kirche. Geholfen hat ihm freilich auch das nichts. Das Diesseits und Jenseits auseinanderreißend und Christentum und Kirche zertrennend, weil ihm die
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richtige Grundlage (nämlich die aristotelische Scholastik) fehlte, verlor er beides. Ohne Kirche dort und hier, mußte er es sich gefallen lassen, daß die Staatskirche oder vielmehr die pure Herrschaft des Staats seinen haltlosen Schöpfungen, die als nominalistische und als realistische barer Nihilismus zu werden drohten, über den Hals geworfen wurde. „Die Einführung des modernen Begriffs vom Staat ist das Ergebnis des nämlichen Realismus, durch dessen Anwendung Luther die Kirche vernichtet hat (S. 347). In einem ausführlichen Exkurs sucht der Verfasser noch nachzuweisen, daß der konsequente Realismus ebenso schlimm sei wie der Nominalismus; denn dieser echte Realismus wird stets zum puren Relativismus. Ob Zeus, ob Jahve, ob Odin, was liegt doch an den Worten! Wenn nur alle faßten, daß das Ewige von keinem gefaßt werden kann! Die Vorstellung, als ob es nur eine wahre Religion gebe, heißt diese selbst erniedrigen. Auch die beste Gestaltung des Ewigen wird immer nur verhältnismäßig die bessere sein. Jeder Versuch, das Ewige in kirchliche Formen, die Wahrheit in dogmatische Formeln zu bannen, kann nur mangelhaft ausfallen: Diese Lehre ist gar nichts anderes als der echte Realismus" (S. 351). Sie ist zunächst durch den „Protestantismus" im Gebiete der Wirkungen Luthers zurückgedrängt worden. „Aber der Protestantismus in seiner neuesten E n t w i c k l u n g ist, wenigstens auf dem theoretischen Gebiet, die Rückkehr zum Luthertum in seiner ursprünglichen Gestalt" . . . „Man braucht nur an die Bewegung zu denken, die Harnacks Buch über das Wesen des Christentums hervorgerufen hat. Selbstverständlich mußte sich alles, was noch protestantisch war, gegen dieses Buch erheben. War es ja die offene Erklärung, daß es dem Protestantismus ein Ende machen wolle. Aber wer hat auch das Luthertum in seiner ursprünglichen Gestalt besser geschildert als Harnack, wenn er es darstellt als eine Religion ohne Priester, ohne Opfer,
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ohne Gnadenstücke, ohne Zeremonien, eine rein geistige Religion? Er hat nur eines hierbei vergessen — er hätte noch hinzufügen sollen: ohne Dogmen. Und abermals, wer hat den Geist des Luthertums gründlicher erfaßt als abermals Harnack und seine Gesinnungsgenossen, wenn sie immer und immer wieder sagen, nach dessen Grundsätzen müsse man durch beharrliche „Reduktion" und beständige „Ausscheidung" aller der allmählich angesetzten Schalen, Hüllen und Mäntel und aller späteren geschichtlichen Zusätze, Niederschlage und Verdichtungen das reine „Wesen des Christentums" herauszudestillieren suchen? Sicher hat niemand den Kirchenbegriff Luthers oder, richtiger gesagt den von Wiclif und Hus, kurz den Grundgedanken des Realismus besser erfaßt und deutlicher dargestellt, als Harnack in dieser Ausführung. Ganz gewiß, sein Buch ist tödlich für den Protestantismus, aber es ist die Wiederaufweckung des unter seinen Zutaten verschütteten Luthertums" (S. 354). Die Konkordanz, die "Weiß zwischen dem ursprünglichen Luthertum und meinem Buche gewahrt, erfüllt mich mit sehr gemischten Empfindungen; aber darauf kömmt es hier nicht an. Es fragt sich, ob Weiß die ursprünglichen Gedanken des Luthertums auch nur annähernd richtig interpretiert und erklärt hat. Hier muß man sich allem zuvor über die Unklarheit beschweren, mit der die ganze Aufgabe erfaßt ist. In der Einleitung zu diesem Kapitel wird uns gesagt, daß es sich nicht um Luther, sondern um das Luthertum handle, und dieses Luthertum wird in beleidigender Weise mit den Volkshaufen, die in den Kirchen hausen und ein „Bauchevangelium" suchen, gleichgesetzt. Danach erwartet man in diesem Abschnitt eine genaue Untersuchung über die geistige Disposition der Massen, die so schnell die Lehre Luthers annahmen und das Luthertum bildeten. Allein darüber wird uns nichts mitgeteilt, vielmehr besteht das ganze Kapitel aus einer Analyse der Quellen, aus denen Luther seine Anschauungen gezogen hat. Also doch Luther
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und nicht das Luthertum! Lassen wir uns aber dieses quid pro quo — es war natürlich nicht zu umgehen — gefallen, so müssen wir unser höchstes Erstaunen ausdrücken, daß an die Stelle einer pünktlichen Untersuchung über Luthers Entwicklung bis 1517 und von 1517—21 eine ganz abstrakte Darstellung der angeblichen geistigen Zusammenhänge tritt.1) Die seltsame These, die ganze Entwicklung Luthers bis 1517 ginge ihn nichts an, weil ja das Luthertum erst 1517 aufgetreten sei, wird hier, wo es sich um die Genesis von Geist und Gedanken Luthers handelt, zur puren Unwissenschaftlichkeit, die doch nicht damit gedeckt werden kann, daß D e n i f l e die Selbstzeugnisse Luthers über seine Entwicklung für unglaubwürdig erklärt hat. Selbst angenommen, sie wären es, so kann doch kein verständiger Historiker über den Geist und die Gedanken Luthers in bezug auf ihre Ursprünge eine Untersuchung anstellen, ohne sich aufs ernsthafteste mit dem Luther bis 1517 zu befassen. "Weiß hat das für unnötig gehalten! Ob im folgenden Kapitel ein ernsthafter Versuch gemacht wird, dies nachzuholen, werden wir sehen; halten wir uns bis dahin an das Gebotene, so völlig unzureichend dasselbe auch von vornherein erscheinen muß. "Was uns geboten ist, erschöpft sich in dem Versuch, fast sämtliche Grundgedanken Luthers aus dem konsequenten Nominalismus und dem echten Realismus abzuleiten. Daß Luther auf das heftigste gegen die Scholastik zu Felde gezogen ist, wird ganz flüchtig wohl einmal erwähnt, spielt aber sonst gar keine Rolle. Nun ist es längst bekannt, daß trotzdem Luther — wie könnte es anders sein? — nicht nur hier und dort, sondern überhaupt von scholastischen Lehren abhängig gewesen ist, und D e n i f l e hat "Wichtiges zu dieser Erkenntnis beigetragen; aber das abstrakte und deduktive Verfahren, das gesamte ') Auch in dem im Jahre 1906 erschienenen Werke desselben Verfassers „Lutherpsychologie als Schlüssel zur Lutherlegende" fehlt jede wirkliche Untersuchung über die innere Entwicklung Luthers.
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Luthertum als eine Evolution des Nominalismus mit einem wiclifitisch-realistischen Zusatz darzustellen, ist methodisch unstatthaft — weil die These nicht am wirklichen Entwicklungsgang Luthers erwiesen, sondern als thema probandum vorausgesetzt wird — und daher völlig eindruckslos. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß manches hier zutrifft; aber "Weiß hat einfach nichts bewiesen. Denn wer es fertig bringt, Luthers Christologie für nominalistisch zu halten, wer mit solchen völlig verkehrten Allgemeinheiten kommt, Luther habe das Ubernatürliche und das Natürliche auseinandergerissen, wer behauptet, Luther kenne den Satz nicht, homini homo deus (als ob Luther nie gesagt hätte, ein Ohrist solle dem andern ein Christus werden!), wer endlich Luthers Rechtfertigungslehre — also hatte Luther doch eine solche in den Jahren 1517—21, siehe dagegen, wie anders es oben lautete! — für ein nominalistisches Schulprodukt erklärt, der hat damit den Boden der wirklichen G-eschichte und ebenso jede wirkliche Anschauung von Luther vollkommen verlassen und läuft einem Gespenst nach, das niemals existiert hat. "Weil "Weiß von vornherein darauf verzichtet, irgendein religiöses Element, sei es auch das geringste, für Luther anzuerkennen, und weil er als unverbesserlicher Scholastiker alles durch die aristotelische Schulbrille sieht — schließlich hängt Leben und Tod von der richtigen Erkenntnistheorie ab! —, ist er zu einer Zeichnung „des Geistes des Luthertums" gekommen, die wissenschaftlich einfach wertlos ist, von den unerträglichen "Wiederholungen derselben Gedanken, die schon im ersten Abschnitt reichlich ausgestreut waren, zu schweigen. Daß Frömmigkeit und religiöser Leichtsinn, Glaube und Unglaube eine "Welt für sich sind und nicht notwendig an irgendeine Philosophie angelehnt sein müssen, dieser G-edanke kommt dem Verfasser niemals. Daher fühlt er sich zu Untersuchungen darüber, wo Luther einfach aus den religiösen Erfahrungen heraus redet, und wo bei ihm die Theo-
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logie, wo die Philosophie einsetzt, überhaupt nicht aufgefordert. Auch das beachtet er nicht, ob das, was bei Luther mit Erkenntnissen nominalistischer oder realistischer Theologen zusammengestellt werden kann, nicht doch eine andere "Wurzel hat, was ζ. B. beim Kirchenbegriff unzweifelhaft der Fall ist. Er kennt nur einen liberalen, nichtsnutzigen Theologen Luther, der die bis zum Nihilismus entwickelte falsche Scholastik in Praxis umsetzt und einen unbändigen Haß gegen den Papst hinzufügt. Der fünfte Abschnitt (S. 358—474) trägt die Aufschrift: „Die Quellen des L u t h e r t u m s " ; aber was in ihm steht, könnte größtenteils ebensogut im vierten, im ersten, bzw. auch im zweiten Abschnitt gesagt sein. Die Anlage des Buches ist somit gründlich verfehlt. Wie dem Verfasser die Kunst der pünktlichen Einzeluntersuchung mangelt, so versteht, er es auch nicht, den Stoff wirklich zu disponieren. Er ist eben als Historiker Dogmatiker, und so ist seine Untersuchung nur scheinbar, ja nicht einmal scheinbar, eine historische. Als „Quellen des Luthertums" wird erstlich auf den germanischen Atavismus hingewiesen: indem der deutsche Nationalcharakter durch Luther das Christentum abwarf, trat der ungebändigte Germanismus wieder hervor; aber dabei blieb es nicht, vielmehr der deutschen Sucht, Fremdländisches anzunehmen, getreu, eignete er sich nunmehr im Nominalismus, Hussitismus, Grallikanismus und Humanismus die schlechten Produkte Englands, Frankreichs und Italiens an. Also kann von einem spezifisch deutschen Charakter des Luthertums keine Rede sein, außer in geographischer Hinsicht; es ist auch nichts Neues in der Geschichte, sondern eine der vielen Erscheinungen der Auflösung, bedeutender nur als ihr Endprodukt und Sammelpunkt. Dabei ist es wesentlich gleichgültig, was Luther Hussitisches, Gallikanisch.es usw. gelesen hat. Daß er im Bann dieser Bewegungen gestanden hat, ist offenbar; bei der Ausbildung von Irrlehren spielen häufig unbewußte Zusammenhänge eine große Rolle.
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Übrigens hat Luther nach seinem Bruch auch mit Bewußtsein und Absicht bei den älteren Feinden der Kirche Hilfe zu seinem Kampf gesucht. War er doch schon um seiner Q-eistesanlagen willen immer auf andere gewiesen; denn er war kein kalter Solipsist. Daher gab er zahlreiche "Werke älterer Häretiker mit Einleitungen heraus, so daß er allmählich „den G-eist aller Häretiker in sich aufgenommen hat" (S. 370). Übrigens bestätigt dies nur die alte Tatsache, daß man eine Häresie als Importware aus der Fremde einführen muß, um ihr Erfolg zu verschaffen. Nach dieser langen Einleitung zeigt Weiß nun erstlich, daß Luther die Hauptlehren Occams inbezug auf die Kirche übernommen habe, nämlich die schroffe Gegenüberstellung des geistlichen und weltlichen Regiments, die Einräumung von sehr großen Rechten in der Kirche an die Laien, die Auflösung des Begriffs der Kirchengewalt und -autorität in GHaubenssachen und die Auflösung der Universalkirche zugunsten eines Haufens von National- und "Winkelkirchen. Hieraus ergab sich die Einschränkung des Gebietes dessen, was zu glauben und was häretisch ist, und die Inanspruchnahme des individuellen Rechts der Prüfung und letzten Entscheidung in geistlichen Dingen. Dies alles entnahm Luther von Occam, und so blieb ihm nichts mehr übrig, als auch die bedeutungslos gewordenen Namen Kirche und Autorität einfach abzuschaffen und das allgemeine Priestertum aller Christen zu proklamieren. Als er dann sah, daß alles zerstört war, mußte er die weltliche Macht anrufen, um einigermaßen Ordnung zu schaffen. Das war nicht occamisch, wohl aber im Sinne des Marsilius. Occamisch aber war, nach Leugnung der Kirche und der damit gesetzten Zerstörung der Grundlagen des Glaubens sich auf die dem persönlichen Ermessen preisgegebene Heilige Schrift zurückzuziehen. Ebenso wie zu Occam verhielt sich Luther zu den Gallikanern: auch hier ist die Auflösung der Kirche die alles bestimmende Hauptsache, obgleich die Gallikaner auch
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realistisch bestimmt waren, was aber Luther bei der ihm eigenen philosophischen Unfähigkeit nicht störte. Übrigens war der Gallikanismus selbst kein geschlossenes System; er wurde aber durch zwei Elemente zusammengehalten, nämlich durch die Absicht, Ausgleiche mit den Gegnern der Kirche zu finden, und durch den Anti-Ultramontanismus. Weiß entwickelt nun zuerst die gallikanischen Kirchentheorien, soweit sie nominalistisch bestimmt waren (die Fülle der Gewalten liegt in der Kirche selbst, nicht im Haupte; Konzilstheorie; Majoritätstheorie; aristokratische Republik; der Papst als caput ministeriale der Kirche; Unsicherheit über den Primat; Steigerung der Rechte jedes einzelnen Bischofs; unmittelbares göttliches Recht der Bischöfe; im späteren G-allikanismus auch Laienvertretung im Kirchenregiment und Nationalismus, überhaupt Verteilung der Fülle der päpstlichen Rechte an andere Faktoren, zumal an die Professoren und Universitäten: Gelehrtendünkel und -herrschaft unter der Hülle der Ergebenheitsund Treue Versicherungen an den Papst). In Summa: das größte Unrecht des nominalistischen Gallikanismus bestand darin, daß er sich an der Lehre und der Autorität der Kirche vergriff; aber noch größeres beging er dadurch, daß er seine falschen Grundsätze in die kirchliche Praxis übertrug (S. 408). Sicher haben diese Gallikaner unter dem gläubigen Volk größeren Schaden angerichtet als die Lollharden und die Hussiten. Da begreift sich der allgemeine Abfall in der Reformation leicht. „Vom Gallikanismus hat Luther eine gründliche Verachtung der Kirche und eine ebenso tiefe Verachtung der Theologie und damit des von ihr gelehrten Glaubens zugleich gelernt" (S. 410). Die Gallikaner meinten zwar noch, die Autorität der Kirche trotz allem aufrechterhalten zu können; aber da sie jedes greifbare Subjekt, an dem diese Autorität hätte haften können, beseitigt hatten, war es nur konsequent, daß Luther auch die Autorität selbst in foro externo et interno beseitigte. Hierauf entwickelt
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Weiß die galvanischen Theorien, soweit sie realistisch bestimmt waren. Die Irrlehre, Christus habe die Tülle der Kirchengewalt der ganzen Kirche unmittelbar übertragen, kann eine nominalistische Grundlage haben; in der Regel aber hat sie eine realistische — die Idee der Kirche ist nicht nur von der Erscheinung zu trennen, sondern auch vor ihr da und ist das Entscheidende. Ebenso ist zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem, der auf ihm sitzt, zu unterscheiden usw. Diese platonischen Distinktionen ermöglichen es, unter der Hülle einer gehorsamen Sprache die schärfste Kritik an der kirchlichen Wirklichkeit und an dem faktischen Träger der Autorität zu üben. Nahmen doch manche realistischen Grallikaner sogar einen frühen Abfall der Kirche von ihrer Idee an und spielten diese himmlische Idee kräftig gegen die unter dem Papst stehende Kirche aus. Weiter kam man von hier zu der Zwei-HäupterTheorie: das Fundament der idealen Kirche ist Christus, der Papst ist das nur uneigentlich so zu nennende Haupt der Kirche auf Erden. Dann aber war nur noch ein Schritt — auch er ist geschehen — zu der Behauptung, daß Christus das Fundament der Kirche sei und daß das genüge. Indes soweit gingen doch nur wenige. Die Mehrzahl begnügte sich mit einem System der Zurückhaltung, der Zweideutigkeit und der Halbheit. Aus diesem System entwickelten diese Realisten „die gallikanischen Freiheiten". Die Kirche sollte durch sie ideal wiederhergestellt werden; sie sollten es zum Ausdruck bringen, daß, wenigstens für Frankreich, nur das „gemeine" Recht der Kirche gelte, nicht das der „Kurie" oder der „Kurialisten"; eben letzteres Recht galt ihnen als ein späteres, in der Urzeit der Kirche völlig unbekanntes, daher habe man es als Wust der Menschensatzungen abzutun, und deshalb der Name „Freiheiten". Dieser philosophisch - historische Grundzug des „Idealismus" hatte viel Bestechendes; auch ernste Männer huldigten ihm und sahen dabei nicht, was sie anrichteten,
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wenn sie das Schlagwort von der Reinigung, Reduktion und Vereinfachung der Kirche gegenüber Neuerungen und Äußerlichkeiten ausgaben. In Wahrheit „betrogen sie sich selber, indem sie sich den Gedanken einredeten: J e mehr Freiheit von den Satzungen des Papsttums, um so mehr Rückkehr zum reinen Christentum." Diese Realisten haben die verhängnisvolle Antithese geschaffen: „Kirche und Kurialismus"; Luther nahm sie auf unter dem Titel: „Kirche und Romanismus (Papismus)." Denn wenn man fragt, was Luther vom realistischen Q-allikanismus genommen hat, so muß man einfach antworten: Alles (S. 426), ja er zieht den Hauptbeweis für sein Recht der „Reformation" aus der nur gesteigerten These der Realisten, daß in die Kirche seit langem ein schweres Verderben eingezogen sei und daß der Romanismus daran schuld sei; an eine Verbesserung sei nicht mehr zu denken, ausrotten und wegschaffen gilt allein; Christus als einziges Fundament und einziger Inhalt der Kirche samt der Heiligen Schrift ist aufzurichten; der Papst ist abzutun. „In diesen Sätzen, zumal in der ausschließlichen und so absichtlich gewaltsamen Betonung des "Wortes: ,Christus allein und nichts außer Christus', haben wir den Beweis dafür, daß Luther den Grallikanismus, soweit er Realismus war, vollständig aufgenommen, freilich auch in einer Art weitergebildet hat, wie dieser niemals gedacht hatte" (S. 428). Denn der Realismus ließ wenigstens doch die Idee einer sichtbaren, irdischen Kirche bestehen. Um diese auch noch fortzuschaffen, mußte ein neuer Führer herbeigerufen werden. Luther fand ihn in dem Erzrealisten "Wiclif, wenn er ihn vielleicht auch nur aus Hus kannte. "Weiß gibt nun eine sehr ausführliche Darstellung der platonischen Theorie des „kalten, eisernen" Theologen "Wiclif — „der die göttlichen Ideen wie Ziegelsteine dachte, aus denen das Himmelsgewölbe zusammengesetzt sei und der seine unsichtbare Kirche, zwar unsichtbar für unsre Augen, viel massiver gedacht hat als
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irgendein steinernes Kirchengebäude auf Erden" (S. 430f.). Nicht eine Vergeistigung der Religion bedeutete diese von Luther übernommene Lehre Wiclifs, sondern nur eine Entfernung der Religion aus dem irdischen Leben. Immerhin darf man den Einfluß von Hus (Wiclif) auf Luther nicht übertreiben, aber die Bekehrung Luthers zum krassen Realismus ist sein Werk, und jedenfalls hat der Reformator von ihm direkt oder indirekt den Begriff der rein unsichtbaren Kirche, die Erbitterung gegen den Apostolischen Stuhl und den Haß gegen die Mönche übernommen, wenn sie bei ihm auch noch andere Quellen hatten. Besonders die maßlose Kritik am Papste (die Entgegensetzung von Christus und Papst, das Antichristentum des Papstes, Christus als einziges Haupt der Kirche, der Kainscharakter der Papstkirche), wie sie "Wiclif geübt, stimmt mit der Luthers so frappant überein, daß ein Zusammenhang bestehen muß. Bei beiden ist der Haß gegen die Kirche der Maßstab für die Liebe zu Christus, die Entfernung von der Kirche der Maßstab für die Annäherung an Christus (S. 445). Und wenn ferner der konsequente Realismus in Wiclif das Christentum als sinnenfällige Religion fast in jeder Richtung bekämpft und alle Vermittlungen abtut — durch dieses Verdikt erweist er sich im Vergleich mit dem Nominalismus als der schlimmere Q-egner —, so findet sich das bei Luther genau so wieder. Die ganze Heilslehre fiel damit dahin; aber der Realismus beider Männer nannte das „Dienst Gottes im Geist und in der Wahrheit", „Religion der reinen Innerlichkeit und der freien Geistigkeit", kurzweg „Freiheit". Konsequent hieß es dann: „Je weniger Gottesdienst, desto besser", und auch dieses Wenige so einfach und so nüchtern als nur möglich. Aber so gewiß diese gemeinsamen Lehren Wiclifs und Luthers einen Triumph des Subjektivismus und eine Vernichtung der Objektivität darstellen — Luthers objektive Heils Wahrheiten sind nicht wahrhaft objektiv, sondern objektiv ist nur die Idee, die
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ihm der Realismus als das wahrhaft Seiende darstellt (S. 457) —, und so gewiß deshalb der Gläubige, wie Luther ihn will, in Wahrheit kein Gläubiger ist, sondern ein erneuter Schöpfer der Idee auf dem Wege subjektiver, rein innerlicher Zurechtlegung: so gewiß hat hier Luther noch einen Schritt weiter als Wiclif getan. Erst er sagt, daß der Mensch durch den Glauben die Gottheit in sich selber schafft, dazu seinen Christus, seine Gerechtigkeit und somit seine eigene Religion. „Luther nennt das die Rechtfertigung durch den Glauben. Er hätte besser getan zu sagen Rechtfertigung auf dem Wege rein geistiger, subjektiver Aneignung oder noch besser, Rechtfertigung durch die Schöpfung einer eigenen persönlichen Religion. Dann wären viele Mißverständnisse erspart und viele Streitigkeiten vermieden gewesen. Es war ein Mißbrauch, den Luther mit dem Wort Glauben trieb" (S. 459). Diese Lehre vom Glauben ist eine Frucht des Realismus, jedoch ein Lehrpunkt, in welchem Luther über seine Meister hinausgegangen ist (S. 460)." „Diese Lehre ist auch die einzige, die dem Luthertum e i g e n ist, die einzige, die ihm w e s e n t lich ist, die einzige, die es nicht preisgeben kann, ohne sich selber aufzugeben. Es hat schon vieles von Luther fahren lassen und wird noch mehr fahren lassen, diese Lehre nennt es nicht umsonst den articulus stantis et cadentis ecclesiae, an ihr hält es fest für immer, solange es selber steht, natürlich nicht dem Wortlaut, wohl aber dem Sinne nach — eine rein subjektive Idealreligion mit christlichen W o r t e n und christlichem Gepräge, oder, wie man kürzer zu sagen pflegt, der christliche Idealismus (S. 461). Man nennt es jetzt „Wesen des Christentums": das ist in der Tat das Wesen des Luthertums. Gegenüber den bisher besprochenen Elementen ist der Humanismus als Quelle des Luthertums minder bedeutend, aber doch nicht zu unterschätzen. Die ordinären Humanisten, alle ruhigen Bürger mit Schrecken erfüllend und
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überallhin Räude und Ungeziefer verbreitend, waren Herolde der öffentlichen Meinung, zugleich ihre Knechte, Büttel und Laufburschen. Als Schöpfer der öffentlichen Meinung richteten sie sich hauptsächlich gegen die Priester und Theologen und suchten alles Kirchliche und Heilige lächerlich zu machen; zu einem systematischen Feldzug fehlte es ihnen an Bildung. Der älter gewordene Luther kam ihnen fast gleich, erwies sich so unedel wie der niedrigste unter den Humanisten und stachelte die rohen Instinkte des gemeinen Volkes mit vollem Bewußtsein auf. „Insofern muß man sagen, daß er, wenn auch nicht in der Form, schlimmer ist als der Humanismus in seiner schlimmsten Gestalt" (S. 465). Es gab aber auch einen höheren, philosophischen Humanismus; „Natur, Mensch, Ich" war seine Losung. Daraus ergab sich ein Rationalismus, für den es keine Grenze gab, am wenigsten die des Dogmas, ferner die Idee der natürlichen Religion (Deismus), eine christliche Philosophie = Laienreligion und endlich ein schrankenloser Subjektivismus. Auch mit dieser Richtung hat Luther Zusammenhänge, wenn auch sein subjektivistischer Realismus diesen Humanisten gegenüber den jenseitigen Christus als ideale Wirklichkeit festhielt. Aber indem er den Menschen nicht nach oben steigen ließ, sondern Christus durch subjektive Anpassung nach unten zog, „hat er den l e t z t e n Zweck des Humanismus, die volle Verdrängung der J e n s e i t i g k e i t s r e l i g i o n und die ausschließliche Gelt u n g der D i e s s e i t i g k e i t s r e l i g i o n vorbereitet und durchführen helfen. Und das ist die eigentliche Bedeutung des Luthertums und der Reformation überhaupt, die Vermenschlichung des Göttlichen im Gegensatz zur Vergöttlichung des Menschlichen" (S. 469 f.). Schließlich ist aber nicht zu übersehen, daß Luther, abgesehen von den nachgewiesenen Quellen und Zusammenhängen, verschiedene Eiiizellehren aus verschiedenen Quellen (Goch, Wesel, Wessel usw.) entlehnt hat.
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Der Verfasser beendigt diesen Abschnitt mit einer Zusammenfassung seiner Untersuchungen in vier Hauptergebnissen über das Luthertum (S. 473 f.), die wir hier nicht zu wiederholen brauchen, und schließt daran noch einen Schlußabschnitt, „Die W i r k u n g e n des Luthertums" (S. 475—502), der aber in die Gegenwart führt und hier daher unberücksichtigt bleiben muß. Nur soviel sei erwähnt, daß er auch hier von dem Unterschied „Luthertum und Protestantismus" ausgeht und in der Gegenwart die fortschreitende Auswirkung des echten Luthertums im Gegensatz zum Protestantismus der altgläubigen evangelischen Kirchen erblickt. Unstreitig ist der Abschnitt über „die Quellen des Luthertums", den wir zuletzt betrachtet haben, der wertvollste des Buchs. Was über den Nominalismus, den realistischen G-allikanismus und über Wiclif ausgeführt ist, beruht auf wirklichen Studien. Allein so gewiß Luther und das Luthertum — zwei Begriffe, die auch in diesem Kapitel recht unklar durcheinander wogen — in irgendwelchem Maße von diesen Faktoren bestimmt gewesen sind, so wenig hat auch hier der Verfasser dazu getan, um uns darüber zu belehren, wo nun wirklich diese Einflüsse einsetzen. In dieser Hinsicht bleiben wir, wenn wir uns nicht mit Allgemeinheiten begnügen wollen, so klug wie zuvor. Der Verfasser hat die e i g e n t l i c h e A u f g a b e kaum in Angriff genommen, g e s c h w e i g e gelöst. So urteile ich nicht etwa als protestantischer Historiker; ich darf mit Bestimmtheit annehmen, daß auch umsichtige katholische Historiker derselben Meinung sein werden. Ferner aber ist auch in diesem Abschnitt der Kapitalfehler zu betonen, daß Luther und das Luthertum genetisch behandelt werden, ohne daß von ihren religiösen Tendenzen und ihrem Glauben je ernsthaft die Rede ist. Eineine schwere Anstöße, die die Ausführungen so zahlreich bieten, hervorzuheben, ist kaum möglich. Das Problem, ob das germanische Element in Luther in Betracht kommt, wird im Handumdrehen
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mit einer für Luther und für die deutsche Nation gleich beleidigenden Wendung gelöst. Ob das „Fremdländische" im Nominalismus, G-allikanismus und Humanismus überhaupt irgendeine Rolle in bezug auf die Rezeption bei Luther und in Deutschland spielt, darf man mit allem Fuge fragen. Der Verfasser schreibt ihm a priori eine große Bedeutung zu. Die Deutung der Tatsache, daß Luther sich gern auf Vorgänger berufen hat, ist ebenfalls ganz fragwürdig, die Tatsache selbst aber nicht so rund, wie "Weiß annimmt. Daß Luther von den nominalistischen Q-allikanern die Verachtung der Theologie gelernt haben soll, ist höchst auffallend. Die Behauptung, daß Luther (durch Hus) ein krasser Realist geworden sein soll, ist neu und nicht bewiesen; dasselbe gilt von der These, Luthers Kirchenbegriff sei platonisch-realistisch zu verstehen. Aber auch alles, was in bezug auf Luthers reinen Spiritualismus durch Abtun alles Sinnenfälligen und aller Vermittlungen in der Religion von Weiß behauptet wird, ist ganz einseitig und kann fast aus jeder Schrift Luthers widerlegt werden. Dennoch liegt hier eine gewisse Stärke des Buchs. Das Einzige, wofür Weiß bei Luther eine Art Verständnis zeigt, ist Luthers Lehre von der geistigen und religiösen Freiheit. Schon daß Weiß sie so stark hervorhebt und von ihr nicht loskommt, ist bedeutungsvoll, und ich wünsche deshalb, daß unsere protestantischen Altgläubigen das Buch lesen mögen. Freilich wird das Verständnis für diesen G-rundtrieb Luthers bei Weiß aufs schlimmste dadurch beeinträchtigt, daß er sich Religion ohne Heteronomie, Objektivität ohne Autorität, überhaupt nicht zu denken vermag und daher bei Luther alle religiösen und objektiven Elemente einfach streicht, um den reinen Luther zu behalten, der sich seine Religion selbst schafft; denn das ist das Α und Ο in dieser Darstellung: Luther war in keinem Sinne ein religiöser Charakter, sondern ein Epigone ungebundener Geister, deren Hervorbringungen er ins Leben übergeführt und zu Elementen eines großen Umsturzes ge-
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macht hat, weil sein. "Wille stärker und sein Freiheitsstreben zügelloser war als das ihrige. Lohnte sich bei solchem Mißverständnisse des Charakters und der Absichten Luthers ein so ausführlicher Bericht? Ich glaube doch; denn dieses Buch wird als „Denifle Bd. 2" nicht nur, wie ich vermuten muß, von Katholiken (und Protestanten) viel gelesen werden, sondern es hat auch einen zwar historisch nicht geschulten, aber kenntnisreichen Mann zum Verfasser, dem es mit jeder Zeile Ernst ist, der also auch verdient, daß man versucht, ihn anzuhören. — Wie groß ist doch der Riß, der durch unser deutsches Volk geht, wenn Deutsche Luther so zu sehen vermögen wie Weiß und völlig blind sind gegenüber Luthers wirklichen Nöten und seinen wirklichen Kräften und Zielen! Weiß hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich mit anderen Anschauungen über Luther und seinen Entwicklungsgang irgendwo auseinanderzusetzen; er streift sie kaum. Er ist also seiner Sache und seiner Methode ganz sicher. Aber solange in der Geschichtsschreibung noch die Pflicht gilt, die Entwicklung einer Persönlichkeit oder einer Bewegung an ihr selbst zu studieren, nicht aber einfach zusammenzustellen, was auf sie Einfluß gehabt haben kann oder hat, und nun endgültige Schlüsse zu ziehen, so lange wird das Werk von Weiß als ein völlig mißglückter Versuch gelten. Kaum minder schlimm aber ist das große Schweigen über das Papsttum des 15. Jahrhunderts im Buch. Nach Weiß hat Luther die Kirche in eine platonische Idee verwandelt. Das ist unrichtig; richtig aber ist, daß Weiß selbst in seinem Werk nur ein „ideales" Papsttum in den geschichtlichen Ansatz gebracht hat, weil das wirkliche Papsttum, wie es um 1500 war, nicht präsentiert werden durfte. Das ist auch ein Piatonismus, aber ein ganz perverser! Wann werden wir von katholischer Seite eine Geschichte der deutschen Reformation und Luthers
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5. Pater Denifle, Pater Weiß und Luther (1909)
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erhalten, wie sie Kamp schulte in seiner Calvin-Biographie geschrieben hat! Wie fruchtbar könnte dann die wissenschaftliche Arbeit werden! "Wie vieles hätten uns katholische Historiker zu sagen! Aber diese Darstellung ist nur eine finstre und unfruchtbare "Wolke, aus der lediglich die Erkenntnis aufblitzt, daß Luther sich selbst und seine Bewegung auf den Boden der Freiheit und des inneren Erlebnisses gestellt hat. Das Buch schließt (S. 495) mit dem Satze: „Das wichtigste Ergebnis dieses Buches ist der geschichtliche Erweis für die Wahrheit, daß die Rückbildung des P r o t e s t a n t i s m u s zum Luthertum den Sieg der modernen Ideen fördert, und daß der sog. Modernismus in eben dem Maße zunimmt, in dem das ursprüngliche Luthertum wieder zum Durchbruch kommt." Dieses Zugeständnis ist zu groß, als daß wir es einfach annehmen könnten — timeo Danaos et dona ferentes —; aber in einer bescheideneren Form und mit den nötigen geschichtlichen Differenzierungen ist es eine Wahrheit·, die einzige, die dieses Buch in bezug auf Luther enthält! B e w i e s e n hat der Verfasser freilich auch sie nicht. In einem Anhang setzt sich Weiß mit der RömerbriefVorlesung Luthers (1515/6), die Ficker soeben in einer musterhaften Ausgabe veröffentlicht hat, auseinander. Im allgemeinen findet er nichts, was ihn zu Änderungen in seiner Auffassung veranlassen könnte. „Persönlich war Luther um den Beginn des Jahres 1516 nicht mehr katholisch; seine nominalistischen (!) Ansichten über Sünde, Glauben und Gnade hatten ihn bereits zum vollen Widerspruch mit der Kirche gebracht." Das ist eine sehr kühne Behauptung. Dann wird noch einmal die ganz unklare Unterscheidung: „Luther und das Luthertum" vorgetragen, weil der Kommentar doch zu deutlich auf die Bedeutung der inneren Verfassung und Entwicklung Luthers für die ganze Bewegung verweist, von der Weiß in seinem Buche keine Notiz nehmen wollte. So erinnert der Verfasser noch
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in diesen Schluß worten daran, daß er sich, ein „ursprüngliches Luthertum" zurechtgelegt hat, welches beliebig bald als die Quintessenz der Predigt Luthers, bald als ein Luthertum invito vel nescio Luthero, bald als eine Rotte von Bauchdienern und Kirchenstürmern vorgestellt werden kann.
Die Lutherbiographie Grisars. Dieses umfangreiche "Werk1) aufmerksam durchzulesen, ist keine leichte und vor allem keine anmutige Arbeit. Es schildert nicht Luthers Leben im Zusammenhang mit seiner Zeit als Geschichte seines "Werks (Reformationsgeschichte); es ist auch nicht der erste Band einer abgerundeten, in allen Teilen gleichmäßig ausgearbeiteten Biographie, sondern es ist in der Hauptsache eine an einem biographischen Faden aufgereihte Sammlung von ζ. T. sehr weitschichtigen Einzeluntersuchungen über Luthers Persönlichkeit und Entwicklung. Diese Einzreluntersuchungen haben aber nicht die Quellen zu ihrer direkten Grundlage, sondern richten sich zunächst auf die Urteile über die Quellen, wie solche in den letzten Jahrzehnten in beiden kirchlichen Lagern hervorgetreten sind. Durch dieses Medium wird der Leser dann auch an den Stoff selbst herangeführt. Ein solches Verfahren ist an sich nicht unstatthaft, ja es läßt sich durch die besondere Lage, in welcher die Beurteilung Luthers zurzeit sich befindet, rechtfertigen; aber wenn über die Untersuchungen nun das Gewand der Biographie geworfen wird, so entsteht eine Stilmischung, die nicht nur die Lektüre eines solchen "Werks erschwert, sondern auch die Biographie aufs ernstlichste gefährdet, weil alles das zu kurz kommt, was nicht Gegenstand der Kontroverse ist. Ich müßte eine lange Liste aufstellen, wenn ich alle Desiderata, welche dieser erste Band trotz seiner 656 Seiten übrigläßt, auf*) Hartmann Grisar, S. J.: L u t h e r . (3 Bände) I. Band: Luthers Werden. Grundlegung der Spaltung bis 1530. Freiburg i. B., 1911.
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zählen wollte. Bibelübersetzung, Ordnung des G-ottesdiensts, Bekenntnisbildung, erbauliches Wirken Luthers usw., auch Hauptaktionen, wie Worms und Augsburg — alles dieses wird nur gestreift, während man ζ. B. über Luthers Freiheitslehre 60 Seiten lesen muß (S. 511—571). Wie Orgelpfeifen verschiedenster Größe und bunt gemischt stehen die Untersuchungen der „Probleme" nebeneinander. Das ist die Art der katholischen Geschichtsschreibung und speziell die des Ordens, dem der Verfasser angehört. Sie ist immer in Gefahr, die Einheit und eigenwüchsige Größe der gegebenen Erscheinung aufzuheben und eine lange Reihe von Prozeßurteilen nach anstrengenden Verhören an ihre Stelle zu setzen. Der Geschichtsschreiber sitzt gleichsam im Beichtstuhl, fungiert als Richter und ladet den Leser ein, als Auskultator neben ihm Platz zu nehmen. Wie lauten nun die Urteile? Allem zuvor muß man sagen: der größte Teil der empörenden Urteile, die Denifle, sei es auf Grund leichtfertig hingenommener Legenden, sei es durch böswillige Exegese Lutherscher Worte, sei es durch willkürliche Konfrontationen und Kombinationen gewonnen hat, wird hier widerlegt. Teils stillschweigend, teils direkt wird aber auch der Weiß sehe „Luther" widerlegt, der zwar anders, aber nicht besser war als der Deniflesche. Weiß stellte alle „Häresien" des 14. und 15. Jahrhunderts vom Atlantischen Ozean bis zu den böhmischen Wäldern zusammen, um dann zu versichern, Luther sei eine complexio derselben und gehe restlos in ihnen auf. Den Beweis, daß alle jene Häresien wirklich auf Luther eingewirkt haben, blieb Weiß dabei schuldig. Widerlegt erscheint endlich durch Grisar auch das vulgäre katholische Lutherbild in vielen Zügen. Daß Luther ein „Genie" war, wird anerkannt (S. 247, 299, 330), ebenso die hinreißende Kraft seiner Sprache, seine Originalität, seine „singuläre Uberreligion" (S. 358) und manches andere Gute. Also hätten wir jetzt, wenn auch mit formalen Schwächen
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behaftet, die katholische Biographie Luthers, die wir wünschen müssen und dürfen? Leider nicht; denn so sehr der Verfasser von seinem Standpunkt nach Unparteilichkeit gestrebt hat, so vieles läßt er in dieser Hinsicht noch zu wünschen übrig. G-ewiß, er hat zahlreiche katholische Vorwürfe für immer widerlegt, aber erstlich hat er nur selten angegeben, wem er die Widerlegung verdankt — den zwingenden NachWeisungen protestantischer Forscher, namentlich "W. "Walthers (1906), hat er meistens nachgeben müssen—; zweitens endigen nicht wenige seiner Untersuchungen mit dem Schlußsatze: „Freigesprochen wegen mangelnder Beweise", und lassen so einen Stachel zurück, den der Verfasser nach der Lage der Dinge in der Regel nicht bestehen lassen durfte; drittens wird an zahlreichen Stellen die Kontroverse nicht zu Ende geführt, sondern es wird auf die folgenden Bände verwiesen, so daß der Leser nachträglich doch noch auf Überraschungen gefaßt sein muß und den quälenden Argwohn zurückbehält, der Verfasser habe noch etwas Schlimmes gegen Luther in petto; viertens endlich zeigt G-risar an einigen Stellen, namentlich aber bei der Behandlung des „Turm-Erlebnisses" Luthers, noch Reste der katholisch-vulgären Kampfesweise. An sich ist es für jeden, der nicht für Kinder oder für Buben schreibt, ganz gleichgültig, in welcher Lokalität Luther einen bestimmten Gedanken gefaßt hat. Die Art aber, wie der Verfasser die Frage der Lokalität zu einer Kapitalfrage gemacht hat (S. 307 ff., 316 ff., 323 ff.) um dann darauf zu bestehen, der Gedanke sei Luther auf dem Abtritte gekommen, ist ein schlimmes Stück. Bemerkt sei dabei, daß die Ergänzung „auf dies CL" zu „auf dieser Cloake" (im Bericht Schlaginhaufens) an sich (trotz der späten Angabe Kaspar Khumers) sehr unwahrscheinlich ist und die Beobachtung gegen sich hat, daß bei S c h l a g i n h a u f e n der notwendige Satzteil „über jene "Worte [des Römerbriefes spekulierte]", der beim zweiten und dritten Zeugen sich findet, fehlt,
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5. Die Lutherbiographie Grisars (1911)
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wenn man ihn nicht eben in der Abkürzung „auf dies Cl." zu suchen hat. Sehr wahrscheinlich aber hat man ihn hier zu suchen; denn die Abkürzung läßt sich am besten also ergänzen: „(Diese Kunst hat mir der spiritus sanctus) auf dies C a p i t u l u m (eingegeben)". Luther hat vom Turm und vom Hypokaustum im Zusammenhang mit der Römerbrief-Stelle gesprochen. Da Hypokaustum ein gelehrtes, nicht allen verständliches "Wort war und „das geheime Gemach" in seiner Nähe lag, so ist dieses dafür eingesetzt worden, lediglich um die Lokalität im allgemeinen zu bezeichnen („Wo der geheime Ort der Mönche war"). Aber wenn es auch anders wäre, was liegt daran? "Wieviel aber liegt umgekehrt daran, daß ein ernsthafter Gelehrter heute noch darauf G-ewicht legt, Luther habe den Hauptgedanken seiner reformatorischen Predigt an einem unreinen Orte gewonnen! Augenscheinlich setzt er voraus, seine Leser befänden sich noch in derselben geistigen Verfassung, in der die Orthodoxen des 4. Jahrhunderts waren, als sie die Kunde von der Lokalität empfingen, in welcher Arius vom Tode ereilt worden ist! Noch manches andere fällt auf. Der Verfasser geht zwar nicht an den herrschenden schlimmen Zuständen in der Kirche, besonders in Rom, stillschweigend vorüber, sondern erwähnt sie ziemlich häufig; aber daß er sie in gebührender "Weise zum Verständnis der Lutherschen Reformation geltend macht, daran fehlt viel. "Weil — nach Gr is ar — die katholische Kirche den richtigen Glauben, d. h. die richtige Theorie hatte und hat, so ist in seinen Augen jede durchgreifende Reformation eo ipso nicht nur unstatthaft, sondern schließlich sind es auch nur „ t r ü g e r i s c h e Vorwände" (S. 266), die Luther aus der schlechten Praxis zugunsten seines Unternehmens genommen hat. So gewiß jene Position das gute Recht des Verfassers auf dem katholischen Standpunkt ist, so wenig war er zu dieser Stellungnahme genötigt. Dasselbe gilt auch von dem Urteil über
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Luthers Frömmigkeit. An einigen Stellen nimmt der Verfasser einen Anlauf, sie anzuerkennen; aber regelmäßig erfolgt die Zurücknahme, wenn auch nicht immer in so unzweideutigen "Worten wie bei der Kritik der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen": „Dergleichen frommklingende Stellen", schreibt G-risar, „die nicht selten sind, müßten, um tief zu wirken, auf einem nachhaltigen theologischen Fundamente ruhen. Sie stehen aber bei Luther in der Luft und haben deshalb nur etwas Täuschendes und Verführerisches" (S. 353). In dem Katholiken spricht hier der Intellektualist, der die Frömmigkeit stets und ausschließlich als Exponenten der korrekten Lehre beurteilt. Diese dominikanische Enge des Urteils beherrscht das ganze Werk und läßt dasselbe dem Werke D e n i f l e s doch sehr verwandt erscheinen, zumal da sich G-risar in allen Kapiteln als korrekten Thomisten gibt — man sollte denken, ein Mitglied der Gesellschaft Jesu müsse gerade hier einen freieren Blick bewähren können — und vom Nominalismus eigentlich nur Schlimmes zu erzählen weiß. Ganz wie D e n i f l e bedauert es Grisar, daß Luther den Thomas nicht oder schlecht gekannt hat und verspricht sich nachträglich einen anderen Entwicklungsgang Luthers, wenn er thomistische Studien gemacht hätte. Aber was Luther bei Thomas finden konnte, das fand er ja wesentlich bei Augustin; trotzdem aber ging er seine eigenen Wege. Hat er aber Augustin vielfach mißverstanden — und gewiß hat er das —, so hätte er auch Thomas „mißverstanden" und die prinzipielle Kritik an den herrschenden kirchlichen Zuständen nicht aufgegeben. Zum „MißVerständnis" aber noch ein kurzes Wort: Augustin, die katholische Kirchenlehre, Tauler, schließlich auch Occam — alles ist von Luther miß verstanden worden! So steht er als theologischer Stümper da, der keine Theorie korrekt wiederzugeben vermocht hat! Das ist in gewissen Grenzen richtig, aber eine untergeordnete Sache! Mangel an wissenschaftlicher Überlegung und eine unlogische Veranlagung
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mag man an Luther mit Recht tadeln; aber seine Aufgabe war es nicht, die Kirche über oder aus Augustin, Tauler usw. zu belehren. Seinen Geist brachte er an Augustin, Bernhard, Tauler usw. heran, und die Theorie, die er bekämpfte, war korrekt und richtig aus der P r a x i s der Kirche abgelesen. Wendet man aber ein, daß die geschriebene kirchliche Theorie anders lautete, so zeigt sich das Recht Luthers, diese mit jener zu vertauschen, in der Tatsache, daß die dogmatische Theorie der katholischen Kirche es bis auf den heutigen Tag nicht vermocht hat, die schlechte Praxis nachhaltig zu korrigieren bzw. abzutun. "Warum nicht? "Weil sie die K e i m e der schlechten Praxis selbst enthält. „"Wissenschaftlich" betrachtet, hat sich Luther viele Fehler zuschulden kommen lassen; aber mit der historischen "Wissenschaft, wenn man sonst nichts besitzt, schafft man in der Kirche keine Reinigung. Luther ging auf das W e s e n der Religion zurück, um die Christen vom „Religions wesen" zu befreien und das Einfache und Große ans Licht zu stellen. Dabei hat er aus der Geschichte seltsame Eideshelfer für sich zitiert, in die er hineinlas, was er hinzubrachte. Aber was liegt an diesen historischen Irrungen gegenüber der Frage, mit wem es die Seele zu tun hat, wo sie Kraft findet und wie die Christenheit die Last des römischen Imperators, der sich für den Stellvertreter Christi ausgibt, und die Sakramentsmagie los wird? Nicht die scholastischen Systeme, an denen man Luthers Lehren jetzt immer mißt, bilden den realen und ideellen Hintergrund seiner Konzeptionen, sondern die vulgäre Praxis der Kirche und die Tyrannei Roms. Was nun die Stadien der Entwicklung Luthers betrifft, wie G-risar sie zeichnet, so kann ich ihm in vielen Punkten beistimmen. Auch nach ihm ist die Antithese gegen die Werkgerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit der Ausgangspunkt gewesen, und in diesem Zusammenhang wird von Gl·, der Zank und Kampf mit den „Observanten" im Augustiner-
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Orden meines Erachtens richtig hervorgehoben. Hier liegt ein Fortschritt der Forschung vor, wenn auch die Akten noch nicht geschlossen sind.1) Nicht beizustimmen aber vermag ich dem Verfasser in der scharfen Unterscheidung der Imputationslehre einerseits und des „Fiduzialglaubens" und der Heilsgewißheit andrerseits. Gh\ glaubt das Jahr, ja fast den Monat angeben zu können, in denen Luther diese Konzeptionen — seine ganz originalen, wie GL bemerkt — gewonnen hat (Winter 1518/9), während er die Imputationslehre längst besessen habe. Mir scheint, daß der Verfasser auch hier dem Fehler verfallen ist, einen religiösen Gedanken erst zu bemerken, wenn er in strenger theoretischer Fassung auftritt. Läßt sich denn eine strenge Imputationslehre denken ohne das Komplement des „Fiduzialglaubens", und besitzen wir nicht lange vor dem Winter 1518/9 starke Zeugnisse, daß Luther in seinem Christus freudige Gewißheit gewonnen hatte? G-ewiß ist der Römerbrief-Kommentar eine große Enttäuschung, wenn man schon in ihm die Lehre in klarer Ausprägung finden will, die Luther seit 1519 vertreten hat, und die in ihm vorgetragenen Gedanken — wogend, stürmisch und nicht selten in Abgründe führend — sind unter systematischen Gesichtspunkten recht unbefriedigend. Aber der unerbittliche Ernst der verinnerlichten Religion lebt in diesem Kommentar und die Voraussetzungen für die Heilsgewißheitslehre sind da. Daß der Kampf gegen die Werkheiligkeit und Selbstgerechtigkeit ein positives Motiv bei Luther fordert, erkennt auch Grisar an, aber statt es in einem religiösen Motiv — ein solches wird überhaupt nirgendwo rund anerkannt — zu finden, schiebt er einfach die Selbstüberhebung, das Selbstgefühl und den ketzerischen Hochmut ein (s. S. 92, 97, 117 f.). Das ist ein trauriges Manko und wird durch die Tatsache widerlegt, daß sich anfangs ein besonderes ') Bereits haben K a w e r a u und S c h e e l gezeigt, daß Grisar die Bedeutung jenee Streits mindestens übertrieben hat.
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Selbstgefühl bei Luther gar nicht findet. Später allerdings hat man nur die "Wahl, ihn etweder für einen Mann zu erklären, der vom Größenwahn besessen war, oder anzuerkennen, daß sein Selbstgefühl seiner Aufgabe und seiner Leistung entsprochen hat. G-ott gegenüber blieb er demütig; allerdings schuf sich diese Demut eine Sprache, die die mönchisch Devoten in Schrecken setzen mußte. S. 341 und sonst findet sich bei Grrisar die Behauptung, Luther habe zeitweise seine wahren Ziele verschleiert und sich klug berechnend bestrebt, das "Wesen seiner Ansichten und Ziele bis zu einem gewissen G-rade vor den geistlichen und weltlichen Oberen zu verhüllen; aber dieser Vorwurf wird dann fast vollständig wieder zurückgenommen in den "Worten: „Es kann keineswegs gebilligt werden, alle diese Mittel, welche den Aufschub der Verhandlungen zuwege brachten, in der Weise Luther zur Last zu legen, als sei jedesmal dabei absichtliche Hintergehung und Täuschung sein Ziel gewesen." Am unbefriedigendsten in dem ganzen "Werk ist meines Erachtens die Behandlung der "Willenslehre Luthers und der Vorgänge auf und während des Reichstags zu Augsburg. Als ob die wirklichen Tatsachen nichts lehrten, werden dort die Folgen des Determinismus in den schlimmsten Farben gezeichnet, und hier wird durch eine ganz einseitige und beschränkte Auswahl aus den Quellen ein Bild von Luthers Stimmung und Haltung in Koburg gegeben, welches in "Wahrheit ein Zerrbild ist. Dieser Grisarsche Luther kann nach dem Ausgeführten nicht für die Lutherbiographie gelten, wie sie einst hoffentlich ein katholischer Q-elehrter schreiben wird; es fehlt dem "Werke das wesentlichste Moment, die Anerkennung, daß Luther ein religiöser Charakter war und sein Verhältnis zu Grott das Entscheidende gewesen ist. "Wohl aber darf man in diesem Buche eine Etappe auf dem "Wege zu einer besseren "Würdigung Luthers in der katholischen Kirche erkennen — vorausgesetzt, daß die folgenden Bände nicht
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noch Überraschungen bringen. Ich möchte aber nicht schließen, ohne an meinem Teile die moderne Behauptung zu bekämpfen, die nach dem Vorgang M a u r e n b r e c h e r s u. a. namentlich D e n i f l e in Kurs gesetzt hat, und die jetzt häufig nachgesprochen wird, als sei die Entwicklung Luthers — hauptsächlich durch Luthers Schuld selbst — bisher von Legenden verschüttet gewesen, und es zeige sich nun nach Wegräumung des Schuttes ein ganz anderer Luther. Davon ist nur sehr weniges wahr! Welche epochemachenden neuen Erkenntnisse hat man denn gefunden? Einige Verschiebungen in Luthers Erinnerung in bezug auf seine Klosterzeit müssen anerkannt werden — sie sind sicher nicht stärker als die Verschiebungen in Augustins Konfessionen —; was er gelesen hat und wann und wie er es gelesen hat, ist richtiger ermittelt worden; seine nominalistische Bildung ist schärfer hervorgetreten und seine Unkenntnis des Thomas; daß er Theorie und Praxis seiner Gegner nicht unterschieden hat, ist deutlicher als früher; daß die Epoche der Zeit seiner Gärung extreme Spekulationen hervorgerufen hat, ist nun offenbar. Aber darüber hinaus bleibt alles beim alten; das kann man gerade an dieser Grisarschen Biographie invito auctore erkennen. Die „Lutherlegende" ist selbst eine große Legende, sobald man von allem Kleinlichen absieht und Entdeckungen nicht aufbauscht. Er bleibt er selbst; er bleibt, wie wir ihn kannten. Wie ihn die Humanisten nicht wesentlich beeinflußt haben — auch G r i s a r erkennt das an —, so hat er in die Schriftsteller, die ihn wirklich beeinflußt haben, mindestens soviel hineingelesen, als er ihnen verdankt. Mit dem Kampf gegen die Werkheiligkeit und Selbstgerechtigkeit — so hat man es immer gewußt — hat sein Werk begonnen, und es hat die Stadien ganz wesentlich in der Abfolge durchlaufen, die die protestantische Forschung nicht erst seit gestern ermittelt hat. Der neu gefundene Römerbrief-Kommentar ist in Details sehr wichtig; die große Linie hat er nicht korrigiert.
DIE BORROMAUS-ENZYKLTKA ANHANG: KONFESSION UND POLITIK
Erschienen in der „Neuen Freien Presse", 31. Juli 1910. Der Anhang ist in der Zeitschrift „Deutsche Wacht", 26. Februar 1911, veröffentlicht worden.
Der Papst hat am 26. Mai dieses Jahres zu Ehren der 300jährigen Heiligsprechung des Kardinals Karl Borromäus eine Enzyklika erlassen. Nach Inhalt und Ton der Sprache unterscheidet sie sich, so scheint es, nicht wesentlich von den Rundschreiben, wie sie seit vielen Generationen von Rom ausgegangen sind. Auch daran ist man gewöhnt, daß diese Enzykliken schwere Angriffe gegen Andersgläubige enthalten. Hat doch auch noch eine der letzten, die Canisius-Enzyklika Leos ΧΠΙ., solche gebracht. Man hat sie nicht übersehen, aber zu einer bedeutenden Q-egenbewegung kam es damals nicht. Ganz anders jetzt! Unmittelbar nach der Veröffentlichung der BorromäusEnzyklika erhob sich ein Sturm der Entrüstung, und noch heute dauert derselbe an. Was ist geschehen? Hat der Papst vielleicht doch sehr viel schärfer gesprochen als seine Vorgänger oder ist die Entrüstung anders zu erklären? Ist sie vielleicht gar nicht echt, sondern künstlich gemacht? Geht sie etwa über ihren Anlaß weit hinaus? Oder ist sie wohlverständlich und wohlberechtigt? Die sehr umfangreiche Enzyklika geht auf viele und verschiedene Fragen ein und enthält manches Gute; sie enthält freilich auch einen höchst beleidigenden Angriff auf das gegenwärtige Frankreich. Aber er hat in Frankreich keinen Sturm erweckt. Die Entrüstung hat sich ausschließlich an die Charakteristik angeschlossen, die in der Einleitung von der Reformation gegeben ist. In wortgetreuer Übersetzung — es kommt hier viel auf den genauen Wortlaut an — lautet sie: „Unter der Herrschaft
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leidenschaftlicher Begierden, als fast jegliche Erkenntnis der Wahrheit verstört und verschüttet war, gab es einen ununterbrochenen Kampf mit den Irrtümern, und die menschliche Gesellschaft, auf alles Schlechte sich werfend, schien sich selbst einen schlimmen Untergang zu bereiten. „Dabei erstanden hochmütige und aufrührerische Menschen, ,Feinde des Kreuzes Christi, die nach Irdischem trachten, deren G-ott der Bauch ist'. Diese, da sie nicht die Sitten zu bessern, sondern die Hauptstücke des Glaubens zu leugnen bedacht waren, warfen alles durcheinander, bahnten für sich und andere einen breiteren Weg zügelloser Willkür oder suchten doch offenbar, indem sie sich der Autorität und Leitung der Kirche entzogen, den Wünschen aller verderbten Fürsten und Völker entgegenkommend, die Lehre, Verfassung und Disziplin der Kirche, wie wenn sie ein aufgelegtes Joch wäre, zu vernichten. „Die Weise der Bösen nachahmend, denen die Drohung gilt: ,Wehe euch, die ihr das Böse gut und das Gute böse nennt', nannten sie den rebellischen Aufruhr und jene Vernichtung des Glaubens und der Sitten ,Erneuerung' (Reformation) und sich selbst ,Wiederhersteller der alten Disziplin'. In Wahrheit aber traten sie als Verderber auf, weil sie, nachdem sich die Kräfte Europas durch Kämpfe und Krieg erschöpft hatten, den mannigfaltigen Abfall und die Spaltungen des gegenwärtigen Zeitalters gezeitigt haben. In diesem Abfall sind die früher getrennten drei Arten des Kampfes, aus welchem die Kirche stets unbesiegt und unversehrt hervorgegangen ist, gleichsam zu einem Angriff wieder erneuert und verbunden, nämlich die blutigen Kämpfe der christlichen Frühzeit, sodann die innerkirchliche Pest der Irrtümer, endlich — unter dem Scheine, die heilige Freiheit zu verteidigen — jene Seuche der Laster und jene Verstörung der Disziplin, zu welcher vielleicht nicht einmal das Mittelalter herabgesunken ist." Der Papst hat gewiß das Recht, seine Betrachtung
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der Geschichte kundzutun und sie seinen Gläubigen zur Nachachtung mitzuteilen. Wenn er findet, die Reformation habe den rechten Glauben verfälscht, ja zerstört, so wird sich niemand über ein solches Urteil wundern. "Wenn er die Reformatoren als Aufrührer brandmarkt, die Fürsten und Völker für pflichtvergessen und verblendet erklärt und auf schlimme Folgen aufmerksam macht, die die Glaubensänderung gehabt hat, so tut er, was er von seinem Standpunkt tun muß, und niemand hat ein Recht, ihm das zu wehren, auch wenn er harte Worte braucht („Pest der Irrtümer"). Aber er hat sehr viel mehr getan. Auf die Reformatoren hat er jene Worte des Apostels Paulus angewandt, mit denen dieser seine schlimmsten Feinde charakterisiert hat, sie seien Feinde des Kreuzes Christi, und der Bauch sei ihr Gott. Die Fürsten und Völker, welche der Reformation beitraten, hat er einfach für „korrupt" erklärt (so ist zu übersetzen; der Superlativ im Lateinischen ist nur ein scheinbarer Superlativ), und von der Reformation sagt er, sie stelle die Verkehrung von gut und böse dar, bezeichne sich täuschend als Erneuerung und habe folgerecht zu einem Zustand der Sittenlosigkeit geführt, gegenüber welchem selbst die schlimmsten Zeiten des Mittelalters — also das Zeitalter der Pornokratie und das des Papstes Alexander VI. — sich noch sehen lassen könnten. Das sind Faustschläge in das Antlitz der geschichtlichen Wahrheit, welche unser Zeitalter nicht mehr verträgt. Man mag welcher Konfession auch immer angehören — gegen diese Charakteristik mußte sich der Wahrheitssinn empören. Der Papst möge herumfragen, ob es auch nur e i n e n namhaften katholischen Historiker in Deutschland gibt, der ihm zustimmt. Auch sie werden an Luther, an Zwingli, an Calvin viel auszusetzen finden und sie mit dem Papste für Empörer halten; aber nicht ein einziger wird behaupten, sie seien dadurch richtig charakterisiert, daß „der Bauch ihr Gott" gewesen sei, und daß sie das
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Kreuz Christi angegriffen haben. Und nun die verderbten Fürsten und Völker! Waren die sächsischen Kurfürsten verderbt? Ich denke, sie konnten es mit den geistlichen Fürsten des Zeitalters wohl aufnehmen! Man vergleiche doch einmal Friedrich den Weisen und den Kardinal-Erzbischof von Mainz! Oder war Philipp von Hessen ein korrupter Mann? Er hatte trotz seiner Bigamie in geschlechtlichen Fragen ein zarteres Gewissen als die große Anzahl von Geistlichen, die ohne Skrupeln mit ihren Maitressen wechselten. Aber mit den Fürsten soll es noch nicht genug sein — die Völker, in welchen die reformatorische Bewegung Wurzel schlug, sollen verderbt gewesen sein. Was sagt der Sitten- und Kulturhistoriker zu dieser Behauptung? Waren die Deutschen im Zeitalter Albrecht Dürers verderbter als Spanier und Italiener? Waren die Reformierten in den Niederlanden, die Hugenotten in Frankreich, die Calvinisten in Schottland ein verdorbenes Gesindel? Die wirkliche Q-eschichte, wie sie heute Gemeingut aller Gebildeten ist, lehrt genau das Gegenteil, ja sie lehrt noch viel mehr, und zwar in leuchtender Flammenschrift. Sie lehrt, daß die Reformation in Westeuropa ein neues Zeitalter sittlichen Geistes heraufgeführt hat; sie lehrt, daß überall die bürgerlichen Tugenden der Pflichttreue, der Tatkraft und des schlichten Gottvertrauens durch sie hervorgelockt und gestärkt worden sind, und sie lehrt endlich, daß die katholische Kirche durch sie den mächtigsten Anstoß zu einer inneren Kräftigung, ja zu einer wirklichen Erneuerung erhalten hat. Man vergleiche die katholische Kirche im Zeitalter Alexanders VI. und Julius' Π. mit der im Zeitalter Kaiser Maximilians II., und man wird ein ganz anderes Bild finden. Die Lebensführung der Geistlichen und der Mönche hat eine Erneuerung erlebt; der ernste religiöse Glaube ist wieder eine Macht geworden, und im Tridentinum faßte sich die Kirche aufs kräftigste zusammen. Völlig verkehrt wäre es, zu behaupten, diese
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Erneuerung des Katholizismus wäre lediglich im Gegensatz zum schlimmen Protestantismus erfolgt, nein, man kann es in der Q-eschichte Italiens sowohl wie in der Deutschlands mit Händen greifen: die Reformation und die Kontrareformation, sofern diese eine Versittlichung herbeiführte, stammen aus einer und derselben Wurzel, aber die Reformation ging voran und die Kontrareformation folgte. Wenn man die Reformation schmäht, so schmäht man den Mutterschoß, aus welchem im sechzehnten Jahrhundert neben der Reformation auch all das Ghite hervorgegangen ist, was eine Erneuerung der katholischen Kirche bewirkt hat. Das ist die geschichtliche Wahrheit, und weil sie das ist, so mußte ein Sturm der Entrüstung losbrechen; denn der Papst oder vielmehr sein Schreiber hat nicht nur die Reformation angegriffen, sondern damit auch die geistige und sittliche Kraft, aus der sich die römisch-katholische Kirche selbst im sechzehnten Jahrhundert regeneriert hat. Daß die Kraft aber entbunden wurde, dazu hat Luther den mächtigen Anstoß gegeben. Niemand kann sagen, was aus der am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bereits halbruinierten abendländischen Kirche geworden wäre, wenn nicht Luther samt den „verderbten Fürsten uud Völkern" sich erhoben hätte und der Religion und Sittlichkeit zu Hilfe gekommen wäre! Wer die päpstliche Geschichtsbetrachtung mit Empörung ablehnt, der tritt also nicht nur für die Reformation ein, sondern für etwas weit Umfassenderes, nämlich für den kräftigen religiösen und sittlichen G-eist, der im sechzehnten Jahrhundert eine neue Kirche hat hervorgehen lassen und die alte teilweise erneuert hat und der aus dem Dunkel und der Dumpfheit zum Lichte emporstrebte. Aber — kann man einwerfen — wozu die Entrüstung? Man weiß doch, wie Rom spricht und sprechen muß, und wenn es diesmal, wie es scheint, noch etwas kräftiger geredet hat als früher, was liegt daran! Regt man sich denn
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etwa in Frankreich oder in Italien über die Enzyklika auf? G-ewiß, das tut man dort nicht; aber wer kann behaupten, daß der Grund des Schweigens die Ehrfurcht und der Gehorsam ist? Die Romanen sind, von wenigen Einzelnen abgesehen, streng geteilt in kirchliche und unkirchliche. Jene nehmen in Devotion hin, was der Papst schreibt, und diese kümmern sich überhaupt nicht mehr darum. Bei nns steht es anders: Wir nehmen den Papst und die Kirche ernst und müssen sie ernst nehmen, auch wenn wir nicht Katholiken sind. "Wir legen die Kundgebungen des Papstes nicht achselzuckend oder lächelnd als Stimmen aus einer überwundenen Vergangenheit beiseite, sondern sie bewegen uns im tiefsten, obschon wir Protestanten sind. Warum tun wir das? Weil wir in Ländern mit konfessionell gemischter Bevölkerung leben und weil uns, auch abgesehen davon, Religion eine ernste und hohe Sache ist, also auch die katholische Religion. Daher ist es uns nicht gleichgültig, sondern nimmt unsere innere Teilnahme in Anspruch, wie der Priester auf dem Stuhle Petri über Religion und Geschichte denkt, dessen Stimme noch für so viele unserer Brüder maßgebend ist. Wahrlich, die Stärke und der Umfang der Bewegung, die sich an die Enzyklika angeschlossen hat, sollte den Machthabern in Rom trotz aller Unannehmlichkeiten wertvoller sein als das Schweigen der Romanen; denn dieses Schweigen stellt der Kurie den Totenschein aus, jene Entrüstung aber zeigt, daß man an ihrem Leben und ihrer Bedeutung nicht zweifelt! Die Gegenbewegung mußte kommen, ist nicht künstlich gemacht und hat auch kaum irgendwo die Grenzen überschritten, die durch den Anlaß gegeben waren. Sie mußte kommen, weil heute gewisse Grundzüge der Erkenntnis des Reformationszeitalters feststehen und Gemeingut geworden sind. Man kann, indem man sie anerkennt, noch immer sowohl Protestant als auch Katholik sein; aber es gibt hier ein Gemeinsames, was nicht mehr angetastet
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werden darf, was in den eisernen Bestand unseres Wissens und unserer Bildung übergegangen ist. Dieses Gemeinsame verteidigen wir und ein großer Teil der deutschen Katholiken mit uns; sie haben das ehrerbietig, aber deutlich genug zum Ausdruck gebracht. In der Kurie weiß man von diesem Fortschritt nichts, und daher spricht man auch noch immer die absolute und beleidigende Sprache früherer Jahrhunderte. Gewiß wird sie diese Sprache auch noch einmal ändern, wie sie die Verlesung der Abendmahlsbulle am Gründonnerstag abgeschafft hat und wie sie das kopernikanische System schließlich anerkannt hat usw. Aber sie kommt immer zu spät, immer erst, wenn der Zeiger der Zeit längst an einem neuen Punkte steht, die einst neue Erkenntnis schon eine Trivialität geworden ist, und die Sprache vergangener Jahrhunderte überhaupt nicht mehr verstanden wird. Solange aber der Fortschritt und das Neue noch die Züge frischer Erkenntnis trägt, sucht sie ihm tödliche Streiche zu versetzen, und solange noch ein fanatischer Kaplan die ungezügelte Sprache des Mittelalters spricht, spricht sie sie auch. Dagegen bäumt sich nicht die evangelische Kirche auf — sie kann ruhig zusehen —, wohl aber der Geist des Zeitalters: diese Geschichtsbetrachtung, dieser Ton paßt nicht mehr in unsere Epoche. Haben ihn sich bei uns die deutschen Bischöfe, die Leiter der evangelischen Kirchen, die wissenschaftlichen Theologen in beiden Lagern mit wenigen Ausnahmen abgewöhnt, und schätzen wir diesen Zustand als ein hohes Gut, so darf der Papst diesen Besitz nicht in Frage stellen, auf dem der konfessionelle Friede im Lande und das Maß von Einheit beruht, welches wir als Bürger eines Landes heute schlechthin notwendig brauchen. Wohl mag es schwierig sein, den einfachen, wenig vertieften religiösen Verhältnissen der romanischen Völker und den ungleich komplizierteren, tieferen und zarteren der germanischen zugleich gerecht zu werden; aber notwendig muß
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die Kurie an moralischer Autorität diesseits der Alpen einbüßen und zugleich eine G-efahr für den konfessionellen Frieden werden, wenn sie entschlossen in Anschauung und Sprache beim Mittelalter verharrt. Dies und nichts anderes ruft ihr die Bewegung zu, die sie entfesselt hat, weil das Maß des Unerträglichen voll war. Aber hat die Kurie nicht selbst alles getan, was sie konnte, indem sie angesichts der Bewegung auf die Publikation der Enzyklika in Deutschland verzichtet hat? Gewiß, sie hat damit etwas getan, was in ihrer Geschichte selten ist; aber Deutschland ist nicht das einzige Land, das hier in Frage kommt. Was Deutschland recht ist, ist auch anderen Staaten gegenüber — mindestens solchen, die zahlreiche Protestanten zählen — billig. Und was sie unmittelbar nach dem Verzicht getan hat, war nur zu sehr geeignet, die Genugtuung, die sie gegeben hat, wieder aufzuheben. Sie ließ ihre Offiziösen schreiben, es sei in Wahrheit nichts geschehen, und ultramontane Zeitungen entblödeten sich nicht, zu schreiben, man habe Deutschland und den Protestantismus in hoher Klugheit zu Rom über den Löffel barbiert. Also trägt die Kurie selbst die Schuld, wenn diese Wunde offen bleibt, wenn deshalb auch die Bewegung nicht aufhört, sondern hier und dort noch im Wachsen begriffen ist. Sie zwingt uns, unser Pulver trocken zu halten und darüber keinen Zweifel zu lassen, daß der konfessionelle Friede nur zu halten ist, wenn die Kurie mindestens die Formen beobachtet, die im Verkehre der Staaten untereinander längst üblich sind. Die Kurie will als ein großer Staat behandelt sein, und verlangt daher die Rücksichten, die die Staaten untereinander nehmen; aber daneben erlaubt sie sich, über andere Konfessionen eine Sprache zu führen, wie sie kein Staat sich gestattet und wie sie sonst überall den Krieg bedeutet. Das können wir uns nicht mehr bieten lassen, und die Empörung wird jedesmal wachsen und noch stärker werden, wenn es aufs
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neue geschieht. Ob sich die Kurie an dem, was sie diesmal erlebt hat, ein Beispiel nehmen wird — wer kann es wissen? Aber das ist gewiß, daß sie, wenn sie auf ihrem Wege und bei ihrer Methode beharrt, nicht nur den geschlossenen Geist des Protestantismus, sondern auch den Gesamtgeist unserer deutschen Frömmigkeit, Bildung und Kultur aus allen Lagern wider sich aufruft. Sie hat vor diesem G-eiste wenig Respekt, weil er sich nur auf sich selbst besinnt und regt, wenn die höchste Not treibt; aber er ist doch einheitlicher und lebendiger, als sie denkt!
Anhang.
Konfession und Politik. Ich bin soeben aus London zurückgekehrt, wo ich einer erhebenden Versammlung beigewohnt habe. Die Vertreter sämtlicher Kirchen Englands gaben den Gefühlen freundschaftlicher Gesinnung für Deutschland in hinreißender Weise Ausdruck und verpflichteten sich feierlich, diese Gefühle zu pflegen, die freundschaftlichen Beziehungen zu stärken und alles zu tun, um durch Niederhaltung des Neides, der Verleumdung und der frivolen Aufreizung den Frieden aufrechtzuerhalten. Mein Begleiter, Direktor Spiecker und ich sprachen in demselben Sinne, und wir verließen beide die Versammlung bestärkt in der Überzeugung, daß die maßgebenden kirchlichen Kreise Englands, zu denen auch zahlreiche Parlamentsmitglieder gehören, ein starkes Bollwerk des Friedens bilden. Während aber die aufrichtigen Versicherungen der Freundschaft in der Versammlung mich erfreuten und erhoben, schweifte mein Geist plötzlich ab, und die Frage tauchte auf: Wie steht es mit dem innern Frieden in der Heimat? Unser deutsches Volk leidet aufs schwerste durch
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einen doppelten Gegensatz, unter welchem es steht — unter dem sozialpolitischen Gegensatz und dem konfessionellen Gegensatz. Von dem Ersteren will ich hier nicht ausführlicher sprechen; er ist in seiner ganzen Schärfe dadurch bezeichnet, daß die Führer eines großen Teils unserer Arbeiterwelt, und zwar des intelligentesten Teils, das Heil unseres Gemeinwesens nur von einem radikalen Bruch mit unserer Vergangenheit erwarten und alle die Güter, die wir in langer geschichtlicher Arbeit errungen haben, als wertlos, ja als schädlich abzutun lehren. Nicht eine, sei es auch noch so radikale Reform, verlangen sie, sondern sie bilden ihren Gläubigen ein, daß alle positive Mitarbeit in der Gegenwart so gut wie unwirksam sei, daß vielmehr erst auf den Trümmern der heutigen Gesellschaft ein haltbarer Neubau errichtet werden könne. "Was sie damit erreichen, ist eine verhängnisvolle Lähmung des gesunden organischen Fortschritts, d. h. die Verstärkung der Reaktion, d. h. das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Die Sozialdemokratie ist heute und ist schon seit langem ein großer Hemmschuh in unserer Entwicklung. Gewiß wäre einiges im Staat nicht erreicht worden, wenn sie nicht gewesen wäre; aber noch viel mehr ist zurückgeblieben, weil sie da ist. Indessen — sie hält uns auf, sie veranlaßt reaktionäre Maßregeln, sie verwirrt zahllose Verhältnisse, irritiert weite Kreise und bringt einen kräftigen Teil des Volkes um höhere Ideale; aber es ist dafür gesorgt, daß ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen. So paradox es klingen mag — je größer sie wird und je mehr Verantwortung ihr dadurch aufgezwungen wird, desto ungefährlicher wird sie werden, weil sie in immer höherem Maße mitarbeiten muß. Mitarbeiten aber heißt sich auf den Boden des Gegebenen stellen. Der Kampf, in welchem wir hier stehen, ist also nicht hoffnungslos. Wenn wir, die Gegner der Sozialdemokratie, treu und aufrichtig zum Werke sozialer Re-
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formen stehen und uns nicht aus kurzsichtigem Eigennutz oder aus Arger, weil wir keinen „Dank" finden, dazu verführen lassen, diese Fahne herabzuholen, so werden Staat und G-esellschaft trotz allem ihren sicheren Weg finden. Viel schwieriger ist die Überwindung des anderen Gegensatzes, des konfessionellen. Uber die Größe desselben geben sich auch sonst einsichtige Männer unter uns noch schweren Täuschungen hin. Sie urteilen eben so: In beiden Kirchen gibt es zahlreiche Namenchristen, die für den konfessionellen Gegensatz logischerweise gar nicht in Betracht kommen können und dürfen. Die aber, welche auf beiden Seiten ernstlich Christen sein und zu ihrer Kirche stehen wollen, müssen erkennen, daß sie so viele hohe Güter trotz der konfessionellen Verschiedenheit gemeinsam haben, daß es ihnen nicht schwer fallen kann, in Behauptung und Verteidigung dieser Güter zusammenzustehen und namentlich in bezug auf Staat und Gesellschaft die Kräfte derselben wirksam zu machen. Also ist im Grunde das Problem gar kein so schwieriges. Die Namenchristen fallen von selbst weg, und die anderen müssen sich verständigen können! In dieser Erwägung ist leider alles falsch, weil die Wirklichkeit der Dinge gar nicht getroffen ist. Erstlich ist die Beschränkung auf die plumpe Unterscheidung von bloßen Namenchristen und aufrichtigen Christen eine Illusion. Jede der beiden großen Kirchen hat eine eigentümliche Kultur in bezug auf die tiefsten Fragen des Lebens ausgebildet. Keine von ihnen ist nur „Kapelle", in der angebetet wird, sondern jede stellt ein großes moralisches, intellektuelles und individuell-soziales System auf geschichtlicher Grundlage dar, welches sich als Gewissens- und Lebensmacht auch über die „Namenchristen" erstreckt und welches teils bewußt, teils unbewußt den stärksten Einfluß auf die große Mehrzahl derselben ausübt. Dazu kommt noch bei den Katholiken der ungeheure Einfluß der Kirche als
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Organisation, als Gemeinschaft, als zweites Vaterland, der von den Protestanten, die ihn kaum kennen, nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Also ist es mit der Unterscheidung von Namenchristen und wahren Christen schlechterdings nicht getan; denn es stehen sich zwei kirchliche Kulturkreise gegenüber, in die auch die „Namenchristen" fallen. Aber auch die Erwägung, daß die „wahren Christen" in beiden Konfessionen keine Schwierigkeiten hätten, im öffentlichen Leben zusammenzustehen, und gemeinsame G-üter geltend zu machen, widerspricht aller tieferen Erfahrung. J e fester sie im G-eiste ihrer eigenen Kirche wurzeln, um so weniger ist es ihnen häufig möglich, „gemeinsame Güter" gemeinsam geltend zu machen. Ich bekenne ζ. B. von mir, und ich weiß, daß ich damit im Namen von zahlreichen Gesinnungsgenossen rede, daß ich vom religiösen, vom moralischen und vom intellektuellen Standpunkt mich in den römischen Katholizismus, wie ihn ζ. B. Alfons von Liguori in klassischer Weise vertritt, schlechterdings nicht zu finden vermag. Wohl glaube ich etwas davon zu verstehen, wie es geschichtlich zu diesem Katholizismus gekommen ist, auch zu verstehen, warum man in ihm bleibt, wenn man in ihn hinein geboren ist; aber sobald ich die geschichtlichen Relativitäten und Nötigungen weglasse, starrt mich im römischen Katholizismus etwas ganz Unbegreifliches an, so unbegreiflich, daß ich Religion und Moral in höchster Gefahr sehe und es mir wie ein Wunder vorkommt, daß doch wahrhaft verehrungswürdige, starke und zarte religiöse Charaktere dort auch zu finden sind! Und dem römischen Katholiken geht es nicht anders, wenn er auf den Protestantismus blickt, ja seine religiösen und moralischen Empfindungen sind häufig noch mehr durch denselben verletzt. Ich brauche das nicht auszuführen: dem römischen Katholiken erscheint das Wunder, daß es im Protestantismus überhaupt Glaube und christ-
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liehe Sittlichkeit gibt, wenn er es überhaupt zugesteht, noch viel größer als umgekehrt dem Protestanten, und wenn er auch die Ausdrücke „Pest der Religion" usw. in bezug auf den Protestantismus nicht wiederholt, so muß er objektiv doch denen recht geben, die sie brauchen. Also in bezug auf die beiden Kulturkreise klafft ein Abgrund, und auch zwischen der Religion und Moral dort und hier ist eine Kluft befestigt! Aber ist damit nicht zuviel gesagt? Gewiß, denn es gibt auf beiden Seiten eine Fassung und ein "Verständnis der Religion, durch welche sich deutsche Katholiken und Protestanten viel näher stehen. Davon habe ich in meiner Rede „Protestantismus und Katholizismus in Deutschland" (1907) gehandelt und auf die Möglichkeit hingewiesen, daß sich — zunächst in Deutschland — Annäherungen vollziehen können, über die Dogmatik der Kirchen hinweg und doch auf einem religiösen Niveau! Ich halte an diesen Aussichten auch fest, weil ich in persönlichem Verkehr — und gewiß so manche mit mir — erfahren habe, daß es eine Gemeinschaft der Gesinnung und des Glaubens gibt, für die die Schlagbäume der Konfession nicht existieren. Aber wir können nicht warten, bis die Menschen in unserem Vaterlande, die solches erfahren haben, zahlreicher werden und eine öffentliche Macht bilden; denn zurzeit sind sie noch eine kleine Truppe. Auch scheinen mir die neuesten Forderungen des römischen Katholizismus dem "Wachstum und Erstarken dieser Gruppe die größten Schwierigkeiten zu bereiten. Der schweigende Gehorsam, den sie allen deutschen Katholiken auferlegen, und die Stimmung, in die sie die Protestanten versetzt haben, sind schlimme Voraussetzungen für jenes "Wachstum und Erstarken. Geradezu wie die Aufforderung zu einem Kulturkampf, jedenfalls als schlimme Friedensstörung, müssen einige der letzten päpstlichen Kundgebungen wirken, mögen sie auch so nicht gemeint sein. Der preußische Staat aber
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hat — darüber kann kein Zweifel sein — ihnen gegenüber durch sein Verhalten den Beweis aufs bündigste erbracht, daß er keinen neuen Kulturkampf will. Es steht trübe zurzeit in deutschen Landen: gelähmt ist die freudige Arbeit zahlreicher Katholiken, in schlimme Verlegenheit ist der Staat gesetzt, und dem Protestantismus ist der Katholizismus noch um einen erheblichen Grad fremder geworden! Dennoch — wir können nicht warten! Womit können wir nicht warten? Daß wir gemeinsam dem Staate geben, was des Staates ist, daß wir gemeinsam alles das pflegen, was Staat und Gesellschaft zu ihrer Gesundheit nötig haben, kurz, daß wir als Patrioten zusammenstehen, das heißt aber: es darf im Politischen keine konfessionelle Partei geben. Solange eine solche vorhanden ist und sie den Gläubigen einbildet, zur vollen Kirchlichkeit gehöre auch, daß man als Staatsbürger kirchlicher Parteimann sei, fehlt die erste Grundlage zum konfessionellen Frieden der Staatsbürger und zur gemeinsamen Arbeit für das Staatswohl. Nun behauptet zwar das Zentrum immer wieder, es sei keine konfessionelle, sondern lediglich eine politische Partei, aber diese Behauptung wird durch die Tatsachen Lügen gestraft. Die Existenz des Zentrums hält die Staatsbürger auseinander, die, wenn es nicht vorhanden wäre, in den natürlichen politischen Gruppen zusammengehen könnten; es entzieht den Konservativen ausgezeichnete Elemente, die dieser Partei eine universalere Haltung geben könnten, und nicht minder den Liberalen. Es verewigt die Kirchenspaltung auf einem Gebiet, wohin sie gar nicht gehört, erweitert also die Kluft, statt sie dadurch in ihren Wirkungen abzuschwächen, daß man gemeinsame Aufgaben sucht! In diesem Sinne ist das Zentrum im Tiefsten unpatriotisch, so mancherlei Verdienste es sich erworben hat, weil es das Vorurteil stärkt, daß es überhaupt kein Gebiet gibt, auf dem der protestantische und der katholische Staatsbürger zusammengehen können. Demgegenüber sind Vereini-
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gungen, ist eine Vereinigung notwendig, die im Gegensatz zu dieser Haltung überzeugt sind, daß ein direktes Zusammenarbeiten der Staatsbürger, ohne Rücksicht auf die Konfessionen nötig ist, selbst wenn sie sich im Religiösen und Kirchlichen nicht verstehen, denn wir sind Kinder einer Mutter, Söhne eines Hauses, und wie wir in unserem Heere zusammenstehen, müssen wir es auch im Staatsleben. So reich an Kräften ist unser Vaterland nicht, daß wir ruhig die konfessionelle Entfremdung mit ansehen dürfen in der Uberzeugung, es wird doch stark bleiben! Wir müssen die Entfremdung eindämmen und auf ihr eigenes ö-ebiet beschränken, und wir müssen des Glaubens leben, der kein Wahnglaube ist, daß es ein Gebiet der Verständigung für jeden guten Deutschen gibt, nämlich die Pflege deutscher Art und die treue Sorge für die Gesundheit und Stärke des deutschen Staates. Wohl wird die Verschiedenheit der Kulturkreise, von der oben die Rede war, manche gemeinsame Aktion auch auf scheinbar neutralen Gebieten in schmerzlicher Weise unmöglich machen oder hemmen; aber es bleiben doch, wie ζ. B. die christlichen Gewerkschaften beweisen, noch manche Gebiete übrig, und diese Gebiete würden noch zahlreicher sein und sich vergrößern, wenn es unter uns keine konfessionelle politische Partei gäbe.
Möhler, Diepenbrock, Döllinger. Fritz Vigener, Drei Gestalten aus dem modernen Katholizismus — M ö h l e r , D i e p e n b r o c k , D ö l l i n g e r . München u. Berlin 1926.
Das Mißverständnis, das der Titel dieses Werks erregen kann („modern" = „gegenwärtig"), schwindet sofort bei der Lektüre: der Leser überzeugt sich, daß die drei Gestalten nach dem Urteil des Verfassers einer — sei es auch jüngst erst verflossenen — Epoche des Katholizismus angehören, und dieses Urteil ist richtig. Es war ein guter Gedanke, diese drei katholischen Gestalten, die gleichzeitig aufgetreten sind, nebeneinander zu stellen und sie in ihrer Zusammengehörigkeit und Verschiedenheit zu würdigen; denn sie repräsentieren in vorzüglicher Weise den vorvatikanischen deutschen Katholizismus, wie er seinem ihm durch das Konzil bereiteten Ende entgegenging. Erlebt hat es nur Döllinger; aber niemand kann heute die Biographien von Möhler und Diepenbrock lesen, ohne fort und fort an das Geschick zu denken, das sie nicht vorausgesehen haben. Ein ehrenvolles Gedächtnis in ihrer Kirche haben sie sich gerettet — mit Recht; denn es gab keine besseren Katholiken — aber Nachfolger im strengen Sinn des Worts durften sie nicht mehr finden, ja, sie selbst wären nicht den Weg Döllingers gegangen, wenn sie das Jahr 1870 erlebt hätten.
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Niemand war berufener, uns diese Männer zu schildern, als der Biograph Kettelers, der in diesem Werke bewiesen hatte, daß er, nach schwerem innern Kampf befreit von den Schranken des Konfessionalismus, zum tiefsten Verständnis der Konfession als Bekenntnisgemeinschaft, als Institution und in ihrer seelischen Eigenart vorgedrungen war. Unter den Darstellungen, die sämtlich eine glückliche Mitte zwischen biographischer Erzählung und kritischer Beurteilung halten und die hohe Kunst schriftstellerischer Sachlichkeit glänzend bewähren, möchte ich der Möhlers die Palme reichen, nicht weil Möhler in jeder Hinsicht der bedeutendste von den dreien gewesen ist — an wissenschaftlichem Sinn ist ihm Döllinger überlegen — sondern weil er bis auf den Grund vom Verfasser erfaßt und verstanden worden ist. Wer ihn schon gekannt hat, wird ihn durch diese Schilderung und Beurteilung viel besser kennen lernen, und wem er noch unbekannt war, der wird sich durch die Kenntnis eines Theologen bereichert sehen, der in seiner Zeit den Typus und den Höhepunkt deutscher katholischer Theologie zugleich darstellt — mit der unvermeidlichen Spannung, die sich zuletzt immer zugunsten der Kirche löst. Was Diepenbrock betrifft, so hatte ich mir früher den Schüler und Jünger Sailers weicher vorgestellt; in dieser Darstellung tritt er uns kraftvoller und als geschlossener Kirchenmann entgegen; dennoch unterscheidet er sich nicht nur durch sein preußisches Staatsgefühl, sondern auch durch seine innerkirchliche Haltung scharf von seinem Kölner Kollegen, dem Kardinal Geissei. Dies herausgearbeitet und gezeigt zu haben, wie sich der Jünger Sailers den Forderungen der Hierarchie gefügt hat, der er dienend und gebietend zugleich angehörte, ist ein hohes Verdienst Vigeners. Bei Möhler, dem entschlossenen Apologeten, und Diepenbrock läßt sich mit einem gewissen Rechte, das freilich
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oft genug von protestantischen Beurteilern übertrieben wird, von einem „Idealkatholizismus" reden; bei Döllinger scheidet dieser schillernde Begriff ganz aus; denn so lange er im festen Bunde mit seiner Kirche stand, war er nicht nur der grimmigste Gegner des Protestantismus, sondern auch der skrupellose Apologet der tatsächlichen Kirche und aller ihrer Ansprüche. Was ihn dann mit ihr entzweite, war nicht ein „Idealkatholizismus", auch nicht sein Deutschtum, oder was er selbst noch genannt hat, sondern sein wissenschaftliches Gewissen als Historiker. Wie er sich mit diesem abgefunden hat, bis es zum vollendeten Bruch kam, stellt eine Kette von Peinlichkeiten und schwersten Anstößen dar. Hier aber bewährt sich Vigeners Verständnis des Katholizismus aufs eindrucksvollste; denn immer wieder gelingt es ihm, zu zeigen, daß, unter der Voraussetzung des absoluten Gehorsams der Kirche gegenüber, das Peinliche nicht peinlich und das Anstößige nicht anstößig ist, d. h. daß man den Gelehrten nicht nur zu entschuldigen, sondern auch zu verstehen vermag, weil ihm das Sichbeugen unter den kirchlichen Patriotismus mit der absoluten sittlichen Pflicht zusammenfiel. Doch zuletzt zerriß diese Einheit. Welche und wie viele zeitgeschichtliche und subjektive Faktoren das Hervorbrechen des wissenschaftlichen Gewissens befördert haben, hat Vigener kaum gestreift, und hier wäre m. E. mehr zu sagen gewesen; aber in der Hauptsache war es doch wirklich der Historiker, der über den Kirchenmann den Sieg davontrug. Über ein Doppeltes habe ich mich aber bei der Betrachtung Döllingers stets gewundert, und auch der Verfasser hat mir diese Fragen nicht erhellt: Wie konnte es einem so großen Historiker, wie Döllinger es war, entgehen, d a ß das D o g m a von der U n f e h l b a r k e i t zwar n i c h t die K o n s e q u e n z der a k t e n m ä ß i g festz u s t e l l e n d e n G e s c h i c h t e der k a t h o l i s c h e n Kirche, wohl aber die K o n s e q u e n z ihrer w i r k l i c h e n G e s c h i c h t e i s t ? Und wie konnte ein
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7. Möhler, Diepcnbrock, Döllinger. (1927)
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Döllinger auch nur einen Augenblick wähnen, diese Kirche würde sich einem Professor gegenüber auf Disputationen, Widerlegungen, den Nachweis ihres Rechts oder gar auf dauernde Ausnahmekonzessionen einlassen? Zeigt der erste Irrtum nicht, daß Döllinger, der Gelehrte, die Geschichte der Kirche besser kannte als die Kirche selbst, und zeigt der zweite nicht, daß er in München heimischer war als in Rom, die Akademie der Wissenschaften besser kannte als die Kurie? Im höchsten Maße würdig und versöhnend ist die Haltung Döllingers — prinzipiell und fort und fort — gewesen, die er nach dem Bruche mit der Kirche eingenommen hat, und sehr zu Unrecht haben sie ihm die Altkatholiken verdacht. Er durfte keiner neuen Kirche beitreten, noch weniger sie stiften. Indem er sich als Exklusus empfand und isolierte, hat er sich selbst gefunden. Das ist auch Vigeners Meinung. Zur Geschichte Döllingers in seinen letzten Jahren kann ich noch einen kleinen Beitrag liefern, auch einen Beitrag zu dem ihm eigentümlichen Sarkasmus. Es war im Sommer 1885 oder 1886, als er mich — wie es dazu gekommen, habe ich vergessen — einlud, ihn in Tegernsee, wo er bei dem Grafen Arco wohnte, von Gießen aus zu besuchen. In unsern Gesprächen vermied ich es, auf das Vatikanum einzugehen, aber auf einem langen Spaziergang kam er plötzlich auf dasselbe zu sprechen: „Wenn mich der Erzbischof Scherr nicht gefragt hätte, wäre ich heute noch in der Kirche; aber man drängte mich an die Wand, da mußte ich schreien." Das Thema wurde nun besprochen, und ich äußerte zuletzt: „Schließlich müssen Sie, Herr Stiftsprobst, und wir doch dem Erzbischof dankbar sein, daß er Sie zu einer Antwort genötigt hat; denn so wurde Klarheit geschaffen." „Sie mögen recht haben," erwiderte er, „und ich werde in diesem Urteil bestärkt, wenn ich auf meine Tübinger Kollegen blicke; sie sind nicht befragt worden, aber sie müssen schweigen und dürfen in ihrer „Quartalschrift" nur noch theologische Allotria behandeln. Wenn
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ich diese Zeitschrift lese, fällt mir immer die Geschichte jener Schauspielergesellschaft ein, die in den Dörfern umherzog und ankündigte, sie würde Hamlet spielen; aber wenn dann der Vorhang aufging, trat der Direktor hervor und erklärte: Verehrtes Publikum, der Hamlet selbst ist leider krank geworden und kann nicht auftreten; aber wir werden doch den „Hamlet" spielen — ohne den Hamlet, nur mit Rosenkranz und Güldenstern." Die Darstellung Döllingers zu vollenden, ist dem Verfasser nicht mehr vergönnt gewesen; der Tod, dessen Keim er aus dem Kriege mitgebracht hat, hat ihm die Feder aus der Hand genommen. Seine Gattin und Professor Meinecke haben das Werk herausgegeben, das sich den besten biographischen Charakteristiken, die wir besitzen, anreiht. Gerne schließe ich daher mit den treffenden Worten des Herausgebers: „Die geistesgeschichtlichen Probleme, die hier behandelt werden, waren für den Verfasser eigene Lebensprobleme, und unter der strengen Sachlichkeit schimmert sein eigenes Herzblut. So sind sie entsprungen aus jener Wechselwirkung von Objektivität und lebendiger, aber gebändigter Subjektivität, auf der alle höhere geschichtliche Leistung beruht."
IV. Kampf um das „Freie Christentum"
DAS APOSTOLISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS EIN GESCHICHTLICHER BERICHT NEBST EINER EINLEITUNG UND EINEM NACHWORT.
Dem Aufsatz über das apostolische Glaubensbekenntnis stelle ich den Artikel aus der Zeitschrift „Die Christliche Welt", 1892, No. 32 ν. 18. August voran, der mir heftige Angriffe zuzog und mich nötigte, in einer kurzen Darstellung einen geschichtlichen Bericht über die Entstehung des Glaubensbekenntnisses zu geben. Dieser erschien wenige Wochen später bei A. Haack (Berlin NW, Dorotheenstraße 55). Er ist hier mit unbedeutenden Veränderungen nach der 26. Auflage (1892) abgedruckt. Alle Auflagen trugen den Vermerk, den ich auch jetzt wiederhole: Auf Mitteilung zahlreicher Belege zu den nachfolgenden Ausführungen habe ich verzichten müssen. Die Vorführung des gesamten Materials würde viele Bogen erfordert haben.
In Sachen des Apostolikums. Vor einigen Wochen kam zu Professor H a r n a c k in Berlin eine Abordnung Studierender mit der Frage, ob er ihnen raten könne, mit andern preußischen Studenten der Theologie in Anlaß des Falls Schrempf eine Petition an den Evangelischen Oberkirchenrat zu richten um Entfernung des sogenannten Apostolikums aus der Verpflichtungsformel der Geistlichen und aus dem gottesdienstlichen Gebrauch. Professor Harnack hat hierauf in seinem Kolleg über neueste Kirchengeschichte geantwortet und den Inhalt dieser Antwort in folgenden Sätzen den Fragestellern zugehen lassen. [Anmerkung des Herausgebers, D. Bade.]
A n t w o r t a u f die F r a g e , ob d e m U n t e r z e i c h n e t e n eine E i n g a b e an den E v a n g e l i s c h e n Oberkirchenrat u m A b s c h a f f u n g des A p o s t o l i k u m s s e i t e n s d e r T h e o logie-Studierenden r a t s a m erscheint. 1. Ich teile mit den Fragestellern die Ansicht, daß es der evangelischen Kirche ziemen würde f an die Stelle des Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden Zeit gewonnene Verständnis des Evangeliums deutlicher und sicherer ausdrückte und zugleich die Anstöße beseitigte, die jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und aufrichtigen Christen, Laien und Geistlichen, bietet. 2. Ich halte mit den Fragestellern den Fall Schrempf für einen gegebnen, ja gebotnen Anlaß, die Frage nach der G-eltung und dem Gebrauch des Apostolikums in den evangelischen Kirchen wieder anzuregen und sich durch die voraussichtliche Erfolglosigkeit in der Gegenwart von
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IV. Kampf um das „Freie Christentum"
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solcher Anregung nicht abschrecken zu lassen. Ich bin der Meinung, daß die Generalsynoden der evangelischen Kirchen keine ernstere und brennendere Aufgabe haben als die, die Bekenntnisfrage freimütig zu erwägen. 3. Bei solchen Bemühungen ist aber nicht die Parole auszugeben: „Das Apostolikum soll abgeschafft werden"; denn eine solche Parole würde zur Waffe in der Hand der Gregner des Christentums werden, würde dem hohen religiösen "Werte und dem ehrwürdigen Alter des Apostolikums gegenüber eine Ungerechtigkeit sein, würde ferner eine Vergewaltigung der evangelischen Christen bedeuten, die ihren Glauben voll und ohne Anstoß im Apostolikum ausgedrückt finden, und würde endlich der Art nicht entsprechen, in der sich die Kirchen der Reformation zu den Glaubenszeugnissen der Vergangenheit gestellt haben und so lange stellen müssen, bis sie die K r a f t zu einer neuen reformatorischen Tat oder eine neue reformatorische Persönlichkeit erhalten. 4. Daher kann zur Zeit jegliche Bemühung nur darauf ausgehen, entweder das Apostolikum aus dem liturgischen Gebrauch zu entfernen, oder doch den Gemeinden die Möglichkeit zu gewähren, es nicht zu brauchen, oder es durch eine andre evangelische G-laubensformel zu ersetzen. 5. Diese Bemühungen werden aber nur dann eine gewisse Aussicht auf Erfolg erlangen, wenn man das kurze Glaubensbekenntnis, das man an Stelle des oder neben dem Apostolikum wünscht, wirklich zu formulieren und zu produzieren vermag, und wenn es an Gestalt und K r a f t dem alten überlegen ist. I n den Kirchen darf man — in noch höherm Maße als im Staatsleben — nur negieren, indem man baut. Jede andre Tätigkeit ist von Übel; bloße Wünsche aber nach einem neuen Bekenntnis tun es nicht, so wohl gemeint und so ernst gefaßt sie auch sein mögen. 6. Die Anerkennung des Apostolikums in seiner wörtlichen Fassung ist nicht die Probe christlicher und theolo-
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gischer Reife; im Gegenteil wird ein gereifter, an dem Verständnis des Evangeliums und an der Kirchengeschichte gebildeter Christ Anstoß an mehreren Sätzen des Apostolikums nehmen müssen. Allein umgekehrt darf man auch von dem gereiften und gebildeten Theologen erwarten, daß er soviel geschichtlichen Sinn besitzt, um sich von dem hohen Wert und dem großen Wahrheitsgehalte des Apostolikums zu überzeugen und eine positive Stellung zu seinem Grundgedanken zu gewinnen, die es ihm ermöglicht, ein altes Zeugnis seines eignen Glaubens in dem Apostolikum zu erkennen. 7. Auf alle einzelnen Sätze des Symbols in ihrer wörtlichen Fassung läßt sich diese positive Stellung allerdings nicht ausdehnen. Aber hier darf die dreifache Erwägung eintreten, daß a) die evangelische Kirche selbst nicht bei allen Sätzen des Symbols die ursprüngliche wörtliche Fassung aufrecht erhält („Gemeinschaft der Heiligen"): b) daß ein Satz der Lehre des Paulus widerspricht („Auferstehung des Fleisches") und daher auch nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche in seiner wörtlichen Fassung nicht aufrecht erhalten werden darf; und daß c) alle Einzeltatsachen, zu denen der Christ sich bekennt, nicht als nackte Tatsachen, sondern um der unsichtbaren Beziehungen und Werte willen, die der Glaube an ihnen wahrnimmt, Sätze des Glaubensbekenntnisses sind. 8. Diese Erwägungen reichen gegenüber einem Satze des Apostolikums allerdings noch nicht aus („Empfangen vom heiligen Geist, geboren aus der J u n g f r a u Maria"), denn hier wird als Tatsache etwas behauptet, was vielen gläubigen Christen unglaublich ist, und was eine in der Kontinuität der sonstigen kirchlichen Umdeutungen liegende Umdeutung deshalb nicht zuläßt, weil man es in sein Gegenteil umdeuten müßte. Hier liegt also ein wirkNotstand vor für jeden aufrichtigen Christen, der dies Symbol als Ausdruck seines Glaubens brauchen soll und sich
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doch nicht von der "Wahrheit jenes Satzes überzeugen kann. Als die einfachste Lösung erscheint die, daß solche, die jenen Satz nicht anerkennen, nicht Geistliche werden und bleiben, und daß auch die Laien, die in derselben Lage sind, sich von der Kirche, die jenes Symbol aufrecht erhält, zurückziehen sollen. I n der Tat kann man denen, die sich in ihrem Gewissen gezwungen sehen, so zu handeln, nur ernstlich zureden, nicht wider ihr Gewissen zu tun, denn wider das Gewissen zu handeln ist der höchste Schrecken. Allein es steht nicht so, daß die Gewissenhaftigkeit solcher Männer allgemeines Gesetz werden müßte. Wenn um eines einzelnen Satzes willen, der mindestens nicht im Zentrum des Christentums steht, die Fähigkeit, die Gemeinde, in die man hineingeboren ist, zu erbauen und an ihrem innern Leben teilzunehmen, aufgehoben sein sollte, so könnte eine religiöse Gemeinde überhaupt nicht bestehen. Denn wie wäre es möglich, Institutionen der Lehre und des Kultus zu schaffen, die in jedem Stück die Überzeugung aller wiedergeben und niemandem zum Anstoß gereichen, und wie ist es denkbar, daß diese Institutionen sofort jeder — sei es auch erprobten — "Wandlung des christlichen Verständnisses folgen? Es ist also nicht Gewissenlosigkeit, sondern eine haltbare und sittlich zu rechtfertigende Position, die der einnimmt, der in der Kirche, sei es auch als Lehrer, bleibt, der an jenem Stück und an ähnlichen Anstoß nimmt. Aber dieses Bleiben ist freilich nur dann sittlich gerechtfertigt, wenn der betreffende Theologe a) mit dem Grundgedanken seiner Kirche übereinstimmt; b) dort wo er auf das Verständnis — sei es auch das gegnerische — rechnen kann, von seiner abweichenden Meinung kein Hehl macht; und c) in den Grenzen, die ihm durch seinen Beruf gegeben sind, f ü r die Abschaffung des Notstandes wirkt. I n einem solchen befindet er sich wirklich; darum — wie er einerseits nicht verpflichtet ist, seine K r a f t seiner Kirche,
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die keine Gesetzeskirche ist, deshalb zu entziehen, so ist er andrerseits verpflichtet, an seinem Teil an der Hebung des Notstandes zu arbeiten. Nur so bewahrt er sich ein gutes Gewissen. Die Art der Arbeit wird aber je nach Beruf und Fähigkeit eine verschiedne sein. Das Recht und die ungemeine Kraft, die eine öffentliche Agitation verlangt, werden wohl die wenigsten, wenn sie sich prüfen, in sich finden. Auch haben laute Agitationen oft den entgegengesetzten Erfolg. 9. Die Frage, ob zukünftige Geistliche, die zur Zeit noch Studenten der Theologie sind, in Hinblick auf ihre Zukunft berechtigt sind, in eine Bewegung f ü r Abschaffung des Apostolikums einzutreten, vermag ich nur zu verneinen und zwar aus folgenden Gründen: a) weil die Parole „Abschaffung des Apostolikums" überhaupt eine falsche ist (s. oben); b) weil, auch wenn man die Aufgabe in den Grenzen hält, die oben gezeichnet sind, m. E. Studierende in solchen Fragen, wie die vorliegende ist, überhaupt nicht öffentlich ein Urteil abgeben sollen; c) weil die Behandlung dieser besondern Frage eine christliche und wissenschaftliche Reife voraussetzt, die die Studierenden höchstens am Ende ihrer Studienzeit erwerben können, eine Agitation aber unfehlbar auch die jungen und jüngsten Studierenden mitergreifen, so zu einem höchst bedenklichen und unerfreulichen Schauspiel werden, viele Gewissen nur verwirren und nicht wenigen sehr bald eine peinliche Reue eintragen würde (siehe auch insbesondere noch das unter No. 5 bemerkte). Indem ich die Absicht und den "Wunsch, aus denen die Frage hervorgegangen ist, ehre, vermag ich den Fragestellern schließlich zwei Winke zu geben, durch deren Befolgung sie angemessener und sicherer das erreichen werden, was sie wünschen:
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Erstlich, fleißiges Studium der Dogmengeschichte und Symbolik, damit ein wirkliches Verständnis, wie für den ursprünglichen Sinn der Bekenntnisse, so für die Geschichte der "Wandlung ihres Verständnisses — oft bis zu einem ganz neuen Sinn — erworben werde, und damit man sich auch in scheinbar oder wirklich fremde Anschauungen zu finden lerne und ihnen den Wahrheitsgehalt abzugewinnen verstehe. Sodann, Festigkeit in den auf der Universität etwa gewonnenen, von der sogenannten oder wirklichen Tradition abweichenden religiösen Überzeugungen, damit bei dem Eintritt ins Amt nicht in kurzer Zeit das wieder weggespült oder mit gebrochenem Gewissen beiseite geschoben wird, wovon man sich doch einst überzeugt hatte. Agitationen tun es nicht, am wenigsten wenn sie von noch nicht genügend reifen Personen ausgehen. Wenn aber alle als Männer im kirchlichen Amt die Ideale treu und fest halten, die sie als Jünglinge erworben haben, dann kommt gewiß eine goldne Zeit für die Kirche Jesu, und auch die Notstände, die jetzt ertragen werden müssen, werden aufhören. A n h a n g . Der wesentliche Inhalt des Apostolikums besteht in den Bekenntnissen, daß in der christlichen Religion die Güter „heilige Kirche", „Vergebung der Sünden", „ewiges Leben" geschenkt sind, daß der Besitz dieser Güter dem Glauben an Gott, den allmächtigen Schöpfer, an seinen Sohn Jesus Christus und an den heiligen Geist zugesagt ist, und daß sie durch Jesus Christus unsern Herrn gewonnen sind. Dieser Inhalt ist evangelisch.
I. Wenn man den Wortlaut des apostolischen Symbols zurückverfolgt aus unseren Katechismen und Drucken zu den ältesten Drucken und aus ihnen zu den Handschriften und zu den Werken der späteren Kirchenväter, so gelangt man etwa bis um das J a h r 500. Nicht nur läßt sich der heute bei den Protestanten und Katholiken gebrauchte Wortlaut nicht weiter zurückverfolgen, sondern es sprechen auch starke Gründe dafür, daß er vor dem Ende des 5. Jahrhunderts so nicht existiert hat. Wir treffen aber diese Form des Symbols um diese Zeit in der südgallischen Kirche an, und nur in ihr. Daraus folgt: das apostolische Glaubensbekenntnis in seiner heutigen Form ist das Taufsymbol der südgallischen Kirche seit der Mitte beziehungsweise seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Von Südgallien zog das Symbol in das Frankenreich ein und hat sich mit der Ausdehnung dieses Reiches verbreitet. Durch die Beziehungen der Karolinger zu Rom kam es in die Welthauptstadt — wenigstens ist es uns nicht bekannt, daß dies früher geschehen ist, — wurde dort rezipiert, und nun verbreitete es Rom in allen Ländern des Abendlandes, so daß man es seit dem 9. oder 10. Jahrhundert auch das neurömische Symbol nennen kann: das „neurömische", weil es, wie sich zeigen wird, auch ein altrömisches Symbol gegeben hat. Das Symbol gibt sich aber mindestens von der angegebenen Zeit ab keineswegs als ein provinzialkirchliches, vielmehr fordert es die höchste Autorität, indem es im strengsten Sinne des Worts „apostolisch" d. h. von den Aposteln verfaßt sein will. Diese Vorstellung war damals
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so ausgeprägt, daß jeder der zwölf Apostel einen Satz beigesteuert habe. So oder ähnlich lautete die allgemeine Überlieferung: „Am zehnten Tage nach der Himmelfahrt, als die Jünger aus Furcht vor den Juden versammelt waren, sandte der Herr den versprochenen Tröster (den heiligen G-eist). Sie wurden durch sein Kommen entzündet wie ein glühendes Eisen, mit der Kenntnis aller Sprachen erfüllt und verfaßten das Symbol. Petrus sprach: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer Himmels und der Erde", Andreas sprach: „Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn", Jakobus sprach: „Der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren aus Maria der Jungfrau", Johannes sprach: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben", Thomas sprach: „Niedergefahren in die Unterwelt, am dritten Tage auferstanden von den Toten", Jakobus sprach: „Aufgefahren gen Himmel, sitzt zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters", Philippus sprach: „Von dannen wird er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten", Bartholomäus sprach: „Ich glaube an den heiligen G-eist", Matthäus sprach: „Eine heilige, katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen", Simon sprach: „Sündenvergebung", Thaddäus sprach: „Auferstehung des Fleisches", Matthias sprach: „Ewiges Leben"." Diese Auffassung vom Ursprung des Symbols hat meines Wissens ungebrochen und von niemandem angetastet im ganzen Mittelalter und im gesamten G-ebiet der römischen Kirche geherrscht; nur die Griechen erklärten, daß sie von einem apostolischen Symbol nichts wüßten. Man kann sich vorstellen, welche Autorität ein Bekenntnis besitzen mußte, das man sich so entstanden dachte! Unbedenklich wurde es der heiligen Schrift gleichgestellt. Es erschien daher als ein furchtbarer Schlag, der den christlichen Glauben zu vernichten drohte, als L a u r e n t i u s V a l l a kurz vor der Reformation gegen die Uberlieferung
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auftrat und auch E r a s m u s Zweifel äußerte. In der ganzen Geschichte des Symbols hat es keinen kritischeren Moment gegeben. "War doch die ganze abendländische Christenheit, Geistliche und Laien, unterrichtet worden, das Symbol sei von den Aposteln in der angegebenen Weise verfaßt, und nun sollte sich die Kirche die Jahrhunderte hindurch geirrt haben! Welche bedenkliche, schwer zu ertragende Erschütterung des Glaubens! Die Pariser Theologische Fakultät zensurierte die Zweifel des E r a s m u s . Sie berief sich auf die Tradition, die E r a s m u s nicht zu kennen scheine: »Haec nescientia impietati deserviens scandalose proponitur«, rief sie dem Gelehrten zu. Aber auch Protestanten traten zuerst für die Wahrheit der bedrohten Überlieferung ein. Allein bald änderte sich das Urteil in ihren Reihen, und sie gaben, dem erdrückenden geschichtlichen Beweise folgend, mutig die Uberlieferung preis. Zögernd folgten die Katholiken. Der Catechismus Romanus hält die Abfassung des Symbols durch die Apostel fest, jedoch behauptet er nicht mehr sicher, daß jeder Apostel einen Satz beigesteuert habe. In den evangelischen Kirchen gilt das Symbol nicht mehr um seines Ursprungs willen für heilig, und doch sind sie nicht zusammengebrochen. Sie haben diese Erschütterung überstanden, wie so manche andere, aus einer geförderten Erkenntnis der Geschichte stammende, die sie genötigt hat, sich von der Form auf die Sache, von der äußeren Autorität auf den Inhalt, von dem Buchstaben auf den Geist zurückzuziehen. II. Aber wie ist ein provinzialkirchliches, gallisches Symbol — als ein solches erkannten wir das Apostolikum — zu der Ehre der Legende gekommen, es sei Satz für Satz von den Aposteln verfaßt, so daß es sich, mit dieser Uberlieferung ausgestattet, in der ganzen römischen Kirche durchgesetzt hat? Diese Tatsache wäre schlechthin tinerklärlich,
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wäre jene Legende nicht früher schon von einem anderen bedeutenderen Symbole ausgesagt und später auf das gallische Bekenntnis übertragen worden. I n der Zeit zwischen ca. 250 und ca. 460 (und noch darüber hinaus) hatte die römische Kirche im gottesdienstlichen Gebrauch ein Symbol, das sie in höchsten Ehren hielt, zu dem sie keine Zusätze duldete, das sie direkt von den zwölf Aposteln in der Fassung, in der sie es besaß, ableitete, von dem sie annahm, Petrus habe es nach Rom gebracht. Dieses Symbol liegt uns in einer Anzahl von Texten vor, so daß wir es mit fast vollkommener Sicherheit so wiederzugeben vermögen, wie es einst gelautet hat, nämlich: „Ich glaube an Q-ott den Vater, Allmächtigen, und an Christus Jesus seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, der geboren ist aus heiligem G-eist und Maria der Jungfrau, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in die Himmel, sich setzend zur Rechten des Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und Tote, und an heiligen Greist, heilige Kirche, Vergebung der Sünden, Fleisches Auferstehung." Rufinus und Ambrosius (am Ende des 4. Jahrhunderts) erzählen uns, daß dieses Symbol von den Aposteln verfaßt sei, ja man darf daraus, daß es Ambrosius bereits in zwölf Sätze eingeteilt wissen will, vielleicht schließen, daß die Sage, jeder Apostel hätte ein einzelnes Glied als seinen Beitrag zum Symbol beigesteuert, schon damals bekannt gewesen ist. Indes Rufinus, der etwas später geschrieben hat, kennt sie noch nicht, sondern weiß nur von der gemeinsamen Abfassung des Symbols durch die Apostel bald nach Pfingsten, bevor sie sich trennten, um die Weltmission zu beginnen. Doch kommt auf diesen P u n k t , ob jeder Apostel einen bestimmten Satz beigesteuert habe oder ob sie in anderer Weise als an der gemeinsamen Abfassung beteiligt vorgestellt wurden, wenig an. Die gemeinsame Ab-
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fassung durch die Apostel stand fest, und zwar „auf Grund einer alten Tradition", wie Rufinus sagt. Jedenfalls schon im Anfang des 4. Jahrhunderts, wahrscheinlich bereits im dritten, war der Glaube an sie in Rom herrschend. Die Folge war, daß man mit ängstlicher Sorgfalt über jedem Worte des Symbols wachte. „Wenn schon den Schriften eines Apostels", schreibt Ambrosius, „nichts entzogen und nichts hinzugefügt werden darf, so dürfen wir dem Symbol, das wir als von den Aposteln überliefert und verfaßt empfangen haben, nichts entziehen und nichts hinzufügen. Das aber ist das Symbol, welches die römische Kirche besitzt, wo der erste der Apostel, Petrus, gesessen hat und wohin er „die allgemeine Formel" (communem sententiam) gebracht hat." Allein diese Vorstellung der römischen Kirche von ihrem Taufbekenntnis kann nicht so alt sein wie das Taufbekenntnis selbst. Es geht das schlagend aus der Tatsache hervor, daß die anderen abendländischen Kirchen (vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zum 9. u. länger) Taufbekenntnisse besessen haben, die sich zwar sämtlich als Töchter des alten römischen erweisen, aber von demselben durch mehr oder weniger zahlreiche Zusätze unterscheiden. Wir kennen jetzt eine sehr große Anzahl von alten Taufbekenntnissen des Abendlandes, ζ. B. karthaginiensischafrikanische, ravennatische, mailändische, aquilejensische, sardinische, spanische, gallische, irische usw. Sie alle erweisen sich ohne Ausnahme als aus dem alten römischen Symbol geflossen; aber kaum ein einziges gibt dieses Symbol wörtlich genau wieder, sondern sie gestatten sich Modifikationen, Umstellungen und oft sehr belangreiche Zusätze (Weglassungen sind wenigstens nicht mit voller Sicherheit zu konstatieren). Diese Freiheiten wären undenkbar, wenn jene Kirchen, als sie das Symbol von Rom empfingen, bereits die Legende mitempfangen hätten, daß das Symbol wörtlich von den Aposteln verfaßt und daß deshalb sein Wortlaut heilig sei. Wie hätte ζ. B. die
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afrikanische Kirche den 3. Artikel so fassen können: »Credo remissionem peccatorum, resurrectionem carnis et vitarn aeternam per sanctam ecclesiam« („Ich glaube Sündenvergebung, Fleischesauferstehung und ewiges Leben durch die heilige Kirche"), wenn ihr ein anderer Wortlaut als apostolisch zugegangen wäre? Wie ließen sich die zahlreichen Zusätze erklären, wenn jene Kirchen das Symbol so betrachtet hätten wie A m b r o s i u s , d. h. als apostolisch und daher in seinem Wortgefüge unverletzlich? Die Vorstellung vom strikt apostolischen Ursprung des Taufbekenntnisses ist somit eine Neuerung in Rom gewesen, die nach der Zeit fällt, da von Rom aus das Evangelium und mit ihm auch das Symbol in die Provinzen getragen worden ist. Das lehren uns die provinzialkirchlichen Taufbekenntnisse. Sie lehren uns aber ferner, daß in allen Provinzen der Kirche des Abendlandes eine gewisse Freiheit der Symbolbildung Jahrhunderte hindurch geherrscht hat. Das römische Bekenntnis war überall die Grundlage. Aber auf dieser Grundlage bauten die einzelnen Kirchen ihre Taufbekenntnisse nach ihren Bedürfnissen selbständig und frei aus. So finden wir ζ. B. in der Kirche zu Aquileja gleich im ersten Artikel als Zusatz zu „Gott den allmächtigen Vater" die Worte „den unsichtbaren und leidensunfähigen" usw. Wir lernen hier die Bedeutung Roms f ü r die Kirche des Abendlandes aufs neue ermessen. Das Symbol der Stadt Rom beherrscht die gesamte Symbolbildung. Aber noch waltete außerhalb Roms kein ängstlicher Zwang des Buchstabens. Während die römische Kirche in ihren Grenzen den Wortlaut ihres Taufbekenntnisses skrupulös bewahrte und zur Sicherstellung desselben die Legende von dem apostolischen Ursprung des Symbols erzeugte, ließ sie es geschehen, daß in den Provinzialkirchen überall geändert wurde. Wie sie das ertragen hat, wissen wir nicht. Aber das wissen wir, daß zuerst Rom aus einem Glaubenszeugnis der Kirche ein
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strenges G-esetz gemacht und die gefälschte Legende vom apostolischen Ursprung aufgebracht hat. Aber noch etwas anderes lernen wir durch eine Vergleichung der provinzialkirchlichen Symbole mit dem alten römischen. Man kann auf direktem "Wege das Alter dieses Symbols höchstens bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts zurückführen. Aber die Tatsache, daß sich alle abendländischen Provinzialsymbole als Abwandelungen des römischen erweisen, verlangt, daß wir noch um ein Jahrhundert hinaufsteigen. Hatte die afrikanische Kirche bereits zur Zeit Tertullian's (um d. J . 200) ein festes Taufbekenntnis und war dasselbe, wie nicht zweifelhaft, eine Tochterrezension des römischen, so muß dieses selbst bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden sein. Dieses Ergebnis, welches durch die äußeren Zeugnisse gewonnen ist, wird aber bestätigt durch eine genaue Untersuchung des Inhalts des altrömischen Symbols. Diese Untersuchung macht es überaus wahrscheinlich, daß das Symbol "um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden ist, wie sie es andererseits widerrät, beträchtlich höher mit der Abfassungszeit hinaufzugehen. Man darf es als ein gesichertes Ergebnis der Forschung bezeichnen: das alte römische Symbol, dessen Wortlaut wir oben mitgeteilt haben, ist um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden. Es ist in Rom selbst abgefaßt worden (wenn es aus der orientalischen Kirche nach Rom gebracht worden wäre, müßten sich sicherere Spuren desselben im Orient finden, als wir kennen; es ist nicht einmal das gewiß, daß es ein ähnliches oder überhaupt ein ausgeführtes und fixiertes Taufbekenntnis im 2. Jahrhundert im Orient gegeben hat; doch waren die orientalischen G-laubensregeln besonders die christologischen dem römischen Symbol sehr verwandt) und hat dort zunächst nicht als „apostolisch" im strengen Sinn gegolten. Die Legende des apostolischen Ursprungs ist vielmehr erst in der Folgezeit, etwa zwischen
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den Jahren 250 und 330, in Rom aufgekommen, nachdem sich das Symbol schon in die abendländischen Provinzen verbreitet hatte. Erwachsen ist sie aus der älteren Annahme, daß die kirchliche Lehrtradition überhaupt und die Grundeinrichtungen der Kirche auf die Apostel zurückgehen. Doch dachte man sich ursprünglich diese Überlieferung als eine freiere. Ob nicht aber schon Irenaus ein engeres Verhältnis zwischen den Aposteln und dem Taufbekenntnis angenommen hat, ist noch zu untersuchen. ΠΙ. Die Verbindung dessen, was wir im ersten Abschnitt dargelegt haben, mit dem im zweiten Ausgeführten ist nun möglich. Das „apostolische Glaubensbekenntnis", welches wir jetzt brauchen und welches wir als das südgallische Symbol der 2. Hälfte des 5. Jahrh. erkannt haben, ist eine der Töchterrezensionen des alten römischen. Es unterscheidet sich von ihm — von kleineren stilistischen Differenzen abgesehen — durch folgende wichtigere Zusätze bez. Erweiterungen: 1. Schöpfer Himmels und der Erde. 2. Empfangen vom heiligen Q-eist, geboren aus der Jungfrau Maria (für: „geboren aus heiligem Geist und Maria der Jungfrau"). 3. Gelitten. 4. Gestorben. 5. Medergefahren in die Unterwelt. 6. Katholisch (als Zusatz zu „heilige Kirche"). 7. Gemeinschaft der Heiligen. 8. Ewiges Leben. Von allen diesen Zusätzen, die wir unten näher betrachten werden, bis auf einen (Communio sanctorum) gilt, daß sie sich in anderen Taufsymbolen und in der kirchlichen Überlieferung — das eine Stück hier, das andere dort — bereits lange vor dem Jahre 500 finden, nur nicht in dieser Zusammenstellung. Aber die Frage ist noch nicht beantwortet, wie es geschehen konnte, daß die römische Kirche ihr altes Symbol, das sie nachweisbar bis ins 5. Jahrhundert und darüber hinaus über alles hochschätzte und an dem sie nicht die geringste Veränderung
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zuließ, im 8. oder 9. (10?) Jahrhundert doch preisgegeben nnd mit dem Tochtersymbol, dem gallischen, vertauscht hat? Das Dunkel, das über dieser Vertauschung liegt, ist noch nicht völlig gelichtet, aber doch wesentlich erhellt. Seit dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts zogen arianische Christen in Scharen in Rom ein, und bald wurden sie die Beherrscher Italiens und seiner Stadt. Im Gegensatz zu diesen arianischen Christen, den Ostgoten, wird sich die römische Kirche entschlossen haben, ihr uraltes Symbol bei der Taufe aufzugeben und dafür das nicänische (konstantinopolitanische) Symbol zu brauchen, um schon bei dieser heiligen Handlung ihre abweisende Stellung gegenüber dem Arianismus zum Ausdruck zu bringen. Das altrömische Symbol ist nämlich, wie man sich leicht überzeugen kann, dem Gegensatz zwischen Orthodoxie und Arianismus gegenüber neutral. Auch ein Arianer kann es bekennen; denn er leugnet nicht, daß Christus der eingeborene Sohn Gottes ist, sondern behauptet es und ebenso alle Tatsachen, die im Symbol zusammengestellt sind. Um also die orthodoxe nicänische Lehre bei der Taufe zu bekennen und sich auf diese Weise bestimmt gegen die arianischen Ostgoten (später gegen die gleichfalls arianischen Langobarden) abzugrenzen, hat die römische Kirche seit dem Ausgang des 5. Jahrhunderts ihr altes Symbol im liturgischen Gebrauch allmählich fallen gelassen. Indessen ist es möglich, daß der Gegensatz gegen den Arianismus bei dieser Vertauschung keine Rolle gespielt hat, sondern Rom im 6. Jahrhundert zum Symbol von Konstantinopel übergegangen ist (resp. erst am Ende des 6. Jahrh.), weil es in dieser Zeit überhaupt in starke Abhängigkeit von dem byzantinischen Reiche geriet. Ob die Vertauschung Kämpfe gekostet und wie sie sich vollzogen hat, wissen wir nicht; nur die Tatsache selbst ist uns bekannt. Aber nachdem das alte römische Symbol einmal aus dem liturgischen Gebrauch entfernt war, scheint es in Rom selbst
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allmählich in Vergessenheit geraten zu sein. Etwa zwei bis drei Jahrhunderte hindurch gebrauchte Rom bei der Taufe das Symbol von Konstantinopel. Das ist eine lange Zeit, und sie genügt, um es zu erklären, daß das Symbol mehr und mehr aus dem Gedächtnis entschwand; denn damals behauptete sich im kirchlichen Leben nur, Avas in dem Grottesdienste gebraucht wurde. Die liturgischen Handschriften waren die Träger der gottesdienstlichen und kirchlichen Tradition. Immerhin aber bleibt es eine sehr bemerkenswerte Tatsache, daß selbst eine so exorbitante Legende, wie die von dem Ursprung des Symbols, es auf die Dauer nicht zu schützen und vor dem Untergang zu bewahren vermocht hat. Nur in verborgenen "Winkeln der Uberlieferung ist das alte römische Symbol im 17. Jahrhundert und in unserer Zeit wieder aufgefunden worden; in der großen Tradition der Kirche ist es fast spurlos verschwunden, vor allem in Rom selbst. Mit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts änderten sich in Rom die Verhältnisse. Das Band mit Konstantinopel war gelockert, ja fast zerrissen. Der Arianismus war im Aussterben. Eine Gefahr von dieser Seite her war nicht mehr zu befürchten, der Gebrauch eines gegen die Arianer gerichteten Symbols daher nicht mehr gefordert. Dagegen war Rom und seine Kirche in sehr enge Beziehungen zu den Franken getreten. Sie waren schon seit Jahrhunderten katholisch und wurden unter Karl dem Großen die Herren von Rom. Der Papst und seine Kirche gerieten in volle Abhängigkeit von dem großen fränkischen Könige. Damals oder etwas später muß die zweite Vertauschung in der römischen Kirche stattgefunden haben. Sie ließ das konstantinopolitanische Symbol bei der Taufe fallen und kehrte zu einem kürzeren Taufbekenntnis zurück. Aber nicht zu ihrem alten — dieses war ihr entschwunden — sondern zu dem gallischen, welches nun das fränkische geworden war. Sie rezipierte dieses Sym-
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bol. Nun aber geschah das Paradoxeste: sie übertrug jetzt die Legende von dem strikten apostolischen Ursprung des Taufbekenntnisses, die sich doch auf das altrömische Symbol bezogen hatte und bei Ambrosius, Rufin u. a. zu lesen stand, ohne Weiteres auf das Tochtersymbol, von dem sie nie gegolten hatte und welches auch eine neue Verteilung der Artikel auf je einen der zwölf Apostel erheischte, weil es mehr Glieder zählte als das altrömische. "Welch ein wunderbarer G-ang der Geschichte! Die römische Kirche trägt ihr altes Symbol nach Gallien. Dort wird es im Lauf der Zeiten vermehrt. Unterdessen bildet die römische Kirche die Legende von dem strikt apostolischen Ursprung ihres unveränderten Symbols aus. Dann läßt sie es unter dem Druck äußerer Verhältnisse doch fallen, und es verschwindet. Unterdessen dringt das Tochtersymbol von Gallien ins Frankenreich und erobert sich dort den entscheidenden Platz. Das Frankenreich wird zum Weltreich, macht sich zum Herrn von Rom. Rom erhält von dorther sein eigenes Symbol, aber in erweiterter Gestalt, zurück, es nimmt das Geschenk an, verleiht der neuen Form römische Autorität und krönt die Tochter mit der Krone der Mutter, indem es die Legende von dem strikt apostolischen Ursprung auf sie überträgt. Das Interessanteste an diesen geschichtlichen Prozessen ist die Bedeutung des Frankenreichs für die römische Kirche der Karolingerzeit. So gewaltig, so schlagend tritt sie vielleicht an keinem anderen Punkte hervor. Das Reich Karls des Großen hat Rom sein Symbol gegeben. J a es hat damals Rom und durch Rom der abendländischen Christenheit noch ein zweites Symbol geschenkt, das sog. athanasianische. Zwei von den sog. ökumenischen Symbolen sind gallisch, resp. fränkisch. Aber man darf vielleicht annehmen — direkt wissen wir freilich darüber nichts —, daß die römische Kirche Umstände gemacht hätte, das fränkische Symbol als Taufsymbol zu rezipieren, wenn sie es nicht als einen
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alten Bekannten erkannt hätte. Es ist doch wahrscheinlich, daß in Rom noch soviel geschichtliche Überlieferung vorhanden war, daß man durch das fränkische Bekenntnis an das eigene alte, einst so hochgeehrte erinnert wurde. Die Differenzen übersah man oder hielt sie nicht f ü r erheblich. So wachte an dem neuen Symbol die Legende, die das alte umstrahlt hatte, wieder auf und wurde wiederum und f ü r lange Zeit eine Macht in ,der Kirche, bis sie im Zeitalter der Renaissance und Reformation gestürzt wurde. IV. Man sollte erwarten, daß der Wortlaut des Symbols nach der neuen Rezeption mit peinlichster Treue im Mittelalter behütet worden ist. I m allgemeinen ist das auch der Fall gewesen. Doch fehlen Schwankungen nicht ganz zum Beweise, daß eine lebendige Kirche nicht am Buchstaben kleben kann, wenn sie ein besseres Wort weiß oder dem Buchstaben einen sicheren Sinn nicht abzugewinnen vermag. So ist in einigen mittelalterlichen Formeln das „niedergefahren in die Unterwelt" weggelassen. Ferner hat das Nebeneinander der beiden Glieder „heilige Kirche" und „Gemeinschaft der Gläubigen" dem Verständnis Schwierigkeiten bereitet. Daher fließen beide in einigen Formeln in eins zusammen oder das zweite Glied erhält Zusätze. Statt „Kirche" findet sich das Wort „Christenheit"; ja in einigen Formeln ist das Wort „katholisch" weggelassen oder dafür „christlich", bezw. „gläubig" gestellt. Diese Änderung ist deshalb wichtig, weil Luther und die lutherische Kirche sie rezipiert haben. Sie haben in dem deutschen Symbol „Eine heilige christliche Kirche" für „Sanctam ecclesiam catholicam" gesetzt. Zusätze zu dem Symbol finden sich in manchen mittelalterlichen Formeln, teils aus dem Constantinopolitanum genommene, teils frei hinzugefügte. „Besonders macht sich das Bedürfnis geltend, was in der alten Kirche nur ganz vereinzelt auftritt, das Leben Christi auf
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Erden in historischen Zügen auszuführen. 14 Nachdem Bernhard von Clairvaux und Franziskus von Assisi die Züge des geschichtlichen Christus in seiner Demut und Armut, Liebe und Leiden vor die Seele gestellt hatten, ist es wohl verständlich, daß die wenigen Tatsachen, die im Symbol verzeichnet sind, nicht mehr genügten. Wie weit aber das Bestreben, den geschichtlichen Christus in jenen Zügen im Symbol anzuschauen, auf die Erklärung resp. auch die Gestaltung des Symbols selbst im Mittelalter eingewirkt hat, verlangt noch eine Untersuchung. Luther, der das Symbol aufs höchste schätzte, hat doch an zwei Sätzen leisen Anstoß genommen. Es ist charakteristisch, wie er sich darüber im Großen Katechismus ausgesprochen hat. Zu „Sanctorum communionem" bemerkt er: „Aber recht deutsch zu reden, sollt es heißen eine Gemeine der Heiligen, das ist, eine Gemeine, darin eitel Heilige sind, oder noch klärlicher eine heilige Gemeine [beides heißt es aber nicht]. Das rede ich darum, daß man die Worte: Gemeinschaft der Heiligen, verstehe, weil es so in die Gewohnheit eingerissen ist, daß schwerlich wieder heraus zu reißen ist, und muß bald Ketzerei sein, wo man ein Wort ändert" („et statim haeresim esse oporteat, ubi verbulum aliquod immutatum fuerit"). Und zur „Auferstehung des Fleisches" sagt er: „Daß aber hie stehet Auferstehung des Fleisches ist auch nicht wohl deutsch geredt [aber der Originaltext bietet denselben Anstoß; die Ubersetzung trägt keine Schuld]. Denn wo wir Deutschen Fleisch hören, denken wir nicht weiter denn an die Scharren [Metzgerbank]. Auf recht deutsch aber würden wir also reden: Auferstehung des Leibes oder Leichnams; doch liegt nicht große Macht dran, so man nur die Worte recht versteht." Y. I n dem vorstehenden ist der Versuch gemacht, den Ursprung und die Grundzüge der äußeren Geschichte des
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Apostolikums bis zur Reformation darzulegen. Sieht man von den acht Zusätzen, die oben angegeben sind, und von der lutherischen Yertauschung des „Katholisch" in „Christlich" ab, so darf man sagen, daß das Symbol aus der nachapostolischen Zeit stammt und zwar aus der Hauptkirche des Abendlandes, Rom. "Wer es dort verfaßt hat, ist unbekannt. Der Zweck, um dessen willen es aufgestellt worden ist, läßt sich aus seinem Gebrauche mit Sicherheit feststellen: es ist aus der missionierenden und katechetischen Funktion der Kirche hervorgegangen und war ursprünglich lediglich Taufsymbol („Ter mergitamur, amplius aliquid respondentes quam dominus in evangelio determinavit", d. h. „dreimal werden wir untergetaucht und erwidern [dem, der die Handlung an uns vollzieht] dabei einige "Worte mehr als der Herr im Evangelium [s. den Tauf befehl] angeordnet hat"). Die Meinung älterer und neuerer Gelehrter, daß das Symbol der allmählich entstandene Niederschlag aus G-laubensregeln ist, die gegen die G-nostiker aufgestellt wurden, daß es also aus der Polemik stammt, läßt sich nicht halten; vielmehr gilt das Umgekehrte: die verschiedenen antignostischen G-laubensregeln setzen ein kurzes, festes, formuliertes Bekenntnis voraus, und das ist im 2. Jahrhundert eben das römische Symbol gewesen. Es stammt aus der Zeit vor dem brennenden Kampf mit der Häresie oder nimmt doch auf diesen Kampf keine Rücksicht. Ein so altes Symbol, welches nur um etwa zwei Menschenalter von der apostolischen Zeit entfernt liegt, und direkt oder indirekt die Wurzel aller Symbole der Christenheit geworden ist, verlangt, daß man seinen ursprünglichen Sinn im ganzen und in den einzelnen Teilen, sowie sein Verhältnis zur ältesten Verkündigung des Evangeliums sorgfältig feststellt. Kann ihm auch nach den allgemein anerkannten Grundsätzen der evangelischen Kirchen keine selbständige Autorität zukommen, geschweige eine unfehlbare, rührt es ferner trotz seines hohen Alters aus einer Zeit her,
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aus der sehr vieles stammt, was die Reformationskirchen abgelehnt haben, so verdient doch die Frage: Was wollte das Symbol bekennen und sagen? die genaueste Untersuchung. Auf den ersten Blick scheint diese Frage überaus leicht beantwortet werden zu können. Ein großer Teil seiner Sätze läßt sich wörtlich aus der noch älteren christlichen Verkündigung belegen, und als Granzes scheint das Bekenntnis so durchsichtig und einfach, daß es keiner Erklärung zu bedürfen scheint. Allein sieht man näher zu und vergleicht man die christliche Theologie der Zeit, aus der es stammt, so stellt sich manches in anderem Lichte dar. Das Symbol ist die erweiterte Taufformel: das muß man f ü r seine Erklärung festhalten. Demgemäß ist es dreigliederig wie jene. Die Zerteilung in zwölf Abschnitte ist offenbar eine spätere künstliche Operation, gegen die sich das ganze Grefüge des Bekenntnisses sträubt. Die Erweiterung ist so erfolgt, daß die drei Grlieder der Taufformel „Vater, Sohn und heiliger Greist" näher bestimmt wurden. Die christliche Gremeinde hatte das Bedürfnis, sie deutlich zu beschreiben, um zu bekennen, was sie an ihnen und durch den Glauben an sie besitzt. Ein volles, durch keinen anderen Ausdruck zu ersetzendes Zeugnis des Glaubens ist der Satz des ersten Artikels: „Ich glaube an Grott, den Vater, Allmächtigen" (oder vielleicht: „Grott den allmächtigen Vater"). Zwar wenn man die gleichzeitigen kirchlichen Schriften untersucht, findet man in ihnen das volle evangelische Verständnis des Vaternamens nicht mehr: ihre Verfasser denken in der Regel nur an Grott als den Vater der Welt, wenn sie ihn Vater nennen. Auch ist der Ausdruck selbst in ihnen nicht eben häufig; gewöhnlich wird Grott „der Herr" (Despot) genannt oder „der Schöpfer". Um so willkommener ist es, daß er sich in dem Symbol findet. Hat ihn der Verfasser selbst auch wahrscheinlich nicht nach Matth. 11, 25 ff., Rom. 8, 15 und wie L u t h e r gedeutet, so tritt er doch
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einer solchen Deutung nicht in den Weg. In der alten Kirche verlor sie sich freilich bald. Bei den Erklärungen des Vater-Unsers blitzt sie hier und dort auf (so bei Tertullian und Origenes), aber bei der Erklärung der Glaubensregeln sucht man sie fast überall vergebens. Ebenso einfach und gewaltig, evangelisch und apostolisch ist die Erweiterung des zweiten Gliedes „Christus Jesus, Gottes eingeborener Sohn, unser Herr". Die beiden entscheidenden Prädikate für Jesus Christus, die alle evangelischen Aussagen über ihn einschließen, sind hier zusammengestellt. Aus allen Bezeichnungen, die sich in der christlichen Predigt der älteren Zeit finden, sind die beiden umfassendsten ausgewählt (ob die Voranstellung· des „Christus" vor „Jesus" noch eine Erinnerung daran enthält, daß Christus = Messias ist, läßt sich nicht sagen). Der Zusatz „eingeboren" findet sich im Neuen Testament nur im Johannes-Evangelium; aber die Sache haben auch Matthäus und Lukas (s. 11, 27 f. bez. 10, 22 f.), und sie wird überhaupt einhellig von der ältesten Gemeinde bezeugt: Jesus Christus ist nicht nur ein Sohn Gottes, sondern er ist „der Sohn", also der einige Sohn. Das "Wort „Herr" ist in dem prägnanten Sinne zu fassen, den die alte Zeit mit ihm verband. Luther, der im großen Katechismus die ganze Auslegung des 2. Artikels in die Auslegung des "Wortes „Herr" hineingezogen hat (vgl. übrigens auch das „sei mein Herr" im kleinen Katechismus), hat damit nicht nur katechetisch den richtigen Griff getan, sondern er hat auch den Sinn des Glaubensbekenntnisses in seiner Weise wiederhergestellt: „Das sei nun die Summa dieses Artikels, daß das "Wörtlein ,Herr' aufs einfältigste so viel heiße als ein Erlöser, das ist, der uns vom Teufel zu Gott, vom Tod zum Leben, von Sünde zur Gerechtigkeit bracht hat und dabei erhält." Aber noch ist eine Erläuterung zu dem Bekenntnis „eingeborener Sohn" nötig. I n der Zeit nach dem Nicänum wird bei diesen Worten in der Kirche durch-
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weg an die vorzeitliche, ewige Sohnschaft Christi gedacht und jede andere Auslegung gilt als Häresie. So hat auch Luther die "Worte erklärt: „wahrhaftiger Grott, vom Vater in Ewigkeit geboren." Allein diese Fassung verlangt, auf das Symbol übertragen, eine Umdeutung desselben. Es läßt sich nicht nachweisen, daß um die Mitte des 2. Jahrhunderts der Begriff „eingeborener Sohn" in diesem Sinne verstanden worden ist; vielmehr läßt es sich geschichtlich zeigen, daß er nicht so verstanden worden ist. "Wo Jesus Christus „Sohn" heißt, wo ein „geboren sein" von ihm ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichtlichen Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der geschichtliche Jesus Christus ist der Sohn. Erst spekulierende christliche Apologeten und die gnostischen Theologen haben das "Wort anders verstanden und in ihm das Verhältnis des vorgeschichtlichen Christus zu Gott ausgedrückt gefunden. Später noch wurde die ganze Zweinaturenlehre in die "Worte hineingelegt: „der eingeborene Sohn" bedeute die göttliche Natur und erst in dem, was folgt, werde die menschliche Natur bekannt. Es dauerte aber längere Zeit, bis sich diese Auslegung in der Kirche durchsetzte, um dann die allgemeine zu werden und die ältere zu verdrängen. Wer also die „ewige Sohnschaft" in das altrömische Symbol hineinlegt, der gibt ihm einen anderen Sinn als der ursprüngliche lautete. Aber zum Häretiker ist trotzdem nach dem 3. Jahrhundert jeder gestempelt worden, der damals noch bei dem ursprünglichen Sinn des Symbols stehen blieb und sich weigerte, die neue Deutung anzuerkennen. Das Taufbekenntnis hat sich mit dem Zeugnis von Christus als des eingeborenen Sohnes und unseres Herrn nicht begnügt, sondern es hat noch fünf (sechs) Sätze hinzugefügt: „Der geboren ist aus heiligem Greist und Maria der Jungfrau, der unter Pontius Pialatus gekreuzigt und begraben ist,
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am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in die Himmel, sich setzend zur Rechten des Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und Tote." Was sollten diese Sätze besagen? Man hat gemeint, sie seien um der alttestamentlichen "Weissagung willen ausdrücklich hervorgehoben, um die Erfüllung derselben auszusprechen, so wie der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief schreibt (15, 3f.): „Ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei f ü r unsere Sünden, nach der Schrift, und daß er begraben sei und daß er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift." Allein wenn das die Absicht des Verfassers gewesen wäre, so hätte sie klarer hervortreten müssen; in Wahrheit ist sie durch nichts angedeutet. Andere haben gemeint, daß der Verfasser die wichtigsten einzelnen Heilstatsachen habe hervorheben wollen. Diese Auffassung kommt dem Richtigen näher; aber sie ist in dieser Form doch nicht haltbar; denn sie schiebt etwas ein, was der alten Zeit fern lag. Ihr war Jesus Christus der Erlöser und sein ganzes Tun ein erlösendes; aber die Zusammenstellung einer besonderen Reihe von einzelnen Heilstatsachen, jede für sich ein besonderes Gut einschließend, lag ihr fern. Stünde an dieser Stelle in dem Symbol etwa nur „der gekreuzigt ist um unserer Sünden willen und am dritten Tage auferwecket ist" und sonst nichts weiteres, so wäre freilich gewiß, daß das Symbol diese Ereignisse als Heilstatsachen habe hervorheben wollen (wie Paulus), aber angesichts der ganzen Reihe läßt sich nichts anderes behaupten, als daß das Symbol einen geschichtlichen Bericht von dem Herrn, dem Sohne Gottes, hat geben wollen. Die Haupttatsachen seiner Geschichte, einer Geschichte, die ihn von allen anderen unterscheidet, sollten bekannt werden. Was er ist, bezeugt der Eingang: „der eingeborene Sohn Gottes und unser Herr"; seine Geschichte — es ist die
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Geschichte des Erlösers — sollte in den Zusätzen ausgesagt werden. Die Auswahl dieser Zusätze deckt sich wesentlich mit der ursprünglichen Verkündigung des Evangeliums, aber doch nicht mehr vollkommen. Stünden allein die Worte in dem Symbol: „der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, sitzet zur Rechten des Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und Tote", so wäre kein Unterschied vorhanden. Aber daß der Satz: „der geboren ist aus heiligem G-eist und Maria der Jungfrau", nicht der ursprünglichen Verkündigung des Evangeliums angehört, ist eine der sichersten geschichtlichen Erkenntnisse; denn 1. er fehlt in allen Briefen des Apostels Paulus und überhaupt in allen Briefen des Neuen Testaments, 2. weder in dem Evangeliuni des Markus ist er zu finden, noch sicher in dem des Johannes, 3. er fehlte auch in der Vorlage und gemeinsamen Quelle des Matthäus- und Lukas-Evangeliums, 4. die Genealogien Jesu, welche diese beiden Evangelien enthalten, führen auf Joseph und nicht auf Maria, 5. alle vier Evangelien bezeugen es — zwei unmittelbar, zwei mittelbar —, daß die ursprüngliche Verkündigung von Jesus Christus mit seiner Taufe begonnen hat. So gewiß es ist, daß die Geburt Jesu aus dem heiligen Geist und der Jungfrau Maria bereits in der Mitte des 2. Jahrhunderts, ja wahrscheinlich schon nicht lange nach dem Anfang desselben, ein festes Stück der kirchlichen Uberlieferung bildete, so gewiß ist es, daß sie in der ältesten Verkündigung keine Stelle gehabt hat. Diese begann mit Jesus Christus, dem Sohn Davids nach dem Fleisch, dem Sohn Gottes nach dem Geist (s. Rom. 1, 3 f.), bez. mit der Taufe Christi durch Johannes und der Herabkunft des Geistes auf ihn. Daß in dem apostolischen Symbolum die Davidssohnschaft, die Taufe und die Herabkunft des Geistes auf Jesum weggelassen und dafür die Geburt aus dem heiligen Geist und der
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J u n g f r a u eingesetzt ist, ist also gegenüber der ältesten Verkündigung eine Neuerung, die da zeigt, daß das Symbol nicht der ältesten Zeit angehört, so wenig wie die Evangelien des Matthäus und Lukas die älteste Stufe der evangelischen Geschichte darstellen. Die Kirche hat dann weiter, schon bald nach der Zeit der Abfassung unseres Symbols, verlangt, daß man das Prädikat „Jungfrau" bei Maria von der bleibenden Jungfrauschaft verstehe. I n den evangelischen Kirchen aber ist dieses Verständnis zurückgewiesen worden. — Nicht ebenso wichtig, auch nicht sicher zu fassen, aber doch nicht zu übergehen, ist noch eine Abweichung von der ältesten Predigt: es ist die besondere Hervorhebung der Himmelfahrt. I n der ältesten Verkündigung hat diese kein besonderes Grlied gebildet; aber es ist auch nicht ganz sicher, ob das Symbol sie so fassen, oder ob es nicht mit den drei Worten „auferstanden, aufgefahren, sich setzend" einen einzigen Akt beschreiben wollte. I n dem ersten Korintherbrief (15, 3f.), in den Briefen des Clemens, Ignatius und Polykarp, im Hirten des Hermas wird die Himmelfahrt überhaupt nicht erwähnt; aber sie fehlt auch in den drei ersten Evangelien. Was wir jetzt dort lesen, sind spätere Zusätze, wie die Textgeschichte beweist. I n einigen der ältesten Zeugnisse wird die Auferstehung mit dem sich Setzen zur Rechten Grottes in eins zusammengefaßt, ohne Erwähnung einer Himmelfahrt; im Barnabasbrief sind Auferstehung und Himmelfahrt auf einen Tag verlegt; nur die Apostelgeschichte berichtet im Neuen Testament, daß 40 Tage dazwischen gelegen hätten. Andere alte Zeugnisse erzählen wieder anders und setzen gar 18 Monate dazwischen. Aus diesem Schwanken, welches lange gedauert hat, geht hervor, daß die älteste Verkündigung eine einzige Tatsache mit verschiedenen Worten beschrieben hat und daß die Differenzierung zu mehreren Akten einer späteren Zeit angehört. Eine solche Differenzierung ist aber nicht unbedenklich; denn sie legt es nahe, jedem
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Stücke eine besondere Bedeutung f ü r sich zu geben und damit das Gewicht des entscheidenden Stücks zu schwächen. Andererseits — das „Auferstanden von den Toten" verlangte allerdings einen Zusatz; denn nicht an einfache Wiederbelebung sollte geglaubt werden, sondern an eine Erhöhung zur Macht und Herrschaft im Himmel und auf Erden. Eben dieses drückte die älteste Verkündigung entweder durch die Himmelfahrt oder durch das Sitzen zur Rechten Gottes aus. Das dritte Glied der Taufformel: „Ich glaube an den heiligen Geist" ist nicht, wie die beiden vorigen, persönlich, sondern sachlich ergänzt (durch die drei Stücke: „Heilige Kirche, Vergebung der Sünden, Fleisches Auferstehung"). Hiernach scheint es, als sei in dem Symbol der heilige Geist selbst nicht als Person aufgefaßt, sondern als K r a f t und Gabe. Dem ist wirklich so. Man kann nicht nachweisen, daß um die Mitte des 2. Jahrhunderts der heilige Geist als Person geglaubt worden ist. Diese Vorstellung ist vielmehr eine bedeutend spätere, die noch um die Mitte des 4. Jahrhunderts den meisten Christen unbekannt gewesen ist, sich dann aber im Zusammenhang mit der nicänischen Orthodoxie eingebürgert hat. Entstanden ist sie aus der wissenschaftlichen griechischen Theologie; denn es läßt sich nicht nachweisen, daß die (scheinbare oder wirkliche) Personifikation des heiligen Geistes im JohannesEvangelium als „des Trösters" hier eingewirkt hat. "Wer also in das Symbol die Lehre von drei Personen der Gottheit einführt, der erklärt das Symbol wider seinen ursprünglichen Sinn und deutet es um. Eine solche Umdeutung ist allerdings seit dem Ende des 4. Jahrhunderts von allen Christen verlangt worden, wollten sie sich nicht dem Vorwurf und den Strafen der Häresie aussetzen. Als Gabe ist der heilige Geist in dem Symbol gemeint, aber als eine Gabe, in der göttliches Leben den Gläubigen dargeboten wird; denn der Geist Gottes ist Gott selbst (in
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diesem Sinn ist an der Persönlichkeit nicht gezweifelt worden). Hinzugefügt — aber sie sind nur eine Explikation der einen Grabe — werden drei Grüter, und hier gibt das Bekenntnis die apostolische Predigt vollkommen wieder: „heilige Kirche, Vergebung der Sünden und Fleisches Auferstehung". Alles, was der Grlaube an Jesus Christus enthält und schafft, ist in diesen Worten enthalten: Die von Christus erlöste, mit dem heiligen Greist begabte und darum heilige Gemeinde, die ihr Bürgerrecht im Himmel hat, aber schon hier auf Erden den heiligen Greist besitzt, die Erneuerung des Einzelnen durch die Vergebung der Sünden, und die Auferstehung von den Toten. So gewiß aber diese drei Stücke den ganzen Inhalt der evangelischen Grüter in sich begreifen, so gewiß ist die Fassung des letzten Stücks nicht paulinisch und nicht johanneiscli. Paulus schreibt (I. Kor. 15, 50): „Davon sage ich aber, liebe Brüder, daß Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben; auch wird das Verwesliche nicht erben das Unverwesliche", und im Johannes-Evangelium steht geschrieben (6, 63): „Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein nütze". I n der Fassung der Auferstehung und des ewigen Lebens als „Auferstehung des Fleisches" ist mithin die nachapostolische Kirche über die Linie hinausgegangen, die in der gemeinsamen ältesten Verkündigung gegeben war. Wohl ist schwerlich daran zu zweifeln, daß von der frühesten Zeit her einige Christen die Auferstehung des Fleisches gepredigt haben, aber eine allgemeine Lehre war sie nicht. Auch bieten viele Zeugnisse der älteren Zeit statt Auferstehung des Fleisches „Auferstehung" oder „ewiges Leben". Andererseits bestand die Kirche, als sie bald in den Kampf mit dem Gnostizismus eintreten mußte, auf der Auferstehung des Fleisches, um nicht die Auferstehung überhaupt zu verlieren. Aber so verständlich das ist — in dem damaligen Kampfe scheint keine andere Formel ausgereicht zu haben —, so kann die Anerkennung
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dessen, daß sich die Kirche damals in einem Notstand befand, das Recht der Formel nicht schützen. Wir haben bisher den Wortlaut des altrömischen Symbols betrachtet und von den acht Zusätzen des gallischen, neurömischen Symbols (unseres jetzigen Apostolikums) abgesehen, die wir oben bezeichnet haben. Fünf von ihnen verlangen keine Besprechung; denn sie sind schlechterdings nichts anderes als Explikationen. Daß „gelitten" zu „gekreuzigt", „gestorben" vor „begraben", „ewiges Leben" nach Fleisches Auferstehung" gestellt ist, daß Gott der allmächtige Yater ausdrücklich als „Schöpfer Himmels und der Erde" bezeichnet, daß endlich für „geboren aus heiligem Geist und Maria der Jungfrau" gesagt wird, „empfangen vom heiligen Geist, geboren aus der J u n g f r a u Maria" ändert an dem sachlichen Inhalt und dem Sinn des alten Symbols gar nichts. Man könnte höchstens sagen, daß das letzte Stück eine Ausmalung darstellt, die das alte Symbol in berechtigter Scheu vermieden habe. Anders steht es mit den drei noch übrigen Zusätzen, nämlich mit „niedergefahren zur Hölle", „katholische (Kirche)" und „Gemeinschaft der Heiligen". Das »descendit ad inferna« (inferos) kommt meines Wissens zuerst im Taufsymbol der Kirche von Aquileja, dann, außer in den gallischen Symbolen, auch in dem irischen usw. vor. Im Orient erscheint es zuerst in der Formel der 4. Synode von Sirmium (i. J . 359). Das nicänische und konstantinopolitanische Symbol bieten es nicht. Aber in Schriften des 2. Jahrhunderts, und zwar bei kirchlichen Schriftstellern und Häretikern, findet sich bereits der Gedanke, daß Christus — vor ihm Johannes der Täufer, nach ihm die Apostel — in die Unterwelt hinabgestiegen sei und dort gepredigt habe. Ob die Stelle I. Petri 3, 19 für alle diese Erzählungen den Ausgangspunkt gebildet hat, wissen wir nicht. Seitdem das Stück in den Symbolen auftaucht, d. h. seit der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts, wird es auch in den Auslegungen miterklärt. Aber die Erklärungen
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lauten verschieden. An die „Hölle" hat im Altertum meines Wissens kaum einer gedacht, sondern an die Unterwelt, den Hades, das Reich der Toten. Die einen fassen die Worte lediglich als Ergänzung zu „begraben" und finden nur den Sinn in ihnen, daß der Herr wirklich an den Ort der Toten gekommen ist. Die anderen folgen dem 1. Petrusbrief und sprechen von einer Predigt Christi in der Unterwelt und der Herausführung der alttestamentlichen Gerechten aus dem Hades. Die Erklärung, die Luther in einer Predigt vorgetragen und die Konkordienformel vorgeschrieben hat („Wir glauben einfältig, daß die ganze Person, Gott und Mensch, nach dem Begräbnis zur Hölle gefahren, den Teufel überwunden, der Höllen Gewalt zerstöret und dem Teufel alle seine Macht genommen habe"), findet sich bei den alten Erklärern nicht, ja sie wird fast von allen streng ausgeschlossen. Als selbständiges, ebenbürtiges Glied neben den anderen zu stehen, dazu ist der Satz zu schwach, und darum fehlte er mit Hecht in den Symbolen der Kirche vor Konstantin, mag man nun diese oder jene Erklärung oder die seltsame Umdeutung Luthers bevorzugen. Der Zusatz „katholisch" zur „heiligen Kirche" ist in den evangelischen Kirchen getilgt und durch „christlich" ersetzt worden. Wir haben es daher eigentlich nicht nötig, auf ihn einzugehen. Allein da er im lateinischen Text (s. ζ. B. Luthers großen und kleinen Katechismus) stehen geblieben ist, so verlangt er doch ein kurzes Wort. Die Bezeichnung der Kirche als „katholisch" ist in der kirchlichen Literatur sehr alt, mindestens so alt wie das altrömische Symbol, und zwar findet sie sich zuerst im Orient. Sie bedeutete ursprünglich nichts anderes als die „allgemeine" Kirche, die ganze Christenheit, die unter dem Himmel ist und die Gott berufen hat. An die verfaßte sichtbare Kirche ist noch nicht gedacht. Hätte das Wort also bereits in dem altrömischen Symbol Aufnahme gefunden, so wäre es dort in diesem Sinne zu deuten. Allein seit dem Uber-
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gang des 2. zum 3. Jahrhundert bekam das Wort noch einen Nebensinn, der dann allmählich im Abendlande zum ebenbürtigen Sinn wurde. Es bezeichnete die sichtbare, in bestimmten Ordnungen verfaßte, um die Apostelgemeinden, vor allem um Rom sich gruppierende orthodoxe Kirche im Unterschied von den häretischen Gemeinschaften. Es ist namentlich Afrika (und in Afrika Cyprian) gewesen, das den Begriff in dieser Richtung ausgebildet hat. Wir sind deshalb verpflichtet, die Bezeichnung, nachdem sie in die lateinischen Symbole vom 3. Jahrhundert an aufgenommen wurde (heimisch wurde sie in den Symbolen erst im 5. Jahrhundert), dort auch in dem angegebenen Sinne zu verstehen, also auch in unserem Apostolikum. Dann aber ist offenbar, daß die Kirche der Reformation die so zu deutende Bezeichnung nicht stehen lassen konnte. Sie mußte sie umdeuten oder entfernen. Jenes ist in Bezug auf den lateinischen Text geschehen — Luther kehrt aber mit dieser Umdeutung zum ältesten Sinn des Wortes wieder zurück, über den Symbolsinn hinwegschreitend —, dieses in Bezug auf den deutschen Text. Am dunkelsten ist die Entstehung und der ursprüngliche Sinn des Zusatzes „Gemeinschaft der Heiligen". Man hat versucht, diesen Begriff in Verbindung zu setzen mit dem Stück „Niedergefahren zur Hölle". Dort soll die himmlische Gemeinschaft der Heiligen, hier die der alttestamentlichen Gerechten, die aus dem Hades ausgeführt seien, gemeint sein. Aber diese Verbindung ist künstlich und, wenn sie je wirklich stattgefunden, spät. Man muß das Glied für sich betrachten. Auf griechischem Boden kommt es als Glied im Symbol überhaupt nicht vor (genau in das Griechische übersetzt, würde der Ausdruck „Anteil am Heiligen" d. h. am Kultus, vor allem am heiligen Abendmahl, bedeuten). Es ist als Symbolglied eine rein lateinische Bildung, und zwar begegnet der Begriff in der kirchlichen lateinischen Literatur nicht vor Augustin und dem
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clonatistischen Streit (in den Symbolen ist er auch damals noch nicht zu finden). Hier aber war er ein Hauptbegriff, der umstritten wurde: Augustin und seine Gregner fassen ihn als „die Gemeinschaft der wahrhaft Heiligen (Gläubigen) auf Erden"; aber beide bestimmen das Verhältnis der empirischen katholischen Kirche zu ihm anders. (Augustin im Sinne der wesentlichen Identität). Hiernach sollte man erwarten, daß der Begriff dort, wo er zuerst in den Symbolen auftaucht, ebenfalls als eine nähere Erklärung zu „heilige katholische Kirche", als „die Gemeinschaft der Heiligen, welche die katholische Kirche ist", verstanden werden würde. Es läge dann hier der seltene Fall vor, daß das Taufbekenntnis infolge einer kirchlichen Streitigkeit einen Zusatz erhalten hätte. Allein die ältesten Symbolerklärungen deuten den Ausdruck, nachdem er in die gallischen Symbole gekommen war, nicht im augustinischen, antidonatistischen Sinne, sondern fassen ihn als rGemeinschaft mit den vollendeten Heiligen" (oder: der vollendeten Heiligen). J a man muß vielleicht noch um einen Schritt weiter gehen. Wahrscheinlich nicht nur die älteste Auslegung des Symbols, in der der Ausdruck vorkommt, ist die des Galliers Faustus von Reji, sondern er bietet überhaupt eines der ältesten Zeugnisse für die Existenz des Gliedes „Communionem sanctorum" in einem Symbol. Wie aber hat Faustus die Worte erklärt? Er schreibt: „Wir wollen zur Gemeinschaft der Heiligen' übergehen. Dieser Ausdruck widerlegt diejenigen, welche lästerlich behaupten, daß man die Asche der Heiligen und Freunde Gottes nicht in Ehren halten dürfe, welche nicht glauben, daß das ruhmreiche Gedächtnis der seligen Märtyrer durch die Verehrung ihrer heiligen Stätten zu feiern sei. Solche Leute haben unredlich gegen das Symbol gehandelt und Christo bei der Taufe gelogen und haben durch diesen Unglauben mitten im Schoß des Lebens dem Tode Raum gegeben" („Ut transeamus ad ,Sanctorum Communionem'. Illos hie sen-
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tentia ista confudit, qui Sanctorum et Amicorum Dei cineres noil in honore debere esse blasphemant, qui beatorum martyrum gloriosam memoriam sacrorum reverentia monumentorum colendam esse non credunt. I n Symbolum praevaricati sunt, et Christo in fonte mentiti sunt, et per hanc infidelitatem in medio sinu vitae locum morti aperuerunt"). Eaustus bezieht also die Worte auf die Anhänger des Vigilantius, auf die Gregner des Heiligenkultus. E r weiß es nicht anders, als daß der Ausdruck im Symbol die „Heiligen" (im prägnanten, katholischen Sinn des Wortes) bedeutet, und daß er den Heiligenkult enthält und schützt. Eaustus' Symbol aber ist, wie bemerkt, eines der ältesten Symbole, welches wir kennen, das die Worte „Sanctorum communionem" enthält. Darauf hin und in Erwägung, daß die Worte zuerst in Südgallien (in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts) im Symbol auftauchen, daß aber Yigilantius in der ersten Hälfte desselben Jahrhunderts in der Nähe, nämlich in Barcelona, wirkte und Anhänger fand, wird man es nicht für unwahrscheinlich halten können, daß die fraglichen Worte wirklich „Gemeinschaft mit den Märtyrern und den besonders Heiligen" bedeuten sollten. Sie waren in diesem Falle ursprünglich keine Explikation des Ausdruckes „heilige, katholische Kirche", sondern eine Fortsetzung desselben. Sicher ist jedoch dieses Verständnis der Worte nicht; ist aber der ursprüngliche Sinn der angegebene, dann war es für die Kirchen der Reformation notwendig, ihn umzudeuten. Diese Umdeutung konnte um so leichter geschehen, als man eine passende und wertvolle Auslegung, die allerdings im Symbol nicht die ursprüngliche ist, bei Augustin fand. Sie war auch während des ganzen Mittelalters nie vergessen worden. Wer von der Lektüre der apostolischen Yäter und der Apologeten an das altrömische Taufbekenntnis herantritt, der muß mit dankbarer Bewunderung die Glaubenstat der
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römischen Kirche in diesem Tauf bekenntnis erkennen. Überschlägt man, welche fremde und seltsame Gredanken schon damals an das Evangelium herangerückt wurden, wie dürftig häufig die Betrachtung desselben war, wie der Chiliasmus und die Apokalyptik einerseits, der Nomismus und die griechische Philosophie andererseits das Evangelium zu umstricken drohten, so erscheint das altrömische Symbol doppelt groß und ehrwürdig. Was ihm den höchsten und bleibenden Wert verleiht, das ist, neben dem Bekenntnis zu Grott als dem allmächtigen Vater, das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem eingeborenen Sohn Grottes unserm Herrn, und das Zeugnis, daß durch ihn die heilige Christenheit, Vergebung der Sünden und ewiges Leben geworden sind. Allein man vermißt den Hinweis auf seine Predigt, auf die Züge des Heilandes der Armen und Kranken, der Zöllner und Sünder, auf die Persönlichkeit, wie sie in den Evangelien leuchtet. Das Symbol enthält eigentlich nur Überschriften. In diesen Sinne ist es unvollkommen; denn kein Bekenntnis ist vollkommen, das nicht den Heiland vor die Augen malt und dem Herzen einprägt.
N a c h w o r t (1892). Erneute heftige Angriffe auf meinen theologischen Standpunkt und meine Person haben mich veranlaßt, vorstehenden geschichtlichen Bericht zu veröffentlichen. Die Ergebnisse desselben sind zum kleinsten Teil Früchte meiner Forschung. Sie sind die Resultate einer langen Arbeit der protestantischen Wissenschaft, an der ich mich seit 20 Jahren auch beteiligt habe (s. meinen Artikel „Apostolisches Symbol" in Herzogs Real-Encyklop. 2. Aufl. 1877 und meine Abhandlung »Vetustissimum ecclesiae Romanae symbolum e scriptis virorum Christianorum qui I. et II. p. Chr. n. saeculo vixerunt illustratum« in G r e b h a r d t s Ausgabe der Apostol. Väter I , 2 1878, vgl. auch mein Lehrbuch der Dogmen-
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geschichte). Was ich. hier vorgetragen, habe ich in den Grundzügen ebenso seit der angegebenen Zeit auf den Universitäten Leipzig, Gießen und Marburg gelehrt, und es steht in meinen Schriften zu lesen. Es ist aber kein J a h r vergangen, in dem ich nicht meine Studien über den großen Gegenstand fortgesetzt hätte. "Weitere Belehrung oder Berichtigung, wenn sie von Sachverständigen kommt, will ich gern empfangen. Die erneuten Angriffe auf mich sind die Folge eines Artikels gewesen, den ich in der „Christlichen Welt" No. 34 d. J . veröffentlicht habe. Im Laufe des Sommersemesters wurde ich durch die Anfrage aus einem mir persönlich ganz unbekannten Kreise von Studierenden überrascht, ob sie zusammen mit Kommilitonen anderer Hochschulen eine Petition wegen Abschaffung des Apostolikums an den Oberkirchenrat richten sollten. Es war der „Fall Schrempp, der die Gemüter der Jugend mächtig erregt hatte. Da ich in der Vorlesung über Kirch.engeschich.te des 19. Jahrhunderts die Bewegungen über das Bekenntnis (Preußische Generalsynode von 1846) demnächst zu besprechen und zu beurteilen hatte, so beschloß ich einen Teil der Stunde vorwegzunehmen, den Studierenden in der Vorlesung ausführlich zu antworten und den Fragestellern, um Mißverständnisse zu vermeiden, die Hauptpunkte meiner Antwort schriftlich zu geben. Es gelang mir, die keimende Agitation zu unterdrücken; aber damit übernahm ich selbst eine einzulösende Verpflichtung. An eine Veröffentlichung meiner Antwort an die Studenten habe ich ursprünglich doch nicht gedacht. Aber welch ein Heer von Entstellungen und Verleumdungen wäre über die Vorlesung in die Welt gesetzt worden, wenn die Veröffentlichung durch den Druck unterblieben wäre! Was mir da bevorstand, wußte ich aus meiner hiesigen vierjährigen Erfahrung, und es kündigte sich auch jetzt wieder an. Von dem, was ich geschrieben habe, habe ich nichts
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zurückzunehmen und habe auch eine Verteidigung nicht nötig. Ich hoffe, daß, wer guten Willens ist, mein Recht und meine Pflicht, den Studierenden so zu antworten, wie ich geantwortet habe, auf G-rund vorstehenden Berichts anerkennen wird; gegen den bösen Willen sind wir alle machtlos. Auf die Proteste, Schmähungen, Unterschiebungen und Entstellungen werde ich so wenig antworten, wie vor vier Jahren. Es ist nicht meines Amtes, die Frage zu erwägen, ob ein solches Treiben, wie es jetzt wieder, wie auf Kommando, entfesselt ist, in der evangelischen Kirche geduldet werden darf. Nur auf zwei sachliche Vorhaltungen muß ich zum Schluß eingehen. Die Protestanten-Vereins-Korrespondenz No. 36 preist mir ihren eigenen Standpunkt an und rät mir, mich von meiner „Vermittelungstheologie" auf denselben zurückzuziehen; dann seien alle Notstände und Kollisionen mit einem Schlage beseitigt, in denen das Grewissen zu brechen drohe. Sie läßt dabei deutlich genug durchblicken, daß sie mich f ü r minder gewissenhaft hält als ihre Freunde. Aber welches ist der Standpunkt der Protestanten-VereinsKorrespondenz ? Man soll sich der Überzeugung hingeben, daß alle kirchlich theologischen Bekenntnisse der Vergangenheit keinen dogmatisch bindenden Charakter mehr beanspruchen können: „Es sind denkwürdige Dokumente einer vergangenen Epoche der Kirche." Aber so betrachtet sie die evangelische Kirche doch noch nicht, wenn sie an ihre Pfarrer die Forderung stellt, das apostolische Glaubensbekenntnis am Sonntag vorzulesen und wenn sie von allen ihren Gliedern verlangt, daß sie sich bei der Taufe und der Konfirmation zu ihm bekennen. Sie sollen also zu diesem Bekenntnis innerlich Stellung nehmen, eine Stellung, die über das „denkwürdige Dokumente einer vergangenen Epoche" hinausführt. Ich verstehe nicht, wie die Protest. Ver.-Korresp. um diesen Tatbestand herumkommt, bescheide mich aber. Zwischen dem „dogmatisch bindenden Charakter"
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und den „denkwürdigen Dokumenten einer vergangenen Epoche" liegt doch noch etwas dazwischen, und man kann es sehr kurz sagen, um was es sich dabei handelt — um die Person Christi. I n einer Zeitschrift stand neulich ungefähr folgendes zu lesen: Die „historische Spezialität" der Person Christi sei nicht die Hauptsache im Christentum, wie die Ritschlsche Theologie annehme. Ich bin dem Verf. f ü r diesen allerdings nicht schönen Ausdruck dankbar; denn er bezeichnet genau das, was uns von manchen Freunden der Protest.-Ver.-Korresp. trennt. Uns ist die „historische Spezialität" der Person Christi, klar und sicher erkannt, so wichtig wie seine Lehre; denn einem Christentum ohne Christus fehlt die Kraft. I n dieser Uberzeugung wünschen wir ein freies, aber deutliches Bekenntnis und ertragen die Unvollkommenheiten der alten Bekenntnisse. Aber wir halten uns für verpflichtet, auf diese Unvollkommenheiten hinzuweisen, darauf zu dringen, daß nicht gerade sie für das "Wesentliche erklärt werden und ihre Fortbildung vorzubereiten. Die Differenz zwischen den alten Bekenntnissen und der geschichtlichen Betrachtung unserer Zeit empfinden wir so stark wie die Freunde der Protest.-Ver.Korresp., aber wir empfinden ihn als einen Notstand. Wer seine Kirche lieb hat, der kann ihn ertragen; aber er weiß auch, daß der Notstand damit nicht gehoben ist, daß man die alten Bekenntnisse als „denkwürdige Dokumente einer vergangenen Epoche" betrachtet, sondern daß man zugleich das alte Evangelium in den neuen Formen unserer Erkenntnis so fest und sicher zu fassen vermag, wie die alte Kirche und die Reformationszeit es in ihren Formen verstanden haben. Andernfalls wird das allein übrig bleiben, was ein frivoler Engländer neulich im Gegensatz zu dem gleichfalls von ihm verachteten kirchlichen Christentum „AmateurChristentum" genannt hat. Ich bin weit entfernt, über ein solches zu richten, aber die gegebenen Kirchen kann man mit ihm nicht weiter bauen.
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Die andere Vorhaltung, die mir zuteil geworden ist, stammt von dem Vorstand der evangelisch-lutherischen Konferenz in der preußischen Landeskirche und den Vorsitzenden der lutherischen Vereine in den Provinzen. Dieser Vorstand hat es für nötig gehalten, eine Erklärung wider mich zu veröffentlichen. Ich lasse die zahlreichen Fahrlässigkeiten in dem Referate über das, was ich geschrieben habe — kein Satz ist richtig wiedergegeben — beiseite und halte mich an den Schluß der Erklärung; er lautet: „Daß der Sohn Gottes „empfangen ist von dem heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria", das ist das Fundament des Christentums; es ist der Eckstein, an welchem alle "Weisheit dieser "Welt zerschellen wird." Ich erwidere: Wenn das der Fall wäre, stände es schlimm um Markus, schlimm um Paulus, schlimm um Johannes, schlimm um das Christentum. Diese Behauptung, wenn sie wörtlich so genommen wird, wie sie lautet, widerspricht dem Urchristentum und verwirrt den Glauben. Daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist oder — der Ausdruck stammt erst aus der griechischen Theologie, der Gedanke ist evangelisch — der Gottmensch, in dem Gott erkannt und ergriffen wird: das ist Fundament und Eckstein des Christentums. Aber dieser Glaube ist unabhängig von den beiden widerspruchsvollen Erzählungen über die wunderbare Entstehung Jesu, sonst hätten ihn alle die Vielen nicht besitzen können, die von dieser Entstehung nichts gewußt haben. Ich will mich hier einmal auf eine Autorität beziehen, auf einen Mann, dessen Name in allen Kreisen der evangelischen Theologie, auch bei den Konservativen, den besten Klang besitzt und der sein ganzes Leben der Erforschung des Neuen Testaments gewidmet hat, den Oberkonsistorialrat H. A. W. Meyer in Hannover: Er hat in seinem Kommentar zum Lukas - Evangelium (5. Aufl. 1867 S. 254) Kap. 1, 5—38 geschrieben: „Mit Recht haben Markus und Johannes diese Wunder der
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Vorgeschichte aus dem Kreise der evangelischen Geschichte, die erst mit dem Auftritt des Täufers anhob, ausgeschlossen, wie sich denn Jesus selbst nirgends, auch im vertrauten Kreise nicht, darauf bezieht, der Unglaube der eigenen Brüder aber Joh. 7, 5, ja selbst das Benehmen der Maria Mark. 3, 21 ff. unvereinbar damit ist." Und gegen P h i l i p p i bemerkt derselbe Gelehrte (Kommentar z. Matth. 5. Aufl. 1864 S. 61): „Es ist ein gefährliches, aber unrichtiges Dilemma, daß die Idee des Grottmenschen mit der jungfräulichen Geburt stehe und falle." Wohl wissen wir, daß viele Christen so denken wie P h i l i p p i . Wir ehren auch diese Gestalt ihres Glaubens, lehren sie die zukünftigen Pfarrer verstehen und wollen sie niemandem nehmen, dem damit das Christentum genommen wird. Aber man darf das nicht in der Kirche als Haupt- und Fundamentalartikel des Grlaubens aufrichten, was nicht zum Inhalt des Evangeliums Christi gehört, im besten Falle eine Erklärung und Hilfslinie, für viele in unseren Tagen aber ein Stein des Anstoßes und ein Mittel der Entfremdung vom Evangelium ist. Darum müssen wir darauf hinarbeiten, daß eine Zeit komme, in der diese Anstöße und ähnliche bestimmter und sicherer überwunden werden, als es jetzt möglich ist. Dazu gehört aber auch, daß die Gewissen nicht mit Formeln beschwert werden, die nicht den Heilsglauben enthalten, auch wenn sie wörtlich der Bibel oder der ältesten Verkündigung entsprechen; denn diese sind doch selbst von den vergänglichen Zügen ihrer Zeit nicht frei. Nach den Meinungen des Tages soll das Evangelium nicht gemodelt werden, und so töricht oder frivol ist wohl niemand, daß er erwartet, der schmale Weg werde zum breiten werden, wenn man nur jene Anstöße beseitigt. Aber mancher Stein, der in älteren Zeiten hat mittragen helfen, ist im Wechsel der Zeit zum Stein geworden, der im Wege liegt. Es ist das Vorrecht und die heilige Pflicht evangelischer Theologen, unbekümmert um Gunst oder
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Ungunst, an der reinen Erkenntnis des Evangeliums zu arbeiten und offen zu erklären, was nach ihrer Überzeugung der Wahrheit entspricht und was nicht. Ihre Pflicht ist es auch, im Namen der zahlreichen Glieder der evangelischen Kirche zu sprechen, die aufrichtige Christen sind und sich durch manche Sätze des Apostolikums, wenn sie sie als ihren Glauben bekennen sollen, in ihrem Gewissen bedrückt fühlen. Mehr als ein Weg ist möglich, um den Notstand, der für manchen Christen besteht, zu heben, und die Liebe und der gemeinsame Glaube werden den rechten Weg in der evangelischen Kirche gewiß finden. Einen hat die Preußische Generalsynode im Jahre 1846 vergeblich betreten; ein anderer, ist von manchen evangelischen Landeskirchen schon gefunden: der fakultative liturgische Gebrauch des Apostolikums. Evangelische Theologen warten ihres Amtes, wenn sie auf diese und ähnliche Wege hinweisen und dabei die verschiedenen Richtungen in der Kirche zu gegenseitigem Verständnis anleiten, damit die eine die Last der anderen tragen lerne. „Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden."
Zusätze. Zu S. 227 Absatz 1. K a t t e n b u s c h , Das apostolische Symbolum, 2. Bd. (1900), hat gegen diese Feststellungen allerlei Zweifel aufgebracht, auf die ich hier nicht einzugehen vermag. Auch mag es hier auf sich beruhen bleiben, in welchem Verhältnis das südgallische Symbol zu einem sehr verwandten Symbol steht, welches uns aus einer Kirche in Dacien (Anfang des 5. Jahrhunderts) überliefert ist. Zu S. 233. K a t t e n b u s c h u. a. glauben zeigen zu können, daß das Symbol um d. J . 100 oder bald nachher entstanden ist. Ihre Beweise haben mich aber nicht überzeugt. Zu S. 233. Am energischsten hat L o o f s (Symbolik Bd. I, 1902, S. 6 ff.) die Ansicht verfochten, daß der Orient ein uraltes Taufsymbol besessen hat, dem gegenüber das altrömische Symbol sekundär ist. Ich bleibe bei der im Text vorgetragenen Ansicht. Zu S. 238 f. Sehr bemerkenswert ist, daß L u t h e r in sein „Taufbüchlein" (1523. 1526. Erlanger Ausgabe Bd. 22, S. 162. 293) nicht das Apostolische Glaubensbekenntnis aufgenommen hat, sondern eine verkürzte Form desselben, die aus dem frühen Mittelalter stammt: „Glaubst du an Q-ott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erden? Glaubst du an Jesum Christ, seinen einigen Sohn, unsern Herrn, geboren und gelitten? Glaubst du an den heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, Gemeine der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und nach dem Tod ein ewiges Leben?"
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Zu S. 245. Hinzuzufügen ist, daß viele sehr alte Zeugen Luk. 3, 22 (Erzählung der Taufe Jesu) folgenden "Wortlaut bieten: „Du bist mein Sohn; ich habe dich heute gezeugt." Also leitete man die Sohnschaft Jesu von der Herabkunft des Geistes auf ihn ab, betrachtete sie mithin nicht als eine physische. — Das Nicänische Symbolum enthält die Greburt aus der J u n g f r a u nicht. Zu S. 246 Z. 6 f. Allerdings bieten noch die Schmalkaldischen Artikel (lat. Text) „Maria sancta semper virgo". Zu S. 248 Z. 10f. „Auferstehung von den Toten" statt „Auferstehung des Fleisches" findet sich in Symbolen und Grlaubensregeln häufig. Zu S. 249 Z. 20ff. Richtig H u t h e r zu I. Petr. 3, 19 (in Meyers Kommentar zum Neuen Testament XII. Abt. 3. Aufl. S. 177): „Diese Stelle sagt nichts über die Existenz Christi zwischen seinem Tode und seiner Auferstehung aus . . . Zu bemerken ist noch, daß weder die Lehre der Form. Concord., noch auch die Lehren der Katholiken von dem limbus patrum und dem Purgatorium in dieser Stelle irgend einen G-rund haben." Die „Höllenfahrt", von der das Symbol spricht, entbehrt der biblischen Begründung. Zu S. 254 Z. 8 ff. Was ich hier zusammengefaßt habe, entspricht wesentlich der Fassung L u t h e r s in seinem Taufbüchlein (s. oben), ohne daß ich an Luther gedacht hätte. — Zeigt man den Gregnern, daß nicht alle Sätze des Symbols biblisch begründet sind, so erwidern sie: „aber es ist das uralte Bekenntnis der ganzen Christenheit." Weist man ihnen nach, daß es das nicht ist, so entgegnen sie: „aber es ist biblisch begründet". Daß der Wortlaut — um diesen handelt es sich — nicht durchweg sicher aus der Bibel begründet werden kann, ist schwer zu bestreiten. Aber selbst wenn das möglich wäre, wäre noch nichts entschieden. Denn ein Grlaubenssatz ist noch nicht deshalb ein Grlaubenssatz in der evangelischen Kirche, weil es irgend eine Stelle in der Bibel gibt, mit der man ihn belegen
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1. Das apostolische Glaubensbekenntnis. (1892)
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kann, sondern Glaubenssatz ist nur, was zum Inhalt des Evangeliums gehört. Zu S. 256 Z. 8 ff. Man hat, ohne daß ich Anlaß dazu gegeben hätte, diese "Worte so verstanden, als bezeichnete ich jeden Angriff auf mich als ein „Treiben". Das ist mir natürlich nicht in den Sinn gekommen. Ernstliche sachliche Vorhaltungen ehre ich und verstehe, daß sie gekommen sind. Daß aber ein „Treiben" mit Schmähungen, Unterschiebungen und Entstellungen wider mich entfesselt ist, and daß daneben, nur sehr wenige ruhige und besonnene Gegner aufgetreten sind, liegt am Tage. Zu S. 259 Z. 19. Aus den Worten meiner Erklärung in der „Christlichen Welt" (oben S. 222f.): „Die Anerkennung des Apostolikums in seiner wörtlichen Fassung ist nicht die Probe christlicher und theologischer Reife; im Gegenteil wird ein gereifter, an dem Verständnis des Evangeliums und an der Kirchengeschichte gebildeter Christ Anstoß an mehreren Sätzen des Apostolikums nehmen müssen", hat man Anmaßung, Beleidigung des Pastorenstandes und der Gläubigen und alles mögliche Schlimme herausgelesen. Demgegenüber bemerke ich um des Friedens willen, 1. daß mir jede Absicht einer Beleidigung völlig fern gelegen hat, 2. daß nach dem deutschen Sprachgebrauch „wird müssen" nicht die absolute Notwendigkeit bezeichnet, sondern die sichere Erwartung des Eintritts eines Zustandes, 3. daß ich nicht von gebildeten Christen schlechtweg, sondern von „an der Kirchengeschichte gebildeten Christen" gesprochen habe, 4. daß, soviel ich aus den Kundgebungen meiner Gegner ersehen kann, auch in ihren Reihen Anstoß am Wortlaut und ursprünglichen Sinn des Apostolikums nicht ganz fehlt, mögen sie sich auch durch Erklärungen d. h. Umdeutungen über diesen Anstoß täuschen. Zu S. 260 Z. 12 ff. Die Preußische Generalsynode im Jahre 1846 beschloß, das Apostolikum aus der Ordinations-
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formel wegzulassen, weil es teils zu viel, teils zu wenig enthalte. Sie nahm dafür eine neue, dem Apostolikum nur zum Teil nachgebildete, in mancher Hinsicht treffliche Formel an, in der die Greburt aus der J u n g f r a u , die Himmelfahrt und die Auferstehung des Fleisches fehlten, weil man sie nicht zu den Hauptstücken des Glaubens rechnete.
ANTWORT AUF DIE STREITSCHRIFT D. CREMERS: ZUM KAMPF UM DAS APOSTOLIKUM
Erschienen als Nr. 3 der „Hefte zur Christlichen AVeit" 1892 bei Fr. W i l h . Grunow in Leipzig, jetzt bei J . Ο. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen.
D. Cremer hat eine „Streitschrift" wider mich ausgeheil lassen, die ich sowohl um des Autors als um der Sache willen nicht unbeantwortet lassen darf. F ü r die Art und den Ton seiner Polemik bin ich ihm zu Dank verpflichtet. Mein Gegner hat die Freundlichkeit gehabt, das kleine Schriftchen, das ich unter dem Titel „Das Apostolische Glaubensbekenntnis" habe ausgehen lassen, sehr genau zu prüfen. Er hat infolge dieser P r ü f u n g eine Reihe von Ausstellungen im einzelnen erhoben, und er hat sodann geglaubt, eine prinzipielle Ausführung in Bezug auf die Person Jesu Christi mir entgegenhalten zu müssen. Ein Nachwort beschließt seine Schrift. Es erscheint schicklich, die Replik diesen Vorhaltungen gemäß einzurichten. Allein ich maß — wenn ich so verfahre — allerdings den Einwand meines Gegners befürchten, daß ich die letzten Absichten seiner Erwiderung verkannt hätte. Er hat nämlich — vom Nachwort abgesehen — seine Streitschrift in drei Teile geteilt und jedem dieser Teile in gesperrter Schrift einen Satz vorangestellt, der das Thema für das Folgende enthalten soll. Die Sätze lauten: 1. I n dem gegenwärtigen Streite um das apostolische Glaubensbekenntnis handelt es sich weder um neue Ergebnisse, noch überhaupt um Ergebnisse historischer Forschung (S. 3); 2. Denn die Frage nach der Person Christi oder die Frage, Aver und was Jesus ist, kann nimmermehr auf dem Wege und mit den Mitteln historischer Forschung entschieden werden (S. 32);
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3. Ist das die eigentliche Trage, wer und was Christus sei, so richtet sich nach ihrer Entscheidung auch die Kritik des Symbols (S. 41). Diese Sätze besagen teils sehr viel mehr, teils weniger, als die ihnen folgenden Ausführungen enthalten. Ich befinde mich daher der Streitschrift gegenüber in einer schwierigen Lage: soll ich jene Sätze, die ich teils für irrig, teils f ü r halbwahr halte, prüfen, oder vielmehr die Ausführungen, die sie angeblich begründen? I n dem erstem Falle fehlen mir in der Schrift meines Gregners ζ. T. die Anhaltspunkte und Grundlagen, in dem andern muß ich, wie bemerkt, die Erwiderung befürchten, die letzten Absichten seiner Entgegnung verkannt zu haben. In diesem Dilemma meine ich mich doch vor allem an die direkten Ausführungen gegen mich und nicht an die Überschriften halten zu müssen. Ich bin dann wenigstens gewiß, keine Nyktomachie aufzuführen. Am Schluß werde ich versuchen, auch auf jene weittragenden Uberschriften in möglichster Kürze einzugehen.
1. Die einzelnen Einwürfe D. Cremers. In dem ersten Teile der Streitschrift (S. 3—32) konstatiert D. Cremer, daß meine Forschungen den bisher gewonnenen Ergebnissen in Bezug auf das Apostolikum nichts wesentlich neues hinzugefügt hätten, und bemerkt dann, daß ich „unbeschadet der Korrektheit manches hätte anders formulieren dürfen" und in manchem irrige Ansichten vertrete. Sehe ich recht, so bezieht sich sein Tadel, auch Kleinigkeiten mit eingerechnet, auf elf Punkte. Grerne würde ich dieses oder jenes, was ich geschrieben habe, berichtigen. Allein ich muß nach sorgfältiger P r ü f u n g alles das, was ich ausgeführt habe, und was D. Cremer beanstandet, aufrecht erhalten, und zwar bis aufs Wort. Der
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Leser möge entschuldigen, wenn einige scheinbare oder wirkliche Quisquilien dabei mit unterlaufen: ich habe diese Punkte nicht zur Diskussion gestellt. 1. D. Cremer beanstandet meinen Satz: „daß die römische Kirche zur Sicherstellung des Wortlauts ihres Bekenntnisses die Legende von dem apostolischen Ursprung des Symbols erzeugt habe." Statt „erzeugt" will er „gepflegt" gesetzt wissen; „denn Legenden werden nicht absichtsvoll erzeugt." Demgegenüber bemerke ich, 1. daß ich von „absichtsvoll" nicht geredet habe, und 2. daß wir von der Zeit und den Umständen der Bildung jener Legende nichts wissen, also auch nicht wissen, wieviel Instinkt und wieviel bewußte Absicht hier gewaltet hat. Das Wort „gepflegt" wird sich aber niemand hier so leicht aneignen wollen; denn man kann doch nur pflegen, was schon vorhanden ist. Daß die römische G-emeinde die Legende vom apostolischen Ursprung des Symbols von auswärts erhalten hat, ist nicht anzunehmen und nimmt, soviel ich sehe, auch D. Cremer nicht an. Endlich der Satz: „Legenden werden nicht absichtsvoll erzeugt", ist in dieser Allgemeinheit nicht aufrecht zu erhalten. Oder sind alle Legenden, die die römische Kirche zu ihrer eignen und des Papstes Verherrlichung erdichtet hat. lediglich Produkte der absichtslos waltenden Phantasie? 2. „Außerdem — heißt es S. 4 — hätte auch nicht übergangen werden sollen, daß neben dieser Legende auch richtigere Vorstellungen sogar bei denselben Schriftstellern sich finden, wie ζ. B. bei Augustin im Eingang seiner Rede über das Symbol an die Katechumenen: »Diese Worte, die ihr gehört habt, finden sich in den h. Schriften verstreut und sind von dorther gesammelt und zu einer Einheit verbunden.«" Diesen mir wohlbekannten Satz konnte ich nicht anführen; denn 1. enthält er kein römisches Zeugnis, sondern ein außerrömisches, 2. stammt er aus so später Zeit, daß er für die geschichtliche Frage ohne Belang ist,
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3. ist er nicht als Korrektur der Legende vom apostolischen Ursprung des Symbols gemeint, und 4. enthält er den schlimmsten historischen Verstoß; denn daß die einzelnen Sätze des Apostolikums wirklich aus den heiligen Schriften, d. h. aus dem Neuen Testament zusammengeklaubt seien und so der Vorgang der Entstehung des Symbols gedacht werden müsse, ist doch — wenn man seine Ursprungszeit bedenkt — ziemlich das Verkehrteste, was sich hier sagen läßt. "Wie D. Cremer diese Ansicht als „richtigere" Vorstellung bezeichnen kann, ist mir unverständlich, und ich würde daher hier gern an einen lapsus calami glauben, käme D. Cremer nicht S. 15 auf Augustins „Zeugnis" wieder zurück. 3. Seite 4 heißt es weiter: „Ferner dürfte auch der Satz eine andre Fassung erheischen: »Man darf es als gesichertes Ergebnis der Forschung bezeichnen: das alte römische Symbol ist um die Mitte des zweiten Jahrhunderts entstanden.« Dieses »entstanden« geht über das Maß der zulässigen Genauigkeit in der Formulierung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung hinaus. Uber den Zeitpunkt der Entstehung dieser Formel vermögen wir bislang nichts zu sagen." D. Cremer beruft sich nun auf Irenaus-Polykarp und auf meinen Artikel „Apostolisches Symbolum" in der Realenzyklopädie, um die Möglichkeit, daß das Symbol bereits um das Ende des ersten Jahrhunderts entstanden sei, offen zu halten. Um ganz abstrakte Möglichkeiten streite ich nicht; auch gesicherte Ergebnisse historischer Forschung sind gegenüber „Möglichkeiten" wehrlos. Von dieser Erkenntnis bin ich tief durchdrungen und räume daher meinem Gregner bereitwillig ein, daß die Abfassung des Apostolikums in seiner altrömischen Grestalt um das Ende des ersten Jahrhunderts nicht unmöglich ist. Aber ich ziehe deshalb meine Behauptung von dem gesicherten Ergebnis der Forschung — daß das Symbol um die Mitte oder kurz vor der
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Mitte des zweiten Jahrhunderts*) entstanden ist — nicht zurück. I n Kürze dafür den Beweis zu liefern, ist nicht leicht; denn direkte äußere Zeugnisse fehlen, und innere Gründe stehen bei vielen nicht hoch im Kurse. Auch haben die schlagendsten unter ihnen nur f ü r den volle Beweiskraft, der das Gesamtbild geschichtlicher Anschauung anerkennt, aus dem sie stammen. Wie könnte ich aber ein solches hier entwickeln und beweisen? Dennoch werde ich es versuchen, einen Teil der Beobachtungen zusammenzustellen, die hier in Betracht kommen, und von denen ich annehmen darf, daß auch solche Gelehrte sie anerkennen werden, die über die Entwicklung des nachapostolischen Zeitalters anders denken als ich. Was den terminus ad quem betrifft, der übrigens zurzeit nicht zur Frage steht, so mag der Hinweis genügen, daß das Symbol nicht aus der Zeit des brennenden Kampfes mit dem Gnostizismus stammen kann. Eine Kirche, die im Streit auf Leben und Tod mit Marcioniten und Yalentinianern stand, kann diese Formel nicht geschaffen haben. Also ist sie, da sie nicht jünger (etwa erst aus der Zeit um das Jahr 200) sein kann, älter. Um wieviel älter? D. Cremer hätte Anhaltspunkte für die Beantwortung dieser Frage gewinnen können, wenn er meine Abhandlung über das älteste Symbol der römischen Kirche in meiner Ausgabe der Schriften der apostolischen Väter (1878) nicht entweder ignoriert oder für unwert gehalten hätte. E r bemerkt — auch die meisten meiner andern Gegner betonen diesen Satz —, daß meine Forschungen denen von C a s p a r i und v. Z e z s c h w i t z nichts wesentlich Neues hinzugefügt hätten. Ich bin demgegenüber in der peinlichen Lage, darauf hinweisen zu müssen, daß jene beiden höchst verdienten Gelehrten über das Verhältnis des Symbols zum zweiten Jahrhundert der christlichen Kirche ganz ungenügend orientieren, und daß *) So habe ich. mich ausgedrückt (S. 233).
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die oben zitierte Abhandlung allein darüber ausführlicher, freilich immer noch nicht ausführlich genug, belehrt. Der terminus a quo bestimmt sich auf G-rund folgender Erwägungen : a) Der Hirte des Hermas eröffnete seine Mandate, indem er als erstes Grebot lediglich den Glauben an den einen G-ott einschärft. Dieses Argument beweist an sich allerdings nichts, weil zu viel; denn der Schluß: also existierte damals die dreigliedrige Taufformel noch nicht, wäre irrig. Hermas selbst zeigt an andern Stellen, daß er den Vater, den heiligen G-eist als den ewigen Sohn, und den adoptierten Sohn (den Menschen Jesus Christus) unterscheidet. Aber eben diese Unterscheidung macht es im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß ihm das römische Symbol mit seiner scharfen Unterscheidung des einzigen G-ottes Sohnes und des heiligen G-eistes schon vorgelegen hat. Ich wenigstens vermag beides schlechterdings nicht vermittelt zu denken. Hätte aber Hermas ferner so schreiben können, wie er im ersten Mandat geschrieben hat, wenn das Verständnis der Taufformel durch die Ausführung in dem Symbol schon sichergestellt gewesen wäre?*) Ich muß es demgemäß für ganz unwahrscheinlich halten, daß zur Zeit des Hirten das römische Symbol im G-ebrauch der Kirche vorhanden war. b) Nicht nur die abendländischen Valentinianer, die sich an die kirchlichen G-laubensregeln möglichst anschlossen, lehrten in ihren Formeln, daß Christus „durch" (nicht „aus") Maria geboren sei (s. Iren. I, 7, 2 und Tertull. de carne 20), sondern auch Justin braucht sehr häufig jene Präposition. Die Zeit kann also nicht weit hinter der Mitte des zweiten Jahrhunderts zurückliegen, in der in der römischen Kirche jenes „aus" noch nicht festgestellt war. *) Dahingestellt lasse ich es, ob die Darlegungen in dem fünften Gleichnis sich mit der symbolischen Geltung des Satzes von der Jungfrauengeburt vertragen.
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c) Das römische Symbol erwähnt die Taufe Jesu, durch Johannes resp. die Herabkunft des heiligen Greistes bei der Taufe nicht. Daß dieses Stück ursprünglich als höchst wichtig gegolten, ja die Aussagen über Christus eröffnet hat, ist bekannt. Noch Ignatius hat es ad Smyrn. 1 und ad Ephes. 18 aufgenommen.*) d) Der Ausdruck „seinen eingeborenen Sohn" im Symbol weist auf das vierte Evangelium zurück; wenigstens ist uns eine andre Quelle nicht bekannt. e) Die scharfe Unterscheidung der Glieder „auferstanden", „aufgefahren" und „sitzend" spricht für das zweite Jahrhundert (s. darüber unten). f) Die Weglassung der chiliastischen Hoffnung, die doch Justin zur vollen Orthodoxie rechnet, fällt stark ins Gewicht. Diese Argumente mögen genügen. Ich berufe mich nicht auf den Gresamtcharakter des Symbols (ζ. B. in seinem Verhältnis zu den „Lehren des Herrn durch Yermittelung der zwölf Apostel"), um zu zeigen, daß das ganze Unternehmen im ersten Jahrhundert höchst auffallend ist und daß es bereits katholische Art an sich trägt; denn dieser Nachweis kann in Kürze nicht geführt werden. Nicht nur fällt die Beweislast dem zu, der das Symbol vor c. 140 ansetzt, sondern man darf auch sagen: der Beweis ist nicht geführt worden und kann nicht geführt werden. Die Berufung auf Irenaus-Polykarp verschlägt nicht; denn daß Polykarp ein formuliertes Symbol besessen und dem Irenäus überliefert hat, davon wissen wir schlechterdings nichts. Auf die sichere und einheitliche Formulierung aber kommt es an; daß einzelne Sätze sehr frühe feste Formen erhalten haben, ζ. B. der „gekreuzigt unter Pontius Pilatus", darauf habe ich selbst mehr als einmal hingewiesen; aber damit Auch das Fehlen des „Herodes" neben Pontius Pilatus, den ältere Formeln bieten, verdient Erwähnung.
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ist weder die Existenz des römischen Symbols noch eines andern ihm gleichartigen angedeutet, geschweige sichergestellt. 4. D. Cremer macht mir einen Vorwurf daraus (S. 7), daß ich in meiner Schrift die Sätze, die ich vor sechzehn Jahren in meinem Artikel „Apostolisches Symbolum" über den Archetypus der orientalischen Symbole niedergeschrieben, nicht wiederholt habe. Er selbst eignet sie sich an und bemerkt, es sei nicht bekannt geworden, daß irgend ein Grrund von irgend jemandem geltend gemacht worden sei, der meine frühern Ausführungen zu entkräften geeignet wäre. Letzteres ist richtig; aber ich selbst habe meine Studien fortgesetzt und erkannt, daß ein orientalischer Symbol-Archetypus für die Mitte, ja noch für die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts nicht erreichbar ist. Einzelne gemeinsame Formeln und ein Kerygma von Jesus Christus, dessen Sätze zum Teil, aber nur zum Teil stehend waren, lassen sich bis ins zweite Jahrhundert hinaufführen, aber auch nicht mehr — vor allem kein geschlossenes Symbol. Darum habe ich von dem orientalischen Archetypus absehen müssen. Er ist mir eine Fata Morgana geworden. Will D. Cremer sich dieses Archetypus mit geschichtlichen Nachweisen annehmen, so werde ich ihm gern Rede und Antwort stehen. Nur kommen wir dabei nicht weiter, wenn wir nicht zwischen flüssigem Kerygma, festem Symbol und flüssigen (antignostischen) Grlaubensregeln unterscheiden. 5. Seite 9 ff. schreibt D. Cremer: „Auch dies dürfte nicht unter den Titel eines Ergebnisses historischer Forschung befaßt werden dürfen [sie], daß in dem Symbol der heilige Geist nicht als Person, sondern als Kraft und G-abe aufgefaßt sei." Meinem Satze, man könne nicht nachweisen, daß um die Mitte des zweiten Jahrhunderts der heilige Geist als Person geglaubt worden sei, hält D. Cremer entgegen, 1. daß das Symbol „den unwandelbaren Inhalt
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der apostolischen Verkündigung im Lapidarstil monumentaler Form hat bewahren wollen, es also gar nicht darauf ankomme, welches Maß von Verständnis die alte Kirche ihrerseits damit verbunden habe", 2. daß Johannes, Paulus und überhaupt die apostolische Verkündigung sich den heiligen Geist nicht nur als unpersönliche Kraft gedacht haben: der.Begriff der Persönlichkeit fehlte, aber nicht die Sache. Ich vermag in beiden Entgegnungen nur ein Ausweichen der bestimmten Fragestellung gegenüber zu erkennen. "Was sich Paulus oder Johannes gedacht haben, gehört mindestens so lange nicht hierher, als das Symbol selbst eine Antwort gibt. Diese ist aber in der einfachen Zusammenordnung „heiliger Greist", „heilige Kirche", „Sündenvergebung", „Fleischesauferstehung" deutlich genug, und sie wird durch den dogmengeschichtlichen Befund in Bezug auf das zweite Jahrhundert bestärkt. Zwei Hypostasen der Gottheit, nicht drei, sind bekannt. Selbst noch der römische Presbyter Hippolyt am Anfang des dritten Jahrhunderts unterscheidet ausdrücklich zwei göttliche Personen und drei göttliche Ökonomien. Wenn aber D. Cremer S. 10 die montanistischen Streitigkeiten streift, um das Dogma von den drei Personen der Gottheit f ü r jene Zeit zu retten, so läßt sich aus den echten Sprüchen Montans und seiner Prophetinnen leichter abnehmen, daß sie nur eine göttliche Hypostase anerkannt haben als zwei oder gar drei. Die Unterscheidung von K r a f t und Hypostase war übrigens, wie die Gnostiker und namentlich Justin (Dial. 128) beweisen, jener Zeit nicht fremd. Justin aber hat nirgendwo in seinem weitschichtigen Dialog Gelegenheit genommen, die persönliche Selbständigkeit des Geistes zu behaupten, wie er die des Logos behauptet hat. Der heilige Geist ist ihm einfach „der prophetische Geist". Wenn endlich D. Cremer in meiner Übersetzung „und an heiligen Geist" den Artikel vermißt, so habe ich natürlich nichts dagegen, ihn in der Ubersetzung einzuschalten, vor-
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ausgesetzt, daß man ihn auch noch vor „heilige Kirche" usw. einschaltet. Die Trennung und die verschiedene Behandlung der vier Glieder des dritten Artikels ist, wie auch D. Cremer einräumt, viel später erfolgt, nämlich erst, nachdem das Dogma von der Trinität ausgearbeitet war. 6. Seite 13 wird es mir als eine — allerdings dankbar zu verzeichnende — Inkonsequenz vorgehalten, daß ich bei der Erklärung des Wortes „Vater" im ersten Artikel auf das apostolische Verständnis zurückgehe, während ich sonst diese Art Erklärung als unhistorisch verwerfe und auch hier bemerke, daß der Verfasser des Symbols den Ausdruck „Vater" wahrscheinlich nicht nach Matth. 11, 25 ff. und Rom. 8, 15 gedeutet habe. Aber eben nur „wahrscheinlich" nicht. Nach dem, was ich in meiner lateinischen Abhandlung über den Ausdruck im römischen Symbol (1. c. S. 134) ausgeführt habe, muß es offen bleiben, ob nicht doch das Wort „Vater" noch evangelisch verstanden ist. Eben deshalb habe ich hier auf das älteste Verständnis Rücksicht genommen, um nicht parteiisch zu erscheinen, sondern dem Symbol alles zu lassen, was ihm geschichtlich irgend gebühren könnte. Das Ausrufungszeichen aber, das mein Gregner zu meinem Ausdruck: „Der Verfasser des Symbols" gemacht hat, will ich lieber nicht verstehen; denn daß das Symbol offenbart oder durch Inspiration als Zeugnis des heiligen Geistes in der alten Kirche geheimnisvoll entstanden sei, kann D. Cremer nicht meinen. 7. Dem, was ich über „Gemeinschaft der Heiligen" ausgeführt habe, hätte D. Cremer eine „vorsichtigere Passung" gewünscht (S. 13). Ich glaube, den Tatbestand korrekt zum Ausdruck gebracht zu haben. Ich habe 1. bemerkt, daß die Entstehung und der ursprüngliche Sinn jenes Zusatzes am dunkelsten ist, 2. gesagt, daß der Ausdruck zuerst im donatistischen Streit und bei Augustin sich fände, und daß man demgemäß erwarten müsse, er bedeute auch im Symbol dasselbe wie dort, nämlich eine nähere
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Erklärung zu „heilige katholische Kirche", 3. darauf hingewiesen, daß der Ausdruck im Symbol erst in späterer Zeit (und zwar in Grallien) vorkomme und dort durch den ältesten Zeugen als „Gemeinschaft mit den vollendeten Heiligen" erklärt werde. Demgemäß habe ich es für „sehr wahrscheinlich" gehalten, daß die "Worte im gallischen Symbol wirklich „Gremeinschaft mit den Märtyrern und den besonders Heiligen" bedeuten sollten (gegen Vigilantius) und ursprünglich keine Explikation des Ausdrucks „heilige katholische Kirche", sondern eine Fortsetzung desselben waren. Auf die mir wohlbekannte Auslegung des Nicetas von Romatiana bin ich nicht eingegangen, weil ich weder über die Zeit noch über den Ort dieses Bischofs ein Urteil besaß. Aber auch die Tatsache, daß die Gregner der Heiligenverehrung ζ. Z. des Faustus von Reji die Worte in ihrem Symbol gehabt haben, glaubte ich nicht erwähnen zu dürfen, da sie für die Frage nach dem ursprünglichen Sinn im Symbol gleichgültig ist; denn Faustus hat die Verehrung der Heiligen und Reliquien jedenfalls lediglich eingetragen. D. Oremer meint nun, die "Worte könnten (müßten) biblisch verstanden werden, „und darum bedarf es nicht einer Umdeutung, um sie in dem Symbol belassen zu können, sondern nur desjenigen Verständnisses, das für alle Aussagen desselben nach Augustins oben angeführtem Ausspruch über die Entstehung und den Willen des Symbols maßgebend ist, nämlich die uns die neutestamentlichen Schriften an die Hand geben". Diese Worte bezeichnen sehr deutlich den prinzipiell verschiednen Standpunkt, den mein Gregner und ich behaupten, erstlich, sofern er sich hier auf Augustins Meinung beruft und sie für maßgebend hält (s. oben S. 269 f), das Symbol sei ein Exzerpt aus neutestamentlichen Schriften, zweitens sofern er demgemäß den Versuch einer historischen Erklärung der einzelnen Sätze des Symbols aus ihrer Zeit für überflüssig, ja im Grunde
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für unstatthaft hält. Die Konsequenzen seines Verfahrens sind unübersehbar: selbst zugestanden, das Apostolikum wäre — auch noch in seinen jüngsten Bestandteilen — ein Exzerpt aus dem Neuen Testament, dürfte man es deshalb nach den Grlaubensüberzeugungen der neutestamentlichen Schriftsteller erklären? Die Formeln der Semiarianer waren auch Exzerpte aus dem Neuen Testament: dürfen wir sie deshalb nach dem Neuen Testament auslegen, oder sind wir nicht vielmehr verpflichtet, wenn wir die Dogmengeschichte nicht überhaupt sprengen wollen, sie nach der Theologie des vierten Jahrhunderts zu verstehen? Die abstrakte Auslegung des Apostolikums nach Maßgabe der neutestamentlichen Schriften ist lediglich ein Rest der altkirchlichen Vorstellung, dieses Symbol stamme von den Aposteln. Man sagt das nicht mehr, aber man verfährt so; denn durch den Hinweis, das Symbol sei ein Exzerpt aus apostolischen Schriften, ist augenscheinlich das Recht, bei seiner Erklärung von der Kirchengeschichte abzusehen, noch längst nicht erwiesen. 8. Den eben gewonnenen Grundsatz, das Apostolikum ist nach den neutestamentlichen Schriften zu erklären, wendet D. Cremer nun sofort auf die sogenannte Höllenfahrt an. „Die alte Kirche hat mit der Aufnahme dieses Zusatzes nichts andres getan als einer im Neuen Testament bezeugten Tatsache einen Ausdruck gegeben, der in seiner objektiven, rein geschichtlichen Fassung ebensosehr dem energischen Willen der römischen Kirche entspricht [aber aus dieser Kirche stammt der Zusatz nicht], alle lehrhaft gehaltenen antihäretischen (theologischen) Zusätze auszuschließen, als in seinem Lapidarstil allen übrigen Aussagen vollkommen ebenbürtig ist." Ich hatte gehofft, daß D. Cremer wenigstens an diesem exponierten Punkte einer geschichtlichen Betrachtung Raum geben würde; aber auch hier ist sie ausgetilgt. Erstlich bezeugt das Neue Testament mindestens eine vor der Wieder-
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erweckung Christi geschehene Höllenfahrt nirgends; zweitens — selbst diese „Tatsache" vorausgesetzt — vermag auch D. Cremer über sie nur zu sagen, daß der Zusatz „in seinem Lapidarstil allen übrigen Aussagen vollkommen ebenbürtig ist". Ja wenn es nur auf den Lapidarstil ankäme — daß die Tatsache selbst allen übrigen Aussagen ebenbürtig ist, scheint auch D. Cremer hier nicht behaupten zu wollen. Was geht uns dann aber die Gleichheit des Lapidarstils an! D. Cremer fährt fort: „Was die alte Kirche sich bei dieser Aussage gedacht hat, ob sie mehr an Eph. 4, 8—10; Koloss. 2, 15 (?) oder wie Rufinus daneben auch an 1. Petr. 3, 19 f.; 4, 6 gedacht hat, interessiert die Dogmengeschichte, uns aber insoweit, als wir bei jedem Punkte des Bekenntnisses unterscheiden müssen zwischen der damit beabsichtigten Reproduktion apostolischer Bezeugung von Tatsachen und tatsächlichem Sachverhalt einerseits und dem in der damaligen Christenheit vorhandnen Verständnis andrerseits." Also die nackte Tatsache soll damals, als der Zusatz entstand, und jetzt gelten, sie soll für den Glauben maßgebend sein — dazu eine Tatsache, die jeder anders versteht! Und warum soll sie maßgebend sein? Hätte wohl irgend ein evangelischer Christ sie für eine maßgebende „Heilstatsache" gehalten, wenn es nicht einigen Bischöfen vor fünfzehnhundert Jahren gefallen hätte, sie in ihr Taufsymbol aufzunehmen? Nein — diese „Tatsache" wird lediglich (und dies in evangelischen Kirchen!) deshalb für maßgebend gehalten, weil sie im Apostolikum steht, wobei jeder allerdings auch von Kirchen wegen die Freiheit hat, über sie zu denken, wie er will! Ist dies evangelischer Glaube und nicht vielmehr der purste Formelglaube, über den wir uns sehr erhaben dünken, wenn wir ζ. B. über die griechische Kirche mit ihrem traditionellen Glaxibensritualismus urteilen? Photius wird gescholten, weil er den Abendländern nicht nur das filioque vorwarf, sondern es ihnen als die größere Häresie anrechnete, daß sie am
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heiligen Symbol eine Veränderung vorgenommen hatten: sind wir denn in den evangelischen Kirchen tausend Jahre später, trotzdem uns Luther wieder gelehrt, was Glaube sei, wirklich weiter gekommen? 9. D. Cremer hat sub 7 und 8 die Notwendigkeit einer Umdeutung des symbolischen Ausdrucks abgelehnt: nichts sei umzudeuten; denn aus dem Neuen Testament empfange alles seine rechte Deutung. Aber wie steht es mit der „Auferstehung des Fleisches"? Hier räumt D. Cremer ein: „Der Ausdruck als solcher deckt sich nicht bloß entschieden nicht mit der apostolischen, speziell Paulinischen Verkündigung, sondern steht rein formell betrachtet im Widerspruch mit derselben. Die Abweichung dieses Artikels von dem apostolischen Zeugnis nötigt zu der Frage, ob die Kirche sich dadurch in Widerspruch hat setzen wollen mit der apostolischen Predigt, oder ob sie unbewußt sich in solchem Widerspruch befunden hat." Soweit ist alles korrekt, und ich freue mich, daß D. Cremer den Tatbestand so bestimmt zum Ausdruck gebracht hat. E r erklärt nun die fraglichen Worte f ü r einen „ungeschickten Ausdruck" dessen, was unabweisbarer Bestandteil der apostolischen Verkündigung ist; sachlich liege kein Widerspruch vor. I m wesentlichen bin ich hier mit ihm einig, wenn auch nicht ganz (im zweiten Jahrhundert legte man wirklich auf die Auferstehung des Fleisches, der Knochen und Haut das größte Gewicht). Doch das mag auf sich beruhen. Nur zieht D. Cremer die Konsequenz nicht, die er selbst aufgedeckt hat, daß der Ausdruck entweder umzudeuten oder zu tilgen ist.*) Allerdings verwahrt er sich *) D. Cremer schreibt: „Die Angabe [Harnacks], daß viele Zeugnisse der ältem Zeit statt Auferstehung des Fleisches „Auferstehung" oder „ewiges Leben" bieten, ist nicht korrekt." Aber diese Angabe ist ganz korrekt. D. Cremer hat wohl an Symbole gedacht und dort die fraglichen Worte nicht häufig gefunden; ich aber sprach von „Zeugnissen". Nach dem Zusammenhang meiner Worte mußte es deutlich sein, daß
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hier auch nicht ausdrücklich gegen den Gedanken einer Umdeutung wie zu 7 und 8. Also gibt er an diesem Punkte doch einen gewissen Mangel des Symbols zu. 10. Das von mir über die Himmelfahrt Ausgeführte bestreitet D. Cremer S. 18—22. E r schreibt: „Nicht ein Ergebnis historischer Forschung, sondern prinzipieller Kritik ist es, daß die Differenzierung zu mehreren Akten (Auferweckung, Himmelfahrt, Sitzen zur Rechten) einer späteren Zeit angehört. Mit den neutestamentlichen Schriften — und dies ist hier die Hauptsache — steht sie keineswegs in "Widerspruch." Daß die Himmelfahrt mit den neutestamentlichen Schriften „in Widerspruch" stehe, habe ich nicht behauptet; auch die prinzipielle Kritik wäre hier sehr am Platze; aber ich habe sie nicht angewendet. Was ich behauptet habe, hat D. Cremer nicht erschüttert, nämlich daß die Himmelfahrt in der ältesten Verkündigung kein besondres Grlied gebildet hat, und daß es sich auf geschichtlichem Wege wahrscheinlich machen läßt, daß sie nicht zur ursprünglichen Verkündigung gehörte.*) Ich habe mich dafür erstlich auf das Fehlen derselben in den drei ersten Evangelien, in dem ersten Korintherbrief, in den Briefen des Klemens, Ignatius und Polykarp und im Hirten des Hermas berufen. Hier beanstandet D. Cremer, daß ich die Himmelfahrt auch im Lukasevangelium vermisse. E r schreibt: „Daß auch der Schluß des Lukasevangeliums ein späterer Zusatz sei, hat bis jetzt die Textgeschichte nicht bewiesen [habe ich auch nie behauptet]. Ich vermute, daß Harnack etwas andres diese Zeugnisse nicht in Symbolen, sondern in den ältesten Schriften zu suchen sind. *) Ich habe mich übrigens so behutsam wie möglich ausgedrückt und die Erörterung dieses Punktes mit den Worten (s. oben S. 246) begonnen: „Nicht sicher zu fassen, aber doch nicht zu übergehen ist noch eine Abweichung von der ältesten Predigt, es ist die besondre Hervorhebung der Himmelfahrt."
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im Sinne hat als textgeschichtliche Forschung, nämlich Quellenforschung. Oder sollte es sich um eine neue, bisher nicht bekannt gegebene Entdeckung auf dem Grebiete der Textgeschichte handeln?" Um eine alte Erkenntnis handelt es sich, die D. Cremer wohl nur augenblicklich entfallen ist. Ein Blick auf eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments, auf Tischendorfs Octava oder auf "Westcotts und Horts Edition, wird ihn daran erinnern, daß die "Worte in Lukas 24, 51: και άνεφέρετο εις ούρανο'ν — das einzige Zeugnis der Himmelfahrt in diesem Evangelium — in den Ausgaben als späterer Zusatz getilgt sind. Sie sind zwar relativ gut bezeugt und jedenfalls sehr alt, aber da Sinaiticus (erste Hand), viele lateinische Zeugen und Augustin sie nicht bieten, so ist kein Verlaß auf sie. I n Bezug auf Paulus (1. Kor. 15) bemerkt D. Cremer: „Daß Paulus den, der auferstanden und den Jüngern erschienen ist, als den nunmehr zur Rechten G-ottes Erhöhten weiß, schließt die Entrückung des durch die Auferstehung in das Leben und zu den Seinen Zurückgekehrten ein, und daß diese Entrückung identisch sein soll mit der Auferstehung, ist nicht Ergebnis historischer Forschung, sondern eine Hypothese, welche in prinzipieller Beurteilung und Kritik der Tatsachen der Geschichte Jesu ihre "Wurzel hat." Durch diese Bemerkung wird die Streitfrage verschoben: nicht darum handelt es sich, was sich Paulus implicite ober explicite gedacht, sondern darum, ob er die Himmelfahrt neben der Auferstehung besonders erwähnt hat. Das hat er nicht getan, und deshalb ist es eine einfache Eintragung, wenn man behauptet, er müsse um eine leibliche Himmelfahrt (um diese handelt es sich, nicht um irgend eine „Entrückung") gewußt und diese für eine „Heilstatsache" gehalten haben. Zweitens hatte ich mich auf das Zeugnis des Barnabasbriefes berufen, der Auferstehung und Himmelfahrt auf einen Tag verlegt. D. Cremer erwidert: „"Wenn dies unzweifelhaft die Meinung der Stelle 15, 9 wäre, so würde
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es eine absolut vereinzelte Annahme des Verfassers sein, gegen die geltend gemacht werden muß, daß nirgends im kirchlichen Altertum der Sonntag zugleich als Feier der Himmelfahrt erscheint. Geschichtlichen "Wert hat diese Notiz eben wegen ihrer Verbindung mit der Sonntagsfeier nicht einmal als Überbleibsel einer abweichenden Tradition." Demgegenüber bemerke ich: 1. D. Cremer hat nicht angegeben, wie man die Stelle im Barnabasbrief anders verstehen kann; 2. vereinzelt ist die Nachricht nicht (s. jetzt auch das Petrusevangelium; noch anderes kommt in Betracht), aber die Angabe der Apostelgeschichte, Jesus sei vierzig Tage nach der Auferstehung gen Himmel gefahren, ist vereinzelt; 3. daß im Altertum nirgends der Sonntag als Festtag der Himmelfahrt erscheint, wäre nur dann ein nennenswertes Argument, wenn es in der altern Zeit überhaupt einen Festtag der Himmelfahrt gegeben hätte. G-anz besonders verächtlich behandelt D. Cremer meinen Hinweis darauf, daß in alten Zeugnissen achtzehn Monate zwischen Auferstehung und Himmelfahrt gelegt werden. Er nennt ihn „eine Mitteilung, die wie nur eine die Unkundigen zu verblüffen imstande ist"; denn ich hätte „es unterlassen, dasjenige mitzuteilen, was den Wert dieser Notiz zur Genüge charakterisiert, nämlich daß sie gnostischen Kreisen entstammt und mit gnostischen Spekulationen über Äonenreihen zusammenhängt (Iren. I, 8, 2; 30, 14)". Allein demgegenüber ist zu sagen: 1. Daß die Angabe mit Spekulationen über Äonenreihen zusammenhängt, ist nicht erwiesen; 2. geschichtliche Nachrichten sind damit noch nicht als für die große Kirche unerheblich diskreditiert, daß wir sie in gnostischen Kreisen antreffen, am wenigsten, wenn diese Kreise valentinianische waren; 3. daß diese Nachricht gnostischen Kreisen entstammt, ist ungewiß, ja unwahrscheinlich: sie findet sich nämlich keineswegs nur dort, wo D. Cremer sie angetroffen hat, nämlich bei dem Valentinschüler Ptolemäus und den Ophiten, sondern auch
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in der „Himmelfahrt des Jesajas" (und höchst wahrscheinlich bei dem Valentinschüler Herakleon). Alles, was D. Cremer sonst noch beibringt, um die Himmelfahrt als einen ursprünglichen Bestandteil der ältesten Verkündigung zu erweisen, sind verständige Erwägungen darüber, daß eine leibhaftige Auferstehung eine Himmelfahrt fordere, und daß diese deshalb von Anfang an ein besondres Stück des Glaubens gebildet haben müsse; aber D. Cremer ersetzt damit nur das fehlende geschichtliche Zeugnis: Auferstehung und Erhöhung sind in der ältesten einhelligen Verkündigung nachweisbar, nicht aber Auferstehung und Himmelfahrt. Die Wolke von Zeugen aus dem Neuen Testament, die mein Gregner S. 21 f. glaubt anführen zu dürfen, bitte ich genau zu prüfen; man wird finden, daß sie f ü r die von mir scharf gestellte Frage belanglos sind. Es bleibt also dabei, daß man aus historischen Gründen sich genötigt sieht, zu erklären: Die Himmelfahrt hat nicht wie der Kreuzestod und die Auferstehung von Anfang an ein besondres Stück in der Verkündigung von Christus gebildet, so gewiß man von Anfang an von einer Erhöhung oder von einer Rückkehr Christi zum Vater gesprochen hat. 11. Ich komme schließlich zu dem Hauptstück, der Geburt aus der Jungfrau. Die Art, wie D. Cremer hier die Kontroverse geführt hat, kann ich nur tief bedauern. Erstlich will er auch hier eine historisch-kritische Frage überhaupt nicht wahrnehmen und hat für das Gewissen des Historikers keine Nachempfindung, zweitens spielt er die ganze Frage sofort auf das Gebiet der Christologie und zwar der Präexistenz über. Ich bin diese Weise der Polemik von der großen Zahl meiner Gegner her gewöhnt; aber es befremdet mich, auch D. Cremer in ihren Reihen zu sehen. Ich hatte mich zu ihm eines Bessern versehen; denn diese Verschiebung der einfachen Fragestellung ist historisch und theologisch betrachtet verwerflich. Historisch aber ist sie doppelt verwerflich; denn noch ist das
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Urteil nicht widerlegt, daß die Vorstellung von der persönlichen Präexistenz Christi und die Vorstellung der Entstehung des Grottessohns aus wunderbarer Einwirkung des heiligen Geistes auf eine J u n g f r a u ursprünglich zwei verschiedene, sich widersprechende Überzeugungen oder sich widersprechende Versuche sind, das wunderbare Wesen Jesu zu entschleiern. Nachträglich kann man ja wohl durch dogmatische Kunst beide Anschauungen miteinander vereinigen, wie sie in der Tat bald vereinigt worden sind; aber wie sie ursprünglich verschieden sind, so sind sie es auch in der Sache. Wer an der Präexistenz Christi festhält, der kann nicht glauben, daß der Sohn Gottes durch das Wirken des heiligen Geistes in der J u n g f r a u erst geworden sei, und wer an dieses Gewordensein durch den heiligen Geist glaubt, der gibt damit die Präexistenz in realistischem Sinne preis. Aber auch wenn es anders wäre — und geschichtlich ist es ja anders geworden —, wo liegt das Recht, das Dogma von der Jungfrauengeburt so zu verteidigen, daß man zur Verteidigung der Präexistenz übergeht? Ich vermag hierin nur die Verhüllung einer Schwäche zu sehen. Um das physiologische Wunder der Jungfrauengeburt handelt es sich beim Wortlaut des Apostolikums, und zunächst um nichts andres. Mit jenem Wunder wird eine geschichtliche Tatsache behauptet, und solche Tatsachen unterliegen der geschichtlichen Kritik. Ich verstehe es daher nicht, wie D. Cremer sagen kann, die Frage sei keine historische Frage. I n Wahrheit kann auch er nicht umhin, nachdem er eine längere dogmatische Digression gemacht hat, auf die Frage als auf eine historische einzugehen. Die fünf Gründe, die ich beigebracht habe, vermag er nicht zu entkräften; denn die allgemeine Bemerkung: „die Menge der Gründe steht in der Regel in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Beweiskraft," wäre eine sonderbare Entkräftung. D. Cremer zieht sich vielmehr darauf zurück, daß das „empfangen vom heiligen
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Geist, geboren von der J u n g f r a u Maria" sachlich begründet sei, und daß die Frage, aus welcher Quelle die beiden Evangelien dies geschöpft haben, für die Sache nichts austrage. Wenn er sich gegenüber einer erzählten geschichtlichen Tatsache und noch dazu einer wunderbaren und noch dazu einer solchen, deren Quelle man nicht kennt — ich glaube sie allerdings zu kennen: Jesaj. 7, 14 —, wirklich damit beruhigt, daß sie „sachlich" begründet sei, und sie deshalb für zuverlässig hinnimmt, so läßt sich dazu nichts bemerken. Doch bleibt auch auf diesem Standpunkte die Trage eine historische; D. Cremer löst nur die historische Frage durch eine dogmatische Erwägung, die ihm so sicher ist wie ein historisches Zeugnis, ja sicherer als ein solches. Auf diesem Wege vermag ich ihm nicht zu folgen.*) Hier enthüllt sich ein Gegensatz des Glaubens, der Methode und der Kritik, der eine genauere Darlegung erheischt. Ich versuche sie im fol*) I n welchem Maße D. Cremer der bestimmten F r a g e , die J u n g f r a u e n g e b u r t betreffend, ausgewichen ist, zeigt folgender Satz auf S. 29: „Sollte aber ein Ausdruck in Harnacks jüngster Schrift, was ich nicht annehme, dahin zu verstehen sein, daß der Satz »empfangen vom heiligen Geist, geboren von der J u n g f r a u Maria« in der Verkündigung J e s u selbst nicht zu finden sei, so müßten zunächst W o r t e wie J o h . 8, 58; 16,28; 17, δ aus der W e l t geschafft werden, ehe diese B e h a u p t u n g aufrecht erhalten werden könnte." Allein an den drei Stellen, die D. Cremer hier a u f g e f ü h r t hat, ist von der J u n g f r a u e n g e b u r t schlechterdings nicht die Bede. Die erste l a u t e t : „Ehe denn Abraham ward, bin ich"; die zweite: „Ich bin vom Vater ausgegangen u n d gekommen in die W e l t , " u n d die dritte: „Vater, verkläre mich bei dir selbst mit der K l a r h e i t , die ich bei dir h a t t e , ehe die W e l t war." Man kann sich gläubig zu dem I n h a l t e dieser Stellen bekennen u n d doch die Geburt aus der J u n g f r a u , die sie n i c h t enthalten, dahingestellt sein lassen. Von der G e b u r t ohne Z u t u n eines Mannes spricht Johannes übrigens an einer Stelle wirklich — D. Cremer h a t diese Stelle auffallenderweise nicht angeführt. Hier faßt der Evangelist eine solche Geburt als ein Bild u n d behauptet, alle Gottes-Kinder seien so geboren (1, 18): „nicht von dem Geblüt, noch von dem W i l l e n des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott."
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genden zu geben, nachdem ich im vorstehenden alle Einwürfe widerlegt zu haben glaube, die D. Cremer gegen meine Ausführungen im einzelnen gerichtet hat.
2. Die prinzipiellen Sätze D. Cremers. Alle Nebenfragen mögen hier beiseite bleiben. Ich halte mich an die drei Sätze D. Cremers, die ich oben aufgeführt habe, und die er selbst als den entscheidenden Inhalt seiner Schrift hervorgehoben hat. Ich will dabei das Maß der Übereinstimmung, das zwischen uns besteht, bezeichnen; denn sonst ist jeder Kampf fruchtlos. 1. Der erste Satz lautete: „In dem gegenwärtigen Streite um das apostolische Glaubensbekenntnis handelt es sich weder um neue Ergebnisse, noch überhaupt um Ergebnisse historischer Forschung." Daß es sich nicht um neue Ergebnisse handelt, habe ich selbst von Anfang an ausgesprochen, und es mögen daher auch hier meine Arbeiten über das apostolische Symbol im zweiten Jahrhundert beiseite bleiben. Andre mögen darüber urteilen, ob sie Wertvolles enthalten. Aber um so bestimmter muß ich es aus sprechen: es handelt sich bei dem Streite um Ergebnisse historischer Eorschung. Der Streit ist auf ein andres Grebiet hinübergespielt worden, weil man es überhaupt nicht zugeben will, daß die geschichtliche Erkenntnis in der Religion — auch zu ihrer Berichtigung — eine Rolle spielt, und es doch auch nicht offen in Abrede stellen darf. Hier liegt die ganze Schwierigkeit unsrer gegenwärtigen Situation. Bis zum achtzehnten Jahrhundert begründete man die Religion aus der Überlieferung ; im achtzehnten aus der Vernunft, in der ersten Hälfte des neunzehnten aus der Spekulation — die Greschichte spielte hier überall letztlich nur die Rolle der Magd; denn immer
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kannte man höhere Instanzen, vor denen sie zurückzutreten habe. Was ein Kardinal offen auszusprechen den Mut hatte: „Man muß die G-eschichte durch das Dogma aufheben," das war und ist f ü r Tausende die selbstverständliche Richtschnur ihres Verfahrens. Aber langsam hat sich die Frage: „Was ist geschichtliche Wirklichkeit gewesen?" und die Einsicht, daß diese Frage nur mit geschichtlichen Mitteln zu beantworten ist, Bahn gebrochen. Nun kann man sie nicht mehr totschlagen. So wenig die Methode reiner Erkenntnis der Natur durch Naturphilosophie ersetzt werden kann, so wenig kann die Einsicht, daß die G-eschichte der geschichtlichen Erkenntnis gehört, mehr geraubt werden. Die Religion, sofern sie mit einer Geschichte in der Welt steht, macht davon keine Ausnahme. Darum sind Sätze wie die: „gehörte die Himmelfahrt Jesu der ursprünglichen christlichen Verkündigung an?", „wie sind die Zeugnisse für sie beschaffen?", „auf welchen Grundlagen ruht die Überlieferung, daß Jesus nicht Josephs Sohn gewesen sei," unzweifelhaft historische Fragen, die nur auf historischem Wege gelöst werden können. Sagt die geschichtliche Untersuchung — vorausgesetzt, daß sie sich nicht irrt —, daß die Zeugnisse unsicher und unzureichend sind, so kann keine Kunst, keine Philosophie, keine Dogmatik sie sicher und zureichend machen; denn die Fähigkeit ist keinem Menschen geschenkt, eine Tatsachenfrage a priori zu entscheiden. Der römische Stuhl hat sich zwar auch diese Fähigkeit angemaßt; aber er hat sich überhaupt ins Übermenschliche gestellt. Jene Fragen aber sind die eigentlichen Hauptfragen in dem gegenwärtigen Streit. Also handelt es sich bei ihnen um historische Fragen und bei ihrer Beantwortung um Ergebnisse historischer Forschung. Jede andre Antwort ist unstatthaft. Ich kann auch nicht finden, daß D. Oremer wirklich Ernst damit macht, jene Fragen aus der Geschichte auszuweisen; denn täte er das, so müßte er auch von den biblischen Zeugnissen absehen
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und, wie gewisse Hegelianer, die Fakta einfach konstruieren. Dazu hat er wohl einen schüchternen Ansatz bei der J u n g frauengeburt gemacht; aber auch nicht mehr. Also soll letztlich doch das geschichtliche Zeugnis gelten, d. h. die Geschichte, und die Frage ist nur die, ob das Zeugnis vollgiltig ist oder nicht. Daß aber geschichtliche Zeugnisse nur nach einer Methode geprüft werden können, und daß eine Kritik, die in der Mitte anhebt oder plötzlich Halt macht, eine Kritik unter der Kritik ist, wird D. Cremer gewiß selbst bekennen. Seinem ersten Satze stelle ich daher den Satz gegenüber: I n dem gegenwärtigen Streit um das apostolische Glaubensbekenntnis handelt es sich um das Recht der geschichtlichen Forschung, in der Kirche zugelassen und gehört zu werden. Wird dieses Recht negiert, so wird das Recht der Reformation negiert; denn diese, die aus dem Glauben und der Kritik an der Überlieferung geboren ist, wäre in diesem Fall eine beklagenswerte Revolution gewesen.*) 2. Der Streit ist wider meine Absicht auf das Gebiet des Glaubens hinübergespielt worden, und ich folge dem. Der zweite Satz D. Cremers lautet: „Denn die Frage nach der Person Christi oder die Frage, wer und was Jesus ist, kann nimmermehr auf dem Wege und mit den Mitteln historischer Forschung entschieden werden." Diesen Satz muß ich zu den gefährlichen, halbwahren Sätzen rechnen, vor denen man sich hüten sollte. So wie *) In den neutestamentlichen Einleitungen, in den Kommentaren zu Matthäus und Lukas und in dem „Leben Jesu" ist die Geschichtlichkeit der Erzählung yon der Jungfrauengeburt unzählig oft in den letzten fünfzig Jahren bestritten worden, und es gab nicht mehr Anlaß zu einer kirchlichen Erregung. "Wenn dieselbe Erzählung aber in Anknüpfung an das Apostolikum bestritten wird, erhebt sich ein Sturm. Wie soll man die Tatsache deuten? Soll es eine doppelte Wahrheit geben? oder soll man in der evangelischen Kirche die geschichtliche Erkenntnis verhüllen?
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er lautet und in allen seinen Konsequenzen durchdacht, kann ihn nur entweder der Schwarmgeist oder der Katholik oder ein spekulativer Religionsphilosoph (Hegelscher Färbung) vertreten. Der Schwarmgeist braucht die Geschichte nicht; denn er schöpft alles aus innerer Offenbarung. Der Katholik kann sie entbehren, denn er hält sich an das Christusbild, welches die Kirche ihm zeigt, und vertraut darauf, daß die Autorität der Kirche die Wahrheit des Bildes garantiere. Der spekulative Religionsphilosoph endlich kann die Geschichte dahinten lassen, denn wenn er die Möglichkeit und Notwendigkeit der Idee der Grottmenschheit konstruiert hat, ist er beruhigt. Aber wir evangelische Christen brauchen die Geschichte; denn wir wollen keinen andern Christus, und kein andrer kann uns helfen, als der wirkliche, geschichtliche Christus, dessen Wort wir noch eben vernehmen, und dessen Züge wir in unser Herz aufnehmen können. Wir haben ihn kennen und lieben gelernt aus der Verkündigung unsrer Kirche; aber wenn wir nun zur Mündigkeit erwachen — wem wird die Frage erspart: Weißt du auch, an wen du glaubst? und kannst du davon überzeugt sein, daß er so ist, wie du ihn glaubst? Es gibt viele lautere und treue Christen, die nie zu dieser Frage kommen: sie haben durch Christus den Zugang zu ihrem Grott gefunden und wissen sich geborgen. Aber wie steht es mit den andern? Dürfen wir ihnen die Frage abschneiden? und haben wir einen andern W e g , auf den wir sie weisen können, als den: Forschet seinem Selbstzeugnis nach und prüfet, was seine Zeugen von ihm gesagt und welche Wirkungen sie von ihm erfahren haben; euer Streben, den wirklichen Christus zu erfassen, ist recht und gut; erstickt es nicht durch irgendwelche Beruhigungen und Beschwichtigungen, die ihre K r a f t doch bald wieder verlieren. Und so sollen sie Christus als ihren Herrn finden? Nein, gewiß nicht. Hier weiß ich mich mit meinem Gregner
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einig, wenn er sagt: „Nicht der historischen Forschung kommt es zu, das letzte Wort über Christus zu sprechen." Nur würde ich mich anders ausdrücken. Nicht um das letzte Wort handelt es sich, sondern um ein ganz neues Wort. Innerhalb der geschichtlichen Frage kann nur die geschichtliche Untersuchung Aufschluß geben: versagt sie, so versagt hier überhaupt alles. Aber daß dieser Christus, wie ihn die Geschichte vorstellt, als mein Herr und Erlöser geglaubt und ergriffen wird, das bringt gewiß keine geschichtliche Erkenntnis zuwege, sondern hier gilt, was Luther im Eingang der Erklärung des dritten Artikels gesagt hat, und was der Apostel noch kürzer zusammengefaßt hat: „Niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den heiligen Greist." Ein Christenmensch ist ein Mensch, der die Erfahrung gemacht hat: „An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert." Diese Erfahrung liegt über allem Zwang, den geschichtliche Erkenntnis ausübt. Aber, wie unsre Bekenntnisschriften sagen, der heilige Greist wirkt durch das Wort, d. h. durch die Predigt von Christus. Nun ist's gewiß mit diesem Wort so herrlich bestellt, daß schon ein Strahl aus ihm einen Menschen ergreifen und aus der Zerstreuung und dem selbstischen Wesen zur Umkehr und zu Grott führen kann. Aber die christliche Gremeinschaft kann auf die Dauer nur bestehen und gesund bleiben, wenn das Wort lauter und rein gepredigt wird. Lauter und rein — es gab eine Zeit, in der diese Forderung erfüllt schien, wenn man Bibelstellen zusammenstellte und sie nach der analogia fidei erklärte. Heute ist es nicht mehr so. Wir haben gelernt, was Geschichte ist und geschichtliche Zeugnisse. Deshalb hat die Forderung, daß man auf festem Boden stehen müsse, einen andern Sinn als früher. Wir denken heute bei „lauter und rein" auch, ja in erster Linie, an „geschichtlich zuverlässig" ; sonst ist uns alles dahin. Damit sind wir wieder bei der
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Geschichte und der reinen Erkenntnis der Geschichte; wir werden sie nicht los, und sie läßt uns nicht los; denn wir wollen nicht von unsern Gedanken oder von falschen Tatsachen leben, sondern von dem, was gewiß ist. Das ist der Grund, warum wir geschichtliche Kritik üben — auch aus einem entscheidenden Interesse des Glaubens geschieht es. D. F r a n k freilich meint, „wir schielten ängstlich hinüber auf den wirklichen oder vermeintlichen Wahrheitsbesitz der natürlichen Erkenntnis". Wir schielen nicht bloß hinüber, sofern er ein wirklicher ist, sondern wir fassen ihn fest ins Auge, weil wir gewiß sind, daß alle Wahrheit, auch die „natürliche", von dem Gott der Wahrheit stammt und keine Wahrheit ungestraft überhört wird. Auf die merkwürdige Vorhaltung D. Cremers aber, der „Historizismus" sei nur eine andre Form der römischen Methode, die alle diejenigen, die der wissenschaftlichen Forschung nicht zu folgen und sie nicht zu kontrollieren vermögen, zur fides implicita verdamme und nur der geistigen Aristokratie eine fides explicita ermögliche; das Christentum sei aber keine Religion für die Aristokratie der Theologen, und die Frage: was dünket euch um Christo? könne von jedem, der nur guten Willens ist, entschieden werden — erwidere ich, daß D. Cremer auf keine Weise den Unterschied verschiedener Stufen christlicher Erkenntnis aus der Welt schaffen kann, daß er aber hier ganz Disparates in eins gesetzt hat. Wäre die christliche Religion nichts andres als Glaube an eine geschichtliche Person, so hätte er freilich recht: der vollkommene Historiker wäre der vollkommene Christ; aber sie ist Religion. Sie hat es deshalb letztlich mit nichts andrem zu tun, als daß die Seele ihren Gott finde und ihn halte. Das Wort: „Du Herr hast uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir", gilt von allen Menschen. Findet ein Mensch durch ein Wort, das ihm in die Seele fällt, den lebendigen Gott, erlebt er in sich durch die Gnade
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Gottes, wie sie in der christlichen Gemeinschaft verkündigt wird, jene Umkehr, die ihn ans der Schuld und dem elenden Treiben der "Welt herausführt, und hält er sich nun zu G-ott als seinem Yater und dem Fels seines Lebens, so ist er ein Christ, mag seine Kenntnis von Christus noch so unvollkommen sein. Ein Religionslehrer in Worten wird er vielleicht nicht sein können trotz seiner fides explicita; aber sein Leben wird eine deutliche und kräftige Predigt sein. I n Summa: der Unterschied von fides explicita und implicita wird, auf die Religionslehre gesehen, immer bestehen bleiben; aber im evangelischen Sinn hat auch das kananäische Weib nicht die fides implicita, sondern den rechten Glauben besessen. Aber nur der „Historizismus" schützt unsre Kirche davor, daß ihr Glaube nicht von Schlinggewächsen überwuchert wird; der einzelne Christ, auf den verschiednen Stufen der Erkenntnis und Bildung, kann auch unter dem Schutt von hundert falschen Uberlieferungen und Lehren, die er f ü r wahr hält, ein freies Gotteskind werden und bleiben, wie er umgekehrt, ohne Verständnis f ü r den ganzen Reichtum religiöser Erkenntnis, von einem Worte Gottes zu leben vermag. Dem zweiten Satze D. Cremers stelle ich daher den Satz gegenüber: Die Erage, wer und was Jesus ist, kann — wenn die kirchliche Überlieferung über ihn an irgend einem Punkte erschüttert ist — nur auf dem Wege und mit den Mitteln historischer Forschung festgestellt werden; aber die Uberzeugung, daß dieser geschichtliche Jesus der Erlöser und der Herr ist, folgt nicht aus der geschichtlichen Erkenntnis, sondern aus der Sünden- und Gotteserkenntnis, wenn ihr Jesus Christus verkündigt wird. 3. Der dritte Satz D. Cremers lautete: „Ist das die eigentliche Frage, wer und was Christus sei, so richtet sich nach ihrer Entscheidung auch die Kritik des Symbols." I n diesem Satz, der das Ergebnis aus den beiden ersten zieht, wird das Symbol, das doch eine historische Urkunde
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ist, aus aller Zeit herausgehoben. Es soll als ein Bekenntnis betrachtet werden, das vollständig und rein verkündigt, was das Evangelium sagt, einerlei, ob das wirklich mit dem historischen Befunde des Symbols stimmt. Daß ich ein solches Verfahren geschichtlich nicht f ü r statthaft halte, habe ich bereits ausgeführt. Unter dieser Bedingung könnte man sich auch auf das Tridentinum verpflichten lassen. Aber diese Seite der Sache mag hier auf sich beruhen; ich gebe sogar zu, daß, solange wir nicht ein kurzes evangelisches Bekenntnis haben, es — innerhalb des praktischen Gebrauchs — angezeigt ist, Luther zu folgen und das Symbol evangelisch zu verstehen. Aber D. Cremer macht von dieser kirchengeschichtlichen Erlaubnis einen sehr weitgehenden Gebrauch, indem er die Präexistenz Christi als den Hauptinhalt des Symbols erscheinen läßt, und indem er andrerseits den Gegnern ein bereits formuliertes Symbol unterschiebt, um mit der triumphierenden Frage zu enden: „Wird man dann noch wagen zu bekennen: ich glaube an eine Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben?" Über jenes noch ein kurzes Wort; über das erfundene Symbol möchte ich schweigen, da dieses Symbol nicht meines ist. Die Präexistenz — ich erkläre zunächst offen, daß es mir schwer wird, darüber zu schreiben, zumal in einer Streitschrift. Einen Spruch, wie den: „Selig sind die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen" zu bedenken, ist mehr wert als alle theologischen Erwägungen über die Präexistenz. Auch hat Jesus Christus nicht das Geheimnis seiner Person in den Mittelpunkt des Evangeliums gestellt, sondern Gott den Vater und sich selbst, wie er menschlichem Auge und Ohr und menschlichem Sinn zugänglich war. Und die Seligkeit hat er denen zugesprochen, die den Willen seines Vaters im Himmel tun, nachdem sie den Vater am Sohne erkannt haben. Dennoch bin ich weit entfernt, gering von den Gedanken zu denken, die in der Vorstellung von der „Präexistenz" einen Ausdruck gefunden
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haben. Sie führen bis in das innerste Heiligtum der Religion hinein. Es handelt sich hier aber nicht um ein historisches Urteil — mit der gemeinen Geschichte hat die Frage gar nichts zu tun —, auch nicht um ein Urteil aus der Region des Verstandes, sondern um ein Urteil des Glaubens und um ein Zeugnis aus der "Welt des innern Lebens. Schon das Bekenntnis „Christus mein Herr" ist ein solches. Man soll es nicht anders auf die Lippen nehmen, als indem man die Schauer der Majestät Gottes und den Reichtum seiner Liebe empfindet, sonst ist's eine lose Rede und eine klingende Schelle. Ich fühle einen heißen Schmerz, indem ich in Zeitungsinseraten und Massenkundgebungen die tiefsten und höchsten Bekenntnisse des christlichen G-laubens zornig oder kaltblütig ausgesprochen lese; denn dadurch werden sie profaniert: wieviel wirkliches christliches Leben und wahrhaftiger Reichtum in Gott steht denn hinter dieser Bewegung der Lippen? Sind die alle, die jetzt laut bekennen: „wahrhaftiger Gott vom Yater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren", innerlich berechtigt, ihren Namen unter dies Bekenntnis zu setzen? Ich habe Männer gekannt und kenne sie noch, die es durften, auch in Zeitungen durften; denn ihr ganzes Leben war erfüllt von diesem Glauben. Aber sollten ihrer so viele sein? Wäre ein demütiges Bekenntnis, das wirklich Ausdruck des eignen innern Lebens ist, nicht mehr, wenn es gilt Unglauben, vermeintlichen oder wirklichen, zurückzuweisen? Ich glaube hierin mit D. Cremer nach dem, was er S. 39 geschrieben hat, einig zu sein. Zur Sache aber mag mit der Zurückhaltung, die ein solches Wort fordert, folgendes gesagt sein: Wer an einen persönlichen Gott glaubt und in ihm lebt, der stellt nicht nur die Geschichte des eignen Lebens, sondern auch das Stück Menschheitsgeschichte, das er kennt, unter dieses Licht und schaut sie unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit an. E r
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bekennt mit dem Psalmisten: „Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war," und er versteht, was der Apostel meint, wenn er spricht: „Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge." Wer aber Gott als seinen Vater in Christus gefunden hat und darum Christus als den Herrn bekennt, der ist gewiß, daß hier das Geheimnis entschleiert ist, das wir an unsrer eignen Seele als Bestimmung ahnen, daß wir nicht in die Zeit gehören, sondern in die Ewigkeit: wir sollen das werden, was er war und ist, ein Mensch der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott ist. Der Glaube an Jesus Christus kann nicht der rechte sein, der nicht im Fortgang seiner Erkenntnis auf diese Erkenntnis, die über aller „natürlichen" Geschichte liegt, geführt wird und sie als ein teures Gut festhält. Aber wie unfähig sind Verstand und Phantasie, dies Geheimnis zu fassen! Wie verschiedenartig haben es schon die ältesten Zeugen beschrieben, von jenem Wort aus dem ersten Petrusbrief an: „Der zuvor versehen ist, ehe der Welt Grund gelegt ward," bis zu dem Johanneischen: „Im Anfang war das Wort!" Nicht auf die Fassung kommt es an, sondern auf die Ehrfurcht, mit der man das Geheimnis der Person Christi umfaßt und das eigne Leben unter den Geist Christi beugt. Er ist der Sohn Gottes, und wir kennen ihn nur als den zu uns Gekommenen, der nicht von uns ist, obschon er unser Bruder ist. Nicht die Natur bindet oder trennt unter geistigen Wesen, sondern das, was wir den innern Menschen nennen. I n der Natur ist er uns gleich; aber der Christus „nach dem Geist" ist ein andrer als wir: unser Herr. Mehr vermag ich nicht zu sagen; denn wer ohne Erfahrung oder Empfindung hier etwas sagen wollte, wird zum Sophisten; ich will aber gerne jedem lauschen, der mit Erfahrung und Empfindung hier mehr zu sagen versteht. Nur daß er uns nicht mit einer Formel binde und meine, er habe das Rätsel gelöst und den absoluten Ausdruck gefunden. Es ist nicht nötig,
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2. Antwort auf die Streitschrift Cremers (1892)
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es ist nicht möglich, daß das Wahre, von dem unsre Seele lebt, sich in einer Formel verkörpere; schon genug, wenn es uns innerlich ergreift und dauernd für die Ewigkeit stimmt. "Wenn eine einzige Sünde ein ganzes, reiches, imposantes Leben zu zertrümmern vermag, und umgekehrt ein Strahl Grottes ein armes und gebrochenes Leben erträglich machen, ja in Freude verwandeln kann, so ist es gewiß, daß das Gute, trotz allem Schein, der dagegen spricht, die Herzen und damit die Welt regiert, und daß das Böse das einzige Übel ist. Jenes Grute aber ist nicht eine Abstraktion, sondern ist nur als persönliches Leben und persönlicher Wille vorhanden. Wir ahnen es in vielen Menschen; aber aufgegangen ist es uns als eine und als unsre Wirklichkeit in Jesus Christus. Eben darum stellen wir ihn auf die Seite Grottes und nicht auf die Seite der Welt. Dort sehen wir ihn stehen, wo Grott das Weltall aufgerichtet und die Menschheit geschaffen hat, um das Reich der Greister zu sich zu führen. Wem die Herrlichkeit des christlichen Grlaubens nicht aufgegangen ist, der hält das f ü r eine Torheit, und ich fürchte, auch manche von denen halten es f ü r eine Torheit, die, wo sie ihre dogmatische Formel nicht vernehmen, nichts hören, als Nein oder eine grundlose Rede. Hat doch noch neulich ein hervorragender orthodoxer Theologe das übermütige Wort wider uns ausgesprochen, unser christlicher Grlaube beruhe auf einer „Suggestion", da wir den breiten scholastischen Untergrund verwerfen, den er teils übernommen, teils mit vieler Kunst und Mühe sich selbst gezimmert hat. Wir lassen uns das böse Wort gefallen, wie auch das andre vom „Historizismus". Solange sie uns nicht verstehen, mißverstehen sie uns immer noch am wenigsten, wenn sie uns mit Historizismus und Suggestion schelten. Ich bin zu Ende — man kann in der Religion nicht alles sagen; denn sie ist ein Leben, und ein gutes Stück
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dieses unsers Innenlebens ist uns selber ein Geheimnis. Ansprechen sollen wir nur, was den andern zugute kommt; das Tiefste müssen wir für uns behalten; aber Gott gebe, daß es auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgnen Sonne seinen Glanz breite. Was wir sagen können, das wechselt mit den Zeitaltern in seinen Formen, wenn auch der Gehalt derselbe bleibt. Wir sind eben jetzt wieder in einer Krisis; umso ängstlicher klammern sich viele der Besten an die Formeln. Diese Formeln mögen bleiben, solange noch ein Tropfen Leben in ihnen ist; aber das intellektualistische Zeitalter der Religion wird doch abgelöst werden durch ein andres, das freier sein, aber es dem einzelnen schwerer machen wird, dem Ernst der Religion zu entfliehen. Unterdessen haben wir Theologen die Aufgabe, den christlichen Glauben sowohl in seinen alten Formen zu deuten und verständlich zu machen, als den gebieterischen Winken der Geschichte zu folgen und in neuer Weise alte Wahrheit zu lehren. I n der Bemühung um jene Aufgabe weiß ich mich mit meinem Gegner in mancher Hinsicht einig, während ich zugleich, wie er, schmerzlich den Verzicht empfinde, zu voller Einigkeit zu gelangen. I n solchen Stunden, wo mir die Verschiedenheit der religiösen Erkenntnisse und der kirchlichen Arbeit^ das Heer der Mißverständnisse und das Heer widerstreitender Gedanken auf die Seele fällt, tröste ich mich mit den tiefempfundnen Versen eines Mannes, der es achtzig Jahre ausgehalten hat und nicht stumpf, matt oder erbittert geworden ist: Ziehn wir nun die achtzig Jahr Durch des Lebens Mühen, Müssen auch im Silberhaar Unsre Pflüge ziehen. Führt doch durch des Lebens Tor Traun, so manche Gleise, Ziehn wir einst im Engelchor Geht's nach einer Weise.
BEUNRUHIGUNGEN DES CHRISTLICHEN GLAUBENS UND DER FRÖMMIGKEIT
Die Abhandlung ist in der „Christlichen Welt", 20. Juni 1907, erschienen.
Beunruhigungen des christlichen Glaubens und der Frömmigkeit. Daß der kirchliche Glaube und die Frömmigkeit in unserem Zeitalter in ganz besonderer Weise „beunruhigt" werden, ja daß diese „Beunruhigungen" geradezu charakteristisch f ü r die innere Lage der Kirche in der Gegenwart seien, kann man immer wieder hören und lesen. Und nicht nur die, welche sich beunruhigt fühlen, erheben diese Klage; auch einige der Beunruhiger selbst verkündigen in ehrlichem Schmerz, sie seien in ein TJbergangszeitalter gestellt, wie es bisher noch nicht erlebt worden sei, und müßten wider "Willen und Neigung eine Beunruhigung über den kirchlichen Glauben und die Frömmigkeit heraufführen, die einer unerhörten Erschütterung gleichkäme. Wer diese Klagen an der Geschichte prüft und durch die Geschichte das richtige Augenmaß f ü r die Erscheinungen der Gegenwart gewinnt, vermag den Klagenden nicht recht zu geben. Diese „Beunruhigungen" sind so alt, wie die Kirche selbst, und sie sind in der Gegenwart nicht stärker als in früheren Perioden, sondern in mehr als einer Hinsicht schwächer. Sie sind so alt, wie die Kirche: der erste Geschichtsschreiber der Kirche, Eusebius, kommt bereits auf der sechsten Zeile seiner Kirchengeschichte auf die „Beunruhigungen" — so wichtig sind sie ihm. „Ich will darstellen, welche Männer sich zu den verschiedenen Zeiten aus Neuerungssucht zu den größten Irrtümern fortreißen ließen und sich als Begründer einer fälschlich sogenannten Wissenschaft (Gnosis) anpriesen, wodurch sie wie
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reißende "Wölfe die Herde Christi auf schonungslose "Weise beschädigten." Eusebius will also in seiner Kirchengeschichte auch eine Geschichte der Beunruhigungen des kirchlichen Glaubens geben. Mit scharfem Blick hat er erkannt, daß sie einen wichtigen Teil der Kirchengeschichte bilden. Aber schon hundert Jahre vor ihm hat Tertullian eine Abhandlung geschrieben, der man den Titel geben könnte: „Wie haben wir uns vor kirchlichen Beunruhigungen zu schützen", und hundert Jahre nach Eusebius hat ein anderer kirchlicher Schriftsteller ein Vademekum abgefaßt, wie man die von den Theologen ausgehenden Beunruhigungen zu erklären und abzuwehren habe. Des Eusebius Beurteilung der Beunruhigungen — Neuerungssucht, fälschlich sogenannte "Wissenschaft, schonungslose Beschädigung der Herde Christi — werden wir uns nicht ohne weiteres aneignen wollen; aber seine Zusammenfassung aller hier einschlagenden Erscheinungen unter einem Titel ist der Beachtung wert. "Wir sind heute geneigt, sie in der Kirchengeschichte an verschiedenen Stellen unterzubringen als Häresien, Sekten und Schismen, ferner als negative und positive Faktoren innerhalb der Dogmengeschichte, bzw. der Geschichte der Theologie und der Geschichte des christlichen Lebens. Diese Betrachtung ist gewiß berechtigt und notwendig; aber ihr gegenüber hat die andere auch ihren Wert, alle diese Erscheinungen zusammenzufassen, sie sämtlich auf den jeweiligen Zustand des kirchlichen Glaubens und der Gemeindefrömmigkeit zu beziehen und sich zu fragen: wie wirkten sie auf diese ein, und welche Beunruhigungen und Erschütterungen waren ihre Folgen? Man darf sogar behaupten, daß diese Fragestellung die spezifisch kirchliche ist; denn wenn die Kirchengeschichte es in erster Linie mit der K i r c h e zu tun hat, so kommen alle Faktoren zunächst in ihrer k i r c h lichen W i r k u n g in Betracht. Es ist wichtiger, ihre Folgen für die Kirche zu studieren, als sie genau zu ana-
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lysieren und zu klassifizieren; oder vielmehr die Analyse kann nur eine Vorarbeit sein für die Feststellung der Wirkungen, die sie auf die Frömmigkeit und den Glauben der Gemeinde gehabt haben. So sind auch die ältesten „Ketzerbestreiter" verfahren. An einer genauen Darstellung der Irrlehren lag ihnen gar nichts, aber alles an dem Nachweise, wie sie auf die Gemeinden wirken. Diese "Wirkungen sind keineswegs immer der Natur der beunruhigenden Erscheinungen proportional gewesen. Oftmals haben geringfügige Abweichungen von dem Gegebenen die erschütterndsten Folgen gehabt, und in anderen Fällen sind „grundstürzende Irrtümer" vorübergegangen, ohne je schwere Beunruhigungen hervorgerufen zu haben. Im allgemeinen darf man wohl die Regel aufstellen, daß direkte Angriffe auf die Formen der Gottesverehrung und auf die religiösen Übungen (Liturgie, Agende, Opfer und Gebet, Heiligenverehrung usw.) stets am schwersten empfunden werden, sodann Angriffe auf das religiöse Lebensideal. Damit sind wir schon mitten in der Fragestellung in bezug auf die „Psychologie" und die „Psychosen" der kirchlichen Beunruhigungen, und man erkennt, wie wichtig es ist, neben eine „objektive" Geschichte der Häresien, Sektenerscheinungen usw. eine Geschichte ihrer "Wirkungen auf die Kirche zu stellen. Die Angriffe auf die kirchliche Lehre im engeren Sinn des "Worts durchlaufen in ihren Folgeerscheinungen alle Stufen von den schwersten bis zu verhältnismäßig geringfügigen Erschütterungen. Sehr wichtig ist es hier, aber auch bei allen übrigen Beunruhigungen, darauf zu achten, von wem sie ausgegangen sind. Nicht nur viel, sondern das meiste kommt darauf an, w e r sie erregt. Sofort erkennt man, daß die Beunruhigungen um so schwerer empfunden werden, je näher der sie Verursachende der Kirche steht. Fast könnte man sagen, daß ihre Wirkung, auf den Urheber gesehen, im Quadrat seiner Entfernung von der Kirche abnimmt,
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und daß daher nur der Kleriker, der Mönch, der wahrhaft fromme Laie und der kirchliche Theologe gewaltige Erschütterungen heraufzuführen vermögen. Der in weiteren Kreisen bekannt gewordene Ausspruch: „Träte doch Ν. N. aus der theologischen Fakultät in die philosophische; dann hätten wir statt eines ungläubigen Theologen einen gläubigen Philosophen", wäre freilich vor dem 19. Jahrhundert nicht wohl möglich gewesen; aber mutatis mutandis drückt er die Eigenart des kirchlichen Beunruhigungsgefühls aller Zeiten aus. Man sieht — die Beunruhigung ist keineswegs die einfache Folge einer objektiven Erscheinung, sondern es kommen Umstände und subjektive Faktoren in Betracht, die aber auch einer Ordnung und Regel unterliegen, also wissenschaftlich erfaßt werden können. Gekränkte Liebe, enttäuschtes Vertrauen und erschüttertes Autoritätsgefühl spielen zu allen Zeiten eine sehr große Rolle. Der Satz, obgleich ihn schon Tertullian abgelehnt hat, gilt doch: „Fides de personis ponderatur",1) und jenes „Vademekum" des Vincentius, auf das ich oben angespielt habe, enthält bereits ein beschwichtigendes Kapitel in dieser Richtung. Die Tatsache gereicht aber auch der Frömmigkeit nicht zur Unehre; denn die Religion ist kein Bündel von Liturgien, Lehren und Lebensregeln, sondern besteht primär in lebendigen Menschen, die die Religion fortzeugen. Ohne geistliche Väter gibt es überhaupt keine Christen. Also muß auch die Erschütterung ihrer Autorität, wenn sie sie selbst heraufführen, die schwerste Erschütterung bedeuten. "Wer mag sagen, wie viele Erkenntnisse unausgesprochen geblieben sind von solchen, die das Vertrauen derer nicht zerstören wollten, deren geistliche Väter sie waren! Hinter den lauten und kräftigen Zeugnissen der Glaubensführer, der großen und der kleinen, liegt in der Kirchengeschichte *) Frei übersetzt: Der Glaube hat seine Sicherheit an den gläubigen Personen.
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auch ein großes Schweigen, dessen Tiefe und Umfang niemand zu ermessen vermag. Für die Beunruhigung des kirchlichen Glaubens und der Frömmigkeit ist es zunächst wesentlich gleichgültig, ob die Ursache, welche sie erregt, eine Reinigung und Steigerung der Religion gewesen ist oder eine Trübung und Verschlechterung; denn unfehlbar stellt sich die Beunruhigung ein, wo nur immer der herrschende Zustand und Besitz erschüttert erscheint. Die Beunruhigungen, welche die spirituelle Theologie über den alten Chiliasmus, das Mönchtum im Abendland über die damalige kirchliche Frömmigkeit, die Entscheidung des Konzils von Chalcedon über die herrschende Christologie im Morgenland, die Reformation über die bisherige katholische Frömmigkeit heraufgeführt hat, waren viel schlimmer als alle Beunruhigungen, welche durch „Häretiker" verursacht worden sind. Die "Wahrheit erregt zunächst dieselben, ja noch schlimmere Erschütterungen wie die Unwahrheit, und ihr Segen tritt keineswegs von Anfang an in die Erscheinung. Erst im Fortgang der Entwickelungen erwächst aus den Erschütterungen der Segen und das Heil, oder das Unheil. An und für sich sagt also die Beunruhigung nichts über Wert oder Unwert der Ursache aus, die sie erregt hat. Nur der entschlossene Traditionalist ist stets und in jedem Fall über sie im reinen; alle anderen müssen, sofern sie nicht von vornherein Uberzeugte sind, ihnen gegenüber dem Rate des G-amaliel folgen und sei es prüfen, sei es in G-eduld abwarten, was sich entwickeln wird. Ob das Vorzeichen einer kirchlichen Beunruhigung positiv oder negativ ist, darüber läßt sich häufig in der G-egenwart ein sicheres Urteil überhaupt nicht gewinnen. Was nun die G-eschichte der Beunruhigungen betrifft, so springt dem Historiker, wenn er die Jahrhunderte durchmustert, allem zuvor die Konstanz der Erscheinungen und die Regelmäßigkeit in den Stadien des Ablaufs in die
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Augen, und es ist wichtig, sie zu konstatieren und darzustellen. Ich kann hier nicht zeigen, wie wenig zahlreich die Ursachen sind, wie sie sich unter neuen Hüllen stets wiederholen, wie typisch ihr Ablauf ist und wie konstant ihr Ergebnis. Auch die Figuren der großen Beunruhiger sind nicht sehr mannigfaltig. Sie lassen sich vielmehr auf wenige Typen reduzieren. Die Ausgangspunkte der Beunruhigung können zwar in der Lehre oder im öffentlichen Gottesdienst oder in der Fassung des religiösen Lebensideals oder in der kirchlichen Verfassung liegen; aber bei der innern Verbindung dieser vier Hauptgebiete springt der Funke, der auf einem derselben entfacht worden ist, schnell und regelmäßig auf die anderen über. Es gibt keine größeren kirchlichen Beunruhigungen, die nicht sehr bald alle Hauptgebiete in Mitleidenschaft gezogen haben. Die Puritaner waren zugleich Independenten, aber auch Vertreter eines neuen Gottesbegriffs und einer neuen christlichen Lebensordnung, und der Arianismus bedrohte nicht nur die Lehre, sondern auch die Liturgie, das kirchliche Lebensideal und schließlich auch durch sein Staatskirchentum die Verfassung. I n derselben Weise beunruhigt die heutige „Gemeinschaftsbewegung" alle vier Hauptgebiete der Lebenserscheinungen der Religion; aber in bezug auf die moderne Theologie steht es nicht anders. Schärfer als sie selbst empfinden ihre Gegner, daß in ihrem Hintergrunde Umgestaltungen des Gottesdienstes, des religiösen Lebensideals und der kirchlichen Verfassung ruhen. Nachdem man aber die Konstanz und die Regelmäßigkeit in dem Ablauf der Beunruhigungen konstatiert hat, offenbart es sich, daß im großen und ganzen die Erschütterungen an Stärke nicht zu-, sondern abgenommen haben. Das erscheint paradox, aber es ist so. Ein Gang durch die Kirchengeschichte beweist es. Blicken wir auf das erste Jahrhundert. "Welche Beunruhigung in der Kirche könnte je wieder der Beunruhi-
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gung gleichkommen, die Paulus über die älteste Christenheit, d. h. über die Gemeinden Jerusalems und Judäas, gebracht hat! Kaum hatten sie das Ärgernis des Kreuzes des Messias überwunden und ein Verständnis für dasselbe neben dem väterlichen Gesetz erworben, so zerschlägt der Apostel ihnen das Gesetz, verunehrt die Beschneidung, schafft den Kultus und die Feiertage ab, zerstört den Zaun, der Israel von den unreinen Völkern trennte, und entwurzelt den ganzen Baum, unter dessen Schatten sie saßen — im Namen des Jesus Christus, der selbst das Gesetz gehalten und seine Unverbrüchlichkeit behauptet hat! "Wer sich in diese Situation versetzt, der kann nie aufhören, darüber zu staunen, daß diese Beunruhigung überwunden werden konnte! Und blicken wir dann aufs zweite und dritte Jahrhundert. Statt vieler "Worte ein paar kirchengeschichtliche Bilder. In Smyrna ist eine Christenverfolgung ausgebrochen. Nebeneinander stehen zwei Scheiterhaufen. Auf dem einen ringt der Katholik Pionius, auf dem andern der marcionitische Presbyter Metrodorus mit dem Tode; beide besiegeln heldenmütig ihren Glauben. Der katholische Berichterstatter hat auch den Märtyrertod des häretischen Priesters nicht verschweigen wollen, und zwar in einer Darstellung, von der er wußte, daß sie in den Kirchen feierlich und regelmäßig verlesen werden würde! Und das ist auch geschehen! Aber wie? Der marcionitische Irrlehrer, der Mann, der zwei Götter lehrt, der das Alte Testament für ein unchristliches Buch erklärt, der die Schöpfung Gottes verunehrt und die Menschheit Christi leugnet — er ist des Martyriums von Christus gewürdigt worden? Ist nicht am Ende doch der marcionitische Glaube der rechte Glaube? Jener Glaube, der nur die Liebe und Barmherzigkeit Gottes predigt, der dem auserwählten Rüstzeug, dem Apostel Paulus, unbedingt Folge leistet, der Ernst macht damit, alles, was in der Welt ist, für Schaden zu erachten, und der aller Sinnlichkeit den Krieg bis aufs Messer er-
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klärt? Ist nicht der Marcionit ein ganzer Christ und der Katholik nur ein halbschlächtiger? Oder wenn es nicht so ist, warum schweigt man nicht über den Erstgeborenen des Satans ? warum erlauben sich die Priester, das Andenken eines marcionitischen Märtyrers zu bewahren und in den Kirchen an ihn zu erinnern? Das ist frommen Ohren ärgerlich und für fromme G-emüter unerträglich! Oder ein anderes Bild: In Phrygien sind Propheten und Prophetinnen erweckt, die mit einer bisher unerhörten Kraft und Gewißheit das nahe Weltende verkündigen und mit dieser Predigt die erschütterndsten Mahnungen, sich von der Welt völlig loszulösen, verbinden. Wie ein Sturmwind fegen ihre gewaltigen Worte über die Gemeinden des Erdkreises, die sich eben in der Welt einzurichten beginnen. Und noch mehr: diese Worte geben sich als die Stimme des Parakleten, den Jesus verheißen hat, damit er in alle Wahrheit leite und das endlich ausspreche, was die Christen bisher noch nicht zu tragen vermochten. Wunder und Zeichen begleiten die neue Botschaft. Hier gibt es nur ein Entweder — Oder. Entweder diese Propheten sind die Stimme des Parakleten, oder sie sind die Missionare des Teufels. Aber wie sollen sie des Teufels sein, sie, die mit allem Ernst machen, was in der Kirche selbst für gut und recht und heilig gilt? Welch furchtbares Dilemma! Oder noch ein Bild: In Cäsarea in Palästina arbeitet ein christlicher Priester und Gelehrter — nicht ein Gelehrter, sondern d e r Gelehrte des Zeitalters, der größte Theologe der Kirche, Origenes. Offenkundig zerstört er nichts, im Gegenteil, er scheint alles zu konservieren. Da gibt es keine Glaubensvorstellung, keinen Ritus, keine Zeremonie, die er nicht schützt. Er führt die Kämpfe gegen die heidnischen Philosophen, gegen die Häretiker, gegen die Schismatiker. Er verteidigt die beiden Testamente mit siegreicher Kraft und Virtuosität; er tritt für alles ein, was die Kirche lehrt und vorschreibt. Und doch — und doch,
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heimlich beunruhigt und erschüttert er die Kirche so schrecklich, wie niemand vor ihm; denn er rückt den schlichten und gehorsamen Q-lauben in die zweite Stelle, wölbt über ihm aus Vernunft und Spekulation ein neues Gebäude, schlägt eine Brücke zwischen der Philosophie und der Offenbarung und verwandelt jede Heilstatsache in eine Idee. Und inmitten solchen grundstürzenden Tuns zeigt dieser Mann eine exemplarische christliche Frömmigkeit, tiefe Seelenruhe und eine unverwüstliche Sicherheit und Freudigkeit der Stimmung. Er ist gewiß: so muß es gemacht werden, und so allein kann der Glaube im höheren Sinne bestehen! Welche furchtbaren Erschütterungen des kirchlichen Glaubens, der Gemeindeorthodoxie, liegen doch in diesen drei Erscheinungen, und wie gering sind ihnen gegenüber die Beunruhigungen unsrer Tage! Oder man schaue ins vierte Jahrhundert. Um was handelte es sich in den nicäischen Kämpfen? Nun, um ein Problem von beispielloser, ursprünglich ganz hoffnungsloser Verwirrung, und um ein Problem, das den Gemeinden aufzunötigen an sich schon eine unerträgliche Belastung des Gemeindeglaubens bedeutete. Sie glaubten schlecht und recht an Christus als den Gottessohn, als den Erstgeborenen vor aller Kreatur, als den Richter über die Lebendigen und die Toten. Dabei meinten sie, sich beruhigen zu können. Aber das sollte nicht mehr genügen. Nun mußten sie sich entscheiden, ob Christus in jedem Sinn wie der Vater sei oder ob er ein Halbgott und gewordener Gott sei. So gefaßt schien die Entscheidung nicht schwer. Aber wenn sie jenes bejahten, mußten sie auch glauben, daß eins gleich zwei oder drei sei, mußten die deutlichsten Stellen in den heiligen Schriften durch sophistische Exegese vernichten und mußten — so schien es wenigstens — den erschienenen Jesus Christus entweder für ein Doppelwesen halten oder in seiner Menschheit und in seinem menschlichen Tun und
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Leiden nur einen Schein sehen. Folgten sie aber dem Arianismus, so schien es um den Monotheismus geschehen; denn mit unerbittlicher Härte wurde ihnen aufgerückt, daß sie sich, wenn sie Christus als Halbgott annähmen und verehrten, in nichts mehr von den Heiden mit ihren abgestuften Gottheiten unterschieden. Welche Beunruhigungen, welche Erschütterungen! Kindern am Verständnis, die ungestört ihres G-laubens leben wollten, wurden Fragen zur Entscheidung geboten, an denen angeblich die Seligkeit hing, und die doch, wie immer man sich entschied, den Glauben zu zersprengen drohten. Ich darf mit diesen Beispielen nicht fortfahren. Aber um das Mittelalter nicht ganz zu übergehen, möchte ich auf die eine Tatsache den Finger legen, daß während der drei Jahrhunderte vor der Reformation der furchtbare Argwohn in der Kirche gerade bei den Ernsten und Frömmsten umging und sich verstärkte, ob nicht die Kirche, wie sie war und sich verfestigte, Babel und die Hure des Satans sei. In welche Seelenverfassung sich gute katholische Christen gestürzt sahen, wenn dieser Verdacht bei ihnen aufstieg und "Wurzel faßte — wer unter uns vermag sich das auszudenken? Diese innere Seelennot läßt sich nur mit der Bestürzung, der Angst, der völligen Fassungslosigkeit eines Kindes vergleichen, das bisher seine Eltern geehrt und geliebt hat und dem nun der Argwohn aufdämmert, sein Vater sei ein Verbrecher und seine Mutter eine Verworfene. In dem Protestantismus kann überhaupt niemals eine solche Beunruhigung Platz greifen, wie im Katholizismus, weil er in bezug auf die Religion keine lebendige Autorität in der Gegenwart kennt. Er ist daher im großen für immer den Erschütterungen entrückt, die eine Folge der Erschütterung der lebendigen (personalen) Autorität sind. Das aber sind die schlimmsten, und keine Beunruhigung, die aus anderen Ursachen stammt, kommt ihnen gleich. Die stärkste Quelle aller kirchlichen Erschütte-
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rangen ist dadurch von der Reformation verstopft worden, daß sie die menschlichen Personen und die empirische Kirche als Bürgschaften der Wahrheit abgetan hat. Der Katholizismus ist dauernd viel schlimmeren Beunruhigungen ausgesetzt als der Protestantismus, und dennoch müßte man den berufsmäßigen Vertretern dieses etwas von der Kaltblütigkeit, Seelenruhe und Siegeszuversicht wünschen, mit der katholische Apologeten wie Eusebius und Baronius die kirchlichen Erschütterungen in ihren großen Werken behandelt haben. Zwar die „Häresien" selbst schildern sie mit den schwärzesten Farben und scheuen sich vor keiner Ungerechtigkeit; aber ihre Wirkungen behandeln sie mit der größten Geringschätzung: das Wort Gottes und die Kirche gleichen den Felsen, an deren Fuß die Wellen branden; sie vermögen sie weder niederzureißen noch zu verschieben. Der Protestantismus ist gegenüber den Beunruhigungen gerechter, aber auch nervöser geworden und empfindet schon geringfügige Erschütterungen wie ein Erdbeben; erst wenn eine neue Erschütterung kommt, bemerkt er, wie unbedeutend die vorangegangene gewesen, und beschämt muß er öfters bekennen, wie heilsam sie war. Blicken wir auf die Beunruhigungen der Gegenwart und vergleichen sie mit den früheren, so gilt die Beobachtung in vollem Umfange, daß sie schwächer sind, als die waren, welche die Kirche in älteren Zeiten durchlebt hat; denn das Wort, das neulich ausgesprochen worden ist, ist zutreffend, daß heute auch die sogenannte liberale Theologie in der großen Mehrzahl ihrer Vertreter konservativ und „positiv" ist. Absehen muß man natürlich von den materialistischen, positivistischen und den ihnen verwandten Denkweisen, sowie von jenen irrenden Theologen, die um allen alles zu sein, den dreisten Versuch unter uns machen, die Vereinbarkeit einer solchen Weltanschauung mit dem Christentum darzutun. Sie beunruhigen die Kirche so viel und so wenig, wie der Epikureismus, der Fatalismus und
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ähnliche Denkweisen die alte Kirche beunruhigt haben. Läßt man sie aber beiseite, so gewahrt man, daß die Gegensätze, die innerhalb der Kirche zu Beunruhigungen führen, schwächer geworden sind. Streitet man über den Gottesbegriff? sind nicht dualistische Meinungen ganz und pantheistische sehr stark zurückgedrängt? Streitet man über das evangelisch-christliche Lebensideal, oder ist nicht vielmehr in dieser Hinsicht eine sehr große Einmütigkeit der Uberzeugung bei allen Protestanten gewonnen? Ich fürchte umgekehrt, man streitet hier viel zu wenig, und große Gebiete der christlichen Ethik müßten noch von Rechts wegen ein Kampfplatz sein. Streitet man über die beiden Testamente, über das Ansehen des Alten Testaments, über die Inspiration, über die Irrtumslosigkeit der heiligen Schriften? Gewiß, hier streitet man; aber handelt es sich noch um einen Hauptkampf? Wer kann das behaupten! Der Kampf ist geführt, und der Sieg ist gewonnen; es handelt sich nur noch um Nachzugsgefechte eines geschlagenen Feindes. Aber ist das Ansehen der heiligen Schriften und ihre Wertschätzung dadurch geschwächt worden? H a t man nicht vielmehr die Eigenart und Würde des Prophetischen, die kraftvolle Schlichtheit des Evangelischen und die Tiefe der paulinischen Gedanken besser kennen und schätzen gelernt? H a t man f ü r Wunder und Wunderglauben nicht ein zutreffenderes Verständnis gewonnen als im 18., ja als im 19. Jahrhundert? Das kontrastierende Verständnis geschichtlicher Erscheinungen und Größen ist in langer heißer Arbeit durch ein nuancierendes abgelöst worden. Ist damit nicht statt des eintönigen Schwarz und Weiß die ursprüngliche Farbenfülle der wirklichen Tatsachen wiederhergestellt? Streiten wir über die notwendigen und besten Formen der Gottesverehrung? oder über die Verfassung der Kirche und schlechthin nötige Reformen? Ich sehe nichts von solchem Streit, jedenfalls nichts, was eine Beunruhigung heraufführt. Sofern gekämpft wird, sind die
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Streiter bunt in den verschiedenen kirchlichen Lagern verteilt, und haben ihre "Waffen zum Teil vertauscht. Beunruhigungen sind auch hier so wenige vorhanden, daß man, wenn auch nicht einen schweren Kampf, so doch eine viel größere Lebendigkeit und ein viel mutigeres Eingehen auf die Forderung der Zeit wünschen muß. Worüber streiten wir denn zurzeit wirklich noch und empfinden Beunruhigungen? Ich sehe eine Fülle von theologischen Zänkereien, von Schulstreitigkeiten, von aufgebauschten Quisquilien und von ernsten wissenschaftlichen Fragen, die die Gelehrten unter sich ausmachen mögen und müssen. Zu Beunruhigungen brauchen sie nicht zu führen und führen sie auch nur dann, wenn irgendein Kämpe die Schaufel und das Schwert mit der Trompete vertauscht und eine Beunruhigung künstlich in Szene setzt, oder wenn ein Zionswächter seine Schutzbefohlenen dadurch aus dem Schlafe rütteln zu müssen meint, daß er ihnen den Heranmarsch feindlicher Heere vortäuscht. Es gibt zurzeit nur ein großes Problem, das Beunruhigungen erzeugt — alles übrige, mag es auch einmal wieder als erschütternde Frage zurückkehren, wirkt in den Kreisen des kirchlichen Glaubens und der Frömmigkeit gar nicht oder nur schwach — das ist die christologische Frage. I n weiten kirchlichen Kreisen, auch bis in die sogenannten positiven hinein, ist man soweit, die geschichtliche Auffassung unserer Religion über ihre ganze Vorgeschichte vor Christus und über ihre ganze Folgegeschichte nach ihm auszudehnen; aber man schreckt davor zurück, sie auch auf ihn selbst anzuwenden. Auch das wird kommen; aber man versteht die Zurückhaltung und "Weigerung, solange die geschichtliche Betrachtung noch immer die Neigung zeigt, die großen Erscheinungen zu nivellieren und trivial zu machen, solange sie noch nicht Anschauung, Erkenntnis, Verständnis und Ausdrucksmittel genug besitzt, um dem Einzigartigen gerecht zu werden, und solange sie noch durch den Rekurs auf den Ursprung
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der Erscheinungen die Schätzung ihres "Wertes beeinträchtigt. Aber wie vieles haben wir auch hier in den scheinbar unbedeutenden Untersuchungen und aus dem scheinbar ziellosen Kampfe gelernt! Wer Ohren hat zu hören, der hört schon mitten aus dem Kampfgetöse den Ton des zukünftigen Friedensworts heraus, und wer Augeü hat zu sehen, der sieht schon in dem Gemenge flüssiger Elemente den zukünftigen Kristall sich bilden. Vorangehen muß freilich innerhalb der evolutionistischen Geschichtsbetrachtung die Anerkennung der Eigenart der Persönlichkeit und daß es keinen Gattungsbegriff f ü r diese gibt und keine Grenze f ü r ihre Größe und Leistung. Bis dahin — und auch noch andere Bedingungen müssen erfüllt sein — wird freilich die christologische Frage noch schwere Beunruhigungen hervorrufen, und es ist nicht zu verwundern, daß wir heute diese Beunruhigungen, die gegenwärtigen und die kommenden, als besonders eingreifend, umgestaltend und drückend empfinden. E i n e Beunruhigung, nur e i n e — ist das nicht zu optimistisch gesehen und geurteilt? "Wo bleibt der große Kampf „der modernen Weltanschauung" gegen die alte, die veränderte Weltstellung des Menschen in der Natur, das reizsame Empfinden, alle die Modernitäten, in deren Besitz wir uns mit einem nassen und einem leuchtenden Auge selbst bespiegeln, alle die funkelnagelneuen Taler, von denen uns leider nicht nur die Belletristen, sondern auch ernste Männer erzählen, die ganz neue Kreatur, die wir seit gestern geworden sein sollen: „Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!"? Ich muß demgegenüber gestehen, daß ich das alles ganz anders ansehe, empfinde und beurteile. Es mag sein, daß ich mich irre. Ich beurteile das, was wir in den letzten dreißig Jahren an Wandel in der Erkenntnis der höheren Fragen und Dinge erlebt haben, als etwas fast durchweg Peripherisches, was weder den Kern unsres höheren Lebens
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berührt, noch auch das Wesen der Außenwelt, sofern sie für diesen Kern in Betracht kommt, anders erscheinen läßt, und ich finde, daß keine andere Zeit in der Behauptung, Besonderes erlebt und sich völlig transformiert zu haben, so anspruchsvoll und genügsam zugleich gewesen ist wie die unsrige. Ich erlaube mir, um dies zu erhärten, eine Frage. Darf nicht jede der Generationen, die zwischen 1760 und 1790, 1790 und 1820, 1820 und 1850 gelebt hat, mit gutem Recht auftreten und behaupten, daß sie größere und verehrungswürdigere Männer, tiefere Gedanken und stärkere innere Umbildungen erlebt hat als die unsrige, und daß es ein durch nichts zu begründender Anspruch unserer Zeit sei, wir besäßen besonders neue Erkenntnisse und ständen vor lauter neuen Problemen? Die Antwort, nun erst sei zu Saft und Kraft gekommen, was jene geschaffen und begründet haben, und jene hätten die Konsequenzen ihrer Gedanken selbst noch nicht übersehen, ist nicht ausreichend. G-ewiß, in die Breite der Welt hat sich nun erst vieles ergossen, und dadurch sind neue politische und pädagogische Probleme entstanden, die man früher nicht kannte; aber seit wann kümmert den Denkenden die Breite, die ein Gedanke gewonnen hat? Nun eben seit heute, seit dem Zeitalter der Ingenieure, der Kulturpolitiker und der Anempfindler, die an die Stelle der Denkenden getreten sind. Empfinden, erkennen und urteilen wir aber wirklich tiefer und besser und „neuer" als ein Kant oder Wilhelm von Humboldt oder Goethe? Sind wirklich neue und höhere Probleme an die Stelle der Fragen gerückt, die jenen wert waren? Man nenne doch diese Männer und man bezeichne diese Probleme! Ist etwa die „Weltstellung" des Menschen eine andere geworden? Nur ein ganz gedankenloser Mensch kann das behaupten. Die Frage, wie sie schon Plato kannte, wird durch den Wechsel der Weltsysteme — Ptolemäus oder Kopernikus — so wenig berührt wie durch die Deszendenztheorie oder die neuen Spekulationen der Mechanik.
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In den tiefsten Fragen der Religion ist es nicht anders. Die Probleme der Studierstube sind zu Weltproblemen geworden und unter die Massen gekommen — das ist das Neue —, aber sie haben sich nicht verändert oder doch nur in der Kontinuität ihrer Anfänge. Geschichtlichen Sinn haben wir erworben, aber gewiß nicht einen tieferen, als ihn Ranke besessen hat, und wo wir über ihn hinausgekommen sind, müssen wir schwere Irrtümer und grobe Unarten mit in den Kauf nehmen. Respekt vor den Tatsachen der Religion und Verständnis für ihre Erscheinungen haben wir erworben; aber ist der religiöse Zartsinn und der Ernst der Religion seit Kant und Schleiermacher lebendiger geworden, weil man uns den Blumengarten der Religionen und ihre Schrecknisse zeigte? Doch ich habe mein Thema allzulange verlassen, und doch durfte ich die Digression nicht unterdrücken. Ich kehre zum Thema zurück und wünsche, daß eine Geschichte der „Beunruhigungen" des kirchlichen Glaubens und der Frömmigkeit geschrieben werden möge. Was von ihr zu erwarten sei, habe ich in einigen Andeutungen darzulegen versucht. Sie wird den Respekt vor dem Gange der Dinge und die Ehrfurcht vor ihren Erscheinungen stärken. Sie wird unseren Mut und die Zuversicht zu dem, was kommen wird, erhöhen. Sie wird uns endlich von der selbstgefälligen, ungerechten und schädlichen Illusion befreien helfen, als seien unsrer Generation ganz besondere Erkenntnisse geschenkt, aber auch unerhörte Kämpfe und Schmerzen auferlegt. Aber ich darf nicht schließen, ohne einer Beobachtung Ausdruck zu geben, die eine größere Beunruhigung konstatieren muß, als sie zu irgendeiner Zeit bestanden hat. Sie kommt nicht von der „bösen" Theologie, und auch die „gute" ist ganz machtlos ihr gegenüber; sie kommt überhaupt nicht aus dem Gedanken, sondern aus dem Leben, wie es sich im letzten Menschenalter gestaltet hat. Wird
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sich in diesem Drängen und Treiben, in dieser maßlos gesteigerten Tätigkeit, dem Hasten und Kämpfen um Vorwärtskommen und G-ewinn, dem „Realismus" nicht des Denkens, sondern der Technik und Routine und in all dem Wechsel der Bilder, die die Situation, in der wir uns befinden, zeigt, die Religion überhaupt halten können? Schon die gegenwärtige Generation hat es schwer genug, und doch lebt sie zum Teil vom Kapital der vergangenen — wie wird es der nächsten ohne jenes Kapital ergehen? Und wie wird es ihr ergehen, wenn doch der gemeinschaftliche und gemeinschaftstiftende Charakter der Religion immer schwächer wird? Die Frage nach dieser „Beunruhigung" ist andersartig als das, was man sonst unter „Beunruhigung" versteht und verlangt eine besondere Erwägung. Der Hinweis auf sie durfte hier nicht fehlen. Vielleicht unternimmt es ein anderer, sie zu beantworten, und erkennt schon inmitten der Gefahr die Hilfe, inmitten der Wüste den Brunnen.
Soll in Deutschland ein Weltkongreß für freies Christentum gehalten werden? Offener Brief an D. Rade. Berlin, den 11. November 1907. Lieber Freund! Soeben habe ich den „Jahresbericht" (No. 22) gelesen, und es drängt mich, Dir darauf zu schreiben. Die kapitale Schwierigkeit für uns in den großen deutschen Kirchengebieten mit lutherischer Grundlage — von so kleinen Splittern wie Bremen, das außerdem reformiert bestimmt ist, rede ich nicht — in irgendeine bedeutende Aktion für freies Christentum zu treten, l i e g t an dem Zustand und der H a l t u n g unseres Laientums. Wir sind als Lutheraner — von den meisten unierten Kirchen Deutschlands gilt dasselbe — eine reformierte katholische Kirche; dagegen die Reformierten außerhalb Deutschlands sind eine neue Kirche (von ihrem Ursprung her). Nun mögen wir uns in Dogmatik, religiösem Empfinden, intellektueller und politischer Anschauung noch so nahe stehen — in bezug auf die Unterlagen und Mittel für kirchliche Betätigung und Aktionen sind wir toto coelo verschieden. Wir deutsche Lutheraner und Unierte sind eine Pastorenund Theologenkirche, d. h. eine Kirche, in welcher die Laien 1
) Ich habe diesen Brief in die Sammlung aufgenommen, obgleich der Weltkongreß für freies Christentum, auf den er sich bezieht, zwei Jahre später (August 1910) in Berlin gehalten worden ist und einen guten Verlauf genommen hat. Aber ich meine, dafi die in dem Briefe ausgesprochenen Gedanken doch richtig bleiben, mögen sie auch mit einseitiger Schärfe formuliert sein.
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alle Aktion kirchlicher Art schließlich doch nur von den Pastoren und Theologen erwarten und ihre kirchlich-evangelische Freiheit eben darin erkennen, daß sie mit der Kirche nichts zu tun zu haben brauchen. Der der Kirche wohlwollende deutsch-evangelische Laie — nur von den wohlwollenden rede ich — bewährt in der Hochschätzung der Taufe, des Religionsunterrichts seiner Kinder, der Konfirmation, der Trauung, des kirchlichen Begräbnisses und im Besuche von ein bis drei Sonntagsgottesdiensten im Jahr seine Kirchlichkeit. Davon abgesehen, empfindet er sich als freier Christ, der seinen Weg und seine Erbauung selbst suchen muß und sich von der kirchlichen Uberlieferung so viel oder so wenig aneignet, als ihm zusagt. Niemand stört ihn dabei. „Fälle", in denen Geistliche einer freieren Gesinnung wegen drangsaliert werden, bewegen ihn wohl einen Augenblick; aber es geht nie tief. Die Freiheit der Laien wird auch von sehr engen Kirchenregimentern kaum je in den deutschen evangelischen Kirchen angetastet, und so kann sich der Laie, wenn er nicht zufällig Vater oder Schwiegervater oder Freund eines bedrohten Geistlichen ist, durch die Lage der kirchlichen Dinge niemals beunruhigt fühlen. Diesen Zustand in unseren verbesserten „katholischen" Kirchen kann man beklagen; man muß ihn aber allem zuvor in seiner wuchtigen Tatsächlichkeit und in seinen Konsequenzen erkennen. Ich bin übrigens keineswegs geneigt, ihn nur zu beklagen. Nur dieser Zustand hat uns die Lessing, Kant, Hamann, Schiller, Goethe usw. usw. und schließlich auch Herder und Schleiermacher usw. geschaffen! Nur in den d e u t s c h - e v a n g e l i s c h e n Kirchen gibt es f r e i e Christlichkeit (sie ist ganz anders und viel freier als die amerikanische; sie ist wahrhaft frei!), und zwar genießen sie alle Laien ausnahmslos — freilich auf K o s t e n eines gebundenen P a s t o r e n s t a n d e s (auch die „ Theologen" sind bereits so gut wie frei). Mit diesem gebundenen Pastorenstand bezahlt die deutsch-evangelische Christenheit
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ihre Freiheit, und im Hinblick auf diesen Pastorenstand hat sie sich von jeder kirchlichen Verpflichtung emanzipiert oder vielmehr — sie setzt ihr altes Verhalten, wie es zur Zeit des Papsttums und der Bischöfe für sie bestand, einfach fort. Diesen Zustand zu ändern, sind zwei große Anläufe gemacht worden und werden noch gemacht 1. durch den Pietismus, 2. durch den Liberalismus und durch die eingeführte Synodalordnung. Um es nun gleich zu sagen — beide Anläufe haben sich in der Hauptsache bisher als so gut wie unwirksam erwiesen, ja der zweite hat die Lage in verhängnisvoller Weise zum Teil noch verschlechtert. Geschichtliche Grundlagen sind eben ein Granit und lassen sich nur durch eine Revolution sprengen. Die deutsche Reformation war keine Revolution, sondern nur ein Ansatz zu einer solchen, die Kalvinische war es. Der Pietismus, ursprünglich neben und zum Teil wider die Kirche entstanden, ist zuletzt lediglich dazu ausgeschlagen, die alten Zustände zu verstärken. Das verhältnismäßig doch nicht zahlreiche Laienelement, welches er der katholischen Pastorenkirche hinzu- und eingefügt hat, hat die Bedeutung, welche im alten Katholizismus dem Mönchtum in seinem Verhältnis zur Kirche zukommt. Es verstärkt die regierende Gruppe und macht sie populärer — aber nicht in sehr weiten Kreisen. Der Liberalismus versuchte es, den herrschenden Zustand dadurch zu ändern, daß er das konstitutionelle System in die Kirche einführen und den Laien die Kirche durch Geltendmachen der Laienrechte wertvoll machen wollte. Diese Aktion ist schließlich siegreich geworden, aber eben der Sieg zeigte, daß ihr die wichtigste Voraussetzung, nämlich die Umstimmung der Laien zugunsten einer aktiven Teilnahme an der Kirche, fehlte. Der S i e g ist ja nur errungen worden, weil die regierende Gruppe zuletzt einsah, daß die S y n o d a l v e r f a s s u n g ihr z u g u t kam. Der Zustand, der nun entstand, ist schlimmer wie
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zuvor! Es blieb alles beim alten; aber die regierende Gruppe hat ein neues Machtmittel bekommen. Mag dieses auch für sie hier und dort zweischneidig sein und sie die Q-eister als unbequem empfinden, die sie beschworen hat — das freie Christentum hat jedenfalls nicht nur nichts gewonnen, sondern ist in eine schlimmere Lage gekommen. Das Schlimmste aber ist: Früher konnte man darauf h o f f e n , die S i g n a t u r unserer verbesserten katholischen Kirche alsbald zu verändern, sobald man nur den Pastorenstand und die aus ihm hervorg e h e n d e n Konsistorialräte für eine freiere Form der Kirchlichkeit g e w o n n e n hatte; jetzt stehen hinter und neben ihnen die Synoden, die, von ein paar großen Städten abgesehen, notwendig rückständig sein und bleiben müssen, weil in kirchlichen Fragen in Deutschland das mächtige Häuflein kirchlich, d. h. altkirchlich interessierter Laien stets noch in ganz anderer Weise „konservativ" ist als der Pastorenstand. Aber auch von den liberalen städtischen Synoden ist wenig zu erwarten. Erstens geben sie nie den Ausschlag, und zweitens scheinen sie mir hoffnungslos mit einem Liberalismus verknüpft, der als solcher, solange er sich nicht gründlich ändert, wahrhaft christliche Interessen, geschweige kirchliche, weder hat noch haben kann. Diesem Zustande muß man fest ins Gesicht sehen und sich vor allen Illusionen und Verwechslungen hüten! Wir haben keinen L a i e n s t a n d in bezug auf freie Kirchlichkeit. Beispiel: Einer unserer besten Laien hält in einem kirchlichen Kreise in Marburg einen Vortrag; aber als ich ihn fragte, ob er auch sonst an den Verhandlungen dort teilgenommen habe, sah er mich groß an und verneinte die Frage selbstverständlich. Unsre Laien empfinden das Kirchliche entweder als etwas Technisches, was allein die Pastoren und Theologen angeht, oder als etwas letztlich doch nicht ganz Wahrhaftiges, mit dem sie sich nicht einlassen dürfen, oder als beides. Die wenigen Ausnahmen
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fallen wenig ins Gewicht. Selbst beim Evangelisch-sozialen Kongreß mache ich dieselbe Erfahrung, und er ist doch fast ohne jede Kirchlichkeit! Zu ändern ist daran, soviel ich sehe, g a r n i c h t s . Ich habe es 30 Jahre lang versucht und die geschichtliche Macht, die dahinter steht, f ü r besiegbar gehalten. E s g e h t n i c h t . Es ist unser G-lück und Unglück, Segen und Fluch zugleich. Was folgt daraus? Erstlich da wir uns zu den ausländischen reformierten Kirchen ganz disparat verhalten, können wir etwas Gemeinsames mit ihnen nicht machen. Sie kommen, und die Laien stehen hinter ihnen; wir kommen als der berühmte Herrmann oder der berühmte Troeltsch oder als weniger berühmte Einzelne. Sofern wir einen Anhang haben, ist er bunt und disziplinlos zusammengesetzt, schwankend, vielleicht schon morgen wieder verschwunden, in sich in seinen Interessen gespalten. Freiheit die Fülle bringen wir hinzu, aber zugleich vollkommene Ohnmacht in bezug auf das Kirchliche. Aber sehen wir einmal von den internationalen Aktionen ab — was können und sollen wir bei uns tun? I n Deinem „Bericht" wetterleuchtet eine große Aktion, die unternommen werden soll. I n ihrem ersten Stadium — ein Promemoria an die Kirchenregimenter — würde sie, wenn sie nichtöffentlich bliebe und von einem unbestimmten (vom Standpunkt der Behörden also u n b e r u f e n e n ) Kreise ausginge, einfach in den Akten unter Achselzucken verschwinden. Aber wenn sie von den theologischen Fakultäten ausginge oder von ihnen angeeignet würde? Zunächst glaube ich nicht, daß auch nur eine einzige ein einstimmiges Votum zustande brächte; es würde Separatvoten regnen. Käme aber solch ein Votum dort zustande, so müßte es sich auf Agende, Bekenntnis oder Kirchenrecht, wie du selbst sagst, beziehen. Dann müßte, wenn etwas Weiteres erfolgen sollte, die Generalsynode damit beschäftigt werden! Die Generalsynode — wie ist sie heute zusammengesetzt! Zu hoffen ist nichts. Dennoch erkenne ich es auch als eine Pflicht (theoretisch),
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ihr mit Petitionen auf den Leib zu rücken; aber dieses Pflichtgefühl hat für mich seine Grenzen, wenn ich einsehen zu müssen glaube, daß eine solche Petition mehr schadet als nützt. Das Dixi et animam salvavi ist leider nicht immer sittlich erlaubt. Da wir aber eine verbesserte katholische Kirche sind, so fürchte ich, daß auch für uns gilt, daß wir uns nur durch stille Änderungen der Adm i n i s t r a t i o n verbessern können, nicht aber durch Versuche, die G e s e t z g e b u n g zu ändern. Oder denke ich zu pessimistisch? Aber es ist nicht eigentlicher Pessimismus; denn unser deutsch-evangelischer Zustand hat hohe Vorzüge, und es kann leicht sein, daß wir bei einer Änderung mehr verlieren als gewinnen. Ist es denn in j e d e r Hinsicht wünschenswert, daß die Laien „kirchlicher" werden und sich an der „Kirche" mehr beteiligen? Ich wage es, diese Frage zu verneinen. Was wir bedürfen — ich rede von Hauptsachen — ist lediglich ein freierer Spielraum für unsre Geistlichen — et cetera adjicientur vobis! "Wird dieser nur auf dem Wege der Administration gewährt, so bleibt allerdings ein Schein von Unwahrhaftigkeit. Das ist für nicht ganz freie Geister ein schweres Kreuz; aber sie sollen soviel lernen, so sehr im evangelischen Glauben leben und wandeln und so frei sich in der überlieferten Lehre bewegen, daß die Unwahrhaftigkeit wirklich nur zum Schein wird. Sie sollen die dreisten Worte: „Ich mach mein Sach und lach" ins Heroische und Christliche erheben! Und nun noch einmal der geplante Kongreß 1910 in Berlin. Wir könnten ihn nur als großen T h e o l o g e n t a g abhalten — in jedem anderen Sinn paßt er nicht in unsre Verhältnisse, würde sozusagen eine objektive Unwahrheit enthalten und würde Verwirrung und Zorn anrichten. „Kongreß des freien Christentums" — haben wir nicht nötig! Was an dem freien Christentum unsrer deutschevangelischen Christenheit fehlt, das können uns unsre Gäste nicht mitbringen und nicht besorgen. Wir haben
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eben nichts anderes nötig als mehr Freiheit für unsere Pastoren. In der "Wissenschaft haben wir mehr Freiheit als Amerika, und auch unsre Laien können sich freier im kirchlichen Elemente bewegen als irgendwo anders. Aber sie sind so „unkirchlich"! G-ewiß — aber bei uns ist kraft unsrer Geschichte Kirchlichkeit ein Berufsstand und dazu die freie Wahl einzelner Laien. Daran kann keine Macht der Erde etwas ändern, bis einmal ein G-ewitter vom Himmel dreinschlägt. Auch ich male es mir manchmal aus —früher freilich häufiger als jetzt —, wie schön es wäre, wenn Christlichkeit und Kirchlichkeit zusammenfielen und wir aus unserer freien Christlichkeit in Deutschland ein neues Kirchentum bekämen, was getragen wäre von der Kraft und dem Interesse der Laien; aber dann denke ich wieder, daß die Kirchen etwas Äußerliches sind, und daß jede Äußerlichkeit am besten durch einen kleinen Kreis von Berufsarbeitern besorgt wird. Das Geistige, Lebendige, Höhere mag wie bisher bei uns in einer concordia discors wehen und rauschen! Unsre Vettern in England und Amerika verstehen uns nicht bei solcher Haltung, aber haben doch eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung davon, daß wir gerade bei dieser "Weise auch etwas sind. "Wir können nur Gäste bei ihnen sein und sie bei uns. Laden wir sie zu uns ein, so dürfen wir unser Haus so wenig für sie wandeln, wie sie das ihrige wandelten, als sie uns einluden. „Kongreß für freies Christentum" — das paßt uns nicht, das sind wir nicht, weil wir mehr und weniger haben, das können wir zurzeit nicht werden. Laden wir die freien Theologen zu Theologen ein, wenn's denn sein muß. Ich bin freilich gegen jede Einladung. Sie mögen zu unseren Tagungen der Freunde der „Christlichen Welt" kommen und sehen, wie wir's da machen, oder zum Protestantenverein. Herzlich Dein A. Harnack.
DAS NEUE KIRCHLICHE SPRUCHKOLLEGIUM NEBST ZWEI NACHWORTEN
Erschienen in den „Preußischen Jahrbüchern", Band 138, Heft 3, 1909. Dort findet sich auch das erste Nachwort, das zweite ist der „Christlichen Welt", 6. April 1911, entnommen.
I. Nach dem kanonischen Recht sind Verbrechen gegen Gott Abfall vom christlichen Glauben, I r r l e h r e , S c h i s m a , Blasphemie, Meineid und Eidbruch. Diese Bestimmung ist in den evangelischen Kirchen längst veraltet, aber in bezug auf die Beurteilung und Behandlung der I r r l e h r e ist doch bisher niemals gründlich aufgeräumt worden. Die evangelische Kirche verlangt von ihren berufsmäßigen Dienern, daß sie bekenntnisgemäß wirken; aber sie gibt ihnen nicht nur das Recht, sondern sie erwartet von ihnen, daß sie das Bekenntnis als i h r Bekenntnis, den Glauben als ihren persönlichen Glauben verkündigen und daß sie sich demgemäß mit "Wahrhaftigkeit und Freiheit in dem Bekenntnisse bewegen. Sie sollen nach Maßgabe dessen, was ihnen innerer Besitz geworden ist, Diener am "Worte Gottes sein. Andere Diener will die evangelische Kirche nach ihren obersten Grundsätzen nicht und kann sie nicht brauchen. Ihre Geistlichen sind nicht Priester, Liturgen und Mysten, wie die katholischen, die sozusagen nur im Nebenamt auch Zeugen der christlichen "Wahrheit sein sollen, sondern sie sind Evangelisten und Seelsorger, die das "Wort Gottes aus ihrer Überzeugung heraus verkündigen und anwenden. Unter dieser Voraussetzung ist die Frage der „Irrlehre" in kirchenrechtlicher Hinsicht eine zarte Frage; denn die Kirche selbst appelliert an die Freiheit, die Subjektivität und die persönliche Erfahrung ihrer Geistlichen. Diese
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K r ä f t e bedarf sie, und sie r u f t sie auf. Daß sie damit Mächte begehrt und entbindet, deren Spielraum nicht durch den Buchstaben eines G-esetzes umzogen werden kann, leuchtet unmittelbar ein. "Weder kann sie von jeder persönlichen Erfahrung verlangen, daß sie den ganzen Inhalt und die ganze Tiefe möglicher christlicher Erfahrung ausgeschöpft hat, noch vermag sie überall die Reife zu fordern, die erst der Ertrag eines langen und ernsten Lebens ist, noch kann sie an jeden ihrer Diener die Zumutung stellen, daß er die inneren Kämpfe jener Heroen durchgemacht hat, deren Ergebnis nicht wenige der Hauptlehren des Bekenntnisses sind. Dazu kommt noch ein anderes. Sämtliche Bekenntnisse der evangelischen Kirchen gehören Zeiten an, deren wissenschaftliche und geschichtliche Erkenntnisse teils höchst lückenhafte, teils ganz unrichtige waren. I n diese mangelhaften und — in bezug auf die wichtigsten Probleme — ganz unrichtigen, also nur vermeintlichen Erkenntnisse, in dieses veraltete und verkehrte "Welt- und Geschichtsbild sind aber die Glaubenslehren hineingestellt worden und formell untrennbar mit ihnen verknüpft. Das gilt ebenso von den reformatorischen wie von den altkirchlichen Symbolen. Es gilt aber auch von der Heiligen Schrift selbst, in der sogar in noch viel stärkerer "Weise Unvergängliches im Rahmen einer unhaltbaren Weltanschauung steht. Der Einsicht, daß dem so ist, kann sich kein Verständiger mehr verschließen, also auch nicht die evangelischen Kirchen und ihre berufenen Leiter, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen. Sie müssen also anerkennen, daß der evangelische Geistliche den "Wortlaut der Bekenntnisse wie der Heiligen Schrift in zahlreichen Fällen gar nicht vertreten k a n n , ja sie müssen sogar von ihm verlangen, daß er das auch nicht tut, vielmehr imstande ist, den Kern von der Schale zu trennen und so die Einwürfe zu widerlegen, denen der Buchstabe heute mit Recht ausgesetzt ist. Die Situation ist also, mutatis mutandis, eine ganz ähnliche wie die war, in welcher
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der Apostel Paulus stand, als er die künftigen Missionare und die Gemeinden unterwies. Er mußte sie einerseits lehren, daß das Alte Testament G-ottes Wort sei, aber er mußte ihnen anderseits zeigen, daß sie trotzdem an Beschneidung, Gesetz und Opfer nicht mehr gebunden seien, ja, daß sie sündigten, wenn sie um des Wortlauts des Alten Testaments willen das Gesetz noch gültig sein ließen. Die evangelische Kirche kann also nicht nur den Geistlichen Freiheit und das Recht der Kritik an Schrift und Bekenntnis (an sich und in ihrem gegenseitigen Verhältnis) geben, sondern sie muß sie von ihnen verlangen, verlangt sie auch bereits schon tatsächlich und kann und will ihnen dabei doch nicht in gesetzlicher Weise vorschreiben, wo sie Halt machen müssen und wie weit sie zu gehen haben. Voraussichtlich aber würde eine evangelische Kirchenbehörde den Geistlichen gegebenenfalls darauf aufmerksam machen, daß er das Ansehen der evangelischen Lehre gefährde, wenn er die Meinung, die Hölle liege unter der Erdoberfläche, oder die andere, die Mutter des Herrn sei stets Jungfrau geblieben, als notwendigen Glaubensartikel einschärfen würde, und doch steht jenes in der Heiligen Schrift, und dieses hat man aus der im Konkordienbuch abgedruckten Übersetzung der schmalkaldischen Artikel immer noch nicht ausgemerzt! Erwägt man diese teils aus der Natur der evangelischen Kirchen, teils aus der gegenwärtigen Situation sich mit zwingender Notwendigkeit ergebenden Grundsätze, so ist es eine aus Formalismus geborene Verkehrung des protestantischen Prinzips, wenn noch jüngst ein Professor des Kirchenrechts, und zwar ein evangelischer, schreiben konnte:1) „Wer den öffentlich rechtlichen Dienstvertrag als Geistlicher abschließt, weiß von vornherein, daß von ihm persön') H u b rieh (Prof. der Rechte an der Universität Greifswald), das Verfahren gegen Geistliche bei Lehrirrungen, 1909.
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liehe Glaubensfestigkeit nach der Lehre der Kirche für die Dauer des Amts verlangt wird, daß er nur die reine Kirchenlehre vertreten darf und daß die bestehende Gesetzgebung über ihn auch höhere Organe gesetzt hat, welche die Übereinstimmung seiner Lehre mit der Kirchenlehre, selbst mit dem Effekt der Amtsentfernung für ihn, nachzuprüfen berechtigt sind", und „Es erscheint vom Rechtsstandpunkte aus im Grunde als eine nicht gerechtfertigte Sentimentalität, wenn man bei einem Geistlichen, der den disziplinellen Tatbestand der Irrlehre schafft, das Vorliegen subjektiver, zurechenbarer Schuld in Abrede zu stellen versucht. "Will man denn auch etwa einen Richter, der im Falle eines Mordes als persönlicher Gegner der Todesstrafe auf Tod zu erkennen sich weigert, für frei von disziplineller Schuld erklären?" Abgesehen von der vollendeten Geschmacklosigkeit des gewählten Vergleichs, als wolle der Verfasser so nebenbei auch an Scheiterhaufen erinnern — wie kann ein Kirchenrechtslehrer die Natur der evangelischen Kirchen und circumstantias, d. h. die heutige Lage dieser Kirchen, in diesem Maße verkennen! Umgekehrt darf vielmehr, so wie die Dinge heute liegen, die Frage wohl aufgeworfen werden, ob ein Geistlicher überhaupt wegen Irrlehre abgesetzt werden soll, d. h. ob der Schade, den die Kirche durch die Absetzung erleidet, nicht größer ist, als wenn sie den Geistlichen gewähren läßt, solange er selbst mit gutem Gewissen dieser Kirche anzugehören sich bewußt ist. Ist die "Wahrhaftigkeit und das Vertrauen zu der "Wahrhaftigkeit der evangelischen Geistlichen ein besonders hohes und der Kirche schlechthin nötiges Gut, so kann in der Tat dieses Vertrauen durch Maßregelungen von Geistlichen um Irrlehre willen schweren Schaden leiden und hat tatsächlich öfters bereits Schaden erlitten. Deshalb hat sich „der Verband der Freunde evangelischer Freiheit in Rheinland und "Westfalen" grundsätzlich gegen jede Entsetzung evangelischer Geistlicher wegen Irrlehre erklärt, und andere Stimmen
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haben sich ihm zugesellt. Allein so anerkennenswert das Motiv hier ist — die Begründung durch das Preußische Landrecht ist freilich ganz hinfällig —, so bedenklich, ja undurchführbar ist der Grundsatz, und es ist verwunderlich, daß der „Verband" dies nicht selbst erkannt hat. Von allem Detail bekenntnismäßiger evangelischer Lehre abgesehen — daß die evangelische Kirche ihren r e l i g i ö s e n , ihren a n t i - e n t h u s i a s t i s c h e n und ihren a k a t h o l i s c h e n Standpunkt schützt, könnte doch nur dann überflüssig erscheinen, wenn eine Gefährdung niemals zu erwarten wäre. Aber wer kann so naiv sein, eine solche Gefahr auszuschließen? Wie lange würde es, wenn schrankenlose Freiheit auf den evangelischen Kanzeln gewährt würde, dauern, bis wir vollkommen atheistische Predigten hören würden, und haben wir sie nicht schon gehört? Und wie lange würde es dauern, bis die Gemeinden von Zungenrednern und Spiritisten belästigt und gründlich verwirrt würden. Und wie lange würde es dauern, bis sich die katholische Kirche die Situation zunutze machen und einen Teil unserer Kanzeln erobern würde? Aber auch das Bekenntnis zu Jesus Christus bedarf in den evangelischen Kirchen des Schutzes. Diese Kirchen können allerlei „Christologie" vertragen, sie können auch noch lebendig bleiben, wenn ein Geistlicher nach seiner Erkenntnis und Erfahrung die Schätze des Evangeliums aus der Verkündigung Jesu vom Vater, vom Reiche Gottes und von der Vergebung zieht; aber sie können nicht mehr existieren, wenn das Bekenntnis „Jesus Christus der Herr", sei es durch Leugnung der Existenz Jesu, sei es durch Bekämpfung des Zeugnisses von ihm als dem Anfänger und Vollender des Glaubens gestürzt wird. Selbst die Rücksicht auf den möglichen Verlust an Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit ihrer Diener seitens der Gemeinde darf die evangelische Kirche nicht abhalten, ihr Fundament zu schützen; denn die Unterlassung wäre gleichbedeutend mit ihrer sicher eintretenden
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Selbstauflösung.1) Hieraus folgt nicht, daß nicht trotz der Aufrechterhaltung des Prinzips vieles Bedenkliche in einzelnen Fällen ertragen werden kann und muß, wenn das Wirken des Geistlichen sonst ein segensreiches und förderliches ist. Aber das steht auf einem anderen Blatt. II. Die Forderung lautet also, sowohl den evangelischen Glauben, als auch die evangelische Freiheit der Gemeinden und der Geistlichen zu schützen. Liegt es da nicht am nächsten, auf die Abfassung eines neuen, in necessariis bestimmten und doch freien Bekenntnisses zu sinnen und zu dringen, welches Ausdruck der Glaubensüberzeugung der Gegenwart ist und alles Veraltete aufgibt? Daß die evangelischen Kirchen ein Recht haben, ihr Bekenntnis neu zu formulieren, kann innerhalb dieser Kirchen nicht bestritten werden. Wer es prinzipiell bestreitet, führt die evangelischen Kirchen auf die Stufe der Traditionskirchen zurück. Auch die Generalsynode, welche soeben getagt hat, hat, wenn die Zeitungen richtig berichtet haben, das prinzipielle Recht auf neue Bekenntnisbildung anerkannt. Aber erstlich muß man sich sehr hüten, von solch einem neuen Bekenntnis zuviel zu erwarten. Als „Gesetz" — wenn auch manche bedeutende Schwierigkeiten fortfallen würden — Ich muß darauf verzichten, hier auf die B r e m e r Kirchenverhältnisse einzugehen; denn ich kenne sie nicht hinreichend. Aber offenbar ist, daß die Verhältnisse einer „Landeskirche", die fast ausschließlich nur e i n e große Stadt umfaßt, für eine wirkliche Landeskirche schlechterdings nicht maßgebend sein können. Wenn jeder in der Stadt einen Geistlichen und eine Kirche finden kann, die seinem Bedürfnisse entspricht, wie das in Bremen der Fall zu sein scheint, so mag es gestattet sein, der „Landeskirche" so weite Grenzen zu stecken, wie das in Bremen geschieht, bzw. am herrschenden Zustande möglichst wenig zu ändern. Eine solche „Landeskirche" trägt dann freilich nicht mehr die evangelische Kirche, sondern diese wird von den anderen Landeskirchen getragen und jene wird von ihnen ertragen.
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könnte es doch nicht angewendet werden, ohne die Freiheit aufs neue zu gefährden; ja, es könnte sich leicht eine drückendere Gesetzlichkeit für viele Jahrzehnte einstellen als vorher. Sodann aber bedarf es nicht vieler Worte, um zu erweisen, daß zurzeit die Aufstellung eines neuen Bekenntnisses, ja wahrscheinlich schon die Bemühungen um ein solches zu den schwersten Kämpfen und sogar zur Sprengung der Landeskirche führen würden. Die in der Landeskirche vorhandenen Gegensätze und Spannungen vertragen zurzeit „offizielle" prinzipielle Auseinandersetzungen nicht. Die Hoffnung ist aber nicht aufzugeben, daß sie sich allmählich mildern werden, wie sich manches schon gemildert hat. Ebendiese Hoffnung gibt das Recht, die Frage einer neuen Bekenntnisbildung aufzuschieben, die sonst pflichtgemäß aufgeworfen werden müßte. Endlich aber: ein neues evangelisches Bekenntnis kommt sicher nicht so zustande — wenn es einmal zustande kommen wird —, daß eine, sei es auch autorisierte,Versammlung beschließt: „Wirwollen ein neues Bekenntnis machen". Nur aus Feuer und Geist kann es geboren werden, aus zwingenden Notwendigkeiten und aus der Seele eines Mannes, der bekennt, was er bekennen muß, und dem die andern folgen müssen. Also ist der Weg einer neuen Bekenntnisbildung auch deshalb nicht betretbar, weil man ihn nicht einfach anordnen oder beschließen kann. ΠΙ. Aber bedarf es überhaupt einer Änderung des jetzigen Zustandes? Wer beklagt sich denn, und wie ist bisher verfahren worden? Waren bisher Absetzungen von Geistlichen in Preußen wegen „Irrlehre" zahlreich, oder ist umgekehrt Klage erhoben worden, daß gegen „Irrlehrer" nicht eingeschritten wird? Solche Klagen sind allerdings laut geworden, aber der Oberkirchenrat hat gezögert, auf sie einzugehen, oder sie abgewiesen. Absetzungen sind nicht erfolgt, und daß sie nicht erfolgt sind, hat zwar hier und
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dort Schmerz und Entrüstung erregt, aber zu beachtenswerten Krisen nicht geführt. Also lasse man doch die Dinge gehen, wie sie bisher gegangen sind! Das scheint ganz leidlich, aber es wäre doch nicht richtig — und zwar aus mehr als einem Grunde. Der Oberkirchenrat will die Verantwortung in der Weise, wie er sie bisher als oberste Instanz getragen hat, nicht weiter tragen, sie auch die Konsistorien nicht weiter tragen lassen. Und gewiß hat er, trotz seiner Verstärkung durch den Generalsynodalvorstand, ein Recht darauf, auf eine Änderung anzutragen, sobald er überzeugt ist, daß der zu fällende Spruch einer stärkeren Autorität bedarf, als die seinige ist. Zwar gilt auch hier die sittliche Regel, daß niemand sich der ihm zukommenden Verantwortung entziehen soll; aber es gilt auch die andere Regel, daß jeder Verantwortlichkeit die entsprechende Autorität zugrunde liegen muß. Macht der Oberkirchenrat die Erfahrung — und wir müssen annehmen, daß er sie gemacht hat —, daß in der Frage der Behandlung der „Irrlehre" seine Autorität zur Beruhigung der Kirche nicht ganz ausreicht und diese Autorität demgemäß Schaden leidet, so ist er verpflichtet, sich zu verstärken. Sodann aber weist das bisherige Verfahren einen prinzipiellen schweren Mangel auf. Es behandelt die Frage der „Irrlehre" als ein Disziplinarvergehen und wirft sie mit Vergehungen zusammen, die, wenn sie konstatiert sind, den Beklagten zu schwerer Unehre gereichen. Nach dem, was oben angeführt ist, widerspricht das der Natur der evangelischen Kirche und den evangelischen Auffassungen von der Natur und den Pflichten des Pfarramts. Denn da dieses auf Bekenntnis u n d F r e i h e i t zugleich gestellt ist, kann und darf, sofern ein Geistlicher das Bekenntnis oder die Ordnungen der Kirche nicht herabwürdigt, der Mißbrauch der Freiheit nur als ein materialer Irrtum behandelt werden, nicht aber ein formales Vergehen darstellen. Materialer Irrtum in gutem Glauben darf aber nicht bestraft werden,
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wenn doch die Kirche selbst eine f r e i e Betätigung verlangt, sondern kann nur a u s g e s c h i e d e n werden. Hiernach ist das Verfahren zu ändern. IY. Die preußische Generalsynode hat im November dieses Jahres einmütig ein Kirchengesetz angenommen, welches bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen von jeder disziplinaren Behandlung absieht und sich auf ein Feststellungsverfahren beschränkt. D e r T a g w i r d in der K i r c h e n g e s c h i c h t e u n v e r g e s s e n b l e i b e n , wie sich auch die Anwendung des Gesetzes gestalten mag; d e n n er b e z e i c h n e t e i n e n e m i n e n t e n F o r t s c h r i t t . Es ist meines Erachtens noch niemals in der Kirchengeschichte vorgekommen, daß eine größere Kirchengemeinschaft „Irrlehre" anders als disziplinar behandelt, d. h. als ein Vergehen beurteilt hat. Nun hat die preußische Landeskirche mit diesem Verfahren gebrochen. Im Feststellungsverfahren kann natürlich auch auf Dienstentlassung erkannt werden, wenn der Einspruch gegen die Lehre eines Geistlichen als begründet erachtet wird; aber der eigentümliche Charakter des Verfahrens gegenüber dem disziplinaren tritt u. a. darin hervor, daß der Betreffende sein Gehalt nach Maßgabe des Pensionsgesetzes und den Titel Pfarrer behält, wenn ihm auch die Rechte des geistlichen Standes im Bereiche der Landeskirche aberkannt werden. Folgerecht mußte auch ein neues forum publicum für das Verfahren bei Beanstandung der Lehre geschaffen werden, nicht ein Gerichtshof, sondern ein Spruchkollegium. Die Grundzüge des 35 Paragraphen umfassenden Gesetzes sind folgende: Es wird ein Spruchkollegium von 13 Mitgliedern niedergesetzt (alle 6 Jahre finden Neuwahlen zu demselben statt). Der Oberkirchenrat deputiert vier Mitglieder in das Kollegium (den Präsidenten, den weltlichen Stellvertreter desselben, den geistlichen Vizepräsidenten und das dienstälteste
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geistliche Mitglied), die Generalsynode drei und die Provinzialsynode der Provinz, in welcher der beanstandete Geistliche steht, den Generalsuperintendenten und ebenfalls drei Mitglieder. Dazu kommen zwei vom Könige zu ernennende ordentliche Professoren der Theologie. Dieses Spruchkollegium ist nur, wenn es vollzählig ist, beschlußfähig (daher ist die Wahl einer genügenden Anzahl von Stellvertretern angeordnet). Der Oberkirchenrat beruft es ein, wenn er sich überzeugt hat, daß dem von einem Konsistorium an ihn gebrachten Einspruch gegen die Lehre eines Geistlichen Folge zu geben ist, und übergibt dem Spruchkollegium die Angelegenheit. Dieses beauftragt sodann ein Mitglied zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Bereits hier wird der Geistliche vorgeladen und gehört. Zur mündlichen Verhandlung vor dem Spruchkollegium kann er einen oder zwei Beistände hinzuziehen; diese Beistände können landeskirchliche Geistliche und Lehrer der evangelischen Theologie oder evangelische Lehrer des Kirchenrechts an einer deutschen Universität sein. Das Spruchkollegium hat „nach seiner freien, aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen und Beweise geschöpften Uberzeugung in einem Spruche festzustellen oder für nicht festgestellt zu erklären, daß eine weitere "Wirksamkeit des Geistlichen innerhalb der Landeskirche mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnisse der Kirche einnimmt, unvereinbar sei" (so § 11; § 1 heißt es: „mit der f ü r die L e h r v e r k ü n d i g u n g a l l e i n m a ß g e b e n d e n Bed e u t u n g des in der H e i l i g e n S c h r i f t v e r f a ß t e n u n d in den B e k e n n t n i s s e n b e z e u g t e n "Wortes Gottes"). 1 ) *) Sehr wichtig ist auch, daß der § 1 des Gesetzes nicht jeden Widerspruch gegen das Bekenntnis für erheblich erklärt, sondern den Nachweis fordert, daß der Geistliche „mit dem Bekenntnis der Kirche d e r g e s t a l t in Widerspruch getreten ist, daß seine fernere Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche mit der . . . allein maßgebenden Bedeutung . . . des Wortes Gottes unvereinbar ist".
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Der Spruch ist mit Gründen zu versehen und in dieser Gestalt auszufertigen. Er ist definitiv und läßt keine Appellation zu. Z u r F e s t s t e l l u n g im n e g a t i v e n S i n n ist aber eine M e h r h e i t von m i n d e s t e n s zwei D r i t t e l n der M i t g l i e d e r des K o l l e g i u m s nötig. Erfolgt der Spruch in diesem Sinne, so scheidet der Geistliche aus dem Amte aus und verliert damit die Rechte des geistlichen Standes; aber er behält sein Gehalt in dem Betrage, wie es ihm im Falle einer zu diesem Zeitpunkte stattfindenden Versetzung in den Ruhestand als gesetzliches Ruhegehalt zustehen würde. Diese Bestimmung findet aber auch dann Anwendung, wenn der Geistliche zur Vermeidung oder Erledigung eines Feststellungsverfahrens auf die Rechte des geistlichen Standes verzichtet und die Kirchenbehörde den Verzicht angenommen hat. Die Wiederbeilegung der infolge einer Feststellung verloren gegangenen oder aufgegebenen Rechte des geistlichen Standes bleibt dem Oberkirchenrat vorbehalten. V. Dies sind die Grundzüge des G-esetzes. Es bedeutet, wie man sieht, keine Änderung des materiellen inneren Kirchenrechts und keine Aufstellung eines neuen Maßstabes. Auch die treffende Formulierung in § 1 (s. oben), an der ein evangelisches Herz seine Freude haben muß, ist nicht so gemeint, wenn sie auch sehr wichtig werden kann und es einen Fortschritt bedeutet, daß sie in diesem Gesetz zu lesen steht. Auf der Generalsynode hat man sich aus Gründen, die wir bereits angedeutet, gehütet, die Bekenntnisfrage aufzurollen; aber wenn von verschiedenen „Auffassungen" und ihrer Zulässigkeit in der evangelischen Kirche die Rede war, so vermißte man die runde und deutliche Aussage, daß es sich nicht nur um verschiedene Auffassungen handelt, sondern daß ein Teil der geschichtlichen Tatsachen, auf denen das alte Bekenntnis ruht, als
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geschichtliche nicht mehr anerkannt werden können. Das ist dem Bekenntnis gegenüber der eigentliche Ernst der Lage, vor welchem die Landeskirche die Augen nicht verschließen darf. Sie hat ihn auch diesmal außer acht gelassen; das neue Gesetz geht auf ihn nicht ein. Aber wenn es geboten war, hier noch Umgang zu nehmen, so hätte man doch gewünscht, es hätte sich in der Synode eine Stimme erhoben, die die wirkliche Lage der Dinge freimütig und mit aller Offenheit dargestellt hätte, um die schwere, aber nicht hoffnungslose Aufgabe, die der Landeskirche noch wartet, einzuschärfen. Um sie zu lösen oder ihrer Lösung näherzukommen, dafür ist die Aufstellung eines neuen Bekenntnisses nicht der einzige Weg! Doch lassen wir beiseite, was das Gesetz nicht enthält und nicht enthalten will: es bezeichnet in seinen Grenzen einen wirklichen Fortschritt; denn es ist — die Notwendigkeit eines Verfahrens zugestanden — prinzipiell richtig gedacht.1) Das schließt nicht aus, daß es bedeutende Die Aufgabe, die dem Spruchkollegium gestellt ist, wäre unevangelisch , wenn sie verlangte, es solle über den Glaubensstandpunkt eines Geistlichen ein Urteil gefällt werden. Das vermag niemand. Es handelt sich vielmehr darum, ob eine weitere Wirksamkeit des Geistlichen i n n e r h a l b der L a n d e s k i r c h e mit der Stellung vereinbar sei, die er in seiner Lehre zu dem Worte Gottes (in der angegebenen Präzisierung) einnimmt. Das ist zwar keine einfache, aber immerhin eine unzweifelhafte Tatsachenfrage. Es ist auf Grund dieser Frage sehr wohl denkbar, daß das Kollegium ein negatives Urteil fällt, obwohl es die Glaubenskraft des Betreffenden und den heiligen Eifer seines Wirkens voll anerkennt und dies auch zum Ausdruck bringt. Einen heiligen Franziskus kann die evangelische L a n d e s k i r c h e zurzeit nicht wohl ertragen, aber auch nicht einen Mann wie den Stifter der Quäker. Daß eine evangelische Kirche denkbar ist, die beide erträgt, soll nicht bestritten werden. Und auch das soll nicht verschwiegen werden, daß die Einrichtung des Spruchkollegiums „einen Rest, zu tragen peinlich" enthält. Aber man zeige einen anderen Weg, wie die Kirche und der Einzelne besser geschützt werden kann!
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Wünsche übrig läßt. Es ist nicht gelungen, der Gemeinde, in welcher der Geistliche amtiert, dessen Lehre beanstandet wird, eine gesetzlich festgelegte Beteiligung bei dem Verfahren einzuräumen. Die Schwierigkeiten liegen ja auf der Hand, da die Gemeinde in solchen Fällen entweder Partei oder in Parteien zerklüftet sein wird. Aber daß das Gesetz gar keinen Raum für die Gemeinde läßt, um sich an entscheidender Stelle im Verfahren zu Gehör zu bringen — zumal wenn der Gemeindekirchenrat einmütig zu seinem Geistlichen steht —, ist doch ein stärkeres Übergreifen des Kirchenbegriffs über den Gemeindebegriff, als es in der evangelischen Kirche zulässig scheint. Was in § 21 des Gesetzes zur Abhilfe geboten ist, ist dürftig. Gewiß kann der Gemeinde das definitive Urteil nicht überlassen werden, aber eine Form der Mitwirkung u n t e r g e w i s s e n Bed i n g u n g e n hätte sich doch wohl finden lassen. War auch dies nicht möglich, so hätte man das Einspruchsrecht auf die Gemeinde und auf den Superintendenten beschränken, alle übrigen aber ausschließen sollen. Da nichts geschehen ist, wird es doppelte Pflicht des Spruchkollegiums sein, die Stellung des Geistlichen in seiner Gemeinde in jedem Falle aufs sorgfältigste zu prüfen und ein günstiges Ergebnis der Prüfung bei dem Spruche aufs stärkste zu berücksichtigen. Was die Zusammensetzung des Kollegiums betrifft, so läßt sich ferner fragen, ob es nicht angezeigt gewesen wäre, dem beanstandeten Geistlichen das Recht zuzuweisen, einen von ihm gewählten Lehrer der Theologie oder Kirchenrechtslehrer dem Spruchkollegium beizugesellen; man könnte zu ihm das Vertrauen haben, daß er nicht als „Verteidiger", sondern lediglich als Vertrauensmann des Beanstandeten nach bestem Wissen und Gewissen urteilen würde. Das neue Verfahren hat ja in vollem Gegensatz zu dem disziplinaren etwas von der Natur eines Schiedsgerichts. Das würde in jenem Rechte zu deutlichem Ausdruck kommen und das Ansehen des Kollegiums nur erhöhen. Jetzt sind
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nur die beiden, vom Könige zu ernennenden Mitglieder nicht Repräsentanten der „offiziellen" Kirche. Das ist wenig. Aber auch sie sollen dem Könige von dem Oberkirchenrat im Verein mit dem G-eneralsynodal-Vorstand vorgeschlagen werden. "Warum hat man nicht wenigstens hier diese bereits stark vertretenen Q-rößen ausgeschaltet und es dem Könige selbst überlassen, sich Vorschläge machen zu lassen? Endlich wenn es auch verständlich ist, daß der Oberkirchenrat seinen Präsidenten und geistlichen Vizepräsidenten — den ersteren als Vorsitzenden (war das nötig? kann sich das Kollegium seinen Vorsitzenden nicht selbst wählen?) — in das Spruchkollegium deputiert, warum müssen die beiden anderen Mitglieder, die er entsendet, notwendig secundum ordinem bestimmt sein? Die bureaukratische Rangordnung müßte hier doch gegenüber der Erwägung zurücktreten, die geeignetsten Männer dem Kollegium zuzuordnen. Daß aber der weltliche Stellvertreter des Präsidenten und das dienstälteste geistliche Mitglied stets die geeignetsten sein müssen, oder daß alle Mitglieder des Oberkirchenrats gleich geeignet seien, wird keiner behaupten können. Daß das Kollegium definitiv urteilt, eine zweite Instanz also ausgeschlossen ist, halte ich sowohl um der Zusammensetzung des Kollegiums willen als auch aus prinzipiellen Gründen für richtig, da das Verfahren kein gerichtliches ist und da ein negativer Spruch nur mit einer Majorität von zwei Dritteln gefällt werden darf. Diese Bestimmung ist eine der wichtigsten; denn sie schützt die Rechte des beanstandeten Geistlichen so sehr, wie sie im Rahmen eines Feststellungsverfahrens unter den gegebenen Voraussetzungen nur immer geschützt werden können. Ein böser Punkt bleibt noch bestehen in bezug auf das Verfahren in solchen Fällen, in denen die Lehre des Geistlichen zwar zur Beanstandung keinen direkten Anlaß gibt, er aber gegen die „Ordnungen" der Kirche (ζ. B. durch
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Nichtverlesung des sog. Apostolikums oder durch Abhaltung von Zungenredner-Versammlungen usw.) verstößt. Nach § 19 bleiben die Vorschriften über die Dienstvergehen der Kirchenbeamten anwendbar — und dies mit Recht —, wenn ein G-eistlicher das Bekenntnis oder die Ordnungen der Kirche h e r a b w ü r d i g t . Da die Nichtverlesung oder die Abhaltung jener Versammlungen keine Herabwürdigung ist, so scheint das Feststellungsverfahren hier am Platze zu sein, welches aber dadurch, daß eine Beanstandung der Lehre des betreffenden G-eistlichen nicht vorzuliegen braucht, zur Ermittlung der Motive für seine Unterlassung bzw. für sein enthusiastisches Treiben führen muß. Eine peinliche, leicht zu Inquisitionen führende Situation! Und doch muß es durchaus vermieden werden, daß nicht Fälle, denen unzweifelhaft eine Lehrfrage zugrunde liegt, unter irgendeinem Teil wieder disziplinarisch behandelt werden. Der beanstandete Geistliche schwebt hier also zwischen Szylla und Charybdis! Das Gesetz enthält nichts über diesen Punkt. Auf die Unterscheidung endlich des amtlichen und des außeramtlichen Wirkens des Geistlichen läßt sich das vorliegende Gesetz nicht ein. So gewiß der Geistliche selbst sich auf diese Unterscheidung möglichst wenig berufen sollte, so gewiß hat die Behörde die Pflicht, von ihr nicht abzusehen. Eine Grenze, die gesetzlich festgelegt werden kann, läßt sich meines Erachtens nicht ziehen; wohl aber hätte man in dem Gesetz Gelegenheit nehmen sollen, es auszusprechen, daß das Spruchkollegium auf die Unterscheidung, wo die Sachlage sie nahelegt, gebührend Rücksicht zu nehmen habe. VI. Die Generalsynode hat die Vorlage e i n s t i m m i g angenommen. Das ist angesichts eines so schwerwiegenden G-esetzes ein seltener Vorgang, der hohe Anerkennung verdient und das Ansehen der Synode unzweifelhaft gesteigert hat. Aber der Kirchenpolitiker fragt sich unwillkürlich:
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„Einmütig? einmütig trotz der bekannten bestehenden Gegensätze — wer ist da übervorteilt oder düpiert worden?" Ich habe Stimmen aus beiden Lagern gehört, die sich beklagen. Hören wir solche aus den Reihen der Linken — aus den Reihen der äußersten Linken, keineswegs urteilen alle so —; sie argumentieren etwa wie folgt: „Durch das Gesetz hat sich die Lage nicht verbessert, sondern nur verschlimmert; denn zwischen einem Disziplinarverfahren und diesem Feststellungsverfahren besteht in Wahrheit nur ein Scheinunterschied. Der Unterschied läuft auf die Belassung des Gehaltes hinaus; aber ebendieses wird von der Majorität nur gewährt, um, befreit von der mitleidigen Rücksicht auf die finanzielle Lage des Beanstandeten, ihn um so sicherer und leichter aus dem Amte werfen zu können; die Lehrprozesse werden sich jetzt mehren, ja sie werden nun erst in Schwung kommen, und dazu wird auch die Zusammensetzung des Spruchkollegiums viel beitragen; früher scheute sich der Oberkirchenrat vor Lehrprozessen, weil er sich der öffentlichen Meinung gegenüber nicht stark genug fühlte; jetzt verteilt sich die Verantwortung auf viele, da wird der Oberkirchenrat nun mit seiner wahren Meinung herauszurücken nicht mehr zögern; er wird strenger urteilen, und zugleich wird der Spruch selbst durch die Größe und Zusammensetzung des Kollegiums ein gewichtigerer werden; der Geistliche, der von solch einem Kollegium als ungeeignet befunden wird, wird also in der Öffentlichkeit mehr leiden als vorher; das Ganze ist die Aufrichtung eines förmlichen Lehrtribunals der Rechten, die sich für die Groschen, die sie den Abgesetzten läßt, das Recht erkauft, ihre inquisitorischen Grundsätze nunmehr ungehindert in der Landeskirche zur Geltung zu bringen." Hierauf ist folgendes zu erwidern: Die Vorlage ist nicht von der Rechten, sondern von dem Oberkirchenrat selbst eingebracht. Daß er die Situation durch sie verschärfen wollte, ist eine Unterstellung, die jeder Wahr-
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scheinlichkeit ermangelt und bei dem pflichtmäßigen und notorischen Interesse dieser Behörde für die E i n h e i t der Landeskirche ganz unglaublich ist. Daß er aber so kurzsichtig gewesen ist, die notwendig folgende Verschärfung nicht zu sehen, müßte erst erwiesen werden. Ferner, den Unterschied zwischen einem Disziplinarverfahren und dem hier festgestellten zu verkennen, ist eine schwere, ja mutwillige Täuschung; denn es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß sich auch in der Öffentlichkeit, wenn auch nicht sofort, die Erkenntnis einstellen wird, daß die Amtsentlassung auf Grund des Feststellungsverfahrens in keinem Sinne etwas Ehrenrühriges hat. Daß dem Entlassenen das Grehalt (die Pension) gelassen wird, ist eine alte Forderung der Liberalen; es ist daher sehr auffallend, daß sie jetzt auf einmal als bedenklich, ja als ein abgefeimtes Mittel betrachtet werden soll. Auch fällt die Belassung des Pfarrertitels zugunsten des neuen Verfahrens gegenüber dem alten schwer ins Gewicht; es ist ungerecht, das zu verkennen. Was ferner die Zusammensetzung des Spruchkollegiums betrifft, so gehörte es auch zu den alten Forderungen der Liberalen, daß dem Oberkirchenrat nicht allein die Entscheidung zustehen solle; ist die neue Zusammensetzung auch nicht ganz nach Wunsch ausgefallen, so zeigt sie doch mindestens keine Verschlechterung, und die Berufung von zwei Professoren der Theologie ist doch nicht für gering zu erachten. Endlich was die Verschärfung des Spruchs anlangt, weil die Behörde gewichtiger geworden ist, so darf man sich darüber am wenigsten beklagen; man muß vielmehr wünschen, daß die Autorität eine möglichst große sei; denn sie kommt ebenso den Fällen zugut, in denen ein positiver Spruch gefällt wird. Daß aber der Spruch nicht vorschnell negativ gefällt werde, dafür bürgt die geforderte Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen. Die Mitglieder des Oberkirchenrats, die im Spruchkollegium sitzen, sind bereits in der Lage, einen negativen Spruch
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abzuwehren, wenn von den übrigen neun auch nur ein Mitglied ihnen beitritt. Es ist aber schon bemerkt worden, daß die Voraussetzung, der Oberkirchenrat, d. h. seine von ihm entsendeten Mitglieder, werde nun „strenger" werden, der Unterlage entbehrt. Möglich, wie gemunkelt wird, ist, daß zunächst ein paar „Fälle", die angeblich zurückgehalten worden sind, weil man die Errichtung des Spruchkollegiums erwartete, leider zur Verhandlung kommen werden. Ob sie zu einem negativen Ergebnis führen werden, muß man abwarten. Ich kann somit diese Bedenken, die aus den Reihen der äußersten Linken geltend gemacht werden, als einzelne nicht für gerechtfertigt halten; die hinter ihnen ruhende Uberzeugung verlangt, es solle in der evangelischen Landeskirche überhaupt kein Geistlicher seiner Lehre wegen beanstandet werden. Aus ihr sind die Bedenken und der Argwohn zu erklären. Als Wunsch wird jeder evangelische Christ und Freund der Landeskirche diese Uberzeugung teilen; aber von jedem Schutze der Landeskirche abzusehen, ist unmöglich. Übrig bleiben freilich die Bedenken, die ihren Anlaß an der mangelnden Berücksichtigung der Gem e i n d e nehmen (s. oben), und übrig bleibt die Tatsache, daß infolge des Wahlsystems die Provinzialsynoden und die Generalsynode ein leider unvollkommener Ausdruck des Willens der Kirche sind und daher das volle Vertrauen nicht genießen können. Aber die Frage, ob es nicht nötig sei, den Wahlmodus zu ändern und den Minoritäten eine bessere Vertretung zu schaffen, konnte bei diesem Gesetz nicht erledigt werden. Sie ist aber eine brennende Frage und darf nicht ruhen, bis sie gelöst ist. Die Bedenken aus Kreisen der Rechten reduzieren sich, wenn ich recht sehe, auf zwei: daß das Feststellungsverfahren gegenüber dem bisherigen disziplinaren den Ernst und die Schwere der Sache bedrohe, und daß Gefahr vorhanden sei, daß das Spruchkollegium, welches inappellabel entscheidet, zu einer Art von Papst werde und allmählich
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eine selbstwillige und daher unerwünschte Präzisierung bzw. Lockerung des Bekenntnisstandes herbeiführen müsse. Was das erste Bedenken betrifft, so ist oben in der Einleitung bereits auf dasselbe geantwortet worden: gerade das Feststellungsverfahren entspricht allein dem G-eiste der evangelischen Kirche. Daß es aber ein geringeres Gewicht habe als das Disziplinarverfahren, kann nur der behaupten, der in der Gehalts- und Ehrentziehung den eigentlichen Ernst der Sache sieht, während der wahre Ernst nur dann zum Ausdruck kommt, wenn alle Folgen abgewehrt werden, die mit der Sache nichts zu tun haben. Wunderlich ist das zweite Bedenken, sofern es vom „Papste" spricht. Irgendeine letzte Instanz muß stets bestehen, wo geurteilt wird, und es ist dabei gleichgültig, wie viele Stufen ihr vorhergehen. Wird also das Spruchkollegium zum „Papste" werden, so war es der Oberkirchenrat bisher schon. Nicht einmal die Verschiebung ist so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Denn durch die Forderung der ZweidrittelMehrheit ist das „Papsttum" des Oberkirchenrats, wie oben gezeigt, im Falle des positiven Urteils fast unverändert geblieben; nur im Falle des negativen Urteils wird seine Autorität durch die übrigen Mitglieder des Kollegiums bedeutend verstärkt.1) Eine etwas realere Unterlage hat die Befürchtung, daß durch das Spruchkollegium allmählich eine heimliche Präzisierung bzw. Lockerung des Bekenntnisstandes herbeigeführt werde. Es fragt sich nur, was man unter „Lockerung" versteht und ob eine solche „Locke*) Es gibt auf der Rechten wie auf der Linken Kreise, die unter dem Titel: „Freiheit der Kirche" vor allem die Autorität des Oberkirchenrats gemindert sehen wollen und dieses Gesetz auch deshalb verwünschen, weil es diesen ihren Bestrebungen nicht entgegenkommt. Wer aber die Einheit und den Frieden der Landeskirche wünscht, wird die eigenen idealen Kirchenbaupläne zurückstellen und sich freuen, daß das neue Gesetz, welches die Kompetenz des Oberkirchenrats beschränkt, seine Autorität keineswegs vermindert.
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rung" zu befürchten sei. Das Spruchkollegium urteilt von Fall zu Fall; es urteilt „nach seiner freien Überzeugung"; es urteilt „aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen"; es soll nach dem Geist und nicht nach dem Buchstaben das Rechte finden und "Wert und Eigenart des Geistlichen, ferner die Gemeinde und die besondere seelsorgerische Aufgabe des Geistlichen in dieser Gemeinde mit in Rechnung ziehen. Da werden die „Fälle" stets recht verschieden liegen und sich so leicht nicht ex analogia entscheiden lassen. Ferner ist, von den Stellvertretern abgesehen, ein veränderliches Moment, die Zusammensetzung des Spruchkollegiums betreffend, in den vier wechselnden Provinzialmitgliedern gegeben. Dennoch wird man annehmen dürfen, daß sich allmählich gewisse Grundsätze herausgestalten werden. Aber für ein Unglück ist das nicht zu halten. Solange uns ein Bekenntnis fehlt, welches neben den alten den evangelischen Glauben der Gegenwart deutlicher zum Ausdruck bringt, kann es eine Förderung bedeuten, wenn die herrschende Unsicherheit in der Auslegung des Bekenntnisstandes von einer bedeutungsvollen Stelle aus eine, sei es auch indirekte und an sich keineswegs maßgebende, ja sei es auch unerfreuliche und beklagenswerte Klärung erfährt. Indirekt und keineswegs maßgebend, weil das Spruchkollegium lediglich darüber zu befinden hat, ob die "Wirksamkeit des Geistlichen Ν". N. innerhalb der Landeskirche mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnisse der Kirche einnimmt, unvereinbar ist. Zu generellen Urteilen ist das Spruchkollegium nicht befugt. Der Beitrag, den es also zur Präzisierung des Bekenntnisses vielleicht bringen wird, wird ein bescheidener sein. Wie er ausfallen wird, muß man abwarten. Jedenfalls ist der "Weg, auf den hier die Entwicklung geleitet wird, ein loyaler Weg, und man muß v e r t r a u e n , daß das, was r i c h t i g g e d a c h t u n d mit G e r e c h t i g k e i t erwogen ist, schließlich auch heilsame F r ü c h t e t r a g e n wird.
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So hat unzweifelhaft auch die G-eneralsynode geurteilt, als sie das Gesetz einmütig annahm. Es geschah nach langen Beratungen, nach einem ausgezeichneten Referate D. Hackenbergs und unter der geistigen Leitung D. Kahls, der ein solches Gesetz seit Jahren bei sich erwogen, den Anstoß zu der Vorlage gegeben und sich um die Annahme auf der G-eneralsynode die größten Verdienste erworben hat. Indem die Rechte, die Evangelische Vereinigung, aber auch die auf der Synode spärlich vertretene Linke das Gesetz gutgeheißen haben, haben sie bekundet, daß sie die grundsätzlichen Bedenken nicht teilen, die von rechts und links erhoben worden sind. Daß aber jede Partei im stillen gemeint hat, sie werde bei dem Gesetze besser fahren, war, soviel ich zu sehen vermag, nicht die Stimmung, in der das Gesetz angenommen worden ist, im Gegenteil — ernste Bedenken blieben bei allen Parteien übrig. Aber man hatte sich allerseits überzeugt, daß der vorgezeichnete Weg richtig sei, und so betrat man ihn entschlossen in der Hoffnung, er müsse und werde zum guten Ende führen. In diesem gemeinsamen Entschlüsse liegt etwas Großes! Man hat wirklich das Interesse des Ganzen über das Parteiinteresse gestellt; und man hat sich von der Zuversicht zu einem richtigen Gedanken leiten lassen, ohne noch die Gewähr zu haben, daß dieser Gedanke sich sofort als heilsam im Sinne der eigenen Partei bewähren werde. In der Tat — man kann nicht sagen, wie das Gesetz zunächst wirken und welche Früchte es zunächst bringen wird. Es ist möglich, daß es Sieger und Besiegte geben wird und daß die Partei, welche das meiste für das Zustandekommen des Gesetzes getan hat, am Anfang die Kosten tragen wird. Es ist möglich, daß es anders kommt. Aber muß es Sieger und Besiegte geben? Notwendig ist das durchaus nicht. "Wenn von Fall zu Fall von beiden Seiten alles gewürdigt wird, was in einem Verfahren „bei
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Beanstandung der Lehre von Geistlichen" in Betracht gezogen werden muß, so können sich eben bei diesem Verfahren die G-egensätze näher kommen, wie sie sich schon durch die einmütige Annahme dieses G-esetzes genähert haben. Sie können sich näher kommen, weil sie in dem Spruchkollegium nicht nur über Lehren, sondern letztlich als Brüder über Brüder zu urteilen haben, und weil sie sich den ganzen Reichtum des Wortes Gottes und die Unfähigkeit des Einzelnen, ihn zu erschöpfen, aber auch die Forderungen der Gegenwart und das veraltete Kleid der Bekenntnisse vor Augen halten müssen. Die in dem § 1 des Gesetzes stehenden Worte: „Für die Lehrverkündigung ist allein das in den heiligen Schriften verfaßte und in den Bekenntnissen bezeugte Wort Gottes maßgebend", lauten in dieser Hinsicht wie eine Weissagung auf die Zukunft, auf jene bessere Zukunft der Landeskirche, in welcher die durch historische und theologische Erkenntnisse und Auffassungen unterschiedenen christlichen Brüder doch friedlich und ohne Argwohn zusammen arbeiten werden auf dem Grunde des Wortes Gottes. Konnten einst Judenund Heidenchristen zusammen arbeiten, solche, welche das Gesetz beobachteten, und solche, die es nicht beobachteten — ein Jakobus der Gerechte neben Paulus —, so muß es doch möglich sein, daß sich „Positive" und „Liberale" auch heute über dem gemeinsamen Besitz die Hand reichen. „Chiistiani hominis est, non de dogmatis magnifica loqui, sed cum deo ardua semper et magna facere." Möge dieser Spruch auch eine Richtlinie des Spruchkollegiums bei Beurteilung der Wirksamkeit evangelischer Geistlicher werden! Diesem herzlichen Wunsch sei aber ein anderer übergeordnet: Mögen sich die Verhältnisse innerhalb der preußischen Landeskirche so gestalten, daß der Oberkirchenrat niemals in die Lage kommt, das Spruchkollegium einzuberufen!
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Nachwort I. Im „Tag" (23. November) hat Professor Sohm in Leipzig unter dem Titel „Der Lehrgerichtshof" das neue Kirchengesetz einer Kritik unterzogen. Er findet, man sei mit diesem Gesetz auf dem besten Wege zum Katholizismus; „die beabsichtigte Milderung des Lehrzwangs führt in ihrem Ergebnis zu einer Steigerung der Lehrgewalt der Kirche, wie sie bisher noch niemals dagewesen ist." Das G-esetz ist daher durchaus zu verwerfen. Die Kritik Sohms ruht auf Voraussetzungen in bezug auf das "Wesen des Evangeliums, des Bekenntnisses, der Gemeinde, der Kirche und des Rechts, die er uns wiederholt und ausführlich dargelegt hat und die hier nicht erörtert werden können.1) Sie umschließen gesunde evangelische Grundgedanken, aber unterschätzen meines Erachtens das Wesen des Gemeinschaftlichen, welches zur Religion gehört, und sind gegen einen pneumatischen Independentismus nicht genügend geschützt. Jedoch — in diesem Artikel hat Sohm Grenzen für den Independentismus gefunden; aber indem er sie zieht, gerät er mit sich selbst in Widerspruch. Wer die Ausführungen bis kurz vor dem Schlüsse verfolgt, muß annehmen, Sohm sei ein grundsätzlicher Gegner jedes Einschreitens gegen Geistliche in Lehrfragen. Dies ist aber nicht seine Meinung. Er erklärt vielmehr: „Das protestantische Kirchenregiment soll und kann keine Macht über die Kirchenlehre haben. Die Lehre des Geistlichen geht nicht die Kirchenbehörde an, sondern nur seine Gemeinde. Diese kann den Schutz des Bekenntnisses anrufen, sofern der Geistliche ihr nicht die Lehre bringt, welche sie zu erwarten berechtigt war. Darin erschöpft *) Ich habe sie ausführlich erörtert in meiner Schrift: „Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten" (1910) S. 121—186.
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sich heute tatsächlich die rechtliche Geltung des Bekenntnisses. Für die Gemeinde kann die Ungeeignetheit des Geistlichen rechtlich festgestellt' werden, nicht für die Kirche. Ist aber die rechtlich verfaßte Gemeinde mit ihrem Geistlichen zufrieden, so gibt es keinerlei Rechtstitel, kraft dessen das Kirchenregiment einzuschreiten befugt wäre." Verstehe ich Sohm richtig — und ich weiß nicht, wie man ihn anders verstehen kann —, so läßt er sich das neue Spruchkollegium oder irgend etwas Ahnliches, jedenfalls die E n t f e r n u n g des Geistlichen aus dem Amte v o n R e c h t s w e g e n (wobei doch irgendwie eine Kirchenbehörde beteiligt sein muß) gefallen, ja fordert sie, wenn die Gemeinde Einspruch gegen seine Lehre erhebt. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen seiner Ansicht und dem Gesetze besteht also gar nicht. Sohm erkennt die rechtliche Geltung des Bekenntnisses sowie Möglichkeit und Recht tatsächlicher Feststellungen in bezug auf die Lehre an. Der Unterschied besteht nur darin, daß das Gesetz die Landeskirche, Sohm aber die Gemeinde ins Auge faßt, indem er die Landeskirche lediglich als ein Aggregat selbständiger Gemeinden beurteilt. Welcher Standpunkt meines Erachtens der richtige ist, habe ich in meinem Aufsatze gezeigt. Sohm ist vollkommen im Rechte, wenn er die Berücksichtigung der Gemeinde in dem Gesetze vermißt. Konnte die Gemeinde an dem Spruchkollegium nicht selbst beteiligt werden, so mußte man wenigstens die Einspruchskompetenz so regeln, daß sie zu ihrem Rechte kommt. Aber es ist schlechterdings nicht abzusehen, wenn Feststellungen hier kein Nonsens und nicht unevangelisch sind — und das sind sie nach Sohm nicht —, warum was der Gemeinde gebührt, nicht auch der Landeskirche billig ist. Meines Erachtens hätte Sohm alles das, was er in der größeren ersten Hälfte seines Artikels über Lehrzwang, Macht über das Evangelium, richterliches Urteil empört niedergeschrieben hat,
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streichen und nur bedingt gegen das Gesetz auftreten müssen, wenn er sich doch im Fortgang seiner Niederschrift davon überzeugt hat, daß „die Ungeeignetheit eines Geistlichen für eine Gemeinde aus Gründen der Lehre" — sogar „rechtlich" — festgestellt werden kann und muß. Umgekehrt, wer denkt daran, daß das Spruchkollegium ein Gottesurteil oder das Urteil der vera ecclesia sei? Sein Urteil ist ein genau so „weltliches", jedem Irrtum ausgesetztes Urteil, wie der Oberkirchenrat, die Generalsynode, das Spruchkollegium und — die Gemeindevertretung „weltliche" Behörden sind. Sie entscheiden nicht darüber, ob der betreffende Geistliche ein evangelischer Christ ist, sondern ob seine Lehre im Rahmen der Landeskirche erträglich ist. Kann man aber einwenden, jede evangelische Gemeinschaft müsse eine Lehre als evangelisch dulden, deren Vertreter sie den evangelischen Christenstand nicht abzusprechen vermag, so verlangt dieser Einwurf gewiß Berücksichtigung; aber ihn So hm gegenüber zu widerlegen, liegt kein Anlaß vor, denn er hebt ihn durch die Konzession, die er der „Gemeinde" macht, selbst auf. Gemeinde oder Landeskirche — das allein steht nach den Sohmschen Ausführungen zur Frage, und hier bedarf es nur eines Blicks auf die tatsächlichen Verhältnisse, um zu erkennen, daß der Standpunkt Sohms nicht haltbar ist. Er ist nicht haltbar, vor allem, weil tatsächlich Gemeinde und Gemeinde heutzutage etwas ganz Verschiedenes ist; ein bedeutender Teil sind große, völlig zufällige Gebilde, unselbständige Größen, Evangelisationsgemeinden ohne religiöse Erfahrung und ohne kirchliche Uberlieferung, zusammengewehte Sandhaufen, die gar nicht wären, wenn die Landeskirche sie nicht geschaffen hätte. Sie in dem Sinne Sohms zu betrachten und ohne geistige und brüderliche Unterstützung (in Form einer festen Verbindung) zu lassen, wäre eine Fiktion und eine verhängnisvolle Unterlassung zugleich. Ferner, es müßte einfach zur Sprengung der
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Landeskirche führen, wenn die Gemeinde selbst, ohne Appellation, auf Entfernung ihres Geistlichen vom Amte zu erkennen das Recht hätte. Bedarf das einer näheren Ausführung? Ist sie aber gehalten, eine andere Instanz anzurufen, so ist die verpönte Landeskirche wieder da, und es wird ungefähr so, wie das neue Gesetz es will. Endlich, soll denn der Geistliche gegenüber der Gemeinde gar keine Rechte haben, „wenn er ihr nicht die Lehre bringt, welche sie zu erwarten berechtigt war"? Wie nun, wenn er ihr eine gut evangelische Lehre bringt, sie aber gerade diese nicht hören will? Sohm sagt uns nichts darüber, was dann zu geschehen hat. Ist nicht die Landeskirche, d. h. die organische Vereinigung der Gemeinden, in dieser wie in anderen wichtigen Beziehungen etwas Wertvolles? Ich kann es verstehen, daß dieser Eindruck gegenüber manchem harten Druck, den sie ausübt, vielen evangelischen Christen schwindet; aber es ist auffallend, daß ein Kirchenrechtslehrer ihn nicht festhält. Wenn dieser, wie Sohm, ein Feststellungsverfahren unter Umständen für notwendig hält, so müßte er sich doch freuen, daß dieses Verfahren nicht der Zufälligkeit der Zusammensetzung einer Gemeinde, sondern einem sorgfältig ausgewählten Kollegium anvertraut wird. Aber, wendet Sohm ein, geht man über den Rahmen der Gemeinde hinaus, so meldet sich das Kirchenregiment an, das Kirchenregiment mit seinem „Kirchenrecht", überhaupt mit seinem „Recht", das es in der Kirche Christi nicht geben darf! Aber ist das etwas anderes als ein Streit um Namen? Ist das, wozu die Gemeinde nach Sohm befugt sein soll, nicht auch „Kirchenregiment" und „Kirchenrecht"? Sohms Kritik am neuen Gesetze ist widerspruchsvoll und hebt sich selbst auf. Aber es läßt sich doch sehr Ernstes aus ihr lernen. Erstlich — ausdrücklich sei es noch einmal gesagt — er legt mit Recht den Finger darauf, daß die Gemeinde zu wenig berücksichtigt ist. Hätte
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5. Das neue kirchliche Spruchkollegium (1909/1911)
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man ihr (d. h. dem Gemeindekirchenrat) einerseits und dem Superintendenten andrerseits allein die Einspruchskompetenz zugesprochen, so wäre den Interessen der Gemeinde und der Landeskirche Q-enüge geschehen. Sodann aber gibt es zu denken, daß ein Mann von der Gesinnung Sohms das Q-esetz ablehnt. Nicht seine Gründe fallen schwer ins Gewicht, sondern seine Stimmung als freier evangelischer Christ und seine Befürchtungen. Er befürchtet Lehrprozesse in wachsender Zahl, Beschränkung der evangelischen Freiheit, Lehrzwang und die Aufrichtung eines katholischen Lehrtribunals. Ich teile diese Befürchtungen nicht, d. h. ich sehe nicht, daß das neue Gesetz an dem bisherigen Zustande der Dinge — und man darf doch nur diesen, nicht aber einen idealen voraussetzen — in u n g ü n s t i g e m Sinne etwas ändert. Ich bin vielmehr der Meinung, daß das Gesetz einen Fortschritt bedeutet. Dennoch aber empfinde ich es mit Sohm als ein schweres Kreuz für die evangelische Landeskirche, daß sie sich mit Lehrfeststellungen in bezug auf ihre Geistlichen überhaupt befassen muß. Indem das Gesetz dieses Kreuz uns zu Gemüte führt, erweckt es in uns Niedergeschlagenheit und Trauer. Es wird Sache des Spruchkollegiums sein, seine Aufgabe in wahrhaft evangelischem Geiste zu erfüllen, durch die Begründung und Form des Urteils diesen Geist zum Ausdruck zu bringen und dadurch zu zeigen, daß das Gesetz ein Fortschritt ist.
Nachwort II. "Wenn im deutschen Protestantismus die Parole der Freiheit ausgegeben wird, haben die einen schweren Stand, die auf die Notwendigkeit bestehender Ordnungen verweisen. 1. In der jetzt umlaufenden „Erklärung gegen das Spruchkollegium" (Sohm und Gen.) heißt es: „Ein Ge-
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IV. Kampf um das „Freie Christentum"
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richtshof soll die Lehre des Evangeliums regeln." Das ist ein Irrtum: Ein Spruchkollegium soll entscheiden, ob der Pastor Ν. N. mit seiner Verkündigung noch in den Rahmen der preußischen evangelischen Landeskirche gehört, wie ja auch seine Anstellung auf G-rund erfüllter landeskirchlicher Bedingungen (in bezug auf den Charakter seiner Verkündigung) erfolgt war. 2. Die Existenz der Landeskirche ist unbestreitbar, und unbestritten ist, daß sie noch nicht grundsätzlich eine preußische Nationalkirche ist, die alles umfaßt, was nicht katholisch oder jüdisch ist, — auch nicht ein Haufe independentistischer Gemeinden verschiedensten Charakters. 3. Solange sie das nicht ist, vielmehr ein Bekenntnis hat, muß sie imstande sein, dieses zu schützen, sonst ist sie eine hilflose Gemeinschaft. 4. Das Bekenntnis ist kein präsentes schriftliches Rechtsdokument, sondern ein an der Heiligen Schrift, den Bekenntnissen der Reformation und der christlichen Erkenntnis der Folgezeit gebildetes, landeskirchliches lebendiges Zeugnis — also ein Zeugnis evangelischer Gesinnung. 5. Dieses Zeugnis gegebenenfalls zu erheben und als Maßstab zu benutzen — zu messen ist das Werk eines Mannes in seiner Totalität, nicht seine Theologie —, ist eine Aufgabe, die gewiß nur sehr unvollkommen gelöst werden kann, die aber gelöst werden muß, da die Landeskirche sonst entweder dem katholischen dogmatischen Rechtsformalismus verfallen oder sich selbst aufgeben muß. Quartana non datur! 6. Dem Kirchenregiment allein die Feststellung des Zeugnisses bzw. Maßstabs zu überlassen, ist unevangelisch; also muß ein kirchlicher Ausschuß gewählt werden, der die landeskirchliche Ökumenizität, soweit und so gut das möglich ist, zum Ausdruck bringt, und der ferner dem provinzialkirchlichen Interesse des einzelnen Falls gerecht wird, sowie der Gemeinde, um die es sich handelt.
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5. Das neue kirchliche Spruchkollegium (1909/1911)
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7. Das Spruchkollegium ist ein solcher Ausschuß. Es ist in seiner Konstruktion verbesserungsfähig, vor allem weil es auf die Gemeinde zu wenig Rücksicht nimmt — Klagen, die nicht aus der Gemeindevertretung kommen, sollten aufs äußerste erschwert und in praxi so gut wie ausgeschlossen sein —, aber es ist prinzipiell richtig gedacht. 8. Eine Bewegung, die sich gegen die Zusammensetzung des Spruchkollegiums richtet oder gegen gewisse Modalitäten des Verfahrens, ist verständlich und berechtigt; der Protest gegen den Grundgedanken des Spruchkollegiums aber geht von einer falschen Voraussetzung aus und ist schädlich. Er verweigert dem Charakter der Landeskirche, deren Spruch er andrerseits viel zu hoch einschätzt, jeden Schutz. — In dem "Wunsche nach einer freien und weiten Landes^ kirche stimme ich mit den Unterzeichnern der Erklärung aus vollem Herzen überein; aber weil eine völlig ungeschützte oder zerfallende wertlos ist, darum ist der Protest gegen das Spruchkollegium ein Fehler. Die Freiheit schützen, aber die Existenz gefährden, das ist keine gute Politik.
Gegenüber diesen Erwägungen gibt es, soviel ich sehe, nur zwei Einwendungen: 1. Der evangelische Charakter der Landeskirche sei so stark, daß er einzelne fremde Elemente ruhig ertragen und jede Exklusive entbehren könne, 2. Die Landeskirche umfasse in bezug auf den Glaubensausdruck so verschiedenartige Standpunkte, daß ein einheitlicher Spruch unmöglich sei, also stets die Unterdrückung einer Minorität stattfinden müsse. Auf die erste Einwendung ist zu erwidern, daß sie in der Regel wirklich zu Recht besteht und daher nur in besonderen Fällen eine Exklusive notwendig sein wird, daß sich aber solche besondere Fälle außerhalb Preußens schon
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IV. Kampf um das „Freie Christentum"
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ereignet haben. Was aber die zweite Einwendung betrifft, so darf man nicht mit Prophezeiungen vorgreifen. Natürlich vermag kein Spruch es allen recht zu machen und an jeden werden sich bittre Kritiken heften. Aber darauf allein kommt es an, ob der Spruch dem prinzipiellen und einheitlichen evangelischen Charakter der Landeskirche, ihrer G-ebundenheit im Evangelium und ihrer Freiheit, entspricht. Daß es einen solchen gibt, dürfen die am wenigsten leugnen, die ihn für so stark halten, daß er jeden Schutzes nach ihrer Meinung entraten kann. "Wenn aber umgekehrt unsre Landeskirche katholisch oder enthusiastisch oder eine Allerweltskirche werden soll, so kann freilich kein Spruchkollegium diese Entwicklung verbieten, wohl aber vermag es sie aufzuhalten, und weil es das vermag, ist es berechtigt und notwendig. Ausdrücklich aber verwahre ich mich dagegen, durch diese Bemerkungen Stellung zum Falle Jatho genommen zu haben. Ob er überhaupt vor das Spruchkollegium gehört und wie er zu entscheiden ist, davon sehe ich vollständig ab. "Weil er aber Anlaß gegeben hat, das Spruchkollegium als solches zu bekämpfen, habe ich es für meine Pflicht gehalten, das Spruchkollegium als landeskirchliche Einrichtung zu verteidigen.1) *) Der Ausgang des Falls Jatho, der leider vor das Spruchkollegium gebracht worden ist, hat mich in meiner prinzipiellen Überzeugung von der Notwendigkeit der neuen Institution nicht erschüttert, wohl aber hat er meine dargelegten Bedenken in bezug auf die Konstruktion des Spruchkollegiums und die Ausscheidung der Gemeinde bedeutend verstärkt und neue Bedenken hinzugefügt.
V. Religion und Frömmigkeit
Die Weihnachtsbetrachtimg des vierten Evangelisten. Die älteste Verkündigung von Jesus Christus enthielt keine Weihnachtsgeschichte. Markus, der unter unseren Evangelisten am frühesten geschrieben hat, beginnt mit der Taufe Jesu; über die dreißig Jahre, die vorher verflossen waren, schweigt er. Den beiden folgenden Evangelisten Matthäus und Lukas verdanken wir die schönen Legenden von der Geburt in Bethlehem, den Hirten auf dem Felde, den "Weisen aus dem Morgenland, der Darstellung im Tempel, der Flucht nach Ägypten. Sie werden erzählt werden, solange es eine christliche Kirche gibt, und ihre innere und äußere Schönheit, ihren Glanz und ihren Tiefsinn wird keine Kritik jemals zerstören. Der vierte Evangelist, den die Tradition Johannes nennt, hat keine Geburtsgeschichte erzählt; er hält seine Darstellung im üahmen der ältesten Verkündigung. Waren ihm jene Geschichten, wie sie Matthäus und Lukas berichten, noch unbekannt? Gewiß nicht. Mißtraute er ihnen? Wir wissen es nicht. Warum schwieg er über sie? Er hatte Größeres zu sagen und wollte mit einem vollen Akkorde einsetzen. Er beginnt sein Evangelium nicht mit Weihnachtsgeschichten, sondern mit einer Weihnachtsbetrachtung; dann geht er sofort zu Johannes dem Täufer und der Taufe Jesu über. Millionen von Büchern sind geschrieben und werden zur Einsicht und Vergleichung in den Bibliotheken aufbewahrt; aber schwerlich wird man eines entdecken, dessen
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V Religion und Frömmigkeit
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Eingang sich an Kraft und Erhabenheit mit dem Prologe des Johannesevangeliums zu messen vermag. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe ist nichts geworden, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen . . . Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, daß er von dem Lichte zeugte. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe geworden, und die Welt kannte es nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben... Und das Wort ward Fleisch und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." Wie Töne einer gewaltigen Orgel fluten diese Worte. Aber fassen wir auch ihren Sinn, und wenn wir ihn fassen, ist er uns noch verständlich? Es gibt Erzählungen, und es gibt Sprüche in der Weltgeschichte, die für die Ewigkeit geschrieben zu sein scheinen. Kein Volk, keine Generation, zu der sie gekommen sind, kann an ihnen vorübergehen. Sie nehmen sie auf und lernen an ihnen, und indem sie lernen, bringen sie zugleich das Höchste an sie heran, was sie besitzen. Die Geschichte dieser Erzählungen und Sprüche geht wie ein roter Faden durch das Gewebe der Überlieferangen der Menschheit. Zu diesen Stücken gehört auch unser Prolog. Darum läßt Goethe seinen Faust sich in ihn vertiefen, und alte Legenden wollen wissen, daß Johannes unter Donner und Blitz diese Worte vom Himmel empfangen habe. Versuchen wir es, uns den Sinn der erhabenen Worte klarzumachen, und wenn wir auch den ursprünglichen
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1. Die Weihnachtsbetrachtung des vierten Evangelisten. (1902)
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Gedanken des Verfassers nicht genau zu treffen vermögen, so können wir doch, mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, wie gebildete heidenchristliche Leser im zweiten Jahrhundert diesen Text verstanden haben. Am Anfang aller Dinge stand nicht eine dumpfe, seelenlose Materie, sondern Gott mit seinem Geist und Wort — der Ausdruck „Logos", den Luther mit „Wort" tibersetzt hat, bedeutet im Griechischen beides, Geist und Wort. Dieser Geist ist der Schöpfer und Träger aller Dinge, das Prinzip alles Gewordenen. Er waltet in dem Kleinsten wie in dem Größten; nichts in dem ganzen Bereich der Schöpfung ist ohne ihn. Er ist kein unlebendiger oder unbewußter Geist, sondern er ist Leben und Licht, also Kraft, Ordnung und Klarheit. Aber ebenderselbe Geist waltet als Leben auch in dem innern Sinn und in der Geschichte der Menschheit und ist ihr Licht. Wie er das Prinzip alles Seienden ist, so ist er auch der Urquell der Gedanken und aller Erkenntnis. Und wie in ihm Sein und Erkennen eins ist, so entzündet er in dem Sinn der Menschen das Licht der "Vernunft und der Erkenntnis Gottes. Der von dem Logos entzündete Menschengeist aber vermag sich ihm zu entziehen, ihn zu verkennen und zu verlassen; er kann sich der Finsternis zuwenden. Zwar bleibt er fort und fort von ihm getragen, aber wenn er ihn nicht ergreift und begreift, verfällt er selbst der Finsternis. Er verfehlt seine Aufgabe; denn die Menschen sollen durch die freie Aufnahme des Geistes Kinder Gottes werden. Sie haben nicht getan, was sie gesollt; nur wenige haben ihn erkannt und aufgenommen; sie gehörten zu ihm und wollten doch nichts von ihm wissen. Aber einige haben ihn ergriffen: der Verfasser nennt nur einen, Johannes den Täufer; aber er kannte auch andere, und die ersten Leser fügten in Gedanken noch weitere hinzu, Moses und Jesaias, aber auch Sokrates und Plato. Sie sind den Verblendeten und Versunkenen zu Propheten geworden; „sie kamen zum
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V. Religion und Frömmigkeit
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Zeugnis, daß sie von dem Lichte zeugten."
Niemals war
die Menschheit ohne das Licht; aber sie selbst verdunkelte sich das Licht.
Niemals war sie ohne Gotteskinder und
Propheten, aber sie waren vereinzelt, und ihr Zeugnis vom Licht schlug nicht durch. Da kam Jesus Christus.
In ihm ist der Geist Gottes
so vollkommen erschienen, wie er auf Erden, in Raum und Zeit,
nur erscheinen kann.
Trotz
aller Niedrigkeit
und
Schmach leuchtete hier eine Herrlichkeit auf wie der Glanz Q-ottes, und die Anschauung dieser Herrlichkeit legte dem Evangelisten das größte Zeugnis auf die Lippen, das Menschen gesprochen haben: „Das Wort ward Fleisch und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen." Ist das alles Gleichnis und Gedicht?
Ja, gewiß; aber
die Menschheit vermag das Höchste nur wie durch einen Spiegel zu sehen, und darum ist sie für die Erkenntnis des Höchsten an Gedicht und Gleichnis gebunden.
Über das
aber, was hier gegeben ist, wird sie nicht hinausschreiten; denn diese Dichtung, die Weihnachtsbetrachtung des Evangelisten Johannes, ruht auf Erkenntnissen, die niemals verloren gehen oder abgetan werden können.
Sie faßt zusam-
men, was jüdische Propheten und griechische Philosophen vorbereitend und ahnend ausgesagt haben, und sie kennt ein Ziel und einen Abschluß ihres Zeugnisses, Jesus Christus. Aber wie? stehen unsere modernen Erkenntnisse, unser Wissen um die Entwicklung und das Werden der Dinge, dieser Weihnachtsbetrachtung nicht entgegen?
Wohl, die
materialistische Weltanschauung verträgt
nicht
sich
mit
ihr, aber jeder Idealismus wird ihr nahe kommen. Wer aber darf heute behaupten, daß der Materialismus das letzte Wort der Wissenschaft sei?
Die Betrachtung
unseres
Evange-
listen, angestellt vor achtzehnhundert Jahren, sieht in dem Geist das letzte und höchste Prinzip; sie erkennt an, daß der Geist, der in der Natur waltet und alle Dinge trägt, eins ist mit dem Geist, der in den Seelen und in der Ge-
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1. Die Weihnachtsbetrachtung des vierten Evangelisten. (1902)
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schichte waltet; Naturgesetz, Erkenntnis und Religion bindet sie in eins. Aber sie bezeugt auch, daß der Geist anders in der Natur wirkt und anders in den Seelen der Menschen. Was dort Zustand ist, soll hier Erkenntnis, Gesinnung der Tat werden. Sind uns das fremde Gedanken, abgestandene "Wahrheiten, die zu Irrtümern geworden sind? Nein, sie sind noch heute die Grundpfeiler unserer höheren Erkenntnisse und zugleich die Ziele, nach denen die Menschheit strebt und ringt. Und ist es mit dem letzten Bekenntnis unseres Evangelisten anders? Den Satz: „Das "Wort ward Fleisch" würden wir freilich heute nicht mehr zu bilden vermögen — vielleicht weil wir zu unkräftig und skeptisch, vielleicht weil wir zu zurückhaltend und nüchtern geworden sind —r was wir aber nicht mehr zu bilden vermögen, das sollen wir auch nicht ohne weiteres nachsprechen. Doch den Kern des Zeugnisses des Evangelisten können und dürfen wir auch heute noch uns aneignen: Wir haben in der Geschichte keinen Größeren erlebt als Jesus Christus, und dieser Meister ist noch durch keinen anderen abgelöst worden. Er befreit noch eben die Menschenseelen, führt sie zu Gott und führt sie zusammen zu einem Volke von Brüdern. Er bringt Leben und Licht; sein Evangelium, den Höchsten zur Ehrfurcht zwingend und dem Geringsten verständlich, enthält noch immer die Güter, die wir brauchen, und stellt der Menschheit die Aufgaben, an denen sie in die Höhe und in die Tiefe wächst. Dieses Evangelium soll uns in dieser Weihnachtszeit wieder aufleuchten, und die Weihnachtsbetrachtung des vierten Evangelisten soll uns zu einer Feierstunde werden im Leben des Tages und der Arbeit.
Heilige Schriften. Wie sind Schriften zu „heiligen Schriften" geworden? Die Antwort scheint einfach zu sein: entweder weil die Personen für verehrungswürdig und heilig galten, welche die Schriften Yerfaßt hatten, oder weil der Inhalt der Schriften erhaben und heilig war. Gewiß, aber die Antwort reicht nicht aus: Schriften sind auch zu heiligen Schriften geworden, weil sie bei denen, welche sie lasen, erhabene und heilige Gedanken entbunden haben. Die geschichtliche Wissenschaft bemüht sich mit Recht, den ursprünglichen Sinn alter Schriften und so auch der biblischen Bücher zu enträtseln; dabei zeigt sich vieles als ganz profan, was doch die Autorität des Heiligen erhalten hat. Das bekannteste Beispiel bildet das „Hohelied". Sollen wir nun annehmen, daß die, welche dieses Lied oder ähnliches für heilig erklärt haben, den ursprünglichen Sinn noch gekannt und trotzdem den Inhalt für verehrungswürdig und göttlich gehalten haben? Wer mag das glauben! Sie haben, ohne es zu wissen, den ursprünglichen Sinn umgedeutet, haben ihre eigenen frommen Gedanken an den Text herangerückt, und lasen nun das, was sie lesen wollten. Die Nächsten, die das Buch schon als heiliges überkamen, machten es nicht anders, und so ist es weiter gegangen. Aber auch die frommen Gedanken selbst, die man in den Text hineinlas, blieben nicht dieselben; sie wandelten sich, wenn auch nicht von Generation zu Generation, so doch von Jahrhundert zu Jahrhundert.
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2. Heilige Schriften. (1902)
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Was von ganzen Schriften gilt, gilt auch von einzelnen Erzählungen. Das Weihnachtsfest erinnert uns an die Weihnachtsgeschichten, unter ihnen an „Die Weisen aus dem Morgenland". Kein Gelehrter weiß heute noch, wie diese Legende entstanden und was ihr ursprünglicher Sinn ist, ja selbst das ist unsicher, was der Evangelist Matthäus, der sie aufgenommen hat, mit ihr hat sagen wollen. Aber kaum eine andere Geschichte im ganzen „Neuen Testament" ist rasch so beliebt geworden und so beliebt geblieben wie diese Erzählung. Wir finden sie gemalt in zahlreichen alten christlichen Grabkammern und auf unzähligen Bildern, ausgeschmückt und bereichert in Nacherzählungen, tiefsinnig erklärt in allen Zeitaltern der Kirche: Jesus Christus und die Weisen der Völkerwelt., die ihm ihre Gaben darbringen ! Das ist echte Legende, kann man sagen, ein großartiges Bild, großartig an sich, wie man es immer deuten will. Das mag sein, aber es bleibt eine Legende, und der sie erdacht hat, hat sich jedenfalls etwas ganz anderes dabei gedacht, als die Tiefsinnigen heute meinen. Es gibt eine intellektuelle Gewissenhaftigkeit, der alle heiligen Geschichten als eine Komödie der Irrungen verleidet sind, wenn ihre Ungeschichtlichkeit erwiesen ist, und die jeden Satz und jedes Wort ausschließlich nach seinem ursprünglichen Sinn wertet. Mit dieser Gewissenhaftigkeit ist nicht zu streiten; denn sie hat das formelle Recht f ü r sich; aber sie macht uns arm und sie verkennt die Gesetze, nach denen sich Geistiges und Heiliges entwickelt und fortpflanzt. Sie ist auch nicht konsequent; wäre sie es, so könnte sie nur weniges übrig lassen, woran wir uns noch erheben und erbauen dürften. Die Gedanken fließen rasch, vertiefen und erweitern sich unaufhörlich, aber die Formen und Gefäße wandeln sich langsam; manche von ihnen scheinen f ü r die Ewigkeit gegossen zu sein. Legenden sind Gefäße. Doch wollen wir jene Gewissenhaftigkeit nicht schelten. Brauchen wir doch auch abstoßende Kräfte, damit wir nicht wehrlos sind gegenüber jedem Mythus und damit wir nicht jede Reliquie in Ehren halten müssen, weil heilige
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V. Religion und Frömmigkeit
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Gedanken einst an ihr entbunden worden sind. Auch hier kann der wahre Fortschritt, tote Formen allmählich abzustreifen und die Gedanken zu läutern, nur aus dem Widerstreit geboren werden — aus dem Widerstreit der Empfindungen und der Erkenntnisse, wie sie mannigfaltig verteilt sind. Nur daß ein jeder sich selbst treu bleibe und in Wahrhaftigkeit das wirken läßt, was ihm gegeben ist, sei es der scharfe Sinn f ü r das Tatsächliche und die Reinheit des Gedankens, sei es die Pietät und Nachempfindung und Phantasie. Über eines aber können wir uns einigen: daß das Wertvollste in unserem Erbgut die Überlieferungen sind — in Erzählung und Gedankenspruch, in der Darstellung eines persönlichen Lebens —, denen die Zeit nichts anzuhaben vermag, in denen Form, Gedanken und Wirklichkeit sich decken und deren Sprache heute so gut verstanden wird, wie vor Jahrhunderten. So redet das Kreuz Christi zu uns, so seine Gleichnisse und viele seiner Sprüche.
NAUMANNS BRIEFE ÜBER RELIGION
Der Aufsatz ist in der „Nation", 19. September 1903 erschienen.
Naumanns Briefe über Religion. Seinen in der „Gotteshilfe" gesammelten Andachten hat Naumann Briefe über Religion 1 ) nachgesandt. Die, welche jene Andachten mit Teilnahme und Dank lesen, haben solche schwerlich erwartet, ja vielleicht nicht einmal gewünscht. Als ich von ihrem Erscheinen hörte, war ich zunächst befremdet: Warum über eine Sache sprechen, wenn man Fähigkeit und Kraft besitzt, aus ihr zu reden? Der erste Brief hat mich belehrt, daß Naumann auch hier — wie es sein muß, mehr widerwillig als willig — einem inneren Zwang gefolgt ist, und alle Briefe zeigen, daß er bei der Behandlung des Themas seinem Genius die Treue gehalten hat: er ist nicht subtil und nicht Philosoph geworden; er hat sich vom praktischen Leben nicht entfernt, im Gegenteil — er ist ihm wieder ein Stück näher gekommen. „Es gibt nicht wenige Leser Ihrer Andachten, die es bei aller Freundschaft nicht recht verstehen, wenn Sie gleichzeitig Christ, Darwinist und Flottenschwärmer sein können." Dieser etwas plump formulierte Satz eines Gegners erscheint als der Ausgangspunkt der „Briefe". Mag nun auch wirklich das Befremden anderer das zweite Motiv zur Niederschrift gewesen sein, das erste war es gewiß nicht. Naumann hat das Problem selbst: „Die christliche Religion im 20. Jahrhundert", im Tiefsten empfunden und hat sich die Last von der Seele schreiben wollen, weil er sich nur so zu be*) Buchverlag der „Hilfe". Berlin 1903.
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V. Religion und Frömmigkeit
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freien vermochte. B e k e n n t n i s s e liegen vor uns; als solche wollen diese Briefe beurteilt sein. Die Probe, ob Bekenntnisse ihrem Verfasser das, was sie ihm leisten sollten, wirklich geleistet haben, ist immer parat; denn hier entscheidet bereits der Ausdruck. Gedanken, die ihren Urheber selbst nur halb befriedigen, und mühsam beschwichtigte Zweifel können wohl in schillernden Essays einen anziehenden Ausdruck finden, aber in „Bekenntnissen" wird sich ihnen die Kraft der Sprache entziehen. Hier fügt sich das treffende "Wort zum tapfern und befreienden G-edanken. Nach diesem sucht man in den Briefen nicht vergebens. Überall sind die Fragen so sicher vorgestellt und so mutig beschaut, daß die Nebel schwinden und das Licht durchbricht. Jeder der 27 Briefe — denn so viele sind's, obgleich das Büchlein nur doppelt so viele Seiten zählt — hat seinen eigenen Sonnenstrahl, ein aufleuchtendes Bild oder eine Formulierung, gesättigt mit "Wahrheit und Kraft. Gerne würde ich sie hier zusammenstellen, sei es auch nur um zu zeigen, welch ein Instrument in der Hand dieses sich befreienden Künstlers die Sprache ist. Aber der Ausdruck ist hier mehr als ein guter Ausdruck; er packt ein Stück wirklichen Lebens, befreit es von den verdunkelnden Dünsten und macht es zum Gegenstand der Freude. Wenn Freude Schaffensmut ist, dann ist alles in und an dem Buche freudig. Nicht wir haben unsere Zeit gemacht, sondern wir sind in sie gestellt. Weder in Ansehung der Religion, noch der Erkenntnisse, noch der sozialen Lage sind wir schlimmer daran als unsere Väter; wir sind reicher als sie, und alle Brunnen, die sie getränkt haben, fließen noch heute. Unmutig und feige, hilflos und arm werden wir nur, wenn wir den Dingen, wie sie sind, nicht in die Augen sehen wollen, wenn wir das Wirkliche, was um uns geworden ist und wird, nicht gelten lassen und uns mit halber Zuversicht an ein Vergangenes anklammern. Der
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Wirklichkeitssinn ist das Erhebende in dem Büchlein. Wie nahe man dem Wesen der D i n g e kommen kann, auch wenn man nicht auf ihren G-rund geht, aber sie mit W a h r h a f t i g k e i t betrachtet, das zeigen diese Briefe. Man freut sich wieder, ein Mensch zu sein, wenn man sie gelesen hat, man freut sich der Gegenwart und spottet derer, die uns Natur und Geschichte vergällen wollen. Auf den Grund der D i n g e gehen — das tut der Verfasser freilich nicht. Er sieht es als eine Tatsache an, die zurzeit unbezwinglich ist, daß wir das nicht könnep. Was geschehen ist und geschieht, um eine einheitliche Weltanschauung, die nur eine neue sein kann, zu erzeugen, befriedigt ihn nicht. Aber das neue Weltbild, wie es aufgestiegen ist, erfrischt und entzückt ihn, und was von dem Erbe der Vergangenheit in bezug auf Religion und Gottesglauben unerschüttert geblieben ist, das ist ihm genug. Der Teil ist ihm soviel wie das Ganze, ja mehr als das Ganze, wie es einst gegolten hat; denn wieviel Kindliches und Trübseliges war ihm beigemischt! An Gott und an Jesus von Nazareth fühlt sich seine Seele gebunden; er spricht von ihnen in den schlichten, aber ehrfürchtigen Worten eines Vertrauten und deshalb in eigenen Worten; aber er zeigt zugleich, daß er mit dieser Beziehung seines Herzens nicht allein steht, und daß unsere Gegenwart noch gesättigt und durchzogen ist von den Kräften, die vor 1900 Jahren in die Geschichte eingetreten sind. Auch die meisten Gegner kräuseln nur an Worten oder führen den Kampf auf einem Felde, auf dem der Sieg kein Sieg und die Niederlage keine Niederlage ist. „Nichts ist für den tiefer Blickenden spaßhafter als die Freiheitstänze derer, die nur die Worte gewechselt haben und nicht die Gedanken." Dennoch fehlt der starke Ausdruck der Resignation in den Briefen nicht. Wie könnte es anders sein? Der Trieb
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V. Religion und Frömmigkeit
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zur Einheit des Denkens ist so mächtig in uns wie der Selbsterhaltungstrieb. "Wie sollte es der Verfasser nicht schmerzlich empfinden, wenn seine G-edanken bald den wirklichen Dualismus streifen, bald den Dualismus einer doppelten Lebens- und Buchführung, wenn er der religiösen Moral Schranken ziehen muß, obgleich er weiß, daß sie sich solche nicht vorschreiben läßt? Was ihn in diesen Nöten tröstet, ist schon angedeutet: im G-runde haben es die Früheren nicht besser gehabt — es scheint uns nur so —; ferner: der Zeiger der Zeit, die gegenwärtige Epoche, läßt dem Gewissenhaften und "Wahrhaftigen keine andere Haltung zu, also muß er diese ergreifen; endlich: Gottes Brunnen haben auch jetzt noch "Wasser die Fülle. Aber, wird der Leser fragen, was sagt der Verfasser tatsächlich über Religion und Q-ottesglaube, über Geschichte und Christentum, wie behauptet er sie gegenüber dem, was man „moderne "Weltanschauung" nennt? Ich werde mich hüten, diese Fragen zu beantworten und aus den knappen Briefen einen Extrakt zu geben. Die Persönlichkeit, die hinter ihnen steht und aus ihnen leuchtet, ginge dabei verloren. Dazu kommt, daß ich so gleichartig mit dem Verfasser empfinde, daß niemand weniger zu seinem Kritiker berufen ist als ich. Er hat ausgesprochen, was in unseren Seelen lebt; wir werden nicht so töricht sein, ihm seine "Worte nachzustammeln. Die volle Zustimmung bezieht sich indessen nicht auf das Ganze, sondern auf die grundlegenden Briefe 1—17 und ganz besonders auf das, was von Jesus Christus, dem Persönlichen, unter "Weglassung alles Unpersönlichen gesagt ist. Die Briefe dagegen, die von dem Problem handeln, welche Stellung der Christ in dem „Kampf ums Dasein" zu nehmen hat, wie er ihn beurteilen soll und wie er, um es kurz zu sagen, als egoistischer Klassenkämpfer ein Christ sein kann — bleiben hinter dem zurück, was gesagt werden muß und auch schon in der Gegenwart gesagt werden kann.
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3. Naumanns Briefe über Religion. (1903)
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Gerade hier freilich, zeigt sich der Verfasser in besonderem Sinne als der rücksichtslos gegen sich, selbst wahrhaftige und tapfere Mann, und darum bezeichnen diese Briefe den moralischen Höhepunkt seiner Bekenntnisse; aber objektiv erscheint hier seine Position als eine unhaltbare, mag er auch den Gegnern zurufen: Ihr irrt Euch; ich stehe. Der Verfasser hat sich das Problem dadurch zu einem schlechthin unlösbaren gemacht, daß er den bösen Irrtum — ich würde gern ein stärkeres Wort wählen — noch immer festhält, der „Kampf ums Dasein" sei stets mit puren egoistischen Mitteln geführt worden, werde auch heute so geführt und könne niemals anders geführt werden, ferner, niemand dürfe sich dem entziehen, in diesen Kampf einzutreten; denn eben in ihm entwickle sich die Menschheit zu höheren Formen. Natürlich paßt zu diesem Kampfe die christliche Ethik schlechterdings nicht, und es bleibt daher nichts übrig, als sie abzudanken oder irgendwo doch noch einen Raum für sie zu gewinnen, den der Verfasser wirklich finden zu können meint. Als ob diese Ethik damit zufrieden wäre, als ob sich der Christ dabei wirklich beruhigen könne, und als ob der „Kampf", wie ihn Naumann im Obersatz beschrieben hat, auch nur eine Spanne Leben für anderes übriglasse! Auch damit ist es nicht getan, daß man den Kampf sub specie aeternitatis betrachtet und sich etwa um des Zieles willen Absolution erteilt. Nein, der Obersatz ist falsch. Der „Kampf ums Dasein" unter Menschen, unter den Menschen der Gegenwart, ist kein Kampf von Tieren, mag er es auch einst gewesen sein. Alle Kräfte des Guten, alle Tugenden — Wahrheit, Liebe, Sozialgefühl und Selbstlosigkeit — sind Kräfte in diesem Kampfe, und es sind die stärksten Kräfte. Vergebens habe ich in den Ausführungen Naumanns auch nur eine Zeile gesucht, in der diese einfache Wahrheit ihr Recht erhält: es ist, als ob ihn die sozialistische Geschichtsbetrachtung blind gemacht hätte. Wenn er wieder sehend würde, was wir hoffen dürfen,
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V. Religion und Frömmigkeit
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würde er freilich einwenden können: Ihr habt recht, das sind wirklich hohe Kräfte, aber die anderen, alle die Triebe zur Herrschaft, bestehen dort auch fort. So ist es in der Tat, und hier liegt das Problem. Aber es ist ein anderes, ob man es schon dort sucht, wo Naumann es heute noch sucht, oder an der eben bezeichneten Stelle. Das Problem wird ein anderes, und seine Lösbarkeit ist nicht mehr so hoffnungslos, wie es nach Naumanns Auffassung erscheint. Indessen — Probleme wollte Naumann überhaupt nicht lösen. Er wollte sich und anderen sagen, wie er empfindet und wie er sich Rechenschaft gibt, heute empfindet und dabei den Kopf hell behält und ein gutes Gewissen. "Wie der Mensch den "Wechsel des Tages bedarf und der Nacht, heißen Sonnenschein und einen stillen Abend, so findet er sich zurzeit, so scheint es, beruhigt in dem "Wechsel der Medien, die ihn umgeben und die er beide nicht missen will. Gerne räumen wir ihm ein, daß wir es tatsächlich — bewußt oder unbewußt — häufig nicht anders machen, daß ganze Perioden des Lebens so verlaufen. Aber Erfahrung und Einsicht werden den stets Vorwärtsdrängenden wieder herausführen aus dem Bannkreise einer irrigen und tyrannischen Betrachtung des Geschehens. Weder ist das Leben richtig und vollständig als Kampf ums Dasein — mag man das vieldeutige Schlagwort wie immer deuten — beschrieben, noch kann dieser Kampf die ethischen Kräfte entbehren.
ALTE BEKANNTE
Erschienen in der „Christlichen Welt L , 21. Mai 1903.
In der von Dr. L e p s i u s herausgegebenen Zeitschrift Der christliche Orient findet man immer etwas Lehrreiches oder Bewegendes, und ich freue mich jedesmal, wenn sie auf meinen Schreibtisch fliegt. Jüngst aber (April 1903) hat sie mir etwas besonders Interessantes geboten. Ein Herr „A." setzt seinen Bericht Von den S t u n d i s t e n fort und erzählt diesmal von der „Evangelischen Bewegung" in Rußland. Offenbar steht ihr der Verfasser bei aller Kritik, die er an ihr übt, so nahe, daß er sie wie ein treuer Spiegel wiederzugeben vermag. Ich lasse seine "Worte folgen: „Nun will ich Ihnen noch etwas von dem Zustand der evangelischen Bewegung in Rußland erzählen. Obgleich das Evangelium mit großen Schritten vorwärts geht und räumlich mehr um sich greift, geschieht fast nichts in Rußland, um das Ergriffene festzuhalten. Der Brüder und Gemeinden gibt es sehr viele dort, der strengbaptistischen Gemeinden allein bis 100; alle aber bestehen aus Leuten, die in der "Wahrheit unbefestigt sind. Hieraus fließen die Ursachen der verschiedenen Verirrungen, und daher kommen die vielen Zersplitterungen und die Intoleranz unter den Denominationen. Man hält verschiedene falsche Meinungen über die heilige Schrift, die Wassertaufe, das Abendmahl, die "Wiedergeburt, die Bekehrung usw. fest. Meist glaubt man in der Wassertaufe die Wiedergeburt zu haben, nämlich eine geheimnisvolle Umwandlung der Menschennatur, und daher kommt die falsche Meinung, daß das Gebot der Wassertaufe das erste und das größte sei. Die Wiederge-
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burt sieht man nicht an als ein neues Lebensverhältnis, sondern wie eine von oben kommende Umwandlung; man sagt: „er wurde gewürdigt, die Wiedergeburt zu bekommen", und daher kommt der schreckliche Haß gegen den „Nichtwiedergeborenen" als gegen einen nicht Auserwählten. Was die Bekehrung betrifft, so herrscht die falsche Meinung, daß man in der Versammlung wenigstens einmal mit Tränen beichten müsse. Das Weinen nennt man die Bekehrung. Daher ist bei den Versammlungen in Rußland immer viel Weinen mit lautem Bekennen der Sünden; dabei spricht man mit aller Umständlichkeit von seinen Sünden, was manchem ein Anstoß ist, immer mit schrecklichem Seufzen usw. Zuweilen braucht man starke Nerven, um die ganze Versammlung bis zum Ende zu ertragen. Bei der Bekehrung ist das Weinen conditio sine qua non. Man traut dem nicht, der niemals in der Versammlung geweint hat. — Hast du dich schon bekehrt? fragt der alte Bruder den jüngeren. (Man muß verstehen: Hast du schon in der Versammlung geweint?) — Noch nicht! antwortet der junge Proselyt. — Noch nicht? Ο du armer, armer Sünder! sagt der ältere und sieht dabei auf den jüngeren wie ein Korporal in der Regimentskaserne auf den eben gekommenen jungen Rekruten. — Vor der Christlichen Gemeinde meint man, sie bestehe aus den gläubigen getauften Leuten; damit glaubt man mehr an die mechanische Vereinigung untereinander, als an die organische der Glieder mit dem Haupte Jesus Christus und dadurch untereinander. Daher kommt das Mißtrauen gegen die andern Denominationen, besonders gegen diejenigen, die Pastoren haben". „Uber die Frage, ob der Sonnabend oder der Sonntag zu feiern sei, gab es und gibt es viel Streit; besonders in Süd-Rußland hat derselbe viel Schaden angerichtet. Deswegen waren viele Leute wieder griechisch-katholisch geworden, wo sie schließlich verknöcherten. Der Streit, ob man die Brüder und Schwestern, die nicht die Glaubens-
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taufe bekommen haben, zum heiligen Abendmahl annehmen soll, wird schon zur chronischen Krankheit". „Neulich erhob sich eine neue Frage, nämlich ob ein Gotteskind in den Militärdienst treten darf, oder ob er sich weigern muß, selbst wenn ihn die Regierung dazu zwingt, und überhaupt: Kann ein Soldat und Offizier Gottes Kind sein, wenn er als Gläubiger beim Militär bleibt. — Die Antwort war fast überall: Nein, er darf es nicht! Diese Auffassung der Waffen und des Militärdienstes stellt die Brüder und überhaupt die ganze evangelische Bewegung in ein falsches und sehr schlechtes Licht vor der russischen Regierung. "Vorläufig ist diese Ansicht noch nicht so verbreitet. — Ebenso steht es mit der Frage, ob ein Gotteskind Richter sein oder irgendein Amt beim Gericht einnehmen darf". „Von der christlichen Predigt herrscht auch eine sehr falsche Meinung, nämlich daß der Prediger, während er spricht, unter dem unmittelbaren Einfluß des heiligen Geistes stehe, und also alles, was er spricht, echtes Gottes -Wort und der heiligen Schrift gleich zu achten sei. Der Presbyter ist das Werkzeug des heiligen Geistes, darum muß man alles, was er befiehlt, als Gesetz annehmen. Darum darf er das Leben aller Mitglieder seiner Gemeinde regulieren — sogar die Farbe der Trauerkleider. Jedermann, sogar der jüngste Proselyt, der sich schon bekehrt, d. h. der geweint hat, ist das Werkzeug des heiligen Geistes, wenn er aufsteht und in der Versammlung redet; so können Sie sich vorstellen, was für Auslegungen und Erklärungen der heiligen Schrift dabei aufkommen. Jedermann spricht, was er will, und oft versteht er selbst nicht, was er redet; dazu müssen Sie bedenken, welch schrecklicher Haß gegen die Bücher existiert". „Lieber Bruder, sagte ich einmal zu einem Gemeindevater, Sie sollten etwas lesen, besonders jene Bücher, die über das Evangelium reden, über die Kirchengeschichte und dergleichen, das wird Ihren Gesichtskreis erweitern, es gibt
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solche in russischer Übersetzung. — Ach nein, antwortete er, alle Bücher sind vom Teufel". „Oft merkt man auch den größten Haß gegen was den Eindruck der Gelehrsamkeit trägt. ziemlich gut, aber gelehrt."
alles,
„Du sprichst
Man sagte mir einmal: „Hast
du noch nicht gehört, wie der Bruder Johann spricht: Alles ist Wasser auf unsre Mühle?" Johann gehört.
Natürlich habe ich den Bruder
Seine Rede war so „gemischtes Gemüse",
daß ich gar nicht verstehen konnte, was er sagen wollte. Doch die Brüder waren sehr zufrieden ihn zu hören und meinten, daß alles das echte Gotteswort sei". „Überhaupt bildet sich in den evangelischen Kreisen ein sehr verdrießlicher Typus des evangelischen Schwätzers aus; diese Art Leute gewinnen oft großen Einfluß auf die Kreise und führen die Brüder manchmal durch ihr Schwatzen zur Übertretung der Gesetze. Das neueste Beispiel davon ist die Zerstörung einer großen katholischen Kirche inPawlowo(Charkow-Gouvernement) durch eine Menge exaltierter Stundisten; dort hatte ein solcher Schwätzer M. Theodosienko durch seine Reden die ihm naiv vertrauenden Brüder verführt". „Ein anderer Schwätzer machte kürzlich noch größere Verwirrung.
Kondraty
Maljowany,
so
nennt
man
war früher ein Mitglied der Baptistengemeinde.
Er
ihn, ge-
wann die Überzeugung, daß er „der erstgeborene Gottessohn" sei, und daß der heilige Geist ihn zwänge, das neue Wort der Welt zu sagen.
Diese Offenbarung war mit der
Erscheinung
und mit verschiedenen
von Engeln
Wundern begleitet.
Er
andern
sammelt eine große Menge
von
Zuhörern um sich und spricht dies „neue Wort", daß er der Heiland und Erstgeborene Gottes sei. Bald fliegt diese Neuigkeit überall hin. Der „Erstgeborene" spricht hinreißend. Die naiven Bauern fangen an, ihm zu glauben. uns nicht wundern.
Das darf
Der Psychiater Professor Sikorsky, der
ihn in dem Irrenhause beaufsichtigte, sagte nachher, daß der „Erstgeborene"
mit
seiner Rede
einen
unwiderstehlichen
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Eindruck auf die Zuhörer im Krankenhause (Ärzte und Studenten) macht, daß er (Sikorsky) sich gar nicht wundere, wenn derselbe immer von einer großen Menge umgeben sei. Bald aber hat die Polizei ihn verhaftet und ins Irrenhaus gebracht. "Wäre er nicht verhaftet, so wäre vielleicht die ganze Geschichte bis jetzt erloschen. Aber die Gefangennahme und die Einsperrung ins Irrenhaus haben ihn zum Märtyrer gestempelt und seine eng mystische Sekte verbreitet sich unter den Baptisten immer weiter. Diese Erscheinung ist analog mit der Erscheinung des „Propheten" Dowy in England". „Nach diesen kurzen Bemerkungen, die ich gern eingehender ausgeführt hätte, sehen Sie schon, daß die Evangelische Bewegung, obwohl sie wächst und sich verbreitet, doch noch oberflächlich und ohne den rechten Halt ist. Die Brüder haben nicht klare Anschauungen über die Erlösung, Heiligung, Wiedergeburt, die Christliche Gemeinde, die Heilige Schrift usw., deswegen existiert Sektiererei, Unfrieden, ja sogar Verfolgung zwischen den Sekten". — Während ich diesen Bericht las, war es mir, als sei ich aus der Gegenwart zu meinen alten Bekannten, in christliche Gemeinschaften des ersten und zweiten Jahrhunderts, versetzt. Andern, die ein Bild von jenen Gemeinschaften besitzen, wird es ähnlich gehen. Soll ich die einzelnen Stücke hervorheben? Ich müßte die ganze Darstellung wiederholen. „Unbefestigte" Leute, aber voll Intoleranz und „schrecklichem Haß gegen die Nichtwiedergeborenen". Sekte quillt neben Sekte auf, und doch sind sie alle ganz gleichartig. Ein grober Sakramentarismus beherrscht sie, aber neben ihm hat „der heilige Geist" in jedem Sprechenden sein Wesen: wer in der Versammlung spricht, ist sein Werkzeug. Was er sagt, muß man tun; denn es ist der Heiligen Schrift gleich zu achten. „Jedermann spricht, was er will, und oft versteht er selbst nicht, was er redet." Über ihnen stehen aber noch Personen, die dauernde Werkzeuge des heiligen Geistes
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sind; alles, was sie befehlen, ist Gesetz. Auslegungen der heiligen Schrift werden massenhaft produziert, aber gegen Bücher besteht ein schrecklicher Haß: „Alle Bücher sind vom Teufel." Verständige, gar gelehrte Rede gilt für nichts; nur eine religiöse Sprache, die „gemischtem Gemüse" gleicht, wirkt erbaulich. Auf Tränen, Lamentationen und lautes Sünden-Bekennen wird das höchste Gewicht gelegt, ja die erste stürmische Tränenbeichte fällt mit dem grundlegenden Sakrament selbst zusammen. Fragen wie die, ob der Sonnabend oder Sonntag zu feiern sei, regen die Brüder auf und spalten sie; aber auch die ernsten Fragen: Kann ein Gotteskind Soldat, kann es Richter sein, bewegen sie aufs tiefste, und sie sind geneigt, sie zu verneinen. Bis zu Gesetzlosigkeiten vermag sie ein aufgeregter Bruder zu verleiten; sie zerstören dann die Gotteshäuser der Anders-Gläubigen. Aber auch der Christus erscheint in diesem oder jenem wieder. Man hört die Rede: „Ich bin der erstgeborene Gottessohn; der Heilige Geist zwingt mich, ,das neue Wort' der Welt zu sagen." Selbst Studenten und Arzte vermögen sich dem Eindruck der hinreißenden Reden nicht zu entziehen. Jeder Zug hier und das Ganze der Erscheinung ist aus den Quellen des ersten und zweiten Jahrhunderts zu belegen. Genau so waren Tausende von alten Christen; so haben sie geliebt und gehaßt, gezittert und gekämpft, empfunden und gesprochen. Aber — so waren sie nicht alle. Wären sie alle so gewesen oder wären sie nur so gewesen, hätte nicht ein Ruhiges, Sicheres, Einfaches in ihnen selbst mit diesem Sturm und Drang gerungen, so wäre ihre Sache in Rauch und Qualm erstickt. Was ist denn diese ganze Bewegung, wie sie uns hier und wie sie uns damals entgegentritt? Naturreligion oder natürliche R e l i g i o n ist sie, wie sie zu einer bestimmten niedrigen Kulturstufe gehöx-t. Das Christliche hat die Bewegung nur entbunden, hat aber sonst kaum einen Anteil an ihr. Sie bezeichnet gewiß einen Fortschritt gegenüber dem wilden Orgiasmus
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und dem primitiven Fetischismus, aber, der Fortschritt ist noch, nicht sehr groß, ja er ist durch die Intoleranz und den Haß wett gemacht, die das aufdämmernde Zwiespaltsund Erlösungsgefühl notwendig begleiten. Alle Religionen, die einen inneren Zwiespalt hervorrufen und eine Erlösung für notwendig erklären, sind ein Unglück für die Menschheit, wenn sie den Riß nicht wirklich und dauernd zu heilen vermögen und Friede herstellen. Sie erzeugen entweder solche Fanatiker voll Unfriede und Haß, oder sie zerbrechen oder entmannen den Charakter. Dann kann es wohl kommen — das ist die Komödie nach der Tragödie —, daß die Entmannten mit einem gewissen Neid oder doch mit bewundernder Scheu auf jene Fanatiker blicken. Die K r a f t imponiert ihnen, und sie fangen an, uns diese Religion zu empfehlen. Aber wir stehen ihr noch zu nahe, um uns, sei es auch nur poetisch, an ihr zu erfreuen. Erst wollen wir sie gründlich überwunden haben und wollen alle guten Geister unseres Volkes, die uns Kinder der Reformation bis hierher gebracht haben, beschwören, daß sie uns helfen. G-ar nichts kann uns die „Moderne" helfen. Sie sieht alles wie auf der Bühne und nimmt alles wie ein Theaterstück. Wir aber wollen mit den Ernsten und wahrhaft Großen gehen.
DIE HÖHEPUNKTE IN AUGUSTINS KONFESSIONEN
Die drei ersten Stücke sind in der „Christliehen Welt" 1912 Nr. 44, 1913 Nr. 3 u. 8 erschienen; das vierte erscheint hier zum ersten Mal.
1.
Die Einleitung zu Augustins Konfessionen. Die Konfessionen Augustins beginnen mit folgenden Sätzen: „,Groß, bist Du Herr und hoch zu preisen; groß ist „Deine Stärke und Deiner Weisheit ist kein Maß.' Und „preisen will Dich der Mensch, ein nichtiges Bruchs t ü c k Deiner Schöpfung, jener Mensch, der seine Sterbl i c h k e i t mit sich herumträgt und mit sich herumträgt das „Zeugnis seiner Sünde und das Zeugnis, ,daß Du den Hofb ä r t i g e n widerstehst'. Und doch will Dich preisen der „Mensch, das nichtige Bruchstück Deiner Schöpfung! Du „erregst ihn, daß Dich zu preisen seine Freude ist; denn „geschaffen hast Du uns auf Dich hin, und unruhig ist „unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir. „Gib mir, Herr, zu wissen und zu erkennen, ob Dich „anrufen oder Dich preisen das Erste ist, und ob es das „Erste ist, Dich kennen oder Dich anrufen. Aber wer „kann Dich anrufen, ohne Dich zu kennen? Denn etwas „Falsches kann er ja anrufen, wenn er Dich nicht kennt. „Oder ist es vielmehr so, daß man Dich anruft, um Dich „zu erkennen? ,Wie aber können sie anrufen, an den sie „(noch) nicht glauben, und wie können sie glauben ohne „Prediger? Nun, preisen werden den Herrn, die ihn suchen; „denn wenn sie suchen, werden sie Ihn finden', und Ihn „findend werden sie Ihn preisen. Ich will Dich suchen, „Herr, indem ich Dich anrufe, und ich will Dich anrufen,
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„indem ich an Dich glaube; denn gepredigt bist Du uns. „Es r u f t Dich, Herr, mein Glaube an, den Du mir gegeben „hast, den Du mir eingehaucht hast durch die Menschheit „Deines Sohnes, durch das Amt Deines Predigers." Aus diesen herrlichen Worten einer tiefen und erhabenen Meditation ist der Satz: „Geschaffen hast Du uns auf Dich hin usw." allen bekannt und wird mit Recht aufs höchste geschätzt. Aber er hat bei den Lesern die ihn umgebenden Sätze durch seine packende Wahrhaftigkeit und seinen leuchtenden Glanz in den Schatten gestellt. Das ist zu bedauern! Enthalten diese, wenn man sie genau durchdenkt, doch nichts weniger als eine ganze Theorie der Religion und der christlichen Religion in nuce! Aber man liest gewöhnlich über sie hinweg, weil der Sinn durch jenen tiefen Satz ganz gefesselt ist und zunächst nichts anderes vernehmen will. Ein Schriftsteller von so originaler K r a f t und zugleich von so feiner Reflexion wie Augustin hat — das dürfen wir von vornherein annehmen — das erste Blatt seines Hauptwerks mit tiefstem Bedacht und mit größter Kunst geschrieben. Diese Voraussetzung rechtfertigt sich vollauf, wenn man hier in seine Gedanken eindringt. Seinem individuellsten Werke hat er in dieser Einleitung die allgemeinste und breiteste Basis gegeben, um durch sie anzudeuten, um was es sich in diesem Buche handelt — nicht um eine Lebensgeschichte, in der auch Gott eine Stelle hat, sondern um Gott, welcher das Leben ist. Und auch die Form, in der er erzählen wird, ist in dieser Einleitung im voraus verkündet: in diesem ganz rhetorischen Buche wird eine ganz unrhetorische Seele sprechen. Was Religion ist und was die christliche Religion ist, sagt uns Augustin, indem er die Fragen beantwortet: woher kommt Religion? und woher kommt die christliche Religion? Die Antwort lautet: Religion stammt aus einer A n l a g e , und die christliche Religion stammt (unter Voraus-
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Setzung dieser Anlage) aus einer geschichtlichen V e r k ü n d i g u n g . Also hat die christliche Religion zwei Wurzeln: eine e i n g e p f l a n z t e und eine g e s c h i c h t l i c h e . 1. Religion stammt aus einer Anlage; aber Augustin hütet sich, diese Anlage näher zu beschreiben. Er sagt nicht, daß sie im Verstände sitzt, auch nicht im Willen; er spricht nicht von einer angeborenen Idee; vom H e r z e n spricht er als dem Sitz der Anlage, also vom Innersten des Menschen, ohne diesen ganz unphilosophischen Begriff näher zu fassen. Als ein Psychologe, der nicht mehr sagen will, als was er beobachtet, beschreibt er die Anlage lediglich als eine dem Herzen e i n g e s c h a f f e n e R i c h t u n g auf Gott. Aber nun fügt er noch zwei Beobachtungen hinzu, die diese Richtung auf Gott in ihrer eminenten Bedeutung zeigen. Er sagt erstlich, daß sie als Lobpreis d. h. als Drang zu feiernder Verehrung Gottes in die Erscheinung trete, und er sagt zweitens, daß der Mensch im Tiefsten unruhig, also unglücklich bleibt, wenn er der eingeschaffenen Richtung nicht bis zum Ende folgt und in Gott ruht. Also v o l l e n d e t e R e l i g i o n ist die Verwirklichung einer Richtung und Bestimmung; sie ist t i e f s t e s , r u h i g e s G l ü c k s g e f ü h l , welches alle Unruhe überwunden hat, und sie e r s c h e i n t als der l e b e n d i g s t e D r a n g , G o t t zu preisen m i t dem B e w u ß t s e i n , daß G o t t selbst es ist, der in dem H e r z e n diesen L o b p r e i s erregt. Das ist Religion, das ist vollendete Religion — aber sie vollendet sich nicht! Denn sie erscheint inmitten einer Menschheit, die unter Bedingungen steht, die sie nicht zur Vollendung kommen lassen, ja die ihr so konträr sind, daß auch schon die unvollendete Religion wie ein Paradoxon dasteht. Das nichtige Bruchstück, der Mensch, und der unermeßliche Gott! Welche Beziehung kann es da überhaupt geben? Und der sterbliche Mensch, was reckt er sich zum
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ewig Lebendigen? Und der sündige Mensch, wie kann er aufschauen zum heiligen Gott ? Und der selbst sein wollende Mensch, wie muß er nicht alsbald das zermalmende Gericht Gottes spüren? Tod, Sünde und Hoff art, an sie ist der Mensch gekettet, und doch und doch — unbegreifliches Wunder! — in dieser Menschheit lebt unverwüstlich die Richtung und der Drang nach einem Höchsten, lebt etwas, das ihn preisen will, bewegt sich etwas Unruhiges, das in ihm Ruhe finden will! Das ist Augustins Anschauung von der „natürlichen'' Religion. Man mag die unzähligen Bücher durchforschen, die über die Religion geschrieben sind, und man wird, das darf man kühnlich prophezeien, keine Stelle finden, in der auf zehn Zeilen so Vieles und so Wahrhaftiges gesagt ist! Es ist wie eine Offenbarung! Nur ein Mann, der unablässig an sich selbst im Bunde mit Gott gearbeitet hat und der fest entschlossen war, nur das Wirkliche zu beobachten und sich vor Täuschungen zu hüten, konnte diese Worte schreiben. Neben der Entdeckung — denn so kann man sie nennen —, daß Religion eine eingepflanzte R i c h t u n g des Herzens ist und daß es sich in ihr um „Ruhe" gegenüber der „Unruhe" handelt, steht die gleichwertige Entdeckung, daß Religion in dem Drang, Gott zu preisen, also primär nicht in der Bitte, sondern in ehrfürchtigem L o b , zum Ausdruck kommt. Wenn einer es wissen mußte, so war er es, und er trifft dabei mit allen von Gott innerlich bewegten Menschen zusammen. „Ich preise Dich" ist die Grundform der Religion. So haben sie alle die Religion geübt; er hat sie geübt und zugleich klar erkannt, was er tat. 2. Die „natürliche" Religion bleibt unverwirklicht. Tod, Sünde und Stolz halten sie nieder; es bleibt die „Unruhe". Hier setzt der zweite Teil der Ausführung ein. E r ist kunstvoll aufgebaut und mit starker Rhetorik, die aber nirgends zu viel sagt. Der Leser wird aufs höchste gespannt und ihm viel zugemutet. Wenn man die Sätze ge-
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lesen hat, muß man sie noch einmal von rückwärts lesen; dann erst werden sie völlig deutlich; denn der Schlüssel wird erst am Ende dargeboten. Die Kunst der Darstellung Augustins beruht in dieser Satzgruppe darin, daß er zwei Hauptfragen in e i n e r Ausführung beantwortet — jene zwei Probleme, die für den Denkenden nun sofort auftauchen, wenn er die Religion als Richtungsanlage erkannt hat. Die eine Frage lautet: Geht das Wissen von Gott dem Leben mit Gott (der A n r u f u n g ) vorher? und die andere Frage lautet: Wie kommt es überhaupt zu einem Wissen von Gott? Die Richtung auf Gott enthält noch kein Wissen von Gott, d. h. keine Erkenntnis Gottes, und sie wird außerdem im Menschen niedergehalten durch Tod, Sünde und Hoffart. Wie kommt es also zu einem Wissen von Gott ? Und ferner: die Beobachtung scheint dafür zu sprechen, daß Gott nur in dem Maße erkannt wird, als man ihn anruft, d. h. mit ihm lebt. Aber wie kann man den wahren Gott anrufen, wenn man ihn nicht kennt ? Diese schweren Probleme, so lehrt uns Augustin, finden für den Christen — man beachte, wie jetzt das „Ich" eintritt; im ersten Abschnitt ist der Mensch das Subjekt — mit einem Schlage eine Antwort — n ä m l i c h aus der Geschichte. Neben das „Geschaffen hast Du uns auf Dich hin" tritt „der Glaube, den Du mir gegeben hast". Dieser Glaube stammt aus der P r e d i g t — dreimal in dem kurzen Abschnitte steht dieses Wort —; die Predigt aber ist die Verkündigung von dem Sohne Gottes, der unter uns erschienen ist, in welchem, eben weil er der Sohn ist, der Vater aufleuchtet. Nun ergibt sich alles Weitere. Der G l a u b e ist an sich nur die fides historica; aber indem er zu der Anlage hinzutritt, führt er zur A n r u f u n g Gottes. In der Anrufung ist das S u c h e n Gottes gegeben, d. h. ihn, den man als Tatsache glaubt, der eigenen Seele nahezubringen. Wer so sucht, der wird ihn gewiß f i n d e n ;
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finden aber heißt ihn e r k e n n e n und den nun Erkannten preisen. Die A n r u f u n g Gottes geht also wirklich dem Wissen von Gott (der Erkenntnis Gottes) voran, und möglich ist das, weil der Anrufende bereits eine fides historica besitzt. So r u f t er nichts Falsches an, indem er den Gott anruft, den er noch nicht wirklich e r k e n n t . Die Erkenntnis Gottes entwickelt sich auf Grund der geschichtlichen Verkündigung aus dem autoritativen und historischen Glauben, der, weil er suchend anruft, auch wirklich findet. Die Erkenntnis Gottes ist also das Letzte oder vielmehr das Vorletzte; denn sie befähigt nun, Gott wirklich zu preisen, wie er ist, und damit die höchste Bestimmung, die in der Richtungsanlage des Menschen liegt, zu erfüllen. Das ist Augustins grundlegende Theorie der Religion und der christlichen Religion. Ihr höchster Wert liegt darin, daß zwei Elemente unterschieden werden, die psychologische Anlage und das geschichtliche Gut, die P r e d i g t , welche in ihrer Wirkung die Vollendung der Anlage bringt. Nicht minder ausgezeichnet ist die Schilderung der Anlage. Aber auch die Analyse des zweiten Elements hat hohe Vorzüge und zeigt, daß sie an der Wirklichkeit gewonnen ist und nicht theoretisch erklügelt. Wie hier die Glieder Glaube, Anrufung, Suchen, Finden, Erkennen und Loben geordnet sind, wie beobachtet ist, daß das Nächstfolgende in und mit dem Vorhergehenden sicher gegeben ist und doch einen Fortechritt bedeutet, das ist unübertrefflich. Ein an der protestantischen Dogmatik gebildeter Theologe mag einwenden, daß der Glaube nie — auch in seinen Anfängen nicht — bloße fides historica sei; aber auch der augustinische ist es im Grunde doch nicht, wenn die A n r u f u n g sofort mit ihm gegeben ist und aus ihm quillt. Wir vermögen heute noch aus dieser Analyse sehr viel zu lernen. Zunächst können wir sie auf jede höhere Religion beziehen. Auch hier gilt es, die beiden Elemente, die An-
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läge und das geschichtliche Element, die V e r k ü n d i g u n g , zu unterscheiden. Aus der Anlage allein folgt überhaupt nichts. Sie wird niedergehalten; sie bleibt unkräftig. Erst durch eine g e s c h i c h t l i c h e Verkündigung kommt sie zum Leben. Aber mit Augustin werden wir sagen, daß nur die christliche Verkündigung dazu führt, Gott, wie er ist, zu erkennen und ihn zu preisen, wie er gepriesen sein will. Aber noch etwas können wir lernen. Wenn die christliche Religion auf den zwei Elementen beruht, der Richtungsanlage und der geschichtlichen Verkündigung, so vermag man sie nur zu pflegen, wenn man beide Elemente im Auge behält, ja es fragt sich sogar, ob man die Anlage überhaupt zu „pflegen" vermag. Sie r i c h t i g aufzudecken, wie es Augustin getan hat, und ihren Zusammenhang mit der „Ruhe" und der „Unruhe" vor die Seele zu führen, ist uns gewiß von großer Bedeutung und muß zur Stärkung gereichen. Aber darüber hinaus — was vermögen wir hier zu tun ? Die romantische Einseitigkeit, sich in der Erweckung und Schilderung allgemeiner Religionsgefühle zu ergehen, und sich mit ihnen zu begnügen, bringt wenig Nutzen, und die Meinung, damit sei es getan, daß man die Menschen auf das schwache Brünnlein hinweist, das in ihrem eigenen Innern quillt, ist sehr irreführend. „Wie können sie anrufen, an den sie noch nicht glauben ?" Jener Brunnen ist alles, wenn die geschichtliche Verkündigung zu ihm hinzutritt, und er versickert, wenn sie fehlt! Wer die Religion unter uns pflegen will, muß daher „die Predigt" in Kraft erhalten, und das vermag der geringste Diener Christi, wenn er das Evangelium verkündet. Gewiß, und Gott sei es geklagt, es kann auch in einer Weise verkündet werden, daß es zum Hemmnis der Verwirklichung der inneren Anlage wird. Aber dieser Gefahr entgeht jeder Prediger, der n u r das Evangelium sprechen läßt. Es bleibt dabei: der Glaube kommt aus der Predigt. Das g e s c h i c h t l i c h e Erbe, welches in ihr gegeben ist, müssen wir bewahren, wenn wir
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zur Erkenntnis Gottes kommen und führen wollen. Zur Erkenntnis Gottes — das ist schließlich das Größte an Augustins Meditation, daß er das geschichtliche Element der Verkündigung einführt, nicht um durch dasselbe allerlei Nebendinge in der Religion zu empfehlen, sondern lediglich um dadurch die Hauptsache zu erreichen: G o t t e r k e n n e n u n d i h n p r e i s e n . Darauf allein kommt alles an, und so verwirklicht sich durch geschichtliche Verkündigung die Anlage des Menschen auf Gott. 2,
Der erste Höhepunkt im Drama der inneren Entwickhing Augustins. „Die Schriften der Platoniker waren es, die mir die „Weisung gaben, zu m i r s e l b s t zurückzukehren. Ich drang „in mein Innerstes u n t e r D e i n e r F ü h r u n g , mein Gott, „und ich konnte es, da Du mein H e l f e r geworden. Dort 5 „drang ich ein und schaute mit dem Auge meiner Seele, „wie trübe es auch noch immer war, über eben diesem Auge „meiner Seele, ja über meinem Geiste, e i n u n w a n d e l b a r e s „ L i c h t , nicht jenes gewöhnliche und allem Fleisch sichtb a r e , auch nicht ein Licht, das nur heller gewesen wäre 10 „als das gewöhnliche, so daß es alles durch seine Stärke durchl e u c h t e t e ; nein, so war das Licht, das ich sah, nicht, sondern „es w a r e i n L i c h t v o n v ö l l i g a n d e r e r A r t . Auch „stand es nicht räumlich über meinem Geiste, wie ö l über „Wasser oder wie der Himmel über der Erde, sondern oben 15 „erschien es mir und ich unten, weil es mich geschaffen hat. „Wer die W a h r h e i t kennt, kennt dieses Licht, und wer „dieses Licht kennt, kennt d i e E w i g k e i t : d i e L i e b e „ k e n n t e s ! Ο Wahrheit, in dir liegt die Ewigkeit! Ο „Liebe, in dir liegt die Wahrheit! Ο Ewigkeit, in dir liegt 20 „die Liebe! Du bist mein Gott, nach Dir seufze ich Tag „und Nacht! Und alsbald, da ich Dich zum erstenmal er-
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„kannte, nahmst Du mich an Dich, a u f daß ich sah, es „sei w i r k l i c h , was ich sah, aber ich sei's noch n i c h t , „der es (dauernd) sehen könnte. Zurück blendetest 25 „Du meinen schwachen Blick durch Deinen mächtigen Strahl, „und ich erzitterte in Liebe und Schrecken. Und ich mußte „erkennen, daß ich (noch) ferne von Dir war im Lande der „Unähnlichkeit, und mir war darum, als hörte ich aus der „Höhe Deine Stimme: Ich bin die Speise der Erwachsenen; 30 „wachse, und du wirst mich genießen; aber nicht wirst du „mich in dich verwandeln wie die leibliche Speise, sondern „du wirst in mich verwandelt werden. Und ich erkannte, „,daß Du die Menschen in die Lehre genommen, wie ihre „Sünde es verdient hat, und auch meine Seele hast ver35 „schrumpfen lassen wie ein Spinngewebe', und ich sprach: „Ist denn die Wahrheit nichts, weil sie weder im begrenzten „noch im unbegrenzten Räume ausgedehnt ist? Und da erscholl mir Deine Stimme zwar von ferne her, aber laut: „Dennoch, dennoch — , I c h bin der, der da i s t ' ! Und 40 „ich hörte es, wie man mit dem Herzen hört, und von nun „an war nichts mehr, was mich zum Zweifeln bringen „konnte, und eher h ä t t e ich zweifeln mögen, daß ich „lebe, als d a r a n , daß es eine W a h r h e i t gebe, ,die „durch und aus dem G e s c h a f f e n e n e r k e n n b a r und 45 „ s i c h t b a r ist'. „Und ich schaute nach all den Dingen, die unter Dir „stehen, und ich sah in ihnen weder ein völliges Sein, noch „auch ein völliges Nichtsein — ein Sein, weil sie von Dir „sind, ein Nichtsein, weil sie nicht sind, was Du bist. Denn 50 „das allein ist wahrhaft wirklich, was unveränderlich bleibt. „,Mir aber ist G o t t - A n h a n g e n das G u t e ' ; denn „wenn ich n i c h t in I h m bleibe, so kann ich auch „ n i c h t in mir bleiben. „Und zur Klarheit wurde es mir gebracht, daß alles, 55 „was der Verderbnis fähig ist, gut ist — nicht das höchste „Gute, sonst könnte es der Verderbnis nicht unterliegen, aber
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„doch gut, denn sonst könnte es nicht verschlechtert werden. „Also ist alles, was ist, gut, und das Schlechte ist keine „Substanz, weil es, wäre es eine Substanz, etwas Gutes wäre. „Und so ist an Dir gar nichts Schlechtes, und nicht bloß „an Dir nicht, sondern auch an Deiner ganzen Schöpfung „nicht. Weil aber im einzelnen manches nicht mit anderem „harmoniert, so sieht man darin etwas Schlechtes. Doch „harmoniert es dafür mit anderem, und so ist es gut und „auch an sich selbst ist es gut. Es harmoniert unter sich „in dem niederen Teil Deiner Schöpfung, und so sei es „denn ferne von mir, zu sagen: Möchte doch diese niedere „Schöpfung nicht existieren; denn ich erkannte, daJ3 das „Höhere besser sei als das Niedere, daß aber alles zusammen „besser sei als das Höhere allein. „So war es also! Stufenweise hatte ich mich erhoben „von den Körpern zur Seele und von ihr zu ihrem inneren „Vermögen und von diesem zu dem Denkvermögen und „darüber hinaus bis zur Erkenntnis des Unveränderlichen. „ U n d m e i n e E r k e n n t n i s g e l a n g t e zu d e m , w a s i s t , „ i n e i n e m A u g e n b l i c k z i t t e r n d e r A n s c h a u u n g . Da „nun ,erkannte und schaute ich Deine Unsichtbarkeit in und „aus dem Geschaffenen'; aber nicht vermochte ich meinen „Blick fest darauf zu heften, sondern meine Schwäche ließ „sich zurückstoßen, und so fand ich mich wieder im Gewohnt e n und nahm nichts davon mit als die liebende Erinnerung „daran, wie den Wohlgeruch einer Speise, die man noch „nicht genießen kann . . (Augustin, Bekenntnisse, VII, 10ff.) In einem doppelten Zwiespalt rang in unabläßlicher Arbeit Augustin seit seinem achtzehnten Lebensjahr. Der eine war der Zwiespalt zwischen der katholischen Religion, in der er erzogen war, und der Art seiner Lebensführung. Der andere füllte seine ganze Seele und erfüllte sie mit Unruhe und steigender Friedelosigkeit bis zur Verzweiflung. Es
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war, wie man zu sagen pflegt, ein „rein theoretischer" Zwiespalt: er suchte nach dem Dauernden, Bleibenden, Ewigen, er suchte nach dem W i r k l i c h e n , und er fand überall nur Hohles und Vergängliches und daher eine s c h l e c h t e Welt. „Wahrheit, Wahrheit, wie innig seufzte das Mark meiner Seele nach d i r ! " Millionen von Menschen wandeln über diese Erde, kommen und verschwinden. Sie alle haben ihre Unruhe und ihren Kampf. Aber wie viele sind unter ihnen, die sich klar sind, daß aller Kampf schließlich um das wahrhaft Wirkliche geht? Die wenigen, die bewuß't bis zu diesem Kern der Dinge vordringen, sind die Führer der Menschheit und ihre heimlichen Könige. Sie suchen in der Zeit das Ewige, und all ihr Suchen und Streben gilt diesem verborgenen Schatz im Acker der Zeit. Und sie finden ihn, ein jeder in seiner Weise; denn „wer da suchet, der findet". Sie suchen in der Zeit das Ewige — auf vielen Pfaden kann es gesucht werden, weil es, immer dasselbe, doch zahlreiche Gestalten hat. Man kann es suchen als das Gute gegenüber dem Schlechten, als das Heilige gegenüber dem Gemeinen, als das Schöne gegenüber dem Häßlichen, und als das ewig Wahre, das Wirkliche, gegenüber dem vergänglichen Schein. Aber keiner kann es suchen ohne den tiefen Drang, den Schranken zu entfliehen, die ihn umgeben, und ohne die brennende Liebe, mit der er schon das nur Geahnte und erst zu Findende umfaßt. Als das Wirkliche, gegenüber dem vergänglichen Schein — die, welche das Ewige s ο suchen, das sind die seltensten. Eine besondere Anlage des Geistes gehört dazu, wie sie nur wenigen gegeben ist. Aber die, denen sie gegeben ist, empfangen, wenn sie gefunden haben, einen doppelten Besitz und ein doppeltes Entzücken; denn mit dem neuen ewigen Gute empfangen sie ein Licht, dessen Strahlen rückwärts den ganzen Weg erhellen, den sie gewandelt sind, und alle die Gebiete aufklären, durch welche sie gegangen sind. Auch
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die Welt des Vergänglichen wird ihnen nun klar und schön, und ihre Rätsel drücken sie nicht mehr. Sie sehen nun den Abglanz des Wirklichen auch in dem farbigen Schein und gewahren staunend den Anteil, den auch die Zeit an der Ewigkeit h a t ! So war Augustin, und so war sein Ringen. Auf den Wegen Ciceros und auf den Wegen materialistischer Dualisten und auf den Wegen der Skeptiker war er gewandelt, und immer war intellektuelle und seelische Enttäuschung das Ende. A b e r d e r Z w e i f e l a m Z w e i f e l ö f f n e t e e i n e n e u e P f o r t e , und in diesem Momente kamen ihm die Bücher der Platoniker in die Hände. Unter ihrer Führung gestaltete sich die Erfahrung, d. h. die Betrachtung der Welt, zu einer großen Pyramide, in der die je folgende Schicht die zugrunde liegende beherrscht — vom Körper zur Seele, von der Seele zum Geiste, von den niederen Geisteskräften zu den höheren. Immer reiner und heller wurde die L u f t auf jeder neuen Stufe des Aufstiegs und immer wertvoller das, was hier begegnete; aber den Stempel des n o t w e n d i g S e i e n d e n trug noch nichts, und nichts goß die K r a f t des Ewigen in die Seele des Aufsteigenden und Betrachtenden. Zum letzten schien er nun gekommen zu sein; nun war eine weitere Stufe nicht mehr möglich; Großes und Reiches hatte er erlebt, erlebte er dort, wo er nun stand, aber das Sublimste, was er schaute, war noch immer kein Ewiges, weil kein Dauerndes. Auch hier hörte er noch dasselbe Wort, das er schon vernommen, als er noch unten im Tale stand: „Wir kommen und wir vergehen; wir haben uns nicht selbst gemacht; wir sind nur wie ein Tropfen am Eimer!" Da, im Momente leidenschaftlichsten Höherstrebens und der gespanntesten inneren Betrachtung, wo doch kein Weg mehr winkte und der F u ß gefesselt war, erblickte das Auge ein Licht; nicht das leibliche Auge, aber der Seele war es so gegenständlich wie ein körperliches Licht. Sie sieht plötzlich so sicher, wie das leibliche Auge zu sehen gewohnt
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ist, das wahrhaft Wirkliche, erkennt es in derselben Schauung als das Ewige, als die Wahrheit und als die Liebe, und hört es sprechen: „Ich bin es, der da ist". Nur e i n e n Moment dauerte diese Schauung, und wieder fand sich Augustin im Gewohnten, „im Lande der Unähnlichkeit", schmerzlich empfindend: „ D u gleichst dem Geist, den Du begreifst". Aber das, was er erlebt hatte, konnte ihm niemand mehr entreißen und niemand umstoßen; denn es war kein Gedanke, sondern eine E r f a h r u n g . „Eher hätte ich zweifeln mögen, daß ich lebe, als daran, daß es eine Wahrheit gebe, die in und aus dem Geschaffenen erkennbar und sichtbar ist." Die W i r k l i c h k e i t eines alle Zeit beherrschenden Ewigen, d i e W i r k l i c h k e i t des I d e a l s , war ihm gegenständlich sicher geworden. Was hat er hier erlebt? Die, welche Geschichte kennen, glauben es zu wissen: er hat eine ekstatische Schauung erlebt nach dem Rezept platonischer Philosophen. Vor ihm hatten schon andere dasselbe erlebt. Das ist richtig und nicht richtig. Richtig ist, daß das, was sich hier abgespielt hat, von meditierenden Philosophen auf Grund eines schulmäßig vorgeschriebenen Exerzitiums der Seele ähnlich erlebt worden ist, und daß es wahrscheinlich noch heute von jedem ähnlich erlebt werden kann, der fähig ist, sich den Bedingungen dieses Exerzitiums zu unterwerfen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Die, welche es damals erlebt haben und heute noch erleben können, waren keine Augustine; sie exerzierten, indem sie schon im voraus an das glaubten, was sie gegenständlich zu erleben hofften, und was sie aus der Schauung davontrugen, griff auch nicht so umgestaltend in ihr Leben ein. Augustin erlebte es, wie Paulus den Tag von Damaskus erlebte. Es kam über ihn wie eine plötzliche Offenbarung, und er wurde nach dieser Erfahrung intellektuell ein neuer Mensch. Vorher war er ein Skeptiker, von jetzt ab war er ein wissender Gläubiger; vorher war er voll Unruhe, von jetzt ab goß sich Ruhe in seine Seele. E r hatte
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Gott gefunden. Ewigkeit, Liebe und Wahrheit strahlten ihm in eins entgegen — nicht als die Erzeugnisse seiner Gedanken, sondern als ein Licht, welches seine dunklen Gedanken zu freudiger und sicherer Erkenntnis umschuf. „Mir ist Gott Anhangen das Gute; denn wenn ich nicht in Ihm bleibe, so kann ich auch nicht in mir bleiben", so lautet fortan sein Grundbekenntnis. Aber es erheben sich hier zwei Fragen. H a t Augustin richtig in seinen Konfessionen erzählt, und wie soll man darüber urteilen, daß eine ekstatische Schauung einen solchen Umschwung bewirkt hat? Ist das Erzählte etwa nur ein Höhepunkt im Drama der Konfessionen und nicht auch ein Höhepunkt in der inneren Entwicklung Augustins? Die Frage kann mit Sicherheit beantwortet werden. Die Schauung ist tatsächlich so gewesen und sie hat auch die Bedeutung f ü r Augustin gehabt, die er ihr beilegt. Der Beweis dafür ist sehr einfach: die Schauung ist, als er mehr als zwölf Jahre später die Konfessionen schrieb, von ihm in ihrer Bedeutung nicht mehr ganz so hoch eingeschätzt worden wie damals, als er sie erlebte. Ich kann das hier nicht nachweisen, aber sobald man im Texte der Konfessionen weiter liest, als oben mitgeteilt, wird das völlig offenbar. Er weist hier Grenzen des Erfolges jener Schauung nach, an die er damals gar nicht gedacht hat — aus dem einfachen Grunde, weil seine Christlichkeit, auf die Lehre gesehen, damals noch eine viel schwächere war als später. Er hebt in den „Bekenntnissen" aufs stärkste die Schranken hervor, in denen ihn die Schauung noch gelassen hat 1 ) — Schranken, die er, als er sich mit den Platonikern beschäftigte, noch nicht im mindesten empfand. 1
) „Aber von Christus, meinem Herrn, dachte ich damals noch wie von einem Menschen von erhabener Weisheit . . . Ich sah damals nur das Ziel, nach welchem man streben muß, aber den W e g dahin sah ich nicht, den Weg nach jenem glückseligen Vaterland, d a s m a n n i c h t n u r s c h a u e n , s o n d e r n a u c h b e w o h n e n s o l l . . ., denn ein
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Wie konnte eine ekstatische Schauung einen solchen Umschwung bewirken? Nun zunächst, so kann nur fragen, wer da glaubt, die Wege Gottes sämtlich zu kennen, und wer von der Verschiedenheit der Zeiten nichts weiß. Wer aber ehrfürchtig betrachtet, auf wie vielerlei Wegen Menschen aus der Zerspaltung zur Einheit, aus dem Tändeln zum Ernst, aus der Leere zu Gott geführt werden, und wer dazu erwägt, wie sich in bezug auf Visionen und Zeichen die Zeiten geändert haben, der fragt nicht so. Sodann aber: die Schauung war keine isolierte Schauung und kein isoliertes Erlebnis: sie w a r n u r d i e l e t z t e S p i t z e d e r i n n e r e n A n e i g n u n g des P i a t o n i s m u s . Die Philosophie Piatos war es, die Augustin kennengelernt und in sich aufgenommen hatte, jene Philosophie, die in den Händen der späten Schüler Piatos wahrlich nicht nur Verschlechterungen, sondern auch Vertiefungen erfahren hatte. Plato aber mit seinem tiefen Auge 13t nicht nur f ü r den einzigen Augustin ein Führer zum Ewigen geworden, sondern auch f ü r zahlreiche andere. Schon im zweiten Jahrhundert haben Christen seine Philosophie nacherlebt und freudig bekannt, was sie ihm schuldig geworden sind. Endlich aber: Augustin war sich bewußt, in der Schauung Gott als Wirklichkeit erfahren zu haben: nun, hinter diesem Bewußtsein stand nicht nur Plato, sondern auch alles das, was er von Kindheit an von dem lebendigen Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde und dem Vater Jesu Christi erfahren hatte. Gewiß, er wußte es damals noch nicht und bedachte es nicht. Aber wir erkennen, daß in das Erlebnis seiner Seele diese Erinnerungen vertiefend und belebend eingegriffen haben. Der, der ihm andres ist es mit den Piatonikern vom waldigen Gipfel die Heimat des Friedens zu schauen, jedoch den Weg dahin nicht zu finden und vergebliche Vorstöße auf unwegsamen Pfaden zu machen, wo ringsum Fahnenflüchtige und Überläufer lauern, und ein anderes ist es, den Weg sicher zu gehen, der in das Land des Friedens führt und der von dem himmlischen Herrscher selbst gesichert ist."
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zurief: „Ich bin es, der da ist", war nicht nur der Gott Piatos, dessen Erfahrung den Aufstieg der Seele krönte, sondern es war auch der lebendige Gott, von dem die Sänger der Psalmen gezeugt haben, deren Gesänge er kannte. Er hat Plato, ohne es zu wissen, immer schon unter biblischen Einflüssen gelesen. Und nun bitte ich die Leser, Augustins eigene Worte — sie gehören auch als Beschreibung eines unbeschreiblichen Vorgangs zu dem Größten, was geschrieben worden ist — noch einmal zu lesen. Zu dieser zweiten Lektüre seien noch einige Worte gestattet. Ζ. 1 ff. u. Z. 71 ff. Der platonische A u f s t i e g der Seele aus der Sinnenwelt zu den reineren Sphären ist zugleich immer ein A b s t i e g in die Tiefen der eigenen Seele, also eine prüfende E i n k e h r . I n diesem Ineinander aufsteigender Welterkenntnis und vertiefter Seelenerforschung, in dieser parallel fortschreitenden objektiven und subjektiven Sublimierung liegt die Eigentümlichkeit dieser Meditation beschlossen. Die Doppelbetrachtung verläuft wie die beiden Kurven einer Hyperbel verlaufen: sie streben auseinander, um sich im Unendlichen zu treffen; sobald sie dort eintreten, sind sie vereint, d. h. das Ich findet als letztes in sich dasselbe ewig Wirkliche, welches die Pyramide der Erfahrungswelt auswirkt und beherrscht. Hier enthüllt sich der Kern dieser Mystik und aller Mystik: das A l l - E i n e , wie es in Subjekt und Objekt dasselbe ist. Z. 7 ff. Das Erlebnis wird von Augustin, wie vor ihm und nach ihm von anderen, als Lichtempfindung beschrieben; aber ganz deutlich wird gesagt, daß es keine leibliche Lichtempfindung war. Augenscheinlich gab es keine bessere Vergleichung. Z. 15. „Weil es mich geschaffen h a t " : ob Augustin schon damals so empfand oder erst, als er die „Bekenntnisse" schrieb ?
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Ζ. 16 ff. Wahrheit, Ewigkeit und Liebe ist der dreieinige Inhalt des beharrlichen Seins, ist Gott. Z. 22 ff. Was er damals .als Platoniker schmerzlich empfand, daß die Schauung nur einen Moment dauerte, hat er später als notwendig eingesehen, da wir, solange wir auf Erden sind, nicht im Lande des Schauens sein können. Z. 28 ff. Diese erste Stimme, die er „hört", war seine eigene D e u t u n g des erlöschenden Vorgangs, worüber er auch den Leser nicht in Zweifel läßt. Sie steht nicht am richtigen Ort innerhalb der Schilderung, sondern müßte erst später kommen, und sie wirkt hier daher störend und frostig; aber sie gehört nicht erst der Zeit der „Bekenntnisse" an, sondern der Zeit des Erlebnisses selbst. Sie ist streng mystisch. Z. 32 ff. Diese Reflexion auf die Sünde ist von der späteren Erkenntnis Augustins her eingemischt. Z. 39 ff. Das war der Kern des Erlebnisses. Die Worte Ego sum, qui sum, dürfen nicht übersetzt werden: „Ich bin, der ich bin", sondern: „Ich bin, der da ist". Um den alttestamentlichen Spruch benutzen zu können, hat Augustin die inkorrekte Fassung seines Gedankens in den Kauf genommen. Z. 42. „Eher hätte ich zweifeln mögen, daß ich lebe" — wie klar erscheint hier das Ineinander des Objektiven und Subjektiven (s. o.) ! Z. 46 ff. Die Erkenntnis eines relativen Seins der Dinge, d. h. eines Anteils am Sein, und deshalb die Erkenntnis des Ewigen in der Zeit, ist die erste weitere Folge der Schauung. Z. 54 ff. Die Erkenntnis, daß alles, was ist und sofern es i s t , gut ist, ist die zweite weitere Folge der Schauung. Z. 62 ff. Die Erkenntnis, daß alles, was ist, bis zum Niedersten hin eine große Harmonie bildet, ist die dritte weitere Folge der Schauung. In diesen drei Erkenntnissen
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ist die Versöhnung, mit der Welt, soweit Augustin eine solche möglich war, und die Aufhebung des Dualismus gegeben. Aber die eigentliche Befreiung lag f ü r Augustin nicht hier, sondern in der Überwindung des Skeptizismus, sie lag in dem Wort: „Dennoch, dennoch —- I c h b i n d e r , d e r da i s t . " — — Vielleicht mutet den heutigen Leser dies alles ganz fremd und unverständlich an. Aber es ist doch mindestens der Mühe wert, zu erfahren und darüber nachzudenken, wie der f ü r ein Jahrtausend einflußreichste Mann sich selbst und seinen Gott gefunden und wie er bei aller Weltflucht ein festes und positives Verhältnis zur Welt gewonnen hat. 3.
Der zweite Höhepunkt im Drama der inneren Entwicklung Augustins. [Die Erzählung von einem berühmten Lehrer in Rom, Victorinus, der eine glänzende Stellung aufgegeben hatte und Christ geworden war, hatte Augustin tief erschüttert.]
„Dieser Lehrer hatte gefunden, wonach ich seufzte, ganz „sich Dir hinzugeben. Aber ich war gebunden, nicht mit ,,einer eisernen Kette, sondern geschlagen in die eisernen „Bande meines eigenen Willens . . . Der neue Wille, der „in mir keimte, war noch nicht imstande, den früheren „altersstarken Willen zu überwinden. Zwei Willen hatte „ich nun, und sie zerrissen meine Seele! So begriff ich das „Wort, welches ich gelesen hatte, , w i e d a s F l e i s c h w i d e r „den Geist b e g e h r e , u n d der Geist w i d e r das „ F l e i s c h ' , begriff es, weil ich es an mir selber erfuhr. „Mein Ich steckte in beiden Willen, aber in höherem Grade „doch schon in dem Willen zum Guten. I n dem Willen zum „Bösen war ich es eigentlich schon nicht mehr, da ich es „mehr wider meinen Willen duldete, als mit meinem Willen „tat. Allein die Gewohnheit, die wider mich kämpfte, war „durch mich selbst so stark geworden, und so war ich doch
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„durch meinen Willen dahin gekommen, wohin ich nicht „kommen wollte. Die Entschuldigung gab es aber f ü r mich „nicht mehr, daß die TJngewißheit in der Erkenntnis der „Wahrheit mich hindere, die Welt zu verachten und Dir zu „dienen; denn die Wahrheit war mir bereits gewiß. An die „Erde vielmehr war ich gebunden und fürchtete die Bef r e i u n g von ihrer Last so sehr, wie ich die Belastung hätte „fürchten sollen ! Sanft lag diese Last der Welt auf mir, wie „auf einem Träumenden, und die Gedanken, welche ich „sinnend auf Dich richtete, glichen dem Bemühen derer, die „sich aus dem Schlafe aufraffen wollen, aber von der Tiefe „des Schlummers überwältigt, immer wieder zurücksinken. „Von allen Seiten hattest Du mir gezeigt, daß Dein Wort „die Wahrheit ist, aber, obgleich von ihr überzeugt, wußte „ich Dir doch durchaus keine andere Antwort zu geben als „die säumigen, träumigen Worte: ,Gleich, gleich ! Laß mich „nur noch ein wenig träumen!' Doch das ,Gleich, gleich' „nahm kein Ende, und das ,Noch ein wenig' zog sich in die „Länge! „Wie Du mich doch aus den Fesseln der Begier nach „der Umarmung des Weibes, die mich so fest umschlungen „hatten, und aus der Knechtschaft des weltlichen Berufs „befreit hast, das will ich nun erzählen und Deinen Namen „preisen, Herr mein Helfer und mein Erlöser. [Ein afrikanischer Landsmann Pontitianus kam aus Trier, wo er ein hohes Hofamt bekleidete, zu Augustiii und seinen Freunden. Er sah auf dem Tische die Briefe des Paulus liegen und freute sich darüber; dann erzählte er ihnen in flammenden Worten, wie dort in Trier zwei junge Eegierungsassessoren auf einem Spaziergang zufällig in einer Hütte auf die Lebensbeschreibung des großen Mönchsvaters Antonius gestoßen seien und diese Lektüre sie so erschüttert habe, daß sie sich augenblicks entschlossen, ihre Laufbahn aufzugeben und sich dem mönchischen Leben zu widmen; auch ihre beiden Bräute seien ihnen alsbald in demselben Entschlüsse gefolgt.]
„So erzählte Pontitianus. Du aber, Herr, stelltest mich, „während er so sprach, mir selbst gegenüber und zogst mich
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„hinter meinem Rücken hervor, wohin ich mich versteckt „hatte, weil ich mich nicht selbst sehen wollte. Du stelltest „mich vor mein Angesicht, auf daß ich sähe, wie häßlich ich „wäre, wie mißgestaltet und schmutzig, voll Flecken und voll „Geschwüren. Ich sah's und entsetzte mich, aber da gab's „kein Ausweichen! Und wenn ich meinen Blick von mir „abzuwenden versuchte, so stand die Erzählung jenes Mannes „vor mir, und wiederum stelltest Du mich mir gegenüber. „Gewaltsam zwangst Du mich, mir ins Auge zu sehen, , a u f „ d a ß i c h m e i n e B o s h e i t s ä h e u n d h a ß t e ' . Ich kannte „sie wohl, aber ich verhehlte sie mir, ließ sie gehen und ver„gaß sie . . . „Pontitianus ging weg; ich aber, was habe ich da nicht „alles zu mir in mir selbst gesprochen! Wie haben nicht „meine Gedanken meine Seele sozusagen mit Geißeln geschlagen, auf daß sie mir folge bei dem Versuche Dir nachz u f o l g e n ! Aber sie sträubte sich in Widerreden und fand „doch keine Ausrede! Alle ihre Gegenvorstellungen waren „ja erschöpft und widerlegt; nachgeblieben war ihr nur eine „furchtbare Angst, und wie vor dem Tode schauderte sie „davor, dem Strome ihrer Gewohnheit entrissen zu werden, „in dem sie doch dahinstarb. In diesem gewaltigen innerl i c h e n Ringen wende ich mich stürmisch an meinen gegenw ä r t i g e n Freund Alypius und r u f e : ,Was geschieht uns? „was ist das? was haben wir gehört? Die Ungelehrten stehen „auf und reißen das Himmelreich an sich, und wir mit „unserer Gelehrsamkeit sind feige und wälzen uns wo? — „in Fleisch und Blut!' Solches stieß ich hervor, ich weiß „nicht, was alles, und ich stürzte in den Garten, der zum „Hause gehörte, damit niemand den heißen Kampf störe, „dessen Ausgang nur Du kanntest; Alypius aber folgte mir „auf dem Fuße. Auch in seiner Gegenwart blieb ich mit „mir allein, und wie konnte er mich in solcher Gemütsverf a s s u n g verlassen ? Und so saßen wir, und ich rang in mir, „weil ich zugleich wollte und nicht wollte. Woher diese
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,Ungeheuerlichkeit, 1 ) und was soll sie: d e r G e i s t b e f i e h l t ,dem K ö r p e r , u n d er g e h o r c h t s o f o r t ; der G e i s t bef i e h l t s i c h s e l b s t , und er v e r w e i g e r t den G e h o r ,sam? Woher diese Ungeheuerlichkeit und wozu, wozu? ,Versuch auf Versuch, und es gelingt nicht! Jetzt wird's, ,jetzt wird's; schon steht der Fuß beim Entschluß, schon tat ,ich's fast — aber ich tat's n i c h t ! Nicht rückwärts, aber ,auch nicht vorwärts konnte ich mehr; an der Schwelle stand ,ich, hielt ein, atmete tief auf und zögerte doch, dem Tode ,zu sterben und dem Leben zu leben. Meine alten Freundinnen, alle die Gemeinheiten und Eitelkeiten, hielten mich ,zurück; sie stießen verstohlen an das Kleid meines Fleisches, ,zupften mich vom Rücken her und lispelten leise: ,Willst ,du uns wirklich entlassen; von diesem Augenblick an sollen ,wir wirklich in Ewigkeit nicht mehr bei dir sein?' Welchen ,Schmutz führten sie mir vor, welche Schändlichkeiten! ,Aber auch die keusche Würde der Enthaltsamkeit trat ,vor meine Seele mit all den Bildern reiner Männer und ,Frauen. „ I n diesem gewaltigen Sturm der streitenden Gefühle, ,in welchem aus dem inneren Abgrunde mein ganzes Elend ,heraufzog, brach ich in einen Strom von Tränen aus, und ,um ihn gewähren zu lassen, stand ich auf; denn auch die ,Gegenwart des Alypius vermochte ich nicht mehr zu erfragen. Unter einen Feigenbaum warf ich mich und ließ ,den Tränen ihren Lauf. Worte hatte ich nicht, aber der ,einzige Sinn der Klagen, die ich vor Dir ausschüttete, war: ,,Wie lange noch, wie lange? Morgen und immer wieder ,morgen! Warum nicht heute ? Warum soll nicht diese ,Stunde das Ende meiner Schmach sehen?' „Und siehe, da hörte ich aus dem Nachbarhause eine ,Stimme — war's Knabenstimme, Mädchenstimme, ich weiß ,es nicht —, die in singendem Tone immer wiederholte: *) monstrum.
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,,Tolle, lege; tolle, lege/ 1 ) Sogleich horchte ich a u f 2 ) und ,begann mit größter Aufmerksamkeit darüber nachzudenken, ,ob die Kinder bei irgendeinem Spiel etwas Derartiges zu ,leiern pflegen; aber ich entsann mich nicht, diese Worte ,jemals gehört zu haben. Ich unterdrückte die Gewalt der ,Tränen, erhob mich und war der Deutung gewiß, daß Gott ,mir befehle, das Buch zu öffnen und den ersten Abschnitt, ,der mir entgegentrete, zu lesen; denn ich hatte von Anton i u s gehört, daß er eine Schriftverlesung in der Kirche, in ,der er sich zufällig befand, als Mahnung auf sich bezogen ,hatte, nämlich das Wort: , G e h , v e r k a u f e a l l e s , was d u , h a s t , u n d g i b es d e n A r m e n , so w i r s t d u e i n e n S c h a t z ,im H i m m e l h a b e n , u n d k o m m u n d f o l g e m i r n a c h ' , ,und daß er auf diesen Gottesspruch hin sich sogleich zu ,Dir bekehrt habe. Daher kehrte ich eilends zu dem Ort ,zurück, wo Alypius noch saß; denn dort hatte ich das ,Buch des Apostels hingelegt, als ich aufgestanden war. ,Ich nahm es, öffnete es 3 ) und las schweigend den Abschnitt, ,auf den zuerst mein Auge fiel: , N i c h t i n F r e s s e n u n d , S a u f e n , n i c h t in K a m m e r n u n d U n z u c h t , n i c h t in ,Hader und S t r e i t ; s o n d e r n ziehet an den H e r r n , J e s u s C h r i s t u s u n d p f l e g e t n i c h t des F l e i s c h e s i n , s e i n e n G e l ü s t e n . ' Weiter wollte ich nicht lesen; es war 1
) Leider können wir diese Worte in ihrem Doppelsinn im Deutsehen nicht wiedergeben. Sowohl tollere als legere hat viele Bedeutungen; aber zusammengestellt bedeuten sie „den Anker lichten und das Tau aufwickeln". Wenn es also wirklich die Worte eines Kinderspiels waren, so spielten die Kinder vermutlich „Schiff", und tolle, lege war das Kommando des Kapitäns an den Matrosen. Doch macht die Wiederholung eine gewisse Schwierigkeit. Es kann auch sein, daß es sich um Steinchen gehandelt hat, die man auflesen und ordnen mußte. Augustins Verständnis der Worte — ein Buch aufnehmen und lesen — liegt nicht nahe, ist aber möglich. 2 ) Augustin sagt: mutato vultu. Ich übersetze: „horchte ich auf". ®) Selbst an dieser Stelle kann Augustin die Wortspiele nicht lassen: arripui, aperui.
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„auch nicht nötig; denn mit dem Schlüsse dieses Satzes „flutete alsbald ruhige Sicherheit wie ein Lichtstrom in mein „Herz, und alle Finsternisse der Unentschlossenheit verschwanden. Ich legte den Finger oder sonst etwas in das „Buch, schloß es und erzählte mit ruhiger Miene dem Aly„pius, was geschehen war . . . Also hast Du mich zu Dir bekehrt, daß ich fortan keine Gattin mehr begehrte noch „sonst etwas, worauf die Hoffnung dieser Welt gerichtet ist." (Augustin, Bekenntnisse, V I I I , 5 ff.) * * *
Man soll, wie überall, wo es sich um die Schilderung einer Lebenserfahrung handelt, nicht zuerst mit dem Kritisieren kommen, sondern sie auf sich wirken lassen. Das, was hier erzählt ist, ist sofort von seinen Schranken befreit, wenn man sich des tiefen Spruches erinnert: „Was nennst du denn Sünde?" Wie jedermann, Wo ich finde, daß man's nicht lassen kann,
und wenn man gedenkt, daß alles, was zur Befreiung stetig wirkt, seinen Zweck nur selten durch die Summation erreicht, sondern erst dann, wenn ein konzentrierendes Moment hinzutritt. Solche Momente, ebenso wie die „Anlässe" neben den Ursachen, haben stets etwas Zufälliges. Sie sind auch wirklich zufällig; aber daß sie eintreten, ist nicht zufällig: wäre es dieses nicht gewesen, so wäre es jenes; der nötige „Zufall" tritt ein. Endlich — je schwerer sich ein Mensch befreit, je tiefer rührt er unsere Menschlichkeit. Schwer genug hat sich Augustin befreit! Auf dem ersten Höhepunkte seiner inneren Entwicklung (s. o.) hat Augustin die W a h r h e i t gefunden, und sie wurde ihm nun nicht mehr zweifelhaft. Aber zu seinem heißen Schmerze mußte er erkennen, daß Sokrates Unrecht hatte, wenn er behauptete: „Wer das Gute kennt, der tut es auch." Er kannte es u n d t a t es n i c h t : es fehlte ihm die
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K r a f t . Nach ihr streckte er sich nun; denn Erkenntnis und Wille lagen im Zwiespalt oder vielmehr: Wille und Wille lagen im Kampf: er wollte und wollte doch nicht! Daß es so sei, diese „monströse" Zuständlichkeit, empfand er als furchtbare Fessel und Schmach. Die Worte des Apostels Paulus im Bömerbrief, in den er sich damals versenkt hatte, deckten ihm das allgemein Menschliche dieser seiner inneren Lage auf, aber erleichterten sie ihm nicht, sondern erschwerten sie noch. „Welch ein Abgrund ist doch der Mensch!" W i e A u g u s t i n zur K r a f t im G u t e n g e k o m m e n i s t , das erzählt er uns. „Du hast meine Fesseln zerrissen; laß mich Dir darbringen das Opfer des Lobes. Wie Du sie zerrissen hast, will ich nun erzählen" — mit diesen Worten beginnt das entscheidende 8. Buch. Bis dahin saß er noch immer mit seinen beiden Freunden im Lande des Elendes trotz der Wahrheitserkenntnis: „Man sah drei Darbende, die sich ihre Dürftigkeit gegenseitig mitteilten und von Dir erwarteten, ,daß Du ihnen Speise gäbest zu seiner Zeit'" (VI, 10). Wie hat er die K r a f t erhalten? E i n z i g d u r c h B e r ü h r u n g m i t p e r s ö n l i c h e m Leben, das i h n in sich h i n e i n z o g ! Dadurch wird seine Bekehrung zum großen Paradigma! Die Mutter spielt n a c h w e i s b a r keine Bolle; aber wer will die K r a f t ermessen, die von Augustins Kindheit an von ihr ausging? Auch jetzt war, nach der Bekehrung, sein erster Gang zur Mutter, die ihm nach Mailand nachgezogen war. Aber d i r e k t hat sie dem Sohne, dessen Geistesflug längst über sie hinweggegangen war, in seinen Nöten schwerlich etwas helfen können. Auch Ambrosius und der ehrwürdige Simplizianus, ein Mailänder Priester, der schon dem Ambrosius ein geistlicher Vater geworden war, haben nicht entscheidend auf seinen Willen gewirkt, so nahe die Predigten des Bischofs ihm die
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Wahrheit der katholischen Lehre gebracht haben und so stark die ganze Sphäre der Kirche, der er in Mailand so viel näher gekommen war, ihn nun umflutete. Entscheidend waren für ihn einzig Victorinus und jene trierischen Assessoren ! Persönlich hat er sie zwar nicht gesehen, aber die Erzählungen von dem, was sie erlebt und getan, wirkten auf ihn, als ob es sich vor seinen Augen abgespielt hätte! So kann vergangene Geschichte zur Gegenwart und zum Erlebnis werden, und wird es noch fort und fort! Und an der Person wird die K r a f t , mit der sie gehandelt hat, zu einer neuen K r a f t f ü r andere, fortwirkend über Raum und Zeit. An der Berührung mit überragenden Personen hängt jeder sittliche Fortschritt, ja schon die Geburt des Sittlichen. Das ist die höhere Zeugung in der Welt der guten Geister! Das Gute, wie Augustin es nötig hatte und wie es in jener Zeit den meisten allein zugänglich war, war nur durch einen scharfen Schnitt erreichbar. Die Willensentscheidung f ü r Gott hing davon ab, daß er j e d e r geschlechtlichen Verbindung und daß er seinem weltlichen Beruf entsagte. War das ein Irrtum, oder ist es vielmehr vorbildlich? Es war gewiß kein Irrtum für ihn, vorbildlich f ü r alle Zeiten ist es jedoch nicht. Vorbildlich ist es nur da, wo man sonst aus der Erotik als dem Mittelpunkt des Lebens und aus der weltlichen Eitelkeit nicht herauskommt — v o r a u s g e s e t z t , daß die A s k e s e w i r k l i c h h i l f t und das Ü b e l n i c h t noch ä r g e r m a c h t . Augustin hat sie geholfen; der Mehrzahl hilft sie nicht. In einer langen, schweren Schule hat die Christenheit das gelernt, bis es in Luther zum Durchbruch kam. Und von Luther und der protestantischen Ethik kann man nicht sagen, daß sie die eine Erotik durch die andere vertauscht habe, die niedere durch die Gottes-Erotik. Selbst von Augustin läßt sich das nicht sagen. Zwar schwingen einige Töne der Gottes-Erotik bei ihm zeitlebens mit; aber sie sind nur Untertöne: Glaube, Liebe und Hoffnung, in eine Einheit zusammengefaßt, bilden den Kern seines inneren
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Lebens, und sie haben nichts Erotisches. In der evangelischen Ethik vollends tilgt d e r f r e u d i g e K i n d e s s i n n des G l a u b e n s alle religiöse Erotik aus und läßt eben deshalb die natürliche Erotik, in Zucht genommen, bestehen. Die Allerneuesten belehren uns freilich darüber, daß das unnatürlich und irreligiös zugleich sei und schließlich auf einer Täuschung beruhe. Sie wollen uns wieder zur erotischen Mysterienreligion zurückführen. Ob diese mehr naturalistisch oder mehr seraphisch vorgestellt wird, ist im Grunde ziemlich gleichgültig. Die Zumutung, die sie an uns stellen, bedeutet — darüber darf kein Zweifel herrschen — die Auflösung der Grundlagen und der gesamten Entwicklung der evangelischen Ethik und ebenso ihrer Ziele, ja noch mehr: auch die Auflösung des besten Inhalts der katholischen Ethik. Sie f ü h r t direkt ins „Heidentum" zurück, weil sie selbst „heidnisch" ist. Die Religion, wie sie sein soll, hat nichts mit Erotik zu tun und nichts mit Askese. „Ein feste Burg ist unser Gott" — welchen Sinn kann hier das Liebesspiel haben und sein Schatten, die Askese? Daß sie beide zurückgeworfen werden, wohin sie gehören, um dort in Zucht genommen zu werden, und daß die Naturreligion, Gott im Rausche oder in der Selbstverstümmelung zu erleben, besiegt werde — dieser Kampf müßte einfach aufs neue beginnen, wenn es je gelingen sollte, die sittliche Entwicklung um zweitausend Jahre zurückzuwerfen. Innerhalb dieser Entwicklung gebührt Augustin eine hohe Stelle. Er selbst mußte noch zum Mönche werden, indem er K r a f t in Gott gewann; aber alsbald begann er damit, aus seiner Erfahrung heraus Glaube, Liebe und Hoffnung als das Wesen der Frömmigkeit herauszuarbeiten und damit die sinnlich-übersinnlich-asketische Frömmigkeit ins Wanken zu bringen. Über das tolle, lege läßt sich wenig sagen. Wie ein Gotteswunder hat er es betrachtet, hatte ein Recht, es so zu
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betrachten, drängt aber seinen Lesern nichts auf. Daß er die Aufforderung zu „lesen" als Aufforderung, ein Bibeloraltel zu suchen, verstanden hat, wird durch die Erzählung vom heiligen Antonius, der er gefolgt ist, gemildert. Der Versuch konnte mißglücken, wenn sein erster Blick auf eine ungeeignete Stelle gefallen wäre. Aber wer wird glauben, daß er dann „unbekehrt" geblieben wäre? Die Kräfte, die er schon gewonnen hatte, wären sicherlich doch zum Durchbruch gekommen, und zwar in Kürze; denn das Werk Gottes war erfüllt. 4.
Die letzte „ S c h a u m i g " Augustins. („Bekenntnisse", Buch IX Kap. 10.)
„Als aber der Tag nahte, an dem meine Mutter aus „diesem Leben scheiden sollte — Du kanntest ihn; wir „kannten ihn nicht —, da geschah's, wie ich fest glaube „durch Deine geheime Fügung, daß ich und sie allein an „einem Fenster standen, von dem man in den Garten des „Hauses sah, das wir bewohnten, dort in Ostia, wo wir fern „von allem Geräusch nach den Beschwerden einer langen „Landreise f ü r die bevorstehende Seefahrt Kräfte sammelten. „Allein also, redeten wir miteinander in süßester Rede, und „wir ließen das V e r g a n g e n e h i n t e r uns und streckt e n u n s n a c h d e m , w a s v o r u n s l a g , und befragten uns „in Gegenwart der Wahrheit, die Du bist, wie wohl das „ewige Leben der Heiligen sein werde, d a s k e i n A u g e „ g e s e h e n u n d k e i n O h r g e h ö r t h a t u n d d a s in k e i n e s „ M e n s c h e n H e r z g e k o m m e n ist. Sehnsuchtsvoll öffneten „wir den Mund unseres Herzens nach dem himmlischen „Wasser Deines Quells, des Lebensquells, der bei Dir ist, auf „daß wir, soviel möglich, von ihm benetzt, einen so erhabenen „Gegenstand, sei es auch nur irgendwie, zu bedenken ver„möchten.
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„Und als unsere Rede zu dem Ende gelangt war, daß „auch die höchste Lust der Sinne im goldensten Glänze des „irdischen Lichts vor der Freude jenes Lebens nicht einmal „einer Erwähnung, geschweige denn einer Vergleichung „würdig erschiene, da erhoben wir uns in brennenderer Sehns u c h t zu dem, was wirklich ist, und wir durchschritten „stufenweise die ganze Körperwelt und den Himmel selbst, „von wo Sonne, Mond und Sterne auf die Erde herableuchten. „Und weiter noch stiegen wir, indem wir vom Innern aus „Deine Werke bedachten, besprachen und bewunderten. „Und wir kamen zu unseren eigenen Seelen, und auch sie „ließen wir hinter uns, auf daß wir bis zur Grenze jener „Region unversieglicher Fülle kämen, wo D u I s r a e l w e i „ d e s t ewiglich mit der Speise der Wahrheit, dort, wo das „Leben mit der Weisheit zusammenfällt, durch die alles ist „und alles war und alles sein wird; aber sie selbst wird nicht, „sondern so ist sie, wie sie war, und so wird sie immer sein, „ja Vergangenes und Werdendes ist nicht in ihr, sondern „nur das Sein, da sie ewig ist; denn Vergehen und Werden „sind nicht ewig. Und während wir redeten und nach ihr „lechzten, da kamen wir im vollen Drang unseres Herzens „in etwas an sie heran, und wir seufzten auf und ließen bei „ihr unsere Seufzer als gebundene E r s t l i n g s g a r b e n des „ G e i s t e s , und wir kehrten zu den Lauten unseres Mundes, „zu den anhebenden und verhallenden Worten, wieder zu„rück. Wie anders ist Dein ,Wort', das da unser Herr ist; „es bleibt in sich ohne zu altern und doch alles erneuernd! „Wir sprachen also: Wenn der Sturm des Fleisches in „einem schwiege, wenn schwiegen alle Vorstellungen von „Land, Wasser und Luft, wenn auch das Himmelsgewölbe „schwiege, wenn die Seele selbst sich schwiege und, sich „selbst nicht mehr denkend, sich über sich erhöbe, wenn die „Träume und alle Vorstellungsbilder schwiegen, jegliche „Zunge und jegliches Ausdrucksmittel und alles, was da „kommt und geht, wenn so einem alles schwiege — denn
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„wer sie zu hören versteht, dem sagen sie allesamt nur: „ , N i c h t w i r s e l b s t haben uns g e s c h a f f e n , s o n d e r n „ g e s c h a f f e n hat uns der, der da b l e i b t in E w i g k e i t ' , „und dann verstummen sie —, und wenn sie nun schweigen „und so unser Ohr zu ihrem Schöpfer lenken, und wenn nun „Er allein redete, nicht durch sie, sondern durch sich selbst, „also daß wir Sein Wort hören, nicht durch eines Menschen „Zunge, nicht durch eines Engels Wort, nicht im Donner „einer Wolke, nicht in einem abschattenden Rätsel, sondern „wenn wir Ihn selbst vernähmen, den wir in dem, was da „ist, lieben, Ihn selbst hören ohne dieses alles, so wie wir „uns soeben erweitern und in reißendem Gedankenflug die „ewige Weisheit, die über allem bleibt, berühren, und wenn „dann dies dauerte und die anderen Schauungen ganz ung l e i c h e r Art verschwänden und nur diese e i n e den Schau„enden fortrisse, verschlänge und in die Fülle der inneren „Freude versenkte, also daß das zu einem immerwährenden Leben würde, was dieser Augenblick der Erkenntnis, dem „wir nachseufzten, war — wäre da nicht das Wort erfüllt: „ , G e h e e i n zu d e i n e s H e r r n F r e u d e ' ? " (Augustin, Bekenntnisse, IX, 10.) Wer vermag diese Aussprache ohne innere Bewegung zu lesen ? Der eingepflanzte Zug zum Ewigen hat hier einen tief erschütternden Ausdruck gefunden. Ist's nicht, als schöben sich im eigenen Herzen starre Riegel auseinander und die niedergehaltene und gefangene Sehnsucht dringe hervor und breite weit ihre Flügel aus? Sie will zum Urquell, zum Born des Lebens, der zugleich die Weisheit und die Ewigkeit ist; aber sie will eben damit zu I h m , dem persönlichen Sein, das da r e d e t und alle Dinge, in denen sie Ihn liebt, in sich selbst aufhebt. Sie will unmittelbar zu Ihm und empfindet deshalb alles als hemmende Schranke, was nicht Er selbst ist: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott! „ G e h e e i n zu d e i n e s H e r r n F r e u d e " — das heißt
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nichts anderes als Ihn erkennen, wie Er ist, und fortan Ihn ewig so zu erkennen. Aber so gewiß sich niemand dem Eindruck dieses tiefen und gewaltigen Seufzers und dieser hoffenden Sehnsucht zu entziehen vermag, und so gewiß hier die Liebe spricht, jene Liebe, die nicht S a c h e n will, sondern P e r s o n e n und über allen Personen I h n , der aller Dinge Leben ist — allgemein gültig ist diese Frömmigkeit nicht. Es ruht hier vielmehr die Sehnsucht und die Fähigkeit, den ewigen Gott so und nur so zu empfinden und zu erleben, auf sehr komplizierten Voraussetzungen. Zum ersten ruht sie auf einer ganz bestimmten Vorstellung von dem Verhältnis der Welt zu Gott, die innerlich erlebt sein muß, nämlich daß die geschaffenen Dinge in der Aufeinanderfolge ihrer Werte die Stufenleiter zu Gott sind, daß sie aber ohne diese Spitze ganz nichtig sind und von Gott abführen. Das ist eine Vorstellung, die nichts weniger als einfach ist, ja die alle Naivität und Ruhe gegenüber der Welt verloren hat. Sodann vermögen das, was Augustin erleben will und momentan erlebt hat, nur solche nachzuerleben, die, wie er, alle Erkenntnisgebiete mit einer strebenden, intellektuell-religiösen Sehnsucht durchmessen und auf jeder Stufe die Erfahrung gemacht haben, daß hier noch immer Wirklichkeit und Schein, Sein und Nichtsein verbunden sind. Es müssen Menschen von brennendem Erkenntnistrieb sein, der alle anderen Triebe überwältigt und in sich schlingt. Sie müssen zugleich — in vollem Gegensatz zu allem Asketischen — einen leidenschaftlichen Lebenstrieb besitzen und die schärfsten äußeren und inneren Sinne, um Erkenntnis-Leben spüren und genießen zu können. Wie viele solcher Menschen hat es gegeben und gibt es? Aber wenn ihrer stets nur wenige gewesen sind und noch weniger in Zukunft sein werden — denn die Erkenntnismethoden von heute führen nicht vorwärts, sondern rückwärts, nicht zum Erhebenden, sondern zum Unerheblichen, und sie entbehren daher jeder aufstrebenden Architektonik — woher kommt
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es, daß uns doch die aufstrebende Schauung Augustins im Tiefsten ergreift und erschüttert? Die Antwort ist nach einigem Nachdenken leicht gefunden. Das, was uns hier ergreift, ist genau das, was uns im Tiefsten bewegt, wenn wir im Faust jene Verse lesen, die mit den Worten schließen: „Wenn über schroffen Fichtenhöhen der Adler ausgebreitet schwebt, und über Flächen, über Seen der Kranich nach der Heimat strebt." Augustin hat seine Schauung f ü r das Letzte und Höchste gehalten, was die Frömmigkeit auf Erden erleben kann, sozusagen f ü r das letzte Wort. Aber ist sie nicht vielmehr das erste Wort? Ist dies Erleben in dem King: „Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott", nicht noch im Banne der Selbstsucht und vorevangelischer Frömmigkeit? Aus dem Evangelium tönt uns ein neues W o r t : „Wir sind vom Tode zum Leben hindurchgedrungen; denn wir lieben die Brüder", u n d : „Wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet?" Das ist ein revolutionäres Wort gegenüber aller Mystik und aller religiösen Selbstsucht, und alsbald verblaßt jegliche Schauung, auch die augustinische. Von hier hebt eine neue Frömmigkeit an; sie steht auf Dienen, Helfen, Vergeben, und sie ist schlichter und einfacher, größer, dauernder und tröstlicher als die der Konfessionen. Aber der spätere Augustin hat auch von dieser Frömmigkeit etwas gewußt.
ÜBER DEN URSPRUNG DER FORMEL „GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG"
Erschienen in den „Preußischen Jahrbüchern", Band 164 (1916) Heft 1. Zu vergleichen sind zu diesem Aufsatz, der hier mit leichten Kürzungen und unter Beschränkung der Polemik abgedruckt ist, die Antworten von R. R e i t z e n s t e i n in den „Nachrichten von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse" 1916 und in der „Historischen Zeitschrift" (116. Bd.) 3. Folge 20. Bd. Sie enthalten Anregendes und Förderndes, aber sie haben mich nicht überzeugt.
In zwei Formeln hat die christliche Religion ihren kürzesten und feierlichsten Ausdruck erhalten: „Vater, Sohn und (reist" und „Glaube, Liebe, Hoffnung". Man vermag aus den beiden Bekenntnissen den ganzen Inhalt dieser Religion zu entwickeln und ihr Originales ans Licht zu stellen. Ihr Originales — denn haben auch auf die Spekulation über „Vater, Sohn und Geist" philosophisch-griechische Gedanken bestimmend eingewirkt, so liegt doch das Bekenntnis in seiner einfachen Urgestalt vor diesen Einflüssen. Was aber die Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" betrifft, so hat m. W. bis zur Gegenwart niemand ihren rein christlichen Ursprung bestritten, da man sie auch nicht aus dem Alten Testament und dem Judentum abzuleiten vermag. Einmal aufgestellt, wurde sie sofort von der christlichen Gemeinde — die Theologen folgten zuerst zögernd — als die beste D e v i s e der christlichen Überzeugung und Frömmigkeit anerkannt. Morgenland und Abendland zeigen hier keinen Unterschied (dort sind die Worte sogar zu weiblichen Rufnamen geworden), und selbst in den Reformationskirchen hat die starke Hervorhebung des Glaubens die geschlossene Souveränität der vereinigten drei Begriffe, die Augustin bewußt in den Mittelpunkt gerückt hat, nicht zu erschüttern vermocht: Kreuz, Herz und Anker als die Symbole der drei Worte erinnern in unzähligen Anwendungen und selbst auf den Buchdeckeln der evangelischen Gesang- und Erbauungsbücher daran, daß alle christliche Erbauung hier ihre Wurzel hat. Dem Unterricht in der christlichen Religion bei den verschiedenen Konfessionen werden, wie die Katechismen
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lehren, „Glaube, Liebe, Hoffnung" sehr häufig als Einteilungsprinzip zugrunde gelegt. Neben dem Vater-Unser gibt es nichts, was als uraltes gemeinsames Eigentum die zerspaltene Christenheit so innig verbindet wie diese Dreiheit. Wo man sich aber an sie erinnert, da erinnert man sich auch sofort der paulinischen Stelle, an welcher sie zu ihrem erhabensten Ausdruck gekommen ist. Am Schluß des Hymnus auf die Liebe 1. Kor. 13, 13 heißt es: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die größte unter ihnen ist die Liebe."
Neuestens ist es uns aber auch hier nahegelegt, umzulernen. Professor R e i t z e n s t e i n will in einem gelehrten und anregenden Werke 1 ) die Vermutung wahrscheinlich gemacht haben, daß „Glaube, Liebe, H o f f n u n g " nicht eine christliche Schöpfung sind, sondern die U m b i l d u n g einer Eormel der hellenistischen Mystik, mit der Paulus und seine Leser, die Korinther, bekannt waren, die jener aber als eigenartige und starke Persönlichkeit umgeschmolzen habe. Wie zu erwarten, sei das aber nicht ganz gelungen; jene hellenistischmystische Formel sei nämlich rein religiös gewesen, Paulus aber habe die N ä c h s t e n l i e b e in die Formel hineinnehmen wollen, die doch dort neben der Gottesliebe keinen Platz habe; so sei „ein unklarer Verbindungsversuch" entstanden, „der nicht vollen Erfolg haben konnte"; infolgedessen leide der Hymnus 1. Kor. 13 an einer Unklarheit; er beginne mit der Nächstenliebe, aber am Schluß, eben in V. 13, sei mindestens primär die Gottesliebe zu verstehen. Reitzenstein glaubt auch den Wortlaut der Formel der heidnischen Mysterienreligion entdeckt zu haben, die dem Apostel als Vorlage gedient hat. „Glaube, Wahrheit, Eros (ein von „Agape" wesentlich verschiedenes, anderes grieR. R e i t z e n s t e i n , Historia Monachor um und Historia Lausiaca. Eine Studie zur Geschichte des Mönchtums und der frühchristlichen Begriffe Gnostiker und Pneumatiker (Göttingen 1916). S. lOOff., 239, 242fl.
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cliisches Wort f ü r „Liebe", das bei Plato eine bedeutende Rolle spielt), Hoffnung": „die vier Gotteskräfte neben den vier Elementen", soll sie gelautet haben; Paulus habe aus dieser „den Korinthern geläufigen Aufzählung" die „Wahrheit" gestrichen und „Agape" f ü r „Eros" eingesetzt. Ist der Beweis geglückt? Ich denke, die Frage hat hinreichendes Interesse, um auch vor einem größeren Leserkreis verhandelt zu werden. Behält Reitzenstein recht, so müßten wir uns mit der Erwägung bescheiden, daß jede Idee von Rechts wegen dem gehört, der den besten Gebrauch von ihr zu machen weiß. Daß aber erst in der christlichen Religion praktisch und theoretisch „Glaube, Liebe, Hoffnung" das geworden sind, was sie sein können, darüber kann kein Zweifel bestehen. Indessen ein anderes bleibt doch eine Umbildung, ein anderes eine Schöpfung. Die Theologie würde gewissenlos handeln, wenn sie ohne nähere P r ü f u n g die neueste Aufklärung hinnähme. Reitzensteins Hypothese in bezug auf den Ursprung der Formel in 1. Kor. 13,13 stützt sich auf zwei Beobachtungen: e r s t l i c h daß der feierliche Vers im Zusammenhang des Hymnus unerwartet komme und dabei in der Sicherheit seiner Behauptung den Eindruck mache, eine den Lesern bekannte Tradition oder eine dem Zusammenhang fremde Autorität hinter sich zu haben, z w e i t e n s — der Forschung war das nicht neu — daß sich in dem gegen Ende des 3. Jahrhunderts verfaßten Brief des heidnischen Philosophen Porphyrius an seine Gattin Marcella (c. 24) folgende Ausführung — übrigens auch recht unvermittelt — finde: „Vier Elemente in bezug auf Gott sollen in erster Linie in K r a f t stehen: G l a u b e , W a h r h e i t , L i e b e (,Eros'), H o f f n u n g . Denn man soll g l a u b e n , daß das einzige Heil die Rückkehr zu Gott ist, und man soll glaubend möglichst sich bestreben, d a s W a h r e über ihn zu erkennen und erkennend den Erkannten l i e b e n ,
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liebend aber mit guten H o f f n u n g e n die Seele zeitlebens nähren; denn durch gute Hoffnungen überragen die Guten die Bösen. Diese (vier) so großen Elemente sollen in Kraft stehen." Reitzenstein sieht in den Worten des Porphyrius die religiöse Gedankenformulierung, die dem Paulus bekannt und den Korinthern „geläufig" gewesen sei; die „Elemente" habe der Apostel gestrichen, denn er konnte sie nicht brauchen; statt dessen habe er Glaube, Liebe, Hoffnung als die größeren Gnadengaben den geringeren, die er vorher genannt, entgegengestellt; doch schimmere bei dem Apostel der „Elementen"-Charakter noch durch, weil er das Wort „bleiben" brauche; für die unvergänglichen Elemente sei dies das charakteristische Wort; „daneben mag der Ausdruck auch dadurch gefärbt sein, daß Paulus aus der geläufigen Aufzählung von vier Elementen eins gestrichen hat; nur drei b l e i b e n . " Weitere Argumente hat Reitzenstein nicht beigebracht; denn alles, was er sonst in dem langen Exkurs anführt, bezieht sich nicht auf unsere Stelle, sondern nur darauf, daß Paulus überhaupt, und so auch in diesem Hymnus, von alter heidnischer Mysterienweisheit abhängig sei. Dies kann richtig oder, wie ich glaube, höchst zweifelhaft sein — für 1. Kor. 13, 13 kommt es direkt nicht in Betracht. Einen weiteren Unterschied zwischen der Paulus- und der Porphyriusstelle (außer der Streichung der „Wahrheit" und der Yertauschung des „Eros" mit „Agape") macht aber Reitzenstein noch geltend, sofern nach Porphyrius die vier Elemente sich n a c h e i n a n d e r in dem Menschen entwickeln sollen, während sie bei Paulus augenscheinlich n e b e n e i n a n d e r stehen. Aus der Prüfung dieser Hypothese wird sich der wahre Ursprung der christlichen Dreiheitsformel „Glaube, Liebe, Hoffnung" ergeben.
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1. Die große Schwierigkeit, die der neuen Hypothese entgegensteht, ist, daß Paulus in den fünfziger Jahren unserer Zeitrechnung sein Wort über Glaube, Liebe, Hoffnung geschrieben hat und dabei von einer heidnischen Mysterienweisheit abhängig sein soll, d i e f ü r j e n e Z e i t g ä n z l i c h u n b e z e u g t ist und erst ein V i e r t e l j a h r t a u s e n d s p ä t e r a u f t a u c h t ! U n m ö g l i c h ist das allerdings nicht; l a t e n t k ö n n t e sich diese Mysterien Weisheit viele Jahrhunderte hindurch erhalten haben; aber wenn man das an sich Unwahrscheinliche hier glauben soll, so müssen uns doch starke Gründe überzeugen. Sieht man aber näher zu, so findet man nicht Gründe, sondern nur Gegengründe; denn erstlich, den Korinthern — also dieser aus Kleinbürgern, Sklaven und Frauen zusammengesetzten Gemeinde — soll das, was f ü r uns völlig latent geblieben ist, „eine geläufige Aufzählung" gewesen sein; so schlecht sind wir aber doch sonst nicht unterrichtet; sodann, nicht nur f ü r diese Vierzahl fehlt uns im Heidentum jedes Zeugnis, sondern m. W. auch f ü r die Kombinationen „Glaube und Eros", „Eros und Hoffnung", „Glaube und Hoffnung" als F o r m e l n ; weder das Ganze, noch die Teile sind vorhanden; weiter, die Vierzahl gegenüber einer Dreizahl ist in analogen Fällen selten oder nie das Ursprüngliche; daß diese also durch Subtraktion entstanden ist, ist ganz unwahrscheinlich; f ü r die Annahme einer solchen Subtraktion aber sich auf das Wort „bleiben" zu beziehen, ist ein Argument, das Reitzenstein wohl selbst schon bereut; umgekehrt ist die Annahme eine viel leichtere, daß der neuplatonische Intellektualist die „Wahrheit" hinzugefügt hat, und das ist um so wahrscheinlicher, a l s d i e s e r B e g r i f f f o r m e l l n e b e n G l a u b e , Liebe, H o f f n u n g ganz disparat und u n g e f ü g e , ja g e r a d e z u u n p a s s e n d ist, was n i c h t erst bewiesen zu w e r d e n b r a u c h t . Ferner, daß die vier K r ä f t e „ E l e m e n t e " sein sollen, kann gegenüber dem Zusammenhang,
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in welchem sie als G o t t e s k r ä f t e und -gaben erscheinen, doch unmöglich als das natürlichere und ursprünglichere gelten — welch eine metaphysisch-idealistische Spekulation setzt es voraus, jene vier Größen als Elemente zu fassen oder auch nur mit den vier Elementen zu parallelisieren! — und wenn nun gar auch hierfür auf das „ B l e i b e n " verwiesen wird („Paulus knüpft mit dem Worte ,bleiben' an die Grundvorstellung ,Elemente' an, die ja dem Wesen nach unvergänglich sein sollen"), so fragt man sich erstaunt, ob der Verfasser vergessen hat, daß der Apostel unmittelbar vorher das aufgezählt hat, was „ v e r n i c h t e t " werden wird, also notwendig dem gegenüber auf den ihm in diesem Sinne auch sonst geläufigen Begriff „Bleiben" für die Gnadengaben des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung geführt war. Sodann, bei Paulus tritt die Dreiheit „Glaube, Liebe, Hoffnung" als ruhende Einheit auf, bei Porphyrius die Vierheit als vier Elemente, die sich „ n a c h e i n a n d e r im Menschen entwickeln sollen". Was ist das Ursprünglichere — die Konzeption der geschwisterlichen Einheit jener drei Tugendkräfte oder die Reflexion, daß der Mensch s t u f e n weise diese drei (vier) als Elemente gedachten Kräfte sich aneignen soll? Endlich: gewiß ist, daß der neuplatonische Philosoph Porphyrius, der uns mit „Glaube, Wahrheit, Liebe und Hoffnung" beschenkt hat, in seiner Jugend dem Christentum nahegestanden hat (das bezeugt sein jüngerer Zeitgenosse Eusebius), daß er im Mannesalter sich die gründlichste Kenntnis des Neuen Testamentes und s p e z i e l l auch des 1. K o r i n t h e r b r i e f s erworben hat (das bezeugen seine 15 Bücher gegen die Christen), und daß er als Greis in dem Brief an seine jüdische Gattin Marcella, auf den es hier ankommt, auch sonst sich mit Biblischem berührt. Nach dem allen darf der Schluß, wer hier der Abhängige ist, Paulus oder Porphyrius, getrost dem Leser selbst überlassen werden. Entscheidet er sich für Porphyrius, so wird er es freilich als Paradoxie empfinden, daß
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dieser „Christenfeind" sich ein paulinisches und spezifischchristliches Stück angeeignet hat. Allein mit der Christenfeindschaft des Porphyrius hat es eine besondere Bewandtnis; sie war, wie viele seiner sonstigen Grundgedanken und Lebensmaximen, nicht konstant, sondern hat gewechselt. Ferner ist er nicht der einzige Neuplatoniker gewesen, auf den gewisse Bibelworte einen tiefen Eindruck gemacht haben, sowohl alttestamentliche wie neutestamentliche; wir haben merkwürdige Zeugnisse darüber. Endlich ist nicht einmal notwendig, daß ihm ausschließlich oder überhaupt die Stelle 1. Kor. 13, 13 vorschwebte, als er jene merkwürdige Ausführung in dem Trostbrief an seine Gattin niederschrieb, der übrigens von vornherein f ü r die Veröffentlichung verfaßt worden zu sein scheint. Am Ende des 3. Jahrhunderts muß — das wird das folgende lehren — „Glaube, Liebe, H o f f n u n g " eine der verbreitetsten Formeln in der mächtigen Christenheit gewesen sein. Wer auch nur etwas in ihre Kreise hinein hörte, dem mußte sie begegnen, ja sie mag bei der engen Berührung christlicher und griechischer idealistischer Religionsphilosophen am Ende des dritten Jahrhunderts schon in das überreiche Arsenal der eklektischen Moralisten übergegangen sein, so daß man an die Herkunft des Spruches kaum mehr dachte. Ist es da auffallend, daß Porphyrius die Formel aufgriff und in seiner Weise etwas pedantisch-schulmeisterlich behandelt hat. „Agape" als Ausdruck der Liebe strich er — hundert Jahre früher hat auch noch der „wissenschaftliche" Christ Justin sie ausdrücklich durch „Philia" ersetzt — und fügte dafür den platonischen „Eros"' ein. Wer kann sich darüber wundern? „Wahrheit" fügte er hinzu — auch das zeigt den Philosophen, der aber die Absicht der Formel damit trübte. Der Philosoph offenbart sich weiter darin, daß er sich nun an die vier Elemente erinnert sah, was doch fern genug liegt, wohl aber dem Kosmologen leicht einfallen konnte. Das Ganze suchte er dann durch eine jener pädagogisch-
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religiösen Anweisungen in Fluß zu bringen, an denen der Brief so reich ist. Besteht doch die ganze Einheit des zerfahrenen Briefes, der im einzelnen viel Tiefes enthält, lediglich in der pädagogischen Absicht. Somit läßt sich die „Addition" und die Umformung, wenn man „Glaube, Liebe, Hoffnung" als das Original nimmt, sehr wohl von der Philosophie des Porphyrius aus erklären. Nichts weist in dieser Gestalt auf eine originale „Mysterienformel". Auch die „Hoffnungen" statt der „ H o f f n u n g " sind des Ganzen würdig, das die Aufmerksamkeit wesentlich deshalb erregt, weil auch auf der Umformung noch immer der Glanz eines großen und treffend geprägten Gedankens ruht. 2. Mit diesen Ausführungen könnten wir die Hypothese Beitzensteins für widerlegt erachten und die Feder niederlegen. Es kommt hinzu, daß er nicht einmal den Versuch gemacht hat zu zeigen, daß „Glaube" und „Eros" je irgendwo im Altertum formelhaft verbunden worden sind. Allein noch haben wir nicht gehört, wie die Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" entstanden ist, und so lange das nicht feststeht, ist die unrichtige Annahme nicht wirklich entwurzelt. Es wäre möglich, daß Beitzenstein zwar mit Porphyrius unrecht, aber in der Hauptsache doch recht hätte. Hat er uns nicht darauf verwiesen, daß der Vers 1. Kor. 13, 13 im Zusammenhang des Hymnus unerwartet komme und seine Einführung so laute, als sei sich der Apostel bewußt, etwas Autoritatives und dazu noch aus einer anderen Sphäre beizubringen? Wenn das in vollem Umfang richtig ist, wäre es doch möglich, daß er an eine „Mysterienweisheit" erinnert, mag sie auch nur hier und sonst nirgends auftauchen. Sobald man aber in eine Prüfung eintritt, muß man eine doppelte und ganz unbegreifliche Unterlassung Beitzensteins konstatieren. Er untersucht 1. Kor. 13, 13, stellt,
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man darf sagen im Handumdrehen, eine höchst paradoxe These auf und kümmert sich dabei weder darum, ob „Glaube, Liebe, Hoffnung" auch sonst bei Paulus und im Urchristentum sich finden, noch darum, ob nicht dort auch die binitarischen Formeln „Glaube und Liebe", „Glaube und Hoffn u n g " und „Liebe und Hoffnung" begegnen. Wer sein Buch liest, muß glauben, daß „Glaube, Liebe, Hoffnung" f ü r Paulus nur durch 1. Kor. 13, 13 bezeugt sind und daß sich sonst keine Spur dieser trinitarischen und der verwandten binitarischen Formeln finde. Aber in Wahrheit steht es ganz anders. Wie es sich wirklich verhält, darüber folge hier ein möglichst kurz gehaltener Bericht: Wer die paulinischen Briefe chronologisch ordnet und nun mit dem ältesten Brief, dem ersten an die Thessalonicher, die Lektüre beginnt, stößt sofort im Anfang des ersten Kapitels auf folgenden Vers: „Wir danken Gott jegliche Zeit in bezug auf Euch alle . . . . fort und fort gedenkend Eures Werkes des G l a u b e n s und (Eurer) Müheleistung der L i e b e und (Eurer) Ausdauer der H o f f n u n g . . . ." Mit „Glaube, Liebe, H o f f n u n g " beginnt der l i t e r a r i s c h e N a c h l a ß d e s A p o s t e l s , und nicht als abgezogene Größen erscheinen sie, sondern als aus der L e b e n s l e i s t u n g der Gemeinde natürlich herausgewachsene — im Glaubenswerk, in der mühevollen Liebesarbeit und in der Ausdauer der Hoffnung besteht diese Leistung. Was sie schaffen, hat ihr Glaube an den Herrn geschaffen; die Bruderliebe hat sie zur aufopfernden Arbeit gestählt, und die Christenhoffnung ließ sie durchhalten im Werk des Glaubens und der Liebe. Diese Triebfedern erkannte der Apostel in seiner Gemeinde, weil er selbst in seinem Tun von ihnen bewegt wurde. Und so geläufig sind sie ihm, daß er am Schluß desselben kurzen Briefes noch einmal au ihnen zurückkehrt; was die Thessalonicher schon bewährt
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haben, soll ihre dauernde Waffenrüstung sein: „Ziehet an den Harnisch des G l a u b e n s und der L i e b e und als Helm die H o f f n u n g auf das Heil" (c. 5, 8). Nicht anders ist es aber auch in einem seiner späteren Briefe. I m Eingang des Briefes an die Kolosser heißt es: „Wir danken G o t t . . . . allezeit f ü r Euch fürbittend, da wir von Eurem G l a u b e n in Christus Jesus und von (Eurer) L i e b e zu allen Heiligen gehört haben, um der H o f f n u n g willen, die Euch bereit steht im Himmel" usw. Zwischen dem Thessalonicher- und dem Kolosserbrief steht zeitlich der 1. Korintherbrief mit seinem Preise des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Also f ü g t sich dieses Bekenntnis harmonisch zu dem, was wir in dem frühesten und in einem späten Brief des Apostels lesen! Wer wird daher f ü r 1. Kor. 13, 13 nach einer besonderen Quelle suchen wollen? Oder soll der Apostel schon im 1. Thess.-Brief von einer „Mysterienformel" bestimmt gewesen sein, während er doch die innere Verfassung und das Wirken seiner geliebten Gemeinde sich ausmalt? Betrachtet man aber die zweite Thessalonicher- und die Kolosserstelle genauer, so gewahrt man, daß innerhalb der Formel sich G l a u b e und L i e b e fast wie ein einziger Begriff nahe stehen, während die H o f f n u n g hinzugesetzt ist. Das führt sofort auf eine wichtige Beobachtung, welche den Ursprung dieser trinitarischen Formel aufklärt. „Glaube und Liebe" — das ist zunächst das aufs engste zusammengehörige Paar. Wir finden es im 1. Thess.-Brief noch einmal (c. 3, 6: „Timotheus hat mir von Eurem G l a u b e n und Eurer L i e b e berichtet"), weiter im 2. Thess.Brief (c. 1, 3 : „Wir danken Gott, daß Euer G l a u b e und die L i e b e zueinander bei einem jeglichen unter Euch allen zunimmt"), weiter im Galaterbrief (c. 5, 6: „Der G l a u b e , der in der L i e b e tätig ist"), im Philemonbrief (V. 5) : „ L i e b e und G l a u b e in bezug auf den Herrn und auf alle die Heiligen" usf. Nach und neben Paulus aber gibt es
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einen Strom von urchristlichen Zeugnissen dafür, daß dieses Paar zusammengehört und d a ß s i c h i n i h m d a s W e s e n des C h r i s t e n t u m s a l s w i r k s a m e i n n e r e V e r f a s s u n g g e d a c h t d a r s t e l l t . Bald erscheint es allein (Ephes. 1, 15; 3, 17; 1. Tim. 1, 5. 14; 4, 12; 2. Tim. 1, 13 und bei den apostolischen Vätern, so ζ. B. beim Hirten des Hermas in der S.Vision c. 8 : „Der G l a u b e , aus dem sich die L i e b e erzeugt", bei Ignat. an die Ephes. 14, 1 usw.), bald mit einem dritten und vierten Begriff („Glaube, Liebe, Ged u l d " Tit. 2, 2; 1. Tim. 6, 11; Ignat. an Polykarp 6 ; „Glaube, L a n g m u t , Liebe, G e d u l d " 2. Tim. 3, 10; „Glaube, Liebe, F r i e d e " 2. Tim. 2, 22; „Glaube, F u r c h t und Liebe" Clemens, Strom. II, 13: „Der Glaube geht voran, die Furcht baut, die Liebe vollendet"). Mehrere Stellen gibt es auch, aus denen hervorgeht, daß man sich des bereits formelhaften Charakters „Glaube und Liebe" bewußt war. So schreibt Ignatius an die Epheser 14: „Glaube und Liebe, das sind Anfang und Ende des Lebens; der Anfang ist der Glaube, das Ende die Liebe; die beiden aber zur Einheit verbunden sind Gott." Ebenso liest man Clemens, Strom. VII, 10: „Anfang und Ende sind Glaube und Liebe." D i e Liebe aber ist h i e r b e i stets oder doch f a s t immer als N ä c h s t e n l i e b e gedacht. Wie ist nun diese Formel „Glaube und Liebe" entstanden? Bedarf es da noch einer Untersuchung? Wenn die christlichen Missionare mit der Predigt herausgezogen sind: „ G l a u b e t an den Herrn Christus bzw. an den Gott, der Christum von den Toten erweckt hat", und wenn sie zugleich als das christliche H a u p t g e b o t verkündeten: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst" — mußte da nicht die binitarische Formel „Glaube und Liebe" von selbst entstehen? Nicht erst Paulus wird sie geprägt haben: zu Glaube und Liebe sahen sich schon die aufgerufen, die in Palästina Jünger Jesu geworden sind. Gegenüber allen Kultusordnungen und gegenüber der Mühsal des Gesetzes
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muß sich wie mit einem Schlage, wo nur die geringste Beflexion waltete, die Formel überall und von Anfang geprägt haben: „Glaube und Liebe". K u r diese Annahme entspricht ihrer großen und alten Verbreitung. Aber die H o f f n u n g ? Wir haben gesehen, daß zu Glaube und Liebe schon frühe verschiedene andere Begriffe — Geduld, Langmut, Friede, Furcht — hinzutraten; die Abrundung zur Dreiheit scheint im menschlichen Geiste ein stilistisches Bedürfnis zu sein. Absichtlich haben wir aber von dem Hinzutreten der Hoffnung noch abgesehen, weil, bevor man auf sie eingeht, zunächst festgestellt werden muß, daß es auch sehr alte binitarische Formeln in der Christenheit gegeben hat, in der die Hoffnung eine Stelle hatte, nämlich „Glaube und Hoffnung", und vereinzelt auch „Liebe und Hoffnung". Paulus schreibt Böm. 1 5 , 1 3 : „Der Gott der H o f f n u n g erfülle Euch mit aller Freude und Frieden im G l a u b e n , auf daß Ihr Überfluß haben möget an H o f f n u n g ; Galat. 5, 5: „Aus dem G l a u b e n entnehmen wir die Hoffnung"; Koloss. 1, 23: „Beharrt auf dem G l a u b e n . . . nicht wankend von der H o f f n u n g " ; il. Pet. 1, 21: „Auf daß Euer G l a u b e und H o f f n u n g sei auf Gott' : ; Hebr. 6, l l f . : „Zur Vollbereitung der H o f f n u n g durch G l a u b e und Langmut"; Tit. 1, l f . : „Nach dem G l a u b e n der Erwählten . . . auf H o f f n u n g des Lebens"; 1. Clemens 58: „Gott, der Herr Jesus Christus und der h. Geist sind der G l a u b e und die H o f f n u n g der Erwählten"; Barnabas 1 : „Die H o f f n u n g auf das Leben ist Anfang und Ende unseres G l a u b e n s " . Nach diesen und anderen Stellen kann es nicht zweifelhaft sein, daß „Glaube und Hoffnung" eine uralte, wahrscheinlich schon hinter Paulus liegende Formel in der Christenheit war. Auch sie mußte sich ja fast mit zwingender K r a f t von Anfang an einstellen; war doch der Glaube an den Herrn Christus in sich selbst ebenso Hoffnung wie Vertrauen; denn was er bringen sollte, die Herrlichkeit und das Leben, war noch
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nicht da, und er selbst war in Herrlichkeit noch nicht da. Also stand die Hoffnung von Anfang an beim Glauben, und sogar bei der Liebe kam sie als ihre Ergänzung zum Ausdruck. „Die H o f f n u n g macht nicht zuschanden", schreibt Paulus (Rom. 5, 5 ) ; „denn die L i e b e Gottes ist ausgegossen", und Barnabas (c. 1, 4) spricht von „der L i e b e a u f H o f f n u n g des Lebens". Also ist die trinitarische Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" teils als eine uralte E r g ä n z u n g der binitarischen Formel „Glaube und Liebe" im Urchristentum zu beurteilen, die auch sonst mannigfaltig ergänzt worden ist, teils als eine Z u s a m m e n s c h i e b u n g der beiden binitarischen Formeln „Glaube und Liebe" und „Glaube und Hoffnung". Eben durch diese doppelte Verursachung — ähnlich ist die trinitarische Formel „Vater, Sohn und Geist" aus den binitarischen Formeln „Vater und Sohn" und „Vater und Geist" entstanden — war sie stärker als die übrigen versuchten Dreiheiten und verdrängte sie schnell. Wir finden sie nicht nur bei Paulus, sondern auch im Hebräerbrief (c. 10, 22f.), bei Barnabas (c. 1 und 11, 8 — auch hier so, daß man die Hinzufügung der „Hoffnung" noch gewahrt), bei Polykarp (c. 3 — hier mit besonderer Hervorhebung des „Glaubens" und Charakterisierung der Liebe als Liebe zu Gott, zu Christus und zum Nächsten). I n der Sekte der Valentinianer sind dann Glaube, Liebe, Hoffnung schon zu Äonen geworden (s. Epiphanius, h. 31, 2. 5 : „Die weiblichen Äonen sind Pistis, Elpis, Agape, Synesis" usw.), und, wie zu erwarten, weist Clemens Alexandrinus die drei Größen, in Verwertung von 1. Kor. 13,13, der Gnosis als Grundlage zu (Strom. IV, 7 : „Vor den zur Vollkommenheit Strebenden steht ,die logische Gnosis', deren Grundlage die heilige Dreiheit ist, ,Glaube, Hoffnung, Liebe'; aber die größte unter ihnen ist die Liebe"). Ist somit die Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" spezifisch christlich und uralt — vielleicht sogar älter als Paulus —, so ist doch die Meinung von R e s c h einfach abzu-
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lehnen, sie stamme aus dem Urevangelium und also von Christus selbst. Diese Meinung stützt sich lediglich — denn die anderen Argumente sind vollends hinfällig — auf ein Zitat in den Homilien des Makarius (c. 37) : „Der Herr sprach: Bemühet Euch um G l a u b e und H o f f n u n g , durch welche sich die Gottes- und Menschenliebe erzeugt, die das ewige Leben bringt". Aber dieses Zitat ist apokryph, und Formeln wie die unsrige sind dem Urevangelium fremd. Nur e i n Anstoß bleibt noch übrig: Der Vers 1. Kor. 13,13 scheint im Zusammenhang des Ganzen etwas Abruptes zu haben; daher J o h . Weiß in seinem Kommentar bemerkte: „Die Sicherheit, mit der Paulus das, was in V. 13 steht, behauptet, begreift sich nur, wenn die Worte durch sich selbst unmittelbar überzeugend wirken; das können sie doch wohl nur, wenn sie als Sprichwort oder Schriftwort oder als Herrenwort an sich selbst autoritative Kraft haben". Ich habe selbst früher in einer Abhandlung über 1. Kor. 13 bemerkt, daß Glaube und Hoffnung hier unerwartet kommen. Allein, sobald man annimmt, daß die große und bleibende Dreiheit den Korinthern aus den Predigten und Reden des Apostels schon bekannt war — und das darf man nach dem oben Ausgeführten —, schwindet der Anstoß: Paulus erinnert einfach an ein Hauptstück seiner Verkündigung. Dazu kommt, daß er bereits in V. 7 des Hymnus von der Liebe gesagt hatte: „Sie g l a u b t alles, sie h o f f t alles", und hinzufügte: „Die Liebe hört nimmer auf". Hier ist doch schon ein Präludium für den V. 13 zu erkennen. Auch über „Glaube und Wahrheit", „Liebe und Wahrheit", „Hoffnung und Wahrheit" im Urchristentum wäre noch einiges zu sagen; aber da es, die Formel des Porphyrius anlangend, wohl derselbe gewesen ist, der die „Wahrheit" eingefügt und „Agape" mit „ E r o s " vertauscht hat — also ein Nichtchrist —, so können jene christlichen Kombinationen hier nicht in Betracht kommen. Es ist mit der Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" wie
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mit manchen anderen großen Formeln, die das Leben und Denken beherrschen. Sie sind aus ganz konkreten und lebendigen Voraussetzungen entstanden und haben deshalb zunächst einen bestimmten engeren Sinn. Aber, einmal entstanden, erweisen sie sich als Gefäße, die einen noch größeren und reicheren Inhalt aufnehmen können. In unserer Formel — ob man sie nun als Erweiterung von ,,Glaube und Liebe" oder als Kombination dieser Formel mit der anderen: „Glaube und Hoffnung" versteht — ist der „Glaube" der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus, die „Liebe" die Liebe zu dem Nächsten und die „Hoffnung" die Hoffnung auf den wiederkehrenden Christus und die zukünftige Herrlichkeit. Aber als einmal diese lapidare Dreiheit geschaffen war, zeigte sie einen Umfang und Größe, eine Allgemeingültigkeit und Tiefe, die ihren Ursprung fast verdecken. Was ist der Mensch ohne Glaube, was ist er ohne Liebe und ohne Hoffnung? Was ist er mit ihnen! Alle höheren Gaben und Aufgaben liegen hier beschlossen! Welch eine Geschichte hat die Formel in den Kirchen und auch außerhalb derselben gehabt! Wie ist in ihr Religion und Moral, Gegenwart und Zukunft in eins gesetzt! Hätte das Christentum in seinen Anfängen nur diese Formel geschaffen und mit wirklichem Leben erfüllt, wie weit hätte es alle die Religionen, mit denen es rivalisierte, bereits hinter sich gelassen ! Und was will nicht allein die Tatsache besagen, daß die N ä c h s t e n l i e b e auf die Höhe der R e l i g i o n gehoben und mit dem Glauben verschmolzen ist; denn um die Nächstenliebe allein handelte es sich ursprünglich. Es gehörte schon zu den Erweiterungen, daß man auch die Gottesliebe mit verstanden hat. Mit Teilnahme folgt man nun auch dem Versuche des edlen Philosophen Porphyrias, die wunderbare Formel für die Zwecke seiner Religion zu verwerten — gewiß ein Zeichen seiner inneren Annäherung an das Christentum. Aber bei ihm ist es e i n e versuchte Idee neben vielen anderen; sie verliert sich in der Breite der pädagogisch-reli-
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giösen Darlegungen; sie vermag mit der Nächstenliebe nichts anzufangen; sie hat einen Teil ihrer Kraft eingebüßt und wirkt nicht durchschlagend. Wie ist Reitzenstein zu seiner irrigen Vermutung gekommen? Wie immer bei geschichtlichen Kombinationen, so hat auch hier die „Vorvermutung" eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Die „Vorvermutung" mancher heutiger Forscher, nicht nur philologischer, geht bei urchristlichen Begriffen, die sie untersuchen, dahin, daß sie nicht original sind, auch nicht aus dem Judentum stammen, auch nicht aus der griechischen Philosophie, sondern aus einer alten Mysterienreligion. Diese Vermutungen haben sich bisher nicht beweisen lassen, da man die vorausgesetzte Mysterienreligion in der Regel selbst erst konstruieren und bis in den Anfang unserer Zeitrechnung hinaufführen muß. Auch in unserem Fall ist der Beweis nicht geglückt.
Vom Reiche Gottes. Predigt im akadem. Gottesdienst gehalten am U. März 1917. Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unsrem Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Rede Herr, dein Knecht wird hören, Und dein Wille werd' erfüllt, Nichts soll unsre Andacht stören, Wenn der Brunn des Lebens quillt. Amen. Der Text, der unsrer Betrachtung zu Grunde gelegt ist, findet sich aufgezeichnet im Evangelium des Matthäus und lautet dort im 33. Verse des 13.Kapitels also: Ein anderes Gleichnis redete Jesus zu ihnen: Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es gar durchsäuert ward. Gemeinde Jesu Christi! Als unser Herr in seiner Vaterstadt Nazareth eine Predigt hielt und eine herrliche Verheißung aus dem Propheten Jesajas verlesen hatte, da begann er seine Auslegung mit den Worten: „Heule ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren." Aber wer unsern Text hört, der wird weit entfernt sein von dem Urteil, daß diese Schrift erfüllt sei vor unsern Augen und Ohren, und zumal dieser Weltkrieg mit seinen Leiden, Zerreißungen und Zersetzungen scheint die Erfüllung weit hinausgerückt, ja fast unmöglich gemacht zu haben. Alles unter uns durchdrungen vom Reiche Gottes — wie ferne scheinen wir von diesem Zustande, ja von diesem Ziele zu
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sein! Aber wie die Väter der Kirche in den Märtyrertagen nicht gezweifelt haben, daß die Verheißung unseres Herrn in Kraft bleiben werde, und wie unsre Väter in der Reformationszeit und im dreißigjährigen Krieg, voran Luther und Paul Gerhardt, festiglich geglaubt haben, daß Jesu Wort J a und Amen sei — „Das Reich muß uns doch bleiben," und „Was man nur kann erdenken, es sei klein oder groß, der keines soll mich lenken aus Deinem Arm und Schoß" —, so sollen auch wir mitten in der Wüste die Brunnen Gottes sehen und überzeugt bleiben, daß Sein Reich unter uns begründet ist und sich ausbreitet. Das Reich Gottes — Ihr wißt, daß unser Herr dieses Wort zum Hauptbegriff und Mittelpunkt seiner Verkündigung gemacht hat. Und wie umfassend, wie tief und wie beseligend hat er es uns vorgestellt! Es ist zukünftig, und es ist doch schon gegenwärtig; es kommt von außen, und es ist inwendig in uns; es ist geistig und soll doch alles umfassen und durchdringen. Auch unsre tägliche Arbeit, unser Beruf gehört in dasselbe hinein; darauf hat uns aufs neue und eindringlich Luther hingewiesen. Darum, wenn wir heute den letzten unsrer akademischen Gottesdienste in diesem Winterhalbjahr feiern, haben wir noch besonderen Grund, dem Reiche Gottes nachzudenken und unsre Arbeit in dieses Licht zu rücken. Das Reich Gottes, das ist die Herrschaft des göttlichen Willens und der göttlichen Gnade unter uns, und es schafft eine Gemeinschaft der Liebe unter uns, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not; aber es bedeutet auch alles das, was uns stark und gewiß macht, auf daß wir fest und unbewegt als Kinder Gottes mitten in dieser Welt stehen und zunehmen im Werk des Herrn in der Zeit und bis zur Ewigkeit. Nach Anleitung unseres Textes aber wollen wir aus dem unerschöpflichen Inhalt des Reiches Gottes zweien Fragen nachdenken: Wie wirkt dieses Reich? Wo ist es zu finden?
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1. Unser Text sagt: „Das Reich Gottes ist gleich einem Sauerteig." Das Wort geht in die Tiefe, und ein jeder von uns fühlt sofort, wie treffend es ist. Die Treffsicherheit der Gleichnisse Jesu und ihre unmittelbare uns zum Herzen und Gewissen gehende Verständlichkeit, sie sind es, die uns immer wieder bewegen, so oft wir sie hören. Das Reich Gottes ein Sauerteig — also kein bloßer Firnis und keine Schminke I Nichts gibt es, was dem Ernsten und Heiligen so entgegensteht und ihm so zuwider ist, als Firnis und Schminke I Und doch wird das Reich Gottes dazu mißbraucht, und wir alle wissen es: es gibt eine christlich geschminkte Welt. Nun sagt man wohl: Ja, bei einem unserer Feinde, da findet man diese böse Verkehrung ; sie machen aus dem Christentum und dem Reiche Gottes einen täuschenden Firnis, den sie auf ihre Worte und Taten legen. Aber was gehen uns hier unsre Feinde an? nicht sie haben wir hier zu richten. Oder man sagt wohl auch: In der katholischen Kirche mit ihren vielen Zeremonien ist die Gefahr brennend, daß das Heilige zum Firnis und zur Schminke wird. Aber haben wir hier unsere katholischen Brüder zu richten? An uns haben wir hier zu denken und uns zu prüfen 1 Wird bei uns das Heilige stets als ein Sauerteig in Kraft erhalten, oder wird es nicht auch bei uns oft zum bloßen Firnis gemacht? Wer da meint, dem Volke müsse die Religion erhalten bleiben, aber er selbst brauche sie für sich nicht, der macht den christlichen Glauben zum Firnis, und wer da sagt, den Kindern müsse man die Religion bieten, denn für sie sei sie gut, aber die Zeit werde schon von selbst kommen, wo sie sie wieder abstreifen, der entwürdigt das Heilige. Oder wer bei der Religion nur an ihre bindenden und das Schlechte niederhaltenden Wirkungen denkt — gewiß hat sie auch solche — und sie deshalb als Polizeimittel empfiehlt und sie lediglich in diesem Sinne gelten läßt, auch der treibt mit ihr Täuscherei und Heuchelei. Verderblich aber und schrecklich ist solche Heuchelei, weil sie über kurz oder lang alles Vertrauen zum christlichen
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Glauben zerstören und ihn zur Unwahrhaftigkeit machen muß. Aber es gibt hier schließlich noch eine feinere Gefahr. Alles Hohe und Heilige, wenn es dauernd wirken und erziehen soll, muß sich auch in Ordnung, Sitte und Einrichtungen niederschlagen. Das ist unvermeidlich, und es nicht zu beklagen. Aber wie leicht entflieht hier dann der Geist, und nur die Form bleibt nach, und nur die Form wird noch gepflegt! Auch das ist Firnis und Schminke, und auch das verletzt die Wahrheit. Darum prüfe dich und sieh zu, daß bei der Pflege von heiligen Ordnungen und Sitten der Nerv lebendig bleibt und der innere Sinn für das Heilige nicht erstirbt. Lieber laß eine heilige Übung und Sitte und Form fahren, als daß du sie als tote fortsetzt. Gottes Geist duldet keine bloßen Zeremonien, und das Bedecken des Schlimmen mit einem Überzug ist eine böse Sache. Das Heilige kein Firnis; aber nun im Gegensatz dazu: das Heilige auch kein Ätzmittel, welches das Mehl, statt es zu durchdringen, zersetzt und auflöst. Ist aber diese Gefahr, meine Freunde, unter uns überhaupt vorhanden, daß uns das Reich Gottes die Welt zerstört und uns zu weltflüchtigen Menschen macht? Ihr sprecht vielleicht: Bei unsern katholischen Brüdern mit ihrem Mönchtum besteht sie; wir aber kennen sie nicht. Gewiß mögen sie viele unter uns nicht kennen; aber darum besteht sie doch, und viele kennen sie auch. Hast du dir nicht schon selbst gesagt oder ist nicht zu dir und mir schon so mancher gekommen und hat gesprochen: Ich muß heraus aus der Welt, ich muß heraus aus meinem Beruf; das verlangt das Reich Gottes; die Welt ist schlecht, und ich werde schlecht werden, wenn ich in ihr bleibe. Nun gewiß, unser Herr hat das ernste Wort gesprochen: „Ärgert dich dein Auge, so reiß es aus und wirf es von dir," und dies Wort sollen wir nicht vergessen. Aber das ist eine Anweisung für besondere Versuchungen, die man sonst nicht niederzwingen kann. Dagegen lesen wir das Wort im Evangelium, das allen gilt: „Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt nähmest, sondern daß du sie bewahrest vor dem Bösen." Diese Welt ist Gottes Welt; in sie hat Er uns
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hineingestellt, hat jedem seinen Beruf und sein Werk in ihr zugeteilt, und in diesem sollen wir stehen als freudige Mitarbeiter Gottes. Die Welt, die wir selbst in uns und an uns tragen, werden wir doch nicht dadurch los, daß wir „die W e l t " preisgeben und fliehen, und das Größte, nämlich Liebe üben, können wir in der Regel am besten in unsrem Beruf und Stand lernen. Also das Reich Gottes ist kein Ätzmittel, welches die Welt f ü r uns auflösen soll; nichts Natürliches soll abgetan, aber alles soll durchdrungen werden. Es gilt, in und an der Welt zu arbeiten ; das ist schwer, aber es hat auch eine besondere Verheißung. Wiederum hat das keiner deutlicher und heller bezeugt als Luther, obschon er die böse Welt kannte und sich oft genug nach dem Ende sehnte. Nun aber endlich — weil das Reich Gottes ein Sauerteig ist, so darf und soll es auch nicht eine bloße Zugabe zum Leben sein. Das ist die feinste und schwerste G e f a h r : Mehl besonders und Sauerteig besonders, Werktag besonders und Sonntag besonders, Weltleben besonders und Gottesdienst besonders — nein, so soll es nicht sein! Aber wie nahe liegt uns das allen, und wie oft und Avie lang suchen wir uns auf diese Weise abzufinden! Gott und der Glaube f ü r Kreuz und Krankheit, aber nicht f ü r das tägliche Leben der Seele und nicht in der K r a f t und bei der Freude; Gott in den Nöten des Kriegs, aber nicht im Frieden; Gott in den Feierstunden und auf den Höhepunkten des Lebens, aber nicht bei der Arbeit und in Haus und B e r u f ; Gott bei großen Dingen und Entscheidungen, aber wo und wie wirs täglich treiben, dort fehlt er! Der Glaube eine Zugabe samt der Liebe und Hoffnung, aber nicht die durchdringende K r a f t ! Eine lange Zeit kann wohl eine Seele so bestehen; aber bei dieser doppelten Buchführung kann es geschehen, daß sie plötzlich zusammenbricht, und alles ist dahin. Wohl müssen wir uns hüten, von anderen zuviel zu verlangen oder gar darüber zu Gericht zu sitzen, ob einer seinen Glauben nur als Zugabe hat bei besonderen Gelegenheiten und Nöten; aber an uns selber sollen wir das Doppelwesen bekämpfen und wissen, daß das Reich Gottes noch nicht bei uns ist, wenn
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es uns nicht durchdrungen hat; denn was heißt „ganz durchsäuert sein"? Die Antwort ist einfach: Wie das Mehl erst durch den Sauerteig das wird, wozu es bestimmt ist, nämlich Brot, so sollen wir Menschen durch das Evangelium zu unserer Bestimmung kommen, nämlich ganze Menschen zu werden — Gottesmenschen. 2.
Damit haben wir schon die Frage zu beantworten begonnen: Wo ist das Reich Gottes zu finden? Hier aber erhebt sich zunächst noch eine Vorfrage. Was versteht unser Herr unter den drei Scheffeln Mehl? Meint er die ganze Welt? Schwerlich. E r selbst hat immer nur gesprochen von denen, die ihm sein Vater gegeben, und von dem Werk, mit dem Er ihn betraut hat. Welche Grenzen dieses Werk in der Welt hat — Er mag das selbst so wenig gewußt haben, wie den Tag und die Stunde des Gerichts. Aber gerufen hat Er sie alle, und barmherzig ist Er gewesen gegen jedermann, der zu Ihm kam. Daran sollen wir uns ein Beispiel nehmen und die grüblerische Frage lassen, was die drei Scheffel Mehl seien, aber unsre Kraft der Liebe und unsre Geduld durch nichts hemmen lassen, als gelte es, die ganze Welt zu gewinnen. Wo ist das Reich Gottes? Wir müssen sein Dasein doch irgendwie feststellen können; es kann doch nicht wie ein unbestimmter und unfaßbarer Glockenton nur über uns sein. Nun, das Reich Gottes ist zunächst und vor allem in dem festen, gottinnigen Menschen, in allen denen, deren Herzen Er entzündet hat. Es war zuerst in den zwölf Aposteln, die Er gerufen, und in dem weiteren Kreise Seiner Jünger, und es breitete sich von hier unter den Menschen aus. Kann man sie erkennen, kann man das Reich Gottes in ihnen spüren? Das kann man — an ihrer ruhigen Zuversicht im Leben, an ihrer ernsten Freude und an ihrer Geduld, fast möchte ich sagen, an der Geschlossenheit ihres Wesens und an dem Glanz ihres Antlitzes. Wohl können wir uns irren; aber deshalb bleibt es doch bestehen: Wo der Docht unseres höheren Lebens entzündet worden ist, wo unser kleines Flämmchen zur Flamme auf-
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loderte, wo wir über uns selbst emporgehoben worden sind aus Eigensucht und Weltsucht zu Buße und Zuversicht, 3a waren es feste Gottesmenschen, denen wir das verdanken, und das Reich Gottes hat uns in ihnen berührt und zu sich gezogen. Nächst dem, was dieser und jener unmittelbar durch das Wort Gottes erlebt hat, ist es die unsichtbare Gemeinschaft der festen und freudigen Kinder Gottes, der Reichsgenossen Gottes, die uns durch eines ihrer Glieder erfaßt und zu Gott geführt hat. Das werden die meisten unter uns freudig bezeugen. Und das zweite — das Reich Gottes ist überall da, wo Liebe geübt wird, selbstlos dienende Liebe. Es gibt in dieser armen und zerspaltenen Menschheit einen unsichtbar- sichtbaren Liebesbund, und das Reich Gottes ist ebenso in diesem wie in der Kraft und Geschlossenheit gottfreudiger Menschen. Wie alles organische Leben im Einatmen und Ausatmen besteht, so besteht auch das Leben des Reiches Gottes im Einatmen zu innerer Kraft, Zuversicht und Freudigkeit, und im Ausatmen zum Dienst am Nächsten in der Liebe. Diese Liebe ist nicht immer dort am größten, wo sie Großes tut, vielmehr ist sie dort am größten, wo sie lebendig und lückenlos das Leben bis ins Kleinste durchdringt, wo sie so zart ist, daß sie im Leben des Tages weder durch Schweigen verwundet noch durch Reden verletzt, und wo sie wie eine warme Sonne nicht anders kann als erwärmen. Durch solche Liebe, die nicht erst kritisiert und dann liebt, sondern erst liebt und dann fördert, entsteht der unsichtbare und starke Liebesbund, von dem ich gesprochen — so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. Einer, unser Herr, hat uns ein solches Leben vorgelebt, und in diesem Sinne war und ist Er selbst für uns das Reich Gottes, wie Luther für uns die Reformation ist. Und so ist Er auch der ewig Lebendige für uns; denn aus Seiner Liebe schöpfen wir noch heute Liebe um Liebe. Und endlich das Dritte — das Reich Gottes erscheint auch und ist sichtbar in den guten und heilsamen Ordnungen und Einrichtungen, in denen wir stehen, an denen wir bauen und die wir erstreben. Heißt das nun, das Reich
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Gottes verlangt und schafft einen christlichen Staat, ein christliches Recht, eine christliche Wissenschaft und christliche Kunst usw.? Nein, so einfach ist das nicht, vielmehr hat uns Luther gelehrt und wir haben das immer mehr einsehen gelernt — alle diese großen Gebiete haben ihre eigene Natur, ihre eigenen Grundlagen und ihr eigenes Recht. Es sind große Schöpfungsordnungen Gottes, und sie sind selbständig. Daher, wer hier einfach mit der Religion zufahren will und sie christlich machen, der verletzt sie und wird doch nichts anderes erreichen, als daß er das Reich Gdttes zum Firnis oder zu einem Ätzmittel macht, statt daß es auch hier ein Sauerteig sei. Jene Gebiete stehen auf ihrem eigenen Recht und haben ihr eigenes Wachstum; sie müssen daher in ihrer Weise geschützt und gepflegt und vor Ungeduld bewahrt bleiben. Es gibt so wenig einen christlichen Staat und ein christliches Recht, wie es einen christlichen Krieg gibt, und es gibt so wenig eine christliche Nationalökonomie oder überhaupt eine christliche Geisteswissenschaft, wie es eine christliche Botanik gibt. Was diese Gebiete zu christlichen macht, soweit sie es überhaupt werden können und sollen, das ist lediglich darin gegeben, daß Christen sie bearbeiten und treiben. Indem sie sie treiben, bringen sie freilich Fragen und Gesichtspunkte hinzu, die sonst fehlen würden. Vor allem aber, meine Freunde und Freundinnen, die ihr in den Wissenschaften arbeitet, ich hoffe, daß ihr den Sinn für das Wirkliche hinzubringt; denn ein Christenmensch, der den lebendigen Gott gefunden hat, sucht überall das Wirkliche und hat einen aufgeschlossenen und unbeirrten Sinn für dieses. Das Wirkliche aber ist der Saum des Gewandes Gottes, ja es ist noch mehr, denn mitsamt der Welt leben und weben und sind wir in Gott. Er selbst lebt in diesem Wirklichen. Er lebt nicht in unseren Gedanken über dasselbe oder doch nur, wenn sie richtig sind; wohl aber lebt Er selbst in der wirklichen Welt und ihrer Geschichte, und Ihm denken wir nach, wenn wir uns von reiner Erkenntnis weisen lassen. Was sich dann aus unsrer Arbeit ergibt, das ist noch immer keine christliche Wissenschaft, keine christliche Staatsordnung und kein
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christliches Recht und soll es auch nicht sein; wohl aber werden hier Wissenschaft, Staat und Recht so auferbaut, wie sie dem Wirklichen, wie es ist und werden soll, und damit dem Heile der Menschheit entsprechen. Also, meine Freunde und Freundinnen, treibt eure Arbeit an der Wissenschaft, wie sie es verlangt, aber als Mitarbeiter Gottes, damit sein Reich wachse und komme. So haben wir die Frage beantwortet: W o ist das Reich Gottes zu finden? Es ist in den starken, zuversichtlichen Menschen zu finden, die einen Gott haben; es ist in dem Liebesbunde zu finden, der die Menschheit verbrüdern soll, und es ist da in jeder Einrichtung, in jeglichem Werke, in jeder Arbeit, die von gottesfürchtigen Menschen getrieben werden. In diesem Geiste und in dieser Zuversicht wollen wir bleiben, was auch um uns herum noch geschehen und was uns treffen mag. W i r werden uns doch weder vom Geschick, noch gar von unsern Feinden unsre Ideale korrigieren und unsre Kräfte ablenken lassen! Das wäre ein schlechter Diener, der sich durch Erfahrungen von außen in der Beobachtung der Hausordnung seines Herrn stören ließe! Das aber, was ich ausgeführt habe, ist die Hausordnung unseres Gottes, und auf ihr wollen wir beharren. Und ein jeder von uns treibe sein Werk, ob groß oder klein, ob hier oder im Felde, so, wie wenn das Geschick des ganzen Vaterlands, ja der ganzen Menschheit an ihm hinge, so gewissenhaft, so treu, so ernsthaft. Tun wir das, dann braucht uns alles andere nicht zu kümmern., ja wir dürfen dann das Buch der Geschichte, auch der gegenwärtigen, so zuversichtlich und freudig aufblättern wie ein Kind sein Bilderbuch. Wir sitzen nicht im Regimente, das ist Gottes Sache; wir sind nicht verantwortlich, denn Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Wir haben nur eine Aufgabe, treu zu sein, und solche Treue wollen wir aufs neue geloben. Amen.
Vom inwendigen Menschen. Predigt im Akademischen Gottesdienst gehalten am 28. Juli 19 i8. Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi sei mit uns. Amen. Der Text, der unserer Betrachtung zugrunde liegt, findet sich aufgezeichnet im dritten Kapitel des ApostelBriefes des Paulus an die Epheser und lautet daselbst also: Derhalben beuge ich meine Knie gegen den Vater unseres Herrn Jesu Christi, der der rechte Vater ist über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden, daß er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, und Christum zu wohnen durch den Glauben in euren Herzen, und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden. Amen. Er kennt sie nicht, und sie kennen ihn nicht — die Gemeinde, an die der Apostel hier schreibt; denn persönlich haben sie sich nie gesehen; aber er schreibt an geförderte Christen, und da gilt das Wort: „Als die Unbekannten und doch bekannt". Er weiß, was sie im Tiefsten erlebt haben und was ihnen not tut; er weiß, was er ihnen zu sagen hat und wie er ihre Gedanken und ihren Willen leiten und erheben soll. Und er spricht zu Gott, indem er zu ihnen spricht, und er spricht zu ihnen, indem er zu Gott spricht: seine Wünsche für die Gemeinde werden ihm zu GeTjet. Gebetet hat er schon oft für sie, Tag um Tag und ohn' Unter-
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laß; denn wie ein Dichter ein Dichter ist, auch wenn er nicht dichtet, so ist ein Beter ein Beter, auch wenn er nicht betet. Jetzt aber sollen sie es hören, was er für sie betet: „Derhalben beuge ich meine Knie gegen den Vater unsres Herrn Jesu Christi", und nun quillt es hervor aus seinem Her?ert in wunderbaren und starken Worten. Es ist, wie wenn eine mächtige Orgel einsetzt und ihre kraftvollen Töne den ganzen Raum erfüllen. Als sie diesen Brief empfingen, da muß es den Empfängern gewesen sein, als führe sie der Apostel in einen hohen Dom voll Licht und Glanz und Kraft. So ist's uns heute noch, wenn uns diese Worte treffen. Und woran erinnern sie uns zunächst? Nun, sie scheinen wie herausgewachsen aus dem Gebet, welches aller christlichen Gebete Urgrund ist, das uns nicht gegeben ist, um es nachzuplappern, sondern um es frei heraus aus dem Herzen nachzuschaffen — das Vater-Unser. Wie dieses Gebot mit dem „Vater" beginnt und die Gemeinde es mit den Worten beschließt: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit", so beginnt auch der Apostel sein Gebet mit „dem Vater, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt", und dann greift er hinein in den Reichtum der Herrlichkeit Gottes und in seine Kraft. Aber das empfanden wir alle, als wir den Text hörten: diese quellenden, reichen Worte haben doch einen festen Mittelpunkt, oder besser: sie gehen geschlossen auf ein Ziel, und das lautet: „Stark zu werden an dem inwendigen Menschen". Was vorher gesagt ist und was nachher folgt in diesem Wunechgebet, das gruppiert sich um diesen Gedanken. So wollen auch wir uns in dieser Stunde um ihn sammeln. Wie sehr uns aber die Stärkung des inwendigen Menschen not tut, darüber braucht es keiner Worte. Befinden wir uns doch seit nun vier Jahren nicht in einem Kriege oder in einem „Weltkriege", wie man wohl noch immer sagt, sondern mitten in einer furchtbaren Katastrophe der Geschichte, wie sie bis jetzt unerhört war, solange es eine Geschichte der Menschheit gibt. Sie ist nur zu vergleichen mit einem ungeheuren Erdbeben, welches die ganze Erde ergriffen hat. Wieviel von unserer ge-
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samten Kultur und all unsrem geistigen und seelischen Besitz auf immer untergehen wird, wie viele Menschen begraben werden, wie viele oder wie wenige überhaupt übrigbleiben werden, das wissen wir noch nicht. Sind doch neben Feuer, Schwert und Hunger ganz neue zerstörende Gewalten über die Menschheit gekommen! Was früher nur wie ein leichter giftiger Hauch um uns war, der da verwehte, die öffentliche Lüge und Verleumdung, der Völkerhaß und der Seelenmord, das ist zur Sturmgewalt geworden, die im Bunde mit dem Feuer und Schwert alles vor sich her niederwirft. Wohl hat mit Gottes Hilfe in diesem unerhörten Kampf unser äußerer Mensch noch standgehalten und das Feld behauptet; aber wie können wir in dem Kampfe weiter noch bestehen, wenn wir nicht stark werden, stark bleiben am inwendigen Menschen? Wir wollen daher in unserer Betrachtung handeln: erstlich, vom inwendigen Menschen, und sodann, vom starken inwendigen Menschen. 1. Es ist wohl jedem aufmerksamen Bibelleser aufgefallen, in wievielerlei und in wie verschiedenem Sinne das Neue Testament, und besonders der Apostel Paulus, vom „Menschen" spricht. Der Anfang zu einer ganz neuen Seelenkunde liegt hier, die das Innerliche und Neue, was man erlebt hatte, erweckt hat. Der Apostel spricht von dem alten Menschen und dem neuen Menschen, dem fleischlichen und dem geistlichen Menschen, dem wiedergeborenen und dem unwiedergeborenen Menschen, dem kindischen und dem mannhaften Menschen, dem unvollkommenen und vollkommenen "Menschen und so fort. Alle diese Gegensätze, von denen jeder etwas anderes bedeutet, haben das gemeinsame, daß sie ausschließliche sind: man ist entweder das eine oder das andere, ein alter Mensch oder ein neuer Mensch, ein kindischer Mensch oder ein mannhafter Mensch, das eine von Natur und das andere durch Gnade. Aber mit dem Unterschied vom inwendigen und vom äußeren Menschen steht es anders. Das ist ein bleibender Unterschied und eine fortdauernde Spannung
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in einem jeden, der Menschenantlitz trägt, und wer das leugnet, der stellt sich damit aus dem Menschlichen heraus. Vor den Augen des ewigen Gottes mag auch diese Spannung eine Einheit sein; für uns bleibt sie, solange wir leben, eine Zweiheit. Was ist es nun aber um den inwendigen Menschen? Man sagt, er sei gleichbedeutend mit der Seele. Aber das ist ein Irrtum. Die Seele bleibt bestehen, auch wenn der inwendige Mensch nahezu erstorben ist. Der inwendige Mensch ist nicht die Seele, sondern etwas in der Seele, nämlich die geheimnisvolle Einheit unsres Wesens, daß wir nicht stückweise an die Welt und an den Lauf der Dinge um uns, wie bloße Teile der Natur, zerfallen. Ohne den inwendigen Menschen sind wir wie Ufersand, den der Strom mit sich reißt, und wie dürre Blätter, die der Wind treibt, wohin er will. Die Geschlossenheit, Festigkeit und Stetigkeit als Wesen eigener Art und den Adel der Seele gibt uns nur der innere Mensch. Einer unserer Gegner hat in diesem Kriege in bösem Zusammenhang das Wort geprägt vom „Sacro Egoismo"; aber dieses Wort hat doch etwas Wahres: Es gibt einen heiligen Egoismus, nämlich daß wir uns selbst unverbrüchlich bewahren in der Einheit unsres Wesens und uns selbst treu bleiben, damit wir nicht wie ich gesagt habe, stückweise an die Welt zerfallen. Aber der inwendige Mensch enthält noch mehr. „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen", sagt der Apostel. Der inwendige Mensch steht in einer tiefen Verwandtschaft mit dem Creator-Spiritus, mit. dem schöpferischen Geist, und er ist angelegt auf die Welt des Guten, Wahren und Schönen, ja sie sind seine eigentliche Welt. Seht! Darum erheben wir uns an unsern Klassikern und freuen uns an den herrlichen Männern, die uns vor einem Jahrhundert geschenkt worden sind, weil sie heimisch waren in jener Welt, in der Welt des Idealismus, und sie sie uns zu deuten vermochten und nahegebracht haben. Tief unter ihrem Fuße lag alles bloß Sinnliche und Gemeine; sie atmeten die köstliche Luft der Höhe; ihr Fühlen, Denken und Sein war vom Geiste durchtränkt. Vom inwendigen Menschen aus nahmen sie
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das Leben auf und gaben allem ein erhabenes Gepräge und einen großen Stil. An ihnen lernen wir dankbar, daß der inwendige Mensch auf eine Welt angelegt ist, die man nicht sehen noch betasten kann und die doch eine Wirklichkeit ist, und daß er in ihr sein eigentümliches Wesen findet und erfaßt. Und doch ist damit noch nicht das letzte gesagt. Nicht nur auf das „Gesetz des Herrn" ist der inwendige Mensch angelegt, sondern auch auf den Herrn selbst, auf Gott. Einer der tiefsten Seelenkundigen hat gesagt: „Du, Herr, hast uns auf dich hin geschaffen", und er hat recht gesagt. Wie der Mensch aus Gottes Hand als sein Ebenbild hervorgegangen ist, so wurzelt er mit seinem inwendigen Menschen unausreißbar in Gott. Es gibt keine Atheisten; denn wie eine Quelle eine Quelle bleibt, auch wenn sie ganz und gar verschüttet ist, so bleibt auch der Gottesmensch in uns, auch wenn wir ihn mit Gedanken, Worten und Werken abstreiten. J a , ich darf noch mehr sagen: ich hate in einem langen Leben noch niemanden gefunden, der, wenn man ihm näher kam, nicht noch eine Verbindung mit Gott hatte, sei's auch nur eine Sehnsucht. Abei1* es ist etwas Großes um diese Sehnsucht! Sie ist unser bestes natürliches Erbgut, und es waren nicht Kirchenchristen, die sie so bezeichnet haben: „Doch ist es jedem eingeboren, daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt." Und besser noch: „Selig sind, die das Heimweh haben; denn sie sollen nach Hause kommen." Der inwendige Mensch ist von Natur ein Christ — nicht im Sinne irgendwelcher Dogmatik, auch nicht, weil er es sein will, sondern weil er den Zug zu dem Gott nicht zu verleugnen vermag, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt, im Himmel und auf Erden. Aber derselbe Apostel, der da bekannte: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen", fügt sofort hinzu: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt." Damit hat er den großen und bleibenden Kampf bezeichnet, den wir alle kennen: „Ich lieg' im Streit und widerstreb." Dieses andere Gesetz „in meinen Gliedern" liegt nicht nur im Fleische und in der sinnlichen Natur,
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sondern auch in allem, wodurch wir mit dieser irdischen Welt verbunden sind, was uns zur Selbstsucht, Neid, Haß und Hoff art verführt. Das alles streitet wider den inwendigen Menschen, und, wenn wir auf unsre Mitmenschen und auf uns selbst blicken — viel häufiger sind hier die Niederlagen als die Siege. Dazu: der inwendige Mensch wird immer mehr verdunkelt und geschwächt. Vor allem wird seine Richtung auf Gott, unseren Vater, verdunkelt, und nun stellen sich allerlei Versuche ein, ihn zu ersetzen. Selbst in dieser schweren Zeit der Not erleben wir das. Da greifen die einen, vom Patriotismus mißleitet, sogar auf den alten germanischen Wotan zurück und wollen uns diesen „Allvater" wieder empfehlen als den deutschen Gott. Aber so erhebend manches in unsrer alten deutschen Mythologie ist — es ist gut, daß wir von diesem deutschen Gott nicht mehr wissen, als uns gesagt ist; denn es würden vermutlich wenig erbauliche Dinge sein, die wir von diesem Sturm- und Kriegsgott erführen. Andere aber meinen, der „Vater", das sei allzu menschlich geredet, und mit einem solchen Gott sei man noch nicht auf der Höhe; auf die Erkenntnis des All-Einen komme es an und auf Gott und die Seele in dem Sinne, daß sie zusammen ein und derselbe Geist seien, der sich in einer Vielheit von Erscheinungen auswirke. In solchen Gedanken steckt viel Erhabenes und Reines, und doch sind sie Irrtümer, und ihre Propheten sind Träumer; denn sie träumen über die Wirklichkeit der Erfahrungen und die Wirklichkeit der Dinge hinweg, die uns die All-Einheit vielleicht in der Natur lehrt, aber nimmermehr in der Welt, zu der unser höheres Leben gehört. Und zur Verdunkelung des inwendigen Menschen gesellt sich seine Schwächung: „Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht", und mit Schmerzen, ja oft genug mit Verzweiflung müssen wir sehen, daß sich das Leben und Wachstum des inwendigen Menschen nicht nach dem Leben und Wachstum des äußeren richtet. Zwar auch der inwendige Mensch hat sein Kindesund Jünglings- und Mannesalter, aber es folgt nicht dem des äußeren Menschen, und während dieser erstarkt, bleibt
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der inwendige Mensch oft genug zurück, ja wird schwächer und stumpfer. Und nun wendet er sich von der Verzagtheit zum Trotz, ja spricht sich selbst das Sein und Leben ab und behauptet, er existiere gar nicht, alles sei vielmehr Täuschung und Trug; nur der äußere Mensch existiere und sei, wie alles andere auch, nichts anderes als ein Stück „Natur". Ob das in Verzweiflung gesagt oder als befreiende Botschaft wie ein Evangelium verkündet wird, macht in der Sache nichts aus. Der Weisheit letzter Schluß ist hier: „Der Mensch stirbt wie das Vieh", also hat er das Recht zu leben wie jede andere Kreatur auf dieser Erde. Meine Freunde! Wenn wir unsere Tagesliteratur betrachten, Romane und Novellen, auch solche, welche in dieser schweren Zeit veröffentlicht sind, so glaube ich nicht zu irren, wenn ich sage, für die große Menge derselben existiert der inwendige Mensch überhaupt nicht mehr. Sie gehen an ihm und seinen Nöten und Problemen vorüber wie an einem abgetanen Märchen, und selbst in den Seelenkämpfen, die sie mit vieler Kunst schildern, ist er vollkommen ausgeschaltet. Die urwüchsige Glückseligkeit eines unbefangenen Trieblebens, nur gestört durch veraltete Ordnungen und Mißgeschick und verbrämt mit allerlei Zierschmuck, wird vorgeführt — das ist der Mensch, und das ist das Leben! Das ist eine schwere Gefahr und eine wirkliche Not, in die der inwendige Mensch durch solche Lehrmeister gebracht wird. Und nicht nur der einzelne leidet unter ihr, sondern auch das ganze Volk. Denn auch von dem ganzen Volk gilt, daß es einen äußeren und einen inwendigen Menschen hat. Es ist das Geheimnis unsrer gliedlichen Verbindung, daß wir nicht ein Haufe von Sandkörnern sind, sondern daß in der Familie, in den Gemeinschaftskörpern und im Volke eine geistleibliche Einheit gegeben ist, so wirklich wie die Wirklichkeiten der Natur. Auch sie hat einen inwendigen Menschen, der der Pflege bedarf und wachsen soll. Aber auch hier gilt oft genug, daß der äußere Mensch mächtiger wird als der inwendige und daß ein ganzes Volk innerlich schwach wird und seinen Halt verliert. Ein Einzelner mag wohl auf seine Weise sich
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noch halten können auf der unsicheren Gletscherbrücke, auf der er steht; aber wenn sein Weib und seine Kinder und das ganze Volk auf sie treten sollen, stürzt sie ein. Soviel vom inwendigen Menschen und seinem Kampf. 2.
Was aber sagt unser Text uns weiter noch? Er redet vom Starkwerden am inwendigen Menschen. Der Apostel betet nicht, daß der inwendige Mensch weise werde oder glücklich, sondern daß er stark werde, und er ist gewiß, daß das eine Gabe Gottes ist und Gottes Kraft dazu nötig ist. Ja, er sagt noch mehr: für etwas so Großes und Herrliches hält er den starken inwendigen Menschen, daß er nur dem Reichtum der Herrlichkeit Gottes entstammen kann! Welches Gottes? Des Gottes, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt, im Himmel und auf Erden. Seht, meine Freunde, so schließt der Apostel den starken inwendigen Menschen mit der Majestät und Allmacht und Vaterliebe Gottes selbst zusammen! Er kennt nichts Größeres im Himmel und auf Erden neben Gott als den starken inwendigen Menschen! Und so ist's wirklich! Es gibt nichts Herrlicheres und Würdigeres auf Erden als ihn, nichts Demütigeres und nichts Mutigeres. Der starke inwendige Mensch kann auch allein stehen inmitten seiner Umgebung und aller Feinde und verzagt niemals. „Doch er stehet mutig an dem Steuer; mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen; Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen." Woher kommt ihm dieser Mut? Weil er mit dem im Bunde ist, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt. In den Führungen seines Lebens hat er gelernt, daß sie alle aus der Vaterhand Gottes kamen. In diesem Sinne ist er mit seinem eigenen Leben im reinen, mit seiner Vergangenheit und darum auch mit seiner Zukunft. Und weil er mit seinem Leben im reinen ist, erschüttert ihn auch der Gang der Weltgeschichte nicht; denn er weiß, daß sie trotz und wider allen Augenschein der lenkt, der der rechte Vater seiner Kinder ist. Seht, meine Freunde, hier liegt etwas Großes und Trostreiches: es hat noch nie einen Christen gegeben, der um der äußeren Geschicke
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willen irre geworden ist an Gott. Denn wer an seinem eigenen Leben erfahren hat, daß Gott auch im Unglück und Leid, in Sünde und Schuld Friedensgedanken hatte, der läßt sich durch nichts, was da auf Erden geschieht, verwirren oder umwerfen, auch wenn er den Gang der Dinge nicht zu verstehen noch wie ein Prophet zu durchschauen vermag. Und der Apostel sagt weiter von Gott, daß unser inwendiger Mensch stark werden soll durch seinen Geist. Schon der inwendige Mensch an sich steht, wie wir gesehen haben, von seinem Ursprung her mit dem schöpferischen Geist in Verbindung; aber der starke inwendige Mensch wird ganz und gar von ihm getragen und wird dadurch zum Mitschöpfer und Mitarbeiter Gottes. Der starke inwendige Mensch — und nur er auf der ganzen Erde — vermag sein eigenes Schicksal zu ändern, ja, in das Weltschicksal einzugreifen. Neben ihm gibt es nur die eine und selbige Naturkraft; aber in die Hand des starken inwendigen Menscher; ist eine zweite schöpferische Kraft gelegt. „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet." W o du einen siegreichen Kampf kämpfst gegen dich selbst, bist du Gottes Mitarbeiter und schaffst ein Neues. W o du einen Gedanken faßt und durchsetzet, der Gottes Reich bauen hilft auf dieser Erde, und sei es auch im Kleinsten, da schafft Gottes Heiliger Geist durch dich. Und ferner sagt der Apostel von dem starken inwendigen Menschen, daß Christus in ihm wohne durch den Glauben. Bei dem einen wird der inwendige Mensch dadurch stark, daß ihm zuerst die Herrlichkeit Gottes des Vaters aufgeht, und alles andere folgt dann nach, und bei dem anderen wird er dadurch stark, daß ihm zuerst das Bild Christi mit seinem Kreuze ins Herz strahlt und alles andere schließt sich daran an. Gottes Führungen sind verschieden. Was heißt aber „Christus zu wohnen in dem Herzen," und wie versteht der Apostel das? Merkt wohl auf: er fügt hinzu: „Durch den Glauben." In dem Menschen wohnt Christus durch den Glauben, der ihn, wie er in den Evangelien vor uns steht, erfaßt als seinen
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Herrn und Heiland, das heißt ihn sich voll Zuversicht und Dank als seinen Führer erwählt, dem er folgen will, auf den hin er es wagt, trotz Not lind Sünde sein Leben freudig zu leben. Das ist nicht gemeint und das ist nicht nötig, daß ein solcher Mensch die Nähe Christi gegenständlich empfindet, ihn umfaßt wie die Braut den Bräutigam und von der Süßigkeit und ähnlichem im Verkehr mit dem Heiland zu reden weiß. Wer solche Erfahrungen gemacht hat, der möge sie in einem feinen Herzen bei sich behalten; aber der Glaube und das Vertrauen sind sie nicht, sondern eine persönliche Zugabe. „In meines Herzens Grunde, dein Nam' und Kre.uz allein, funkelt all' Zeit und Stunde, drauf kann ich fröhlich sein" — so spricht der Glaube, der nicht sieht und nicht hört, sondern vertraut. Aber, sagt man uns, wie kann man in diesem Sinne über die Jahrhunderte hinweg vertrauen und sich Christum zum Führer nehmen? Das sagen oft genug dieselben Menschen, die ihre Begeisterung und ihre Hingabe ohne Maß musikalischen, literarischen oder philosophischen Führern widmen und Heilande aus ihnen machen. Man soll diesen Zug zu den Großen auch trotz der Übertreibungen ehren, können sie doch gute und starke Begleiter auf dem Lebenswege sein, aber leiten können sie nicht. Und möchten jene Gegner es doch einmal versuchen, auch nur einen Teil der Begeisterung und Hingabe, die sie an jene Führer wenden, auf den zu übertragen, der wirklich leiten und die Seele zu stärken vermag, Jesus Christus. Endlich aber fügt der Apostel noch hinzu: „Und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden." Wo eingewurzelt und gegründet? Nun, wie kann es anders sein, zunächst in Gott als sein Kind, dann in der Welt des Ewigen, die zu Gott gehört und unsere wahre Heimat ist, aber zugleich auch eingewurzelt und gegründet an der Stelle, wo wir hingestellt sind, damit wir in Gottes Reiche hier auf Erden schaffen und tun, was uns verordnet ist. Und durch die Liebe — nämlich durch die Liebe, mit der Er uns zuerst geliebt hat und von der uns nichts scheiden kann, und durch die Liebe zum Nächsten, zu „allem, was
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Kinder heißt", die er in uns erweckt. Inwiefern durch die Liebe? Weil nur die Liebe, und nichts anderes in der Welt, imstande ist, Opfer zu bringen, und ohne Opfer nichts geschafft werden kann. Nur die Liebe duldet alles und hoffet alles! Meine Freunde! Und nur ein geschlossener starker Mensch vermag wahrhaft zu lieben; alle anderen versuchen es nur. Nur ein geschlossener starker Mensch vermag die Ungerechtigkeiten der Welt zu ertragen und doch liebevoll zu bleiben. Die Ungerechtigkeiten der Welt — in unerhörter Weise haben sie überhand genommen; aber in Gottes Kraft wollen wir stark bleiben in der Liebe und in jeglichem guten Werk, wir zu Hause wie die draußen. Und ihr, meine jungen Freunde, die ihr nun wiederum ein Studiensemester vollendet habt, leistet auch ferner an eurem Teile Kriegshilfe, wie ihr es bisher getan habt, und ich hoffe alle! Sorget und schaffet für eure Brüder, soviel ihr es vermögt! Stark bleibe euer inwendiger Mensch, und er stütze und trage den äußeren. Unverzagt bleibe euer Sinn, was auch kommen mag! Seid gewiß: Er, der ein Vater ist über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden, wird die Seinen — uns und sein ganzes Volk auf Erden — nicht verlassen noch versäumen; denn Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung.1 Der erste Vortrag. Es ist ein kühnes, ja in der Regel ein dreistes Unternehmen, über die Religion eines Mannes zu sprechen; denn die Religion ist etwas so Innerliches — wir reden hier nicht von der Theologie — , so Zartes und Verborgenes, daß sie nur in ihren Wirkungen deutlich und faßbar hervortritt. Auch kommt hinzu, daß sie, wenn sie überhaupt etwas ist, etwas ganz Ursprüngliches ist. Aber alles Ursprüngliche, wenn es zur Aussage kommt, wird eben dadurch schon verändert, wie unsere natürlichen Triebe keine natürlichen mehr sind, sobald wir über sie sprechen. Ja es kann denen, die die Religion eines Mannes zu ermitteln versuchen, so gehen, wie jenen Ausgräbern: das, was sie ausgegraben haben, zerfällt alsbald an der Luft in Staub, oder wie jenen Photographen, deren Abzüge im Tageslicht nicht nur verblassen, sondern sogar auch die Konturen verlieren. Jedes tiefe Gefühl schließt uns den Mund, sei es, daß wir es selbst empfinden oder bei anderen wahrnehmen. Aber Denker und Dichter sind uns geschenkt, für die das Gesagte nicht zutrifft — große Persönlichkeiten, denen es ein Bedürfnis ist und die die Fähigkeit haben, auch das 1 Ich möchte dem Titel dieser Vorträge den Zusatz geben: „in elementarer Darstellung"; denn sie beabsichtigen nicht mehr, als die wichtigsten Aussagen Goethes, die wir hier besitzen, zu ordnen und ihr nächstes Verständnis sicher zu stellen.
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Innerste, das in ihrer Seele lebt, auszusprechen. Sie selbst bekennen, daß alles, was von ihnen bekannt geworden, Bruchstücke einer großen Konfession sind, und der wahre Dichter darf sich rühmen: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide." Und nicht nur was sie „leiden", auch was sie im Innersten bewegt, was sie aus der Welt heraushebt und zu neuen Höhen führt, vermögen sie auszusprechen — Plato und Paulus, Augustin, Dante und Milton und viele andere. Wenn sie uns ihre Religion enthüllen, so führen grade diese Bekenntnisse zu den tiefsten Einsichten in den Kern und den Reichtum ihrer Persönlichkeit. Nur darf man sie nicht sofort kritisieren wollen, mögen uns ihre Gedanken fremd anmuten oder vertraut sein; man muß sie ruhig auf sich wirken lassen. Es gilt auch hier: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!" Zu diesen Persönlichkeiten gehört vor allem auch Goethe; es ist aber die schönste Fügung, daß es innerhalb der gesamten Geschichte der Literatur, ja der Welt schlechterdings keinen gibt, den wir, dank seinen Werken, besser und vollkommener kennen lernen können als diesen erhabenen und reichsten Geist. Und wir lernen ihn kennen sowohl in der langen Epoche seiner Entwicklung als auch in der seiner Vollendung. Zwischen diesen beiden Epochen sicher zu unterscheiden, hat freilich weder die GoethePhilologie noch die Goethe-„Gnostik" bisher ausreichend gelernt, und doch ist die Unterscheidung eine höchst nötige, wenn man diesen Genius erfassen will. Statt dessen spricht man, manchmal sogar etwas wegwerfend, vom Goetheschen „Altersstil" oder vom „alten" Goethe und versperrt sich dadurch den Blick für die wichtigste Tatsache, daß Goethe in den letzten zehn bis zwanzig Jahren seines Lebens — auf den verschiedenen Linien seiner inneren und äußeren Arbeit tritt der Abschluß nicht gleichzeitig ein — eine großartige, ja beispiellose Vollendung erlebt hat.1 1 Eine Ausnahme bildet das Werk meines verstorbenen Bruders Otto Harnack „Goethe in der Epoche seiner Vollendung (1805—1832)", 3. A u f l . 1905· Das Werk erschien zuerst im Jahre 1886, und ich habe meinem Bruder einst die Aufgabe und den Titel vorgeschlagen. Die Zeit der Voll-
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Nichts von der Vielseitigkeit und Freiheit seiner Entwicklungszeit hat er dabei verleugnet oder verloren, vielmehr ist er noch reicher geworden, hat aber alles „aufgehoben" und zu einer Einheit geführt — zur strengen Notwendigkeit des Abgestuften und des Erhabenen, des Werdenden und des Vollendeten. Übrigens besitzen wir von Goethe selbst das Wort: „Das Leben jedes bedeutenden Menschen, das nicht durch einen frühen Tod abgebrochen wird, läßt sich in drei Epochen teilen, in die der ersten Bildung, in die des eigentümlichen Strebens und in die des Gelangens zum Ziel, zur Vollendung." 1. Goethe und die Religion — noch heute wird uns von angeblichen Goethe-Kennern gesagt, er habe überhaupt keine gehabt: als Sinnenmensch und Heide oder als Titane und Prometheus oder als ein strenger Spinozist, vor allem aber als ein dezidierter Nichtchrist wird er vorgestellt. Selbst für solche Perioden seiner Entwicklung, in denen er dem Christentum ganz abgewandt war, gelten diese Urteile nur sehr bedingt; denn zu allen Zeiten hat er sich bemüht, durch unablässige Arbeit an sich selber ein festes Verhältnis zu den höchsten und letzten Fragen zu gewinnen, und daher keine von ihnen ganz preisgegeben. Sehr bezeichnend sind hier die Worte aus einem Briefe vom J. 1782: „Wenn Du eine glühende Masse Eisen auf dem Herde siehst, so denkst Du nicht, daß soviel Schlacken darin stecken, als sich erst offenbaren, wenn es unter den großen Hammer kommt. Dann scheidet sich der Unrat, den das Feuer selbst nicht absonderte, und fließt und stiebt in glühenden Tropfen davon, und das gediegene Erz bleibt dem Arbeiter in der Zange. Es scheint, als wenn es eines so gewaltigen Hammers bedurft habe, um meine Natur von den vielen Schlacken zu befreien und mein Herz gediegen zu machen, und wieviel, wieviel Unrat weiß sich auch noch da zu verstecken." endung setze ich etwas später an als er. Mit seiner Auffassung stimme ich in den Grundzügen überein und bekenne dankbar, von ihm gelernt zu haben.
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Richtig ist, daß bei Goethe in der Epoche seiner Entwicklung verschiedene Weltanschauungen nebeneinander wie auf einer Fläche standen. Teils wechselte er noch zwischen ihnen, teils wurden sie in demselben Zeitmoment νοα ihm erfaßt und stießen unharmonisch aufeinander, zusammengehalten und versöhnt nur durch sein großes und sicheres Lebensgefühl. „Und so spalt' ich mich, ihr Lieben, und bin immerfort der Eine." Aber in der Epoche seiner Vollendung ist es anders. Da gilt kein „Entwederoder" mehr, sondern das „Sowohl-als auch". Alles schließt sich zu einem großen, herrlichen Gewölbe zusammen oder, um mit einem anderen seiner Bilder zu sprechen, zu einer Pyramide. Nicht nur die Außenwelt erscheint ihm nun als solche, sondern er spricht auch von seinem eigenen „Pyramidenleben". Damit ist die Vollendung erreicht. Wie soll man Goethes Religion in dieser Epoche der Vollendung darstellen? Am liebsten reihte man ein Zitat an das andere und begnügte sich damit, aber damit würde man der Aufgabe doch nicht gerecht, weil Wichtiges im Unklaren bliebe oder unvermittelt erschiene. Eine förmliche Systematisierung darf man aber auch nicht versuchen; denn alles Religiöse widerstreitet einer solchen und Goethe selbst verbittet sie sich. Also muß man einen Mittelweg einschlagen und es mit einer elastischen und gleichsam schwebenden Systematisierung versuchen, die überall Raum läßt f ü r die eigenen Worte des Dichters. Schwierigkeiten gibt es auch dann noch, die die Durchführung der Aufgabe bedrohen. Goethe hat in der Epoche seiner Vollendung sehr vieles Bedeutende symbolisch ausgesprochen; ferner wurde ihm das Pädagogische immer wertvoller und endlich liebt er es, tiefste Gedanken in Aphorismen und Maximen niederzulegen. Wer das Symbolische ζ. B. im letzten Akt des zweiten Teils des „Faust" wörtlich nimmt oder das Schwebende verkennt, muß den Sinn des Dichters notwendig verfehlen, und wer übersieht, welche Rolle in den „Wanderjahren", aber auch in so manchen „Gesprächen", die Absicht spielt, den Leser und Hörer zu erziehen, wird oft eine Betrachtung als f ü r den Dichter definitiv annehmen, die doch nur pädagogisch ge-
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9. Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung. (1922)
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meint ist. Am schwierigsten ist die richtige Stellung zu den „Maximen". Sie lauten in der Regel so absolut wie Sprichwörter, aber eben deshalb wollen sie, wie diese, aus einer bestimmten Situation heraus und f ü r sie gedeutet und verstanden sein. Goethe hat uns das selbst gesagt: „Kurze, kaum zusammenhängende Sätze", schreibt er, „erscheinen, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox, nötigen uns aber vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärts zu gehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weither, von unten herauf, wo möglich zu vergegenwärtigen." Ich erinnere an ein Wort wie: „Nur die Lumpe sind bescheiden." Aber auch auf dem uns hier beschäftigenden Gebiete gibt es solche genug. Am häufigsten wird da der Spruch zitiert: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion: wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion." Die kleinen Geister, die diese Worte gerne anführen, weil sie ihre Morgenluft hier zu wittern meinen, spüren die unwirsche Ironie des Spruchs nicht. Man braucht gar nicht daran zu erinnern, daß Goethe wirklich eine Sphäre und ein Sein kannte, f ü r welche Religion, Wissenschaft und Kunst zusammenfallen — hier aber sollte doch schon der paradoxe Imperativ: „der habe Religion" (kann man Religion befehlen!) jeden belehren, daß der Dichter zudringliche Herzenskündiger und Proselytenmacher abweisen wollte. Übrigens — wer „besitzt" denn Wissenschaft und Kunst? Augenscheinlich nur die falschen Interpreten dieses Spruchs; denn die anderen werden Umstände machen, sich hier für „Besitzer" zu erklären. 2.
„Gott, wenn wir hochstehen, ist Alles; stehen wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit" — dieses Wort Goethes soll uns sofort auf die Höhe heben, auf welcher die ganze Frage in seinem Sinne aufzunehmen ist. Er sagt uns zunächst, was Religion bei ihm nicht ist — keine sentimentale Begleitmelodie zum Leben, kein kümmerliches Füllsel, gestopft in die Lücken der Weltanschauung und des Lebens, nicht eine trübe kleine
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Kapelle neben den bewohnten Zimmern, aber auch keine billige Lösung der Rätsel des Lebens als Anweisung auf ein Jenseits, keine Erfüllung unserer Begehrlichkeiten und endlich auch nicht eine Versicherung der Moral. Goethes Religion hat es ihrem Ursprung nach überhaupt nicht mit Gut und Böse zu tun; sie wurzelt nicht in der Moral, weder in jener, die er als Ordnungsfaktor respektiert und schätzt, noch in der höheren, die ihm zur Welt der Freiheit gehört, sondern die Religion wurzelt nach Goethe im Menschen selbst, in seiner Totalität und in seiner tiefen Korrespondenz mit der Natur als einem Ganzen. Religion ist ihm eine eigentümliche universale Art, vom Wirklichen erfaßt zu werden und das Wirkliche zu erleben, neben den beiden anderen Funktionen, der betrachtenderkennenden und der tätig-künstlerischen. Für Schiller gehörte die Religion ganz in die Welt der moralischen Ideen; bei Goethe liegt sie näher, greift weiter aus und wird viel naiver und daher umfassender und tiefer empfunden. Jene Dreizahl der großen Lebensfunktionen, der betrachtend-erkennenden, der tätig-künstlerischen und der religiösen kann und soll, so zu sagen auf einen Schlag, von jedem Objekt ausgehen und aus jeder Erfahrung entspringen. Es wird sich von Goethes Sinn nicht entfernen, wenn ich folgendes Beispiel wähle: Das Kind am Weihnachtstisch, wie verhält es sich? Es verhält sich zu jedem einzelnen Geschenk beschaulich-erkennend und tätig-künstlerisch zugleich, und zwar in dem Momente, in dem es das Geschenk erschaut und in die Hand nimmt. Aber darüber hinaus dringt von der einzelnen Gabe aus, die ja umflossen ist vom Licht des Weihnachtsbaums, die besondere Weihnachtsfreude in das Kind ein mit der ganzen Skala von Bewunderung, Entzücken, Schaudern, Ehrfurcht, Demut, Liebe und Dankbarkeit, eine höhere Welt der Gefühle entfesselnd und bis zum Aufgehen in das eine Gefühl der seligen Hingebung fortwirkend. Religion ist nach Goethe „ein höherer Sinn, der der Natur des Menschen gegeben ist", der Sinn f ü r das Ganze als etwas Lebendiges und Heiliges.
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Religion ist nach Goethe Ehrfurcht und dankbare Hingebung — Ehrfurcht aber vor dem, was neben, über und unter uns ist. Die Hingebung hat Goethe in den wunderbaren Worten beschrieben: In unsres Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich den ewig Ungenannten: Wir heißen's fromm sein. Die Ehrfurcht ist die einzige höhere Stimmung in uns, die ganz ohne unser Zutun entsteht und die zugleich erhebt und demütigt, befreit und bindet. Das Gefühl der Ehrfurcht trägt in sich mit der Empfindung der Schranke die Sehnsucht, sie zu überwinden, und die Hingebung trägt sich in das Streben nach seliger Ruhe. Dort gilt: Und solang' Du das nicht hast, Dieses Stirb und Werde, Bist Du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. Und ferner: Doch ist es jedem eingeboren, Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uns, im blauen Raum verloren, Ihr schmetternd Lied die Lerche singt, Wenn über schroffen Fichtenhöhen Der Adler ausgebreitet schwebt, Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimat strebt. Hier empfindet man: Und alles Drängen, alles Ringen Ist ew'ge Ruh in Gott dem Herrn. Die in der Frömmigkeit gegebene Spannung von seliger Sehnsucht und seliger Hingabe löst sich nach Goethe auf in die „höchste Gemütsruhe", in jenen „Frieden, der kräftig genug ist, uns mit uns selbst und der Welt ins Gleiche zu setzen", in den „Frieden Gottes, welcher euch hienieden mehr als Vernunft beseligt". Der Außenwelt gegen-
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über aber erscheint die Frömmigkeit „als ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen". „Sie soll Frieden stiften zwischen dem geistlichen Reich und der Sinnlichkeit." 3.
Die Religion als Ehrfurcht vor dem, was neben uns ist — neben uns steht die Natur in der Fülle ihrer Erscheinungen.1 „Wer hier nicht mit Bewunderung und Erstaunen anfangen will, der findet nicht den Weg ins innere Heiligtum." Bewunderung und Erstaunen gehen in Ehrfurcht über. „Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung." Die Natur tritt uns in ihren Erscheinungen als lebendiger Organismus gegenüber, und Goethe empfindet „die Doppelingredienzien des Universums, Geist und Materie" — also nicht nur den Geist — „als Stellvertreter Gottes". Alles in der Natur ist ehrfurchtgebietend: Natur hat weder Kern noch Schale, Alles ist sie mit einem Male. Und: Müsset im Naturbetrachten Immer Eins wie Alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, Denn was Innen, das ist Außen. Und vor allem: Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart, Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art. Immer wechselnd, fest sich haltend, Nah und ferne, fern und nah, So gestaltend, umgestaltend: Zum Erstaunen bin ich da. „Hinter jedem organischen Wesen steckt die höhere Idee; das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig 1 Ich habe mich bei der Erklärung der „Ehrfurcht" im Sinne Goethes nicht streng an die bekannte Stelle in „Wilhelm Meisters Wanderjähren" gebunden, da sie besondere Zwecke verfolgt.
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suchen und zu erschauen hoffen; aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen." Diese Ehrfurcht vor der Natur, diesen Pantheismus, hat Goethe bis in sein höchstes Alter bewahrt: „Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, der Sonne anbetende Verehrung zu erweisen, so sage ich: durchaus! Denn sie ist eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Menschenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch wir allein leben, weben und sind." Wer ihm diese Ehrfurcht antastete und die Natur profanisierte, mit dem war er fertig; denn er fühlte sich im Innersten verletzt: „Ich bin nun einmal einer der Ephesinischen Goldschmiede, die sein ganzes Leben im Anschauen und Anstaunen und Verehrung des wunderwürdigen Tempels der Göttin und Nachbildung ihrer geheimnisvollen Gestalten zugebracht hat, und dem es unmöglich eine angenehme Empfindung erregen kann, wenn irgend ein Apostel seinen Mitbürgern einen andern, und noch dazu formlosen Gott aufdringen will." Zwei Gegner aber sah er hier vor sich: die asketischen Spiritualisten und jene Wissenschaftler, die in der Natur nur vom Mechanischen etwas wissen wollen, die also ihr unerschöpfliches Leben und ihre tiefe Planmäßigkeit verkennen, die auf eine unerforschliche bildende Kraft zurückweist. Jene asketischen Spiritualisten, zumal wenn sie im Namen des Christentums die Naturverachtung predigten, hat er als ruchlose und zugleich trübselige Leute stets mit einem wahrhaft Julianischen Haß behandelt. Er brach mit Lavater und anderen christlichen Freunden, weil sie in seinem Sinne Atheisten waren. Aber nicht minder groß war sein erbitterter Zorn über die, welche im Namen der Wissenschaft die Natur entgötterten, ihr sozusagen das Leben raubten und für die „unbegreiflich hohen Werke, die herrlich sind wie am ersten Tag" keine Empfindung hatten. Ja man kann nicht leugnen — hier ist er sogar ungerecht geworden. Obschon er Notwendigkeit und Recht der exakten Naturforschung, der mechanischen Welterklärung, so weit nur immer der mensch-
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liehe Geist hier vorzudringen vermag, und der physikalischen Experimente nicht verkannte, und so gewiß er auch selbst Originales und Großes hier geleistet hat — staunend und gerührt steht man heute noch vor seinen naturwissenschaftlichen Sammlungen —, so konnte er doch manchmal so reden und schreiben, als habe diese Art von Naturerkenntnis überhaupt kein Recht. Im Grunde bekämpfte er aber nur die Exklusivität, mit der ihre Vertreter andere Beobachtungen, die ihm tiefer und wertvoller erschienen, ausschlossen, ja sich gegen sie verhärteten. Und es wird die Zeit der Wissenschaft kommen, ja sie ist schon im Anzug, in der man an Goethes Naturverehrung nicht mehr nur mit Achselzucken vorübergehen, vielmehr erkennen wird, daß hihter ihr Erkenntnisse liegen, die einen Fortschritt in der Erfassung des Wirklichen bedeuten und wahrhaft produktiv sind. Die heutige „exakte" Naturwissenschaft hat letztlich nur ein Interesse für diejenigen Beobachtungen, kraft welcher wir die Natur zu beherrschen vermögen; Goethes Interesse reichte weiter: er wollte alles in der Natur, zumal das Lebendige, erspähen, ihm nachlauschen, ihm liebevoll nachsinnen und es zur Darstellung bringen („Naturgeheimnis werde nachgestammelt") — nicht um es zu beherrschen, sondern um es in seinem Gestaltenreichtum zu erfassen, die Fülle der Eigenwelten, die jede Spezies des Lebens umgeben, zu erschauen, sich an ihr zu entzücken und das eigene Lebensgefühl zu kräftigen („Der Anblick gibt den Engeln Stärke"). Er sah darin auch eine Wissenschaft, und der Naturdienst dieser Wissenschaft war ihm Gottesdienst. 4.
Die Religion als Ehrfurcht vor dem, was über uns ist — die Erscheinungen der Natur, vor allem aber die innern Erlebnisse innerhalb der Natur weisen auf eine Einheit zurück und diese umfaßt Gegensätze, ist gestaltgebend, steigernd, zielsetzend, zielstrebig, also geistig. Einst konnte es scheinen, als wollte er mit seinem Naturbegriff bei den Eindrücken einer sich immer nur wiederholenden Lebendigkeit und Produktivität, einem rastlosen
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Wallen und Wogen und einem paradoxen Ineinander von Tod und Leben stehen bleiben, das sub specie aeternitatis sich als eine ruhende Einheit darstellt: Wenn im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend ewig fließt, Das tausendfältige Gewölbe Sich kräftig ineinander schließt, Strömt Lebenslust aus allen Dingen, Dem kleinsten wie dem größten Stern, Und alles Drängen, alles Ringen Ist ew'ge Ruh in Gott dem Herrn. In diesem Sinn, aber ohne den Gottesgedanken, hat er einst (um d. J. 1780) Christoph Tobler zu dem berühmten Fragment „Die Natur" (erschienen im „Journal von Tieffurt") inspiriert, in welchem mit funkelnder und glänzender Rhetorik Wesen und Leben der all-einen Natur gefeiert wird. 1 Aber am Ende seines Lebens (1828) hat er selbst den Aufsatz also kritisiert: „Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, in dem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel, dem es bittrer Ernst ist, gar wohl gelten. Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Bergriff von Polarität und von Steigerung" usw.2 1 Durch die Nach Weisungen von P. Wcrnle (Sonntagsblatt der Basler Nachrichten, 1920, 11. Januar; vgl. auch Basler Zeitschr. f . Gesch. u. Altertumskunde, Bd. 20, 1 S. 28) steht jetzt fest, daß Tobler der Verfasser des Fragments ist; aber mit Recht hat Trog (Sonntagsblatt usw., 1920, 1. Febr.) den Anteil, der Goethe an dem Aufsatz zukommt, noch höher eingeschätzt als Wernle und dies auch urkundlich belegt. So erklärt es sich, daß Goethe nach Jahrzehnten glauben konnte, er selbst sei der Verfasser. — 2 Im J. 1892, als ich in Eastbourne bei dem Naturforscher Huxley weilte, hatte sich dieser soeben den prüfenden Scherz gemacht, das Fragment „Die Natur" ohne Goethes Namen, aber mit seinem eigenen in englischer Übersetzung in eine Zeitung zu rücken. Es machte das größte Aufsehen, und viele Stimmen erklärten, hier habe der große
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Goethes Naturanschauung hat sich allmählich durch Differenzierung vertieft, und wie er dem entsprechend nun Pole, große Gegensätze und Steigerungen in der Natur wahrnahm, vor allem die Gegensätze von Notwendigkeit und Freiheit, Materie und Geist, Trieb und sittlicher Bestimmung, so empfand er jetzt auch verschieden gegenüber den großen Erscheinungen in der Natur und gab ihnen besondere Werte. Die Ehrfurcht vor dem Sittlichen — bis zur Stärke des Kantschen Gefühls, aber ohne dessen Starrheit — trat immer lebendiger in ihm hervor: Sofort nun wende Dich nach Innen: Das Zentrum findest Du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag; Wirst keine Regel da vermissen, Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne Deinem Sittentag. Und: „Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt mehr." Dazu: „Jedes Geschäft wird eigentlich durch ethische Hebel bewegt." Weil ihm aber das Sein und Leben der Natur alle die erhabenen Herrlichkeiten mit ihren Spannungen umschloß, auch den Menschengeist, der an der übrigen Natur nicht seines Gleichen hat und deshalb über sie hinausragt — schritt er zu dem Bekenntnisse vor: So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, Und beide sind ein Abglanz jenes Urlichts Oben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet. Der Gottesgedanke — Gott-Natur und Gott doch von der Natur verschieden — zwang sich Goethe auf, aber niemals im Sinne eines Gottes, der nur von Außen stieße, Was wär' ein Gott, der nur von Außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, moderne Naturforscher die Quintessenz der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts als Ergebnis der naturwissenschaftlichen Gesamtforschung zum Ausdruck gebracht. Es war eine bittere Lehre, als den Überraschten der wahre Ursprung des Aufsatzes mitgeteilt wurde I
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Natur in sich, sich in Natur zu hegen, So daß, was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt; auch nicht im Sinne einer in die Welt eingeschlossenen, dem Menschen analogen höheren Persönlichkeit, sondern in einer schlechthin unerfaßlichen Art, die nur an ihren Manifestationen und Wirkungen offenbar wird. „Der Verstand reicht zur Gottheit nicht hinauf; der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von ihr ausgehen." „Ich glaube einen Gott: dies ist ein schönes, löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das ist die eigentliche Seligkeit auf Erden." „Ich frage nicht, ob dieses höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, die Vernunft selber. Alle Wesen sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon so viel, daß er Teile des Höchsten erkennen kann." Der Mensch — daß er Krone und Ziel der Schöpfung ist, erfaßte Goethe mit immer größerer Sicherheit: „Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen und sie Jahr aus, Jahr ein in den Strahlen der Sonne rollen zu lassen, hätte Gott wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, auf dieser materiellen Grundlage sich eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen." Aus dieser Hochschätzung des menschlichen Geistes heraus gegenüber und über der Natur konnte Goethe dichterisch sogar so sprechen, als stünden die Natur und „der ewige Meistermann" wie zwei Faktoren in gemeinsamem Wirken, wie Meister und Gesellin, nebeneinander: So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt! Das hat sie nicht zusammengebettelt;
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Sie hat's von Ewigkeit angezettelt, Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann. In Wahrheit empfand er das Göttliche in seiner All-Einheit als „pyramidalisch", und wie es sich ihm niemals spaltete, so ging es ihm auch nicht in der abstrakten und vagen Vorstellung des Absoluten auf („Vom Absoluten in theoretischem Sinn wage ich nicht zu reden"). Von den großen Religions- und Naturphilosophen seines Zeitalters hat er gewiß gelernt; aber er lieferte sich ihren Spekulationen nicht aus; sie entsprachen nicht der anschauenden Kraft seines Gefühls und respektierten anderseits nicht die Grenze, die seine jedem wahren Gefühl recht gebende Ehrfurcht und wiederum seine schweigende Ehrfurcht ihm zu ziehen geboten. Besonders charakteristisch ist hier sein Wort: „Ich für mich kann, bei den mannigfachen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben. Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eines so entschieden wie das Andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist auch dafür schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen es nur zusammen erfassen mögen." Aus dieser Erkenntnis heraus hat er das große Bekenntnis abgelegt: Im Namen dessen, der sich selbst erschuf Von Ewigkeit in schaffendem Beruf; In seinem Namen, der den Glauben schafft, Vertrauen, Liebe, Tätigkeit und Kraft; In jenes Namen, der, so oft genannt, Dem Wesen nach blieb immer unbekannt: So weit das Ohr, so weit das Auge reicht, Du findest nur Bekanntes, was ihm gleicht. Gewiß — Goethe ist stets „Monist" geblieben; aber mit diesem kahlen Wort ist wenig gesagt: in steigendem Maße hat ihn das Rätsel der „Polaritäten" beschäftigt, und so wurden ihm auch in dem einen Begriff „Gott-Natur" Gott und Natur zu Polen, deren Unterschied er nicht verwischt sehen wollte.
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Der Mensch hat die wunderbarsten Güter erhalten — „das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst", „den Gehalt in seinem Busen und die Form in seinem Geist", und so viele andere —; Goethe nennt sie „das Erbgut" und stellt sie der kirchlichen Lehre von der Erbsünde entgegen, die nicht in seinem Sinne war. „Das Leben ist gut, wie es auch sei", konnte er im Bewußtsein des herrlichen Besitzes ausrufen. Alle Tage, alle Nächte Rühm' ich so des Menschen Los, Denkt er ewig sich ins Rechte, Ist er ewig schön und groß. Aber Goethe wußte auch, daß sich dunkle Mächte von Innen und Außen dem Menschen entgegenstellen, die das Göttliche in ihm und die Einheit mit dem Göttlichen zu zerstören suchen. Dort ist es das verworrene, kleinsinnige Tun und die Trägheit, die ihn herabziehen und herabdrücken; hier sind es dämonische Schicksalsmächte, die ihn zu zermalmen drohen. Das Menschenleben scheint ein herrlich Los, Der Tag, wie lieblich und die Nacht wie groß! Und wir, gepflanzt in Paradieses Wonne, Genießen kaum der hocherlauchten Sonne, Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung Bald mit uns selbst, und bald mit der Umgebung. Verworrene Bestrebung — das ist die Summe aller der kleinen und großen Begehrlichkeiten, Irrungen und Erbärmlichkeiten, Kleinsinn und Neid, welche die Menschen aus der ihnen vorgezeichneten Bahn werfen und an denen Tausende verkümmern und zugrunde gehen. Und sie wirken zusammen mit der menschlichen Trägheit — zu ihr rechnete er auch die üble Laune —, die Goethe für das schlimmste Laster hielt, für schlimmer als Tatsünden. Es war ihm nicht zweifelhaft, daß es in erster Linie und immer die Unterlassungssünden sind, die den Menschen am innern Fortschritt hindern und ihn in einen dumpfen und selbstischen Zustand zurückwerfen. Der tröstlichen Zusage: „Wer immer strebend sich bemüht, den können
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wir erlösen," steht die Tatsache gegenüber, daß dem trägen Menschen nicht zu helfen ist. „Was nennst du denn Sünde? Wie Jedermann — wo ich finde, daß man's nicht lassen kann," das heißt, wo man den Kampf aufgibt und ins Passive zurücksinkt. Aber nicht genug — den schwersten Kampf hat die Mehrzahl der Menschen mit Mächten zu kämpfen, die Goethe „dämonische" nennt. Teils dringen sie von Außen hemmend oder zerstörend auf den Menschen ein: So selten ist es, daß die Menschen finden, Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, So selten, daß sie das erhalten, was Auch einmal die beglückte Hand ergriff und: Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte An seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden . . . . teils erheben sie sich aus den Abgründen des Menschen selbst, und er stürzt getrieben in das selbstgestellte Netz. Goethe hatte den tiefsten Eindruck von dem Furchtbaren dieser zweifachen Schicksalsmächte, von denen das Menschenleben fort und fort bedroht ist. Die erschütterndste Tragik kam über ihn, wenn er sah, wie zum Getriebe von bösem Willen, Kleinsinn und Trägheit, das den Menschen zu ersticken droht, so oft noch ein erbarmungsloses ehernes Schicksal hinzutritt, und wie sich dazu der Mensch selbst aus einer dämonischen Anlage heraus zu zerstören vermag. Er selbst hatte einen nie ruhenden Kampf mit seinen Dämonen zu führen; ja einigen gegenüber durfte er nicht einmal wagen, den Kampf überhaupt aufzunehmen. Er vermochte sich nur dadurch vor ihren Angriffen zu schützen, daß er die Situationen vermied, in denen sie ihn überfallen konnten. Aber auch in den dunkelsten Stunden offenbarten sich ihm die Mächte des Lebens siegreicher als die des Todes, der Friede Gottes höher als alles Leid.
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Der zweite Vortrag. Goethe ist Gottes Seher in der Natur gewesen. Achtzigjährig hat er sich „einen alten Schiffer" genannt, „der sein ganzes Leben auf dem Ozean der Natur zugebracht hat", und er ist seinem Bekenntnis treu geblieben: „Sei es mein einziges Glück, Dich zu berühren, Natur!" Aber der Schluß des ersten Vortrage hat uns nahe gelegt — was freilich ohne jedes Zeugnis gewiß wäre —, daß auch er in bezug auf die höchsten Fragen Stellung hat nehmen müssen zu den großen humanen und geschichtlichen Mächten und Ohnmächten. Will man daher seine Religion in der Epoche seiner Vollendung vollständig darstellen, so muß man sein Verhältnis zur Geschichte, zum geschichtlichen Leben und vor allem auch zum Christentum ins Auge fassen. 1. Jahrzehntelang stand er der Geschichte teils indifferent, teils skeptisch gegenüber. „Alle Geschichte ist mißlich und schwankend." „Die geschichtlichen Symbole — töricht, wer sie wichtig hält; immer forschet er ins Hohle und versäumt die reiche Welt." Das pädagogisch-prüfende Gespräch mit dem Jenaer Historiker Luden i. J. 1806, das uns so ausführlich überliefert ist, ist hier besonders charakteristisch. „Nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein Geringes von dem, was überhaupt geschehen ist. Alles in der Geschichte bleibt ungewiß, das Größte, wie das Geringste." Ferner bekennt sich Goethe hier aufs neue zu dem Urteil des Faust, daß in der Geschichte jeder seine eigene Wahrheit hat, und man in ihr nichts anderes zu sehen bekommt als „der Herren eigenen Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln". Allein allmählich gewann er doch eine andere Stellung sowohl zum Wesen als zur Erkennbarkeit der Geschichte, wenn er auch eine gewisse Skepsis nie zu überwinden vermochte. Nicht nur aus seinem Berufe als Staatsmann
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heraus, auch nicht nur infolge seiner intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Naturwissenschaften — hier war er sein eigener Kärrner, und seine „Geschichto der Farbenlehre" ist ein geschichtswissenschaftliches Werk ersten Rangs —, sondern ein positives Verhältnis zur Geschichte gewann er vor allem durch ein tieferes Eindringen in das Wesen des Geistes im Unterschied von der Natur und in das Wesen der Kulturen der Völker. Zwar in der „Pandora" (1807) ist das Kulturproblem noch abstrakt und ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Mächte als Ausgleich von Naturkraft und Ideal gefaßt; aber man darf wohl annehmen, daß das Werk auch eben deshalb ein Torso geblieben ist. Die Saat Herders ging langsam in ihm auf. Die Zukehr zur Geschichte ist immer auch Zükehr zu den geschichtlichen Religionen; denn sie sind die stärksten geschichtlichen Mächte oder waren es wenigstens. Goethes Verhältnis zum Christentum — zunächst ist hier hervorzuheben, wie bibelfest er von Jugend auf gewesen ist. Nicht nur die biblischen Stoffe waren ihm präsent, sondern auch sehr zahlreiche Sprüche. Er brauchte im späteren Alter das heilige Buch nicht erst zu studieren. Mit alttestamentlichen Fragen hat er sich bekanntlich frühzeitig und hingebend beschäftigt; aber seine Hochachtung vor der jüdischen Religion wuchs nicht, sondern nahm ab und machte in der Epoche seiner Vollendung einer entschiedenen Abneigung Platz. Er konnte zuletzt sogar behaupten, das Christentum stehe zu dem Judentum in einem stärkeren Gegensatz als zu dem Heidentum. Das starr Deistische, das er als der jüdischen Religion wesentlich zu erkennen glaubte, stieß ihn ab. Die christliche Religion, ein ursprüngliches Hauptelement seiner Bildung, behauptete zunächst ihren Platz bei ihm, auch als andere Lebenskräfte und Denkweisen Eingang begehrten und von ihm ergriffen wurden. Sie stieß sich mit ihnen aufs härteste, aber Goethe verabschiedete sie zunächst nicht, so lange sie ihm in so lebendiger, mannigfaltiger und eindrucksvoller Gestalt entgegentrat wie durch Herder, das Fräulein von Klettenberg und den Herrnhuter Kreis, die
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Mystik der Frau von Guyon, Lavater, Jacobi und andere. Noch in einem jüngst entdeckten Briefe vom J. 1774 an einen pietistischen Freund erbittet er vom „hochgelobten Heiland" zum neuen Jahre die Fortsetzung des Freundschaftsverhältnisses. Liest man freilich andere Zeugnisse aus dieser Zeit, so versteht man es kaum, wie es ihm möglich war, so Verschiedenes nebeneinander festzuhalten. Unzweifelhaft gab es in seiner Seele eine Stelle, an der sich das Bild der Hoheit in der Niedrigkeit, also das Bild des Gekreuzigten, gegenüber Bedenken und Widersprüchen aller Art doch behauptete. Die Katastrophe — denn von einer solchen darf man reden — mußte hereinbrechen; aber daß sie so kam, wie sie gekommen ist, und so schmerzlos war, ist hauptsächlich Lavaters Schuld. Das Gemisch von Fanatismus, Engherzigkeit, Wunderglaube,, Sentimentalität und Selbstbetrug, das ihm am Christentum des Freundes entgegentrat, zeigte ihm den üblen Sumpf, an dem er selbst stand, und zugleich die Fesseln, die er abwerfen mußte, um wahrhaftig Und frei zu werden. „Ich kann es nicht anders als ungerecht und einen Raub nennen, der sich f ü r Deine gute Sache nicht ziemt," schreibt er, „daß Du alle köstlichen Federn der tausendfachen Geflügel unter dem Himmel ihnen, als wären sie usurpiert, ausraufst, um Deinen Paradiesvogel ausschließlich damit zu schmücken. Dieses ist, was uns notwendig verdrießen und unleidlich scheinen muß, die wir uns einer jeden durch Menschen und den Menschen offenbarten Weisheit zu Schülern hingeben und als Söhne Gottes ihn in uns selbst und allen seinen Kindern anbeten. Da ich zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein dezidierter Nichtchrist bin, so hat mir Dein Buch widrige Eindrücke gemacht, weil Du Dich gar zu ungebärdig gegen den alten Gott und seine Kinder stellst. Du hältst das Evangelium, wie es steht, f ü r die göttlichste Wahrheit — mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert und daß ein Toter aufersteht, vielmehr halte ich das f ü r Lästerung gegen den großen Gott und seine Offen-
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barung in der Natur. Du findest nichts schöner als das Evangelium; ich finde tausend geschriebene Blätter alter und neuer von Gott begnadeter Menschen ebenso schön und der Menschheit nützlich und unentbehrlich." Mit dem orthodox-pietistischen Christentum war er nun für immer fertig, und mit diesem schob er jetzt die christliche Religion überhaupt zurück. Die volle Hingabe an die Antike, wie er sie verstand, und der Aufenthalt in Rom vollendeten dann die Abkehr — mit souveränerer Nichtachtung und Verachtung ist schwerlich jemand vor ihm und nach ihm dem Katholizismus in Rom begegnet! Nur die bunte Welt des kirchlichen Tun und Treibens interessierte ihn, also die Unchristlichkeit der Kirche. Was sie aber „Christliches" bot, bereitete ihm die übelsten Empfindungen, und den Teufel läßt er sprechen: „Ihr wißt, wie wir in tief verruchten Stunden Vernichtung sannen menschlichem Geschlecht; das Schändlichste, was wir erfunden, ist ihrer Andacht eben recht." Aber er wollte auch kein Kreuz mehr sehen, und selbst Madonnenbilder wurden ihm lästig; jede Erinnerung an die Hostie erweckte in ihm den entschiedensten Widerwillen und jedes christliche Wort Überdruß. „Die Geschichte des guten Jesus habe ich nun so satt, daß ich sie von keinem, als allenfalls von ihm selbst, hören möchte." Er ging noch weiter: „Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre." Die ganze Kirchengeschichte erschien ihm lediglich als „ein Mischmasch von Irrtum und Gewalt", und er verhöhnte ihre Entwicklung in den Worten: Zwei Gegner sind es, die sich boxen, Die Arianer und Orthodoxen, Durch viele Saecla dasselbe geschiecht, Es dauert bis an das jüngste Gericht. Auch auf die Reformation und das evangelische Christentum dehnte er seine Abneigung aus; von jener behauptete er, sie habe ruhige Bildung zurückgedrängt, und von diesem, es sei — abgesehen von Luthers Charakter — ein verworrener Quark, der uns noch täglich zur Last falle. Ein „Ersticken am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten" befürchtete er, und ein ge-
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wisses Unbehagen, ja ein Argwohn allem Christlich-Kirchlichen gegenüber hat sich als Unterströmung aus der mittleren Zeit seines Lebens bis in die letzte Periode gezogen. Daß er dem orthodoxen Pietismus bis zuletzt mit superiorer Ablehnung gegenübergestanden hat, lehrt seine kritische Anzeige der Predigten Krummachers, die ihm auf einen dumpfen, armseligen Zustand zugeschnitten erscheinen. 3.
Man darf dennoch behaupten, daß der Faden, der ihn mit seinen christlichen Jugendeindrücken verband, niemals völlig abgerissen ist. Seit der Zeit der Freiheitskriege aber läßt sich deutlich der allmähliche Aufstieg zu einer umfassenderen und vertieften Religionsanschauung erkennen. Aus der Wirrnis der Gegenwart flüchtet er in den Orient, „Patriarchenluft zu kosten", und was er von dort zurückbringt und mit einem neuen Liebes- und Lebensgefühl durchdringt, das war nicht nur eine neue Poesie, sondern, der Ausdruck ist nicht zu stark, eine neue Seele. Diese neue Seele eroberte Gebiete, die ihm bisher verschlossen waren, und indem gleichzeitig in und neben der pantheistischen Weltbetrachtung die theistische ihr Recht bei ihm durchsetzte, gewann seine Lebensanschauung die Stufe der Vollendung, und die Pyramide seines Daseins wurde bis zur Spitze geführt. Aber man muß sich auch jetzt vor Systematisierung und Schematisierung seiner Gedanken hüten. Nur Töne und Akkorde darf man anschlagen, wie er sie selbst angeschlagen hat. Sie quellen bei ihm hervor aus einer symphonischen Konzeption, die als Ganze in seinem Geist und in seiner Seele tief verschlossen bleibt. „Höhere Maximen sollen wir nur aussprechen, insofern sie der Welt zu Gute kommen; andere sollen wir bei uns behalten; aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten." Und ähnlich: „Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere: schon genug, wenn es wie Glockenton ernst freundlich durch die Lüfte wogt." Ruhe in Gott — Gnade
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und Überlieferung — Glaube und Zuversicht in der Stellung zum Leben — rastlose Tätigkeit und Entsagung — Liebe und Vollendung durch Erlösung: das sind die Töne und Akkorde, die Goethe uns jetzt hören läßt: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord- und südliches Gelände Ruh'n im Frieden seiner Hände. Die Kritik soll in Ehrfurcht schweigen: „Frage nicht, durch welche Pforte du in Gottes Haus gekommen, sondern bleib' am stillen Orte, wo du einmal Platz genommen." Die Prometheus - Stimmung ist zurückgedrängt; schon der Schluß der „Pandora" zeigt das. Goethe empfindet, daß das Tiefste und Höchste, was die Menschenbrust bewegt und beseligt, den Charakter und die Empfindungsfarbe eines geschenkten Gutes hat — „Ein holder Born, in welchem ich bade, ist Überlieferung, ist Gnade" —, und daß das Leben, wenn es als höheres empfunden wird, auch 2ur Anerkennung einer höheren Leitung f ü h r t : Was zu wünschen ist, ihr drunten fühlt es, Was zu geben ist, die wissen's droben. Groß beginnet ihr Titanen, Aber leiten zu dem Ewigguten, Ewigschönen Ist der Götter Werk — die laßt gewähren! Nun entschleiern sich ihm auch das Wesen des Glaubens und die Kraft der beseligenden und vollendenden Liebe. Der Glaube als die Zuversicht zum Sinn des Lebens und als Zuversicht zum Sieg des Lebens. In einem monumentalen Zeugnis hat Goethe sein Bekenntnis zu diesem Glauben niedergelegt: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar f ü r Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet und wenn sie auf einen Augenblick mit einem Scheinglanz prahlen sollten —, verschwinden vor der Nachwelt,
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weil sich niemand gern mit Erkenntnissen des Unfruchtbaren abquälen mag." Zur Geschichte vom sinkenden Petrus bemerkte Goethe: „Es ist dies eine der schönsten Legenden, die ich von allen lieb habe. Es ist darin die hohe Lehre ausgesprochen, daß der Mensch durch Glauben und frischen Mut im schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei anwandelndem geringsten Zweifel sogleich verloren sei." Goethe geht aber nicht im Sinne einer oberflächlichen Dogmatik vom Glauben sofort zur Liebe über, vielmehr schiebt er hier ein Doppeltes ein und dringt darauf mit dem größten Nachdruck und Ernst. Das Erste kennen wir schon: es ist gegenüber dem Laster der Trägheit seine Forderung rastloser Tätigkeit, nur daß jetzt diese Tätigkeit entschiedener als selbstloser Dienst zum Wohle des Ganzen charakterisiert wird. „Immer strebend sich bemühen", das heißt nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, die Arbeit an sich selber, sondern, wie der Schluß des „Faust" lehrt, die hingebende Arbeit für andere. Die Arbeit an sich selber aber — und das ist das Zweite — stellt sich Goethe in der Epoche seiner Vollendung mehr und mehr als Entsagung dar. Von ihr hat er in früheren Perioden nur wenig und schmerzvoll gesprochen; jetzt geht ihm immer mehr auf, daß eine hochgemutete und stetige Entsagung nötig ist, um nicht stückweise an die Welt zu zerfallen, sondern sich selbst zu behaupten. „Wer für die Welt etwas tun will, darf sich mit ihr nicht einlassen," so bestimmt lautet jetzt die Forderung, und sein letzter großer Roman ist, wie schon der Titel lehrt, ganz auf diesen Ton gestimmt. Der Mensch muß sich einer pädagogischen Zucht unterwerfen und verzichten lernen, um das auszubilden, was in ihn gelegt ist, sein Urbild zu verwirklichen und auf seiner Linie zur Vollendung zu gelangen. Entsagung in diesem Sinne, das ist die Askese, die einzige, die Goethe nun gelten läßt, die er aber jetzt auch fordert. Sie hat nichts zu tun mit der mönchischen Abtötung oder gar mit Selbstwegwerfung, vielmehr gehört sie mit dem freudigen „Immer strebend sich bemühen" untrennbar zusammen, ja sie ist selber dieses Bemühen:
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Das Opfer, das die Liebe bringt, Es ist das teuerste von allen: Doch wer sein Eigenstes bezwingt, Dem ist das schönste Los gefallen. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen" — ein Freund hatte Goethe gegenüber die Vermutung ausgesprochen, das Faustdrama werde seine befriedigende Lösung in der Durchführung des Gedankens finden: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt." Goethe lehnte das ab: „Das wäre ja Aufklärung; Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir Mystiker." Das klingt fast wie eine Entschuldigung; aber daß es so nicht gemeint sein kann, lehrt nicht nur die Sicherheit, mit welcher das Faustproblem in diesem Sinne zu Ende geführt ist, sondern auch die Fülle der Gedanken über die Liebe und die Vollendung, die wir von ihm aus seiner letzten Epoche besitzen. Wie für Dante läßt sich auch für Goethe zeigen, daß sich ihm im Laufe seines Lebens das tiefste Wesen der Liebe allmählich entschleiert hat, und daß der Begriff bei ihm zwar nie seine elementare Art und Kraft verloren, aber sich transformiert und zum Höchsten entwickelt hat: Wie strack mit eignem kräft'gen Triebe Der Stamm sich in die Lüfte trägt, So ist es die allmächt'ge Liebe, Die Alles bildet, Alles hegt. Die Liebe ist aber etwas so Großes, weil es ohne sie keine Erlösung und Vollendung gibt — Goethe kennt keine andere Erlösung als Vollendung —, und weil kein höheres Leben gedacht werden kann, das sich aus dem bloßen Streben heraus die vollendete Erlösung selbst zu schaffen vermag: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen :
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Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die sel'ge Schar Mit herzlichem Willkommen. Man darf an dem „gar" nicht Anstoß nehmen. Es mag dahingestellt bleiben, ob es nicht des Reims wegen gesagt ist, aber gewiß soll es nicht abschwächen, als wäre die Liebe von oben hier etwas halb Überflüssiges, sondern vielmehr steigern. Im Juni 1831 äußerte er Eckermann gegenüber: „In jenen Versen ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unsrer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigne Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade." Wie Goethe über einen zeitgenössischen Dichter geäußert hat, es fehle ihm die Liebe, und ihn damit verurteilt, so hat er darüber keinen Zweifel gelassen, daß aus dem Vergänglichen und dem Unzulänglichen nur die göttliche Liebe herausführt, daß sie daher nicht eine bloße Zugabe zum Leben ist, die auch fehlen kann, sondern Nahrung und Kraft des höheren Lebens: „Wundertätig ist die Liebe, die sich im Gebet enthüllt", und Steigt hinan zu höhrem Kreise, Wachset immer unvermerkt, Wie nach ewig reiner Weise Gottes Gegenwart verstärkt! Denn das ist der Geister Nahrung, Die im freisten Aether waltet: Ew'gen Liebens Offenbarung, Die zur Seligkeit entfaltet. Ist der Glaube die Zuversicht zum Sinn des Lebens und zum Sieg des Lebens, so hat Goethe in der Epoche seiner Vollendung in der Liebe von oben die Kraft des Sieges und die Kraft der vollendenden Erlösung empfunden. Es ist aber diese Liebe dieselbe Liebe, „die Alles bildet, Alles hegt", und die sich jedem Wesen auf immer
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höheren Stufen so offenbart, wie es ihm nötig ist. Das schlichteste Zeugnis f ü r diese Einheit bietet wohl jene Szene, wo Eckermann über die eben beobachtete Mutterliebe einer Grasmücke in Erstaunen ausbricht und Goethe „bedeutungsvoll" bemerkt: „Närrischer Mensch! wenn Ihr an Gott glaubtet, so würdet Ihr Euch nicht verwundern... Die göttliche Kraft ist überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam." 4.
An diese Welt der Empfindungen und Gedanken muß man Goethes Aussagen über die christliche Religion aus der letzten Zeit seines Lebens anschließen. Sie bedürfen nun keines Kommentars mehr, und sie sprechen f ü r sich selbst. Goethe nennt die christliche Religion jetzt die dritte und höchste Stufe in der Religionsgeschichte. „Nun kann die Menschheit nicht mehr zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden könne, und da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelöst werden mag." 1 Und: „Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen f ü r sich, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet hat, und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über aller Philosophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stütze." „Die christliche Religion, oft genug zergliedert und zerstreut, muß sich doch immer wieder am Kreuz zusammenfinden." Von der Ribel bekennt er: „Deshalb ist die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, so lange die Welt steht, niemand auftreten und sagen 1 Dabei bewahrte er sich einen Sinn für die Tragik des Untergangs der antiken religiösen Welt: „Man soll die letzten Verteidiger der antiken Weltanschauung studieren; sie sind noch so wenig gewürdigt und begriffen, und doch ist es so rührend, diese Tapferkeit der Pietät für eine untergehende sittliche Welt". Einen prinzipiellen Unterschied von natürlicher und geoffenbarter Religion ga6 er nicht zu: „Was Tiat denn der christlichen Religion den Sieg über alle anderen verschafft, wodurch ist sie die Herrin der Welt geworden und verdient es zu sein, als weil sie die Wahrheiten der natürlichen Religion in sich aufgenommen? Wo ist denn da der Gegensatz? Die Grenzen fließen ja ineinander."
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wird: Ich begreife es im Ganzen und verstehe es im Einzelnen; wir aber sagen bescheiden: Im Ganzen ist es ehrwürdig und im Einzelnen anwendbar." Und: „Jene große Verehrung, welche der Bibel von vielen Völkern und Geschlechtern der Erde gewidmet worden ist, verdankt sie ihrem innern Wert. Sie ist nicht etwa nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volks zum Symbol aller übrigen aufstellt, die Geschichte derselben an die Entstehung der Welt anknüpft und durch eine Stufenreihe irdischer und geistiger Entwicklungen, notwendiger und zufälliger Ereignisse bis in die entferntesten Regionen der äußersten Ewigkeiten hinausführt . . . Wenn man die jüdische Geschichte bis auf die Neuzeit ergänzte und die Ausbreitung des Christentums hinzufügte, wenn man vor der Offenbarung Johannis die reine christliche Lehre im Sinne des Neuen Testaments zusammengefaßt aufstellte, so verdiente dieses Werk nicht nur als allgemeines Buch, sondern als allgemeine Bibliothek der Völker zu gelten und würde gewiß, je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, immer mehr zum Teil als Fundament, zum Teil als Werkzeug der Erziehung, freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genützt werden können." Welch ein weit ausschauender Plan, freilich ganz unausführbar, aber eben deshalb als Ziel so wertvoll! Wenige Tage vor seinem Tode hat er (am 11. März 1832) sein Urteil über die christliche Religion also zusammengefaßt: „Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will — über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen." Das ist das testamentarische Bekenntnis Goethes in der Stunde seiner Vollendung! Auch zur Reformation gewann er jetzt ein sicheres Verhältnis. Zwar Luthers Charakter war ihm immer groß erschienen, jetzt aber schreibt er: „Sie läuten soeben mit unsern sonoren Glocken das Reformationsfest ein. Ein
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Schall und Ton, bei dem wir nicht gleichgültig bleiben dürfen: Erhalt' uns Herr bei Deinem Wort und steure!" Und er bezeugt: „Wir wissen gar nicht, was wir Luther und der Reformation im allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit; wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen." Auch in das Wesen des evangelischen Christentums ist Goethe eingedrungen, wenn er präzis formuliert: „Der Hauptbegriff des Luthertums beruht auf dem entschiedenen Gegensatz von Gesetz und Evangelium." Aber Wissen und Glauben wollte Goethe auch jetzt noch, wie früher, unvermengt lassen — „Daß ein Philosoph durch einen Umweg über die Ur- und Ungründe des Wesens und Nicht-Wesens seine Schüler wiederum zum Kreuze hinführt, will mir nicht behagen. Das kann man wohlfeiler haben und besser aussprechen" —, und von den verstaubten Dogmen wollte er noch immer nichts wissen: „Ich glaubte an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug; ich sollte auch glauben, daß drei Eins sei und Eins drei; das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit im mindesten wäre geholfen worden." Der Kirche räumte er jetzt wohl ein Recht ein, aber nur ein relatives: „Der Standpunkt der Kirche ist mehr menschlicher Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen; doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, solange schwache menschliche Wesen sein werden." Die Überzeugung hat Goethe nie aufgegeben, daß es eine große, freie Menschheitsreligion gibt, die der Ertrag eines am Christentum — nicht ebenso leicht an anderen Religionen — erstarkten höheren Lebens ist; ihr gegenüber sind alle positiven Religionen, wie sie sich als Glaubenssätze und Kirchen darstellen, unvollkommen, ungenügend und unsicher. Um so sicherer aber trat ihm die Einzigartigkeit der Person Christi aus der Bibel und der Weltgeschichte ent-
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gegen. Zwei Äußerungen sind hier besonders entscheidend. Er bekennt von Christus: „Dort sehen wir ihn stehen, wo Gott das Weltall aufgerichtet hat" — man überlege, was dieses Wort bedeutet! —, und er äußert sich Eckermann gegenüber: „In den Evangelien ist der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich, ob es in Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: Durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit." Aber auch damit ist noch nicht das Letzte, was er hier empfand, von ihm gesagt: Die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, ist Goethe eben an dem Kreuze, welches ihm inmitten der profanen Welt so unerträglich war, als heiliges Geheimnis aufgegangen: „Die Ehrfurcht, vor dem, was unter uns ist, ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja selbst Sünde und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen?" Die Kraft dieser schauernden und ehrfürchtigen Worte soll von der Tiefe der Einheit des Erlösers mit dem göttlichen Willen und von der umwertenden und umschaffenden Kraft der leidenden Liebe eine Ahnung geben! „Aber wir ziehen einen Schleier über seine Leiden, eben weil wir sie so hoch ehren. Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr das Schauspiel aufdrang, mit diesen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, als bis das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint." Wer wollte und wer dürfte diesen Worten etwas hinzufügen! — —
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„Glaubt ihr, ein Sarg könne mir imponieren? Kein tüchtiger Mensch läßt seiner Brust den Glauben an Unsterblichkeit rauben!" so sprach Goethe zum Kanzler von Müller bei einer nächtlichen Unterredung (1830). „Alle die sind auch für dieses Leben tot, die kein anderes hoffen", lautet ein anderer seiner Aussprüche. Und: „Wirken wir fort, bis wir, vom Weltgeist berufen, in den Äther zurückkehren! Möge der ewig Lebendige uns reine Tätigkeiten nicht versagen, jenen analog, in denen wir uns schon erprobt haben." Auf welcher Grundlage er in den hohen Stunden seines Lebens hoffte, nicht aus philosophischen Erwägungen heraus — er lehnte sie hier ab —, sondern aus der Kraft einer am geschichtlichen Leben gewonnenen Gesinnung, die ihm zum Leben selbst wurde, das hat er in den Versen niedergelegt: Laßt fahren hin das Allzuflüchtige, Ihr sucht bei ihm vergebens Rat, In dem Vergangenen lebt das Tüchtige, Verewigt sich in schöner Tat. Und so gewinnt sich das Lebendige Durch Folg' aus Folge neue Kraft; Denn die Gesinnung, die beständige, Sie macht allein den Menschen dauerhaft. So löst sich jene große Frage Nach unsrem zweiten Vaterland; Denn das Beständige der ird'schen Tage Verbürgt uns ewigen Bestand. Die Gesinnung, die beständige — sie war auch bei ihm nicht in dem Sinne „beständig", daß sie nicht zeitweilig auch noch in seinem Alter dunkleren Betrachtungen und Gefühlen unterlag; aber die „Tagansicht" behielt den Sieg über die „Nachtansicht". Unser höheres Wesen kommt nicht in einem ruhigen, sicheren Besitz, sondern im Kämpfen und Ringen zum Ausdruck. Nur das, wonach wir mit Bewußtsein streben, ist unser Eigentum; was wir zu besitzen meinen, haben wir bald verloren.
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Friedrich der Große ließ auf dem Neubau der Königlichen Bibliothek die Inschrift setzen: „Nutrimentum spiritus". Als vor einem Jahrzehnt diese Bibliothek einem neuen Baue weichen mußte, herrschte Ubereinstimmung darüber, daß man diese Inschrift nicht übertragen dürfe. Ich schlug als neue Inschrift die Worte vor: „Spiritus creator". Sie fand bei vielen starken Beifall; schließlich freilich blieb der Neubau ohne Inschrift, weil man eine lateinische nicht mehr wollte, und eine passende deutsche niemandem einfiel. Warum gab man die alte Inschrift preis und warum gefiel der neue Vorschlag? Weil man „Nutrimentum spiritus" als hausbacken bis zur Trivialität empfand und weil man in dem „Spiritus creator" die Würde des Geistes gewahrt sah. Eine neue Auffassung des „Geistes" im Gegensatz zu der Aufklärungszeit gab sich hier kund: man kann dem Geist nicht einen Tisch decken und ihm Futter vorsetzen wie dem Leibe; auch die größte Bibliothek vermag ihn nicht zu ernähren, wenn er nicht selbst wirkt und schafft. Dieser Geist ist anderer Art, als der war, mit dem sich die vulgäre Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts begnügt hatte: er geht nicht in einer seichten Moral auf; er ordnet sich nicht einer niederen Zweckmäßigkeit unter — frei und schaffend schwebt er über dem gemeinen Da-
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sein und als Flamme entzündet er die Empfänglichen und Hochgemuteten. Diesen Geist hatten, von der Aufklärung erzogen, aber sie weit hinter sich lassend, unsere großen Führer beim Ubergang des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert erweckt, die Dichter und Philosophen um G o e t h e und S c h i l l e r , die durch ihr Wort und Wirken die Nation auf eine höhere Stufe gehoben haben. Aber bald und auf mehr als zwei Menschenalter wurden die Wirkungen, die von ihnen ausgingen, gehemmt, ja durchkreuzt durch die Episode, die hinter uns liegt. Sie ist einseitig bezeichnet, wenn man sie die naturwissenschaftlich-technische Episode nennt; denn sie zeigte sich ebenso in den sogenannten Geisteswissenschaften, wenn ihr auch nach außen die Naturwissenschaft das Gepräge gab. Auch sie ist vom deutschen Idealismus befruchtet worden, aber er ging hier in einer ganz bestimmten Richtung und stellte sich e i n e ganz bestimmte Aufgabe — die Welt und die Geschichte e x a k t zu erfassen und sie nach e i n e r eindeutigen strengen Methode zu begreifen und zu deuten. Die Arbeit, die hier getan worden ist, hat die unerwartetsten und reichsten Früchte getragen und der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt. Der großartige Erfolg erwies ihre Notwendigkeit. Aber nicht notwendig war es, daß sich diese Art von Wissenschaft für absolut erklärte, daß sie alle Probleme des Denkens und Lebens mit ihrer Methode bezwingen zu können glaubte, daß sie die mechanische Kausalität zur Gottheit erhob, und daß sie ruhig zusah, wie die Arbeit selbst sich mechanisierte, wie die Ideale entflohen, und wie sich der soziale Aufbau der Gesellschaft zersetzte. Alle Einseitigkeit ist zerstörend, das zeigte sich auch hier. Die „Maschine" wurde zur Herrin, und das prophetische Wort G o e t h e s begann sich zu erfüllen: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich; es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung ge-
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nommen; es wird kommen und treffen! . . . . Wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen!" Die Folgen sehen wir heute; aber wir dürfen auch sagen, daß, während sie zu unserem Unheil noch regieren, in der Oberschicht der Denker, der Dichter und der Volkswirte, gleichzeitig aber auch in der jungen Generation, das Elend erkannt ist und ein Neues gesucht wird. Der materialistischen Auffassung der Welt wird eine biologisch-organische, dem Stoff der Geist entgegengesetzt, und die Arbeit und die Arbeiter sollen von der Herrschaft der Maschine befreit werden. Ein neues Zeitalter des Geistes rückt heran — österreichische Philosophen, Gesinnungsgenossen und Schüler Franz B r e n t a n o s , und österreichische Dichter haben hier einen großen Anteil — und macht sich bereits überall spürbar. Zwar tritt der „Geist", wie stets in solchen Zeiten, auch in seltsamen Vermummungen auf, in Astrologie, Theosophie, Anthroposophie, Spiritismus und Okkultismus; aber sie sind nur Begleiterscheinungen der reinen, kräftigen und produktiven Bestrebungen, die in der Wissenschaft, der Dichtung und der neuen Soziologie und Organisierung der Gesellschaft bereits Ausgezeichnetes in quellender Fülle verkündet haben. „Spiritus creator" — der Geist ist der Schaffende; er regt seine mächtigen Fittiche und strebt wieder in Erkenntnis, Gesinnung und Gemüt zu jener Universalität, die dem Leben als einem Ganzen gerecht werden und edle Freiheit gewinnen will. Die exakte Wissenschaft und Technik soll nicht mißachtet, vielmehr mit größtem Fleiße fort und fort ausgebaut werden; aber sie soll nicht das Ein und Alles in Erkenntnis und Leben sein; sie soll den Anspruch aufgeben, die eigentlichen Lebensprobleme zu erklären; denn darin hat sie sich nicht bewährt; sie soll sich als e i n e Funktion einordnen in einen höheren Zusammenhang der Dinge und in eine tiefere Lebenserfassung und Lebensführung. Das Zeitalter des Geistes ist wieder im Kommen begriffen, das ist mir nicht zweifelhaft. Das, was schon am An-
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fang des vorigen Jahrhunderts, dank der Arbeit unserer Heroen, im Anbruch war, aber noch eine wahrscheinlich notwendige, aber doch höchst beklagenswerte Verzögerung erleben mußte, stellt sich mit Macht wieder ein. Aber — wird es nicht aufs neue gehemmt werden? Ist der Geist, der die Stunde regiert, ihm wirklich gewachsen? Ist er fähig, den Geist des kommenden Zeitalters aufzunehmen und ein Zeitalter des Geistes tatsächlich werden zu lassen? Niemand kann sich unterfangen, diese Schicksalsfrage mit einem zuversichtlichen Ja zu beantworten; denn ungeheuer groß sind die Widerstände, die es in der Breite unseres gegenwärtigen Daseins zu überwinden gilt. Da ist es vor allem die schwere materielle Not, die nichts Hohes aufkommen läßt. Zwar einem einzelnen kann, wie Geschichte und Erfahrung lehren, solch eine Not zum stärksten Auftrieb werden, aber für ein Volk bedeutet der wirtschaftliche Miserabilismus in der Regel auch den Niedergang des Idealismus und aller Moral. Haben wir das nicht erlebt, und stehen wir nicht noch mitten in diesem Erlebnis? Wie viele haben es vermocht, aus der Not einen Chor von Tugenden zu schaffen? Ist nicht vielmehr umgekehrt aus ihr ein Heer von Plagen entstanden — rücksichtsloser Egoismus, skrupellose Gewinnsucht, Untergang von Treu und Glauben, Aufhebung der zehn Gebote, Zersetzung der Rechtsbegriffe selbst bei denen, die zu Hütern der Rechtspflege bestimmt sind, ein wüstes Parteileben und eine Schamlosigkeit in der Zurschaustellung des nackten Unrechtes und des nackten Lasters, die noch vor zehn Jahren für unmöglich gehalten worden wäre? Dürfen wir aber für das alles nur die materielle Not verantwortlich machen? Spricht sich nicht vielmehr in diesem Gebaren auch ein radikales Böses aus, das sich mit Genugtuung endlich zu schlimmen Taten befreit sieht? Und sitzt das Unheil etwa nur in der Welt des Handels und Wandels? Vor hundert Jahren schrieb Wilhelm v. H u m b o l d t an seine Gattin: „Wenn man in hohen Stellen einer Regierung dient,
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die man mißbilligt, ist es nie verzeihlich." Wie stimmt zu dieser selbstverständlichen Zartheit des politischen Gewissens das, was wir bei hohen Staatsbeamten in Hochverratsprozessen jüngst erlebt haben und täglich noch ohne solche überall erleben? Welchen Respekt genießt der Staat und die Verfassung bei vielen, die, ich sage nicht zur Nachachtung und Gehorsam, sondern zum Schutz und zur Pflege des Staates verpflichtet sind? Und wenn die Zersetzung der Treue dort oben ungestraft geduldet wird, wer kann sich wundern, daß sie in den Niederungen sich fortsetzt? Ist das nun der Geist unserer Zeit? Ist es so weit mit uns gekommen? Unleugbar: All dies Unheil ist da, macht sich breit und bedroht unser Dasein aufs schlimmste. Aber so ist es doch nicht, wird uns von entgegengesetzten Seiten zugerufen. Die einen, die am Anfang am Ruder waren, verweisen uns auf alle die schönen Institutionen und Neuordnungen, die sie geschaffen haben, und die anderen erklären, daß die alten Ideale und Staatsordnungen bei ihnen sind, und daß sie bald stark genug sein werden, sie wieder zurückzuführen. Allein jene haben es bisher nicht vermocht, das Neue mit einem starken und erhebenden Geist zu erfüllen und es dadurch zu stählen; sie sind trotz mancher Bemühungen einzelner, von ihrer materialistischen Grundlage loszukommen, doch an sie gefesselt; die anderen aber sollen sich nicht träumen lassen, daß sie durch eine einfache Zurückfiihrung des Alten und d u r c h P a r a den, H a k e n k r e u z e und S t a h l h e l m die Schäd e n d e r Z e i t h e i l e n k ö n n e n . Das sind alles untaugliche Versuche, denn den Zeiger der Zeit kann niemand zurückstellen; daher muß jede pure Reaktion zum weißen Schrecken und zum Bürgerkrieg führen. Also, scheint es, ist doch die moralische und politische Zersetzung der Geist unserer Zeit; denn die Parteien von links und rechts sind nicht imstande, ihn zu heilen. Daher, wenn wir in dieser Weise dem bösen Geist unserer Zeit
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ausgeliefert sind, wird nicht das heraufziehende Zeitalter des Geistes wiederum vergeblich bei uns anklopfen? Ich wage nicht mit Zuversicht zu sagen, wie der Ausgang der Krisis sich gestalten wird; ich wage nicht, einen schlimmen Ausgang bestimmt zu verneinen. Aber gewiß ist nur, daß die, welche uns heute zurufen: „Schaffet auf dem neuen Boden ein Neues, sucht euch im Sternenlicht der ewigen und unveränderlichen Ideale einen neuen Weg und tretet alles, was sich als feindlich und treulos erwiesen hat, unter die Füße" — nicht mehr nur Prediger in der Wüste sind. Wenn ich Umschau halte in dem Kreise, den ich zu übersehen vermag, bei den Alten und besonders in der Jugend, erblicke ich viele opferfreudige und hochgemutete Entsagung, eine tapfere neue Einstellung des Lebens, eine neue Freude an dem, was wirklich schätzenswert in der Welt ist, in Religion, Wissenschaft und Kunst, eine kräftige Liebe zu den Brüdern und Ehrfurcht vor allem, was da lebt. Es wird noch einen heißen Kampf kosten, aus dem Mechanismus, der uns umklammert, und zugleich aus der moralischen Misere, die uns zu vergiften droht, herauszukommen und ein Neues zu gestalten; aber hoffnungslos ist dieser Kampf nicht, und ein hohes Ziel winkt: D e m k o m m e n d e n Zeitalter des Geistes die Tore u n s e r e r Z e i t z u ö f f n e n . Große Mächte des Heiligen, Guten und Schönen kommen uns entgegen! Aber das wollen wir uns noch gesagt sein lassen: Mit dem Kämpfen allein ist es nicht getan; es gibt noch etwas Schwereres zu tun, was wir Deutschen, die wir geborene Ideologen sind, immer wieder vernachlässigen, nämlich das, was wir innerlich errungen haben und besitzen, wirklich in das tägliche Leben zu tragen und sozusagen in kleine Münze zu verwandeln. Allzu leicht begnügen wir uns mit der „Innerlichkeit", handeln nicht, lassen die fertige Kleinarbeit beiseite und glauben, daß der Gedanke und das Wort genügen. Aber sie genügen nicht, vielmehr müssen Tat, Werk und Organisation ihnen folgen. Nur wenn der
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Geist sich einen Leib schafft, ohne sich in ihm einzuschließen, bringt er es zu dauernden Wirkungen. *
Wir feiern Pfingsten, das Fest des heiligen Geistes. Indem unsere Sprache die feine Unterscheidung macht zwischen „geistig" und „geistlich", bringt sie eben dadurch die tiefe Verwandtschaft zwischen dem rechten Idealismus und der Religion zum Ausdruck. Trotz allem Widerspruch beschränkter und engherziger Menschen auf beiden Seiten besteht diese Verwandtschaft in der Tat, und jedes Pfingstfest ist zugleich ein Fest d e s Geistes, dem wir in Schöpfung und Erlösung alles verdanken, was wir sind, und jenes Geistes, der uns zur Freiheit führt, in den Mittelpunkt unserer Persönlichkeit tritt und uns selbst zu Schaffenden macht. Veni creator spiritus!
VI. Theologie als Wissenschaft
RITSCHL UND SEINE SCHULE GUSTAV E C K E DIE THEOLOGISCHE SCHULE ALBRECHT RITSCHLS UND DIE EVANGELISCHE KIRCHE DER GEGENWART. I. BD. 1897.
I. Der Verfasser dieses Buches ist Pastor am evangelischen Diakonissenhause in Bremen. Kaum in einer andern Stadt unsres Vaterlandes fand man und findet man noch die verschiednen kirchlichen und theologischen Richtungen so vollständig vertreten wie in jener Reichsstadt. Vielleicht auch an diesen Verhältnissen hat Herr E c k e die vornehmste Regel gelernt, die sich der Historiker zu stellen hat — unbestechliche Gerechtigkeit und Wahrheitsliebe, Wahrheitsliebe in jenem höhern Sinne, wie sie Goethe definiert hat: „daß man überall das Gute zu finden und zu schätzen wisse." Die Gerechtigkeit hat seinen Eleiß gespornt und ihn angeleitet, an keiner Äußerung vorüber zu gehen, die den Gegenstand in ein helleres Licht zu setzen geeignet schien. So ist ein Buch entstanden, das man aus verschiednen Gründen zu den erfreulichen theologischen Arbeiten der letzten Jahre zählen darf. Noch mehr — man darf dieses Werk als ein Friedenszeichen im Streit der Parteien begrüßen. Nicht dem ehrlich Kämpfenden predigt es Friede, wohl aber zwingt es jene giftigen und friedelosen Streitigkeiten nieder, die von der Ignoranz, dem Fanatismus und der Parteipolitik geführt werden. II. Herr Ecke hat darüber keinen welchem Standort aus er Ritsehl Schule Ritschis ins Auge faßt und allem strenger Biblizist. An sich
Zweifel gelassen, von und die theologische beurteilt. E r ist vor ist damit noch nichts
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1. Ritsehl und seine Schule (1897)
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gesagt; denn man kann Biblizist in vielfältigem Sinne sein. E r ist es in dem Sinne, den heute ein jeder kennt, der sich mit der kirchlichen Gegenwart beschäftigt, der aber nicht leicht zu definieren ist — ein milder Pietismus verschwistert mit einer milden Orthodoxie, die fest auf die „biblischen Vorstellungen" hält, aber den kirchlichen Formulierungen gegenüber weitherzig ist. Der Komplex von Glaubenslehren, der sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts allmählich ergeben hat, wird von dem Verfasser streng festgehalten und als ein untrüglicher Maßstab jedem Urteil zugrunde gelegt. Das ist nichts Eigentümliches; dennoch aber ist der Verfasser unter seinen Gesinnungsgenossen ein Mann von charaktervoller Eigenart. E r gehört zu den immer seltener werdenden orthodoxen Theologen, die die Abhängigkeit der theologischen Aussagen vom innern Leben der Religion noch ins Auge fassen und daher für das Werden religiöser und theologischer Uberzeugungen einen Sinn besitzen, noch mehr — er wendet diese Erkenntnisse auch an, wo es sich um die Deutung der theologischen Sätze der G-egner handelt. Ob ihm diese Methode, die seiner Darstellung und Kritik Freiheit, Farbe und Elastizität verleiht, von seinen Freunden nicht bereits als „Liberalismus" angerechnet werden wird, weiß ich nicht, fürchte es aber. Sie täten ihm freilich bittres Unrecht damit; denn sie haben keinen bessern und würdigern Kampfesgenossen als den Verfasser dieses Werkes, und er gehört vor allem deshalb ganz zu ihnen, weil ihm über die geschichtliche Richtigkeit und Wahrheit seines „biblisch-apostolischen Glaubens" niemals ein Zweifel kommt. Der sonst so freie und umsichtige Mann ist augenscheinlich davon überzeugt, daß die Frage, ob es überhaupt ein einheitliches biblisches Christentum in dogmatischer Ausprägung gibt, höchst überflüssig sei. E r ist ebenso davon überzeugt, daß die milde, pietistische Orthodoxie sich mit dem Inhalt der heiligen Schriften ein-
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VI. Theologie als Wissenschaft
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fach decke. Dennoch hat er ein treffliches und gerechtes theologisches Buch geschrieben, und man fühlt sich ihm innerlich verwandt. Wie das möglich ist, ist schon gesagt — weil er weiß, was religiöse Uberzeugungen sind, und wie theologische Gredanken werden und wachsen. III. Es sind hauptsächlich zwei Probleme, um deren Untersuchung es dem Verfasser zu tun gewesen ist. Erstlich die theologische Individualität Ritschis zu studieren und aufzumerken, wo etwas von ihm zu lernen ist. Zweitens festzustellen, in welchen Richtungen sich die Schule Ritschis bewegt, in welchen Punkten sie von dem Meister abweicht, lind wie diese Abweichungen zu beurteilen sind. Die zweite Aufgabe ist meines Wissens hier zum ersten Male gestellt und bearbeitet; denn die umfangreiche Schmähschrift, die N i p p o l d geschrieben hat, wird vom Verfasser mit Recht der Vergessenheit überlassen, in die sie gleich nach ihrem Erscheinen verfallen ist. E r hat nur die Sache und ihre innere Bewegung im Auge. I n Wahrheit aber gestaltet sich — zwischen den Zeilen, aber deutlich genug — seine Arbeit zu einer Anklage gegen die landläufigen Gregner der von Ritsehl ausgegangnen Bewegung, also gegen seine eignen theologischen G-esinnungsgenossen: sie haben sich einen „Ritsehl" konstruiert, wie sie ihn sich wünschten, und eine „Ritschlsche Schule", wie sie weder je existiert hat, noch existiert. Sie sehen nicht oder wollen nicht sehen, mit welcher Freiheit die „Schüler" dem Meister von Anfang an zur Seite getreten, wie sie bemüht gewesen sind, seine Sätze zu korrigieren, zu erweitern und zu ergänzen, und wie es — wenigstens unter denen, die öffentlich aufgetreten sind — einen Ritschlschen Dogmatiker strikter Observanz niemals gegeben hat. Man kann freilich einwenden, daß die Pietät derer, die dankbar bekennen, von Ritsehl gelernt zu haben, dem gelehrten und dem kirchenpolitischen Pub-
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likum das Urteil über ihr Verhältnis zu Ritsehl erschwert hat. H a t doch ζ. B. H e r r m a n n seinen Dank gegen Ritsehl stets dort am wärmsten bekundet, wo er sich am entschiedensten von ihm entfernte. Allein man schuldet einem großen Denker nicht nur die Gedanken, die man von ihm übernimmt, sondern vielleicht noch mehr die andern, in denen man ihn ergänzt oder ihm widerspricht; denn in der geistigen Arbeit wie in der mechanischen kann man sich nur auf das stützen, was Widerstand leistet. Auch kommt es denen, die weiter arbeiten, nicht zu, die Summe ihrer Arbeit in Vergleich zu setzen mit dem Kapitale, das sie überliefert erhalten haben. Wer das beurteilen will, muß die Buchhalter befragen, die freilich bisher unaufmerksam, lüderlich und tendenziös die Bücher geführt haben. Unser Verfasser hat es besser gemacht, und er ist daher des Danks aller sicher, denen es um geschichtliche Wahrheit zu tun ist. I n seinen Darlegungen hat sich Ecke lediglich auf das dogmatische, ja das kirchlich-dogmatische Gebiet beschränkt. Was Ritsehl darüber hinaus als Historiker geleistet hat, was die, die zu seinen Schülern gerechnet werden, wissenschaftlich erarbeitet haben, das kümmert ihn nicht. Diese Beschränkung war gewiß gestattet: der Verfasser schreibt als Diener der evangelischen Kirche und in ihrem Interesse; er will seine Grenzen nicht überschreiten. Ein vollständiges Bild von der Lebensarbeit Ritschis und den Arbeiten seiner Schule erhält man freilich so nicht; aber es war auch nicht beabsichtigt. Es handelt sich lediglich um das Verhältnis Ritschis und seiner Schüler zu dem „kirchlichen" Glauben der Gegenwart. IV. Der Verfasser hat seinen Stoff in fünf Kapitel zerlegt. In dem ersten sucht er Ritsehl nach seiner individuellen Eigenart als Dogmatiker zu verstehen und zu würdigen: E r war in hohem Maße befähigt, Probleme zu entdecken und in anregender Weise neu zu bearbeiten . . . E r
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ging vom Einzelnen aus und verstand es, durch sorgfältige Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes große Gesichtspunkte zu gewinnen. . . . E r baute, indem er kritisierte. F ü r die bedeutsamste Kombination, die Ritsehl vollzogen hat, erklärt der Verfasser die energische Verknüpfung der Tatsachen des praktischen Geisteslebens mit der geschichtlichen Offenbarung in der Person Christi unter scharfer Zurückweisung aller unberechtigten Ansprüche der theoretischen Vernunft. Mit Recht stellt der Verfasser die theologische Methode Ritschis sehr hoch und behauptet, Ritsehl sei in seinen Ausführungen über Fragen philosophischen Inhalts weniger glücklich gewesen als in den eigentlich theologischen Disziplinen. Alles, was der Verfasser sonst noch ausführt, namentlich der Nachweis, wie Ritschls dogmatisches System in geradezu überraschender Weise den Stempel seiner scharf geschnittenen geistigen und sittlichen Individualität trägt, ist vortrefflich beobachtet. Ebenso ist der Hinweis auf das Streben Ritschls, die dogmatische Terminologie zu vereinfachen, sehr beachtenswert. Endlich wird der Verfasser das Richtige getroffen haben, wenn er behauptet, daß in Ritsehl eine außerordentlich kräftige und in sich fest geschlossene, aber auch sehr einseitige Individualität unbewußt die Maßstäbe für die Gruppierung und Verwendung der biblischen Aussagen geliefert hat. Hier gedenkt er Ritschls scharfer Ablehnung des Pietismus in jeder Form und sucht aus ihr die Schranken dieser „männlichen" Frömmigkeit zu erklären. Die K r a f t dieser Theologie — so faßt er sein Urteil zusammen — ruht auf ihrer innern Wahrheit, auf der Ubereinstimmung streng wissenschaftlicher Gedankenbildung mit wirklich vorhandner praktischer Frömmigkeit; ihre Schranke liegt in der nur individuellen Auffassung des Christentums, in der scharfen Zurückweisung aller Ergänzung und Vertiefung durch anders geartete, in der christlichen Gemeinde nicht nur heimatberechtigte, sondern auch hervorragend be-
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währte Frömmigkeit. Der das gesamte theologische Leben und Wirken Ritschis ausfüllende Kampf gegen den Pietismus hat seiner ganzen Gedankenarbeit ein einseitiges Gepräge gegeben, hat ihn an der ruhigen Entfaltung seiner prinzipiellen Grundanschauungen gehindert, hat die K r a f t seiner guten Methode wesentlich geschwächt und die bedauerliche Folge gehabt, daß die unleugbaren Verdienste, welche Ritsehl zuerkannt werden müssen, bis jetzt in kirchlichen Kreisen nur geringe Würdigung gefunden haben. „Es ist Ritsehl gerade das begegnet, was er durch seine gute Methode vermeiden wollte" und, wie der Verfasser meint, auch vermeiden konnte — statt eines allgemein gültigen Ausdrucks bietet er „individuelles Christentum mit all seinen Schranken und Irrungen". Ich vermag dem Meisten von dem zuzustimmen, was der Verfasser über Ritschis Eigenart in vortrefflicher Weise ausgeführt hat, und glaube doch nicht, daß sie hier vollständig in ihrer Tiefe und Einheitlichkeit, in ihren Zielen und Ausgangspunkten erfaßt ist. Es sind, wenn ich recht sehe, drei Momente, die man in den Vordergrund zu stellen hat, die aber in innigstem Zusammenhang stehen. Erstlich, Ritsehl wollte keine „Fragmententheologie", sondern eine straffe, einheitliche und geschlossene Anschauung; was sich in diese nicht fügte, schloß er rücksichtslos aus, zerbrach es oder erklärte es für „individuell". Lebt der Glaube von hellen und klaren Erkenntnissen — von der Erkenntnis Gottes als des Vaters Jesu Christi —, hat Jesus Christus den Vater nicht verhüllt oder in ein mystisches Dunkel geschoben, sondern offenbar gemacht, so muß es möglich sein, in klarer und befreiender Weise von ihm zu reden und das Los und die Uberzeugung der Christenheit unter einem solchen Gott zur Darstellung zu bringen. Zweitens, Ritsehl wollte, indem er eine helle Theologie, d. h. deutliche Glaubensaussagen, verlangte, in keinem Sinne von der „natürlichen Theologie" etwas wissen, die er für ein will-
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kürlich von der Philosophie abstrahiertes Kunstprodukt erklärte, sondern er wollte sich ausschließlich an die Geschichte halten. Ihr Gebiet als Lehrmeisterin der praktischen Weltanschauung suchte er, wie gegen die Philosophie, so gegen die isolierte „innere Erfahrung" abzugrenzen. Er dachte dabei nicht ausschließlich an die sogenannte heilige Geschichte, sondern neben dieser war ihm der ganze Verlauf der Menschheitsgeschichte, die in ihrem Kern Religionsgeschichte ist, der gegebne Stoff, aus dem er schöpfte. Endlich drittens — und das scheint mir der Verfasser vor allem übersehen zu haben —• Ritsehl war protestantischer, d. h. antikatholischer Theologe von einer Schärfe und Entschiedenheit, wie wir solche seit Flacius, Chemnitz und den Tagen der altprotestantischen Orthodoxie nicht mehr erlebt haben. Hier liegt das eigentliche Geheimnis seiner Eigenart, Anziehungskraft und Größe. Sein Kampf gegen den Pietismus war nichts andres als ein Kampf gegen den Katholizismus, und er führte diesen Kampf so energisch, weil er der Überzeugung lebte, daß nicht weniger als der ganze Protestantismus auf dem Spiele stehe. Merkwürdig, wie wenig ihn seine pietistischen Gegner im Protestantismus verstanden haben! Sie glaubten, er unterschätze den Pietismus; im Gegenteil, er hielt ihn f ü r den einzigen Gegner, mit dem eine Auseinandersetzung kirchlich-theologischer Art notwendig sei, weil er ihn als Katholizismus in evangelischer Drapierung beurteilte. Der reformatorische Kampf des sechzehnten Jahrhunderts muß fortgesetzt werden, nicht um einige weitere unbegreifliche Dogmen los zu werden — an solcher Befreiung lag ihm merkwürdig wenig —, sondern um in der evangelischen Kirche d i e Haltung, Stimmung und Gesinnung zur Herrschaft zu bringen, die ihm die evangelische schien, und die der katholischen entgegengesetzt sei. Vor dem Katholizismus, seiner "Weite, Stärke, seiner in der Autorität gegebnen Einheitlichkeit und der
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Eigenart seiner Frömmigkeit hatte er den höchsten Respekt; ihm gegenüber erschien ihm der Protestantismus, wie er heute lebt, fragmentarisch, buntscheckig, vielfach haltlos lind ohne sichere Orientierung. Aber er war noch so altmodisch, an Konfessionen die Maßstäbe „wahr und falsch" anzulegen. Den Katholizismus hielt er f ü r falsch; im Protestantismus sah er grundlegende und entscheidende Momente der Wahrheit gegeben. Diese wollte er hervorziehen, ihnen eine souveräne Geltung verleihen und so dem Protestantismus eine feste religiöse G-esinnung und Stimmung, eine helle Glaubenslehre und einen sichern Zusammenhang mit dem aktiven Leben geben. I n allen diesen Beziehungen sollte er sich als die positive und entschiedne Antithese zum Katholizismus offenbaren oder richtiger als die scharf abgegrenzte höhere Stufe über ihm. Die autoritative Einheitlichkeit des Katholizismus soll überboten werden durch die innere Einheit des protestantischen Systems; die asketisch-kontemplative Frömmigkeit soll abgelöst werden durch die tätige, und in der Kombination des Rechtfertigungsglaubens mit dem Yorsehungsglauben und der „christlichen Vollkommenheit im tätigen Leben" soll sich die Einheit des geschichtlichen Grundes der christlichen Religion mit ihrem fortwirkenden Leben darstellen. In allen diesen Beziehungen erschien ihm der Pietismus als der Feind. Mochten auch persönliche Erlebnisse ihn mit zum Kampfe bestimmt haben — die letzten Gründe lagen tiefer. E r war überzeugt, daß der Protestantismus nur zu sich selber kommen und sich behaupten werde, wenn er alles Katholische überwinde. Der Pietismus aber schien ihm als Lehre und Leben die Macht zu sein, die den Protestantismus niederzwingt, ihn zu einer bloßen Abart des Katholizismus von zweifelhaftem Existenzrecht stempelt und ihn daran hindert, die Keimblätter abzustoßen und seine Blüten zu entfalten. Ritsehl wollte eine neue, von Katholizismus und Pietismus gereinigte,
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stramme protestantische Orthodoxie. Sie sollte wieder in der Sitte leben, aber auch in der Gesinnung und in der Tat. Dagegen sollten alle unruhigen, rührenden und schmelzenden Elemente ausgeschlossen sein. Er glaubte, diese Form allgemein gültig gefunden zu haben, und er hütete sie wie Flacius die seine. "Welch ein hohes Ziel, und welch ein Idealismus! Der feste Glaube an die Möglichkeit, eine streng einheitliche Erkenntnis G-ottes und der Welt zu gewinnen! Der Verzicht auf die Philosophie zu gunsten der Geschichte! Die Überzeugung, daß die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts ein positives, unerschütterliches Gut im Reiche der Religion und des Gedankens gewonnen hat, das nur rein entwickelt zu werden braucht, um den Katholizismus herabzudrücken und auf ewig ins Unrecht zu setzen! In dem Gefüge dieser Gedanken lebte Ritsehl, das waren seine Ziele, und jedes hohe und jedes herbe Wort, das er gesprochen, ist von hier aus zu verstehen. Wer unter uns lebt noch der vollen Zuversicht, die diesen großen Theologen beseelte? Wer getraut sich, die Gedanken so streng antithetisch und so exklusiv zu entwickeln wie er? Wir sind alle viel skeptischer und darum an den letzten Punkten, wo es sich um das Leben der Frömmigkeit· selbst handelt, viel konservativer als er, weil wir nicht wie er sicher sind, jeden Abstrich reichlich ersetzen zu können. Aber wer diesen theologischen Denker in seinen grundlegenden Ausführungen und in den entscheidenden Schlußfolgerungen verstanden hat, wie sie im dritten Bande seines Hauptwerks und in der Einleitung zur Geschichte des Pietismus enthalten sind, den läßt er nicht mehr los. In der Richtung, die Ritsehl gewiesen hat, liegt die Zukunft des Protestantismus als Religion und als geistige Macht. Auel; das vorstehende Buch ist dafür ein Beleg.
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V. In dem zweiten Kapitel erörtert der Verfasser „fremdartige Elemente in Ritschis Theologie". Ich halte diese Unterscheidung f ü r glücklich gewählt und fruchtbar. Sie enthält als Voraussetzung die Anerkennung, daß die Theologie Ritschis im ganzen, d. h. in den Motiven und Zielen, wirklich eine einheitliche ist, und sie ist auch dann berechtigt, wenn sich ergeben sollte, daß in den „fremdartigen Elementen" vorzügliche Elemente stecken. Der Verfasser ist freilich der Meinung, daß sie sämtlich minderwertig, ja häretisch oder doch bedenklich sind. Auf diese Kontroverse ausführlich einzugehen, ist hier nicht der Ort. Sieben Gedankenreihen werden uns vom Verfasser als solche bezeichnet, die Ritsehl hätte ausschließen müssen, statt sie aufzunehmen. Die erste ist jener Versuch, den christlichen Gedanken von Gott als wissenschaftlich notwendig nachzuweisen, den Ritsehl in der ersten Auflage unternommen, dann aber selbst zurückgestellt hat. Die zweite sind gewisse Ausführungen über die Persönlichkeit Gottes, die aus spekulativen Erwägungen unter Anlehnung an Lotze fließen. Als fremdartige Elemente werden drittens die erkenntnistheoretischen Aufstellungen betrachtet, die zum Teil Kant, zum Teil ebenfalls Lotze entlehnt sind. Besondres Gewicht aber legt Ecke viertens darauf, daß Ritsehl in entschiedner Abweichung von seinen eignen offenbarungsgläubigen Voraussetzungen den biblischen Begriff des Zorns Gottes nicht gelten lasse, beziehungsweise umdeute, sich sträube, Gottes Wesen in die geschichtliche Entwicklung hineinzuziehen und Gott wechselnden Stimmungen zu unterwerfen. Hiermit habe er die „supranaturale Zurückhaltung gegenüber der metaphysischen Spekulation" verleugnet, die ihn sonst von dem Rationalismus unterscheide. Hier hat der Verfasser meines Erachtens in der Tat einen P u n k t getroffen, in dem sich die
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Unhaltbarkeit des „reinen biblischen Offenbarungsglaubens", wie ihn Ritsehl proklamiert hat, erweist; allein Ritsehl hat stets eine Bedingung mit in den Ansatz gestellt, die er freilich nicht deutlich genug geltend gemacht hat — nämlich die der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit der zu gewinnenden Vorstellungen, aus der sich die Zurückstellung der niedern und ungefügen, beziehungsweise ihre Verweisung aus dem Bereich theoretischer Vorstellungen von selbst ergibt. Biblizist im strengen Sinne des Worts ist er nicht gewesen, sondern er suchte das Neue Testament durch das Neue Testament zu kritisieren und abzustufen. Ob er dann noch ein Recht hatte, so souverän und siegesgewiß seinen theologischen Standpunkt von dem kritischen B i e d e r m a n n s und anderer abzugrenzen, ist eine Frage, die ich nicht bejahen möchte. Andrerseits vermag ich nicht einzusehen, daß eine „dualistische" Betrachtung oder eine laxe Auffassung entstehen soll, wenn der „Zorn Gottes" als von Gott verhängte Strafempfindung des Sünders aufgefaßt wird, nämlich als das Gesetz Gottes über den Sünder. Getraut sich Ecke wirklich, alles das in die Grotteslehre im strengen Sinne des Worts aufzunehmen, was in der heiligen Schrift über den zornigen Gott zu lesen steht? Umgekehrt aber — behalten diese Stellen nicht ihren Wert als notwendige Aussagen des sündigenden Menschen über Gott? Zu den fremdartigen Elementen in Ritschis Theologie rechnet der Verfasser fünftens gewisse christologische Ausführungen, nämlich alle diejenigen, in denen Ritsehl die Gläubigen an den Prädikaten Christi teil haben läßt. Doch hat der Verfasser diesen Punkt, an dem Ritsehl nicht einmal den Bibelbuchstaben überall gegen sich hat, so kurz — eigentlich nur mit Befremden — behandelt, daß er hier auf sich beruhen kann. Am ausführlichsten sucht Ecke Ritschis Zurückhaltung in bezug auf die Frage nach der persönlichen Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus als dem erhöhten Herrn der
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Gemeinde und seine eigentümlichen Ausführungen über den heiligen Geist als fremdartig nachzuweisen. Dort scheint er mir zu übersehen, daß Ritschi die Religionslehre allgemeingültig ausbilden wollte — ob das möglich ist, ist eine andre Frage; aber Ritsehl hat jedenfalls vieles nicht nur gelten lassen, sondern anerkannt, was er doch von dem „System" fern hielt —; hier wird man dem Verfasser in weitesten Kreisen einräumen, daß Ritschls Darlegungen unbefriedigend und, auch von seinen eignen Prämissen aus, überraschend dürftig gewesen sind. Den Kanon aber, den der Verfasser am Schluß dieses Kapitels geltend macht: „Alle Aussprüche Ritschls, die den supranaturalen Grund überzeugungen im Wege stehen, müssen als widerspruchsvolle und fremdartige Elemente in seinem System angesehen und dementsprechend beseitigt werden," möchte ich ihm nicht abstreiten, das heißt: Ritschl selbst hat ihm das Recht gegeben, so zu folgern. Allein Ritschls biblischer Standpunkt war nicht geklärt — hier war seine Achillesferse —, und darum ist es doch nicht richtig, alles das als „fremdartig" zu bezeichnen, was sich dem Biblizismus nicht fügt. Ritsehl war heterodoxer, als es nach dem proklamierten Ausgangspunkt seiner Theologie den Anschein hat. In den Ausführungen hat er selbst darüber keinen Zweifel gelassen. VI. Der Verfasser unterbricht in dem umfangreichen dritten Kapitel die Darstellung und Kritik der Ritschlschen Theologie, um eine ausführliche Schilderung der Entstehung und des Entwicklungsgangs der Ritschlschen Schule zu geben (S. 67—130). E r unterscheidet drei Abschnitte, deren Grenzen die Jahre 1880 und 1889 bilden. Die Gelehrten, deren Auftreten und Eigentümlichkeit er schildert, stehen mir fast sämtlich zu nahe, als daß ich es unternehmen dürfte, über diesen Abschnitt zu berichten. Soviel aber sei gesagt,
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daß der Verfasser auch liier lediglich, von der Absicht geleitet ist, der "Wahrheit zu dienen und Verständnis zu erwecken. Was mich selbst anlangt, so ist das, was der Verfasser über mein Verhältnis zu Ritsehl bemerkt (über meine von Ritsehl abweichende Stellung zum Neuen Testament und über die Erweiterung des religionsgeschichtlichen und deshalb auch des systematischen Feldes), richtig. Auch halte ich die scharfe Antithese gegen die katholische Frömmigkeit und Ritschis Versuch, die evangelisch-protestantische Frömmigkeit exklusiv gegenüber der katholischen zu formulieren, in der von Ritsehl gegebnen Form nicht für haltbar. Eben deshalb teile ich auch nicht seine Beurteilung des evangelischen Pietismus, finde sie vielmehr einseitig, eng und parteiisch, ohne zu verkennen, daß Ritsehl in dem, was er als „christliche Vollkommenheit" formuliert, den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Aber diese „christliche Vollkommenheit" läßt eine Reihe von Elementen zu, ja fordert sie, die Ritsehl als „pietistische" verworfen hat. Dagegen muß ich es ablehnen, „in zielbewußter Aktion" den Apostolikumstreit heraufgeführt zu haben. Ich scheue mich nicht vor dem Kampf, auch nicht vor dem kirchenpolitischen; aber niemand ist durch den Apostolikumstreit mehr überrascht worden als ich selber. Nach allem, was ich bereits veröffentlicht hatte, konnte ich nicht ahnen, daß eine wohl erwogne und maßvolle Kritik des Apostolikums, über die niemand sich wundern durfte, der meine Schriften kannte, als Feuerzeichen in der Kirche aufgepflanzt werden würde. Es wäre auch schwerlich geschehen, wenn nicht die kirchenpolitische Lage — Ablehnung des Schulgesetzes — der von Herrn v o n H a m m e r s t e i n geleiteten Partei einen Kampf gegen den „Liberalismus" auf offner Szene damals wünschenswert gemacht hätte. Dazu sollte es mir vergolten werden, daß ich überhaupt nach Berlin gekommen war. Endlich, ich selbst war auf dem Berliner Boden ein Neuling und wußte nicht, auf welcher negativen Höhe
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ich in den Augen meiner Gegner stand, und wie meine Äußerungen belauert wurden. Wenn ich eine „zielbewußte Aktion" hätte unternehmen wollen, so wäre ich nicht so unvorsichtig und so geschmacklos gewesen, bei der Lehre von der Geburt aus der Jungfrau einzusetzen, über die auf dem Markte zu streiten anstößig und häßlich ist. Auch die Behauptung Eckes muß ich zurückweisen, ich hätte wiederholt durch unvorsichtige Formulierungen den Gegensatz zu meinen kirchlichen Gegnern verschärft. Formulierungen, die in ihren Grenzen betrachtet sein wollten, wurden vom Reichsboten und andern Blättern zu „Pronunciamentos" gestempelt, in denen ich angeblich den ganzen christlichen Glauben hätte aussprechen wollen. Ich habe zu diesen aus Unkenntnis und Furcht gebornen, immer neuen Angriffen bisher stets geschwiegen. Einem so achtungswerten Gegner wie dem Verfasser gegenüber fühle ich mich aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß meine theologische Schriftstellerei so umfangreich ist, daß ich es mir verbitten darf, nach einzelnen Sätzen, die aus einem Vortrage herausgerissen werden, auf Soll und Haben beurteilt zu werden. Wir wollen unsre theologischen Kämpfe doch nicht auf der Stufe der Journalistik führen, wo nur das gilt, was gestern gesagt worden ist, für die keine Bücher existieren, sondern nur Vorträge und Aussprüche, „aus denen sich etwas machen läßt". Eben weil der Verfasser diesen Krebsschaden kennt und an seinem Teile ehrlich und mit Erfolg bemüht gewesen ist, ihn auszuschneiden, darf ich ihn bitten, sich noch energischer aus den Schlingen der kirchlichen Tagesmeinungen zu befreien. Uber unser aller Häupten schwebt diese unheimliche Macht: Mich ängstet das Verfängliche Im widrigen Geschwätz, Und mich befällt das bängliche, Das grau gestrickte Netz.
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VII. In dem vierten Kapitel (S. 131—241) und dem fünften, das den Schluß (S. 242—318) bildet, liegt der Schwerpunkt des Buches. In jenem untersucht der Verfasser „den Wahrheitsgehalt der Ritschlschen Theologie". Es ist wirklich eine kirchliche Tat des Verfassers, daß er in ausführlicher Darstellung seinen Gesinnungsgenossen einmal vorgeführt hat, was sie Ritsehl verdanken. Was man Grottschick, H e r r m a n n und K a f t a n nicht glauben wollte, wird man vielleicht dem Prediger am evangelischen Diakonissenhause in Bremen einräumen. In drei großen Abschnitten legt Ecke den „Wahrheitsgehalt der Ritschlschen Theologie" dar. Er handelt erstlich von der Bedeutung der neuen Methode für die wissenschaftliche Behandlung der Glaubenslehre, sodann von der „erfolgreichen Bekämpfung des spekulativen Rationalismus" durch Ritsehl, endlich — und das ist das hellste Zeugnis für die Einsicht des Verfassers — von Ritschis berechtigter Kritik ungesunder Frömmigkeit. Es würde zu tief in theologische Fragen führen, wollte ich hier ein kritisches Referat geben über die Gedankenreihen, in denen Ecke eine entscheidende Förderung der Behandlung der Glaubenslehre bei Ritsehl erkennt. Die Art, wie Ritsehl die Größen Jesus Christus, Sündenvergebung, Gemeinde als Ausgangspunkte verwertet, wird vom Verfasser anerkannt und als ein Fortschritt geschätzt. Wenn er aber (S. 147) bemerkt, es müsse das Charisma dieser theologischen Richtung für die Lösung der apologetischen Aufgaben der christlichen Gemeinde anerkannt werden, so fürchte ich, daß die Geschichte der Gegenwart und Zukunft ihm nicht recht geben wird. Ritsehl hat seine Theologie „vom Standpunkt der Gemeinde" entworfen und deshalb eine große Anzahl entscheidender Vorfragen einfach zur Seite geschoben. Wer sich von ihm in die Theologie einführen läßt, der wird — namentlich wenn er
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sich, schon jahrelang mit der Apologetik abgemüht hat — zunächst gewiß den befreienden Eindruck erhalten, daß er einer Fülle lastender F r a g e n n u n glücklich entronnen ist und sich in einem eignen Hause heimisch machen darf. Aber es wird nicht lange dauern, so wird er den Grund und Boden untersuchen müssen, auf dem das Haus steht, und den Besitztitel zu prüfen anfangen. Die alten apologetischen Hauptfragen werden sich wieder einstellen, die Ritsehl mundtot gemacht zu haben glaubte. So ist es schon manchem ergangen, während umgekehrt von einer bedeutenden apologetischen W i r k u n g der Ritschlschen Theologie in weitern Kreisen meines Erachtens wenig zu spüren ist. Diese Theologie hat überall — das zeigt die Geschichte ihrer Verbreitung, und das ist auch dem Verfasser nicht entgangen — die Orthodoxie der fünfziger J a h r e unsers Jahrhunderts zu ihrer Voraussetzung, und sie hat auf solche entscheidend gewirkt, die mit der Orthodoxie in der Anerkennung des absoluten Charakters des Christentums einig waren und blieben, aber sonst die Fesseln dieser Denkweise drückend empfanden. Dennoch will ich nicht verkennen, daß überall dort, wo ein gewisser Skeptizismus in bezug auf das theoretische Welterkennen herrschend geworden ist, die Ritschlsche Theologie als das geistige Komplement zu einer gern festgehaltenen Kirchlichkeit Dienste leisten kann. W a s dann Ecke in Hinsicht auf die Überlegenheit des Ritschlschen Standpunktes gegenüber dem modernen Rationalismus ausführt, liest man mit besonderm Interesse. Endlich einmal erkennt die Orthodoxie an, was einst gewiß als die Hauptwirkung der Ritschlschen Theologie in den Annalen der protestantischen Karchengeschichte verzeichnet stehen wird: Ritsehl hat den spekulativen Rationalismus innerhalb der evangelischen Theologie, der sich als das geläuterte Christentum gab, besiegt — besiegt zunächst in dem Sinne, in dem in der Geschichte vorläufige Siege
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erstritten werden: er hat ihn von der Bühne verdrängt. An sechs Punkten zeigt der Verfasser sehr geschickt und eindrucksvoll die Überlegenheit der Ritschlschen Ausführungen (Sündenvergebung, Identität der Person Christi und des „Heilsprinzips", christliche Gemeinde, Lehre von der Sünde und Schuld, Wunderfrage, Theismus). Ich würde aber vor allem hervorheben, daß die Kitschische Theologie durch das höhere Maß geschichtlicher Einsicht den spekulativen Rationalismus, der zögernd auf' die wirkliche Geschichte einging, überwunden hat. Aber man darf es nicht verschweigen, der Zug der Zeit kam ihr zu Hilfe, und der spekulative Rationalismus ist demgemäß selbst in einer Umbildung begriffen. AVenn er sich die Geschichte angeeignet hat — in einem andern Sinn, als B i e d e r m a n n es getan —, wenn er zunächst lauschend und lernend den ganzen Reichtum geschichtlicher Wirklichkeit und individueller Eigenart in sich aufgenommen hat, dann wird er, das steht außer jedem Zweifel, mit sieben Geistern zurückkehren, und es werden keine Teufel sein, sondern starke und lichte Geister. Dann wird noch einmal ein heißer Kampf beginnen, und wenn sich die Ritschlsche Betrachtung der Dinge bis dahin nicht erweitert und nicht ihren exklusiven Offenbarungsstandpunkt ökumenischer gestaltet hat — auch das nur Relative ist wertvoll, und unter derselben Sonne liegen verschiedne Zonen —, wird sie einen schweren Stand haben. Das, was man mit Ecke „spekulativen Rationalismus" nennen kann, muß doch in sich wieder unterschieden werden. Als zeitgeschichtliche Erscheinung, die Geschichte destillierend und ihr bestes Teil wegdestillierend, ist er abgetan. Aber wenn wir über die Geschichte in ihren großen Zügen nachdenken und aus ihr etwas bauen wollen, sind wir, offenbarungsgläubig oder nicht, doch alle spekulative Rationalisten — kundige oder unkundige, und wiederum bescheidne, verschämte oder unverschämte; denn es gibt unter den Denkenden keine andern Rassen. I n
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e i n e m aber wird Ritsehl siegreich bleiben, und unvergessen wird seine Arbeit gegenüber dem spekulativen Rationalismus alter Art sein: das ist sein Theismus oder, um dies häßliche Fremdwort gut deutsch zu ersetzen, sein Zeugnis vom lebendigen Gott, der nicht mit der Natur verflochten ist, und der Geister erschafft und befreit, damit sie ihn erkennen und sich zu ihm erheben. Aber auch das andre wird bleiben, daß es keinen Gattungsbegriff, sei es der des Reformators, Propheten, Religionsstifters usw. gibt, unter den man Jesus Christus subsumieren darf. Es gibt vielerlei Offenbarungen, aber für uns gibt es nur e i n e n Meister und Herrn. Dem, was der Verfasser endlich über Ritschis berechtigte Kritik ungesunder Frömmigkeit ausführt, stimme ich ganz wesentlich bei. Die Darlegungen zeigen so viel Maß und Urteil, daß ihre Lektüre besondere Freude erweckt. Auch darin hat der Verfasser recht, daß Ritsehl manches als ungesund bezeichnet hat, was eine zurückhaltendere Kritik verdiente, und daß in der Hitze des Gefechts der pietistischen Orthodoxie Frömmigkeitsmethoden und -anschauungen aufgebürdet worden sind, die höchstens diesen oder jenen einzelnen treffen. Eines aber trifft die ganze große Gruppe, und sie kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen — das ist die niedrige, schlechte, dazu immer noch von kirchenpolitischen Absichten beeinflußte, kenntnislose journalistische Vertretung, die sie sich gefallen läßt. Dazu kommt speziell in Preußen die vollkommne Verflechtung der kirchlich-„positiven" Interessen mit denen einer bestimmten Gruppe der konservativen Partei, die sich auch freiere Geister aus taktischen Gründen gefallen lassen. Bevor das nicht anders wird, ist jeder ehrliche theologische Kampf immer schon im voraus vergiftet, und die Entkirchlichung wird immer größer werden. I n das Kapitel von der „berechtigten Kritik ungesunder Frömmigkeit" gehört dieser Tatbestand vor allem; aber der Verfasser ist in
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Bremen wohl in der beneidenswerten Lage, ihn nicht oder doch weniger zu empfinden. VIII. Im Schlußkapitel liegt der mühsamste und originellste Teil der Arbeit des Verfassers. Er hat es überschrieben: „Beachtenswerte Versuche zu einer Umgestaltung der Theologie Ritschis in Annäherung an das unverkürzte biblischreformatorische Bekenntnis." Daß es auch eine Ritschlsche Linke und unechte „Schüler" gibt, hat der Verfasser bereits an verschiednen Stellen der frühern Kapitel zum Ausdruck gebracht und die Richtung charakterisiert, in der sie sich bewegen. I n diesem Kapitel ist es ihm einzig darum zu tun, zu zeigen, daß an den wichtigsten dogmatischen Punkten innerhalb der Ritschlschen Schule Umgestaltungen hervorgetreten sind, die als bedeutende Annäherung oder sogar als Rückkehr zum positiven Bekenntnis betrachtet werden müssen. Auf G-rund einer fast lückenlosen Kenntnis der Sache weist der Verfasser an der Lehre von der Sünde, weiter an den Lehren vom Werk Christi (stellvertretendes Strafleiden), von der Gottheit Christi (Präexistenz), vom heiligen G-eist und vom Grebet den "Wandel der Dinge auf. I n erster Linie steht ihm hier überall H ä r i n g , der in den Augen des Verfassers die Schranken Ritschis geradezu überall überwunden und die Methode des Meisters mit dem „unverkürzten biblisch - reformatorischen Bekenntnis" versöhnt hat. Sehr nahe kommen ihm B o r n e m a n n , K a t t e n b u s c h , L o o f s . Auch H e r r m a n n und K a f t a n stehen bei dieser Gruppe; aber der Verfasser muß doch urteilen, daß ihre Orthodoxie der Härings nachsteht, soviel Sympathie er auch diesen Dogmatikern, namentlich Herrmann, entgegenbringt. R e i s c h l e steht bereits etwas entfernter, und noch mehr G o t t s c h i c k . Aber auch bei ihnen weist der Verfasser bedeutende Modifikationen der Ritschlschen Theologie im biblisch-positiven Sinne nach,
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ebenso bei R a d e , L o b s t e i n , S c h o l z und D r e w s . I n den Schriften des Referenten endlich findet er ebenfalls einige Merlanale solcher. Vielleicht hält der eine oder der andre Leser eine solche P r ü f u n g für kleinlich oder gar ungehörig. E r täte dem Verfasser damit Unrecht. Dieser ist nicht nur von seinem Standpunkt durchaus befugt so zu untersuchen und zu urteilen — wer einen sichern Maßstab zu haben glaubt, soll ihn anwenden —, sondern auch die Sache selbst fordert eine solche Prüfung. Noch mehr: Ecke hat, soviel ich sehe, auch materiell wesentlich Recht. Ohne in den Fehler zu verfallen, die Entwicklung der Ritschlschen Theologie in rosigem Lichte zu sehen, hat er nur konstatiert, was dem Tatbestande entspricht, daß nämlich die genannten Theologen wirklich in den erörterten wichtigen Punkten der gemein-kirchlichen Lehre näher stehen als Ritsehl selbst und ihn zum Teil so korrigiert haben, daß das "Wort „Korrektur" viel zu schwach ist. Wenn dem so ist, was bedarf es noch eines Kampfes? Muß der Verfasser nicht mit dem Urteile schließen, seine Freunde sollten, statt sich über diese Ritschlianer zu erregen, vielmehr ruhig abwarten; denn diese seien auf dem besten Wege, langsam aber sicher zu ihnen zurückzukehren. Hat er nicht Ursache, mit dem trostreichen Urteil zu schließen: diese Ritschlianer haben nicht nur religiöse Positionen, die Ritsehl aufgegeben hatte, wieder aufgenommen, sondern sie lassen sogar unter der Hand scholastische Fragen wieder zu und sprengen die Mauer, die Ritsehl um das gezogen hat, was gewußt werden kann? E r schließt nicht so, und er hat seine guten Gründe dafür. Nicht nur, weil neben den altern Schülern eine Gruppe aufgetaucht ist, die ihm viel unsympathischer ist als der Meister, und gegen die sich die ältere doch nicht sicher abgrenzt, sondern vor allem weil er bei allen Ritschlschen Schülern (mit Ausnahme Härings?) etwas vermißt,
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was ihm die Hauptsache ist. Sie alle schätzen wie Ritsehl die Bibel „nur" um ihrer geschichtlichen Ursprünglichkeit willen als Quelle für die christliche Glaubenslehre und „wollen ihr die Autorität aus Offenbarung nicht zugestehen". „Für die christliche Gemeinde aber", fügt er hinzu, „hat das Zeugnis des Christum verklärenden Parakleten Offenbarungswert." Es handelt sich, kurz gesagt, um das Inspirationsdogma und demgemäß um die Unterwerfung des Dogmatikers unter jede Schriftlehre, oder, wie Ecke euphemistisch sagt, unter das apostolische Bekenntnis von Christus. Gemeint aber ist die Bereitschaft (s. d. Ausführung S. 314), alle Schriftlehren anzuerkennen, nirgendwo ein Non liquet auszusprechen, zeitgeschichtliche und relative Betrachtungen einfach auszuschließen und die historische Kritik abzudanken. Mit vollem Recht erkennt der Verfasser, daß Ritsehl trotz seines starken Biblizismus doch so nicht gesonnen war, und daß seine Schüler, auch die konservativsten, so nicht denken. Ja der Verfasser müßte geradezu das Paradoxon konstatieren — das doch keines ist —, daß der Einfluß der historisch-kritischen und religionsgeschichtlichen Betrachtung der Bibel über Ritsehl hinaus auch bei solchen im Steigen begriffen ist, die materiell an wichtigen Lehrpunkten der überlieferten Auffassung näher stehen oder ihr doch mehr abzugewinnen vermögen als Ritschi. Das Dogma vom Neuen Testament, wie es nicht ohne Grund genannt worden ist, wird in der wissenschaftlichen Theologie im Sinne der exklusiven Inspirationslehre nicht mehr wieder aufleben, im Gegenteil, es wird in der Zukunft noch sichrer durch die geschichtliche Betrachtung abgelöst werden. Wenn der Verfasser hier auf allmähliches Entgegenkommen hofft, so hofft er, wenn nicht alles trügt, vergeblich. Aber das schließt keineswegs die Zuversicht aus, daß man, in der Sache fortschreitend, den neutestamentlichen Formen und Ausdrucksmitteln des christlichen Glaubens ein
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größeres Verständnis entgegenbringen wird, als Ritsclil ein solches möglich war. Vielleicht wird die "Weise, in der das geschehen wird, den Verfasser nicht ganz befriedigen; denn anders nimmt sich das aus, was sich als Darlegung des Inhalts einer absoluten Urkunde gibt, anders was der wirklichen Geschichte als nachzuempfindendes Leben und wirksame K r a f t entströmt. Aber der Verfasser kennt selbst diese Quelle sehr wohl; er scheut sich nur, sie rein fließen zu lassen, und er will jene andre Methode nicht aufgeben, weil nur sie direkt aus dem Geschichtlichen ins Allgemeingültige und Dogmatische f ü h r t , d. h. zum Grlaubensgesetz. — Freuen wir uns unterdessen, daß, wie der Verfasser gezeigt hat, es doch in der protestantischen Theologie so vieles gibt, in dem wir uns zusammenfinden. Vielleicht dürfen wir auch hoffen, daß Ecke, wenn er einst die Arbeit der neuern historischen Theologie ebenso unbefangen prüfen wird wie die der systematischen, auch sein Urteil über die ihm jetzt so antipathischen Bemühungen der geschichtlich arbeitenden Theologen modifizieren wird. Fehler, auch schwere Fehler, werden hier gewiß noch gemacht, und hin und her werden „Erklärungen" dargeboten, die nur verdunkeln; aber von solchen Schwankungen, wie sie die systematische Theologie noch immer befallen, wird die historische nicht mehr betroffen werden.
DIE AUFGABE DER THEOLOGISCHEN FAKULTÄTEN UND DIE ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE NEBST EINEM NACHWORT
Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelms I I I . gehalten in der Aula derselben am 3. A u g . 1901. Erschienen in 3. Aufl. 1901 hei der J . Eicker'schen Verlagsbuchh., Gießen. Das Nachwort erschien in der „Christi. W e l t " 1901 Nr. 47.
„Die von Euch, vorgetragene Angelegenheit wegen Einrichtung einer allgemeinen und höheren Lehranstalt in Berlin finde Ich für höhere Geistesbildung im Staate so wichtig, daß Ich die Errichtung einer solchen allgemeinen Lehranstalt mit dem alten hergebrachten Namen einer Universität nicht verschieben will." Durch diese an die Minister gerichtete Kabinetts-Ordre vom 16. August 1809 hat Friedrich Wilhelm ITT. unsere Hochschule gegründet. Aber schon zwei Jahre früher (4. Sept. 1807) hatte der König an den Kabinettsrat B e y m e geschrieben: „Ich habe beschlossen, eine allgemeine Lehranstalt in Berlin in angemessener Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften zu errichten." Die Universitäten Halle und Erlangen waren dem Staate genommen; aber die großen Männer waren ihm geblieben, und er trotzte dem Geschick, indem er die Universität Berlin schuf. Niemals wird man aufhören, in Preußen die herrliche Zeit zu preisen, die aus der Not einen ganzen Chor von Tugenden geschaffen hat, und niemals wird man des Königs vergessen, der um sich einen Greneralstab versammelte, wie ihn Deutschland noch nicht gesehen hatte, einen H u m b o l d t und S t e i n , F i c h t e und N i e b u h r , S ü v e r n und S c h l e i e r m a c h e r . Vielleicht ist Ihnen in beiden königlichen Erlassen die Bezeichnung „Allgemeine Lehranstalt" aufgefallen. Nicht zufällig war sie gewählt. I n den zehn Jahren ihrer Vor-
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geschichte heißt unsere Hochschule niemals „Universität", sondern stets „Allgemeine Lehranstalt". Dieser Name stammt von dem Manne, der die erste Anregung zu ihrer Stiftung gegeben hat — von E n g e l —, und steht in einem gewissen Gegensatz zum Begriff der Universität. „ Würde in Berlin", sagt E n g e l , „eine große Lehranstalt errichtet, die von den lächerlichen Bocksbeuteleien der Universitäten frei wäre und doch alle Vorteile derselben gewährte, dann wäre Berlin die Hauptstadt des nördlichen, vielleicht des ganzen Deutschlands, der Mittelpunkt der Nation. Die Menschen neigen sich wie die Pflanzen unwillkürlich dahin, woher ihnen das Licht zuströmt." Keine Universität wünschte E n g e l , sondern etwas ganz Neues — was, das war freilich schwieriger zu sagen; an die Akademie der Wissenschaften sollte es angelehnt sein, aber doch nur angelehnt; die Genies unter den deutschen Schriftstellern sollten sich hier sammeln, aber die Anstalt sollte doch „nützlicher" werden als die Universitäten. Das letztere leuchtete dem Könige ein. Auch er wollte zunächst keine Universität. Als diese Willensmeinung bekannt wurde, regnete es Projekte von Berufenen und Unberufenen. Rousseausche Gedanken, die neue Pädagogik, mehr Freiheit und mehr Zwang machten sich gleichzeitig als Forderungen geltend. Am kühnsten schritt F i c h t e in seinem „Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt" vor. Auf mehr als 100 Druckseiten entwickelte er Ideen, die von aller pädagogisch-geschichtlichen Uberlieferung losgelöst waren. Das Nationalinstitut, welches er an Stelle der alten Universitäten setzen wollte, war dazu bestimmt, den Kampf der Vernunftwissenschaft wider das herrschende böse Prinzip zu führen und auf das Universum Einfluß zu gewinnen. Aber je näher die Verwirklichung der Stiftung rückte, um so mehr kehrten die Maßgebenden zur alten Form der Universität zurück. S c h l e i e r m a c h e r und W o l f hatten in Halle ihren bleibenden Wert schätzen gelernt,
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und die H u m b o l d t s hatten zu viel geschichtlichen Sinn, um ein Experiment zu wagen. Auch die alte Einteilung in Fakultäten wurde beibehalten. Daß sie schwere Nachteile in sich schloß, wußte man. Schon jene Männer empfanden wie wir und erkannten, daß „die wissenschaftliche Entwicklung unter keinen Fesseln mehr gelitten hat, als unter denen, in die sie sich selber geschlagen — geschlagen durch die großenteils in den äußerlichen Verhältnissen des akademischen Unterrichts begründete Scheidung natürlich zusammengehöriger Disziplinen". Aber jene Männer glaubten, durch ein inniges Zusammenwirken der Mitglieder der verschiedenen Fakultäten die Nachteile aufheben zu können. I n der Tat, sie haben hier G-roßes geleistet. Wie S c h l e i e r m a c h e r Theologie und Philosophie, N i e b u h r und S a v i g n y Geschichte und Jurisprudenz, B ö c k h Philologie und Volkswirtschaft miteinander verknüpft, wie dann die Brüder H u m b o l d t , ein jeder in seiner Weise, die Fakultätszäune niedergerissen und die Geometrie der Fächer beseitigt haben, das wurde f ü r diese junge Universität charakteristisch. Und wir dürfen sagen, sie hat in den drei Menschenaltern ihres Daseins eben diesen Charakter bewahrt. Alle die großen Fortschritte der Wissenschaft, deren Vorbedingung auf der Verschmelzung der Disziplinen beruht, sind entweder hier entstanden oder haben doch hier ihre besondere Pflege gefunden. Darf ich Sie an B o p p s Sprachwissenschaft, an H u m b o l d t s Kosmos, an R i t t e r s Geographie, an J o h a n n e s M ü l l e r s Physiologie, an G e r h a r d s Archäologie erinnern, um von jenem Vergangenen zu schweigen, das für uns noch eine beglückende Gegenwart ist. Die alten Fakultäten wurden beibehalten, und sie haben sich bis heute behauptet. Selbst unsere philosophische Fakultät, an Zahl der Lehrstühle die einer mittleren Universität erreichend, hat jede Teilung abgelehnt. Es muß doch eine innere Vernunft in dieser Fakultätengruppierung stecken; die Uberlieferung allein und die
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Praxis erklären ihre Zähigkeit nicht. Aber gilt dasselbe auch von dem Umkreise der Aufgaben, die jeder Fakultät zugewiesen sind? Ist hier nicht manches Veraltete und Rückständige? Die theologische Fakultät hat Grund, sich diese Frage zu stellen. "Werden doch ringsum Stimmen laut, die ihr Programm f ü r zu kurz und darum f ü r wissenschaftlich ungenügend erklären: nicht als Fakultät f ü r christliche Theologie, sondern nur als Fakultät für allgemeine Religionswissenschaft und -geschichte habe sie ein Recht auf Existenz. Nur in dem Maße als sie gleichmäßig auf alle Religionen eingehe, könne sie die eine Religion wirklich verstehen, und nur so könne sie Vorurteile abstreifen, die sonst unbezwinglich seien; mindestens aber sei zu fordern, daß bei jeder theologischen Fakultät ein oder mehrere Lehrstühle f ü r allgemeine Religionsgeschichte errichtet werden. I n unserem Nachbarlande Holland haben diese Forderungen bereits zu Umwälzungen der theologischen Fakultäten geführt bezw. zu ihrer Aufhebung durch den Staat, und in anderen Ländern gärt es. Bei uns, wird man einwenden, sei die Frage nicht brennend; denn unsere Regierung denke nicht daran, hier Änderungen eintreten zu lassen. Allein es würde der Fakultät übel anstehen, an die Stelle ihres wissenschaftlichen Gewissens gleichsam einen staatlichen Paß zu setzen und in dem sicheren Besitz desselben die Entscheidung der Frage zu vertagen. Ich bitte Sie daher um Ihr Gehör, wenn ich es versuche, das „Für" und „Wider" in dieser Frage zu erörtern : haben bei der Stiftung unserer Hochschule die maßgebenden Männer recht daran getan, die theologische Fakultät wesentlich auf die Erforschung und Darstellung der christlichen Religion zu beschränken, oder soll sie sich zu einer Fakultät für allgemeine Religionsgeschichte erweitern? Kein Zweifel — die abstrakte Theorie spricht f ü r eine solche Erweiterung. Ist die Religion nicht etwas Zufälliges
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und daher Vorübergehendes in der Geschichte der Menschheit, kommt in ihr ein elementares Grundverhältnis zum Ausdruck, ohne welches der Mensch nicht der Mensch wäre, einerlei ob jeder das empfindet, so muß es einen allgemeinen Begriff f ü r sie geben. Dieser allgemeine Begriff kann gewiß nicht aus den einzelnen Erscheinungen der Religion durch eine einfache Abstraktion gewonnen werden; denn sie ist wie die Moral und die Kunst ein Gegebenes und Werdendes zugleich, ihr wahrer Begriff ein sich enthüllendes Ideal. Aber auch zur Erkenntnis eines solchen Begriffes ist eine möglichst vollständige Induktion der Erscheinungen wünschenswert. Man muß die ganze Stufenleiter der Religion überschauen, man muß die Verbindungen kennen lernen, in die sie eintritt, die Verhüllungen, mit denen die Völker und die Einzelnen sie umgeben und abstumpfen, die Reizmittel, durch welche sie sie zu steigern versuchen, um zu erfahren, was sie wirklich ist. Von hier aus erscheint also die Forderung sehr berechtigt, daß die Religionsgeschichte in ihrem vollen Umfange studiert werde. Die Beschränkung auf eine Religion scheint eine unstatthafte Verkürzung zu sein. Aber weiter, nur nach einer und derselben Methode können die Religionen studiert werden, nämlich der geschichtlichen , und diese läßt sich nicht willkürlich beschränken. Wie sie jede zeitliche Grenze überspringt, die man ihr ziehen will, so geht sie auch unerbittlich von einem verwandten Objekt zum anderen über. Sie kennt nur Ketten, nicht isolierte Glieder. Und mag sie auch innerhalb der einzelnen Erscheinung auf etwas ganz Singuläres stoßen, was sich der entwicklungsgeschichtlichen Ableitung entzieht — um so strenger ist sie verpflichtet, in die Breite und in die Tiefe zu gehen und ihren ganzen Erwerb einzusetzen. Eine besondere Methode aber, nach welcher die christliche Religion zu studieren ist im Unterschied von den anderen, kennen wir nicht. Einst kannte
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man eine solche, eine Art von biblischer und philosophischer Alchemie, und rechtfertigte sie mit nicht geringem Scharfsinn. Aber die Folge war, daß man sich immer weiter von der reinen Erkenntnis des Objekts entfernte und den eignen G-eist an die Stelle der Sache setzte. Die historische Methode allein ist konservativ; denn sie sichert die Ehrfurcht — nicht vor der Überlieferung, sondern vor den Tatsachen und macht der Willkür ein Ende, Blei in Gold und Gold in Blei verwandeln zu wollen. Endlich aber, auch die kirchliche Praxis scheint die Erweiterung der theologischen Fakultäten zu verlangen. Gebieterischer als in unseren Tagen ist die Forderung der christlichen Mission seit einem Jahrtausend nicht aufgetreten. Ich denke nicht nur an den vereinfachten und ins große gesteigerten "Weltverkehr mit den neuen Pflichten, die er auferlegt — die Tatsache kommt vor allem in Betracht, daß die christlichen Völker sich anschicken, den Erdball aufzuteilen, ja beinahe schon aufgeteilt haben. Ob eine dauernde und gehaltvolle Zivilisation ohne die Predigt des Evangeliums möglich ist, die Frage mag man bejahen oder verneinen — gewiß ist, daß die Völker, welche die Erde jetzt aufteilen, mit der christlichen Zivilisation stehen und fallen, und daß die Zukunft keine andere neben ihr dulden wird. Damit sind den Christen, den Kirchen, Aufgaben gestellt wie nie zuvor; sie werden sie nur zu lösen vermögen, wenn sie nicht die Zivilisation, sondern das Evangelium verkündigen; aber eine unerläßliche Vorbedingung scheint es zu sein, daß sie die Religionen der fremden Völker gründlich kennen lernen. Sollen da die theologischen Fakultäten nicht ihre Pforten öffnen und sich zu religionsgeschichtlichen Fakultäten erweitern? Man sieht, es sind starke Gründe, welche für eine solche Ausdehnung sprechen, und doch wage ich nicht, sie zu empfehlen. Schwerwiegende Bedenken stehen im Wege.
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Erstlich bedarf es nur einer kurzen Erwägung, um zu erkennen, daß das Studium jeder einzelnen Religion von dem Studium der gesamten Greschichte des betreffenden Volkes schlechterdings nicht losgelöst werden darf. Zu dieser Greschichte gehört aber vor allem die Sprache des Volkes, sodann seine Literatur, weiter seine sozialen und politischen Zustände. Die Religion allein studieren wollen, ist ein noch kindlicheres Unterfangen als das, statt der ganzen Pflanze nur die Wurzel oder nur die Blüte zu untersuchen. Die Sprache ist nicht nur die Scheide, darinnen das Messer des Greistes steckt; sie ist viel mehr als die Scheide, zumal in bezug auf die Religion. Die Religion hat zum Teil die Sprache geschaffen, und in der Sprachgeschichte spiegelt sich die Religionsgeschichte. Nur wer jene in allen ihren Nuancen kennt, kann versuchen, die Religion zu entziffern. Weiter aber, die wirtschaftlichen Zustände und die politischen Erlebnisse und Institutionen eines Volkes sind f ü r die Ausgestaltungen seiner religiösen Ideen und seines Kultus maßgebend. Und bleibt auch die Religion, einmal geschaffen und formiert, stets hinter dem Fortschritt der G-esamtentwicklung zurück, ist ein Teil der öffentlichen Religion somit stets „ superstitio" und bloßes Ritual — so kann nur umfassende und langjährige Forschung entscheiden, was in einem gegebenen Moment in einer bestimmten Religion wirklich lebendig ist. Wie soll man nun der theologischen Fakultät zumuten, alle diese Studien, d. h. nicht weniger als die gesamte Sprachwissenschaft und Greschichte, in ihre Mitte aufzunehmen? Weist man ihr aber nur die von Sprache und Greschichte losgelöste Religionsgeschichte zu, so verurteilt man sie zu einem heillosen Dilettantismus. Das Ergebnis wäre, daß dieselbe Aufgabe in der philosophischen Fakultät gut, in der theologischen Fakultät aber schlecht bearbeitet würde. Zu einer solchen Verdoppelung kann doch wohl niemand raten. Auf ihrem eigenen Grebiete
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aber, nämlich dem der alttestamentlichen und der christlichen Religion, verfährt die Theologie längst nach der aufgestellten umfassenden Forderung. "Wie sie ihre Aufgaben hier im engsten Bunde mit hebräischer und griechischer Philologie gelöst hat und noch löst, wie sie andere Religionen nach Maßgabe ihres Einflusses auf die alttestamentliche und christliche behutsam herbeizieht, wie sie Religions- und Geschichtsforschung in fester Verbindung hält, darin steht sie hinter keiner geschichtlichen Disziplin zurück; ja sie hat für die ihr verwandten Disziplinen mustergültige Leistungen auf ihrem Gebiete aufgestellt. Zweitens, wohl bleibt es, ideal angesehen, eine Verkürzung, daß sich die theologische Fakultät auf eine Religion zurückzieht, aber welche Religion ist das? Es ist die Religion, deren Eigentum die Bibel ist, deren Geschichte einen erkennbaren, nirgendwo unterbrochenen Zeitraum von nahezu drei Jahrtausenden umfaßt und die noch heute als lebendige Religion studiert werden kann. I n diesen drei verbundenen Merkmalen erhebt sie sich so gewaltig über alle anderen verwandten Erscheinungen, daß man wohl das Wort wagen darf: "Wer diese Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle. Zunächst — sie besitzt die Bibel. Ich müßte befürchten, trivial zu werden, wollte ich es unternehmen, auch nur ein "Wort zur Charakteristik derselben hier zu sagen. Es muß genügen, daran zu erinnern, daß die Bibel das Buch des Altertums, das Buch des Mittelalters und — wenn auch nicht auf öffentlichem Markte — das Buch der Neuzeit ist. "Was bedeutet Homer, was die Veden, was der Koran neben der Bibel! Und sie ist unerschöpflich; jede Zeit hat ihr noch neue Seiten abzugewinnen vermocht. Mit Recht heißt daher der Doktor der Theologie Doktor der heiligen Schrift: auf sie konzentriert sich, um sie gruppiert sich letztlich alle Arbeit der theologischen Fakultäten. Und so oft es einem einzelnen, Laien oder Theologen, ge-
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geben war, neu und voll aus ihr zu schöpfen, und das Geschöpfte den anderen darzubieten, so oft ist die christliche Menschheit in ihrer inneren Geschichte auf eine höhere Stufe gehoben worden. Damit ist das andere berührt, was ich als zweites Merkmal dieser Religion genannt habe, ihre zeitliche Ausdehnung und Universalität. I n ihrer Vorgeschichte, der alttestamentlichen Stufe, bedeckt sie einen Zeitraum von tausend Jahren, und ihre G-eschichte steht bereits im 20. Jahrhundert. An sich bedeuten die großen Zahlen freilich nicht viel — Ägypten, Indien und China präsentieren uns größere, von der Praehistorie zu schweigen. Aber hier fällt der Zeitraum mit dem Zeitraum zusammen, auf den das Wort „Greschichte" allein anwendbar ist, und der Schauplatz dieser Religionsgeschichte ist der Schauplatz der Greschichte überhaupt. So zeigt denn bereits die alttestamentliche Religion einen äußeren und inneren Kontakt mit Babylonien und Assyrien, mit Ägypten und Griechenland, d. h. mit der Universalgeschichte der alten Welt, und durchläuft selbst alle Stufen von einem naiven barbarischen Volkskultus bis zu der Religion der Psalmisten. Wer diese Entwicklung forschend, entziffernd, nachdenkend, nacherlebend durchmißt, der braucht kein Vielerlei von Religionen zu studieren, um zu wissen, wie es in der Religion und der Religionsgeschichte der Menschheit zugeht. E r hat an diesem Stoffe einen Ausschnitt, der ihm die Kenntnis der Religionsgeschichte in ihrer ganzen Breite nahezu ersetzt. J a noch mehr: nicht er bedarf der anderen Religionshistoriker, sondern sie bedürfen ihn. Die alttestamentliche Religionsgeschichte bietet den Schlüssel zum Verständnis vieler allgemeiner religionsgeschichtlicher Probleme, die ohne sie ungelöst bleiben müßten. Diese Religionsgeschichte läßt die stummen Trümmerstücke fremder vergangener Religionen reden und haucht ihren Bildwerken Leben ein. Und doch ist dies erst die Vorgeschichte. Das Neue Testament und das Christentum treten nun ein. Wie
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dieses einerseits als der Abschluß der ganzen bisherigen reHgionsgescMch.tlich.en Entwicklung erscheint durch eine ungeheure Reduktion, die den Kern aller Religion enthüllt und in Kraft setzt, so erscheint es andererseits als die zweite Stufe in der Religionsgeschichte, auf der sich alle früheren Erscheinungen der Religion in eigentümlicher Umformung und gesteigert wiederholen. Nehmen Sie ζ. B. den abendländischen Katholizismus mit seinen mittelalterlichen Nebenschößlingen und überschauen Sie ihn in der ganzen Breite seiner Entwicklung. Sie werden finden, daß es kaum eine religiöse Lehre, kaum einen religiösen Ritus gibt, so viele ihrer in der Geschichte aufgetaucht sind, die dort nicht ihre Parallelen haben. Weiter, Sie werden keine religiöse Stimmung entdecken, von der demütigen und zartesten Hingebung an das Heilige bis zur herrschsüchtigen Leidenschaft, die nicht dort ihre Vertreter, ja sogar ihre Anweisungen und Vorschriften hat. Und von dem reinsten Monotheismus, wie ihn Augustin in den Konfessionen ausgeprägt, bis zu einer naiven Heiligenverehrung finden sich hier alle denkbaren Standpunkte wieder. Die ganze Religionsgeschichte in der Sukzession ihrer Erscheinungen ist auf katholischem Boden gleichsam repetiert und unifiziert; aus dem Nacheinander ist ein Nebeneinander geworden. Will man aber feststellen, in welche Verbindungen die Religion mit der Wissenschaft, dem Welterkennen, der Ethik, der Politik, der Jurisprudenz treten kann und in welchen Verbindungen sie mit den wirtschaftlichen Verhältnissen steht, so ist es wiederum die Geschichte der christlichen Religion, die dafür das eigentlich entscheidende Material liefert. Religion und Wissenschaft — man studiere Origenes, Augustin, Thomas von Aquino und Schleiermacher; größere Theologen wird man nirgendwo finden. Religion und Politik — man studiere die Geschichte der Gregore und Innocenze, die Politik der Päpste. Religion und Jurisprudenz — man lese A1-
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phons von Liguori. Überall ist innerhalb der christlichen Kirchengeschichte nicht nur die Fülle der Möglichkeiten nahezu erschöpft, sondern diese selbst sind in Repräsentanten von unübertrefflicher Klarheit und K r a f t vorhanden. Wie soll es daher den Kirchenhistoriker, auch wenn er für die Religion im weitesten Sinn des "Worts lebendiges Interesse hat, locken, sich zu den Babyloniern, Indern und Chinesen oder gar zu den Negern oder Papuas zu begeben? Endlich aber — und dies ist vielleicht das Wichtigste — hier hat er eine lebendige Religion vor sich und um sich. Wir haben in der Biologie längst und in der Sprachwissenschaft jüngst gelernt, daß man einen Organismus nur als lebendigen wirklich verstehen kann. Erst als man das Sprechen zu belauschen anfing, ist man wirklich in die Sprache eingedrungen, und nun erst gelang es, sichere Lautgesetze und Rhythmen zu finden, vage Möglichkeiten auszuschalten und die Tülle der Erscheinungen in organisch bedingte und in irrationalhistorische zu scheiden. Mutatis mutandis gilt dasselbe von der Religionsgeschichte. Wahrhaft sichere Erkenntnisse können nur an der lebendigen Religion, an der Erkenntnis der Frömmigkeit selbst gewonnen werden. Zwar ist die Aufgabe eine ungleich schwerere wie bei der Sprache; denn das Sprechen selbst ist die Sprache, aber die Religion liegt stets hinter ihrer sinnlichen Erscheinung; auch das schlichteste Gebet ist bereits ein Abgeleitetes. Dennoch würde sich die Wissenschaft der Religion ihres wichtigsten Hilfsmittels selbst berauben, wollte sie sich auf das tote Material beschränken. Zurzeit ist sie hier noch sehr zurückhaltend — nicht ohne Grund, denn sie sieht, wie manche Neuerer in wunderlicher Einseitigkeit nur gewisse Exzentrizitäten einer echauffierten Frömmigkeit für Religion zu halten scheinen —; indessen langsam und sicher nähert sie sich der neuen Aufgabe. Dann aber ist es wieder die christliche Religion, die im Vordergründe stehen und das Feld behaupten wird. Nicht
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nur weil die Forscher Christen sind, sondern weil die reichsten und mannigfaltigsten Formen religiösen Lebens hier dicht nebeneinander stehen und zusammen überschaut werden können. Man gehe mit einem französischen Schriftsteller nach Lourdes und beobachte die wundersüchtige Frömmigkeit, wie sie sich dort ausspricht; dann versetze man sich im Greiste in ein evangelisches Pfarrhaus, in welchem die Uberlieferungen von Luther und Schleiermacher regieren. Man studiere die Frömmigkeit des russischen Volkes, wie sie uns Tolstoi in seinen Dorfgeschichten geschildert hat, und stelle einen puritanischen Christen Amerikas oder einen Offizier der Heilsarmee daneben. Q-ewiß gebieten der Buddhismus und der Islam über einen ähnlichen Reichtum; aber im besten Falle lernten wir hier unsicher, was wir bei uns selbst besser und sicherer zu erkennen vermögen. Manche Typen christlicher Frömmigkeit aber, und gerade die höchsten, haben dort keine Parallelen, während mir das Umgekehrte nicht bekannt ist. Selbst die rasenden Derwische haben in der Kirchengeschichte aller Zeiten, auch der neuesten, ihr Analogon, und es gibt keine so entsetzliche Form der Weltflucht und keine Schwärmerei, die sich nicht auch bei christlichen Büßern und Visionären heute noch fände. Aber mit dem Hinweis auf den Umfang und die Fülle des Christentums, dessen Studium das Studium der übrigen Religionen nahezu ersetzt, ist doch nicht das Entscheidende in der Frage, die uns hier beschäftigt, gesagt. Wir wünschen, daß die theologischen Fakultäten für die Erforschung der christlichen Religion bleiben, weil das Christentum in seiner reinen G-estalt nicht eine Religion neben anderen ist, sondern die Religion. Es ist aber die Religion, weil Jesus Christus nicht ein Meister neben anderen ist, sondern der Meister, und weil sein Evangelium der eingeborenen, in der Geschichte enthüllten Anlage der
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Menschheit entspricht. Ich habe vorhin ausgeführt, daß die Bibel es sei, welche den Mittelpunkt aller Studien der theologischen Fakultäten bilde. Noch genauer müßte ich sagen: dieser Mittelpunkt ist Jesus Christus. Was die ersten Jünger von ihm empfangen haben, das geht weit über die einzelnen Worte und über die Predigt hinaus, die sie von ihm gehört hatten, und darum überbietet das, was sie über ihn ausgesagt und wie sie ihn erfaßt haben, sein eigenes Selbstzeugnis. Das konnte nicht anders sein: diese Jünger waren sich bewußt, an Christus nicht nur einen Lehrer zu besitzen, sondern sie haben einen inneren Tatbestand so zum Ausdruck gebracht und gedeutet, wie sie ihn durch Christus erlebt hatten und wie sie ihn empfanden. Sie wußten sich als erlöste, neue Menschen, erlöst durch ihn. Darum haben sie ihn als den Herrn und Heiland verkündigt, und in dieser Predigt ist das Christentum durch die Jahrhunderte gegangen. Ist dies aber keine Illusion, sondern eine fortwirkende Tatsache, dann gibt es innerhalb der Geschichte f ü r die Menschheit keine wichtigere Angelegenheit als diese, und es ist wohlgetan, daß man dieser Religion, die darbietet, was die anderen erstreben, auch bei der Gruppierung der Aufgaben der Wissenschaft ihren besonderen Platz anweist. Nicht als ob es der wissenschaftlichen Erkenntnis möglich wäre, alles das von den Wirkungen dieser Religion und von ihrem Stifter auszusagen, was der Glaube bekennt oder die fromme Spekulation behauptet — die Religion selbst entrückt ja den Weg zu ihrem tiefsten Inhalte den Anstrengungen des Verstandes, und die Spekulationen sind von vergänglichen zeitgeschichtlichen Elementen abhängig. Wohl aber bejaht die geschichtliche Erkenntnis den Anspruch dieser Religion, das höchste G-ut zu sein, welches die Menschheit besitzt, das heilige Gut, das sie über die Welt erhebt, ihre wahre Freiheit und Brüderlichkeit begründet und ihr ein sicheres Ziel steckt. Innerhalb der Wissenschaft und mit den be-
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scheidenen Mitteln, die sie hier darbietet, Hüterin dieses geistigen Gruts zu sein, es in seiner Reinheit zu bewahren, vor Mißverständnissen zu schützen und seine geschichtlich erkennbaren Züge zu immer klarerer Erkenntnis zu bringen — das ist die Aufgabe der evangelisch-theologischen F a kultäten. Mit dieser hohen Aufgabe betraut, müssen sie es ablehnen, sich mit den Religionen der ganzen Erde verantwortlich zu belasten. Sie wollen darüber keinen Zweifel lassen, daß sie sich um die Religion überhaupt bemühen, indem sie sich um das Christentum bemühen, und daß sie nicht nur die Kenntnis, sondern mit ihr auch die Geltung desselben in K r a f t erhalten wollen. Damit bin ich zu dem Letzten gekommen: die theologischen Fakultäten haben auch einen praktischen Beruf, und auch um dieses Berufs willen soll der Kreis ihrer Aufgaben unverändert bleiben. Sie haben, wie es in den Statuten unserer Fakultät heißt, „die sich dem Dienst der Kirche widmenden Jünglinge für diesen Dienst tüchtig zu machen." Mit der evangelischen Kirche also stehen sie in einem Zusammenhang, und sie sind sich der Verantwortung bewußt, die ihnen dieses Verhältnis auferlegt. I n der Auffassung ihrer Pflichten hier bestehen freilich noch drückende Verschiedenheiten, die zu schweren Spannungen geführt haben. Geschichtlich sind diese Spannungen wohl verständlich. Einst galt für alle vier Fakultäten die oberste Bestimmung, daß sie eine feste, ein f ü r allemal gegebene Lehre zu tradieren haben. F ü r die Juristen war es die des Corpus juris, für die Mediziner Hippokrates und Gralen, f ü r die Philosophen Aristoteles und für die Theologen waren es die symbolischen Bücher. Unter schweren Krisen setzte sich seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts ein neuer Begriff von Wissenschaft durch und unterwarf sich die Universitäten: Wissenschaft ist nicht abgeschlossene Lehre, sondern stets zu kontrollierende Forschung, und Wissenschaft ist allein an die kritisch geordnete Erfahrung ge-
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bunden. I n den anderen Fakultäten hatte sich diese neue Auffassung, die den pädagogischen Beruf gewiß bedeutend erschwert, am Anfang des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Auch in den evangelisch-theologischen Fakultäten war man damals so weit. Da brach eine schwere Reaktion ein, in mancher Hinsicht sachlich berechtigt; aber bald suchte sie diese Fakultäten in ihrer Freiheit um ein Jahrhundert und mehr zurückzuwerfen. I n heißem Kampfe haben sie ihren wissenschaftlichen Charakter zwei Generationen hindurch erstreiten müssen. Der Kampf ist noch nicht beendigt; aber in weitesten Kreisen der evangelischen Kirche selbst und derer, die sie leiten, ist doch die Überzeugung zum Durchbruch gekommen, daß der evangelischen Theologie dieselbe Freiheit zu gewähren ist wie jeder anderen Wissenschaft. Man kann wohl in der Politik zwischen Freiheit und Zwang einen Mittelweg ausfindig machen, indem man bald diesen, bald jene walten und aus diesem Zickzack eine Art von mittlerer Marschroute entstehen läßt; aber in bezug auf die Frage, ob man die Erkenntnis frei lassen soll oder nicht, gibt es kein mittleres Verfahren; denn sie ist schon in Banden geschlagen, wo auch nur der Schein einer Bevormundung entsteht. Man wendet dem gegenüber die Überstürzungen und Fehler der freigelassenen Wissenschaft ein und daß sie nun der Praxis die alten Dienste nicht mehr voll leisten könne — aber was will das besagen gegenüber der furchtbaren Kalamität, die notwendig eintreten muß, der Kalamität, daß dem Lehrer die Freiheit gebrochen wird, und der Lernende die Integrität und Wahrhaftigkeit seines Lehrers beargwöhnen muß. Ein einziger solcher Fall wiegt zehnmal all den Schaden auf, der durch Mißbrauch der Freiheit entsteht. Die evangelische Kirche selbst wünscht solch einen Zustand nicht, und sie wird sich lieber bei der Tatsache bescheiden wollen, daß ihr die theologischen Fakultäten nicht mehr dasselbe leisten wie früher, als daß sie sie in Yer-
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suchung führe. Ob diese Fakultäten ihr aber nicht im freien Dienst Besseres gewähren, darf man wohl fragen. "Wilhelm v. H u m b o l d t hat einst das tiefe Wort gesprochen: „Die Wissenschaft gießt oft dann ihren wohltätigsten Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe gewissermaßen zu vergessen scheint." Das gilt auch hier. Wir können und dürfen bei unsrer geschichtlichen Arbeit nicht an die Lehren und Bedürfnisse der Kirchen denken; wir wären pflichtvergessen, wenn wir in jedem einzelnen Fall etwas anderes im Auge hätten als die reine Erkenntnis der Sache. Aber daß ein Theologe kein Herz für seine Kirche hätte, f ü r ihr Bekenntnis und für ihr Leben, daß er nicht lieber ihr beistimmen als sie korrigieren möchte, dagegen spricht alle Erfahrung. Was sollte ihn auch locken, in diesen verantwortungsvollen Beruf einzutreten und in ihm zu verharren, wenn nicht die Sache selbst, welche der Theologie und der Kirche gemeinsam ist? Die theologischen Fakultäten werden nicht aufhören, sich der Kirche verpflichtet zu wissen im freien Dienst; sie wollen sie nicht meistern, sondern bieten ihr an, was sie erarbeitet haben. Daß aber die zukünftigen Diener der evangelischen Kirche durch eine solche Schule hindurchgehen, die sie zur ernstesten P r ü f u n g auffordert, das entspricht letztlich den obersten Grundsätzen dieser Kirche selbst. Ich habe die Gründe darzulegen versucht, welche die theologischen Fakultäten bestimmen, die alte Aufgabe in K r a f t zu erhalten und nicht Fakultäten für allgemeine Religionsgeschichte zu werden; auch mit e i n e m Lehrstuhl f ü r diese unübersehbare Wissenschaft ist es hier nicht getan. Wohl mag es einzelne besonders ausgezeichnete und arbeitskräftige Männer geben, die ihn zur Not zu bekleiden vermögen; aber das sind seltene Ausnahmen. Um so lebhafter aber ist unser Wunsch, daß der Indologe, der Arabist, der Sinologe etc. auch der Religion des Volkes, dem er sein Studium gewidmet hat, volle Beachtung schenke und die Er-
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gebnisse seiner Arbeit in Vorlesungen und Büchern mitteile. Dankbar hat die evangelische Theologie von solchen Werken bereits Gebrauch gemacht und durch sie nicht nur ihren Gesichtskreis erweitert, sondern auch ihr kritisches Vermögen geschärft. Daß kein Theologe die Universität verläßt, ohne eine gewisse Kenntnis mindestens einer außerchristlichen Religion, ist ein Wunsch, der sich vielleicht verwirklichen läßt; wir rechnen dabei auch auf die bereits erprobte Hilfe wissenschaftlich gerichteter Missionare, die in die Heimat zurückkehren. Aber indem wir bei der alten Aufgabe unsrer Fakultät verharren, geschieht dies in der doppelten Voraussetzung, daß ihrer Freiheit keine Schranken gezogen werden, und daß sich über die äußeren Zäune hinweg Vertreter verwandter Fächer — wie zur Zeit der Anfänge unserer Universität — die Hand reichen zu gemeinsamer Forschung. Vielleicht kommen wir so nach langer, langer Arbeit zu einer vergleichenden Religionswissenschaft. Vor drei Menschenaltern, als diese unsere Universität gestiftet wurde, glaubte man diesem Ziele näher zu sein als heute. Wie oft ist es doch der Wissenschaft schon begegnet, daß die Fülle neuer Erkenntnisse sie scheinbar zurückgeworfen hat. Indem man reicher wurde, wurde man ärmer, ärmer an allgemeinen Erkenntnissen. Mögen uns in der Wissenschaft Männer geschenkt werden, die auf dem Grunde solider Forschung den Mut der Zusammenfassung haben; denn jede Zusammenfassung ist Tat des Mutigen. Möge unsere Universität fort und fort der Geist beleben, der in S c h l e i e r m a c h e r und H u m b o l d t lebendig war; möge der Hochsinn F i c h t e s in uns und unseren Kommilitonen niemals aussterben; möge mit diesem Hochsinn verbunden bleiben die Ehrfurcht vor den göttlichen Dingen, vor dem Wirklichen, vor jedem ehrlichen Beruf — jene Ehrfurcht, welche die lebendige Wurzel aller Gesittung ist. So wird uns das strahlende Morgenrot unseres Aufgangs einen dauernden Sonnentag bedeuten! Daß aber die herrlichen
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Männer, deren Erben wir sind, zu Baumeistern des Baues berufen wurden, den wir mit Stolz den unsrigen nennen, das verdanken wir unserem Königlichen Stifter. Seine Huld und Seinen Schutz hat E r vererbt auf Seine Nachfolger, vererbt auf Seinen Urenkel, unseren König und Herrn. Ihm ist die Wissenschaft, Ihm ist diese unsre Universität ein teures Grut, und wir haben die zuversichtliche und gegründete Hoffnung, daß E r wie E r ihr Erhalter bleiben, so auch ihr Mehrer sein wird. Gott schütze den König!
Nachwort. I n Nr. 39 der „Christlichen Welt" hat D. R a d e meine unter vorstehendem Titel gehaltene Rektoratsrede besprochen, manchen wichtigen Punkten zugestimmt, aber „mit Bedauern wahrgenommen", daß ich die Errichtung besonderer Lehrstühle für die allgemeine Religionsgeschichte bei den theologischen Fakultäten ablehne. Die Frage, ob solche Lehrstühle errichtet werden sollen, ist eine praktisch-organisatorische oder schultechnische; man kann daher zweifeln, ob sie f ü r den Leserkreis dieser Zeit u n g hinreichendes Interesse bietet. Indessen da sie einmal hier aufgeworfen worden ist, so sei es mir gestattet, mich auch vor den Freunden der Christlichen Welt zu ihr zu äußern. Zunächst muß ich ein Mißverständnis beseitigen. D. Rade schreibt: „Man erfährt beiläufig, daß die preußische Regierung nicht daran denkt, Lehrstühle f ü r allgemeine Religionsgeschichte bei den theologischen Fakultäten zu errichten." Das klingt so, als hätte ich mich über die Absichten der Regierung auf Grund einer besonderen Information geäußert. Allein das ist nicht der Fall; ich habe lediglich den naheliegenden Einwurf eines Dritten vorweggenommen, man solle doch nicht über eine aussichtslose Sache streiten. Uber das, was das preußische Unterrichtsministerium in dieser Frage will oder nicht will, bin ich nicht unterrichtet. Sodann muß ich auf die Frontstellung meiner Rede aufmerksam machen, die Rade, sei es durch meine Schuld,
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nicht richtig verstanden hat. Sie richtet sich doch nicht gegen diejenigen, welche die wissenschaftliche Erforschung der christlichen Religion gegenüber den anderen Religionen absperren wollen — in der Wissenschaft haben wir es mit ihnen nicht zu tun —, sondern gegen die, welche die theologischen Fakultäten bereits aufgelöst haben (Holland), sowie gegen die, welche die zentrale Stellung der christlichen Religion verwischen oder den wissenschaftlichen Charakter der Theologie bemängeln, wenn diese nur das Christentum und nicht auch die anderen Religionen zu ihrem Objekt macht. Nun wird es von Gewinn sein, wenn ich das Maß der Übereinstimmung, welches zwischen Rade und mir in dieser Frage besteht, feststelle. Ich fasse es in drei Thesen zusammen, für die ich der Zustimmung meines Freundes sicher bin: 1. Die Erforschung und Darstellung der christlichen Religion soll aus sachlichen und aus praktischen Gründen die eigentliche Aufgabe der theologischen Fakultäten bleiben; diese sollen nicht in Fakultäten für allgemeine Religionsgeschichte verwandelt werden. 2. Die Geschichte der christlichen Religion kann nach Ursprung und Entwicklung nicht ausreichend verstanden werden, wenn man nicht jene Gruppe fremder Religionen berücksichtigt, die einen starken Einfluß auf sie ausgeübt und ihr wesentliche Momente zugeführt haben. Ihre Kenntnis ist aber auch deshalb unerläßlich, weil sich die Natur und der Spielraum zentraler religiöser Faktoren (Offenbarungsglaube, Bedeutung des Kultus, Propheten, Priester usw.) und Anschauungsformen nur durch eine Vergleichung sicher ermitteln und erkennen läßt. 3. Darüber hinaus ist nicht nur die Kenntnis anderer Religionen, sondern auch die der ganzen Religionsgeschichte — ideal genommen — ein notwendiges Erfordernis; daher ist jede solide Erweiterung des theologischen Arbeitsfeldes in dieser Richtung als Fortschritt zu begrüßen.
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Ergibt sich nun aus diesen Sätzen die Forderung, es müßten bei den theologischen Fakultäten Lehrstühle f ü r allgemeine Religionsgeschichte errichtet werden? Ist der ein Reaktionär, der sie ablehnt? Wenn in einer solchen Frage die abstrakte Theorie oder die Träume wissenschaftlicher Konstruktöre entschieden, so mag's sein. Aber wir haben es mit den wirklichen Verhältnissen zu tun. Ich frage erstens: Wie steht es denn zur Zeit mit der „allgemeinen Religionsgeschichte" und zweitens: „Was haben die theologischen Fakultäten, bes. unsre Studenten nötig?" I n bezug auf die „allgemeine Religionsgeschichte" hört man in Deutschland immer nur von einem Kolleg sprechen, welches Bedeutung erlangt habe, das des verewigten R o t h , der in Tübingen Professor der indischen Philologie gewesen ist. Diese Vorlesung mag sehr anregend und sehr nützlich gewesen sein; aber wenn die evangelische Theologie seit dreißig Jahren Fortschritte in dem Studium fremder Religionen und in bezug auf ihre Vergleichung mit der christlichen gemacht hat, so verdankt sie das — soweit meine Kenntnis reicht — nicht oder nur zum kleinsten Teil dem Einiluß jenes Kollegs. Weder zeichnen sich die württembergischen Theologen, die unter Roths Einfluß gestanden haben, durch besondere Energie in religionsgeschichtlicher Hinsicht aus, noch sind meines Wissens die Theologen, denen hier besondere Verdienste gebühren, von Roths Vorlesung beeinflußt worden. Andere Namen sind zu nennen, Namen von sehr verschiedenen Männern, die Spezialisten waren oder sind, aber aus ihren speziellen Studien heraus auf ganz bestimmte religions - geschichtliche Probleme geführt wurden und f ü r diese Enthusiasmus und Eifer zu entzünden verstanden. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß ζ. B. L a g a r d e und U s e n e r der religionsgeschichtlichen Forschung innerhalb der evangelischen Theologie einen sehr viel kräftigeren Anstoß gegeben haben als Roth, und daß der stille Einfluß, den E i c h h o r n auf
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die jüngeren Kirchenhistoriker ausübt, wirksamer ist als ein allgemeines religionsgesch.ichtlich.es Kolleg. Und wie steht es mit den Handbüchern und der allgemeinen rehgionswissenschaftlichen Literatur? Wir haben den Tiele und den Chantepie de la Saussaye, dazu sehr lehrreiche rehgionswissenschaftliche Zeitschriften. Wir freuen uns dieses Besitzes; aber glaube niemand, daß der Eintritt in die Religionswissenschaft durch diese Kasernenhöfe führt. Nicht einmal Interesse vermag jemand aus den Zusammenstellungen zu gewinnen, kaum das vorhandene zu stärken. Wem es gelingt, den Chantepie de la Saussaye durchzulesen, dem widme ich meine Bewunderung. Ich glaube aber nicht, daß das jemand schon fertig gebracht hat, es sei denn, daß ihn der Geist trieb, ein Kolleg über allgemeine Religionsgeschichte zu lesen. Wer will denn allgemeine Sprachgeschichte — ich meine nicht Einleitung in die Sprachwissenschaft — hören und wer ist so unvorsichtig, sie als Vorlesung anzukündigen? G-ibt es deshalb keine allgemeine Sprachwissenschaft? Mit der allgemeinen Religionsgeschichte steht es aber noch anders. Sie umfaßt Sprache, Mythus, Sitte, Kultur, Wissenschaft, kurz die Geschichte der Völker und ist von ihnen nicht zu trennen. Oder soll aus den verschiedenen Religionen der Völker je ein „Prinzip" gemacht und dann lustig mit diesen „Prinzipien" gebaut werden? Die Zeiten sind vorüber. Aber es gibt doch auch „AllgemeineWeltgeschichte", und man liest darüber sogar Vorlesungen? Gewiß, aber man hat sich längst verständigt, was man unter diesem Titel versteht — politische Geschichte. Die, welche den Begriff erweitern und eine wirkliche Universalgeschichte aus ihm machen wollen, markieren entweder nur die unendliche Aufgabe, an der wir alle arbeiten, oder treiben allerlei feuilletonistischen Unfug. Eine allgemeine Religionsgeschichte gibt es auch nur als unendliche Aufgabe vieler Disziplinen, und dafür richtet
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man keine Lehrstühle ein, weder bei der theologischen noch bei der philosophischen Fakultät. Also soll allgemeine Religionsgeschichte schlechterdings nicht gelesen werden? Das ist nicht meine Meinung und folgt auch nicht aus dem Gesagten. Wer eine Religion gründlich in ihren Beziehungen und ihrer Geschichte studiert hat, dem werden wir gern zuhören, wenn er den Mut und die Lust hat, seine Kenntnisse und Gedanken in bezug auf andere Religionen zu offenbaren. E r wird — wenn er kein Schelm ist, der mehr gibt als er hat —• sie zeichnen, wie er sie von der Stelle aus sieht, die er beherrscht, also in Umrissen, wie man eine ferne Berglandschaft zeichnet, und ohne eine Intimität zu simulieren, die er nicht besitzt. Eindringen in eine fremde Religion kann nur wer sie nachzuerleben vermag. Auch solche Virtuosen, die das für ein Dutzend Religionen vermögen, mag es geben; aber dadurch, daß man aus Büchern der verschiedensten Autoren verschiedene Religionen zusammenrückt, entsteht keine „Allgemeine Religionsgeschichte". Angenommen, man entschlösse sich heute in Deutschland in die evangelisch-theologischen Fakultäten oder in die philosophischen Professoren f ü r allgemeine Religionsgeschichte zu setzen, woher sollten sie kommen? Und wenn — wie das selbstverständlich wäre — nur solche Gelehrte gewählt würden, die e i n e Religion samt Sprache und Geschichte gründlich beherrschten, ist nicht sicher zu hoffen, daß diese so verständig wären, der Unterrichtsverwaltung zu erklären: „Den Lehrauftrag f ü r allgemeine Religionsgeschichte bitten wir als einen unverbindlichen betrachten zu dürfen; wir wollen über e i n e Religion und daneben Religionsgeschichtliches im allgemeinen Sinne, aber nicht Religionsgeschichte, lesen." Und nun — was haben die theologischen Fakultäten, bez. unsre Studenten nötig? Erstlich, sie haben gewisse Kenntnisse anderer Reli-
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gionen nötig, um, wie ich schon sagte, die Natur und den Spielraum der großen Elemente und Anschauungsformen der höheren Religionen zu erkennen; diese Kenntnis wird ihnen in den Vorlesungen über alttestamentliche und urchristliche Disziplinen, sowie in religionsphilosophischen und systematischen Vorlesungen mitgeteilt. Hier bedarf es aber keineswegs einer vollständigen religionsgeschichtlichen Induktion, um diese Hauptfaktoren zu würdigen. Das "Wichtigste leistet bereits die Religion der Testamente und die Vielheit der christlichen Bildungen in den zwei ersten Jahrhunderten. Was ζ. B. Propheten sind und was Prophetismus, und wie sich diese Erscheinung entwickelt, kann man mit fast hinreichender Deutlichkeit am Alten und Neuen Testament lernen, und was Opfer und Priester sind, nicht minder an jenem. Aus der allgemeinen Religionsgeschichte gewonnenes Material wird freilich hier manches verdeutlichen und sicherstellen. Zweitens, eine konkrete Kenntnis bestimmter Phasen der babylonischen, persischen, vorderasiatischen und griechischen Religionen ist erforderlich, um wichtige, zum Teil grundlegende Erscheinungen der testamentarischen Religionsgeschichte, bez. der Kirchengeschichte, sei es zu verstehen, sei es genetisch zu erklären, und deshalb begrüßen wir jeden alt- oder neutestamentlichen Theologen, der sich mit einer dieser Religionen oder mit mehreren gründlich beschäftigt. I m einzelnen ist freilich dabei allerlei zu erinnern. Das wichtigste Moment scheint mir zu sein, daß f ü r die Epoche, in der wir die fremden Religionen in dringendster Weise in Anspruch zu nehmen haben (300 vor Christus bis 300 nach Christus), sie sich teils durch parallele Entwicklung, teils durch Austausch, teils durch philosophisch-ethische Zersetzung soweit einander genähert haben, daß die Zurückführung auf die ursprünglichen Elemente im einzelnen Fall teils aussichtslos, teils ohne Nutzen ist. Sie sind alle neu und relativ gleichartig geworden —
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zumal unter dem Prinzipat des Hellenismus —, und es ist daher ziemlich gleichgültig, was sie einst gewesen sind; denn ihre ursprüngliche Natur ist zum Phlegma geworden. Und mag auch hier und dort dieses Phlegma in ursprünglicher Energie noch eine K r a f t geblieben sein — wir wollen den ausgezeichneten Gelehrten, die es herausspüren, Dank wissen —, so ist es doch ungleich wichtiger, die neuen religiösen und geistigen Stimmungen, Wünsche und E r kenntnisse zu erheben, die so laut sprechen und die unter der Hülle der physikalisch-historischen "Weisheit der jüdischen Apokalyptiker oder der zu geschichtlichen Legenden aufgestutzten uralten Mythen der religiösen Erzähler oder der Aonenlehre der Grnostiker so gleichartig zum Ausdruck kommen. Das Zeitalter der Apokalypsen, der neutestamentlichen Schriftsteller und der Grnostiker ist auch das Zeitalter der Allegorie; das steht fest. Zusehen mögen also die, die es angeht, daß sie nicht f ü r die 600 Jahre von Alexander bis Diokletian eine Münzsammlung zusammenstellen, die zwar durch das hohe Alter höchst interessant ist, deren Stücke aber zum größten Teil bereits damals außer Kurs gesetzt waren oder den aufgeprägten Wert verloren hatten. Nun bitte ich, daß man mich nicht so versteht, als wollte ich mit dieser Betrachtung allen Stoff, um den es sich hier handelt, als bereits in den Hellenismus eingeschmolzen bezeichnen. Das fällt mir nicht ein; aber dies wollte ich allerdings sagen, daß f ü r die angegebene Epoche genetische Untersuchungen (in bezug auf die Ursprünge religiöser Erscheinungen) hinter der Erhebung des Tatbestandes selbst und der Darlegung seiner geistigen Bedeutung zurückzutreten haben, weil jene Untersuchungen teils aussichtslos, teils unerheblich, teils sogar irreführend sind. Irreführend können sie werden, wenn der Forscher nicht angibt, wie der eisgraue Mythus, den er in einer religiösen Erscheinung des hellenistischen Zeitalters entdeckt hat, verwertet und empfunden worden ist, ob als
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handfester Glaube oder als unverstandener Gegenstand der Pietät oder als Form der religiösen Vorstellung oder als Unterlage für eine Allegorie oder als Zukunftsbild oder als Schmuck und Poesie. Was folgt aus dem allen für unsre Frage? Ich meine, daß wir den Gang der Dinge preisen sollen, welcher die langsame Erforschung der Religionen des synkretistischen Zeitalters den Theologen und den Hellenisten unter den Gräzisten zugewiesen hat. "Welchen Gewinn würde die theologische Wissenschaft davon haben, wenn sie in ihre Fakultäten Gelehrte als allgemeine Religionshistoriker bekäme, deren Spezialgebiet das Babylonisch-Assyrische oder das Persische oder auch das klassisch Griechische wäre? Diese Männer würden gewiß so verständig sein, alle ihre K r a f t der klassischen Gestalt der betreffenden Religion zuzuwenden und hätten f ü r die Zersetzung derselben ein geringeres Interesse; diese aber interessiert uns. Unsere Theologie-Studierenden mögen jene Gelehrten eifrig hören — ich freue mich über jedes religionsgeschichtliche Spezialkolleg, das ich im Belegbuch eines Studenten finde —, aber sie für unsre Fakultäten in Anspruch zu nehmen, dafür fehlt jeder Grund. Eine besondere Spezies von Religionshistorikern aber zu schaffen, die sich nur in den theologischen Fakultäten sehen lassen dürfen, dafür danken wir. Diese Verhältnisse liegen so klar und sind auch in meiner von Rade angegriffenen Rektoratsrede so unmißverständlich angedeutet, daß man nach einer besonderen Ursache suchen muß, welche den Angriff erklärt. Täusche ich mich nicht, so haben wir an die wohl verständliche Empfindlichkeit moderner Theologen zu denken. Weite Kreise in der Kirche beanstanden es noch — von ihrem Standpunkt mit vollem Recht —, daß bei der Erforschung der christlichen Religion fremde Religionen überhaupt anders als des Kontrastes wegen herangezogen werden. Unter diesem starken Druck hat der Herausgeber der Christlichen
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"Welt den Gleichmut nicht ganz bewahrt und deshalb meiner Rede, weil sie in bezug auf die allgemeine Religionsgeschichte und die theologischen Fakultäten Schranken überhaupt erwähnt, ein „Bedauern" nachgesandt, während hier doch nichts zu bedauern ist. F ü r die der allgemeinen Religionsgeschichte gewidmeten Lehrstühle bei den theologischen Fakultäten wird er sich bei ruhiger Erwägung schwerlich noch erwärmen. Um diese allein handelt es sich aber; denn in die seltsame Lage hat mich Rade doch nicht bringen wollen, mich gegen den Vorwurf, die Theologie verwandten Disziplinen gegenüber abzusperren, verteidigen zu müssen.
RELIGIÖSER GLAUBE UND FREIE FORSCHUNG
Erschienen in der „Neuen Freien Presse", 7. Juni 1908.
Der christliche Glaube, soweit er unter uns lebendig ist, lebt in einer doppelten Gestalt, in einer kirchlich gebundenen \ind in einer freien und individuellen. Die beiden Gestalten verteilen sich nicht einfach, auf den Katholizismus und Protestantismus, denn es gibt auch, kirchlich, gebundene protestantische Frömmigkeit, und es gibt Katholiken, die in Freiheit zu ihrer Kirche »stehen wollen; aber die klassische Gestalt der katholischen Frömmigkeit ist die Gebundenheit, und die konsequente Gestalt der protestantischen Frömmigkeit ist die Freiheit. Es ist eine oberflächliche und daher falsche Beurteilung, die da meint, durch die kirchliche Gebundenheit werde der Religion immer etwas Fremdes auferlegt; man muß vielmehr anerkennen, daß die Gebundenheit einer bestimmten Stufe der Religion entspricht und von ihr unzertrennlich ist. Alle Gesetzesreligionen, mögen sie nun Glaubensgesetze oder Sittengesetze oder beides verkündigen, setzen eine äußere Autorität in "Wirksamkeit und verlangen in erster Linie Gehorsam. Der Glaube erscheint hier also als Glaubensgehorsam, und in diesem Worte ist die zweite Hälfte wichtiger als die erste. Somit hat die Religion auf dieser Stufe eine große Ähnlichkeit mit dem Staate und seiner Rechtsordnung. Der Staat fragt in erster Linie nicht darnach, ob man seine Rechtsordnung „glaubt", sondern ob man ihr gehorsam ist. So fragt auch die Gesetzesreligion zunächst nach dem Gehorsam; sie möchte freilich dann auch noch eine innerliche Zustimmung zu ihren Gedanken und Geboten — übrigens will das der Staat auch und ver-
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sucht es durch eine patriotische Erziehung zu erreichen —, aber wo diese fehlt, da gibt sie, wenn nur der G-ehorsam vorhanden ist, selbst Mittel und "Wege an die Hand, um die mangelnde innerliche Zustimmung zu kompensieren. Aber vermag sich wirklich „Religion", das heißt ein inneres Verhältnis zur Gottheit, zu behaupten, ja, vermag sie überhaupt zu entstehen, wenn der Q-ehorsam in dieser Weise in den Vordergrund gerückt wird? Niemand darf es wagen, diese Frage zu verneinen; denn die Geschichte spricht sie deutlich genug. Zarte Blüten lebendiger Frömmigkeit und großartige Erscheinungen religiöser Kraft sind auch innerhalb der Gesetzesreligionen entstanden. Auch unter dem schwersten Druck äußerer Autoritäten braucht der Religion der Atem nicht auszugehen, und selbst vom Schutt lastender Uberlieferungen wird sie nicht immer erstickt. Ja, es scheint, daß manche Naturen, wie der Weinstock an dem Pfahl, nur an einem Spalier von Gesetzen ihre Tugenden entwickeln und die Freiheit ihres Wachstums zu finden vermögen. Indessen in der Gesetzesreligion ist niemand sicher, daß nicht doch für seine Frömmigkeit ein Tag kommt, wo die Autorität mit ihr in Konflikt gerät — wie viele gute katholische Christen haben das erfahren! — und das Höchste kann unter der Herrschaft der Autorität überhaupt nicht erreicht werden; denn auf der höchsten Stufe ist die Frage nach der Religion die Frage nach dem Wirklichen und Wahren: alle Täuschungen, mit denen man sich selbst betrügt, über den Sinn und Wert des Lebens sollen wegfallen; der Kern des eigenen Wesens soll in seinen Tiefen erfaßt werden und die Seele soll lediglich ihre eigenen Bedürfnisse und den ihr vorgezeichneten Weg zu ihrer Befriedigung erkennen. Das kann nur in vollster Freiheit geschehen. Jeder Zwang ist hier schon Vernichtung der Aufgabe selbst; jede Beugung unter die Lehren anderer und jeder Versuch, sich Gegebenes anzuquälen, ist ein Verrat an der eigenen
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Religion. So sind höchste Religion und höchste Freiheit wählverwandt; jene vermag nur in diesem Medium zu leben. Damit ist schon gesagt, daß zwischen der Religion auf der höchsten Stufe und der freien Forschung niemals ein Konflikt entstehen kann; muß doch vielmehr die Religion über die Freiheit ebenso eifersüchtig wachen wie die Freiheit selbst! Ist sie Gewinn und Ausdruck des höchsten persönlichen Lebens, das immer ein freies ist, so würde sie die Bedingungen ihrer Existenz selbst untergraben, wenn sie nicht für alle Fragen der äußeren und inneren Erkenntnis eine schrankenlose Freiheit forderte. Die Sorge, daß auch schweren Irrtümern Tor und Tür geöffnet wird, kann sie dabei wenig kümmern; denn der schwerste Irrtum ist die Meinung, man dürfe die Menschen nicht zu freier Selbstbesinnung rufen; dieser Irrtum aber ist hier abgetan. Alle übrigen Irrtümer korrigieren sich von selbst; denn die Wahrheit fürchtet nicht den Irrtum, sondern nur den Betrug und den Selbstbetrug. Ehrliche Irrtümer sind Stationen auf dem Wege der Erkenntnis; Bevormundungen, Verbote und G-ebote aber müssen hier wie Täuschungen wirken, und nicht selten sind sie auch so gemeint. Schrankenlos aber muß Freiheit in bezug auf Forschung und Erkenntnis sein, weil hier die bedingte Freiheit keine Freiheit mehr ist. Es gibt Dinge, die halbiert werden können und dann noch einen Teil ihrer Kraft behalten; aber zu diesen gehört die Freiheit der Forschung und Erkenntnis nicht. Man hat sie oder man hat sie nicht; die halbe Freiheit ist auch Gebundenheit, nur eine mildere. Die Religion auf ihrer höchsten Stufe will von solcher Freiheit nichts wissen; denn die Wahrheit geht ihr über alles. Sie würde lieber an ihrer Freiheit sterben, wenn das möglich wäre, als sich eine Fessel anlegen lassen, die sie knechtet. Das Problem: „Religiöser Glaube und freie Forschung" existiert also nur für die breite untere Stufe der Religion, auf welcher sie Gesetzes- und Kirchenreligion ist. Doch
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ist das Wort „Problem" hier im Grunde unstatthaft; denn Probleme sind Tragen, von denen man hoffen darf, daß sie sich lösen lassen. Jene Frage aber läßt eine theoretische Lösung überhaupt nicht zu; denn die Religion befiehlt, dies und das zu glauben, und die Wissenschaft fordert, kein Objekt der freien Prüfung zu entziehen. Man kann daher auch nicht sagen, man solle den Streit durch reinliche Scheidung der Gebiete schlichten; die Gebiete lassen sich eben nicht scheiden; umfassen doch die Dogmen der Religion zahllose geschichtliche, philosophische und moralische Objekte, an "welchen die Wissenschaft das höchste Interesse nimmt und auf deren Untersuchung sie schlechterdings nicht verzichten kann! Es ist daher Selbsttäuschung oder nichts als Sophisterei, wenn behauptet wird, Autoritätsglaube und Freiheit der Wissenschaft ließen sich wirklich vereinigen. Die abgequälten, weitschichtigen Abhandlungen, in denen diese Versuche noch immer unternommen werden, beweisen meistens schon durch ihre Unverständlichkeit, daß sie nach dem Unmöglichen streben. So gewiß es also auf der höchsten Stufe der Religion einen Konflikt mit dem Prinzip der freien Forschung nicht geben kann, weil es das Prinzip der Religion selbst ist, so gewiß ist der Konflikt jenes Prinzips mit der Autoritätsreligion unvermeidlich und dauernd. Einen theoretisch befriedigenden Ausgleich gibt es hier nicht; also ist ein modus vivendi zu suchen. Aber ist das nicht schon ein Verrat, mag er von der Gesetzesreligion oder von der Wissenschaft unternommen werden? Es gibt auf beiden Seiten Hitzköpfe, die so urteilen; sie von ihrem Irrtum zu überzeugen, ist unmöglich. Man könnte ihnen höchstens entgegenhalten, daß sie nichts Geringeres versuchen, als das Leben selbst zu sprengen und aufzulösen; denn es steht nicht nur unter diesem Widerspruch, sondern auch noch unter vielen ähnlichen. Man muß daher auf den guten Willen derer rechnen, welche gegebene Tat-
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Sachen, so widerspruchsvoll und unbequem sie sein mögen, anerkennen und bereit sind, auf ihrem Boden die Verhältnisse zu ordnen und den Gang der Dinge zu fördern. Vorschläge zu radikalen Änderungen von beiden Seiten sind billig; jeder Kaplan und jeder Kaffeehausliterat kann sie machen; aber sie sind, wenn überhaupt, nur auf gewaltsamem Wege durchzusetzen, und ob das dem Ganzen förderlich wäre, ist eine ernste Frage. Oder wäre es wirklich heute für Deutschland oder Osterreich förderlich, wenn die Ausbildung der Geistlichkeit ohne jede Kontrolle des Staates kirchlichen Seminaren überlassen würde und jeder Kontakt der kirchlichen Theologie mit der wirklichen Wissenschaft aufhörte,, und wäre es umgekehrt der Kirche förderlich, wenn sie im zwanzigsten Jahrhundert, gestützt auf eine Zufallsmajorität, versuchen wollte, die Universitäten zu regieren, wie im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert? Würde sie nicht fast in demselben Augenblicke zusammenbrechen, in dem sie es wirklich unternehmen würde, sich mit dieser Last zu belasten? Um die Universitäten handelt es sich; sie sind heute ausschließlich Anstalten des Staates, und er will, daß sie der freien Forschung dienen sollen. Aber sie waren bekanntlich ursprünglich Anstalten der Kirche und dienten keineswegs der freien Forschung — eine solche gab es überhaupt noch nicht — sondern der gebundenen Wissenschaft. Alle Wissenschaft, nicht nur die theologische, war im Mittelalter gebunden und stand unter der Leitung der Kirche. Dieser Zustand ist längst vorüber, aber die Kirche hat ihn nicht vergessen, und so wirkt er noch in unser Zeitalter hinein. Die Kirche will ihren Einfluß auf die Universitäten zurückgewinnen und sich in ihnen behaupten. Auch die großen nationalen, politischen und sozialen Parteien möchten die Universitäten für ihre Zwecke gewinnen; auch sie bedrohen die Freiheit der Forschung und Wissenschaft; aber die Kirche ist der gefährlichste Gegner.
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Indessen sind diese Bestrebungen nicht die einzigen, welche die Lage der Universitäten bedrohen; kompliziert wird dieselbe auch dadurch, daß sie ihrem eigenen Zwecke nach, wie er sich im Laufe der Geschichte gestaltet hat, eine Doppelaufgabe zu lösen haben: sie sollen der freien Forschung dienen und sollen zugleich die künftigen Staatsbeamten und alle, die im öffentlichen Leben eine höhere Stellung gewinnen wollen, für ihren Beruf vorbereiten. Man müßte blind sein, wolle man verkennen, daß auch aus dieser Doppelaufgabe Spannungen entstehen können und entstehen, die der freien Forschung gefährlich werden. Aber diese Spannungen haben doch einen anderen Charakter als die Konflikte, welche der prinzipielle Autoritätsglaube heraufbeschwört. Weder sind sie theoretisch unlösbar, noch sind sie dauernd; ihre Ursachen liegen stets in zeitweiligen Umständen und Personen. Die Spannungen werden in der Regel schon durch umsichtige Weisheit gelöst werden können; denn die Wissenschaft und ihre Freiheit nötigen den Lehrer nicht, sich von den pädagogischen Forderungen zu emanzipieren, im Gregenteil — sie schreiben ihm vor, die Wahrheitserkenntnis so zu vermitteln, daß sie nicht wie ein prasselndes Gewitter über den Bestürzten daher fährt, sondern wie ein warmer Sonnenstrahl den Hörenden aufschließt und ihn zu freiem und freudigem Wachstum bringt. Der Modus vivendi ist also nur zwischen der Wissenschaft und den Ansprüchen der Kirche zu suchen; denn nur hier besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Ich meine hier die katholische Kirche und lasse die Frage, wie es mit den übrigen Kirchen steht, beiseite. Meines Erachtens ist das Kompromiß, wie es zurzeit allein möglich ist, schon gefunden und bedarf nur der allseitigen Anerkennung und Festigung gegenüber den Versuchen, ihn aufzulösen. Die katholisch-theologischen Fakultäten verbleiben im Rahmen der Universitäten; sie ordnen ihre Lehrziele und Lehrpläne
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im Zusammenhang mit der Kirchenbehörde und erhalten auch in ihrer Mitte Lehrstühle für das Kirchenrecht und für die Philosophie, weil sie nicht darauf verzichten können, diese Fächer in kirchlichem Sinne vertreten zu sehen. Dagegen ist kirchlicher Einfluß und sind kirchliche Ansprüche in bezug auf die drei anderen Fakultäten schlechthin abzuweisen und Beschwerden in dieser Hinsicht als unbefugt einfach abzulehnen. Einen wichtigen Punkt bildet noch die Anstellung der Theologieprofessoren. Der Staat kann nicht umhin, nur solche Lehrer anzustellen, welche die Missio canonica seitens des Bischofs besitzen; aber er kann sich nicht darauf einlassen, seinerseits diese Missio als eine widerrufliche zu betrachten. Glaubt sie der Bischof lediglich wegen mangelnder Rechtgläubigkeit des Lehrers nachträglich zurückziehen zu müssen, so hat er und nicht der Staat die Folgen seiner Voreiligkeit zu tragen. Die Mittel, die Lehrwirksamkeit eines solchen Professors völlig lahmzulegen, besitzt der Bischof zu jeder Zeit; um so mehr hat ihn der Staat in den Rechten, die ihm noch bleiben, zu schützen. Der Zustand, der sich aus dieser Ordnung der Dinge ergibt, bzw. schon ergeben hat, ist gewiß kein in jeder Hinsicht befriedigender, aber er ist meines Erachtens der einzige, der zurzeit möglich ist. Die k a t h o l i s c h - t h e o l o g i s c h e n F a k u l t ä t e n e r s c h e i n e n so als F r e m d k ö r p e r im O r g a n i s m u s der U n i v e r s i t ä t e n u n d sind es in der e n t s c h e i d e n d e n H i n s i c h t w i r k l i c h . Allein man darf doch andererseits nicht übersehen, daß es eine ungeheure Menge von exegetischen, geschichtlichen und philosophischen Fragen gibt, für welche der Prinzipienstreit überhaupt nicht existiert. "Wie groß ist nicht allein die Zahl der kirchengeschichtlichen Probleme, bei deren Behandlung der konfessionelle Standpunkt gar nicht in Betracht kommt! "Wie zahlreich sind hier bereits die Untersuchungen, die so geführt sind, daß man nirgends an die
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Konfession des Verfassers erinnert wird! Und bei vielen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Problemen ist es nicht anders. Auf diesem großen ö-ebiete kann sich eine Gemeinsamkeit der Arbeit und eine Kollegialität entwickeln, sie hat sich schon entwickelt, die ein hohes Ghit ist und die in der Gemeinsamkeit der universitas literarum wohl einen entsprechenden Ausdruck finden darf. Sie birgt Zukünftiges in ihrem Schöße, und ebendeshalb gilt es, in den gegebenen Verhältnissen ruhig weiterzuarbeiten und nicht auf voreilige Amputationen zu dringen oder gar vor dem kirchlichen Anspruch zu kapitulieren.
DIE THEOLOGISCHE FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT BERLIN
Erschienen in der „Christlichen Welt", 6. Oktober 1910.
Ich darf auf das freundliche Interesse der Leser hoffen, wenn ich zur Jubelfeier der Berliner Universität ihnen aus der Q-eschichte der Theologischen Fakultät etwas erzähle. Studieren doch seit Jahren im Winter etwa 15 Prozent aller evangelischen Studierenden Deutschlands in Berlin und im Sommer etwa 12 bis 13 Prozent. Bei dem raschen Wechsel aber (nur die Brandenburger bleiben in der Regel länger als zwei Semester) darf man annehmen, daß etwa ein Fünftel bis ein Viertel sämtlicher deutschen evangelischen Theologen dauernd oder zeitweilig die Universität Berlin bezieht. So ist neben Halle, Leipzig und neuerdings Tübingen die theologische Fakultät daselbst, die Frequenz anlangend, die einflußreichste in Deutschland. Im Wintersemester steht sie gewöhnlich an der Spitze der evangelischen Fakultäten und in bezug auf ausländische Theologen nimmt sie stets die erste Stelle ein. Ich beginne mit einigen statistischen Angaben, die die Q-eschichte der Fakultät beleuchten. Blicken wir zunächst auf die Ordinarien: Die Fakultät bestand am Anfang aus Schleiermacher, De W e t t e , Marheineke und Neander; heute zählt sie zehn Ordinarien: Weiß [emer.], Kleinert [emer.], Harnack, G-raf Baudissin, Kaftan, Seeberg, Deißmann, Holl, Mahling, Lehmann. Die Zahl der ordentlichen Lehrstühle hat sich also verdoppelt. In der ganzen Zwischenzeit haben nur noch 14 Ordinarien an ihr gewirkt. Denn sie hat bisher überhaupt nur 28 Ordinarien in ihrer Mitte
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gesehen. Diese verhältnismäßig kleine Zahl erklärt sich daraus, daß Berlin Endstation ist. Es haben an der Fakultät gewirkt S t e i n m e y e r 46 Jahre, H e n g s t e n b e r g und T w e s t e n je 43 Jahre, S t r a u ß 38 Jahre, N e a n d e r 37 Jahre, M a r h e i n e k e 36 Jahre, P f l e i d e r e r 33 Jahre, S c h l e i e r m a c h e r und D i l l m a n n je 25 Jahre. Von den jetzt lebenden wirken K l e i n e r t bereits 46 Jahre, W e i ß 34 Jahre und K a f t a n 28 Jahre bei uns. N i t z s c h , D o r n e r und S e m i s c h haben eine Wirksamkeit von 21 bzw. 22 bzw. 23 Jahren gehabt. Nur De W e t t e , L e h n e r d t , N i e d n e r , von der Gt-oltz, B ä t h g e n und S c h l a t t e r sind kürzere Zeit tätig gewesen. Diese Stabilität der Fakultät fällt für ihre Eigenart ins Gewicht und hat ihre Geschichte beeinflußt. Die Zahl der Extraordinarien und Honorarprofessoren betrug im ganzen etwa 40. Unter ihnen haben einige einen sehr bedeutenden Einfluß ausgeübt; erinnert sei vor allem an T h o l u c k , V a t k e , P i p e r . Der besondere Stolz der Fakultät sind ihre Privatdozenten, sowohl der Zahl nach als der Bedeutung, die viele von ihnen später gewonnen haben. Habilitiert haben sich in den 100 Jahren bei ihr mehr als 80 Brivatdozenten. Die Fakultät im Unterschied von manchen anderen hat ihre Tore jungen Gelehrten stets weit offen gehalten. In den Jahren 1837—39 ζ. B. wirkten als Privatdozenten hier nebeneinander P h i l i p p i und B r u n o B a u e r ! Gegenwärtig lehren als Professoren an deutschen evangelischen Fakultäten außerhalb Berlins 17 ehemalige Berliner Privatdozenten, nämlich in Halle (Voigt), Breslau ( W o b b e r m i n , G e n n r i c h und H ö n n i c k e ) , Bonn (Gräfe), Kiel (Baumgarten), Marburg (Jülicher), Göttingen (Titius), Leipzig (Heinrici), Tübingen (Karl Müller), Jena ( T h ü m m e l und Weinel), Rostock (L. Schulze), Straßburg (Nowack), Wien (Lösche und Beth), Basel (P. W. Schmidt). Zu diesen 17 ehemaligen Privatdozenten kommt noch D i b e l i u s sen., der in einem hohen Kirchenamte in Dresden steht,
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4. Die Theologische Fakultät der Universität Berlin (1910)
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von der Goltz jun., der Direktor eines Predigerseminars ist, und — Prof. Lamm er-Breslau, ein Schüler Hengstenbergs, der sich im Jahre 1857 bei uns habilitierte, bald darauf katholisch wurde und zu den namhaftesten katholischen Kirchenrechtslehrern zählt. Lämmer ist der älteste Berliner theologische Privatdozent, der noch am Leben ist; ihm folgt L. Schulze-Rostock (1859); beide haben bereits das 50 jährige Jubiläum der Universität als Dozenten erlebt. Die Theologische Fakultät hat in den 100 Jahren etwa 120 junge G-elehrte zu Lizentiaten der Theologie promoviert und etwas über 60 verdienten Männern die Würde eines Doktors der Theologie erteilt. Die Zahl für die Lizentiaten ist nicht hoch, wenn man bedenkt, daß die Fakultät über 80 Privatdozenten aufgenommen hat. Das Rektorat haben Theologen 14 mal bekleidet (Juristen 18 mal, Mediziner 17 mal, Philosophen 51 mal). Da Twesten 3mal, Marheineke 2mal Rektor gewesen ist, so haben außer ihnen noch 9 Theologen diese Würde erhalten, nämlich Schleiermacher (1815/16), Strauß, Nitzsch, Dorner, Dillmann, Kleinert, Pfleiderer, Harnack, K a f t a n . Nicht gewählt wurde H e n g s t e n b e r g , und Neander durfte man nicht stören. Was die Zahl der Studierenden anlangt, so will ich die Leser nicht mit vielen Ziffern langweilen, wohl aber ein paar Daten geben, aus denen sie sich leicht eine Kurve zeichnen können: Wintersemester „ „ „ „ „ „ „ „ „
1817/18 1830/31 1852/53 1862/63 1874/75 1889/90 1894/95 1898/99 1903/04 1909/10
117 Theologen 641 „ 168 „ 433 „ 134 „ 800 „ 486 412 331 367 „
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Welche Verschiedenheiten! Die Kurve zeigt drei Höhepunkte (1830/31, 1862/63 und 1889/90) und drei Tiefpunkte (1852/53, 1874/75, 1903/04). Eine leichte Aufwärtsbewegung ist in den letzten Jahren zu bemerken, die aber noch wenig bedeuten will. "Was den großen Abstieg seit 1889/90 betrifft, so ist zu bemerken, daß derselbe nicht nur proportional der allgemeinen Abnahme des theologischen Studiums, sondern auch noch etwas günstiger ist. Die Bedeutung bzw. der Einfluß der Fakultät hat sich also in den letzten 20 Jahren, gemessen an dem der anderen theologischen Fakultäten, nicht verringert, ist vielmehr, auf die Zahlen gesehen, etwas gestiegen. Der dritte Tiefpunkt ist also nur absolut ein solcher, nicht relativ. Dagegen bezeichnen die Jahre 1852/53 und 1874/75 wirkliche Tiefpunkte. Wie sind sie zu deuten? Erklären ist leicht, richtig zu erklären ist schwer! In bezug auf den ersten Tiefpunkt bin ich ratlos und möche meine unsicheren Vermutungen nicht vortragen; dagegen kann kein Zweifel sein, daß an dem zweiten die ungenügende Zusammensetzung der Fakultät eine Hauptschuld trug. Nachdem aber von dem Minister Falck im Jahre 1875 Pfleiderer, im Jahre 1876 Weiß und im Jahre 1877 Kleinert als Ordinarien berufen worden waren, hob sich die Frequenz der Fakultät — freilich stark unterstützt vom allgemeinen Aufschwung des theologischen Studiums — sehr schnell und nach einigen Jahren nahm sie wieder die erste Stelle unter den theologischen Fakultäten Deutschlands ein. Diese Daten müssen hier genügen, einige Bemerkungen zur Geschichte der Fakultät mögen folgen. Voran stehe die dogmatische Disziplin; denn in Berlin hat sie stets die Hauptrolle gespielt, nicht nur als Erbschaft des großen Theologen, der 25 Jahre hindurch der Theologe Deutschlands gewesen ist, sondern auch weil die Zahl der älteren Studenten in Berlin stets größer ist als die der jüngeren. Was Schleiermacher der Fakultät,
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der Berliner Universität und der "Wissenschaft bedeutet hat, das zu erzählen muß ich mir versagen. Die Hauptsachen sind allgemein bekannt; Neues aber wird man aus L e n z ' „G-eschichte der Berliner Universität" erfahren. Hier wird man auch hören, welchen "Verfolgungen in den traurigen Zeiten Preußens der große Theologe ausgesetzt war, wie man ihn belauert hat und wie nahe daran es war, daß er — abgesetzt worden wäre! Schleiermacher darf zu den Mitstiftern der Berliner Universität gerechnet werden; nicht nur "W. von Humboldts, sondern auch sein Geist ist in dem Plane und den Ordnungen der Universität zum Ausdruck gekommen. Die Theologische Fakultät, deren Statut er verfaßt hat, rühmt sich noch immer, seine Fakultät zu sein! Neben ihm stand als Dogmatiker Marheineke — neben ihm und in steigendem Maße wider ihn; denn Marheineke trat bald auf Hegels Seite als einer seiner begeistertsten, wenn auch nicht durch Klarheit ausgezeichneten Anhänger. Aber was ihm an Klarheit abging, muß er durch die Kraft der Aussprache und die "Würde seiner Persönlichkeit vor den Studenten ersetzt haben. Der Gegensatz Schleiermacher-Marheineke war an der ganzen Universität bekannt. Für die Lernenden war es ein Vorteil, beide Männer hören zu können, und es gab nicht wenige, die sich zu Marheineke und zu Hegel stärker hingezogen fühlten als zu Schleiermacher. Schleiermachers Lehrstuhl nahm Τwesten ein und hat ihn viele Jahrzehnte hindurch inne gehabt. Man durfte mit Recht große Hoffnungen auf ihn setzen, als er das Lehramt in Berlin im Jahre 1835 antrat, und doch hatte er den Höhepunkt seiner produktiven Entwicklung damals schon überschritten. Es ist schwer, diesem Schüler Schleiermachers, der sich, einem innern konservativen Zug nachgebend, immer mehr von ihm entfernte, gerecht zu werden. "Wie viele herrliche Blüten zeigte dieser junge Baum — man lese die pietätvolle Biographie, die Heinrici verfaßt hat —, und wie wenig hat
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sich, entfaltet, wie vieles ist ohne Frucht abgefallen! Aber geblieben ist die geschlossene wissenschaftliche Persönlichkeit, der Theologe von seltener Vielseitigkeit mit strengen Anforderungen an die Studierenden und den strengsten an sich selbst. Seine Dogmatik wurde scholastisch; aber in der Exegese und in den Übungen des Seminars konnten die Studierenden Ausgezeichnetes von ihm lernen. In dem letzten Jahrzehnt seiner Wirksamkeit trat ihm Dorner zur Seite, der Führer der Vermittlungstheologie, der Versöhner Hegels und Schleiermachers auf Hegelscher Grundlage. Seine Zeit fiel in die Jahre des Niedergangs der Fakultät, und er vermochte ihn nicht aufzuhalten. Als er nach Berlin berufen wurde, war die Mission, die seine Theologie für die deutsche Wissenschaft und Kirche hatte, bereits wesentlich erfüllt. Doch war es ihm vergönnt, noch einiges Bedeutende hier zu leisten und vor allem sich an der Ausbreitung seiner Theologie in England und Amerika zu erfreuen. Nach ihm trat K a f t a n ein, und auch Pf leiderer, ursprünglich in eine andere Professur berufen, widmete seine Kraft immer ausschließlicher der systematischen Professur. In den letzten 25 Jahren hat die Religionsphilosophie, Dogmatik und Ethik ihre Signatur in Berlin durch diese beiden Theologen empfangen, mit denen während einiger Jahre von der G-oltz zusammenwirkte. Infolge des Apostolikumsstreit hielt es aber die Regierung für nötig, der äußersten Rechten eine Konzession zu machen und neben Kaftan und Pfleiderer noch einen „positiven" Systematiker zu stellen. Die Fakultät erhielt den originalen und tiefsinnigen Theologen Schlatter. Nach seiner nur kurzen Wirksamkeit trat Seeberg ein. Nach Pfleiderers Tode stellte die Fakultät, da ihr Troeltsch. nicht gewährt wurde, den Antrag, die Professur in eine solche für allgemeine Religionsgeschichte umzuwandeln. Der Antrag wurde genehmigt und Lehmann aus Kopenhagen berufen. Eine spezielle n e u t e s t a m e n t l i c h e Professur hat die
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Fakultät merkwürdigerweise erst im Jahre 1876 durch Berufung von Weiß erhalten. Bis dahin lasen nach Schleiermachers Vorgang zahlreiche Lehrer in ihrer Mitte auch über das Neue Testament, vor allem Τwesten, dessen Lehrauftrag auch auf dieses Fach lautete. Daß das nicht ausreichte, liegt am Tage. In der großen Entwicklungsgeschichte der neutestamentlichen Kritik, die nach Schleiermachers Tode begann, hat die Berliner Fakultät jahrzehntelang keine Rolle gespielt! Erst durch Weiß und Pf leider er hat sie auf diesem Boden Bedeutung erlangt. Neben Weiß ist in jüngster Zeit Deißmann getreten, und auch Harnack hat sich an den Bemühungen um das Neue Testament beteiligt und regelmäßig alle vier Semester Neutestamentliche Einleitung gelesen. Eine spezielle Professur für das A l t e Testament wurde im Jahre 1826 als Extraordinariat errichtet und H e n g s t e n b e r g übertragen. Schon nach zwei Jahren wurde «r Ordinarius und hat bis zum Jahre 1869 an der Fakultät gewirkt. Durch Hengstenberg, den Alttestamentlichen Theologen, wurde die Berliner Fakultät die Hochburg der Unwissenschaftlichkeit im Alten Testament und in Hengstenberg, dem Herausgeber der „Evangelischen Kirchenzeitung", sah sie den Chef der kirchlichen Reaktion in ihrer Mitte. Im kirchlichen Kampfe gewachsen war ihm niemand in der Fakultät. Wohl erkannte der alternde Schleiermacher, was die Zukunft von diesem Manne zu erwarten hatte; wohl hat Neander lautren Sinns wider den G-eist der „Evangelischen Kirchenzeitung" öffentlich protestiert; aber da Τ w e s t e n und N i t z s c h — nur auf sie kam es schließlich an — Vermittelungstheologen waren, hatte Hengstenberg leichtes Spiel. Als nach seinem Tode Dillmann berufen wurde, begrüßte ein hervorragender Theologe diese Ernennung mit den Worten: „Es geschehen noch Zeichen und Wunder." Erst Dillmann hat die Wissenschaft vom Alten Testament in Berlin wirklich eingebürgert; denn
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V a t k e , der geniale Kritiker, war ein fast wirkungsloser Prediger in der Hengstenbergschen "Wüste. Nach Dillmanns Tode trat B ä t h g e n und nach dessen kurzer Wirksamkeit Graf B a u d i s s i n ein. Die K i r c h e n g e s c h i c h t e hat in N e a n d e r , „dem letzten Kirchenvater", 37 Jahre lang einen Meister besessen. Niemand hat würdiger von ihm gesprochen als sein großer Rivale F. Chr. Baur. Neben Schleiermacher war er der berühmteste und geliebteste Lehrer in der Fakultät, ein Vater der Studenten und ein Förderer jeglichen jungen Talents. Seine Schranken als Historiker liegen am Tage, aber seine Verdienste lassen sich nicht leicht überschätzen! Wir Kirchenhistoriker leben noch alle von der Arbeit Neanders und am meisten dort, wo wir es nicht wissen. Die Wahl seines Nachfolgers L e h n e r d t war ein Miß griff, N i e d n e r , der ihm folgte, ein grundgelehrter Mann, aber in schwerfälligster Rüstung; doch haben wohl vorbereitete ältere Studierende viel von ihm gelernt. Beide Männer haben nicht lange gewirkt. Dann folgte für 23 Jahre S e m i s c h ohne bedeutendere Wirksamkeit, doch soll seine ausgezeichnete Monographie über Justin, die freilich schon vor seiner Berliner Zeit erschienen ist, unvergessen bleiben! Die p r a k t i s c h e Theologie vertrat zuerst Strauß; die ihm persönlich näher getreten sind, haben ihm ein dankbares Andenken bewahrt. Von 1847—68 hat die Fakultät den bedeutendsten praktischen Theologen des vorigen Jahrhunderts auf dem Katheder besessen, I m m a n u e l N i t z s c h . Er war es, weil er auf Schleiermachers Schultern stehend, auch mit eigenen Augen sah und klare Anschauung mit begrifflicher Strenge verband. Seit 1858 trat ihm S t e i n m e y e r zur Seite und entgegen, der als Prediger sowohl wie als Lehrer einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat. Sein theologischer Standpunkt war dem Hengstenbergs verwandt, aber durch eine unberechenbare Subjektivität gemildert. Steinmeyer konnte im einzelnen Fall große Frei-
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heit walten lassen, weil er mit allem, was wirklich lebendig war und aus dem Innern quoll, mitfühlte. Neben Steinmeyer vertrat 1877 K l e i n e r t die praktische Theologie, und nach seiner Emeritierung ist nunmehr Μ a h l i n g eingetreten. Bis zum Anfang der dreißiger Jahre war die Berliner Theologische Fakultät durch Schleiermacher, Neander und Marheineke eine führende Fakultät. Das ist sie — über das letzte Drittel ihrer Q-eschichte erlaube ich mir in keinem Sinne ein zusammenfassendes Urteil — in den folgenden vierzig Jahren nicht mehr gewesen. Zwar gelang es Hengstenberg nicht, die Fakultät in das Schlepptau der Reaktion zu nehmen, aber auch ihr gelang es nicht, seinen EinfLuß zu brechen, im Gegenteil — er war Jahrzehnte hindurch der stärkste Faktor. Doch hat es der Fakultät in keinem Jahrzehnt zwischen dem Anfang der dreißiger und der Mitte der siebziger Jahre an bedeutenden Lehrern gefehlt, die, von Hengstenberg geschieden, den Studierenden zu wirklicher Wissenschaft geführt haben. In dem ersten Jahrzehnt nach Schleiermachers Tode 1834—1844 waren es Neander und Twesten, in dem zweiten trat Nitzsch zu ihnen, in dem dritten (dem dunkelsten) waren es Nitzsch und Niedner, in dem vierten Dorner und Dillmann. I n dieser Zeit hat manche andere Fakultät, sei es an Geschlossenheit ihrer Wirksamkeit, sei es an Bedeutung ihrer Lehrer Berlin übertroffen. Ich habe mich in dieser Skizze ganz wesentlich auf die Ordinarien beschränken müssen; dadurch ist sie unvollständig. Aber die 28 Ordinarien sind verhältnismäßig sehr leicht zu übersehen; dagegen reichte meine Zeit nicht, um die Wirksamkeit der die Zahl 100 weit übersteigenden Extraordinarien und Privatdozenten zu verfolgen; auch gehört ihre Wirksamkeit nur zum kleineren Teil der Berliner Hochschule an. P i p e r hat die christliche Archäologie als eigene wissenschaftliche Disziplin begründet, V a t k e die moderne Alttestamentliche Kritik, Grunkel ihre letzte Phase.
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Schaff hat die deutsche Theologie nach Amerika getragen. P h i l i p p i ist der Dogmatiker des modernen Luthertums in strengster Fassung geworden. Reuter und Karl Müller sind die bedeutendsten Kirchenhistoriker für das Mittelalter neben Hauck. "Weingarten hat hier seine „Revolutionskirchen Englands" verfaßt. Sie alle und viele andere namhafte Theologen mit ihnen haben in Berlin gewirkt, die meisten hier ihre Laufbahn begonnen. Eine Pflanzschule künftiger theologischer Lehrer zu sein — diese Aufgabe hat sich die Berliner Theologische Fakultät nicht selbst gestellt, sondern sie ist ihr geworden. Sie wird sie auch ferner festhalten müssen. Möge es ihr nie an Lehrern fehlen, die neben der Sorge für die zukünftigen Diener der Kirche in der Heranbildung von Lehrern der theologischen Wissenschaft ihre Pflicht erkennen!
Ansprachen in der Festsitzung des Kirchenhistorischen Seminars zur Feier des sechzigsten Geburtstages. (1911) Die E n t w i c k l u n g der k i r c h e n h i s t o r i s c h e n A r b e i t i n d e n 37 J a h r e n d e s B e s t e h e n s d e s Kirchenhistorischen Seminars. Der Geist des Seminars, das inzwischen sechsmal das Lokal gewechselt hat, ist noch derselbe wie am Anfang. Aber mit dem, was in der kirchengeschichtlichen Arbeit geleistet worden ist, steht es heut ganz anders als damals, und zwar nicht am letzten durch das Verdienst des Seminars. In der Kritik der Texte war damals so gut wie nichts geleistet. 1874 gab es noch nicht einmal eine Ausgabe der apostolischen Väter, heute ist sogar eine bis ins Kleinste gehende Konkordanz zu ihnen vorhanden — fast zuviel Ehre! Die Akademien Berlin und Wien haben bereits eine erstaunlich stattliche Sammlung altchristlicher Schriftsteller herausgegeben. Damals standen sich von der einen Seite die Β a u r ' sehe Kritik, von der andern Leute wie L i p s i u s , V o l k m a n n , H i l g e n f e l d feindlich gegenüber. Der einzige, der wirklich wissenschaftlich arbeitete, war Th. Z a h n . Heute bestehen diese Gegensätze in der alten Kirchengeschichte de facto nicht mehr. Selbst die tendenziös-historische katholische Arbeit ist allmählich
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zur Wissenschaftlichkeit gezwungen worden. So ist hier eine, wenn auch nüanzierte Einheit geschaffen. Aber nicht nur die Heimat, auch das Ausland hat begonnen, sich lebhaft an dieser Arbeit zu beteiligen: England ( L i g h t f o o t und R o b i n s o n ) , Frankreich (R e ν i 11 e Vater und Sohn; ferner R e n a n s ausgezeichnetes Werk über die origines du christianisme, in welchem nur gerade der I. Band, Das Leben Jesu, ganz minderwertig ist), Italien. Vor allem aber in Amerika ist das Studium der alten Kirchengeschichte erwacht. Diese 37 Jahre haben mich gelehrt, daß dieser Stoff in der Theologie die mächtigste Anziehungskraft besitzt. Alle Themata führen auf Kapitalfragen des Wesens und Ursprunges unserer Religion. Jeder, der in der alten Geschichte arbeitet, muß nach den Zuständen im Urchristentum fragen, und da dies immer die Kernfrage bleibt, so muß auch der Systematiker herzukommen, weil er merkt, daß die philosophische Arbeit nicht vorangeht ohne gediegene historische Kenntnis des Altertumes. So wird diese Zeit immer im Mittelpunkte des theologischen Studiums stehen. Ich bin nun mit ihr verheiratet, und das, was meiner Frau zugute kommt, kommt mir selber zugut. Indem die Stoffe meinen Schülern näher kommen, habe ich selbst für mich Förderung. Besonders aber freut mich die Tatsache der freundschaftlichen Einheit unter den Mitgliedern, den gegenwärtigen, wie den ehemaligen. E i n e Wurzel dieser Erscheinung liegt in der Sache selbst. Von Piaton her liegt es in der Wissenschaft selbst, daß alle Beteiligten „φίλοι" werden. Diese φιλία muß dann aber, um dauernd zu sein, wie alle sittlichen Güter, bejaht werden. Das ist in diesem Seminar geschehen, und die Anwesenheit der älteren Semester ist ein beredtes Zeugnis dafür. Es wäre eine interessante Aufgabe, der in der ethischen Literatur bisher vernachlässigten Frage nachzudenken: W a r u m stiftet gemeinsame Arbeit soviel Freundschaft?
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So danke ich Ihnen allen für Ihr Erscheinen und Ihre Teilnahme an dieser Feier und begrüße Sie aufs herzlichste ! Meine lieben Freunde und Freundinnen! Allem zuvor muß ich Ihnen meinen herzlichsten Dank aussprechen für das, was am 7. Mai, dem eigentlichen Tage, durch den Mund des gegenwärtigen Seniors, und ich darf auch sagen, im Namen aller früheren Mitglieder, so weit er sie erreichen konnte, mir gesagt worden ist, sowie für das herrliche Geschenk, das Sie mir überreichen ließen. Indem ich diesen Dank ausspreche, füge ich hinzu, daß ich mir eigentlich keine bessere Situation denken kann als ein Jubiläum mit 60 Jahren. Mit 70 Jahren kommt einem alles wie ein beneficium flebile vor, das ist bei 60 Jahren nicht der Fall. Mit 60 Jahren kommt man sich als ein Greis vor, der eigentlich kein Greis ist, und dann wird einem doch alles das beschert, was früher nur an das Haupt von Greisen geheftet wurde. Und diese hybride Mischung ist für den, der sie bekommt, außerordentlich erfreulich. Ich danke Ihnen dafür. Wenn ich an das Seminar denke, so kann ichs rühmen, denn es ist mir beschert worden, wie einem eine Frau beschert wird. Ich bin ganz unschuldig dran. Ich bin in der angenehmen Lage, wie unter dem Weihnachtsbaum mit schönen Geschenken beschenkt zu werden. Meinen Anteil daran kann ich auf die einzige Formel bringen: daß ich das Leben nicht als Pappdeckel nehme, sondern als Leben. Das würde etwa das Geheimnis sein, das ich ausplaudern könnte. Das habe ich von meiner lieben Mutter, daß ich das Leben nehme als etwas Lebendiges und nicht als etwas Totes. Wenn ich nun zurückblicke und auf all' die Freunde sehe, die durch das Seminar gegangen sind, so liegt wirk-
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lieh etwas außerordentlich Großes darin. Ich könnte sagen, es liegt ein Stück unserer theologischen nicht nur, sondern der allgemeinen deutschen Kulturgeschichte darin. Denn von Anfang an, wo es ganz besonders schön war, damals 1874, waren darin G r e g o r y , L o o f s , R a d e , der leider uns so früh entrissene W r e d e , Bornem a n n und noch ein paar; ein Kreis von sechs, sieben Leuten war es, der sich damals um mich versammelte. Das kam in Leipzig so, daß es wohl noch niemals einem jungen Mann, vielleicht M e l a n c h t h o n ausgenommen, so glücklich ging wie mir. Ich kam mit 21 Jahren nach Leipzig und habe mich noch l x / 2 Jahre dort vorbereitet, dann habilitierte ich mich. Weiter war die Situation, die ich vorfand, diese, daß zwar ausgezeichnete Leute da waren — denn diesen Ruf hatten sie — zugleich aber, daß sie schlechte Musikanten für die Studenten waren — das kann ich ruhig sagen — so daß ich mit 23 Jahren auf einmal eine Ernte einheimsen konnte, wie sie sonst nur auf der Höhe des Lebens beschert ist. Ich las meine erste Vorlesung — wenig anziehend für den Studenten und noch dazu kein Pflichtkolleg — selbst 23 Jahre alt, Gnostizismus: 120 Zuhörer. Ich habe es nie wieder gelesen. Damals schrieb ich noch alle Kollegienhefte sorgfältig und zwölf Jahre hindurch habe ich nichts gesprochen, was ich nicht aufgeschrieben habe, bis nach Marburg hin, trotzdem ich nie vorgelesen habe. Erst von Marburg ab habe ich nichts mehr aufgeschrieben. Da ich dann mit verschiedenen Tinten Nachtragungen machte, sahen schließlich meine Hefte ganz buntscheckig aus, wie eine Partitur von Richard S t r a u ß . Ich konnte sie lesen wie eine Partitur. Ich wußte, wo alles stand — also wirklich wie eine Partitur — und mit einem Blicke übersah ich sie dann. Vor diesem Heft über Gnostizismus graust es mir, wenn ich heute daran denke. Nun, das Kolleg wurde liebevoll aufgenommen. Und dann kamen alle diese ausgezeichneten jungen Leute — nicht alle Namen sind mir gegenwärtig. Auf ein-
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mal war es mir also beschert, so daß ich die deutliche Empfindung hatte: du hast wirklich die besten Studenten, die da sind. Und dann gab das von selbst eine Tradition; nicht ich schuf eine Tradition, sondern diese schufen sie. Sie sagten es weiter an andere, und ich heimste das ein. Die Tradition wurde geschaffen ganz neben mir. Dann ist das Seminar weiter gegangen und hat Veränderungen einschneidender Art erlebt. Um Einiges zu erwähnen: eines Tages stellte sich eine Dame ein, und diese Dame konnte etwas, und infolgedessen wurde sie respektiert von denen, die da waren. Als sich zwei bis drei Jahre vorher einmal die Tür öffnete und eine Dame erschien, da wurde sie durch Scharren hinausgegrault. Aber das liegt weit zurück. Dann kam eine Dame nach der andern, und ich bin überzeugt (Sie werden mir zustimmen): wir haben keine Dame gehabt, die nicht ihren Mann gestanden hätte, wenigstens nach meiner Erinnerung keine einzige. Das Umgekehrte kann ich nicht ohne weiteres sagen. Kurz, das ist sehr gut eingeschlagen, wir sind kameradschaftlich zusammengetreten, und bald war es eine ganz selbstverständliche, ständige Einrichtung. Aus allen Ländern und auch aus allen Konfessionen waren Leute da. Eines Tages kam ein junger Mann zu mir und sagte: „Kann ich eintreten? Ich bin nicht Theologe, ich bin konfessionslos, ich bin Atheist; ich möchte aber in Ihrem Seminar Studien treiben." Ich sagte ihm: „Kommen Sie nur." Merkwürdig ist es mit diesem Mann weitergegangen. Er blieb lange konfessionslos und nach Jahren bekam ich einen Brief: „Aus diesen und diesen Gründen soll ich zum Christentum übertreten; soll ich das?" Da schrieb ich ihm zurück: „Nein, aus diesen Gründen können Sie nicht übertreten." Die Antwort kam: „Sie haben ganz recht, ich trete nicht über." Dann schrieb er wieder nach etwa zehn Jahren: „Ich trete jetzt zum Christentum über, mein Standpunkt ist dieser." Da schrieb ich ihm wieder: „Gut, jetzt können Sie übertreten." Auch ein Erlebnis aus dem Seminar.
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Dann lassen Sie uns die stolze Reihe der Senioren übersehen. Sie erleben ja gewöhnlich eine etwas gemischte Empfindung. Es wird ohne weiteres anerkannt, daß ihr Amt eine gewisse Superiorität ergibt, die natürlich stets auf die Person angewendet wird. Es entstehen dann die in der Kirchengeschichte bekannten Zustände der Spannung zwischen Person und Amt. Im allgemeinen aber wird das Seminar mir bezeugen können, daß meine Auswahl der Senioren dem Seminar zur Freude und Ehre gereicht hat. Ich will diese Reihe, die ich für Berlin mir habe aufschreiben lassen, Ihnen mitteilen, damit Sie sehen, wie sie ist. Der erste Senior, Pfarrer Dr. F o e r s t e r , nimmt jetzt in Frankfurt eine sehr geachtete Stellung ein, ein Mann, den jeder, der ihn kennt, lieben und ehren muß, ein Mann, der außerdem durch ein großes, zweibändiges Werk, durch seine Darstellung der Entstehung der Preußischen Landeskirche für immer sich in die Preußische Kirchengeschichte mit seinem Namen eingegraben hat, der außerdem durch die Kraft und Liebenswürdigkeit seines Wesens eine große und bedeutende Rolle in Frankfurt spielt. Dann kam Dr. C o n r a d , jetzt Konsistorialrat und Säule des Preußischen Kirchenwesens. Er hat sich in seinen Anschauungen etwas anders entwickelt. Sie sehen, auch s ο kann die Sache gehen. Wir üben vollständige Freiheit. In persönlichen Dingen machen Uberzeugungsdifferenzen keinen Unterschied. Richtungsunterschiede gelten nicht, so lange der Mann mit Ernst arbeitet. Dann kam mein verehrter Freund B i t t l i n g e r , der, nachdem er eine Zeit lang in Dahme Pastor gewesen ist, nun unter uns in Berlin weilt, und den ich besonders geschätzt habe, weil er immer wieder dort, wo eine herkömmliche Betrachtungsweise war, einen Tick hatte, zu betrachten, ob nicht neben einem Gang von Α nach Β eine Parallele von Β nach Α laufe. Dann kam Β e r 1 i η i c k e , über den ich nicht sprechen kann, da sein Geist umnachtet wurde. Dann kam S c h n e e m e l c h e r ,
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über den zu sprechen er sich wahrscheinlich verbitten wird; er ist auch uns allen als Sekretär des Evangelischsozialen Kongresses genugsam bekannt. Dann Professor K n o p f , jetzt in Wien, dann Herr V e i t , ebenfalls in Frankfurt, dann Ε r f u r t h , der eine sehr segensreiche Tätigkeit als Direktor der Inneren Mission jetzt in Elberfeld hat. Es ist also nach den verschiedensten Seiten hingegangen. Dann Κ r a a t ζ , dann kam R o e s e , jetzt Divisionspfarrer in Diedenhofen, der Militärreligion erhalten will und der zugleich an der Spitze der Jugendbewegung steht und nach dieser Seite hin in außerordentlicher Kraft wirkt. Also wir sind nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der h ö h e r z u b e w e r t e n d e n Praxis christlicher Liebestätigkeit lebendig. Dann Z s c h a r n a c k , mein nunmehriger verehrter Kollege. Nun beginnt die Reihe der Dauersenioren. Das ist natürlich f ü r mich sehr bequem. Die, die da lange waren, haben dem Seminar außerordentlich genützt: Otto D i b e 1 i u s , der jetzt in Danzig ist, ein umsichtiger, kluger und wissenschaftlich hochbegabter Mann. Dann kam mein Kollege v o n S o d e n , dann S c h o l z , übrigens sind aus dem Seminar auch eine ganze Reihe von systematischen Theologen hervorgegangen: W o b b e r m i n , W e n d l a n d u. a. Die Systematik und die Historie haben einen festen Bund geschlossen. Dann kam der jetzige Senior, der sich außerordentlich aufgeopfert hat, um mir und Ihnen allen dieses Fest zu bereiten. Aber es wäre sehr einseitig, wenn diese Senioren allein genannt würden. Es ist wie in der Apokalypse: wenn zwölf aus jedem Stamm gezählt werden, so steht hinter ihnen eine große, unzählbare Schar. Unter diesen andern — wie viele Namen wären zu nennen! Und wie viel Namen kann ich nicht nennen, von denen feststeht, daß sie vielleicht noch viel erfolgreicher, hingebender, inniger, gewissenhafter, treuer und zielstrebiger in ihrem Kreise wirken als die, deren Namen zufällig in der Öffentlichkeit be-
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kannt sind. Und in der Stille wirken sie nicht nur jetzt, sondern fort und fort, von denjenigen an, die in der Leipziger Zeit da waren, wie mein guter Freund M i c h e l s e n , der mir noch eben den dritten Band seiner Schleswig-Holsteinischen Kirchengeschichte geschickt hat, und der seit 30 Jahren der Historiograph der Kirchengeschichte von Holstein ist. Von diesem Ende der Nordsee an bis nach Siebenbürgen hin, und andrerseits von den russischen Ostseeprovinzen (wo Β e r e η d s ist) bis nach Italien hinein, wo G e l s h o r n sitzt, in Venedig, weiter über den Ozean hinüber nach Amerika — wie viele treue Leute, die im Leben ihren Mann stehen, ihre Stellung gefunden haben und ihrer Sache Ehre machen, sind — ich will nicht sagen, das wäre ein zu stolzes Wort, — aus dem Seminar hervorgegangen, wohl aber mit dem Seminar verbunden. Ihrer aller gedenke ich jetzt, vor allen Dingen auch der Toten. Derer ist schon eine große, große Zahl. Mir kommt mindestens alle zwei Monate ein Brief zu, wo die Witwe oder sonst ein Angehöriger mir mitteilen, daß dieser teure Mann gestorben ist, und daß es mir gewiß wertvoll ist, das zu erfahren. Das sind dann immer Mitglieder des Seminars gewesen. Denn wenn eine Einrichtung 40 Jahre alt ist, dann hält natürlich der Tod eine reiche Ernte. Aber tot oder lebendig, für uns gibt es diesen Unterschied im Letzten nicht. Was wir hier leben, ist eine Spanne. Wir gehören in ein ewiges Reich. Wie dieses Reich beschaffen ist, wissen wir nicht, ahnen wir nicht. Wir wissen nur, daß keine Anlage, kein Gut verloren geht, und daß die Anlagen und Güter, die uns geschenkt sind, nicht aufgehen in die Welt der Größen und der Materie. Und so ist es schließlich einerlei, ob lebend oder tot. Das ist eine Einsicht, eine Hoffnung, die aber ein Stück unseres Lebens ist, ohne die das Leben nicht lebenswert wäre, mit der aber um so deutlicher für uns ist, daß wir jede Stunde und jeden Moment so erfassen sollen, als ob er für uns ein Stück unwieder-
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bringlicher Ewigkeit bedeute. Keine Vergeudung ist schlimmer, als die tändelnde Vergeudung der Zeit, keine Sünde ist größer, als die Hingebung an tändelnden Genuß. Denn das macht gemein, und das heißt ein Leben führen, das man auch mit der Ausstattung eines Affen führen kann. Hier entscheidet es sich, ob man zu einer höheren Welt gehört oder zu einer niederen. Mit Worten ist hier nichts getan, mit Worten kann man niemand von einem Leben zum andern bringen, nicht einmal durch ein Vorbild. Man muß aber darauf rechnen, daß in allen denen, in denen ein Funke höheren Lebens ist, nach allem Irrtum dieses sich bewähren wird, und daß der alte Satz der Gnostiker recht hat, nur nicht beschränkt auf eine Menschenklasse, sondern ausgedehnt über alle, daß das Pneuma, der Geist, schließlich seinen Weg finden wird, und daß er auch da sich bewähren wird, wo wir in der Spanne, die wir übersehen können, die Bewährung nicht sehen. Das Leben ist ernst, wenn man auf die Stunde sieht, denn jede Stunde verlangt, daß man das Beste in ihr tut. Das Leben ist heiter, fröhlich, groß, wenn man auf das Ganze sieht, denn wir sind hineingestellt in einen Zusammenhang, in dem es aufwärts geht, und wir verfügen über Kräfte, die aufwärts führen. Daß dieses jedem Mitgliede des Seminars immer einleuchtender werde, und daß alles, was ihn niederhält, immer mehr abgestreift werde, und er immer fröhlicher und zuversichtlicher werde in der Zuversicht, einen großen Gang hinauf zu gehen und zu erkennen, daß die Leiden hier auf Erden der Herrlichkeit droben nicht wert sind — das ist mein Wunsch für Siel Das Seminar lebe hoch, hoch, hoch!
Die Bedeutung der theologischen Fakultäten. Iii den Programmen für die Neubildungen, welche die neue Zeit verlangt, ist auch mehrfach die Forderung erhoben worden: Abschaffung der theologischen Fakultäten. Ich verstehe es daher, daß ein Kreis von Solchen, die darin nicht einen Fortschritt, sondern einen verhängnisvollen Verlust erblicken, die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung dieser Fakultäten öffentlich erörtert sehen wollen. Ich selbst halte eine solche Erörterung nicht für unbedingt notwendig; denn ich vertraue dem Schwergewicht der Sache, daß sie sich behaupten wird, und ich vertraue zugleich den heutigen Machthabern, daß sie sich von diesem Schwergewicht überzeugen werden. Indessen ist es doch nicht überflüssig, den inneren Wert eines Gutes festzustellen, das nicht mehr unbestritten ist. Freilich läßt sich sofort einwenden, es mögen zuerst die Gegner der theologischen Fakultäten mit ihren Gründen in gesammeltem Angriff hervortreten. Das ist bisher nicht geschehen; vielmehr scheinen sie die Forderung für eine selbstverständliche zu halten, sobald einmal die Notwendigkeit der Trennung von Kirche und Staat anerkannt sei. Allein so einfach liegen die Dinge doch nicht, auch wenn man sich auf diesen Boden stellt. Die Forderung der Abschaffung der theologischen Fakultäten haben die modernen Staats- und GesellschaftsKonstrukteure unbesehens vom alten Liberalismus übernommen, ebenso wie die beiden Obersätze, aus denen sie
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angeblich folgt: „Religion ist Privatsache" und „Kirche und Staat müssen getrennt werden." Diese abstrakten Sätze sind von jener luftigen Unbestimmtheit, welche alle Forderungen des alten Liberalismus charakterisiert; die Folgerung aber „Abschaffung der theologischen Fakultäten" vermag sich nur vor einem ganz lockeren und schnellfertigen Denken als einfache Konsequenz aus jenen Sätzen zu behaupten. Was bedeutet „Religion" in dem Satze: „Religion ist Privatsache?" Daß das, was im Herzen und Gewissen vorgeht, Privatsache ist, bedarf keiner ausdrücklichen Erklärung. Aber Religion bildet stets Gemeinschaften. Sind diese Gemeinschaften auch lediglich Privatsache? Wenn diese Frage einfach bejaht wird, so wird der Staat auch bei uns überraschende Bewegungen erleben, wie er sie in anderen Ländern schon erlebt hatl Ferner, „Religion ist Privatsache" — aber die Religiösen verlangen nicht nur einen Religionsunterricht, sondern verlangen auch, daß ihre Kinder keinen irreligiösen und keinen unreligiösen Unterricht erhalten. Soll sich also der Staat um den Unterricht solcher Kinder überhaupt nicht kümmern oder soll er umgekehrt diese Kinder in seine Schulen, die er nach seinem Belieben errichtet, zwingen? In beiden Fällen wird er in Kürze sehr unliebsame Erfahrungen machen, und es wird ihm daher nichts übrig bleiben, als sich auf Verhandlungen einzulassen und die beiden Grundsätze: „Religion ist Privatsache" und „Kirche und Staat sind zu trennen", durch vermittelnde Bestimmungen einzuschränken. Aber selbst zugestanden, jene beiden Grundsätze ließen sich in strengster Form durchführen — warum soll die Abschaffung der theologischen Fakultäten ihre notwendige Folge sein? Oder steht es bereits fest, daß diese Fakultäten einer Aufgabe dienen, welche der Wissenschaft und dem Staate ganz gleichgültig ist? Wie, wenn es sich umgekehrt zeigen sollte, daß diese Aufgabe von den Fragen, ob Religion Privatsache sei und ob Kirche und Staat getrennt werden müßten, völlig unabhängig ist, ja daß Wissenschaft und Staat an ihr das höchste Interesse nehmen müssen? Daß es aber so ist, läßt sich nachweisen,
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und damit enthüllt sich die angebliche Konsequenz der liberalistischen Voraussetzungen als bloßes Vorurteil. Wie hier, so ergeht es dem modernen, sozialen Denken mit allen Erbstücken, die dieses Denken unbesehens vom Liberalismus übernommen hat. Sie erweisen sich sämtlich so wie sie lauten, als unbrauchbar und müssen daher einer durchgreifenden Revision unterworfen werden, um Geltung zu erlangen. Das soziale Denken bindet sich streng an das Wirkliche; dieses will es ausschließlich und unbeirrt erkennen; nach ihm will es den Staat und die Gesellschaft ordnen und Gerechtigkeit üben. In diesem Zug zum Wirklichen prägt sich die kraftvollste und die wertvollste Eigenart des Sozialismus aus. Daß er dabei zunächst auf den Materialismus verfiel, war bei der Verworrenheit und den Parteitendenzen des Idealismus, den er vor sich sah, zwar bedauerlich und verhängnisvoll, aber wohl verständlich, und ebenso verständlich war, daß er Quantitäten, Massen und Majoritäten einsetzte, um sich Gehör zu verschaffen. Aber es ist sicher zu erwarten, wie zahlreiche Anzeichen künden, daß er im Fortschritt seiner Entwicklung die Bedeutung dynamischer Kräfte und die Macht der Ideen erkennen wird. Der Idealismus des Wirklichen wird, wenn er ernst und tief ist, zur Wirklichkeit der Ideale gelangen. Ob die Wirklichkeit der Dinge die theologische Wissenschaft und die theologischen Fakultäten fordert und schützt, das allein darf hier entscheidend sein. Auch scheinbar einleuchtende Wünsche und Forderungen, mögen sie von links oder von rechts kommen, müssen unberücksichtigt bleiben, sobald die Frage einer ernsthaften Untersuchung unterzogen wird. Übrigens fehlen in der Tat auch Wünsche von rechts nicht, die auf Aufhebung der theologischen Fakultäten gerichtet sind. Es mögen etwa fünfzehn Jahre her sein, da hielt der berühmte Chirurg Kocher in Bern seine Rektoratsrede über die theologischen Fakultäten. Kocher gehörte einer streng pietistischen Gemeinschaft an, und das Ergebnis seiner Ausführungen lautete: „Fiat amputatio", die theologischen Fakultäten müssen aus dem Verbände der Universitäten ausscheiden,
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weil ihr hohes und zartes Objekt sich in den Rahmen dieser nicht fügt. Ebenso führt der rechte Flügel des Katholizismus einen stillen und zähen Kampf gegen die katholisch-theologischen Fakultäten an den Universitäten. Er wünscht, daß die zukünftigen Priester ausschließlich an bischöflichen Seminaren ausgebildet werden, damit sie nicht die gefährliche Luft der Universitäten atmen müssen. Noch vor kaum zwanzig Jahren, als es sich um die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg handelte, traten diese Bestrebungen offen zutage, und sie hätten in Rom wahrscheinlich die Oberhand behalten, hätte sich nicht ein so erprobter Führer der katholischen Wissenschaft und Kirche, wie es v. Hertling war, ihnen entgegengestellt. Die „Modernen" also, die heute die Aufhebung der theologischen Fakultäten im Namen der Aufklärung und des religionslosen Staates fordern, haben evangelische Pietisten und ultramontane Politiker zu Bundesgenossen. Auch hier bestätigt sich wieder der Satz von den Extremen, die sich berühren: „Unabhängige" und, wie der Volksmund sagt, „Schwarze" reichen sich die Hände! Daß diese nicht aus heißer Sorge f ü r den Staat und das Gemeinwesen die Aufhebung verlangen, müßte doch jenen eine Warnung sein. 1. Bevor wir aus der Sache selbst die Bedeutung der theologischen Fakultäten und damit ihr Existenzrecht erweisen 1 , wird ein Blick auf ihre Geschichte und ihre gegenwärtige Geltung nicht überflüssig sein. Zwar müssen ihn die f ü r wertlos halten, die von der Neuheit der neuen Zeit so überzeugt sind, daß sie keine geschichtliche Erwägung mehr zulassen und die Geschichte am liebsten totschlügen ; allein auch diese Enthusiasten pflegen ihren ikonoklastischen Eifer zu dämpfen, wenn sie zu wirklicher Verantwortung in bezug auf die Gestaltung der Zukunft berufen werden. Mit der Tradition brechen, heißt die Sache selbst verlieren: das erfahren auch sie. 1 Nur von den evangelisch-theologischen Fakultäten ist im Folgenden di« Rede; am Schluß sollen auch die katholisch-theologischen Fakultäten kurz berücksichtigt werden.
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Einst waren die theologischen Fakultäten, als die Universitäten in Europa begründet wurden und noch Jahrhunderte hindurch, die Mittelpunkte der gelehrten Studien. Die Philosophie und die anderen wissenschaftlichen Disziplinen, waren nur „ancillae theologiae"; es gab nur eine kirchlich gebundene Wissenschaft. Wer hat die Wissenschaft aus diesen Banden zu befreien begonnen? Ein Professor der Theologie an der Universität Wittenberg, Dr. Martin Luther, und die erste Universität, die ohne kirchlich-päpstliche Erlaubnis begründet worden ist, war die protestantische Universität Marburg. Diese Tatsachen sind unumstößlich, und Spekulationen wie die, daß auch ohne Reformation Renaissance und Humanismus das Werk der Befreiung der Wissenschaft von dem Prinzipat der Kirche vollbracht hätten, sind luftig und wertlos. Mag man über die Ursachen der Auflösung der mittelalterlichen Welt und über die Begründung des neuen Baues wie immer denken — im Anfang war die Tat, und daß diese Tat das Werk des Wittenberger Professors der Theologie war, das steht über jedem Zweifel. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der deutsche Idealismus, der die Epoche des Rationalismus ablöste. In ihm kam die Eigenart des deutschen Geistes zu Blüte und Frucht. Wer war der führende Träger dieses Geistes? Nicht Lessing, der große Bahnbrecher, sondern ein evangelischer Theologe, Herder. Nur der Zufall hat es verhindert, daß er an einer theologischen Fakultät gelehrt hat — der Plan, ihn für Göttingen zu gewinnen, zerschlug sich —, aber er war zeitlebens, als Pfarrer und Generalsuperintendent, Dozent der evangelischen Theologie, praeceptor Germaniae evangelicus im höchsten Sinn, und als solcher das deutsche Gegenbild, Mitkämpfer und Rivale Rousseaus. Kaum dreißig Jahre nach ihm und sich mit ihm noch berührend, wirkte Schleiermacher in Halle und Berlin an der theologischen Fakultät. Schleiermachers Bedeutung erschöpft sich nicht in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", mit denen er die Religion aus den Banden einer stumpfen Moral heraus-
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führte, auch nicht in seiner Plato-Übersetzung, in der er den erhabensten Geist Griechenlands für Deutschland wieder erweckte — seine Bedeutung ist ebenso groß als geistiger Führer in den Freiheitskriegen und als Organisator der Theologie und der Geisteswissenschaften, der Universität und der Akademie. Bei meinen Studien über die Geschichte der Berliner Akademie, habe ich von den sehr zahlreichen Denkschriften Kenntnis genommen, die im Laufe von fünfzehn Jahren in bezug auf die zu begründende neue Universität Berlin und die Reorganisation der Akademie verfaßt worden sind, und auch die Akten der Akademie durchgearbeitet, deren langjähriger Sekretär Schleiermacher gewesen ist. Das Ergebnis war, daß Schleiermacher an Größe und Bedeutung unmittelbar neben Wilhelm v. Humboldt zu stellen ist, ja daß er ihn, was organisatorischen Scharfblick und direkten Einfluß betrifft, noch überragt. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß sowohl der innere Neubau der Geisteswissenschaften als auch der Neubau der deutschen Universitäten und der Akademie ganz wesentlich das Verdienst dieses Professors der Theologie gewesen ist. Und wiederum keine dreißig Jahre nach ihm war es ein anderer evangelischer Theologe in Tübingen, Ferdinand Christian Baur, der mit der höchsten Energie des Geistes die neue gewaltige Geistes- und Geschichtsbetrachtung Hegels auf die Geschichte der christlichen Religion anwandte. Hier ist zum ersten Mal eine Entwicklungsgeschichte γοη zwei Jahrtausenden gezeichnet, und sie verliert nichts an ihrer epochemachenden Bedeutung, wenn sie heute überholt erscheint. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war Baur in Deutschland der einzige Historiker, den man neben Ranke stellen darf. Aber wie steht es mit Hegel selbst und mit Schelling? Auch sie waren von Haus aus evangelische Theologen, gebildet im theologischen Stift zu Tübingen, und sie haben ihre Herkunft aus der Theologie nie verleugnet. Beide haben sie vielmehr mit Bewußtsein festgehalten und in ihren Lebenswerken zum Ausdruck gebracht; denn beiden
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ist die Religionsgeschichte, vor allem die christliche, das Zentrum in der Entwicklungsgeschichte des Geistes. Das sind Erinnerungen aus der Geschichte der evangelischen Theologie, die bis an die Gegenwart heranreichen. Wie stellt sich aber die gegenwärtige Wissenschaft zur evangelischen Theologie und ihren Fakultäten? Ich greife eine Reihe verschiedenartiger Zeugnisse heraus. Als jüngst die Universität Frankfurt begründet wurde, hielten die in der Stadt maßgebenden Persönlichkeiten die Errichtung einer evangelisch-theologischen Fakultät, sei es zeitweilig, sei es f ü r immer, f ü r unnötig, und das Unterrichtsministerium trat nicht fest f ü r sie ein. Demgegenüber haben die versammelten Rektoren der Deutschen Universitäten erklärt, daß sie diese Haltung nicht einzunehmen vermögen, daß vielmehr die evangelisch-theologische Fakultät ein notwendiges Glied der Universität sei. Ferner, als in Folge der Revolution in diesen Monaten laute Stimmen die Abschaffung der theologischen Fakultäten verlangten und Gefahr bestand (noch besteht?), daß die Hochmögenden ihnen folgten, erklärten sofort zahlreiche Universitäten, bezw. ihre juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultäten, die evangelischen Fakultäten seien vom Standpunkt der Wissenschaft unentbehrlich und integrierende Glieder der Universitäten. In diesem Sinne sprach sich auch die philosophische Fakultät der Universität Berlin, die nahezu sechzig Professoren umfaßt, einstimmig aus. Aus den einhelligen Gutachten sei eines hier mitgeteilt, das der drei Marburger Fakultäten, um den Geist zu Wort kommen zu lassen, in dem sie gehalten sind. „Die juristische, medizinische und philosophische Fakultät erblicken in den theologischen Fakultäten vollwertige Glieder der Universitäten, die nicht nur Beamte des Staates und der Kirche ausbilden, sondern gleich den anderen Fakultäten der reinen Wissenschaft durch Forschung und Unterricht dienen und zur Erhaltung der Universitas litterarum unentbehrlich sind. Sollen, wie allseitig gewünscht, die Universitäten in Zukunft noch mehr als bisher Pflegestätten der Gesamtkultur des ganzen Volkes bilden, so darf die theologische Wissenschaft keine
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Beeinträchtigung erfahren, denn sie ist mit anderen Wissensgebieten, namentlich philosophischen, historischen, philologischen und juristischen Fächern eng verknüpft und hat in reger Wechselbeziehung mit ihnen zum Aufbau der modernen deutschen Wissenschaft und Kultur wesentlich beigetragen. Nicht minder ist das Fortbestehen der theologischen Fakultäten an den Universitäten im Interesse der gesamten Volksbildung notwendig. Nach wie vor werden die Geistlichen einen großen Einfluß auf weite Volkskreise ausüben. Deshalb ist es dringend wünschenswert, daß die Ausbildung der angehenden Kirchendiener auf der Universität erfolgt, wo sie Vorlesungen aus allen Gebieten der Wissenschaft hören können und in ständiger Berührung mit den Vertretern anderer Berufskreise bleiben, nicht aber in Prediger-Seminaren und Konvikten, wo die großen Schäden einer völlig einseitigen Bildung unvermeidlich sind. Wir bitten daher die Unterrichtsverwaltung auch im Falle der Trennung von Kirche und Staat den theologischen Fakultäten zum Nutzen der Wissenschaft und zum Wohle des Volkes ihre alte Stellung im Rahmen der Universität ungeschmälert zu belassen." Der innere Austausch zwischen der theologischen Fakultät und den übrigen, in erster Linie der philosophischen, fehlt an keiner Universität, und wenn er einmal an einer Universität schwächer ist, so ist nicht die Institution als solche daran schuld, sondern die zeitweilige Unbedeutendheit der Fakultätsmitglieder — auch in anderen Fakultäten kommt das vor! Umgekehrt hebt das besondere Ansehen eines Mitgliedes die ganze Fakultät und kann zeitweilig auch die theologische zur führenden an der Universität machen. Das war ζ. B. in Erlangen der Fall, als von Ηofmann an der Spitze der theologischen Fakultät stand. Aber auch der äußere Austausch hat nicht gefehlt. Zahlreich sind die Theologen, die in die philosophische Fakultät übergegangen sind und nicht als Renegaten. An Schelling und Hegel wurde schon erinnert; ihnen reihen sich Zeller, Erdmann, Troeltsch, der Kunsthistoriker Justi u. a. an. Als in Berlin der Lehrstuhl f ü r mittelalterliche
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Geschichte zu besetzen war, berief die philosophische Fakultät an erster Stelle den Kirchenhistoriker Hauck aus Leipzig; nicht wenige Orientalisten gingen aus der theologischen Fakultät in die philosophische über und umgekehrt. In diesem Zusammenhang mag auf eine verwandte Tatsache hingewiesen werden: Der preußische Orden pour le merite f ü r K. u. W. schloß nach seinem ursprünglichen Statut die Theologen als solche aus — Friedrich Wilhelm IV. dachte von der Theologie wie der Chirurg Kocher und wollte sie mit den „profanen" Wissenschaften nicht vermengen — ; er besitzt f ü r die Vertreter sämtlicher Geisteswissenschaften nur zehn Stellen, und dennoch waren diese stets, zeitweise sogar bis zur Hälfte, mit solchen besetzt, die ihre Vorbildung auf der Universität als evangelische Theologen erhalten hatten. Es scheint hiernach die eigentümliche Ausbildung, welche die evangelische Theologie gewährt, eine treffliche Voraussetzung f ü r das universale Studium der Geisteswissenschaften überhaupt zu sein. Was endlich die Geltung und das Ansehen der deutschen Theologie im Auslande betrifft, so darf man ohne Übertreibung sagen, daß die internationale Bedeutung keiner anderen Fakultät so groß ist wie die der evangelischen Theologie. Schlechthin jedes hervorragende deutsche theologische Werk wird ins Englische, nicht selten auch ins Französische, Dänische, Schwedische usw. übersetzt und findet im Ausland so viele Leser wie bei uns. Die deutsche evangelische Theologie ist in bedeutend größerem Sinn und Umfang international als es die deutsche Philosophie und Geschichtsschreibung ist. Scherzend — aber es war im Ernst — sagte mir einmal ein Amerikaner, die deutschen wissenschaftlichen Exportartikel sind die Chemikalien und die Werke der protestantischen Theologie. Der Grund hierfür liegt darin, daß die großen Staaten Europas und Amerika solche theologischen Fakultäten, wie Deutschland sie hat, mit wenigen Ausnahmen nicht besitzen, und daß daher der deutsche Betrieb der theologischen Wissenschaft nach Umfang und im Sinne der freien Forschung dort fast nirgendwo erreicht wird. Würden die evangelisch - theologischen Fakultäten in
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Deutschland aufgehoben, so würde sich, des bin ich gewiß, in weitesten Kreisen des Auslandes ein grenzenloses Erstaunen erheben über solch ein herostratisches Unternehmen. 2. Doch alle diese Hinweise haben mehr Überredendes als Überzeugendes, s© lange nicht das Recht der theologischen Fakultäten aus der Sache heraus begründet ist. Was ist das Objekt und die Aufgabe ihrer Arbeit und sind diese groß und würdig genug, um die Grundlage für eine Fakultät zu bilden? Die Antwort: Die christliche Religion ist das Objekt, ist richtig, aber sie ist nicht konkret genug, läßt das Ziel der Aufgabe der Fakultät nicht deutlich erkennen und bedarf daher einer näheren Bestimmung. Die Aufgabe, die christliche Religion zu erforschen, legt sich in drei Hauptaufgaben auseinander: Objekt der evangelisch-theologischen Fakultäten ist erstlich die Bibel, sodann die katholische Kirche und drittens der evangelische Glaube und die evangelische Frömmigkeit in ihrer Verkettung mit der Geistesgeschichte der letzten vier Jahrhunderte. Die Fakultät erforscht aber diese umfangreichen Gebiete nicht nur, um sie wissenschaftlich immer mehr aufzuhellen, sondern auch um aus ihrer Kenntnis die richtigen Normen für die Seelenführung und die Kirchenleitung zu gewinnen; denn wie alle Wissenschaften, so hat auch die theologische einen doppelten Zweck — Vertiefung der Erkenntnis und Ausrüstung zum praktischen Handeln. Daß nun die drei oben genannten eng miteinander verbundenen Objekte groß und bedeutend genug sind, um die Grundlage einer Fakultät zu bilden, bedarf es dafür noch des Nachweises? Die Bibel allein, deren Teile sich über einen Zeitraum von tausend Jahren erstrecken (was bedeutet der Koran neben der Bibel?), ist durch die Art der Überlieferung — schon die Textkritik der Bibel ist das mannigfaltigste und schwerste Problem, das der rezensierenden Philologie gestellt ist —, durch die ganz verschiedene religiöse und kulturelle Höhenlage ihrer Teile, durch die Verbindung mit der babylonischen, ägyptischen,
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persischen, hellenistischen usw. Religions-, Geistes- und Staatsgeschichte und schließlich durch Jesus Christus und seine Apostel ein Objekt, das eine geschlossene Zahl von Arbeitern, also eine Fakultät, wohl beschäftigen kann, weil es trotz seiner ganz verschiedenen Teile doch eine tiefe Einheit bildet. Über die katholische Kirche ferner als Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis braucht kein Wort verloren zu werden; ist sie doch zur Zeit noch das einzige, einen großen Teil der Menschheit umspannende internationale Gemeinwesen unter uns, gleichbedeutend als Geistesmacht wie als politischer Organismus, hinaufreichend ohne Bruch oder Lücke bis in die Anfänge der römischen Kaiserzeit, in ihrem Stamme die Ringe der vergangenen Jahrhunderte noch immer mit Leben erfüllend, antik, mittelalterlich und modern in Einem — das große Gefäß der Tradition und die Tradition selbst zugleich. Und endlich die Erforschung und Darstellung des protestantischen Glaubens, in seinem Ursprung und seiner Entwicklung untrennbar verknüpft mit dem Katholizismus, aber auch mit der ganzen Geistesgeschichte und Soziologie der letzten Jahrhunderte, ist nicht nur ein Teilproblem, sondern die Geistesgeschichte und Soziologie der Neuzeit verlangen, daß sie in ihrer Totalität auch sub specie religionis evangelicae betrachtet und erforscht werden. Daß diese drei Aufgaben aufs innigste mit einander in einer geschichtlichen Abfolge und daher Einheit verbunden sind, wird niemand bestreiten, auch nicht, daß sie ein großes und notwendiges Gebiet der Erkenntnis darstellen und daß das wissenschaftliche Bemühen um sie niemals aufhören wird, ob nun die theologischen Fakultäten am Leben bleiben oder nicht. Solange man den wissenschaftlichen Trieb nicht niederzuzwingen und die christlichen Gemeinschaften nicht zu unterdrücken vermag, so lange wird auch die theologische Wissenschaft bleiben, und nicht nur die Sache selbst, sondern auch der stolze Bau, den hier die Jahrhunderte genialer und fleißiger Arbeit bereits errichtet haben, wird fort und fort neue Arbeiter herbeiziehen.
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Doch ist durch diesen Nachweis, die strikte Notwendigkeit besonderer theologischer Fakultäten noch nicht vollkommen gerechtfertigt; noch immer könnte Jemand einwenden, daß auch innerhalb der philosophischen Fakultät durch Errichtung von Lehrstühlen f ü r die genannten Fächer dasselbe erreicht werden könne. Diesem Einwurf gegenüber muß ich zunächst mit einem Zugeständnis beginnen. Hätten wir heute tabula rasa in bezug auf die Organisation unserer Universitäten und gelte es, sie von Grund auf neu zu bauen, so würde ich überhaupt keine starren Fakultäten schaffen, sondern einen einzigen Lehrkörper, der verschiedene und elastische Kommissionen aus sich herausbilden würde f ü r die verschiedenen Gruppen der theoretischen Wissenschaft, sowie f ü r die Zwecke des Unterrichts, der Universitätsverwaltung und der Volksbildung. Gewiß würden bei solcher Organisation sich auch eine theologische, juristische und medizinische Kommission bilden und sie würden wahrscheinlich häufiger zusammentreten als andere Kommissionen; aber ebenso würde sich auch mindestens ein Dutzend ständiger wissenschaftlicher Kommissionen von Gelehrten ergeben, die heute verschiedenen Fakultäten angehören und daher amtlich jetzt nichts mit einander zu tun haben; auch würde ein und derselbe Gelehrte mehreren Kommissionen zugleich angehören. Mommsen hat einmal gesagt, daß die Wissenschaft unter keinen Fesseln schwerer leide als unter denen, in die sie sich selbst durch die Zerteilung der Fächer — ich füge hinzu: der Fakultäten — geschlagen hat. Die starren Linien, welche die Fächer umschreiben, wirken fast wie Mauern und hindern den stetigen lebendigen Austausch der Vertreter verwandter Fächer, der schlechthin notwendig ist, ja lassen diese also isolierten Fächer geradezu verkümmern. Ein paar Beispiele: mir sind Theologen bekannt, die ihre Stärke in fleißigster Erforschung des Neuen Testaments hatten, aber es f ü r unnötig hielten, jemals einen gleichzeitigen antiken Autor zu lesen, geschweige denn das Corpus Inscriptionum aufzuschlagen. Mir ist ein Professor der mittelalterlichen Geschichte begegnet, der schon Jahre lang Ordinarius war, aber nie-
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mals den Thomas von Aquino oder sonst einen Scholastiker aufgeschlagen hatte und auch die ganze Geschichte des Mönchtums, soweit sie nicht rein politisch war, dauernd ignorierte. Ich kannte einen Kirchenrechtslehrer, der alle dogmatisch - theologischen Werke, anscheinend grundsätzlich, als überflüssig bei Seite ließ und sich um die innere Seite des Kirchenrechts überhaupt nicht kümmerte. Das alles würde sich durchgreifend ändern, wenn hier dauernde, elastische Kommissionen geschaffen würden und die Fakultäten als starre Körperschaften verschwänden. Aber sie sind noch da, und sie werden voraussichtlich nicht so bald zweckmäßigeren und mannigfaltigeren Organisationen Platz machen, obgleich die wissenschaftlichen Akademien schon mit solchen vorangegangen sind. So lange aber die übrigen Fakultäten bleiben, muß auch die theologische Fakultät bleiben — nicht nur, weil eine besondere und ständige Kommission f ü r jene drei innerlich verbundenen Gebiete, die wir oben bezeichnet haben, im Interesse der Wissenschaft unentbehrlich ist, sondern auch weil die notwendige praktische Abzweckung auf die Seelenführung und Kirchenleitung in Frage gestellt wäre, wenn die theologischen Lehrstühle einfach in die formlose philosophische Fakultät versetzt würden. Die enge Zusammengehörigkeit von Bibelforschung, Katholizismusforschung und protestantischer Glaubens- und Geistesgeschichte würde sich höchst wahrscheinlich auflösen oder doch ganz locker werden, und die Ausarbeitung von Normen — alle Geisteswissenschaften sind im Unterschied von den Naturwissenschaften auch normativ — würde zugunsten rein theoretischer Betrachtungen verkümmern. Aber auch die theoretischen Studien auf dem theologischen Gebiet würden sich, das muß man befürchten, der politisch-geschichtlichen Betrachtung mit einer gewissen Einseitigkeit zuwenden und die religiöse Seite vernachlässigen. Endlich, die Forderung, welche sich dem Theologie-Studierenden von selbst aufnötigt, daß er nämlich gründliche philologische, geschichtliche und theologisch-philosophische, ja auch juristische Studien treiben muß — eine Zusammen-
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Stellung, die in dieser Weise an der Universität sonst nicht vorkommt und die sich als eine höchst zweckmäßige Schulung nach allgemeinem Urteil erwiesen hat —, würde schwinden und wahrscheinlich durch eine der großen Aufgabe nicht entsprechende Spezialisierung und Verengung ersetzt werden. Daher ist in bezug auf die evangelischtheologischen Fakultäten das Votum: „Fiat amputatio" zu verwerfen; wer f ü r die Gesundheit und die Fortentwicklung der theologischen Wissenschaft eintritt, muß vielmehr ihre Erhaltung verlangen. 3.
Allein gibt es nicht erhebliche Einwände, durch welche die hier entwickelte Verteidigung doch hinfällig wird? In der Tat werden gewichtige Einwendungen erhoben; aber durchschlagend sind sie nicht, und soweit sie Berechtigtes enthalten, kann dieses anerkannt und verwirklicht werden, ohne die Aufhebung der Fakultäten zur Folge zu haben. Ein kurzer Überblick möge hier Platz finden: Der erste Einwand lautet: Nicht als christlich - theologischen, sondern nur als allgemein -religionsgeschichllichen kommt den Fakultäten ein Existenzrecht zu. Gut, so ergänze man die theologischen Fakultäten durch einige religionsgeschichtliche Lehrstühle, nur lasse man die zentrale Bedeutung der christlichen Religion dabei bestehen. Ob übrigens die Errichtung dieser Lehrstühle nicht doch zweckmäßiger in der philosophischen als in der theologischen Fakultät geschieht, darf gefragt werden.1 Gewiß sollen sich die Studierenden der Theologie auch Kenntnisse der nicht-christlichen Religionen erwerben — über das Maß hinaus, welches schon das Studium der Kirchengeschichte direkt und indirekt gewährt; aber sie werden besser tun, diese Kenntnisse in der philosophischen Fakultät zu suchen; denn dort werden sie darauf aufmerksam gemacht, daß man den Islam nicht ohne Arabisch, Brahmaismus und Buddhismus nicht ohne die ostasiatischen Sprachen und Kulturen, usw. wirklich kennen zu 1 Vgl. meine Rektoratsrede: „Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte" (1901) in den ,.Roden und Aufsätzen" Bd. 2, S. 159 f f .
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lernen vermag. Stehen dagegen die Lehrstühle f ü r Religionsgeschichte, getrennt von den Lehrstühlen f ü r Sprache und Literatur der betreffenden Völker, in den theologischen Fakultäten, so ist immer die Gefahr vorhanden, daß der Dilettantismus die Regel wird und selbst auf die Dozenten übergreift. Auf Grund eines zweiten Einwurfs soll die theologische Fakultät umgekehrt durch die Entfernung zweier Lehrstühle aufgelöst werden; er richtet sich gegen die Disziplinen der systematischen und praktischen Theologie; diese seien „unwissenschaftlich." Was die systematische Disziplin betrifft, so klingt mir noch das Verdikt in den Ohren, das ich einst als Student gehört habe: „Systematische Theologie ist systematischer Rlödsinn." Ich könnte diesem rohen Urteil einfach das feine Wort Leibnizens entgegensetzen, das er in bezug auf die christliche Dogmatik gesprochen hat: Eine Straßenkarte von London ist nicht f ü r Jedermann nützlich, wohl aber f ü r den von Wert, der in London lebt. In der Tat klärt dieses Wort einen Teil der Aufgaben der systematischen Theologie: als Dogmatik und Ethik im engeren Sinn gehört sie eigentlich in die praktische Theologie, indem sie die Frage beantwortet: Wie soll heute evangelisches Christentum dargestellt und gelehrt werden? Aber darüber hinaus ist sie christliche Religionsphilosophie und als solche eine streng wissenschaftliche und schlechthin unentbehrliche Disziplin. Die „praktische" Theologie aber ist keine „Anweisung zum Predigen", wie trotz allem, was Schleiermacher über sie geschrieben hat, der Unverstand noch immer glaubt, sondern sie hat die Geschichte und Theorie der kirchlichen Funktionen, also des Kultus, der Seelsorge, des Unterrichts, der Verfassung usw. zu studieren und aus solchem Studium die Normen f ü r das kirchliche Handeln abzuleiten. In diesem Sinne ist sie die Krone der theologischen Disziplinen, und sie auszuschalten bedeutet die Auflösung der Theologie. Wem aber an den Normen nichts gelegen ist, der mag sich hier mit den strengen geschichtlichen Untersuchungen, die in dieser Disziplin betrieben werden, begnügen.
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Ich fasse die weiteren Einwürfe sämtlich zusammen, welche in verschiedenen Formen und mit verschiedener Stärke erhoben werden: den Theologen fehle es notwendig an der wissenschaftlichen Objektivität, da sie einen kirchlichen Standpunkt einnehmen müßten, wie schon ihre Auswahl nach Konfessionen beweise; dieser kirchlichc Standpunkt nötige sie zu einer „Gläubigkeit", die als schweres Vorurteil auf ihren wissenschaftlichen Arbeiten laste und Voraussetzungen enthalte, die von keiner Wissenschaft sonst mehr anerkannt würden; auch geschehe ihre Ernennung unter kirchlichen Einflüssen; aus diesen Gründen seien die theologischen Fakultäten ein Fremdkörper innerhalb der Universitäten. Ein Teil dieser Einwürfe war noch bis vor wenigen Jahrzehnten berechtigt, ja ein Rest von Berechtigung ist hier und dort noch geblieben, der entfernt werden muß: alle Fakultäten haben sich im Laufe des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teils langsam, teils gewaltsam aus den Banden des Scholastizismus, der Autoritäten und der Unfreiheit zur Freiheit entwickeln müssen : bei den theologischen Fakultäten aber hat dieser Prozeß am längsten gedauert, und wo noch ein Rest ist von Unfreiheit, da muß er abgetan werden. Jeder kirchliche Einfluß auf die Besetzung theologischer Lehrstühle hat aufzuhören, und die Nachforschungen über den „theologischen Standpunkt" der zu Berufenden seitens des Staats sind einzustellen; ausschließlich die wissenschaftliche Tüchtigkeit hat zu entscheiden. Sofern es hier noch Rückständigkeiten gibt, ist leider nicht nur der alte Staat schuld, sondern auch einige Fakultäten selbst, die nur Dozenten bestimmter Richtungen wollen und andere ausschließen. Mißstände aber, die dadurch entstehen, daß Professoren in die theologischen Fakultäten kommen, die kein inneres Verhältnis zu der Sache haben, die sie dozieren, wiegen federleicht gegenüber der Verewigung des Mißtrauens, die theologischen Professoren seien äußerlich gebunden und unfrei. Was schadet es, daß der Student von einem radikalen theologischen Professor hört, was er in hundert Büchern lesen kann? Ist es ein hohler
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Radikalismus, den er da vernimmt, so wird dieser Professor sehr bald in seinem Auditorium vereinsamt sein; steht aber hinter diesem Radikalismus eine durchdachte Welt- und Geschichtsauffassung, so wird es den TheologieStudierenden nützlich sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Selbst dagegen wird nichts einzuwenden sein, daß auch ein hervorragender Lehrer der Theologie, der nicht evangelischer Konfession ist, in der theologischen Fakultät doziert, wie am Anfang des vorigen Jahrhunderts der Katholik Leander van Eß außerordentlicher Professor der Theologie in dem protestantischen Marburg war. Wie wertvoll wäre es den Theologie-Studierenden an der Universität Kirchengeschichte und Konfessionskunde auch bei einem katholischen Theologen hören zu können, und warum sollten wir ihn nicht in unserer Fakultät begrüßen? Dafür wäre freilich stets Sorge zu tragen, daß alle Hauptfächer mindestens von einem Theologen evangelischen Bekenntnisses besetzt sind, weil alle Objekte der Geisteswissenschaften den geschliffenen Gläsern gleichen, die im Avers und Revers, von Außen und von Innen, das Licht verschieden brechen, und weil Normen nur der aufzustellen vermag, der in der Sache lebt. Aber die letzten Bedenken sind hiermit noch immer nicht gehoben, denn niemals wird innerhalb der Religionswissenschaft der Zustand aufhören, daß in ihr die Begriffe Gott, Offenbarung, Sünde, Versöhnung, ewiges Leben usw. hervortreten und ernst genommen werden, die den Meisten als von der Wissenschaft ausgemerzt erscheinen. Aber sie ausmerzen heißt mit der Irrationalität der Religion diese selbst vernichten. Man muß hier unterscheiden: Für die reine Wissenschaft sind das Forschungshypothesen, aber mit der reinen Wissenschaft bezwingt man nicht die Fülle des Wirklichen. Nur soll der Forscher genau wissen, wo die reine Erkenntnis aufhört und innere Erfahrung und Lebensweisheit beginnen; nur soll er niemals von Außen gebunden sein, von Autoritäten und Überlieferungen, sondern sein Glaube, welcher es auch sei, soll rein innerlich bestimmt sein. Unter dieser Bedingung kann und muß die Wissenschaft in allen Gesinnungsfächern Bindungen ver-
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schiedenster Art ertragen und wird nicht Schaden leiden. Denn jene innerlich gebundenen Männer, auch wenn Anderen manche dieser Bindungen unbegreiflich scheinen, fühlen sich selber frei, leben als die Freien, und forschen als die Freien; ja es gilt von ihnen, was Goethe in der „Elegie" von sich sagt: „Sich freier fühlt in so geliebten Schranken". Waren nicht Plato, Paulus, Augustin, Luther, Newton, Carlyle „Gebundene"; von welchen Männern aber hat die Menschheit mehr gelernt? Von Geistern, die nur Rationales bringen, kann man nur die Ordnung und Beherrschung der materiellen Kräfte lernen; in dem Irrationalen aber, so paradox es sich auch darstellen mag, liegt das Leben, Geist und Person, und die Begriffe, die hier angewandt werden, muß man nicht auf ihre Rationalität prüfen, sondern darauf, ob sie förderlich und fruchtbar sind. Gewiß verbirgt sich hinter ihnen oft auch Rückständiges und Veraltetes; aber auch solche Gelehrte, die noch mit diesem belastet, sind, haben uns oft Vieles und Gewichtiges zu sagen, wenn ihre Vorurteile nicht ins Spiel kommen. Ich wenigstens habe von ihnen auch in der Wissenschaft Bedeutendes gelernt und tue es noch fort und fort. Auch die Wissenschaft, wenigstens die Geisteswissenschaft, hat, wie Zeller gesagt hat, ihre Stufen, und sie würde verarmen, wollte man alles ausschließen, was in ihr noch gebunden ist. Das gilt von der Sozialwissenschaft und Philosophie ebenso wie von der christlichen Religionswissenschaft. Es gilt auch speziell von der katholischen Theologie. Sie scheint uns gebunden und ist es auch; aber die katholischen Theologen, wenn sie echte sind, fühlen sich nicht gebunden, sondern bejahen innerlich diese Bindung, und in allen Jahrhunderten von Thomas von Aquino ab bis zu Möhler, Döllinger u. A. haben sich Gelehrte unter ihnen befunden, welche die Wissenschaft gefördert und das Geistesleben erhöht und befruchtet haben. 4.
Damit sind wir zum Letzten gelangt. Es ist oben ausgeführt worden, daß die Bibel, der Katholizismus und das protestantische Glaubens- und Geistesleben die Objekte
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der evangelischen Theologie sind. Aber diese Teilung muß man am Schluß wieder in Eins zusammenfassen und sagen: Die Theologie hat es mit der Religion zu tun, und in ihr vor allem mit dem größten geschichtlichen Erlebnis, welches die Menschheit erlebt hat, mit Jesus Christus und den Wirkungen, die von ihm ausgegangen sind. Die theologischen Fakultäten aber sind zu Hütern dieses Erbes bestimmt, und das ist ihre letzte und höchste Aufgabe. Und nicht nur hüten sollen sie es, sondern auch in Kraft setzen; denn auf den Gebieten der Religion, der Philosophie, der Soziologie und der Kunst ist der ein unnützer Knecht, der das, was er untersucht und bewahrt, nicht auch ausstrahlt. Indem den Fakultäten aber die Erziehung der künftigen Pfarrer und Religionslehrer anvertraut ist und sie darüber hinaus an der Gesinnungsbildung eines bedeutenden Teiles der Studierenden teilnehmen, liegt ihnen eine Aufgabe von höchster Verantwortung und von größtem Einfluß für die ganze Nation und den Staat ob. Deshalb, wenn der Staat die theologischen Fakultäten an den Universitäten aufhöbe, würden diese nicht nur verarmen und der deutsche Idealismus, der an der Reformation eine seiner stärksten Wurzeln hat, würde verkümmern, sondern der Staat würde auch nicht mehr imstande sein, ein fruchtbares Zusammenwirken der wissenschaftlichen und der religiösen Bildung herbeizuführen. Wrer kann das wünschen? Nur der, dem alle Religion ein überlebter Aberglaube ist. Aber auch er würde bald erleben, daß das Schwert des Geistes, welches die Religion führt, nicht stumpf geworden ist, und er würde sich in Kürze vor eine Entwicklung des Religiösen und Kirchlichen gestellt sehen, die weder im Interesse des Volks und Staats noch in dem der Kirche zu wünschen ist. Daher müssen die theologischen Fakultäten im Rahmen der Universitäten erhalten bleiben. — Die Stellung der evangelischen Kirchen zu den theologischen Fakultäten bedarf einer besonderen Untersuchung; hier sollte ausschließlich ihre Bedeutung und ihr Recht im Zusammenhang mit der Wissenschaft und mit dem Staat dargelegt werden.
Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen. (1923) 1. Ist die Religion der Bibel, bzw. sind die Offenbarungen in der Bibel etwas so E i n s t i m m i g e s , daß man in Hinsicht auf Glauben, Anbetung und Leben einfach von der „Bibel" sprechen darf? Wenn sie es aber nicht sind, darf man die Feststellung des Inhalts des Evangeliums allein der subjektiven „Erfahrung" bzw. dem „Erlebnis" des Einzelnen überlassen, oder sind hier nicht geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken nötig? 2. Ist die Religion der Bibel, bzw. sind die Offenbarungen in der Bibel etwas so E i n d e u t i g e s u n d K l a r e s , daß man kein geschichtliches Wissen und kein kritisches Nachdenken braucht, um ihren Sinn richtig zu verstehen? Sind sie umgekehrt etwas so U n f a ß l i c h e s u n d U n b e s c h r e i b l i c h e s , daß man lediglich abwarten muß, bis sie im Herzen aufstrahlen, weil keine menschliche Seelen· und Geistesfunktion an sie heranreicht? Oder sind nicht vielmehr beide Annahmen falsch, und braucht man nicht, um die Bibel zu verstehen, neben der innern Aufgeschlossenheit geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 3. Ist das G o t t e s e r l e b n i s von der E r w e c k u n g d e s G l a u b e n s verschieden oder mit ihm identisch? Ist es von ihm verschieden, wie unterscheidet es sich von
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unkontrollierbarer Schwärmerei? Ist es mit ihm identisch — wie kann es anders entstehen als aus der Predigt des Evangeliums, wie kann es aber eine solche Predigt geben ohne geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 4. Ist das G o t t e s e r l e b n i s k o n t r ä r , bzw. d i s p a r a t zu a l l e m sonstigen Erleben, wie läßt sich die Notwendigkeit r a d i k a l e r W e l t f l u c h t vermeiden, oder wie läßt sich dem S o p h i s m u s entgehen, man müsse doch in der Welt bleiben, weil auch die Weltflucht auf dem eigenen Willensentschluß beruhe, also etwas Weltliches sei? 5. Sind Gott und Welt (Leben in Gott und weltliches Leben) schlechthin Gegensätze, wie läßt sich die enge Verbindung, ja Gleichsetzung der G o t t e s - u n d N ä c h s t e n l i e b e , welche den Kern des Evangeliums bildet, verstehen? Wie ist aber diese Gleichsetzung möglich ohne H ö c h s t s c h ä t z u n g der Moral? 6. Sind Gott und Welt (Leben in Gott und weltliches Leben) schlechthin Gegensätze, wie i s t e i n e E r z i e h u n g z u G o t t h i n , d. h. zum G u t e n , möglich? Wie aber ist Erziehung möglich ohne geschichtliches Wissen und H ö c h s t s c h ä t z u n g der Moral? 7. Wenn Gott alles das schlechthin nicht ist, was aus der E n t w i c k l u n g der K u l t u r und ihrer Erk e n n t n i s u n d M o r a l von ihm ausgesagt wird, wie kann man diese Kultur und wie kann man auf die Dauer sich selbst vor dem A t h e i s m u s schützen? 8. Wenn der begriff K a n t s den wahrhaften vermeiden, daß liefert werden?
Pantheismus G o e t h e s oder der Gottesoder Verwandtes lediglich Gegensätze zu Aussagen über Gott sind, wie läßt es sich diese Aussagen d e r B a r b a r e i ausge-
9. Wenn es aber umgekehrt richtig ist, daß, wie in aller physischen und geistlichen Entwicklung, auch hier G e g e n s ä t z e z u g l e i c h S t u f e n und S t u f e n z u -
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7. A n die Verächter der wissenschaftlichen Theologie ( 1 9 2 3 )
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g l e i c h G e g e n s ä t z e sind, wie kann man diese grundlegende Erkenntnis erfassen und ausbauen ohne geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken? 10. Wenn die Erkenntnis „ G o t t i s t d i e L i e b e " die höchste und abschließende Erkenntnis Gottes ist und Liebe, Freude und Friede seine Sphäre sind, wie darf man immerfort zwischen Tür und Angel hängen bleiben, Durchgangspunkte christlicher Erfahrung verselbständigen und die Dauer ihrer Schrecknisse verewigen wollen? 11. Wenn die befreiende Ermahnung noch gilt: „ W a s w a h r h a f t i g ist, was ehrbar, was gerecht, was wohl l a u t e t , ist etwa eine T u g e n d , ist e t w a e i n L o b , d e m d e n k e t n a c h " — wie darf man Scheidewände zwischen dem Gotteserlebnis und dem Guten, Wahren und Schönen aufrichten, statt durch geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken sie mit dem Gotteserlebnis zu verbinden? 12. Wenn alle S ü n d e nichts anderes ist als M a n g e l a n E h r f u r c h t u n d L i e b e , wie kann man diesem Mangel anders steuern als durch die Predigt von G o t tes h e i l i g e r M a j e s t ä t u n d von Gottes Liebe? Wie darf man es wagen, alle möglichen Paradoxien und Velleitäten dazuzumischen? 13. Wenn es gewiß ist, daß alles U n b e w u ß t e , E m p f i n d u n g s m ä ß i g e , N u m i n o s e , F a s c i n o s e usw. so lange u n t e r m e n s c h l i c h bleibt, als es nicht von der V e r n u n f t ergriffen, begriffen, gereinigt und in seiner berechtigten Eigenart geschützt wird, wie darf man diese Vernunft schelten, ja ausmerzen wollen? Und was hat man zu gewärtigen, wenn dieses herostratische Werk vollbracht ist? Erhebt sich nicht schon jetzt der gnostische Okkultismus auf den Trümmern? 14. Wenn die P e r s o n J e s u C h r i s t i im Mittelpunkt des Evangeliums steht, wie läßt sich die Grundlage für
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zuverlässige und gemeinschaftliche Erkenntnis dieser Person anders gewinnen als durch k r i t i s c h - g e s c h i c h t l i c h e s S t u d i u m , damit man nicht einen e r t r ä u m t e n Christus für den wirklichen eintausche? Wer anders aber vermag dieses Studium zu leisten als die wissenschaftliche Theologie? 15. Gibt es — Trägheit, Kurzsichtigkeit und zahlreiche Krankheiten zugestanden — noch eine andere Theologie als jene, die in fester Verbindung und Blutsverwandtschaft steht m i t d e r W i s s e n s c h a f t ü b e r h a u p t ? Und wenn es eine solche etwa gibt, welche Uberzeugungskraft und welcher Wert kommt ihr zu?
VII. Zur Theorie der Geschichte
DAS CHRISTENTUM UND DIE GESCHICHTE
Vortrag gehalten i. J . 1896 zu Berlin, erschienen bei der J . C. Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig (4. Aufl. 1897).
Es ist in keinem Anderen Heil, ist auch, kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen wir sollen selig werden, als in dem Namen Jesu. Christi — das ist das Bekenntnis der christlichen Kirche. Mit diesem Bekenntnis hat sie begonnen; auf dieses Bekenntnis sind ihre Märtyrer gestorben, und aus ihm schöpft sie noch heute wie vor achtzehn hundert Jahren ihre Kraft. Den ganzen Inhalt der Religion, das Leben in Gott, die Vergebung der Sünde, den Trost im Leide, bindet sie an diese Person. Sie knüpft damit das, was dem Leben Inhalt und Dauer verleiht, ja das Ewige selbst, an ein Geschichtliches und behauptet die untrennbare Einheit von Beidem. Aber ist eine solche Verknüpfung haltbar? kann sie die P r ü f u n g des nachdenkenden Verstandes bestehen? Alles G-eschichtliche scheint ein unaufhörliches Werden und Vergehen. Ist es da möglich, eine Erscheinung herauszugreifen und an sie das ganze Gewicht der Ewigkeit zu heften? und zwar eine Erscheinung der Vergangenheit! Stünde die Person noch eben mitten unter uns, so wäre es vielleicht anders. Aber wir sind durch viele Jahrhunderte und eine verwickelte Überlieferung von ihr getrennt. Dennoch sollen wir uns an sie halten, sollen sie fassen, wie wenn sie eine ewige Gegenwart hätte, und sollen sie als den Fels unseres Lebens erkennen! Ist das möglich, ist das wohlgetan? Diese Frage hat die denkenden Christen aller Zeiten beschäftigt, und sie umschließt die wichtigsten Fragen nach dem Wesen und Recht der christlichen Religion: das Christentum und die Geschichte. Nur das kann
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VII. Zur Theorie der Geschichte
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meine Aufgabe sein in dieser flüchtigen Stunde, den Sinn und den Ernst der Frage an das Licht zu stellen und einige Gesichtspunkte zu ihrer Beurteilung zu bieten. Mit einer beruhigenden Tatsache kann ich beginnen. Der große Angriff, den das 18. Jahrhundert auf den Zusammenhang von Religion und Geschichte gerichtet hat, ist abgeschlagen worden. Dieser Angriff hat seinen prägnanten Ausdruck gefunden in dem L e s s i n g s c h e n Satze: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden." Dieser Satz kann richtig sein — es kommt alles darauf an, wie man ihn deutet. Aber wie ihn das von R o u s s e a u bestimmte Zeitalter Lessings verstanden hat, ist er falsch. Die ganze oberflächliche Philosophie des 18. Jahrhunderts liegt ihm zu Grunde. Nach ihr ist alles geschichtlich Gewordene ein Unwesentliches, Zufälliges, ja sogar ein Störendes. "Wertvoll ist allein, was jenes Zeitalter das „Natürliche" und die „Vernunft" nannte. Sie galten als ein für allemal gegebene, unveränderliche Größen. Aus ihnen allein sollten daher auch alle wahren Güter abgeleitet werden. Man glaubte, daß jeder Mensch von der Erschaffung her in seiner „Vernunft" ein festes Kapital besäße, aus dem er alles bestreiten könne, was er zu einem tugendhaften und glückseligen Leben nötig habe. Man glaubte ferner, daß der Mensch der „Natur" harmonisch eingefügt sei und sich deshalb nur „naturgemäß" zu entfalten brauche, um ein herrliches Exemplar seiner Gattung zu werden. Diese "Weltanschauung hatte die Geschichte nicht mehr nötig; denn der Mensch kann aus ihr überhaupt nichts empfangen, was er nicht schon besitzt. Folgerecht erschien die Geschichte denn auch den konsequenten Vertretern dieser Anschauung als ein seltsames und verkehrtes Spiel, und es galt die Losung, sich aus der knechtenden Geschichte herauszuziehen und zur Freiheit der Natur zurückzukehren. Zwar Lessing selbst suchte mit heißem Bemühen, der Ge-
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schichte doch ihr Recht zu geben; aber seine unsicheren Bemühungen fanden in seinem Zeitalter kein Verständnis. Dieses sättigte sich vielmehr an den angeblich ewigen Vernunftwahrheiten und an der wiederentdeckten „natürlichen Religion" und sah im Besitze dieser Güter stolz auf die „zufällige Geschichte" herab. Es zerschnitt das Band zwischen Religion und Geschichte. Alle geschichtlichen Religionen, so lehrte das 18. Jahrhundert, sind im besten Fall nur Verhüllungen der allein wahren natürlichen Religion — der Religion, die immer war und immer sein wird. Diese Religion aber hat keinen anderen Inhalt als die unveränderliche Vernunft. Auch das Christentum und sein Stifter können daneben nichts Besonderes f ü r sich in Anspruch nehmen; denn alles Besondere ist zufällig, überflüssig und schädlich. Nun — diese Weltanschauung ist heute zwar nicht ausgestorben, aber sie ist widerlegt. An keinem anderen Punkte hat sich der Geist unseres Jahrhunderts so mächtig wider den Geist des vorigen Jahrhunderts gestellt. Das verdanken wir H e r d e r und den Romantikern; wir verdanken es H e g e l und seinem großen Schüler R a n k e ; wir verdanken es nicht zum mindesten der kräftigen Reaktion des christlichen Glaubens. Das Wahngebilde einer von Anfang an fertigen Vernunft wurde gestürzt; der Abgott „heilige Natur" wurde entlarvt; das ungeheure Problem, welches in dem leicht hingenommenen Begriff der „natürlichen Religion" liegt, wurde entschleiert. An die Stelle des seichten Geschwätzes über die heilige Natur und die profane Geschichte, über die „ewigen Vernunftwahrheiten" und die „zufälligen Historien" trat die Erkenntnis der Geschichte, der Geschichte, aus der wir empfangen haben, was wir besitzen, und der wir verdanken, was wir sind. Zwei Begriffe vornehmlich traten dabei mit steigender Klarheit in den Vordergrund; die Entwicklung und die Persönlichkeit. Sie bestimmen in der Spannung, die sie in
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sich tragen, die Arbeit des Historikers, welcher der Geschichte nachdenkt. Mit der richtigen Erkenntnis von der Bedeutung der Geschichte wurde ihr auch die Religion zurückgegeben: sie ist kein fertiges Gebilde, sondern sie ist geworden, geworden innerhalb der Geschichte der Menschheit. Die neuen Stufen in ihr sind nicht nur Schein, sondern "Wirklichkeit; ihre Propheten und Stifter sind wahrhaft Propheten und Stifter gewesen: sie haben die Menschheit auf eine höhere Stufe gehoben. Die Ehrfurcht vor dem Geist in der Geschichte und der Dank gegen alle die, von denen wir etwas empfangen haben, ohne die wir ärmer in unserem inneren und äußeren Leben wären, muß daher die Betrachtung der Geschichte regieren. Damit ist eine andere Stimmung erzeugt·, wie im Zeitalter der sog. Aufklärung, und der Angriff des 18. Jahrhunderts auf den Zusammenhang von Religion und Geschichte ist wirklich zurückgeschlagen. Allein eine ganze Schlachtlinie von Angriffen hat sich nun in unserer Zeit entwickelt. Da begegnen wir zuerst dem Satze: Eben weil die christliche Religion in die Geschichte gehört und alles in der Geschichte Entwicklung ist, ist auch sie lediglich ein Glied in dieser Entwicklung, und ihrem Stifter darf daher eine besondere, einzigartige Stellung nicht zugesprochen werden. Gelingt es, diesen Angriff zu widerlegen, so erhebt sich ein neuer Gegner und ruft: Mag auch der Stifter der christlichen Religion ein unvergleichlicher Mann gewesen sein — er hat vor vielen Jahrhunderten gelebt, und es ist daher unmöglich, mit unseren Sorgen und Nöten zu ihm zu kommen und ihn als den Eels unseres Lebens zu ergreifen; nicht die Person kann mehr in Betracht kommen, sondern nur die Lehre, das „Prinzip". Wird endlich auch dieser Feind zurückgeschlagen, so folgt noch ein Angriff. Man ruft uns zu: Ihr mögt von Jesus Christus sagen, was ihr wollt, und er mag das alles ge-
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wesen sein, was ihr sagt; aber ihr habt dafür keine Sicherheit; denn die geschichtliche Kritik hat sein Bild zum Teil aufgelöst, zum. Teil unsicher gemacht, und wäre es auch noch zuverlässiger als es ist — einzelne geschichtliche Tatsachen können niemals so sicher gewußt werden, daß sie den religiösen Glauben zu begründen vermögen. Das sind die drei Mauern, die wider den Glauben der Kirche aus der Geschichte aufgerichtet worden sind. Um diese Fragen dreht sich aller Streit; aller heimliche und offene Zweifel hat vornehmlich hier seinen Grund, und in irgend einer Form hat auch ein Jeder unter uns diese Zweifel schon gehegt und erwogen. I. "Was nun zunächst den ersten Angriff betrifft, so ist er der weitgehendste, aber auch der schwächste. Gewiß, es ist die Stärke unserer heutigen Geschichtsbetrachtung, daß wir überall darauf bedacht sind, die Entwicklung nachzuweisen und zu zeigen, wie eines aus dem anderen geworden ist. Daß dies die Aufgabe des Historikers ist, ist eine Einsicht, die niemals mehr untergehen kann. Daß ein wahrhaftes Verständnis der Geschichte nur auf diesem Wege gewonnen werden kann, unterliegt keinem Zweifel, und auch die, welche über die moderne Geschichtswissenschaft schelten, vermögen sich dem Eindruck ihrer Methode nicht zu entziehen. Sie besorgen die Arbeit nur unvollkommen und schlecht, welche die Gescholtenen besser besorgen. Allein nur in der Verblendung kann man behaupten, daß, weil alle Geschichte Entwicklungsgeschichte ist, sie als Prozeß naturhaften Geschehens dargestellt werden müsse und könne. Die Versuche, die in dieser Richtung gemacht worden sind und noch gemacht werden, tragen bisher ihre Widerlegung in sich selber. Höchstens in der Wirtschaftsgeschichte läßt sich eine gewisse Stringenz der Erscheinungen nachweisen, wo der Kampf um das materielle
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Dasein regiert; aber auch dort ist er immer wieder durchbrochen durch ideelle Momente, welche in kräftiger Weise eingreifen. I n der Geschichte der Ideen und sittlichen Maximen aber kommt man mit dem plumpen Schema der Verursachung durch die Umstände vollends nicht aus. Zwar hat auch hier dieses Schema noch einen weiten Spielraum — einen viel weiteren, als frühere G-eschlechter geahnt haben: aus der zwingenden und treibenden Not ist so mancher Fortschritt geboren; wir vermögen noch heute seine Ursachen zu ermitteln und sein Werden zu belauschen. Allein ohne die K r a f t und die Tat eines Einzelnen, einer Persönlichkeit, vermag sich nichts Großes und Förderndes durchzusetzen. Woher aber stammt die K r a f t des Kräftigen und die Tat des Handelnden? Woher kommt es, daß eine fördernde Einsicht, ein rettender Gedanke unfruchtbar und wertlos wie ein toter Stein von einer Generation der anderen vererbt wird, bis einer ihn ergreift und aus ihm Funken schlägt? Woher kommt jene Zeugung höherer Ordnung, wo ein Gedanke und eine Seele sich vermählen, um ineinander aufzugehen, um ewig einander zu gehören und den Willen zu bemeistern? Woher kommt der Mut, den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen? Woher kommt die zeugende Kraft, welche Uberzeugung wirkt? Eine stumpfe Psychologie sieht nicht, daß dies die eigentlichen Hebel der Geschichte sind; sie fragt nur: hat der Mann etwas Neues gesagt? läßt sich dieses Neue nicht aus dem, was voranging, ableiten? und sie gibt sich zufrieden, wenn sie richtig ermittelt hat, daß es nur „relativ" neu war und daß eigentlich gar nichts besonderes geschehen ist. Nein — nicht nur im Anfang war das Wort, das Wort, welches zugleich Tat und Leben ist, sondern immerfort in der Geschichte hat in und über der treibenden Not das lebendige, mutige, tatkräftige Wort, nämlich die Person, gewaltet. Gewiß, auch hier gibt es Yermittelungen und Entwicklungen. Keine Fackel entzündet sich von selber; ein Prophet er-
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weckt den anderen; aber diese geheimnisvolle Entwicklung kann von uns nicht durchschaut, sondern nur geahnt werden. Was von der Geschichte im allgemeinen gilt, von allen ihren Linien, auf denen sich überhaupt geistiges Leben abspielt, das gilt im höchsten Sinne von der Religion, die das tiefste Thema der Greschichte ist. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht!" Klarer und einfacher sind die beiden großen Mittelpunkte alles Geschehens niemals ausgesprochen worden, und unsere Historiker haben an diesem Worte noch immer zu lernen, um sich nicht zu verlieren. Auch von der Religion aber gilt, daß sie eine Entwicklung durchgemacht hat und in beständiger Entwicklung begriffen ist. Auch an ihrer Geschichte läßt sich nachweisen, daß die Not getrieben hat, jene Not, die beten lehrt, und jene Not, die da stumpf macht oder nach Strohhalmen greift. Aber eben diese Geschichte zeigt auch, daß kein Aufstreben und kein Fortschritt jemals vorhanden gewesen ist, ohne das wunderbare Eingreifen einer Person. Nicht was sie sagte, war das überraschend Neue — sie kam, als die Zeit erfüllt war, und sie sprach das aus, was die Zeit bedurfte •—, aber wie sie es sagte, wie es in ihr K r a f t und die Macht eines neuen Lebens wurde, wie sie es fortzeugte in ihren Jüngern, das war ihr Geheimnis und das war das Neue. Mit Ehrfurcht schaut die Menschheit zu allen den großen Geistern auf, die ihr geschenkt worden sind, den Forschern, den Künstlern, den Helden; aber nur ihre Propheten und Religionsstifter verehrt sie; denn sie empfindet, daß hier eine K r a f t gewaltet hat, die von der Welt befreit und über das gemeine Geschehen erhebt. Aber wenn wir so alle Propheten und Religionsstifter in eine Einheit zusammenfassen, so scheint die besondere Bedeutung des Stifters unserer Religion doch wieder zu
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schwinden. Gewiß nicht. Denn es gibt keinen konkreten Gattungsbegriff, der die Verschiedenheiten derer, die wir mit Recht Propheten und Religionsstifter nennen, umspannen könnte. Ein jeder von ihnen ist eine Größe f ü r sich und muß f ü r sich beurteilt werden. Es hat heilige und unheilige Religions Stifter gegeben und erhabene und wunderliche Propheten. Eine unerschöpfliche Fülle von Gaben und Kräften ist über sie ausgegossen; Maß, Haltung, Zweck — alles ist bei ihnen verschieden; alles würde verwischt werden, wenn das nicht beachtet wird. Auch wäre es ein törichtes Unterfangen, von vornherein vorschreiben zu wollen, in welchem Maße der Geist, nämlich der Geist Gottes, in den Einzelnen gewaltet hat. Das ist allein von der Erscheinung selbst zu lernen. Nur von Einem aber wissen wir, daß er die tiefste Demut und die Reinheit des "Willens verbunden hat mit dem Anspruch, mehr zu sein als alle Propheten, die vor ihm gewesen sind: der Sohn Gottes. Nur von ihm wissen wir, daß die, die mit ihm gegessen und getrunken haben, ihn nicht nur als ihren Lehrer, Propheten und König gepriesen haben, sondern als den Fürsten des Lebens, als den Erlöser und Weltrichter, als die lebendige Kraft ihres Daseins — nicht ich lebe, sondern Christus lebet in mir —, und daß bald mit ihnen ein Chor von Juden und Heiden, von Weisen und Toren bekannt hat, aus der Fülle dieses einen Mannes Gnade um Gnade zu nehmen. Diese Tatsache, die am hellen Tage liegt, ist einzigartig in der Geschichte, und sie verlangt, daß das Faktum der Person, die hinter ihr liegt, als ein einzigartiges respektiert wird. II. Damit haben wir auf den ersten Einwurf geantwortet, daß der Person Jesu Christi wegen der vorausgesetzten Form aller Geschichte als Entwicklung keine besondere, einzigartige Stellung zugewiesen werden dürfe. Allein es
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erhebt sich, nun ein schwerer Angriff. Mag auch, sagt man, der Stifter der christlichen Religion ein unvergleichlicher Mann gewesen sein — er hat vor vielen Jahrhunderten gelebt, und es ist daher unmöglich, ihn in unser religiöses Leben aufzunehmen und als den Fels desselben zu ergreifen; nicht die Person könne mehr in Betracht kommen, sondern nur die Lehre, oder wie man auch sagt, das Prinzip. J a der Einwurf wird noch schärfer also formuliert: in der Religion kommt es lediglich auf das Verhältnis zu Gott an — Gott und die Seele; die Seele und Gott —; alles, was sich in dies WechselVerhältnis einschieben will, hebt seine Ausschließlichkeit auf und stört seine Innigkeit und Freiheit. Ich könnte versuchen, diesem Einwürfe mit dem Hinweise auf die kirchliche Lehre von der Erlösung und Versöhnung dureh Jesus Christus zu begegnen; allein ich müßte fürchten, damit ein geringes Verständnis zu erzielen; denn wie die Kirche jene Lehre formuliert hat, gehört sie heute zu den am wenigsten verstandenen und daher am meisten bezweifelten Stücken. Das ist eine Tatsache, mag man auch über ihr Recht wie immer urteilen. Ich will daher einen anderen Weg zu gehen versuchen. Zunächst — es ist vollkommen richtig: die Religion ist ein Verhältnis der Seele zu Gott und nichts anderes. Daß der Mensch Gott finde, ihn habe als seinen Gott, in seiner Furcht atme, ihm vertraue, in dieser K r a f t ein heiliges und seliges Leben führe, das ist Inhalt und Ziel der Religion. Darüber hinaus gibt es nichts anderes und daneben darf nichts Fremdes bestehen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege deß, der den Himmel lenkt." J e kräftiger und reiner die Frömmigkeit ist, desto sicherer schließt sie sich in diesem Wort zusammen. Das bezeugen die Jünger Christi aller Zeiten; das bezeugt der Herr selbst, indem er uns das Vater-Unser beten gelehrt hat, und darum dürfen wir auch die Theologen nicht schelten, welche den
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Inhalt der Religion also zusammenfassen. Allein es gilt von der Religion im höchsten Sinne, was von allen sittlichen Gütern gilt, daß ein Anderes ist, ihre Wahrheit zu erkennen, ein Anderes ihre K r a f t zu besitzen. Wir können das Recht der christlichen Religion, den Frieden und die Schönheit eines frommen Lebens erkennen und anerkennen, und können doch ganz unfähig sein, uns zu ihm zu erheben. Es kann vor unseren Augen schweben wie ein glänzender Stern, aber es brennt nicht als ein Feuer in unserer Brust. Wir können die Schranken, denen wir entfliehen wollen, auf das lebhafteste empfinden und doch völlig außer stände sein, uns von ihnen zu befreien. Wir können nicht nur so sein — so sind wir. Wer diese Erfahrung gemacht hat und immer wieder macht, aber aus ihr gerettet wird, der weiß es, daß er gerettet wurde, weil Gott zu ihm gesprochen hat. Wer diese Stimme Gottes nicht selbst vernimmt, der ist ohne Religion. „Rede, Herr, dein Knecht höret" ist die Form, in der es allein religiöses Leben gibt. So verschieden die Führungen eines menschlichen Lebens sind, so verschieden redet auch Gott. Das aber wissen wir, daß diejenigen unter uns selten sind, welche ohne menschliche Hilfe und Vermittelung in dem geschlossenen Kreise ihres inneren persönlichen Lebens Gottes Stimme hören und verstehen. Vielmehr, ein Christ erzieht den anderen, an einem Gemüt entzündet sich das andere, und die Kraft, das zu wollen, was man billigt, entspringt aus der geheimnisvollen Macht, durch die ein Leben das andere erweckt. Am Ende dieser Reihe von Boten und Kräften Gottes steht Jesus Christus. Auf ihn weisen sie zurück; von ihm ist das Leben ausgeströmt, das sie jetzt als ihr Leben in sich tragen. Verschieden ist das Maß der bewußten Beziehung auf ihn — wer könnte das leugnen! —, aber sie alle leben von ihm und durch ihn. Hier stellt sich eine Tatsache dar, die dieser Person, in der Geschichte fortwirkend, einen unvergleichlichen Wert
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verleiht; aber der Einwurf, um den es sich, handelt, ist doch noch nicht erschöpft. Jesus Christus bleibt eine G-röße der Vergangenheit, wenn auch eine fortwirkende. Allein so meint es der christliche Glaube nicht, wenn er uns auf ihn verweist. "Wir müssen diesen Glauben tiefer zu erfassen suchen, um das Recht seiner Meinung, wenn er anders im Rechte ist, zu verstehen. Der christliche Glaube ist nicht, wie manchmal so gesprochen wird, die sanfte Verklärung des irdischen Lebens oder eine gemütvolle Zugabe zu den Mühen und Härten desselben. Nein — er ist Entscheidung f ü r Gott und wider die Welt. Es handelt sich in ihm um ein ewiges Leben; es handelt sich um die Anerkennung, daß es in und über der Natur und ihrem G-eschehen ein Reich der Heiligkeit und der Liebe gibt, eine Stadt, nicht mit Händen gebaut, deren Bürger wir sein sollen. Und im Zusammenhang mit dieser Botschaft geht an uns die Forderung der Sinnesänderung und der Selbstverleugnung, und wir empfinden, daß hier ein Entweder — Oder gilt, welches über unser inneres Leben entscheidet. Ist in diesem Kampf der Sieg möglich? und handelt es sich in ihm um eine höhere "Wirklichkeit, gegenüber der die "Welt nichts gilt? oder täuschen wir uns etwa selbst über unsere Gefühle und Ahnungen? sind wir vielleicht doch ganz und gar eingeschlossen in den Ring der unfreien Natur, in den Ring unseres irdischen Daseins und schlagen uns nur mit unseren eigenen Schatten und mit G-espenstern jämmerlich herum? Das sind die Fragen der Fragen und die Zweifel der Zweifel. Nun, seitdem es christlichen Glauben gibt, werden sie gelöst durch den Hinblick auf Jesus Christus — gelöst nicht in der Form philosophischer Demonstration, sondern mit dem Blick des Vertrauens auf sein Lebensbild. "Wenn uns Gott und alles Heilige in den Schatten zu versinken droht, oder wenn das G-ericht über uns hereinbricht, wenn uns die mächtigen Eindrücke des unerbittlichen Naturlebens
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überwältigen und die Grenze zwischen Gut und Böse zu zerfließen scheint, wenn wir selbst stumpf und überdrüssig werden, daran verzweifelnd, daß in dieser dunkeln Welt Gott erkennbar ist, dann vermag uns seine Person zu retten. Hier ist ein Leben gelebt, ganz in der Furcht Gottes, fest, selbstlos und rein; hier schimmert und leuchtet eine Hoheit und eine Liebe, die uns zu sich zieht. Hier war alles ein fortwährender Kampf mit der Welt; stückweise ging ein irdisches Gut nach dem anderen verloren. Zuletzt ging dieses Leben selbst schmählich unter, und doch — keine Seele kann sich dem Eindruck entziehen: Wer so stirbt, der stirbt wohl; der stirbt nicht, sondern erlebt. An diesem Leben und Sterben ist der Menschheit die Gewißheit eines ewigen Lebens und einer göttlichen Liebe, die alle Übel, ja selbst die Sünde überwindet, erst aufgegangen. Der Unwert der Welt und aller irdischen Güter ist ihr aufgegangen gegenüber einer Herrlichkeit, der der Tod nichts anhaben kann. Achtzehn Jahrhunderte trennen uns von dieser Geschichte, aber wenn wir uns ernstlich fragen, was gibt uns den Mut zu glauben, daß Gott in der Geschichte waltet, nicht nur durch Lehren und Erkenntnisse, sondern mitten in ihr stehend, was gibt uns den Mut an ein ewiges Leben zu glauben, so antworten wir: wir wagen es auf Christus hin. „Jesus lebt, mit ihm auch ich." E r ist der Erstgeborene unter vielen Brüdern; er verbürgt uns die Wirklichkeit der zukünftigen Welt. Deshalb — durch ihn redet Gott zu uns. Als der Weg, die Wahrheit und das Leben ist dieser Jesus Christus bezeugt: als solcher offenbart er sich noch eben unserem inneren Sinn, und darin besteht seine Gegenwart f ü r uns. So gewiß alles nur darauf ankommt, daß die Seele Gott findet und sich mit ihm zusammenschließt, so gewiß ist er der rechte Heiland, Führer und Herr, der sie zu ihm führt. Was die christliche Kirche von ihm verkündet, daß er lebt, ist eine Wahrheit, die noch heute erprobt wird, und auch darin hat sie Recht, daß sie
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uns vor seine Leiden unci seinen Tod führt. Aber davon wollen wir heute nicht sprechen und überhaupt nicht so davon reden, wie oft geredet wird. Daß das Leiden des Gerechten das Heil in der Geschichte ist, das empfinden wir in dem Maße als unser Sinn aufgeschlossen ist f ü r den Ernst des sittlichen Kampfes und empfänglich für den Eindruck des persönlichen Opfers. Aber „wir ziehen einen Schleier über die Leiden Christi, eben weil wir sie so hoch verehren; wir halten es f ü r eine verdammungswürdige Frechheit, mit diesen tiefen G-eheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu feilschen und zu rechnen oder zu spielen und zu tändeln, und nicht eher zu ruhen, als bis auch das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint". Und dann — wir sollen nicht vergessen, daß aller Glaube an Christus ein bloßes „Herr, Herr" sagen ist, wenn er nicht zur K r a f t des Gehorsams im Guten wird. E r selbst hat nicht die seine Brüder und Schwestern genannt, die ihn schauen oder seinen Namen in der Welt aufrichten wollten, sondern die den AVillen seines Vaters im Himmel tun. Nach diesen Worten haben wir allen Christusglauben zu beurteilen. III. Daß Jesus Christus trotz der achtzehnhundert Jahre, die uns von ihm trennen, eine Stelle haben kann und hat in dem religiösen Leben des Christen, daß seine Person, nicht nur seine Lehre, auch heute noch gesetzt ist zum Auferstehen, das versuchte ich zu zeigen. Aber noch ein dritter und letzter Angriff steht bevor: „Ihr mögt", r u f t man uns zu, „von Jesus Christus sagen was ihr wollt, und er mag das alles gewesen sein, was ihr sagt — aber ihr habt dafür keine Sicherheit; denn die geschichtliche Kritik hat sein Bild zum Teil aufgelöst, zum Teil unsicher gemacht, und wäre es auch noch zuverlässiger als es ist — einzelne geschichtliche Tatsachen können niemals so sicher
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gewußt werden, daß sie den religiösen Griauben zu begründen vermögen." Dieser Angriff ist der schwerste, und wenn er in allen Stücken Recht haben sollte, stände es schlimm: „Die geschichtliche Kritik hat sein Bild zum Teil aufgelöst, zum Teil unsicher gemacht." So scheint es bei dem ersten Anblicke wirklich. Ich sehe von jenen Erzeugnissen der Kritik ab, die heute blühen und morgen in den Ofen geworfen werden; ich rede nur von dem, was immer wieder und mit steigender K r a f t vorgetragen wird. Blicken wir zuerst auf die äußeren geschichtlichen Tatsachen: erschüttert ist die Überlieferung von den Anfängen der Lebensgeschichte Jesu Christi; erschüttert ist die Glaubwürdigkeit so mancher Geschichten, die von ihm erzählt werden, und die alten schweren Zweifel, welche die Berichte über die Vorgänge des Ostermorgens erwecken, kann die Kritik nicht beseitigen. Was aber sein Lebensbild, die Reden und die Lehre betrifft, so scheint die geschichtliche Betrachtung sie völlig umzugestalten. Der schlichte Bibelleser ist gewohnt, alle Züge, die ihm hier entgegentreten, außerund überzeitlich zu fassen. E r sieht und empfindet nur, was er f ü r den eigentlichen Kern der Erzählung hält, der ihn selber angeht, und hiernach ist auch einst von der Kirche die christliche Lehre festgestellt worden. Aber die geschichtliche Betrachtung darf und will die konkreten Züge nicht übersehen, in denen Leben und Lehre einst wirklich gewesen sind. Sie sucht nach den Zusammenhängen mit der alttestamentlichen Entwicklung, mit dem religiösen Leben der Synagoge, mit den damaligen Zukunftserwartungen, mit dem ganzen geistigen Zustande der römisch-griechischen Welt, und sie findet diese Zusammenhänge ungesucht. Damit erscheinen die Sprüche und Reden des Herrn, erscheint sein Lebensbild selbst nicht nur in einer ganz bestimmten zeitgeschichtlichen Färbung, sondern auch in einer bestimmten Beschränkung. Es gehört in
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diese Zeit und Umgebung hinein; in keiner anderen könnte es stehen. Allein es würde doch nur dann etwas an seiner G-ültigkeit und K r a f t verlieren, wenn sich nachweisen ließe, daß nun der Kern der Erscheinung und der Sinn und der eigentliche Treffpunkt der Reden ein anderer geworden ist. Ich kann nicht finden, daß die geschichtliche Kritik daran irgend etwas geändert hat. Dasselbe gilt von seinem Selbstzeugnis. J a , wenn die geschichtliche Forschung nachgewiesen hätte, daß er ein apokalyptischer Schwärmer oder ein Träumer gewesen ist, dessen Wort und Bild erst durch die Sublimierungen der Folgezeit auf die Höhe reiner Absichten und erhabener Gedanken gebracht worden sei, dann stände es anders. Aber wer hat das nachgewiesen und wer könnte es nachweisen? Außer den vier geschriebenen Evangelien besitzen wir noch ein fünftes, ungeschriebenes, und es spricht in mancher Hinsicht deutlicher und eindrucksvoller als die vier anderen — ich meine das Gesamtzeugnis der christlichen Urgemeinde. Aus ihm können wir entnehmen, was der durchschlagende Eindruck dieser Person gewesen ist und in welcher Richtung seine Jünger sein Wort und Selbstzeugnis verstanden haben. Gewiß — auch seine Kleider sind vererbt worden; aber die schlichten und großen Grundwahrheiten, für die er eingetreten ist, das persönliche Opfer, das er gebracht hat, und der Sieg im Tode, sie sind das neue Leben seiner Gemeinde geworden, und wenn der Apostel Paulus Rom. 8 dieses Leben als ein Leben im Geist und Kor. 13 als ein Leben in der Liebe mit göttlicher K r a f t geschildert hat, so gab er nur wieder, was ihm an seinem Herrn Jesus Christus aufgegangen war. An diesem Tatbestande vermag keine geschichtliche Kritik etwas zu ändern; sie kann ihn nur reiner ans Licht stellen und unsere Ehrfurcht vor dem Göttlichen, das an einem Sohne Abrahams inmitten einer engen Welt und unter Schutt und Trümmern aufgestrahlt ist, steigern. Der schlichte Bibelleser soll nur fortfahren, die Evangelien so
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zu lesen, wie er sie bisher gelesen hat; denn auch der Kritiker vermag sie schließlich nicht anders zu lesen. "Was jener für ihren eigentlichen Kern und Treffpunkt hält, das muß auch dieser als solchen anerkennen. Aber die Tatsachen, die Tatsachen! Ich weiß nicht, wie es eine größere Tatsache geben kann als die bisher beschriebene. Was will irgend eine geschichtliche Einzelheit neben ihr bedeuten? "Was sie bedeutet, antwortet man, das liegt am Tage. Nur die äußere Tatsache, und zwar die wunderbare, gibt uns die letzte und allein sichere Verbürgung, daß unserem Glauben eine Wirklichkeit entspricht, daß seine Objekte nicht bloße Gedankengebilde sind, sondern daß Gott selbst die Geschichte leitet und zum Ziel führt. Ich kenne das Gewicht dieser Behauptung wohl und bin weit entfernt, jedem gegenüber ihr Recht zu bestreiten. Ach, daß du die Himmel zerrissest und hernieder führest, daß wir dich schauen können — ist eine Klage, die oft geklagt ist. Aber das weiß ich auch, daß sie nicht aus der Tiefe und Kraft des Glaubens geboren ist, den der Apostel Paulus beschreibt, und daß sie leicht unter das Wort des Herrn fällt: „Wenn ihr nicht Wunder und Zeichen seht, so glaubt ihr nicht." Viel vermag die äußere Autorität in der Religion; viel vermögen Wunder und Zeichen; aber der Glaube und die Frömmigkeit können ihre letzte Sicherheit nur dort haben, wo ihr Inhalt liegt. Ihr Inhalt ist Gott der Herr, ist die Zuversicht auf Jesus Christus, dessen Wort und Geist sich als die Kraft Gottes dem Herzen noch heute bezeugt. Wehe uns, wenn es anders wäre, wenn unser Glaube auf einer Summe von Einzeltatsachen beruhen würde, die der Historiker zu demonstrieren und zu versichern hätte. Nur ein Sophist aus unserer Zunft könnte sich anheischig machen, diese Aufgabe zu lösen; denn es ist so: keine äußere Einzeltatsache der Vergangenheit kann auf den Grad der Evidenz gebracht werden, daß man auf sie Häuser, geschweige die ganze Ewigkeit, bauen könnte.
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Was wollen alle Zeugnisse, Urkunden und Versicherungen besagen! Aber es ist ein Unterschied zwischen Tatsache und Tatsache. Das einzelne äußere Faktum bleibt immer kontrovers; in diesem Sinne hat L e s s i n g vollkommen Recht, wenn er davor warnt, „zufällige Geschichtswahrheiten" mit dem "Wichtigsten zu verknüpfen und an einen Spinnefaden das ganze Gewicht der Ewigkeit zu hängen. Aber der geistige Inhalt eines ganzen Lebens, einer Person, ist auch eine geschichtliche Tatsache, und sie hat ihre Gewißheit an der Wirkung, die sie ausübt. Das, was uns an Jesus Christus bindet, liegt in diesem Rahmen. Es ist mit der Frömmigkeit selbst verknüpft, und von diesem Inhalt gilt das befreiende Wort, welches derselbe L e s s i n g gesprochen hat: „Wenn man auch nicht imstande sein sollte, alle Einwürfe gegen die Bibel zu heben, so bliebe dennoch die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverrückt und unverkümmert, welche ein inneres Gefühl von den wesentlichen Wahrheiten derselben erlangt haben." Aber sollen nun die Uberlieferungen einzelner äußerer Tatsachen nichts bedeuten? Wer wollte so kurzsichtig oder so leichtfertig sein, das zu behaupten! Weil sie nicht das Fundament sein können, sind sie noch lange nicht bedeutungslos. Zuvörderst ist zu untersuchen, ob sie nicht doch wahr und wirklich gewesen sind. Manches was einst schnell verworfen wurde, hat sich eindringender Untersuchung und umfassender Erfahrung doch wieder erprobt. Wer dürfte heute ζ. B. mit den wunderbaren Krankenheilungen in der evangelischen Geschichte so rasch fertig werden, wie frühere Gelehrte! Sodann gilt von allen Erzählungen, daß sie uns zur Lehre geschrieben sind. Es ist das ein Gesichtspunkt, der im Streit um sie oft ungebührlich zurücktritt, während er doch den Absichten der ältesten Erzähler und dem Gebrauch der alten Lehrer entspricht. Es ist das Eigentümliche von vielem, was sich in der Religionsüberlieferung als
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geschichtlich, gibt, daß der geistige Inhalt, der darin, angeschaut wird, die Hauptsache ist. Man verteidigt, indem man etwas als geschichtliche Tatsache verteidigt, vielmehr den Glaubensgedanken, den man damit verbindet. In und durch die Verkündigung „Empfangen vom heiligen Geist" wird die Grottessohnschaft Jesu Christi verkündigt; in und mit der Botschaft seiner Himmelfahrt wird verkündigt, daß er bei dem Vater lebt und regiert. Von hier aus ergibt sich noch eine andere Bedeutung einzelner äußerer Tatsachen für die Religion, die mit der eben genannten nahe verwandt ist. Sie sind dem Glauben das gewesen, was der Pfahl dem "Weinstock oder was das schützende Dach der zarten Pflanze ist. Sie haben ihm Halt und Richtung gegeben oder haben seine Entwicklung vor Wind und Wetter geschützt. Und was sie einst geleistet haben, das leisten sie heute noch Vielen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, daß der Glaube des einen eines festen Stabes oder eines schützenden Daches bedarf, während dieser Stab in der Hand des anderen zerbricht und sein Glaube nur in der Freiheit des Sonnenlichtes gesund bleibt. Endlich aber, Vieles und das Ergreifendste, was uns in dem Neuen Testamente als Geschichte erzählt ist, ist uns nicht nur zur Lehre gesagt, sondern es hat auch in der gegebenen Form eine tiefe symbolische Bedeutung. Ich weiß kein Hauptstück der Erzählungen, von dem das nicht gilt. Derselbe Geist, der uns die Kraft und Herrlichkeit eines göttlichen Lebens entschleiert vor Augen gestellt hat, soweit als wir Menschen es fassen können — er hat der Wahrheit auch aus sinnvoller Sage und herzergreifender Poesie einen zarten Schleier gewoben und sie in Bildern und Parabeln nahe gebracht. Diese mannigfache Bedeutung erzählter Tatsachen offenbart sich Jedem, der der Geschichte der Christenheit mit aufgeschlossenem Sinn und bescheiden nachdenkt. Sie ist freilich nicht ohne Gefahr; denn wie sie einerseits leicht
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dazu verführt, der Geschichte den eigenen Geist unterzuschieben, Pfahl und Pflanze zu verwechseln und damit Krisen heraufzubeschwören, so kann sie andererseits die K r a f t der Geschichte als wirklicher Geschichte und der Person als wirklicher Person lahmen. Indessen die Schwierigkeiten, die hier entstehen, haben wir nicht selbst geschaffen, und wir vermögen sie nicht eigenmächtig aufzuheben. Vertrauen wir vielmehr der göttlichen Leitung, die da weiß, was uns frommt; verkündigen wir mit reinem Sinn und mit "Wahrhaftigkeit das, was wir empfangen haben, und versuchen wir dann das tiefe "Wort zu verstehen: Kräfte und Krücken kommen aus einer Hand. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Christentum und Geschichte: nur den Sinn und Ernst der Frage wollte ich ans Licht stellen und einige Gesichtspunkte zu ihrer Beurteilung bieten. Sie haben vielleicht etwas anderes von dem Vortrage erwartet; sie wollen vielleicht von den Veränderungen hören, die das Christentum im Laufe seiner Geschichte erlebt, oder von den Segnungen, die es verbreitet hat. Allein die Erkenntnis der Grundfrage, inwiefern Religion und Geschichte verknüpft sind und wie sie sich in dem evangelischen Glauben verbunden haben, ist wichtiger als alles Andere. Dieser evangelische Glaube braucht eine ernste P r ü f u n g nicht zu scheuen. Die strenge methodische Untersuchung der Tatsachen, die ihn geschichtlich begründet haben, kann er ertragen, ja er muß sie um seiner selbst willen fordern; denn ihm ist nicht die Pilatusfrage eingestiftet: „"Was ist "Wahrheit", sondern ihm ist die Erkenntnis der "Wahrheit als Aufgabe und als Verheißung gesetzt.
ÜBER DAS VERHÄLTNIS DER KIRCHENGESCHICHTE ZUR UNIVERSALGESCHICHTE
Rede gehalten auf dem wissenschaftlichen Weltkongreß in St. Louis im September 1904. Die englische Übersetzung (yon T . B a i l e y S a u n d e r s ) ist in den Verhandlungen des Kongresses und in der „Contemporary Review", Dezember 1904, erschienen. Das deutsche Original ist bisher noch nicht gedruckt worden.
Wie verhält sich die Kirchengeschichte zur Universalgeschichte? In den Lehrbüchern der Kirchengeschichte wird diese Frage gar nicht oder nur flüchtig behandelt. Das Schweigen ist verständlich; denn es weist auf eine ältere, noch nicht ganz überwundene Anschauung zurück. Nach der Meinung der alten Kirche und des Mittelalters ist die Kirchengeschichte etwas von der Weltgeschichte Verschiedenes. So urteilen auch noch heute die katholischen Kirchen. Nach ihrer Überzeugung steht die Kirche unter einer besonderen Leitung Gottes, besitzt eine untrügliche Lehre, wird von Personen regiert, welche die Gottheit selbst eingesetzt hat und hat die Verheißung, unverändert bis zum Ende aller Dinge zu bleiben. Hierdurch ist das kirchliche Geschehen von der übrigen Geschichte streng abgegrenzt. Diese wirkt wohl auf die Kirche ein, aber immer nur auf die Peripherie, nicht auf das Zentrum. In klassischer Weise ist diese Betrachtung bereits in der ältesten Darstellung der Kirchengeschichte ausgeprägt worden, nämlich in der des Eusebius. Nach ihm ist die Kirchengeschichte nichts anderes als das Fortwirken und die Ausgestaltung der Tatsache, daß in Jesus Christus der Logos Gottes vom Himmel herabgestiegen ist. Seitdem steht inmitten der natürlichen Geschichte die Kirchengeschichte als eine G e s c h i c h t e a n d e r e r Art. An dieser Auffassung wird dadurch nichts geändert, daß man die Anfänge der Kirchengeschichte in irgendwelcher Weise doch auch bis zu den Anfängen des Menschengeschlechts hinaufdatiert. Das hat Eusebius nach dem Vorgang des
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Justin versucht und Augustin in seinem großen Werk „De civitate dei" ausgeführt. Zwar kann durch solche Zurückführung bis zu den Anfängen des Menschengeschlechts die ganze Auffassung leicht aufgelöst und vernichtet werden, und freisinnige Theologen, die das getan haben, hat es im Altertum und im Mittelalter gegeben — ich erinnere an Abälard —; allein so hat die Kirche selbst die Zurückführung nicht verstanden. Sie beharrt vielmehr dabei, daß es innerhalb des allgemeinen Geschehens eine heilige Geschichte gibt, die übernatürlich ist. Mit dieser Auffassung hat der Protestantismus des 16. Jahrhunderts noch nicht wirklich gebrochen. Zwar leugnete er, daß die Kirche mit ihren äußeren Formen und ihrem Regimente ein göttliches Gebilde sei, und v e r i n n e r l i c h t e den Begriff der Kirche; aber von der verinnerlichten Kirche — er sah sie oft nur in der Form einer kleinen Gemeinschaft — behauptete er ungefähr dasselbe, was der Katholizismus von seiner großen Kirche aussagt. Die Vorstellung einer doppelten Art des Geschehens wurde kaum erschüttert, und die Kirche blieb, wie bisher, der Schauplatz einer zweiten Geschichte. Die Orthodoxie in den protestantischen Kirchen hält heute noch diese Betrachtung fest. Ob an ihren "Wurzeln etwas Berechtigtes liegt, diese Frage werden wir am Schluß berühren; zunächst aber ist gewiß, daß die Ansicht in der Form, wie die Orthodoxie sie festhält, unhaltbar ist. Sie scheitert bereits an der Tatsache, daß es schlechterdings kein Kriterium gibt, um zwei Geschichten voneinander zu unterscheiden. Sie wird ferner dadurch als unrichtig erwiesen, daß die Kirche alle die Mächte, die sie als gleichwertige Freunde nicht gelten lassen wollte, als F e i n d e bekämpfen mußte und dauernden Unfrieden heraufbeschwor. Sie wird endlich durch die Erfahrung widerlegt, daß das Verständnis der Kirchengeschichte erst begonnen hat, als man den Glauben an eine besondre Geschichte aufgab.
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Im 17. Jahrhundert zuerst befreiten sich einige erleuchtete Geister von diesem Vorurteile. Das 18. Jahrhundert hat die gewonnene Einsicht weiter ausgebildet; im 19. wurde sie zum Teil wieder verdunkelt, hat sich aber doch siegreich behauptet: die Kirchengeschichte ist ein Teil der allgemeinen Geschichte und kann nur im Zusammenhang mit ihr verstanden werden. Ist die Kirchengeschichte aber ein Teil der allgemeinen Geschichte, so ist sie aufs innigste — nicht wie etwas Fremdes, sondern wie etwas "Verwandtes — mit anderen Faktoren und Entwicklungen verknüpft, ja sie ist nur mit ihnen vereint vorhanden. Man wird sie also um so besser verstehen, je mehr man auf diese Verknüpfungen achtet. Vier große Gebiete kommen hier vor allem in Betracht: 1. die politische Geschichte, 2. die allgemeine R e l i g i o n s g e s c h i c h t e , 3. die Philosophie- und W i s s e n s c h a f t s geschichte, und 4. die "Wirtschaftsgeschichte. Absichtlich spreche ich nicht von der „Kulturgeschichte" besonders; denn Kulturgeschichte kann wissenschaftlich nur in einer Zerlegung behandelt werden. 1. Die politische Geschichte — im weitesten Sinn des "Worts — ist d i e Geschichte; denn von der Art der Verbindung der Menschen untereinander hängt alles übrige Geschehen und alle Entwicklung ab. Man kann daher auch sagen, daß die S t a a t e n g e s c h i c h t e das Rückgrat der allgemeinen Geschichte bildet. "Wer das verkennt, der löst die Geschichte in Novellen oder in ein geistreiches Räsonnement auf. Also ist in bezug auf die wissenschaftliche Erkenntnis der Kirchengeschichte zu fordern, erstlich, daß man den politischen oder Gesellschafts-Charakter der Kirche scharf ins Auge faßt, zweitens, daß man ihr
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Verhältnis zu dem Staat, in dem sie aufwuchs, und den Staaten und Gemeinschaften, in und neben welchen sie lebt, genau untersucht. Daß die Kirche ein politisches Gebilde ist, ist natürlich in irgendeiner "Weise stets anerkannt worden. Schon Eusebius hat von ihr als von einer „Politeia" gesprochen. Allein es ist doch erst der Kirchenhistoriker Mosheim gewesen, welcher mit dieser Betrachtung Ernst gemacht hat. Bis dahin hat man sich gescheut, dies zu tun, weil man nicht ohne Grund fürchtete, daß die „Göttlichkeit" der Kirche Schaden leide, wenn man ihren politischen Charakter in den Vordergrund rücke. Mosheims Fingerzeig ist von den romantischen und philosophierenden Kirchenhistorikern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme Richard R o t h e s , nicht genügend beachtet worden; ja auch in der Gegenwart ist die richtige Betrachtung noch nicht durchgedrungen. Ich stelle ihr Ergebnis voran: In jedem Zeitalter ist die Verfassung der Kirche zuerst zu beachten; die Verfassung aber ist in allen Stadien der Kirchengeschichte a b h ä n g i g gewesen von den allgemeinen p o l i t i s c h e n Zuständen und Ideen, oder genauer: die Kirche hat zu allen Zeiten die Tendenz gehabt, die Verfassung des Staats, in dem sie lebte, bei sich nachzubilden, oder dem Staate ihre Verfassung aufzuzwingen. Die Wahrheit dieses Satzes kann an jeder Stelle der Kirchengeschichte erprobt werden. Blickt man auf die römisch-katholische Kirche — was ist sie anders als das alte römische Weltreich, ins Kirchliche übersetzt? Der Gegenpol zur römischen Kirche sind die freien kongregationalistischen Kirchen. Aber entsprechen nicht auch sie dem politischen Ideale, welches zur Zeit ihrer Entstehung in ihrem Geburtslande herrschte und noch herrscht? Und alle die verschiedenen Kirchengebilde, die zwischen diesen beiden äußersten Grenzen liegen, sind sie nicht alle kirchliche Nach-
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bildungen der Staatsverfassungen, in und neben denen sie stehen? Überall hat sich die kirchliche Verfassung nach dem jedesmal gegebenen staatlichen Vorbild gerichtet oder die zukünftige Staatsverfassung vorweggenommen. Hat aber die Kirche die Tendenz, die Verfassung des Staats, in dem sie lebt, bei sich nachzubilden, so ist damit ein Doppelverhältnis zum Staat gesetzt, ein freundliches und ein feindliches. Die Tendenz kommt nämlich einerseits bis zu einer bestimmten Grenze dem entgegen, was der Staat selbst wünschen muß, andererseits wird die Kirche durch eben diese Tendenz die R i v a l i n des Staates. Wünschen muß er, daß alles, was sich in seinen Q-renzen entwickelt, ihm selbst in bezug auf die Rechts-, Autoritätsund Klassenverhältnisse gleichartig sei. In diesem Sinne wird er eine Gemeinschaft gern dulden, ja privilegieren, die sich nach seinen Ordnungen bildet. Nun aber hat die Kirche als religiöse Gemeinschaft auch ein E i g e n r e c h t . Sobald sie dieses über das gesamte Gebiet ihrer politischen Gestaltung ausdehnt, tritt sie in einen geheimen oder offenen Gegensatz zum Staat: sie wird seine Rivalin. Die Konflikte, die hier entstehen mußten, sind aber noch viel kompliziertere gewesen; denn erstens behauptete die Kirche von Anfang an, die Rechtsnachfolgerin des theokratischen Judenstaates zu sein, so sehr sie auch ihre Neuheit und ihr ganz anderes "Wesen betonte; sie trat damit, trotz ihrer Versicherungen des Gegenteils, sofort mit umfassenden politischen Ansprüchen auf, wenn sie dieselben auch zunächst nur negativ geltend machte. Zweitens hat sie sich nicht damit begnügt, Elemente staatlicher Organisation bei sich einfach nachzubilden, vielmehr hat sie jedes Stück, das sie nachbildete, außerhalb ihrer Grenzen entwertet. Durch ihr Eherecht entwertete sie das bürgerliche Eherecht; durch die Entwicklung ihres Beamtentums entwertete sie das staatliche Beamtentum; durch ihr Papsttum entwertete sie das Kaisertum. Drittens endlich brachte sie
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den Staat, nachdem sie ihn genötigt hatte, das christliche Bekenntnis anzunehmen, in die schwierigste Lage. Indem er es annahm, stellte er sich auf den Boden der Kirche und erklärte ihre Ideale für die richtigen und höchsten. War er nun gezwungen, sich gegen die Herrschaftsansprüche der Kirche zu wehren, so mußte er mit gebrochenen Waffen kämpfen, da er die letzten Prinzipien der Kirche, aus denen ihre Kraft flöß, nicht angreifen durfte. Der „christliche" Staat mußte der Kirche gegenüber daher notwendig den Kürzeren ziehen; denn er war das halb, was die Kirche ganz war. Der „christliche" Staat ist der kirchlich unterminierte und ausgesogene Staat; er gleicht dem hochragenden Baume, den ein Schlinggewächs, das sich von seinen Säften genährt hat, zum Absterben bringt. Mit dem Staat ist aber stets auch das nationale Bewußtsein in G-efahr, aufgelöst zu werden. Soweit ist es indes, von einigen Ländern abgesehen, selbst im Mittelalter nicht gekommen. Im Orient fand der Staat Mittel und Wege, wichtige Funktionen der theokratischen Regierung selbst zu übernehmen und Kirche und Nationalität aufs innigste zu verschmelzen. Im Okzident haben die Spannungen zwischen Staat und Kirche Kämpfe erzeugt, die dem Fortschritte der Kultur förderlich waren, und in dem Momente, wo die Kirche ihr Ziel erreicht zu haben schien, offenbarte es sich, daß sie auf politischem Gebiet wohl zu siegen vermag, daß sie aber den Sieg zu behaupten nicht imstande ist. Vielmehr begannen nun die großen Entwicklungen, die zur Ausbildung der modernen Staaten und der protestantischen Kirchen geführt haben. Für jene ist es charakteristisch, daß sie nicht mehr in dem Sinne christlich sind und sein wollen, wie es die mittelalterlichen Staaten waren, und diese haben die theokratischen Ansprüche, sei es ganz, sei es zum Teil, aufgegeben. Man darf aber dabei nicht übersehen, daß auch die modernen protestantischen Kirchenverfassungen und Kirchenideale, ob-
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gleich sie aus dem Wesen der Sache und aus der Bibel begründet werden, in starker Abhängigkeit von den politischen Erkenntnissen und Idealen stehen, welche die moderne Zeit hervorgebracht hat. Das Staats- und Landeskirchentum, wie es sich namentlich in Deutschland entwickelt hat, ist in allen seinen Stadien die genaue Parallele zu den Entwicklungen des Staats und der Theorien vom Staat. Ebenso sind die freikirchlichen Bildungen von den republikanischen und demokratischen Ideen des Zeitalters abhängig. Grewiß hat auch das Umgekehrte stattgefunden: eine christliche Idee ist der politischen vorangegangen; aber erst die politische Idee hat eine ihr entsprechende kirchenpolitische erzeugt. Auch machte sich die christliche Idee in der Regel erst geltend, wenn ihr verwandte politische entgegenkamen. So erkennt man, daß das Studium der politischen G-eschichte die notwendige Voraussetzung der Kirchengeschichte ist. Ohne sie bleiben die wichtigsten kirchlichen Entwicklungen unverständlich. In der Kirchengeschichte sind aber noch immer alle Stadien der politischen Geschichte der letzten zwei Jahrtausende gleichsam g e g e n w ä r t i g . In den beiden großen katholischen Kirchen, der römischen und der griechisch-russischen, sind die altkirchlichen und mittelalterlichen Tendenzen und Gebilde enthalten. Sie sind in ihnen noch lebendig und bedrohen uns auch heute noch — im Namen Jesu Christi — mit jener babylonischen Theokratie, welche die Freiheit der Völker und des Einzelnen verschlingt. Wir wissen, wie es möglich war, daß sich auf christlichem Boden dieses universale theokratische Ideal festsetzen konnte. Ein großer, die ganze Menschheit umspannender Bruderbund ist ja ein unveräußerliches Ideal der Christenheit! Daher konnte sich der Irrtum, genährt durch alttestamentliche Vorstellungen, einschleichen, man könne diesen Bund am schnellsten und sichersten durch ein universales, politisches Kirchentum erreichen. Dieser Irrtum ist noch längst nicht
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überwunden; er wird besiegt werden, je mehr das Ideal eines christlichen Bruderbundes auf dem Boden der Freiheit eine Macht wird. Auf dem Boden der Freiheit und — auf dem Boden der Nationalitäten; denn auch das lehrt die politische Geschichte, wenn man sie mit der Kirchengeschichte konfrontiert, daß die Nationalitäten eine gewaltige Rolle in der Kirchengeschichte spielen und daß der Versuch, sie auszuschalten, ganz vergeblich ist. Jedes große Volkstum hat sich auf seine "Weise in der Kirche heimisch gemacht; wir müssen ein griechisches, ein lateinisches, ein deutsches, ein englisches, ein amerikanisches Kirchentum usw. unterscheiden, und die hier bestehenden Unterschiede sind wichtiger als alle anderen. Sie zeigen sich vor allem im Kultus und in der christlichen Sitte, aber auch die Lehrentwicklung hat stets unter starken nationalen Einflüssen gestanden. Wer diese Unterschiede übersieht oder falsch deutet, fällt notwendig in die größten Irrtümer und verdunkelt die Geschichte. Der christliche Bruderbund, nach welchem wir streben, wird nicht als ein Bund entnationalisierter Individuen kommen, sondern als ein Bund befreundeter Völker, deren jedes die Vorzüge seiner Rasse und Nationalität ausgebildet haben wird. Eine Bedingung dafür ist die Kenntnis heimischer und fremder nationaler Eigenheit. Der Kirchenhistoriker kann diese Kenntnis nicht entbehren, wenn er die Vergangenheit verstehen und die Zukunft der Kirche vorbereiten will. 2. Von der nationalen Geschichte werden wir direkt zur allgemeinen Religionsgeschichte geführt; denn die Religionen der Völker, zu denen die Kirche gekommen ist, hängen mit ihrer nationalen Eigenart aufs engste zusammen. Also fordert die Geschichte der christlichen Mission eine genaue Kenntnis der Religionen der Griechen und Römer, der Germanen usw. Welchen Widerstand haben diese Religionen
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geleistet, wie beschaffen war dieser "Widerstand, an welchen Punkten war er am stärksten und an welchen am schwächsten, mit welchen Mitteln hat die Kirche ihn überwunden? Diese Fragen tauchen sofort auf und verlangen eine Antwort, wenn man die Kirchengeschichte verstehen will. Aber weiter — es wäre sehr kurzsichtig, das Verhältnis der christlichen Religion zu den anderen Religionen lediglich in der Form des Widerspruchs zu erkennen. Daß diese auch auf die E n t w i c k l u n g der christlichen Religion e i n g e w i r k t haben, ist eine längst gewonnene Erkenntnis. Früher freilich glaubte man diese Erkenntnis auf die christlichen Häresien beschränken zu müssen. Man erklärte, daß die gnostischen Sekten und andere ähnliche Erscheinungen aus dem Einfluß des Heidentums auf das Christentum zu erklären seien. Allein in steigendem Maße hat man gelernt, daß auch die Kirche selbst von den fremden Religionen, die sie bekämpfte, affiziert worden ist. Auf den verschiedensten G-ebieten zeigt sich dieser Einfluß, vor allem aber auf dem des katholischen Kultus, der Sakramente und der volkstümlichen religiösen Vorstellungen. Man kann in dem Katholizismus eine Religion erster und eine Religion zweiter Ordnung als nebeneinander existierend unterscheiden. Jene ist erheblich, diese aber aufs stärkste von außerchristlichen Superstitionen bestimmt worden. Die Untersuchung in bezug auf jedes einzelne Problem ist allerdings stets eine Aufgabe, die sehr viel Umsicht und kritischen Takt verlangt. Man ist heute geneigt, den Einfluß der fremden Religionen eher zu überschätzen als zu unterschätzen und allzu schnell eine Abhängigkeit zu konstatieren, wo es sich doch nur um parallele Erscheinungen handelt, die sich dort und hier spontan entwickelt haben. Indessen der Mißbrauch hebt die Einsicht nicht auf, daß viele und große Erscheinungen der inneren Kirchen geschichte erst durch die Berücksichtigung der fremden Religionen erklärt worden sind, daß also die religionsgeschichtliche Betrach-
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tung innerhalb der Kirchengeschichte reiche Früchte getragen hat und noch verspricht. Aber die Erkenntnis des Einflusses fremder Religionen auf die Q-eschichte des Christentums genügt noch nicht; wir haben vielmehr in den letzten Jahrzehnten mit steigender Klarheit eingesehen, daß auch die E n t s t e h u n g des Christentums ohne Berücksichtigung anderer Religionen nicht verstanden werden kann. Ofewiß ist die christliche Religion die R e l i g i o n Jesu Christi; aber sie kam, „als die Zeit erfüllt war". Die christliche Religion ist daher die erfüllte, d. h. zum Abschluß gebrachte und verklärte jüdische Religion. Diese jüdische Religion war aber im Zeitalter Jesu nicht etwas Einfaches, sondern sie war durch die Propheten und durch E i n w i r k u n g anderer Religionen ein vergeistigtes, aber auch ein kompliziertes Gebilde geworden. In der Breite ihrer Entwicklung war sie eine synkretistische Religion, aber auch innerlich war sie durch außerjüdische Elemente vertieft und bereichert. Indem sie sich nun zum Christentum transformierte, blieben ihr diese Bestandteile. Daher muß man auf Babel und Assur, auf Ägypten und Persien zurückgehen, um den geschichtlichen Ursprung wichtiger Elemente des Christentums zu erkennen. Das geschieht heute; aber allzuoft wird dabei die wichtigere und schwierigere Aufgabe übersehen, die B e d e u t u n g s ä n d e r u n g e n zu studieren, welche die rezipierten Elemente erlitten haben. Mit der bloßen Konstatierung, daß sie vorhanden sind und woher sie stammen, ist noch sehr wenig gewonnen. Ja es müssen hieraus große Mißverständnisse und Konfusionen entstehen, wenn man nicht darauf achtet, welche Stelle und welchen neuen Sinn das alte Stück von Anfang an in der christlichen Religion erhalten hat. Die sieben großen Engel stammen aus Babylon, der Teufel stammt aus Persien, der Logos aus Griechenland, gewiß! Aber der Teufel bedeutet im Evangelium und in den apostolischen Schriften etwas anderes als Ahriman,
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und der Logos des Johannes und Ignatius ist nicht der Logos Philos! Wir können nur aufs lebhafteste wünschen, daß auch in bezug auf das Neue Testament die religionsgeschichtlichen Forschungen fortgesetzt werden, aber wir müssen ebenso dringend wünschen, daß man dabei die großen Veränderungen in der B e d e u t u n g der Vorstellungen und Begriffe genau ins Auge faßt. Endlich aber — wir verlangen das Studium der allgemeinen Religionsgeschichte nicht nur deshalb, weil die Kirchengeschichte in fast allen ihren Stadien auf andere Religionen eingewirkt hat und von ihnen affiziert worden ist, sondern auch deshalb, weil man ein vollkommenes Verständnis e i n e r Religion überhaupt nicht gewinnen kann ohne die Kenntnis anderer. Allerdings ist der Kirchenhistoriker hier im Vorteil gegenüber dem Historiker jeder anderen Religion; denn das Christentum — samt seiner Vorstufe, dem Judentum — ist nach Raum und Zeit, Inhalt und Entwicklung etwas so Universales, daß fast alle denkbaren religiösen Erscheinungen in seiner Geschichte zu finden sind. Dennoch kann man eine abschließende Erkenntnis des Christentums ohne Vergleichung anderer Religionen nicht erwarten. Zu nahe liegt die Gefahr, Wichtiges für Unwichtiges, Primäres für Sekundäres zu halten und umgekehrt, wenn man nicht vergleicht, soweit nur immer Vergleiche möglich sind. Auch hier gilt das Wort des Dichters: „Eh' es sich ründet in e i n e n Kreis, ist kein Wissen vorhanden, Ehe nicht Einer Alles weiß, ist die Welt nicht verstanden."
Ich meine jedoch nicht, daß sich die christlich-theologischen Fakultäten in Fakultäten für allgemeine Religionsgeschichte umwandeln sollen — um die didaktische Frage handelt es sich hier überhaupt nicht —, wohl aber ist mir sicher, daß ideell und theoretisch die Geschichte des Christentums von der allgemeinen Religionsgeschichte nicht getrennt werden darf, und daß der Fortschritt der Erkennt-
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nis auch, von der Beobachtung dieses Zusammenhangs abhängig ist. Der Geist des Forschenden wird um so reicher, freier und elastischer werden, je größer das Gebiet ist, das er überschaut; alte Probleme werden sich ihm lösen und neue werden ihm zuströmen. 3. Daß das Christentum mit der Philosophie und der wissenschaftlichen Erkenntnis in einem nahen Verhältnis steht, ist schon sehr frühe bemerkt worden. Christliche Apologeten des 2. Jahrhunderts haben die griechische Philosophie auf denselben G-eist zurückgeführt, dessen Volloffenbarung sich in Jesus Christus dargestellt hat, und Clemens Alexandrinus hat sie als eine Vorstufe der christlichen Religion wie die alttestamentliche Religion beurteilt. Die Entwicklung des Dogmas hat in der alten Kirche unter dem Einfluß der griechischen Philosophie, vor allem des P l a t o n i s m u s , gestanden, und im Mittelalter hat A r i s t o t e l e s die kirchliche Wissenschaft bauen helfen. In der Neuzeit hat die Philosophie L e i b n i z s , K a n t s , H e g e l s und S c h ö l l i n g s auf die protestantische Dogmatik eingewirkt, und in unseren Tagen wird die Theologie sowohl von der modernen Erkenntnislehre und Psychologie, als auch von der Entwicklungslehre stark beeinflußt. Das alles ist so offenkundig und bekannt, daß es nicht nötig ist, viele "Worte zu machen: ohne die Kenntnis der Geschichte der Philosophie kann man die Kirchengeschichte nicht studieren. Aber Hegel und seine Schüler muten uns zu, noch einen Schritt weiterzugehen: Christliche Lehre und Philosophie, sagen sie, sind nicht nur miteinander verflochten, sie sind nicht nur miteinander verwandt, sondern sie sind im letzten Grunde identisch. Die Erwägungen, die zu dieser Annahme geführt haben, sind etwa folgende: In den Religionen stellt sich das Verhältnis des Menschen zu dem „Absoluten" dar, dessen Erkenntnis in der Wissen-
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schaft gesucht wird. Auf den unteren Stufen der Religion ist dieses Verhältnis aber nur geahnt; darum sind diese Religionen unvollkommen, partikular und mit fremden Stoff belastet. Mit der fortschreitenden Entwicklung werden sie aber immer geistiger und reiner, und im Christentum ist der Abschluß dieses Aufstiegs gegeben. Q-ott ist nun als der absolute und immanente Geist offenbart und erkannt. Die Bildungs- und Entwicklungsgeschichte des christlichen Dogmas ist die eigentliche Geschichte der christlichen Religion, und zwar sind im Dogma die spekulativen Aussagen^ namentlich die über Trinität und Christologie, die wichtigsten; denn in ihnen kommt teils klar und deutlich, teils nur noch leicht verhüllt, die reine pantheistische Gotteserkenntnis zum Ausdruck. Somit sind, richtig verstanden, die Geschichte der Philosophie und die höhere, speziell die christliche, Religionsgeschichte identisch, ja es stellt sich in ihrer Identität nicht nur die eigentliche Geschichte des menschlichen Geistes, sondern auch die Geschichte Gottes selbst dar: der absolute Geist ist in dieser Geschichte „zu sich selber gekommen". Diese großartige Auffassung der Kirchengeschichte birgt einen wertvollen Gedanken in sich, kann aber doch nicht gebilligt werden. Richtig ist, daß in der christlichen Religion die Erkenntnis Gottes als des absoluten Geistes ein Hauptstück ist, und da andererseits die Philosophie zur Erkenntnis der letzten Gründe aller Dinge strebt und diese nicht in einem Materiellen zu finden vermag, so ist damit eine "Wahlverwandtschaft zwischen der geistigen Religion und der Philosophie gegeben. Zu allen Zeiten hat daher auch die höhere Religion von philosophischem Denken Gebrauch gemacht, um sich ihr Gottesbild auszugestalten und es zu rechtfertigen, und umgekehrt hat die Philosophie die Glaubensgedanken der Religion, vor allem der christlichen, berücksichtigt. Allein dieser Tatbestand darf darüber nicht täuschen, daß Religion und philosophische Welterkenntnis
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doch etwas Verschiedenes sind. Die Religion ist eine Bestimmtheit des Gefühls und "Willens, sich gründend auf inneren und geschichtlichen Erfahrungen; sie bleibt das auch auf den höchsten Stufen, und deshalb ist das intellektuelle Element in ihr stets ein sekundäres, wenn auch ein notwendiges. Die Religion ist ferner niemals „uninteressiert", wie es die Erkenntnis sein muß, vielmehr hat sie es mit "Wünschen und Hoffnungen zu tun; ja man kann sogar sagen, die Religion sei ein höherer Selbsterhaltungstrieb, der aber in der christlichen Religion nicht bezogen ist auf das empirische Ich und das irdische Leben, sondern auf einen inneren Kern dieses Ichs, der in einer anderen Welt, der "Welt der Freiheit und des Guten, seine eigentliche Heimat erkennt. Yon dem allen kann und darf die Philosophie nichts wissen, sofern sie nicht die Religion zu Hilfe ruft. Ohne dieselbe bleibt sie an die fünf Sinne und den psychologisch-logischen Apparat gebunden, die sie überall auf zwei Grundfaktoren und e i n e n einheitlichen Prozeß führen. Die Religion aber wird umgekehrt zur Annahme eines Grundfaktors und z w e i e r Prozesse geleitet. Die Unklarheiten, die dort und hier über diesen Tatbestand herrschen, der „ G l a u b e " der Philosophen an die Einheit des Grundfaktors und der Halbglaube der Theologen an den Gott der Religion haben in der Geschichte unzählige Konfusionen und den Irrtum hervorgerufen, als seien die Ergebnisse der "Welterkenntnis und der Religion wesentlich ähnlich oder gar identisch. Von hier aus schloß man dann auf die Identität des Erkennens und der Religion. Allein sie sind verschieden; sie sind zwei Parallelen, die nur durch die Brücken gewisser Analogien und durch die Phantasie, die die Gebiete mengt, um sie zu beleben, verbunden sind. Indessen, ob sie nun sich näher oder ferner stehen — in der wirklichen Geschichte sind sie aufs engste miteinander verbunden, haben sich gegenseitig große Dienste geleistet und stellen zusammen das höhere Leben der Mensch-
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heit dar. Wieviel hat die Religion, auch die christliche, der fortschreitenden Erkenntnis der Philosophie und der Wissenschaften zu danken! Wie ist sie durch dieselbe geläutert, von falschen Vorstellungen gereinigt und von unstatthaften Ansprüchen befreit worden! Allerdings ist die Religion zähe in Behauptung alter Vorurteile, und die Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Religion ist auch die G-eschichte eines Kampfes; Andrew W h i t e hat ihn uns geschildert. Kapitulieren mußte, so scheint es, stets die Religion; aber es scheint nur so. Sie gab vielmehr nur Außenwerke preis, die ihr nicht mehr nützlich waren. Sie warf die Blätter ab, die kein Leben mehr hatten. Umgekehrt aber hat auch die Wissenschaft in keinem der jeweilig herrschenden Systeme ihr letztes Wort gesprochen; sie hat sie immer wieder zurückziehen und durch andere ersetzen müssen. Je eindringender und schärfer die Kirchengeschichte dieses Ringen des Geistes an sich und in seinem Verhältnis zur Religion ins Auge faßt, um so mehr vertieft sie sich und um so unentbehrlicher im Ganzen der geschichtlichen Wissenschaft wird sie sein. 4. Wir sagten eben, daß die Wissenschaft in keinem der jeweilig herrschenden Systeme ihr letztes Wort gesprochen habe. Ist das richtig? Ist nicht vielleicht doch jene Erkenntnis das letzte Wort, nach welcher die Wirtschafts Verhältnisse — also das Futter, die Futtermenge und der Futterplatz — letztlich auch alles geistige Leben und alle höhere Entwicklung einschließlich der religiösen bestimmen ? Ich darf es im Rahmen dieser Vorlesung nicht versuchen, meinen ablehnenden Standpunkt gegenüber dieser Theorie zu begründen. Sie scheint mir aber bereits durch die Beobachtung wiederlegt zu sein, daß auch das materiellste Element, welches auf den Menschen einwirkt, stets Empfindungen und Vorstellungen erzeugt, die selbst wieder als
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Kräfte •wirken und sich, zu den materiellen Ursachen nicht einfach proportional verhalten. Ferner — solange Menschen fortfahren werden, ihr Gut, Blut und Leben für ideale Zwecke zu opfern, so lange wird sich die materialistische Geschichtsbetrachtung nur mit Hilfe von Sophismen zu behaupten vermögen. Aber wenn wir es auch ablehnen, das gesamte Geschehen auf wirtschaftliche Faktoren zurückzuführen, so erkennen wir doch dankbar an, daß die neueste wirtschaftliche Betrachtung der Geschichte auch der Kirchengeschichte viel Licht gebracht hat und noch bringen wird. Ich will das mit einigen Beispielen belegen. Die große Ausbreitung deä Christentums in den ersten Jahrhunderten ist nicht zu erklären , wenn man nicht die soziale und wirtschaftliche Haltung der Christengemeinden ins Auge faßt. Jede dieser Gemeinden übte nicht nur die Annenpflege und sorgte für "Witwen und "Waisen, für Kranke und Schwache, für Arbeitslose, Verfolgte usw., sondern sie war geradezu eine Genossenschaft zu gegenseitiger Hilfleistung. Indem nun alle diese Gemeinden im Reich durch ein festes Band miteinander verbunden waren, entstand ein sozialer Organismus, der die größte Anziehung auf die wirtschaftlich Schwachen ausüben mußte. Daß er das wirklich getan hat, bezeugen selbst heidnische Schriftsteller, so ζ. B. Lucian in seiner Schrift über Peregrinus Proteus. Aber die Kirche griff nicht nur in die sozialen Verhältnisse ein, sondern auch ihre Gedanken und Ideen wurden durch ihre wirtschaftliche Haltung bestimmt. Ihr Mißtrauen gegenüber Kapital und Reichtum ist zum Teil aus der Armut der ersten Gemeinden zu erklären, und auch ihre Theorien über die irdischen Güter haben hier eine ihrer "Wurzeln. Als sie dann Arme und Reiche in ihrer Mitte zählte, behielt sie jenes Mißtrauen bei, und dies hatte eine sehr paradoxe Folge: Die Gefahren des Reichtums bestehen nur, so sagte man, für den einzelnen Christen; sie bestehen nicht für die Kirche,
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die durch ihre Heiligkeit vor denselben geschützt ist. Also kann die Kirche ohne Schaden reich sein, und sie wurde es. Sie wurde es auch dadurch, daß in den schweren Zeiten innerer und äußerer politischer Stürme der Besitz und das Kapital in der Kirche noch am meisten geschützt waren. Also traten die Menschen häufig ihren Besitz der Kirche ab, nicht nur um ihre Seele zu retten, sondern auch um sich vor Willkür und Plünderung sicherzustellen. Die Kirche ist als große besitzende und darum als aristokratische Macht ins Mittelalter eingetreten, und alle die ungeheuren Kämpfe zwischen Kaiser und Papst, Landesherrn und Bischöfen sind letztlich Kämpfe um Besitz und Herrschaft gewesen. Die ganze Geschichte der Kirche im Mittelalter kann und muß somit unter wirtschaftliche Gesichtspunkte gestellt werden. Selbst an der Q-eschichte des Mönchtums zeigt sich das aufs deutlichste. Bis zur Entstehung der Bettelorden gehört die G-eschichte der Entwicklung des abendländischen Mönchtums in die Geschichte des Großgrundbesitzes. Die Abteien sind Zentren desselben, und der Abt mußte nolens volens erst f ü r sein Kloster sorgen und dann für das Seelenheil seiner Mönche. Aber auch die Bettelordenbewegung wurde sehr schnell wieder in eine wirtschaftliche Bewegung, wenn auch in eine andersartige, hineingezogen. In derselben "Weise ist auch die Entwicklung des Papsttums zu beleuchten. Als große politische Macht wurde es ζ. B. notwendig, in den wirtschaftlichen Umschwung, den das 13. und 14. Jahrhundert erlebten, hineingerissen. Wollte es sich halten, so mußte es eine finanzielle Großmacht werden. Um das zu werden, mußte es seine geistlichen Ansprüche in jeder Hinsicht steigern und in neue Rechte verwandeln; es mußte ferner seine geistlichen Mittel vervielfältigen und sie als Finanzquellen ausbeuten. Aber eben als finanzielle Macht rief das Papsttum nun ein Mißtrauen und eine Abneigung gegen sich hervor, die den eigentlichen Grund zu den reformatorischen Bewegungen
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gelegt haben. Daß auch die religiösen Theorien und die kirchlichen Einrichtungen von dieser Entwicklung abhängig gewesen sind, ist damit schon angedeutet. Ein großer Teil der neuen Sakramentalien, der kultischen Vervielfältigungen und der nach ihnen gebildeten neuen Dogmen hat in wirtschaftlichen und finanziellen Bedürfnissen seinen Ursprung. Der Umschwung, den die Reformation bezeichnet, ist in dieser Hinsicht kein radikaler gewesen. Auch hier haben wirtschaftliche und soziale Verhältnisse eine große Rolle gespielt. Daß die Reformation in einem Teile des deutschen Volkes zum Siege gekommen ist, hat sie in erster Linie den Fürsten, die sich Landeskirchen schaffen und Herren im eigenen Hause sein wollten, zu verdanken. Aber daneben ist nicht zu vergessen, daß sie in den größeren Städten und auf dem Lande dem Klassenbewußtsein aufstrebender Stände entgegenkam, und daß andererseits die wirtschaftlich bedrängte Reichsritterschaft durch sie wieder in die Höhe zu kommen versuchte. In Frankreich aber und vollends in England ist der enge Zusammenhang der reformatorischen mit den sozial-wirtschaftlichen Bewegungen besonders deutlich. Auch nachdem in England das Papsttum abgeschüttelt war, beherrschten diese die kirchlichen Parteien und Kämpfe: der König und die Aristokratie hielten zur Kirche der 39 Artikel; der höhere Bürgerstand war presbyterianisch; das aufstrebende niedere Bürgertum war puritanisch und folgte der Fahne Cromwells. Und wenn wir nun darauf achten, wie dort und im protestantischen Deutschland damals das Wesen und die Aufgabe der Kirche von den Theologen bestimmt worden ist, so bemerken wir, daß neben den politischen Verhältnissen auch die sozialen aufs mächtigste eingewirkt haben. In die Dogmatik und Ethik hinein reicht ihr Einfluß. Dies im einzelnen nachzuweisen, ist eine Aufgabe der Zukunft.
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Die Kirchengeschichte ist mit allen großen Zweigen der Universalgeschichte aufs innigste verbunden und verflochten: das habe ich nachzuweisen versucht. Wenn man das anerkennt und danach das Studium der Kirchengeschichte einrichtet, so kann die Gefahr entstehen, ihr E i g e n t ü m l i c h e s aus den Augen zu verlieren oder zu unterschätzen. Wir werden uns vor dieser Gefahr schützen, wenn wir bei den kirchengeschichtlichen Untersuchungen nie vergessen, daß alle unsre Arbeit dazu dienen soll, das Wesen der christlichen R e l i g i o n aufzuhellen. Das muß der Leitstern unserer Forschungen bleiben, mögen sie auch noch so sehr in die Breite gehen. Verliert die Kirchengeschichte ihn, so verliert sie auch das Recht, eine besondre Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft zu bilden. Folgt sie ihm, so wird sie sich auch das bewahren, was für jede selbständige Disziplin der Wissenschaft charakteristisch ist — daß sie sich nur für den entschleiert, der sich ihr ganz hingibt. J a k o b G r i m m hat einmal das schöne Wort gesprochen, die Wissenschaft habe keine Geheimnisse, wohl aber ihre Heimlichkeiten. Auch die Kirchengeschichte hat solche Heimlichkeiten. Wer sich mit halbem Herzen um sie bemüht, bekommt nichts zu sehen; nur wer mit der Treue Jakobs um sie wirbt, führt die Braut heim. Jene „Heimlichkeiten" aber haben in der Kirchengeschichte eine besondre Tiefe und einen besondern Wert. Wir sahen, daß es keine doppelte Geschichte gibt und daß alles, was geschieht, in den einen Strom des Geschehens eintritt. Aber es gibt e i n inneres Erlebnis, das ein jeder erleben kann, das für jeden, der es erlebt, wie ein Wunder ist, und dessen Entstehung sich nicht einfach ableiten läßt. Das ist die Tatsache, welche die christliche Religion als „Wiedergeburt" bezeichnet, jene innere sittliche Neuschöpfung, die alle Werte umwertet und aus Sklaven des Zwangs Kinder der Freiheit macht. Direkt bekommt auch in der Kirchengeschichte niemand diesen inneren Umschwung, der
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sich in einzelnen vollzieht, zu sehen, und sie vermag durch äußere Tatsachen niemanden von seiner Möglichkeit und Wirklichkeit zu überzeugen. Aber das Licht, das dort leuchtet, wirft seinen Strahl auf das, was auf der Bühne geschieht, und läßt den Beschauer ahnen, daß die Kräfte der G-eschichte nicht in den natürlichen Kräften des Erdreichs und der Hand und des Kopfes erschöpft sind. Das ist „das Heimliche" der Kirchengeschichte; denn es enthält das „Heimliche" der Religionsgeschichte.
ÜBER DIE VORZEICHEN DER IN DER GESCHICHTE WIRKSAMEN KRÄFTE
Über die „Vorzeichen" der in der Geschichte wirksamen Kräfte. Nicht um jene Vorzeichen handelt es sich, aus denen der Eintritt geschichtlicher Ereignisse mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit im voraus bestimmt werden kann, sondern das "Wort ist hier im mathematischen Sinne zu verstehen. Man spricht in der Mathematik von positiven und negativen „Vorzeichen", und indem man sie den Zahlen vorsetzt, charakterisiert man ein und dieselbe Größe bald als einen Zuwachs, bald als eine Verminderung. Es ist merkwürdig, daß wir uns bei der Beurteilung der in der G-eschichte wirksamen Kräfte noch nicht an eine entsprechende Betrachtung gewöhnt haben. Mit heißem Bemühen sucht man nach geschichtlichen „Gesetzen", aber die einfachste und sicherste Erkenntnis ist den meisten noch nicht geläufig: daß f a s t alle in der Geschichte wirksamen K r ä f t e an und für sich charakterlos sind und ihr positives oder n e g a t i v e s Vorzeichen aus dem momentanen Zustande des g e s c h i c h t l i c h e n Ganzen empfangen, auf welches sie t r e f f e n und einwirken. Endloser theoretischer Streit würde vermieden oder doch gemildert werden, wenn sich die Streitenden dies stets gegenwärtig hielten. Sozialismus und Individualismus, Kosmopolitismus und Nationalismus, Freihandel und Schutzzoll, Volksvermehrung und Malthusianismus, Humanismus und Realismus und wie das Feldgeschrei im großen wie im kleinen auch lauten möge — immer handelt es sich um
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Kräfte ohne Vorzeichen, die an sich weder fördernd noch hemmend, weder positiv noch negativ sind, sondern diesen Charakter erst erhalten, wenn sie auf das Ganze treffen. Ob der Sand in das eine oder in das andere Fäßchen der Sanduhr rinnt, darüber entscheidet weder die Sanduhr noch der Sand, sondern lediglich die Lage des Gefäßes. Hierin liegt es begründet, daß Voraussicht und Prophezeiung in der Geschichte so schwierig sind — denn die Lage vermag schon ein geringer Stoß vollständig zu verändern —, und daß selbst bei scheinbar ganz einfachen Entscheidungen die gewiegtesten Fachmänner in bezug auf die mutmaßlichen Wirkungen auseinandergehen. In der Regel suchen sie aber den Grund ihres Streites am Unrechten Ort, indem sie sich gegenseitig falsche Theorien vorwerfen; in Wahrheit beurteilen sie jedoch die Gesamtlage anders. Aber es ist sehr viel bequemer, den Streit auf der schmalen Linie einer Theorie zu führen als auf dem breiten Felde des gesamten Systems der bewegten Kräfte. Auf diesem Boden wird aller Wissensdünkel und Hochmut lächerlich, und das unausstehliche Gebaren jener Theoretiker, die ihre dürftigen Theorien gar noch als die einzig moralischen anpreisen, erscheint in seiner ganzen Blöße. Es ergibt sich nun aber auch, daß der, welcher in die Zukunft eingreifen und sie leiten will, vor allem die Kenntnisse aller Elemente in ihrem momentanen Wechselverhältnis bedarf. Diese Kenntnisse allein sind politische im strengen Sinn des Worts. Gibt es aber wirklich in der Geschichte nur „charakterlose" Kräfte, oder kennen wir auch solche, deren fördernde und positive Wirkung unveränderlich ist, unter welchen Verhältnissen auch immer sie einsetzen mögen? Unstreitig ist sogar die Aufklärung nicht immer heilsam, und selbst der Nachweis des Wirklichen und Wahren nicht immer fördernd; sie können vielmehr furchtbare Verwirrungen und Leiden heraufbeschwören. Aber eine Kraft gibt es doch
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die stets, wo und wann immer sie auftritt, ein positives Vorzeichen hat, das ist das Wohlwollen, diö Humanität, und selbst wenn sie in der Wahl ihrer Mittel Fehler begeht, wird ihre positive Kraft noch immer einen Überschuß darstellen. Sie kann niemals negativ wirken, weil sie in unmittelbarer Form das in sich enthält, was die Grundbedingung alles Zusammenwirkens der Kräfte ist, nämlich den lebendigen Sinn für das Recht des anderen und für die Gemeinschaft. Also wird, wer auf den Fortschritt der Geschichte bedacht ist, dahin streben müssen, daß diese Humanität wachse und sich ausbreite. Bei jedem anderen Mittel kann er fehlgreifen und sich kläglich irren, weil das „Vorzeichen" nicht zutrifft, auf welches er rechnete; hier aber ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Darum leistet auch die Zeitung dem Vaterlande den größten Dienst und macht die sicherste und beste Politik, welche den Geist der Humanität nährt und ihm unverbrüchlich Treue hält; denn dieser Geist wirkt stets mit positivem „Vorzeichen".
Über die Sicherheit und die Grenzen geschichdicher Erkenntnis. Ein Vortrag. Nicht nur die Philosophie, sondern in noch höherem Grade die Geschichte verbindet die Natur- und Geisteswissenschaften. In höherem Grade die Geschichte, weil ohne geschichtliches Wissen die Routine allein regiert und zweckbewußte Arbeit nicht möglich ist. Selbst der Genius schafft nicht ohne geschichtliche Voraussetzungen und bleibt daher ohne sie unverständlich. Auch die erlauchte Reihe der führenden Geister hat ihren Stammbaum. Weiter aber: zu einer gesicherten Welt- und Lebensanschauung kommt niemand ohne die Geschichte. Weder aus der Naturerkenntnis allein noch aus dem sog. reinen Denken allein läßt sie sich gewinnen. Nur in der Geschichte hat sich der menschliche Geist expliziert — allmählich und nach schweren Irrwegen haben wir das gelernt — und nur in ihr seine Kräfte und Ideale gewonnen. Wenn ich am heutigen Tage die hohe Ehre habe, in diesem Kreise über Geschichte sprechen zu dürfen, so schöpfe ich den Mut dazu aus der Zuversicht, daß die geschichtliche Erkenntnis, der meine Arbeit dient, hier kein Fremdling ist. Im Gegenteil — sie gehört als Baumeisterin und Hausgenossin zum „Deutschen Museum". Was ist dieses Museum denn anderes als ein großes Werk geschichtlicher Erkenntnis auf dem Boden der Naturwissenschaften und der Technik? Was bezeugen die Männer,
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welche dieses Museum geschaffen haben und erhalten, anderes als die Einsicht, daß jedes bedeutende Werk nur im Rahmen seiner Geschichte verständlich ist und produktiv bleibt, daß man also die Tradition kennen muß, um der Gegenwart zu dienen und die Zukunft vorzubereiten? Und wo gibt es in unserem Vaterlande eine Stätte, an der die geschichtliche Erkenntnis so freudig und dankbar zu Worte kommen darf, wie in den hohen Räumen dieser Residenz? Hier hat der Herrscher gewaltet, dem Deutschland die zentrale „Historische Kommission" verdankt. Kein Zweifel — am engsten ist das Verhältnis zwischen der Geschichtschreibung und der politischen Geschichte eines Volkes; denn nicht nur wie politische Geschichte gemacht wird, sondern auch wie sie erzählt wird, entscheidet über Gegenwart und Zukunft eines Volkes. Aber auf keiner Linie der Kultur, der Wissenschaft, der Kunst und Technik kann die geschichtliche Erkenntnis entbehrt werden. Was will nun die Geschichte? Was ist ihr Zweck und Ziel? Der Altmeister Ranke sagt: sie will einfach feststellen, wie es gewesen ist. Aber das ist etwas schalkhaft geredet; es soll dem vorgreif liehen Konstruieren und einer anmaßenden Geschichtsphilosophie entgegentreten, welche die Tatsachen vergewaltigt. Auch hat Ranke selbst keineswegs nur in dieser Weise Geschichte geschrieben. Wenn wir in der Geschichte nur wissen wollen, wie es gewesen ist, so wird uns mit Recht die Frage entgegengehalten: „Warum wollt ihr das wissen? Aus bloßer Neugierde oder um euch angenehm zu unterhalten oder aus einem abstrakten Erkenntnistrieb?" Aber dazu ist das menschliche Leben und ist die menschliche Arbeit nicht da. Sie sollen Kräfte entbinden und Werte schaffen, und selbst der herrliche Erkenntnistrieb muß sich einer höheren Pflicht unterwerfen! Klopft also lieber Steine oder arbeitet sonst etwas Ordentliches 1 Daneben erfreut euch an Romanen, Anekdoten und Geschichten! Anekdoten, Geschichten — ja unterscheidet sich denn Geschichten und Geschichte? Wohl; denn schon Sprachgefühl und Sprachgebrauch machen hier einen gewaltigen
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Unterschied. Geschichten, ein unübersehbarer Haufe glitzernder und farbloser Sandkörner, vom Winde bewegt, zusammengefegt und auseinandergerissen; Geschichte, ein festes Bauwerk in strengem Stil. So empfinden und wissen wir's. Was wir in der Geschichtserkenntnis erstreben, ist nicht das Wissen um eine Fülle von Einzelheiten, mögen sie wichtig oder unwichtig sein, sondern das vergangene Leben wollen wir erkennen in seiner materiellen und geistigen Struktur, und wir wollen es erkennen als fortschreitende Objektivierung des Geistes und daher als fortschreitende Beherrschung der Materie. Sollen wir also nicht einfach sagen: Wir wollen die Entwicklungsgeschichte der Menschheit kennen lernen? In der Tat, das trifft die Sache, aber man muß hier doch eine doppelte und wichtige Einschränkung machen. Schon im gesamten organischen Leben — vom Menschen noch abgesehen — ist alles ein Übergang, eine bloße Vorstufe und doch zugleich ein in sich Abgeschlossenes und relativ Vollkommenes, also ein Selbstzweck. Eine Rose, ein Stier, ein Pferd sind doch nicht nur Übergangserscheinungen und Zwischenstufen, sondern sie ruhen in sich, bedürfen keiner Vervollkommnung und müssen daher als in sich geschlossene und harmonische Endprodukte gelten. Das ist das eine große Geheimnis der lebendigen Natur, das unerforschliche Ineinander von Übergang und Selbst- und Endzweck. Das andere Geheimnis aber ist ebenso groß, daß nämlich in einer und derselben Spezies Exemplare auftreten, Individuen, die an Vollkommenheit in ihrer Art ihre Genossen überstrahlen, ein Maximum, d.h. die ideale Norm dieser Gattung, darstellen und so nicht wiederkehren. „Das Geheimnis der Natur", sagt Mommsen, „in ihren vollendetsten Offenbarungen Normalität und Individualität zu verschmelzen, ist unaussprechlich." In der Menschheitsgeschichte aber sind augenscheinlich diese beiden großen Geheimnisse des Lebens besonders wirksam und deutlich. Sie zu übersehen oder zu mißachten, bedeutet einen schweren Fehler und Irrtum, der leider nur zu oft von oberflächlichen Naturforschern und Historikern gemacht wird. Sie nehmen in ihrer Entwick-
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lungsseligkeit, in der sie sich übrigens bescheiden selbst nur als Übergangserscheinungen betrachten, die Tatsachen viel zu einfach und kommen daher zu dürftigen und unrichtigen Bildern und Schlüssen. Steht's denn wirklich in der Menschheitsgeschichte so, daß immer das je spätere Volk, das in die Geschichte eintritt und sich in ihr eigentümlich ausgestaltet, das höhere ist und das frühere das niedere? Der Denker und Künstler des Altertums der geringere, und der Denker und Künstler der Neuzeit der höhere? Lassen sich in bezug auf „höher" und „nieder" Chinesen, Ägypter, Assyrer, Inder, Griechen, Römer, Germanen überhaupt so ohne weiteres vergleichen? Ist's nicht mit ihnen wie mit dem Stier und dem Pferd? Sind sie nicht Übergangserscheinungen und End- und Selbstzwecke zugleich? Und wiederum, welcher Dichter hat Homer in seiner Weise übertroffen oder Dante? Welcher Philosoph der Folgezeit kommt Plato in seiner Art gleich? Sind Moses und Cäsar, Phidias und Bach von den Nachfolgern übertroffen worden? Prägt sich in ihnen nicht eine maximale Normalität aus, die so nicht wieder erreicht worden ist? Sind sie daher nicht für uns bleibende Höhepunkte? Also — die Geschichte, der unsere Arbeit gilt, ist gewiß Entwicklungsgeschichte der Menschheit im Sinne der fortschreitenden Objektivierung des Geistes und der fortschreitenden Beherrschung der Materie, aber sie ist das unter strenger Beachtung der beiden Geheimnisse, die wir nicht zurückschieben dürfen, vielmehr überall sorgfältig beachten müssen, wo sie uns begegnen — des Geheimnisses der Spezies, die Übergang und Selbstzweck zugleich ist, und des Geheimnisses der Individualität, die plötzlich in Höchstentwicklung erscheint. Aber warum wollen und müssen wir diese Geschichte kennen lernen und warum haben wir ein Recht, uns um ihretwillen von anderer Arbeit zu dispensieren? Goethe, dessen Sinn für geschichtliche Erkenntnis (abgesehen von der Geschichte der Wissenschaften) übrigens merkwürdig verschlossen war, gibt doch eine Antwort, wenn er sagt: „Das Beste an der Geschichte ist der Enthusiasmus, den sie
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erregt". Das ist ein großes und wahres Wort, aber diese Antwort reicht nicht aus; denn ein herrliches erdachtes Drama vermag nahezu denselben Enthusiasmus zu erregen, und das Nacherleben — und darum handelt es sichl — des Faust oder des Hamlet oder des Teil kann so mächtig in die Seele eingreifen, wie das Nacherleben des Paulus oder Augustin oder sonst eines Helden. Freilich jenes Moment scheint hier zu fehlen, welches die Kinder vermissen, wenn sie fragen: „Ist die Geschichte auch wahr?" Aber eben die Kinder fragen so. Die Erwachsenen und Reifen wissen, daß alles wahrhaft Erschütternde und Begeisternde, was erzählt wird, auch erlebt und wirklich gewesen ist; nur heißt der Mann nicht Faust, sondern Goethe, nicht Hamlet, sondern Shakespeare, nicht Teil, sondern Schiller. Die Frage bleibt also: Warum trachten wir nach geschichtlicher Erkenntnis und dürfen und müssen nach ihr trachten? Denn daß vergangene Geschichte zum Erlebnis werden kann, reicht nicht aus und deshalb auch nicht der Hinweis: „Was du erforschst, hast du erlebt." — Man kann große Erlebnisse auch anderswo suchen. Sofern aber an der Wirklichkeit der großen Persönlichkeit von einem anderen Gesichtspunkt aus doch viel liegt, führt dies zunächst nicht auf die Geschichte, sondern auf die Biographie großer Männer. Biographie aber und Geschichte sind nicht dasselbe, wie wir noch sehen werden. Nur eine vollgültige Antwort kann es auf die aufgeworfene Frage geben: Wenn es richtig ist, daß keine Arbeit dem Menschen ziemt, die ihn nicht zum Handeln und zur Tat befähigt — unbeschadet der Regel, daß jede Sache beim Studium nur um ihrer selbst willen betrieben werden darf —, so muß die geschichtliche Erkenntnis ihr Existenzrecht hier ausweisen und bewähren. Und das vermag sie! Vm in den Gang der Geschichte einzugreifen, deshalb treiben wir Geschichte und haben Recht und Pflicht dazu; denn ohne geschichtliche Erkenntnis bleiben wir entweder passive Objekte der Entwicklung oder werden zu frevelnden Irreführern. Hieraus folgt, daß alle Geschichte, welche die Erkennt-
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nis lohnt, in gewissem Sinn und irgendwie Gegenwartsgeschichte sein muß. Nur was der Erkenntnis der Gegenwart dient, darf einen Anspruch darauf erheben, Gegenstand der Erkenntnis für uns zu werden. Der Erkenntnis der Gegenwart dienen aber sowohl alle die Tatsachen und Entwicklungen, mit denen sie kausal verknüpft ist, als auch die anderen, die mit der Gegenwart in Analogie stehen, lägen sie auch noch so weit zurück. Dennoch ist damit dem unermeßlichen Stoff eine bestimmte Grenze gezogen; denn Analogien, die wir dutzendweise in nächster Nähe haben, brauchen wir uns nicht erst aus der Ferne zu holen, und ζ. B. zentralasiatische oder afrikanische Geschichte bleibt f ü r uns so lange ein Haufe von gleichgültigen Geschichten, als sie nicht imstande sind, uns über uns selbst und die Menschheit etwas zu lehren, was wir sonst nicht wüßten. Es ist aber der letzte Zweck geschichtlicher Arbeit, nämlich Eingreifen in den Gang der Entwicklung, noch genauer ins Auge zu fassen. Eingreifen in die Geschichte — das heißt: die Vergangenheit abzustoßen, wo sie hemmend in die Gegenwart hineinreicht, das heißt ferner: in der Gegenwart das Richtige zu tun, und das heißt endlich: die Zukunft umsichtig vorzubereiten. Unzweifelhaft kommt daher der Geschichte in bezug auf die Vergangenheit ein richterliches, ja ein königliches Amt zu; denn um zu entscheiden, was aus ihr noch fortwirken darf und was abgetan oder umgebildet werden muß, muß der Historiker wie ein König richten. Alles aber muß in der Geschichtserkenntnis letztlich auf die Vorbereitung der Zukunft abgezweckt werden; denn nur die Wissenschaft hat ein Recht zu existieren, die ein Werdendes vorbereitet; sonst ist sie ein überflüssiger und schädlicher Lebensgenuß, der der notwendigen Arbeit edle Kräfte entzieht. Zum Handeln ist der Mensch auf der Welt, nicht zum Betrachten! Herrlich hat das Ernst Moritz Arndt zum Ausdruck gebracht: „Die Vorsehung geht mit dem All der Dinge und mit dem Menschengeschlechte ihren ewig dunklen Weg; aber auch' in meine Hand ist eine Vorsehung gegeben . . . ich fühle auch in mir, wie klein oder groß ich sei, eine
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Kraft, welche das Weltschicksal ändern kann." Aber eben diese Kraft wird nur dann richtig und zweckvoll wirken, wenn sie weiß, was sie zu tun hat, d. h. wenn sie mit geschichtlicher Erkenntnis erfüllt ist. Geschichte als Erkenntnis und Wissenschaft ist also nichts anderes, kann und darf auch nichts anderes sein als der große Unterbau der Politik. Nehmen Sie aber dieses Wort „Politik" im denkbar weitesten Sinn, nach welchem es das zweckvolle Handeln überhaupt bedeutet, mag es sich nun auf den Staat, die Kirche, die Kunst, die Wissenschaft oder die Technik beziehen. Überall steckt — neben Genius und Talent — das Geheimnis des Könnens und des richtigen Fortschritts in den Heimlichkeiten des geschichtlich Gewordenen; sie muß man kennen! Selbst im Handwerk ist es nicht anders. Läßt sich aber das unermeßliche Gebiet, welches damit der Geschichte zugewiesen wird, wenigstens nach den Hauptelementen seines Gewebes erkennen und ordnen? Ich glaube wohl, und solche Ordnung ist durchaus notwendig. Man muß hier drei große Faktoren unterscheiden: Den ersten möchte ich den elementaren Faktor nennen. Hierher gehört alles, was ein f ü r allemal gegeben und daher unvermeidlich ist: der Boden, das Klima, die natürlichen Bedingungen — Futterplatz und Futtermenge, wie man gesagt hat — und f ü r jedes Volk und wiederum f ü r jeden einzelnen in ihm die körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen, aus denen man, wie aus einem festen Ring, nicht herauszukommen vermag — man kann von ihnen aus sich wohl nach oben oder nach unten entwickeln, aber sie zu durchbrechen vermag man nicht. Was Goethe von dem einzelnen sagt, gilt auch von ganzen Völkern: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten, bist alsobald und fort und fort gediehen nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, so sagten schon Sibyllen, so Propheten, und keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich
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So gewaltig bestimmen diese Faktoren die Geschichte, daß immer wieder der Versuch gemacht wird, aus ihnen allein die ganze Entwicklung der Geschichte der Völker und der einzelnen abzuleiten und zu verstehen. Man kann das die materialistische oder fatalistische Geschichtsbetrachtung nennen — ihre naive Vorstufe war die astrologische —, und in der Tat gelingt es, einen sehr großen Teil der Erscheinungen von hier aus zu begreifen und ein scheinbar befriedigendes Geschichtsbild zu gewinnen. Unsere materialistischen Geschichtschreiber glauben ja den Beweis für diese ungeheure Vereinfachung der Geschichte geliefert zu haben. Den zweiten möchte ich den kulturellen Faktor nennen; in ihm ist die bisher erlebte Geschichte eines Volkes oder des einzelnen als erzieherische beschlossen, wie sie die Gegenwart bestimmt. Staat, Kirche, Gesellschaft, Schule, Bildung usw. gehören hierher; alles was Tradition, Sitte, ethisch-religiöse Kräfte und bisher erreichte Kunst und Wissenschaft heißt, — sie alle in ihrem Zusammenwirken und in ihrem Widerspiel samt dem Fortwirken der großen geschichtlichen Tatsachen und Erlebnisse — ist hier gemeint. Diese angesammelten, bildnerischen Kräfte wirken in der Tat fast wie eine zweite Natur auf das Volk und die einzelnen, so gewaltig sind sie. Daher ist es möglich, einen sehr großen Teil der Entwicklung der Völker von hier aus zu durchschauen und zu schildern, und wir besitzen auch zahlreiche Historiker, die in wesentlicher Beschränkung auf diesen Faktor die Geschichte als politische Geschichte und daher als Geschichte des sich entwickelnden Gemeingeistes aufklären und erzählen. Der dritte Faktor ist der individuelle; Individuum, Persönlichkeit, Talent und vor allem der Genius, die großen Männer, kommen hier in Betracht. Nur vollkommene Blindheit oder eigensinnige Versteifung auf kurzsichtigen Vorurteilen kann die durchschlagende, ja elementare Bedeutung der großen Männer in der Geschichte leugnen. Um ihrer Anerkennung zu entfliehen, beruft man sich auf das Geheimnis des Kollektivismus, aus dem auch die große Persönlichkeit lediglich als Exponent einer gegebenen
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Kraftmenge mit Notwendigkeit hervorgehe. Aber mit der Kraft des Kollektivismus ist es eine eigene Sache. Wohl können manchmal zwei Schwache sich ergänzen und zwei müde Wanderer sich gegenseitig stärken, aber in der Regel ist der Erfolg des Kollektivismus ein trübseliger. Eins plus eins plus eins ist hier sehr oft nicht drei, oder leisten drei Dienstboten wirklich soviel wie dreimal Einer? Und werden die Menschen immer klüger, je mehrere zusammen beraten? Ist's nicht vielmehr wie bei einer Multiplikation von Brüchen: 7s X V2 = V*. X7 2 = 7e und so fort, bis aller Verstand aus der großen Versammlung entflohen ist! Wohl gibt es gewisse heroische Momente der Not in jeder Volksgeschichte, in denen die Summation der individuellen Kräfte wirklich eine Steigerung bedeutet, weil sich nur der gute Geist geltend macht; aber das sind seltene Ausnahmen. Sonst gilt in der Geschichte die Regel: eine Entwicklung wirklich vollenden und ein Neues schaffen vermag nur die große Persönlichkeit, die nicht kommt, wenn sie kommen muß — ach! wie oft mößte sie kommen I —, sondern sie kommt, wenn sie kommt I Aber weiter, auch die großen wirklich segensreichen Ideen und Institutionen auf allen Gebieten sind in der Regel nur die langen Schatten bedeutender Männer, und unser geistiger, seelischer und technischer Besitz ist das Kapital, das sie gewonnen haben und stellt ihr fortwirkendes Leben dar. Kein Wunder daher, daß es auch Geschichtschreiber gegeben hat, die die Geschichte lediglich als das Werk der großen Männer darstellen! Das sind die drei Faktoren der Geschichte, und aus ihrem Zusammenwirken bildet sich ihr Gewebe. Oder — um ein anderes Bild zu brauchen — jeder Faktor ist hier so wichtig, daß er in jeder Entwicklung steckt und man jede bis zu einem gewissen Grade aus ihm allein entwerfen kann. Aber es ist wie bei der Farbenphotographie: der Druck in einer Farbe bietet schon das Bild, und das ungeübte Auge findet sogar, es sei naturtreu. Aber erst wenn man die drei Farben über einander druckt, ist das zutreffende und wirkliche Bild gegeben! Erschöpfen nun diese drei Faktoren den Tatbestand? Ja
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und nein! Determinierte und daher klar erkennbare Faktoren gibt es in der Geschichte sonst nicht; aber neben ihnen komplizieren erstlich Zufall und unerwartete Reibungen den Gang der Dinge, wirken wie neue Ursachen — wie ein deus ex machina! — und spotten aller Voraussicht, ja oft auch aller nachträglichen Entdeckung. Zweitens aber haben alle die genannten Faktoren eine doppelte Art der Wirkung. Sie wirken elementar, d . h . mit der natürlichen Kraft ihres Wesens, unentrinnbar wie ein Erdbeben; aber sie wirken daneben auch ideell, d. h. sie gehen durch den empfindenden, denkenden und wollenden Menschen hindurch und kommen durch dieses Medium zu einer zweiten ganz anderen Aktion. Die Auffassung und der Wille beugen die elementaren Wirkungen um, schaffen neue Folgen, verändern die Vorzeichen der Kräfte — positiv in negativ, negativ in positiv — und spotten oft jeder Berechnung. Was ich hier meine, liegt, als Ahnung in dem Spruch des alten Epiktet vor: „Nicht die Tatsachen, sondern die Auffassungen von den Tatsachen erregen die Menschen". Ist aber das geschichtliche Gewebe so kompliziert, so sollte es sich eigentlich von selbst verstehen, daß man keine geschichtlichen Gesetze im strengen Sinn des Wortes nachweisen kann oder nur ganz einfältige Gesetze, die man auch ohne Wissenschaft festzustellen vermag — Tautologien und Binsenwahrheiten. Alles Denken und Reden über geschichtliche Gesetze ist verlorene, von vornherein zum Scheitern verurteilte Liebesmüh. Gesetze und sicheres Vorhersagen entsprechen sich. Wo man nicht sicher vorhersagen kann, da gibt es auch keine Gesetze, und wo es keine Gesetze gibt, kann man auch nicht sicher vorhersagen. Selbst in rein elementaren Wirtschaftsfragen aber sind alle Vorberechnungen häufig völlig trügerisch — an unserem Leibe haben wir das in diesem Kriege noch viel deutlicher erfahren als im Frieden, und ob eine neue wirtschaftliche Maßregel im ganzen der Kräfte negativ oder positiv wirken wird, darüber haben sich öfters selbst hervorragende Nationalökonomen getäuscht. Bei komplizierten Vorgängen vollends versagt die Forschung nach stren-
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gen Gesetzen gänzlich. Nicht einmal mit der Wissenschaft der Meteorologie läßt sich daher die Geschichte vergleichen, der sie doch am nächsten kommt; denn in der Meteorologie scheinen gewisse Gesetze entdeckt zu sein, und ihre Prophezeiungen haben mehr als eine ZweidrittelZuverlässigkeit. Wer kann das von der Geschichte sagen? Also so scheint es — ist es mit der Geschichte als Wissenschaft und deshalb überhaupt nichts. Sie ist doch nur eine fable convenue! In der Tat, dies verzweifelnde Urteil kann man oft genug hören. Goethe hat es in einem berühmten Gespräch dem jungen Historiker Luden gegenüber aufs schärfste ausgesprochen, mag er dabei auch pädagogische Absichten verfolgt haben, und namentlich Diplomaten und Politiker stimmen ihm bei. Was wollt ihr mit eurer Geschichte, heißt es, sie ruht auf der Überlieferung und fast alle Überlieferung ist gefälscht, immer parteiisch, immer konstruiert, immer, sei es von Enthusiasmus, von blindem Haß oder von blinder Liebe, also vom Eigennutz entstellt — und nicht nur von diesen, sie ist auch gefälscht von absichtlicher Lüge und skrupellosem Betrug, von Beschönigung und von Verleumdung! Und weiter, selbst wenn es nicht so wäre — ihr Historiker kommt immer zu spät; wenn ihr anfangt, hat sich das Urteil immer schon gebildet und ist schon fertig; ihr selbst seid, ohne es zu wissen, von ihm bereits präjudiziert, und auch wenn ihr es zu widerlegen versucht, steht ihr doch in seinem Bannkreis. Und ferner — die wirklichen Akten der Ereignisse gibt man euch nicht oder ihr lernt sie immer erst kennen, wenn das lebendige Gedächtnis bereits erloschen ist. Aber auch in den Akten, diesen angeblichen Schatzkammern, stehen ja niemals die Hauptsachen; sie haben sich alle mündlich abgespielt, und wer aus den Akten die wirklichen Motive und die wirklichen Reibungen und Kämpfe kennen zu lernen meint, ist ein betrogener Tor! Endlich aber — zitiert doch die Zeugen in bezug auf ein Ereignis, das sich gestern abgespielt und die Gemüter erregt hat, und seht, welch einen widersprechenden oder unentwirrbaren Tatbestand man vor euch ausbreiten wirdl
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Das ist alles zutreffend und wahr, und dennoch ist die Aufgabe der Geschichtserkenntnis keine hoffnungslose. Inmitten dieser Kanonade von Angriffen vermag sie vielmehr doch ein festes und sicheres Gebäude aufzurichten. Man muß nur wissen, was man bauen will, sich nicht in Einzelheiten und Motivforschungen verstricken und den Augenpunkt hoch genug nehmen. Wer von der Geschichte zu viel und zu Genaues abfragen will, der gerät freilich in lauter Unsicherheiten. Es gilt hier der Satz „quo accuratius, eo falsius"; ein Maximum der Fragestellung ist in der Geschichtsforschung ebenso irreführend wie ein Minimum, und wenn dem Bohrer nicht haltgeboten wird, arbeitet er im Leeren. Auch wer Herzenskündiger sein will, kommt hier nicht auf seine Rechnung. Aber überall, wo ein gewaltiges Überlieferungsmaterial für eine Epoche vorliegt, da lassen sich auch die drei Fragen genügend beantworten, auf die es schließlich hier allein ankommt; welche Kräfte waren in der gegebenen Epoche wirksam, in welcher Richtung gingen sie und was war der Arbeitsertrag der Epoche? Kräfte, Richtung, Leistung — das ist das Entscheidende. Hat man sich ihrer bemächtigt und sie wirklich kennen gelernt, so kann man dem skeptischen Diplomaten ruhig antworten: „Das, was du wissen möchtest, von dem du aber zugleich behauptest, es könne gar nicht gewußt werden, das will ich überhaupt nicht wissen, das gehört nicht zu der Geschichte im strengen Sinn, auf deren Kenntnis es der Wissenschaft allein ankommt." Ζ. B. selbst solch eine Frage, ob Friedrich der Große den Siebenjährigen Krieg gewollt hat, oder wie es mit der Emser Depesche steht, ist im strengsten Sinn keine geschichtswissenschaftliche Frage mehr, sondern eine biographische. Denn wie es mit jenem Kriege und mit dem vom Jahre 1870 in bezug auf ihre wirkliche Verursachung steht, das entscheidet sich aus weit allgemeineren und tieferen Beobachtungen und Erwägungen und bedarf keines Motivforschers und Herzenskündigers. Kräfte, Richtung, Leistung — was steht uns für ihre Kenntnis an verlässigem Material zur Verfügung? Nun, überall drei sichere Quellen, die großen Tatsachen, die
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authentischen noch vorhandenen Denkmäler, und die Institutionen einer Epoche. An sie hat sich der Historiker zunächst zu halten und alles übrige Material kritisch ihnen einzuordnen. Die epochemachenden Ereignisse, die Denkmälerkenntnis und die Institutionenforschung bilden das Rückgrat der Geschichte. 1. Die großen Tatsachen — ich meine hier die epochemachenden unumstößlichen Ereignisse, die eine lebendige Tradition aufrecht erhält und an denen nicht gerüttelt werden kann, feststehend in ihren großen Umrissen. Beliebig greife ich einige aus den letzten zwei Jahrtausenden heraus : die Umwandlung der römischen Republik in das Kaisertum, der Eintritt des Christentums, der Unterging des weströmischen Reiches, die germanische Völkerwanderung, das deutsche Kaisertum, das römische Papsttum, die Reformation, der 30 jährige Krieg, die Französische Revolution, die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches usw. Bringt man sie auch nur als nackte Tatsachen in den Ansatz, so haben sie bereits als solche einen unmißverständlichen Inhalt und Wert, und ihrer Wirkung kommt eine innere Logik zu, die schlechterdings nicht verkannt werden kann. Aber sie bilden auch eine unzertrennliche und deutliche Kette. 2. Die Denkmäler — durch sie ragt die Vergangenheit tatsächlich und lebendig noch in unsere Gegenwart herein, und wieviel läßt sich von ihnen ablesen! Zunächst sind schon zahlreiche örtlichkeiten; wie sie noch bestehen, sprechende Zeugen dahingeschwundener Epochen. „Die örtlichkeit", sagt Moltke mit Recht, „ist das von einer längst vergangenen Begebenheit übriggebliebene Stück Wirklichkeit. Sie ist sehr oft der fossile Knochenrest, aus dem das Gerippe der Begebenheit sich herstellen läßt." Und nun die ungeheure Menge der Monumente von den Pyramiden Ägyptens und den babylonisch-assyrisch-persischen Bauten an über die Fülle der Kunstdenkmäler Griechenlands hinweg zu den Hunderttausenden von Inschriften und Urkunden auf Stein und Erz oder Papyrus aller Zeiten und zu den Werkzeugen, Instrumenten, Waffen und Hausgeräten aller Völker. Wohl ist dieses und jenes ge-
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fälscht worden, hier eine Inschrift, dort ein Kunstgegenstand oder ein altes Manuskript; aber wie man Pyramiden nicht fälschen kann, so kann auch die Unsumme der kleineren Denkmäler nicht gefälscht sein, und unter dem Strahl des Echten zerschmilzt immer sicherer das kleine Häufchen des Unechten. Von diesen Denkmälern aber vermag man nicht nur den Arbeitsertrag einer Epochc abzulesen, ihre Kräfte und ihre Richtung, sondern sie geben auch Aufschluß in bezug auf die Abfolge der Entwicklung, bieten Kausal- und Wachstumsreihen und künden von dem Geiste der Epoche bis in seine Feinheiten. Was lehrt nicht eine Pyramide den denkenden Beschauer betreffs des Volkes, das sie gebaut hat, was nicht ein Bau, wie der des Parthenon, und konnte nicht Mommsen aus den lateinischen Inschriften die ganze römische Staatsverwaltung rekonstruieren? Gewiß, Hunderte von Fragen bleiben unerledigt zurück; aber Kraft, Richtung und Leistung dieser Verwaltung stehen wie in Erz gegossen vor uns. Und noch einen unersetzlichen Dienst leisten uns die Denkmäler. Nahezu das ganze Gerüst unserer Chronologie ist von Denkmälern gewonnen und besitzt daher in bezug auf den gesamten Bereich der Geschichte von dreitausend Jahren in allen Hauptfragen eine durchaus befriedigende Sicherheit. Was das aber für unsere Einsicht in die Geschichte bedeutet, braucht nicht ausgeführt zu werden. 3. Und nun die Institutionen. — Auf die große Hauptfrage, die an jede Epoche zu richten ist: „Was waren die materiellen und geistigen Hauptprobleme der Zeit und in welcher Richtung und mit welcher Kraft hat sie sie gelöst? Worin bestand ihre Arbeit?" antworten die Institutionen mit voller Sicherheit. Ich verstehe hier unter Institutionen die Staatsverfassungen und -gesetze, die Rechtsbücher und Staatsverträge, die Kirchenordnungen, die Liturgien und Agenden, die Schulordnungen, die Stadtgesetze, die Stände- und Zunftordnungen, die Preisbestimmungen, kurz alles, was als Verordnungen im weitesten Sinn des Wortes auf uns gekommen ist. Auf ihrem Grunde ist der Charakter einer Epoche genau zu bestimmen, und überall haben wir Material die Fülle, Material,
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welches ungleich wichtiger ist als alles Vereinzelte und Individuelle, sei es auch noch so anziehend. Hier ist das eigentliche Feld des Historikers. Durch Vergleiche aber mit der je vorangegangenen und der folgenden Epoche strömt Leben in diese großen Niederschläge, und es tritt dem Historiker das bewegte Gesamtbild der Epoche als ein werdendes in verständlicher Abfolge sich abspielendes und vollendendes entgegen. Ihr politischer Charakter und ihr Wert entschleiert sich. Im letzten Grund aber ist alle Institutionengeschichte Ideengeschichte; denn jede Institution entspringt aus einer politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Idee. Geist ist es, was in der Geschichte waltet, oft genug aus materiellen Nöten entbunden, aber doch Geist. Die Entwicklung des Geistes aber läßt eine viel sicherere Beobachtung zu als die Verknüpfung der disparaten, materiellen Dinge, weil das Instrument, mit dem wir die Geistesgeschichte betrachten, eben diesem Geiste kongenial ist. Von diesem festen Grunde aus ist es aber nun auch möglich und erfolgreich, die Fülle der Traditionen und Legenden zu kritisieren, wie sie aus jeder Epoche auf uns gekommen sind. Zahllose solcher Überlieferungen erledigen sich nun und werden als aus der Parteilichkeit, dem Haß oder der Liebe oder dem Unverstand oder dem Eigennutz und der Lüge stammend, entlarvt, aber noch zahlreichere können nun beglaubigt werden und oft genug auch solche, die zunächst sehr verdächtig erschienen. Ferner zeigt sich — an den Wurzeln unannehmbarer Traditionen und Legenden liegen oft wertvolle Überlieferungen und wirkliche Tatsachen. Nicht selten sind diese Überlieferungen wie Futterale; das Futteral ist unecht und wertlos, aber in ihm verborgen steckt ein Diamant. Und wer wollte jene — Männer, Zeiten und Völker charakterisierenden — Legenden missen, die häufig besser als viele Worte die Bedeutung einer Größe oder das allgemeine Urteil über sie zum Ausdruck bringen? Tertullian hat niemals das Wort gesprochen: „Credo quia absurdum", und Augustin hat weder jemals gesagt, daß die Tugenden der Heiden glänzende Laster seien, noch
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rühi-t das schöne Wort von ihm her: „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus Caritas", und doch charakterisieren diese Worte die beiden Kirchenväter besser als alles, was sie selbst geschrieben haben. Gewiß haben nicht Petrus und Paulus leibhaftig hinter dem Papst Leo dem Großen gestanden, als er zu Attila ins Zelt trat und ihn von dem Eintritt in die ewige Stadt abhielt; aber läßt sich der Eindruck, den der gewaltige Papst als Vertreter der christlichen Religion und der Kultur auf den Barbarenfürsten gemacht hat, besser ausdrücken, als durch diese Legende? Wir haben gesehen: Die Geschichte ist primär auf den großen Tatsachen, den Denkmälern und den Institutionen, sekundär auf den sonstigen Überlieferungen aufzuerbauen. Und eine so erbaute Geschichte gewährt in bezug auf das Tatsächliche Sicherheit. Aber es erheben sich doch noch hier zwei sehr ernsthafte Fragen: Welche Sicherheit hat man für die spezielle Motivation und die Verknüpfung der Ereignisse? und wo bleiben die Individuen, vor allem die großen Männer und ihre Bedeutung in der Geschichte? Auf die erste Frage muß man mit einem unumwundenen Bekenntnis antworten: für die spezielle Motivation und die Verknüpfung der Ereignisse haben wir sehr oft keine andere Sicherheit als die, welche aus der selbsterlebten Geschichte und der Lebensweisheit entspringt; denn die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten ist oft unübersehbar, Messen, Zählen und Wägen verbietet sich hier, und das Experimentum crucis können wir nicht machen. Was bleibt also übrig, als sich auf die eigene Erfahrung bei der Entscheidung zurückzuziehen? Dennoch steht die Sache nicht verzweifelt; denn die Richtung und die Vermutungen hier können sich wirklich zu Richtungs- und Yermutungs-Evidenzen steigern, und auf solche sind wir auch sonst, auch in den Naturwissenschaften, oft genug angewiesen. Es gibt einen common sense nicht nur der Masse, sondern auch der durch das Leben erzogenen Männer und der tieferen Geister. Wenn die geschichtliche Kombination vor ihrem Urteil besteht, so hat sie Aussicht, wahr und wirklich zu sein, und auch
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eine neue Kombination verdrängt sie in der Regel nicht, sondern erweitert oder vertieft sie nur. Gewiß, Parteipolitik und andere Interessen mischen sich in die Aufgabe, die Tatsachen zu kombinieren, hinein; aber wir dürfen sagen, daß die Kritik in der deutschen Geschichtschreibung in dieser Hinsicht immer aufmerksamer geworden ist und Parteipolitisches zurückdrängt. Andererseits ist es kein Schade, wenn eine Zeitlang eine Epoche verschieden rekonstruiert wird; das Unrichtige wird doch ausgeschieden bzw. eine höhere Einheit schließlich hergestellt werden. So steht heute ζ. B. die schwierige, einst so umstrittene Frage nach dem Verhältnis der Reformation zum 15. Jahrhundert unter den einsichtigen Historikern beider Konfessionen wesentlich fest. Alle Geisteswissenschaften sind nicht reine Wissenschaften, sondern ein Gemisch von Wissenschaften und Lebensweisheit; aber es sind für den Gewinn von Lebensweisheit nicht geringere Fähigkeiten und Anstrengungen nötig als für den Erwerb wissenschaftlicher Erkenntnisse und auch jener kommt eine Vermutungsevidenz zu. In der Geschichtschreibung steckt erstlich die Tatsachenforschung, welche streng exakt ist, sodann ein Stück Lebensweisheit, das die inneren Zusammenhänge angibt, und aller Fortschritt in der geschichtlichen Erkenntnis ist daher dadurch bedingt, daß der Erkennende ein reicheres, tieferes und vielseitigeres eigenes Wissen und eigenes Erleben an den Stoff heranbringt als seine Vorgänger. Er wird dann nicht durch Beweise, die er nicht immer zu geben vermag, wohl aber durch die Lebensweisheit, mit der er den Stoff durchleuchtet, Überzeugung erwecken. Ein Herüber und Hinüber entsteht hier; das reiche eigene Erleben des Historikers klärt und ordnet den geschichtlichen Stoff, und eben dieser Stoff steigert reflexiv seine Lebensweisheit. Was von der Vergangenheit noch gültig sein darf, was in der Gegenwart zu tun ist, und wie das Werdende, die Zukunft, vorzubereiten ist, vermag er nun zu bestimmen. Durch letzteres wird er zum Propheten, nicht zum untrüglichen, aber zu einem um so zuverlässigeren, je tiefer und ernster seine eigene Lebenserkenntnis ist.
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Zum Propheten, aber auch zum rückwärts gewandten Propheten. Ich wage schon jetzt zu behaupten, daß man ζ. B. die eigentlichen Ursachen dieses ungeheuren Weltkrieges bereits kennt und daß keine zukünftige Forschung und keine Erschließung neuen Materials an dieser Kenntnis irgend etwas zu ändern vermag. Zwei gewaltige Ursachen hat dieser Krieg gehabt, nicht mehr und nicht weniger. Die eine ist eine spezielle, die andere eine allgemeine. Die spezielle liegt in dem Verhältnis unseres Vaterlandes, der neuen Großmacht, zu den alten Großmächten und besonders zu dem Weltimperialismus Englands und zu der Länder- und Meergier Rußlands. Sie wollten dieses kraftvoll sich entwickelnde, nach Luft und Licht auf friedlichem Wege strebende Reich nicht aufkommen lassen, und es war nur eine Frage der Zeit und der Konstellation, wann sie mit der gewaltsamen Repression einsetzten und wer von ihnen die Initiative ergriff. Die allgemeine Ursache aber liegt in dem Zustande, den die europäischen Staaten unter sich haben groß werden lassen, nämlich ihr Verhältnis lediglich von dem eigenen Machtstandpunkte aus zu regulieren. Dieser außerhalb von Gut und Böse liegende Standpunkt mußte notwendig zu einer Weltkatastrophe treiben. Man sagt uns zwar, daß dieser Standpunkt von dem Wesen des Staates unzertrennlich ist; aber das ist eine machiavellistische Weisheit, die weder die Probe des Gewissens noch der Logik besteht — des Gewissens nicht, weil der Mensch, auch als politischer, sich vom sittlichen Empfinden und Handeln niemals emanzipieren darf, und der Logik nicht, weil jener Standpunkt konsequent durchgeführt die Menschheit in die Sklaverei eines Reiches oder zur Selbstvernichtung treibt. Wir dürfen hoffen, daß eben dieser Krieg die Menschheit von dem Abgrund zurückführen wird, und das deutsche Friedensangebot, dieses größte Erlebnis im Kriege, hat bereits von dem alten Zustande abgelenkt und das neue Ziel aufgerichtet. Es darf und soll nicht mehr verdunkelt werden. Aber nun die andere Frage: W o bleiben die Individuen und die epochemachenden Männer in der Geschichte, wenn
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man in dieser Weise von den großen Tatsachen, den Denkmälern und den Institutionen aus die Geschichte darstellt? Wo und wie ist in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung zu fassen? Die Antwort ist nicht schwer; denn untrüglich ist die Erwartung in bezug auf den geschichtlichen Gang der Dinge: Wo eine Entwicklung zum wirklichen Abschluß kommt, wo etwas Neues auftaucht, wo eine große Institution geschaffen wird, ja, wo nur eine kräftige Aktion hervortritt, da steht eine Persönlichkeit, und diese Persönlichkeit bedeutet für die Geschichte nichts anderes als eben diesen Abschluß, dieses Neue, diese Institution und diese Aktion. Mit dieser Einsicht, die sich überall bestätigt, ist sehr viel gewonnen; denn sie verbürgt uns die Existenz dieser Männer; sie sagt uns ferner, worin die Bedeutung des großen Mannes besteht und sie lehrt uns, worauf wir unsere Forschung in bezug auf die Großen zu richten haben. Sie verbürgt uns ihre Existenz — ein Beispiel: Vor wenigen Jahren wieder haben wir von verschiedenen Seiten hören müssen, Jesus Christus habe nie gelebt. Eine Fülle guter Einzelbeweise ist gegen die neue Weisheit gerichtet worden, aber sie sind alle gering gegenüber dem Beweise, der sich ohne weiteres aus den Wirkungen ergibt. Diese verlangen, daß im Zeitalter des Tiberius von einem geborenen Juden und von Palästina aus eine persönliche Kraft ausgegangen ist, die so mächtig in ihrer Richtung, so zielstrebig in ihrem Lebenswerke, so geschlossen und in ihrer Todesverachtung so siegreich war, daß die religiöse und sittliche Welt des Altertums ein anderes Antlitz erhielt. Wie diese Persönlichkeit geheißen hat, ob sie aus Bethlehem oder aus Nazareth stammte, ob sie dreißig oder fünfzig Jahre alt war, ob sie Jesus hieß oder anders, ist zunächst ganz gleichgültig, obschon auch das ausgemacht werden kann — entscheidend ist, daß eine solche heilige Erlöserpersönlichkeit aus den Wellenringen ihres nächsten Fortwirkens bis zu speziellen Zügen ihres Seins und Wesens als notwendig gefordert werden kann. Nicht anders steht es mit Sokrates, Augustin, Mohammed und wiederum mit Alexander dem Großen, Cäsar usw. Wären auch alle
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direkten Überlieferungen über Sokrates oder über Mohammed bis auf ein Minimum ausgelöscht, so könnten wir diese Persönlichkeiten als existente aus ihren Wirkungen fordern und würden selbst den Märtyrertod des Sokrates zu postulieren vermögen. Und was von dem Größten gilt, gilt auch vom Kleineren; überall muß eine persönliche Kraft gewesen sein, wo ein Neues geschaffen und der Widerstand der stumpfen Welt besiegt worden ist. Hieraus ergibt sich aber auch, worin wir die Bedeutung der großen Männer in der Geschichte zu suchen haben — einzig in ihrem Werke und seiner lebendigen Kraft. In diesem Sinne ist der ideale, ja der postexistente Sokrates der reale und der Sokrates samt seiner Xanthippe, den etwa die photographische Kleinkunst zeigen könnte, ist bedeutungslos, ja im höheren Sinne unwirklich. Nicht anders steht es mit den anderen. Ihr Werk das ist es, was sie waren und sind, und in diesem Sinne stehen sie so sicher am Himmel der Geschichte wie die Sonne, unerschütterlich und deutlich, einerlei, ob wir sonst viel oder wenig von ihrem Leben wissen. Daraus folgt aber auch, worauf wir in der Geschichte unsere Forschung in bezug auf die Großen zu richten haben — einzig auf ihre Bedeutung als Faktor in der Entwicklung und auf nichts anderes! So müssen wir verfahren, weil ein jeder von der Nachwelt verlangen kann, zunächst nach seinem Werk beurteilt zu werden, und weil nur in diesen Grenzen zuverlässige Erkenntnis erzielt werden kann. Je strenger man sich in der Geschichtschreibung an diese Grenze bindet, um so allgemeingültiger wird ihr Urteil sein. Aber wo bleibt die Motivforschung, wo bleiben die Untersuchungen über die Seelenzustände des Helden, wo seine Entwicklung und sein Werden, wo die sich kreuzenden Spannungen in seinem Wirken? Das alles gehört nicht in die Geschichte; es gehört in die Biographie. Geschichte aber und Biographie sind wohl zusammenhängende, aber verschiedene Aufgaben. Der Biograph muß zwar auch in erster Linie Historiker sein, aber für ihn ist es ebenso notwendig, Psychologe und Künstler zu sein. Das Ge-
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mälde, welches er entwirft, ist ein Seelengemälde, ähnlich dem des Romandichters, nur daß er sich an den gegebenen Stoff zu halten hat. Es gibt keine größere und keine eindrucksvollere Kunst als die des vorzüglichen Biographen — doch muß er unausstehliche Kleinkrämerei und gemeine Kammerdienerspionage aufs tiefste verbannen — und es gibt vielleicht nichts Bildenderes und Erhebenderes als eine gute Biographie; aber in das strenge Liniengefüge der Geschichte läßt sie sich nicht einfügen, weil die Motiv- und Seelenforschung nicht nur die Sicherheit der Geschichte bedroht, sondern auch ihre eigentliche Aufgabe. Ich bin am Ende — das große geschichtliche Werk, welches „das Deutsche Museum" darstellt, ist das beste Rüstzeug, welches die Technik von der Geschichte zu empfangen vermochte. Möge es in dem Sinne benützt werden und Frucht schaffen, in welchem der hohe Geist geschichtlicher Erkenntnis wirkt — das überlebte Vergangene abzustoßen, die Gegenwart zu bereichern und das Werdende vorzubereiten, das heißt eine in der Technik noch stärkere deutsche Zukunft! Möge dieses Museum aber auch die Verehrung der großen Männer in Kraft erhalten, deren Geist und Arbeit jeglicher Fortschritt verdankt wird! Persönlichkeit und Idee, Institution und Lebensweisheit auch in der Technik!
Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? Ein Vortrag. Allem zuvor danke ich Ihnen für Ihre freundliche Einladung; es ist mir eine Freude, zu Ihnen sprechen zu dürfen. — Warum treibt man überhaupt „Geschichte"; warum dürfen wir „Geschichte" treiben? Ich denke, wir stehen in der Beantwortung dieser Frage auf einem gemeinsamen Boden. Treiben wir Geschichte, um uns zu unterhalten? Ist sie ein „Divertissement"? So dachte man häufig noch im 18. Jahrhundert. Allein dann greife man lieber zu Novellen, Romanen und Dramen; sie sind meistens viel unterhaltender als die Geschichte. Shakespeares Königsdramen ζ. B. sind interessanter als die einfache Erzählung der englischen Königsgeschichte. Oder treiben wir Geschichte, lediglich um dem nüchternen Erkenntnistrieb in uns zu folgen? Nun, es mag einem einzelnen unter besonderen Umständen nachgesehen werden, daß er sein ganzes Leben der Befriedigung des Erkenntnistriebes opfert, und es soll anderseits von jedem Denkenden verlangt werden, daß er ihn auch auf dem Gebiete der Geschichte lebendig erhält. Aber wenn Geschichtskenntnis eine Aufgabe ist und sein soll, die der ganzen Menschheit gestellt ist als ein wesentlicher Teil der Erkenntnis überhaupt, so muß sie Gegenwartscharakter haben und mit unserem Handeln in engster Beziehung stehen; denn nicht um uns zu unterhalten oder um zu kontemplieren sind wir auf der Welt, sondern um das
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Ganze zu fördern und unserem Nächsten zu dienen. Niemand, also auch der Historiker nicht, darf sich dieser Aufgabe entziehen. Die „Geschichte" aber muß dieser Aufgabe entgegenkommen; sonst müssen wir sie lassen und uns einer anderen Tätigkeit zuwenden. Wir treiben Geschichte, nicht nur um zu erkennen, nicht nur um zu wissen, was geschehen ist, sondern um uns von der Vergangenheit zu befreien, wo sie uns zur Last geworden ist, ferner um in der Gegenwart das Richtige tun zu können, und drittens um die Zukunft umsichtig und zweckmäßig vorzubereiten. Nur dann, wenn wir durch die „Geschichte" dazu in den Stand gesetzt werden, ist ihr Recht erwiesen, sich neben die anderen großen Aufgaben stellen zu dürfen, welche der Menschheit gesetzt sind. Ich nehme an, daß dies auch Ihre Meinung ist. — Das mir von Ihnen gestellte Thema lautet: „Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?" Ich höre aus dieser Frage — ich weiß nicht, ob mit Recht — einen Unterton des Zweifels oder der Sorge heraus und glaube sie daher in zwei Fragen zerlegen zu müssen: 1. Hat die Historie überhaupt feste Erkenntnisse zu bieten? 2. Welches ist die Erkenntnis, die die Historie zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag und welcher Wert kommt dieser Erkenntnis zu? I. Hat die Historie überhaupt feste Erkenntnisse zu bieten? Es wird das von mehr als einer Seite bestritten. Der Logiker tritt auf und sagt uns, daß man in der Geschichte niemals das Experimentum crucis machen könne; man vermöge niemals einen Faktor auszuschalten, um festzustellen, wie das Geschichtsbild und der Geschichtsverlauf ohne ihn aussehen. Der Untersuchungsrichter tritt auf und belehrt uns, daß die Konstatierung eines einfachen Tatbestandes — oft schon am nächsten Tage — trotz vieler Zeugen nicht mehr möglich ist, weil Veranlassung und Ablauf, Motiv und Verschuldung alsbald
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von einein dichten Nebel umflossen sind und Aussage gegen Aussage steht. Zu ihnen gesellt sich endlich der Diplomat und versichert uns mit einem feinen Lächeln, daß die ganze sogenannte „Geschichte der Neuzeit" — wieviel mehr die des Mittelalters und des Altertums! — eine fable convenue sei, eine Legende, die jede politische Partei sich zu ihren Zwecken gestalte; die wichtigsten Akten fehlen oder seien dem Historiker verschlossen, aber wenn sie auch sämtlich vorhanden und zugänglich wären, so stünde auch in den Akten nur die halbe Wirklichkeit und dazu noch viel unabsichtliche und absichtliche Unwahrheit. Wer ζ. B. heute eine Geschichte Luthers oder der Reformation schreibe, der schreibe seine Geschichte Luthers oder der Reformation, und so sei es überall. Diese Einwürfe sind sämtlich unwiderleglich, ja man kann sie noch verstärken: Unzweifelhaft ist, daß alle Geschichte um so falscher wird, je genauer man sie mit allen Umständen und Motiven erzählt — Historia quo accuratius eo falsius narratur — , und völlig berechtigt ist Goethes scheltende Klage: „Glaubst du denn von Mund zu Ohr sei ein redlicher Gewinn?" Allein andererseits können wir dem Logiker, dem Untersuchungsrichter und dem Diplomaten entgegenhalten: „Die Geschichte, die ihr meint, ist gar nicht die Geschichte, um die es uns zu tun ist; wir sind keine Motiverforscher, keine Herzenskündiger und keine Hilfsschreiber des Weltgerichts; wir wollen auch nicht Geschichten hören, sondern Geschichte erkennen. Geschichten sind ein Haufe glitzender und schillernder Steine von ganz verschiedener Härte; Geschichte aber ist ein großer herrlicher Kristall. Hier an dieser Stelle möchte ich zur Klärung der Sache auch darauf sofort hinweisen, daß zwischen „Geschichte" und „Biographie" scharf zu unterscheiden ist. Das Ziel der Geschichtsforschung ist, das subjektive Element ganz auszuschalten und einen großen Bau von strengster Objektivität zu errichten; der Biograph dagegen muß seinen Helden nacherleben können, um ihn dann aufs neue erstehen zu lassen. Diese Aufgabe nimmt alle geistigen und seelischen Kräfte in Anspruch und ist zugleich eine künst-
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lerische; denn nur so kann das Nachschaffen gelingen. Der subjektive Charakter ist hier also nicht nur nicht ausgeschaltet, sondern gefordert; denn eine Biographie kann niemals etwas anders sein als ein Doppelbild; sie ist immer auch Selbstbiographie des Biographen. Nur eine Mehrzahl von Biographen vermag sich daher in ihrer Gesamtheit def Objektivität zu nähern. Kehren wir zur Geschichte zurück. Gibt es in ihr etwas Festes und Sicheres? Wir bejahen diese Frage unbedingt. Es gibt eine Fülle wichtigster Tatsachen, deren Wirklichkeit schlechterdings nicht bestritten werden kann. Da sind erstens die großen Ereignisse der Weltchronik, die als solche und in ihrer Aufeinanderfolge keinem Zweifel unterliegen. Von den Perserkriegen an bis zum großen Weltkrieg, den wir soeben durcherlebt haben, stehen sie in den Hauptlinien ihres Spielraumes und in ihrer Reihenfolge fest, mögen Sie an die römische Weltmonarchie, an die Völkerwanderung, an das Reich Karls des Großen, an die Reformation, den dreißigjährigen Krieg oder an viele Dutzende von gleichwertigen geschichtlichen Weltereignissen denken. Warum diese Tatsachen feststehen — Jahre und Tage mögen in gewissen Grenzen schwankend bleiben —, braucht hier nicht erörtert zu werden; Sie alle wissen, daß sie fest stehen und daß man kein Wort der Widerlegung verschwenden würde, wenn jemand behaupten wollte, es habe nie eine Völkerwanderung gegeben oder die Reformation sei im 17. Jahrhundert entstanden oder Napoleon und sein Weltreich hätten überhaupt nicht existiert. Zweitens aber besitzen wir aus allen Epochen der letzten 2500 Jahre und noch weit über sie hinaus Denkmäler. Ich verstehe Vinter Denkmäler alle noch vorhandenen Reste aus den vergangenen Epochen, mögen sie in Bauwerken, Statuen, Inschriften, Münzen, Urkunden, Handschriften usw. bestehen. Ihre Anzahl ist unermeßlich, und bei der großen Mehrzahl von ihnen ist jeder Gedanke einer Fälschung ausgeschlossen. Die ägyptischen Pyramiden kann man so wenig fälschen wie die Ruinen der großen Bauwerke von Assur und Babylon oder den
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Parthenonfries oder Dantes „Göttliche Komödie". Diese oder jene Statue, diese oder jene Münze oder Inschrift kann gefälscht sein; aber die griechische Plastik kann nicht das Werk einer mittelalterlichen Fälscherbande sein, und die vielen Hunderttausende babylonischer, persischer und römischer Inschriften müssen den Epochen angehören, aus denen sie zu stammen behaupten. Welch eine Fülle reichster Erkenntnisse aber strömt uns aus diesen Denkmälern! Was lehrt eine ägyptische Pyramide, ein griechischer Tempel mit seinen Bildwerken, ein gotischer Dom, was die Münzen und Urkunden aller Zeiten den denkenden Beschauer! Eine Kulturepoche nach der andern steigt aus ihnen auf, festumrissen in ihren Gedanken, in ihren Kräften und Zielen! Religiöses, öffentliches, wissenschaftliches und häusliches Leben, große und kleine Aktionen aller Art sind wiedererweckt, und die Vergangenheit stellt sich, wie wenn sie unvergangen wäre, der Gegenwart zur Seite! Drittens endlich besitzen wir f ü r zahlreiche hinter uns liegende Epochen bis hinauf zu dem alten babylonischen Gesetzbuch die Institutionen, die sie sich geschaffen haben. Unter Institutionen verstehe ich alles, was sich in Form von Gesetzgebungen, Rechtsbüchern, Verordnungen, Verträgen, Agenden, Liturgien, Schulordnungen, wirtschaftlichen Ordnungen usw. niedergeschlagen hat. Ich sehe in diesen Institutionen die eigentlichen Früchte der geschichtlichen Entwicklung, auf die sich daher das Studium der Geschichte in erster Linie, ja nahezu ausschließlich zu richten hat. Davon wird später noch zu reden sein; hier sei nur soviel bemerkt, daß, wenn es auch bei ihnen an Fälschungen nicht gefehlt hat und dieses oder jenes Einzelne noch heute unsicher ist, die Echtheit dieser Institutionen im großen und ganzen doch so unbestritten ist — nicht zum geringsten Teil, weil wir die Denkmäler besitzen —, daß eine Verteidigung der Echtheit sich mit Recht erübrigt. Das mag sich alles so verhalten, wendet man ein, allein es ist damit nicht viel gewonnen; denn wirkliche Erkenntnisse gibt es nur da, wo Gesetze erkannt werden. Wie
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steht es mit ihnen in der Geschichte, vermag sie Gesetze aufzustellen? Auf diese Frage muß man zunächst erwidern, daß schon die Anschauung von Tatsachen in ihrem Nebeneinander und Nacheinander ohne jedes „propter" im höchsten Maße lehrreich ist. Aus der Anschauung des Wirklichen und seines reichen Lebens strömt eine Fülle von Eindrücken, welche Seele und Geist erweiten und vertiefen. Durch das Bilderbuch bilden wir unsere Kinder, und im Bilderbuch der Geschichte setzt sich bei den Erwachsenen dieser Anschauungsunterricht fort bis zum Ende ihres Lebens. Durch nichts anderes läßt sich dieser Unterricht ersetzen. Weiter aber, das Wesen und die Bedeutung der „Gesetze" wird oft genug überschätzt. Es ist auch in den Naturwissenschaften häufig nicht so „objektiv" mit ihnen bestellt, wie manche Naturforscher heute noch träumen. Viele „Gesetze" entpuppen sich bei schärferer Kritik nur als vorläufige Abschlüsse, als mehr oder weniger fruchtbare Forschungshypothesen oder als bedingte, nicht aber als unbedingte Gesetze. Die neue Relativitätstheorie zieht selbst den Newton'schen Gesetzen Schranken: sie gelten nur f ü r einen bestimmten Raum, und dieser Theorie kommen die Nachweise Spenglers entgegen, die die Subjektivität, ja die beschränkende Willkür der verschiedenen Kulturepochen in bezug auf die Erfassung des Raums, der Größe, der Zahl und der Zeit an das Licht gestellt haben. Ferner aber entschleiern sich nicht wenige nachgewiesene Kausalbeziehungen als Tautologien, als Varianten der Aufmerksamkeit oder des sprachlichen Ausdrucks, und wenn uns manche dieser billigen Gesetze auch besser aufklären als der tiefsinnige Satz: „Weil der Wind weht, zieht es," so können sie doch nicht als wirkliche Bereicherungen unserer Erkenntnis gelten. Die „Geschichte" vermag Gesetze im strengen Sinn des Worts nicht aufzustellen; denn, wenn sie auch, wie wir später sehen werden, zeigen kann, daß unter gewissen Bedingungen notwendig ein Verfall eintreten muß und unter anderen ein Aufstieg, so wird sich diese Erkenntnis auf den tautologischen Satz zurückführen lassen, daß Kraft
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sich immer nur als Kraft geltend machen kann und Schwäche immer nur als Schwäche. Die „Geschichte" vermag aber deshalb nicht Gesetze aufzustellen, weil ihre Objekte nur selten gezählt, gemessen und gewogen werden können und weil die Faktoren, auf denen sie beruht, teils zu kompliziert, teils unberechenbar sind. Niemand hat das einleuchtender deutlich gemacht als Rümelin in einer seiner ausgezeichneten Reden. Die Faktoren der Geschichte verbieten es, weil sie zu kompliziert und unberechenbar sind, auf ihrem Gebiete Gesetze aufzustellen. Da begegnet uns zuerst der elementare Faktor; er begreift alles, was uns in verschiedener, aber unüberwindlicher Weise umgibt und anhaftet, der Boden, das Klima, die körperliche und seelische Grundbeschaffenheit, Anlage und Charakter, Hunger und Liebe, Futterplatz und Futtermenge. So mächtig ist dieser Faktor, der sich in dem „Wirtschaftlichen" zusammenfassen läßt, daß eine große Historikerschule den gesamten Gang der Geschichte einschließlich der Ideengeschichte allein von ihm aus verstehen und als Kampf um das wirtschaftliche Dasein nachkonstruieren zu können glaubt. Aber ein zweiter Faktor tritt uns entgegen; ich »Höchte ihn den kulturellen nennen. In jedem Moment der Geschichte ist die Gegenwart und ist jeder einzelne bestimmt durch das bis zu diesem Zeitpunkt angesammelte Kapital von Überlieferungen, Institutionen, Autoritäten, Erkenntnissen, Meinungen und Gewohnheiten. Der einzelne mag sich zu ihnen wie immer stellen, er bleibt doch in ihrem Bann; sie wirken mit der sanften Gewalt einer zweiten Natur; sie bestimmen schlechthin alles, ja man kann versucht sein, wie auch viele Historiker wirklich getan haben, die ganze Geschichte mit Vernachlässigung ihres elementaren Unterbaus als Geschichte der sich entfaltenden Kultur zur Darstellung zu bringen, als politische Geschichte im weitesten Sinn des Worts. Neben diese beiden Faktoren aber tritt als dritter das Individuum, nicht nur die großen, in die Geschichte ein-
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greifenden Männer, nicht nur der Genius, sondern jedes Individuum. Von diesem aber hat man richtig gesagt: „Individuum est ineffabile", d. h. es umschließt ein Element in sich, das unerschöpflich ist und jeder Erklärung spottet. Das gilt nicht nur von den menschlichen Individuen; es gilt auch von dem Individuum überhaupt und von jenen nur in besonderem Maße. Nach der eigentümlichen Anlage unseres Geistes, kraft der wir genötigt sind, durch Bildung immer umfassenderer Begriffe bis ?ur „Eins'' vorzudringen — eine Anlage, die uns neben heiler Aufklärung, die sie bietet, unzweifelhaft auch in schwere Illusionen stürzt — fällt es uns nicht schwer, alle Erscheinungen aufsteigend zu klassifizieren und nach immer stärkeren Streichungen ihrer Attribute und Eigenschaften glücklich in einem All-Einen verschwinden zu lassen, das wir je nach Zeitverhältnissen und Geschmack mit verschiedenen Namen benennen. Nun, hinauf können wir in dieser Weise wohl steigen; aber f ü r den Abstieg fehlt uns jeder Kompaß. Wie man vom All-Einen — nenne man es nun Materie, Kraft, Energie oder bezeichne man es mit einem idealen Namen — auch nur den ersten Schritt zu tun und die erste Explikation anzugeben vermag, um in langem Abstieg zu den wirklichen Dingen zu gelangen, das entzieht sich so vollkommen unserer Kenntnis, daß sogar jede Vermutung hier aufhört. Daß es Organismen gibt, Pflanzen gibt, Rosen gibt — schon dieses alles können wir nur als Tatsachen erkennen und vermögen über das Warum nichts auszusagen. Daß aber diese Rose mit dem besonderen Komplex ihrer Eigenschaften vor uns steht und schlechterdings, wenn man sie prüft, nicht ihresgleichen hat, ist vollends ein Ineffabile. Ebenso ist es unaussagbar und unerklärbar, warum eben dieses bestimmte Individuum in diesem Momente erscheint! Das gilt von den unbedeutenden Individuen nicht weniger als von den bedeutenden; aber nur bei diesen fällt es uns auf. Wann erscheint der Genius? Wann erscheint der große Mann? Man sagt uns, auch er sei nur ein Exponent seiner Zeit und der Verhältnisse und komme stets, wenn er kommen muß. Aber so gewiß auch der große
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Mann ein Kind seiner Zeit ist, so gewiß ist er größer als sie und so gewiß ist ein Erscheinen unberechenbar. Die Behauptung, er käme, wenn er kommen muß, ist ein bloßes Gerede. Wie oft ist „die Zeit erfüllt", und man erwartet ihn vergebens! Wie oft und wie heiß wird er ersehnt und er kommt nicht! Welche ungeheuren Wirkungen aber in der Geschichte hat sein Erscheinen zur Folge, die alle im voraus unberechenbar sind! Wie unmöglich ist es daher, Gesetze des Verlaufs der Geschichte aufzustellen. Zu dem allem kommt noch ein Doppeltes. Erstens das, was wir mit den rätselhaften Worten „Schicksal" und „Zufall" bezeichnen, haftet nicht nur an dem Individuum, es haftet auch an Tausenden von Vorgängen und durchkreuzt alle Berechnungen. Fast alle Anlässe, die latente Kräfte zur Wirksamkeit bringen, ungeahnte Kombinationen erzeugen und neue gewaltige Kausalreihen eröffnen, sind f ü r uns „zufällig". Der Wind oder ein spielendes Kind oder boshafte Absicht kann einen überhängenden Stein zum Fallen bringen, und dieses Fallen kann gleichgültig sein oder „zufällig" das größte Unglück anrichten. So ist es im Kleinen wie im Großen des Lebens! Mögen uns auch alle Ursachen eines Geschehens klar und deutlich sein — warum und wie es beginnt, warum sich heute die Linien kreuzen und gestern nicht, das bleibt uns in der Regel verborgen. Zweitens aber, auch in denjenigen Vorgängen, die scheinbar rein gesetzmäßige sind, wie alle die, welche von dem oben genannten elementaren Faktor abhängen, zeigt sich ein unberechenbares Element; denn das Naturhafte trifft den Menschen nicht, wie es Holz und Stein trifft, sondern als ein lebendiges und daher reagierendes Wesen, und diese Reaktionen sind bei den einzelnen ganz verschieden. Ein Erdbeben, eine Hungersnot, ein Krieg usw. hat gewiß in gewissen Grundzügen f ü r alle ein und dieselbe Wirkung; aber daneben treten hier in den einzelnen Individuen ganz verschiedene Folgen auf: der eine läßt sich entmutigen und verzweifelt, der andere aber schafft aus der Not einen Chor von Tugenden; der eine wird selbstisch und feige, der andere opferfreudig
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und mutig. So war es in den Tagen Fichtes und Schleiermachers, so in dem Weltkriege, den wir erlebt, und so ist es immer. „Die Menschen werden nicht durch die Dinge erregt," hat schon ein griechischer Philosoph gesagt, „sondern durch ihre Auffassungen von den Dingen." Das heißt doch nicht anderes, als daß jeder große Vorgang zwei Reihen von Wirkungen hervorbringt, die elementaren und die, welche im Geist und in der Seele entstehen; die letzteren sind oft genug die wichtigeren, und sie sind unberechenbar. Aber wenn es nach dem hier Ausgeführten unmöglich ist, in der Geschichte Gesetze aufzustellen, so besitzen wir doch ein ausgezeichnetes, wenn auch nicht untrügliches Mittel, um die Fülle ihrer Erscheinungen zu ordnen, transparent zu machen und zu verstehen — das ist die Analogie. Die Analogie ist eine bestimmte Art der Induktion. Man hat sie stets in der Geschichtsschreibung geübt und hochgeschätzt, aber es ist Spenglers Verdienst in seinem gedankenreichen und tiefsinnigen Werk „Der Untergang des Abendlandes" ihre Bedeutung kräftig ans Licht gestellt zu haben. Er hat als Erster in der Historik das hohe Lied von der Analogie gesungen, und zwar hat er zunächst gezeigt, welch eine frappierende Analogie zwischen allen geistigen und seelischen Erscheinungen einer gegebenen Epochc besteht, und sodann, wie analog in allen großen Perioden das Drama des Aufsteigens, der Blüte, des Verfalls und des Untergangs abläuft. Dort hat er uns belehrt, daß von der Raum-, Zeit- und Zahl-Anschauung an, aber auch vom Ornament und der Arabeske an, über die Mathematik, die Musik, die bildende Kunst, die Wissenschaft und die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens hinweg bis zur Erfassung des Ganzen in Philosophie und Religion ein und derselbe formende, gesetzgebende und symbolisierende Geist oder Stil in jeder Epoche nachweisbar ist; hier hat er uns darauf aufmerksam gemacht, daß die Stadien des Ablaufs der geschichtlichen Prozesse in überraschendster Weise und bis ins einzelne in allen Hauptperioden dieselben sind, so daß man von „Gleichzeitigkeiten" der Abschnitte entfernter Epochen sprechen
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rauß, da der Zeiger der Zeit in jeder Periode um dasselbe Zifferblatt kreist. In der Tat — wie die Kinder nahezu alles, was sie vor der Schulzeit lernen, aus der Anschauung und aus Analogieschlüssen lernen, so ist es auch bei den Erwachsenen und den Männern der Wissenschaft nicht anders. Gewiß, es sind zunächst nur Vermutungen, die sich aus den Analogieschlüssen ergeben, und wie sehr man sich bei ihnen irren kann, zeigen die raschen Schlüsse der Kinder täglich und stündlich. Aber alles Lernen besteht zu einem großen Teil aus Korrekturen der Analogieschlüsse; die Vermutungen werden durch sie immer wahrscheinlicher, und sie steigern sich zuletzt zu Vermutungs-Evidenzen. Vermutungs-Evidenzen sind es, auf denen schließlich die ganze Sicherheit unserer Lebensführung und auch alles das in der Geschichtswissenschaft beruht, was man irrtümlich als Gesetze der Geschichte bezeichnet. Aber vermag der Historiker auf Grund seiner geschichtlichen Erkenntnis zu prophezeien, vermag er Prophet der Zukunft zu sein? Niemand hat das bestimmter und stärker bestritten als Jakob Burckhardt und jede Möglichkeit, die Zukunft vorauszusagen abgelehnt, da es Gesetze in der Geschichte nicht gibt. Umgekehrt eröffnet Spengler sein Werk mit der Erklärung, die Historiker hätten bisher in blindem Unverständnis ihren Beruf verfehlt; er behauptet, die höchste, ja die eigentliche und einzige Aufgabe der Geschichtserkenntnis sei die Prophezeiung der Zukunft, und diese sei nicht nur annähernd möglich, sondern durchweg und ganz und gar. Diese überraschende These gewinnt Spengler eben aus seinen Nachweisungen über die Bedeutung der Analogie. Ich befinde mich diesen beiden gegensätzlichen Behauptungen gegenüber in der Lage, ein Urteil abgeben zu müssen, bei dem mir sonst in der Regel schwül wird: die Wahrheit liegt in der Mitte; doch muß ich Burckhardt mehr recht geben. Spengler gewinnt seine frappierende Behauptung durch eine kolossale Überschätzung der Analogie, indem er alles Ernstes der Meinung ist, daß sie, wenn man nur die einzelnen Kulturkreise richtig abgrenze, einen Irrtum über-
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haupt nicht zulasse, und indem er f ü r eine quantite negligeable hält, was er durch sie in der Geschichte nicht zu bezwingen vermag. Davon werde ich im zweiten Teile noch handeln; hier aber beschränke ich mich auf folgendes: der Historiker vermag seine Fackel und sein Senkblei nur am Steuer, nicht aber an der Spitze seines Schiffs anzubringen. Die Fackel beleuchtet nur den schon durchmessenen Weg, und das Senkblei lehrt nur die Tiefen und Untiefen kennen, über die das Schiff bereits hinweg ist. Aber wie der Schiffer in der Regel sich nicht irrt, wenn er aus den letzten Beobachtungen im Vergleich mit den früheren auf die Beschaffenheit des Weges schließt, der noch vor ihm liegt — freilich vermag eine Sandbank das Land als nahes vorzutäuschen —, so wird sich auch der Historiker bei seinen Schlüssen aus der Vergangenheit auf die Zukunft sehr oft nicht täuschen, und wie der Schiffer um so zuverlässiger in seinen Vermutungen werden wird, je erfahrener er als Seemann ist, so wird auch der Historiker um so sicherer in seiner Berechnung der Zukunft werden, je größer seine Geschichts- und Lebenserfahrung ist. Fassen wir zusammen; auf die Frage: „Hat die Historie feste Erkenntnisse zu bieten?" antworten wir: Die Historie, bis in das graue Altertum zurückschreitend, bietet f ü r die sich ablösenden Epochen eine Fülle gesicherter und bedeutender Tatsachen aus allen Zweigen des Lebens; sie vermag sie nicht nur als einzelne anschaulich und transparent zu machen, sondern auch vermittelst der Analogie zu einheitlichen Gruppen zu ordnen und ihre Abfolge durch Vermutungen und Vermutungs-Evidenzen zum Verständnis zu bringen. Aus diesen Vermutungen heraus vermag sie endlich auch in die Zukunft zu schauen; doch muß hier stets vorbehalten bleiben, wie bei der Vorhersagung des Wetters, daß sie sich irrt. Dort wie hier darf man aber um des möglichen und oft genug eintretenden Irrtums willen die Prophezeiung nicht einstellen. II. Welches ist die Erkenntnis, die die Historie zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag und welcher
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Wert kommt dieser Erkenntnis zu? Damit sind wir zur Hauptfrage gelangt. Ich knüpfe hier an das an, was ich über die Institutionen bemerkt habe. Wir studieren Geschichte letztlich, um die Institutionen kennen zu lernen. Ob es sich um Kriege, Diplomatie und Politik, ob um Kunst und Wissenschaft, ob um Kirche und Schule usw. handelt — immer muß sich unsere Geschichtsforschung darauf richten, die Ergebnisse der Entwicklungen kennen zu lernen; diese aber treten uns als Verträge, Verfassungen, Gesetzgebungen, Schullehren und -Verordnungen, Kirchenordnungen, Liturgien, Katechismen usw. entgegen. Wir gewahren aber ferner, daß schlechterdings nichts — auch der große Mann und der Genius nicht — dauernd auf die Gemeinschaft der Menschen Einfluß gewinnt, was sich nicht in Institutionen niedergeschlagen hat. Können wir eine bedeutende und erfolgreiche geschichtliche Entwicklung nicht so weit hinausführen, daß wir zu den Institutionen gelangen, die sie hervorgebracht hat, so ist diese Entwicklung entweder noch nicht abgeschlossen oder unsere Erkenntnis derselben ist noch unvollständig. So gewaltig die Wirksamkeit des einzelnen auch sein mag, und so unermeßlich der Einfluß von Person zu Person — auf die in gesellschaftlichen Gruppen sich darstellende Gesamtheit wirkt dauernd nur die formgebende, zielsetzende und autoritative Institution, die geschriebene und neben ihr auch die ungeschriebene, deutlich sich aussprechende. Diese Institutionen aber drängen von selbst dazu, sie einerseits in der Aufeinanderfolge der gleichartigen, andererseits in dem Nebeneinander der gleichzeitigen zusammenzufassen und zu studieren; hieraus ergeben sich f ü r die Geschichte Längsschnitte und Querschnitte. Alsbald zeigt sich, einfach durch die bloße Zusammenordnung, Leben und Bewegung in diesen Schnitten. Die Längsschnitte lehren uns die Richtung der Bewegung sowie die Kraft oder Schwäche, die sich hier abwechselnd geltend gemacht haben; die Querschnitte lehren uns den Charakter und den Stil, dazu die größere oder geringere Einheit in einem gegebenen Moment.
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Kein anderer Historiker hat in den letzten Jahrzehnten mit solcher Virtuosität die Kunst dieser „Schnitte" geübt und sie so tiefsinnig gedeutet wie Spengler, aber auch kein anderer hat sich bei diesen Schnitten so stark vergriffen. Zwar in seinen Querschnitten und in ihrer Deutung hat er Ausgezeichnetes geleistet und den Charakter und Stil einzelner Epochen in ihrer Einheitlichkeit meisterhaft zum Ausdruck gebracht, wenn es auch hier an Gewaltsamkeiten nicht fehlt und der Schnitt sich öfters von der geraden Linie allzuweit entfernt und eine Zickzacklinie darstellt. Aber seine Längsschnitte sind zu einem großen Teile willkürlich, ja unbegreiflich. Ein Beispiel: Spengler läßt mit dem Auftreten des Christentums eine neue Hauptperiode beginnen; diese soll sich aber vom 7. Jahrhundert an nicht mehr im Christentum, sondern im Islam fortsetzen. Dagegen soll um das Jahr 1000 eine ganz neue Hauptperiode in Westeuropa anfangen — die Periode, in deren Verfall und Untergang wir jetzt stehen —, f ü r welche das alte Christentum nur noch ein fortgeschleppter Ballast ist oder eine Hülle, unter deren Decke sich das Alte vollkommen transformiert hat. Daß mindestens f ü r die erste Hälfte dieser Zeit der Kirchenvater Augustin der große Lehrer gewesen und daß andererseits in der Mitte dieser Periode neue Kräfte sich geltend gemacht haben, sieht Spengler nicht. Dagegen sieht er im Islam die eigentliche Fortsetzung des Christentums, was nicht einmal f ü r den Orient, obgleich er dort der Kulturträger wird, richtig ist; denn diese Kultur ist überhaupt keine selbständige, sondern die persisch-griechische. Den Gegenbeweis — Spengler hat einen Beweis hier zu geben nicht einmal versucht — kann man ruhig abwarten. Doch kehren wir zur Sache zurück. Die Längs- und Querschnitte bringen uns die Deutung der Geschichte auf der ersten Stufe. Die Längsschnitte, sagten wir, lehren uns die Richtung und die Kraft erkennen; damit aber ist Außerordentliches gewonnen; denn das ist die entscheidende Frage, in welcher Richtung man sich bewegte und welche Kraft man eingesetzt hat. Man hüte sich, vorschnell in der Geschichte nach „Richtig oder Unrichtig",
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„ W a h r oder Falsch" zu fragen, sondern man suche vor allem nach der Richtung. Die Platonische Philosophie ζ. B. oder die katholische Theologie mag in vielen oder in allen Punkten falsch sein, aber in ihrer Richtung, verglichen mit dem, was vor ihr war, besitzt sie einen unvergänglichen Wert. Blickt man überall bei geschichtlichen Entwicklungen, seien es nun politische, wissenschaftliche, künstlerische, religiöse usw., auf die Richtung, so wird nicht nur die tote Aufeinanderfolge der Erscheinungen lebendig, sondern auch deutbar und verständlich, zumal wenn man zugleich ins Auge faßt, mit welcher Kräftigkeit eine Erscheinung sich den Widerständen gegenüber geltend gemacht und wo und warum eine Richtung sich verändert hat. Es kann einfach die Zeit sein, die sie verändert, ja sie ist an und f ü r sich der stärkste Faktor in allen Richtungsveränderungen; denn alles einzelne lebt nur in seinen Verhältnissen zu anderen, Verhältnisse aber sind dem stetigen Wechsel der Zeit unterworfen. W i e sich das Verhältnis des Kindes zum Vater immerfort ändert und zuletzt der alternde Sohn dem greisen Vater ganz nahe kommt, so ist es auch in dem Verhältnis der nebeneinander wirkenden Institutionen. Darf ich einen mathematischen Vergleich einschieben: Bezeichnen wir das ursprüngliche Verhältnis zweier Größen durch a : b und nennen den Faktor der Zeit n, so erhalten wir den neuen Quotienten a -}- η : b + η. Man sieht sofort, daß, auch wenn der erste Bruch ein sehr kleiner ist, der zweite der Eins nahe kommen kann, wenn η nur genügend groß ist. Eben dies aber beobachten wir in der Geschichte fort und f o r t : Die Institutionen verschieben sich in ihren Richtungsverhältnissen einfach deshalb, weil sie nicht gleich alt sind und daraus entstehen ohne jedes Zutun Konflikte. Neben diesen Verschiebungen aber gewahren wir an vielen Stellen Richtungsänderungen, die durch Personen verursacht sind, die mit gewaltiger Kraft gewirkt haben. O f t war dabei ganz deutlich die neue Richtung in der Vergangenheit schon vorbereitet, aber es fehlte ihr lange Zeit hindurch an der Kraft, sich durchzusetzen. Die Geschichte zeigt uns also deutlich in ihren Längsschnitten, wieviel auf die Kraft
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ankommt; sie ist in ihrer Bedeutung der Richtung ebenbürtig, denn Richtungen bleiben stecken, wenn ihnen die Kraft nicht zu Hilfe kommt. Der epochemachende Mann ist immer, ja manchmal nur, der kräftige Mann. Die Querschnitte aber, indem sie uns auf Charakter und Stil einer Epoche aufmerksam machen, rufen die Eigenart der Epochen zurück und lassen das scheinbar Getrennte, Disparate und Zufällige als die Darstellung einer großen Einheit erscheinen. Griechische Staatsverfassung, griechische Mathematik, griechische Plastik, griechische Religion und Philosophie gehören zusammen, und ebenso gehören gotische Dome, mittelalterliche Scholastik, mittelalterliche Verfassung zusammen. Aus dem überschauten Reichtum des Vielen und Einzelnen heraus entwickelt sich der Sinn f ü r die Erfassung des intensiven Reichtums des Charakters und Stilgedankens einer Epoche; er kann deutlich erfaßt und beschrieben werden. Welch eine Erkenntnis! Zugleich aber wird der Sinn erweckt, diese Einheit zu vermissen, wo sie noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist, und auf die Zersetzung und Verfall des Charakters und Stils zu achten. Somit bietet die Geschichtswissenschaft bereits auf der ersten Stufe ihrer kritisch-beschauenden Tätigkeit Großes zur Deutung des Weltgeschehens. Durch ihre Längs- und Querschnitte lehrt sie die Richtungen und Richtungsänderungen zu erkennen, Leben und Stillstand, Kraft und Schwäche zu unterscheiden und den Charakter und Stil der Epochen zu würdigen. Gehen wir einen Schritt weiter: Alle Institutionen stammen aus Ideen; dieser Satz gilt auch dort, wo es sich um rein wirtschaftliche Institutionen handelt. Es ist ganz undenkbar, daß jemals zwischen Himmel und Erde eine Institution getroffen worden ist, die nicht schon vorher als Idee da war. Also ist zwar alle Geschichte Institutionen-Geschichte; aber hinter dieser ruhen die Ideen und die Ideen-Geschichte. Daher: So gewiß alles, was bloße Ideologie ist und es noch nicht zu Institutionen gebracht hat, noch nicht Geschichte ist, so gewiß ist alle Institutionen-Geschichte noch nicht durchschaut, wenn die frei-
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benden Ideen nicht erkannt sind; die Ideen aber sind Geist. Damit sind wir auf den Geist geführt, und es ergibt sich nun, daß alle Geschichte Geistesgeschichte ist und ein inneres Geschehen zur Voraussetzung hat; der Geist aber ist Einer. Wie viel oder wie wenig wir von ihm besitzen mögen — es ist immer ein und derselbe Geist, der in allen Hervorbringungen der Geschichte und in uns waltet. Damit sind wir aber aus dem ungeheuren Leben der Geschichte auf uns selbst zurückgeführt, oder vielmehr, eine tiefe Einheit zwischen allem Geschehen und dem Wesen unseres eigenen höheren Lebens ist aufgedeckt. Man kann also den alten Satz: „Homo sum, nil humanum a me alienum puto", auch so aussprechen: „Homo sum, nil historicum a me alienum puto", ja selbst dies ist noch zu wenig gesagt: Alles, was da in der Geschichte vorgegangen ist und vorgeht, das bist du selbst, und es kommt nur darauf an, daß du es mit Bewußtsein ergreifst. Darum ist uns alles, was in der Geschichte geschieht, nicht nur viel verständlicher als die Natur und ihre Vorgänge, sondern es kann auch geradezu unser inneres Eigentum werden und vollkommen mit unserem höhern Eigenleben verschmelzen. Daher dürfen wir es auch mit unserem eigenen Erleben und unserer Lebenserfahrung durchleuchten, dessen gewiß, daß wir es aus diesem heraus in steigendem Maße verstehen werden, weil der Geist sich dem Geiste entschleiert. Das ist die Deutung der Geschichte auf der zweiten Stufe. Gestatten Sie mir hier einen Exkurs. Im Lichte dessen, was wir soeben ausgeführt — wie unsäglich kümmerlich erscheint da die heute so oft ausgegebene Parole, man könne aus der Geschichte nichts lernen und müsse sich daher auf das eigene persönliche Erleben zurückziehen oder, wie die noch Leichtfertigeren sagen, man sei auf der Welt, um sich „auszuleben". Nein, das Umgekehrte gilt: Man muß mit Faust sein Ich zum Ich der ganzen Welt erweitern. Dies geschieht, ich rede kühnlich, indem man in edlem Hunger das ganze Weltgeschehen und alle die großen und guten Persönlichkeiten der Geschichte in sich aufnimmt und zu Eingeweiden seines eigenen Wesens
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macht. „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunklen unerfahren, mag vom Tag zum Tage leben." Nicht nur der Mensch, der spekuliert, „ist wie ein Tier auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und um ihn her ist fette, grüne Weide," sondern noch mehr der Mensch, der sich auf das eigene Erleben beschränken will. Bei diesem Karusselfahren um das eigene Ich mag man sich ebenso eine genußreiche Reise vorspiegeln wie das Kind auf dem kreisenden Holzpferdchen; aber man sieht nichts Neues und kommt nicht vom Fleck. Dagegen sich durch die Geschichte innerlich zu erweitern, das gehört nicht nur zur Bildung, sondern das ist Bildung, und harmonisch schließt sich diese Bildung an das Innenleben unseres Geistes an. Bettelarm und gebunden bleiben wir, wenn wir uns auf uns selbst beschränken; reich und freier werden wir, wenn wir in jede Tür der Geschichte eintreten und uns in ihren weiten Räumen heimisch machen. Die Erkenntnis aber, daß die Geschichte als Institutionen-Geschichte Ideen-Geschichte ist, klärt uns ferner über ein Problem auf, das häufig falsch gedeutet wird. Mit einem scheinbaren Recht stellt man oft „Institution" und „Leben" scharf sich gegenüber und erklärt nun, eben deshalb müsse man sich von der Geschichte befreien, weil sie durch ihre Institutionen die Selbständigkeit und Frische des Lebens lähme; die Institutionen seien der eigentliche Feind der Ideen und des Lebens, und man werde ihrer nur Herr, wenn man sie ignoriere oder bekämpfe. Richtig ist hier, daß Ideen und Institutionen in einem fortwährenden Kampfe stehen; allein sie stehen nicht deshalb in diesem Kampfe, weil sie etwas Gegensätzliches sind — die Idee etwas Lebendiges und die Institutionen etwas Totes —, sondern deshalb, weil keine Idee restlos in einer Institution aufgehen kann, und ferner weil jede Institution die Eigentümlichkeit besitzt, sich auch dann noch zu behaupten, wenn sie ihr Existenzrecht schon eingebüßt hat. Es muß daher fortwährend ein Kampf herrschen zwischen den Ideen und einem Teil der Institutionen, und berechtigt ist somit die Abkehr von der
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Geschichte, wenn diese Abkehr dem Veralteten gilt; allein das ändert nichts an der Tatsache, daß die Institutionen an den Ideen ihren Ursprung haben und aus dem Geiste sind. Auch kann man Veraltetes nicht dadurch bekämpfen, daß man es ignoriert und der Geschichte den Rücken kehrt, eondern nur dadurch, daß man es aus der richtig verstandenen Geschichte heraus vernichtet. Über den beiden Stufen der Deutung der Geschichte, die wir kennen gelernt haben, erhebt sich noch eine dritte, auf der das Verständnis des Weltgeschehens erst seine Vollendung empfängt. Diese Stufe ist aber zur Zeit noch immer sehr umstritten: Es handelt sich darum, ob man der Geschichte selbst einen Wertmaßstab f ü r ihre Hervorbringungen entnehmen kann, oder ob man als Historiker auf jede Wertschätzung verzichten muß d. h. nur das Sein in bezug auf die Geschichte feststellen Ttann, aber nicht das Sollen. Eine große Schule behauptet es und sieht in den Wertschätzungen ein unreinliches Geschäft, da die Geschichtswissenschaft selbst nur Tatsächliches zu konstatieren imstande sei. Man könnte zunächst gegen diesen Standpunkt eiwenden, daß, solange es Geschichtsschreiber gibt — und auch heute ist es nicht anders —, noch kein großes Geschichtswerk erschienen ist, in welchem sich der Verfasser jedes Werturteils enthalten hat. Dieses Argument ist aber nicht hinreichend beweiskräftig, da die Schwäche der Historiker daran schuld sein könnte. Nein, die Sache selbst, d. h. die Längs- und Querschnitte in der Geschichte, geben einen Wertmaßstab an die Hand, freilich nur unter einer Voraussetzung, nämlich der, daß das Leben etwas schlechthin Wertvolles sei. Wer sich auf den Standpunkt stellt, daß alles, was entsteht, wert sei, daß es zu Grunde geht, mit dem läßt sich hier nicht rechten; aber dieses Wort stammt bekanntlich vom Teufel. Wer es aber zurückweist, der hat an der Erhaltung und Förderung des Lebens einen Maßstab, an dem er die Vorgänge der Geschichte zu messen und zu werten vermag. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht um das körperliche Leben des ein-
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zelnen handeln, sondern um das höhere geistige Leben des Ganzen, zumal da letztlich von diesem auch das körperliche Leben des einzelnen abhängig ist; denn der Mensch ist ein „politisches Wesen". Legt man nun diesen Maßstab an, so ist offenbar, daß die Richtung auf die Erhaltung und Förderung des Lebens richtig ist und die entgegengesetzte falsch, ferner daß Kraft wertvoll ist und Schwäche verderblich, endlich daß Einheit in Charakter und Stil ein Gut ist und Zerfahrenheit ein Übel. Hier haben wir den Maßstab f ü r die wertende Deutung des Weltgeschehens, ohne bei der Religion Anleihen machen zu müssen. Weil unter gewissen Bedingungen alles zersplittert und wir selbst stückweise zerfallen, unter anderen aber das Leben erhalten wird, darum ist das eine schlecht und das andere gut. Um welche Bedingungen aber es sich hier handelt, das predigt die Geschichte unverkennbar deutlich: Lebenerhaltend ist allein die Richtung und Kraft, die den Menschen und die Menschheit „von der Gewalt befreit, die alle Wesen bindet", oder, wie es in der Bibel heißt: „vom Dienst des vergänglichen Wesens", also von der Knechtschaft des Naturhaften und des eigenen empirischen Ichs. Lebenzerstörend aber — nicht nur das Leben des Ganzen, sondern schließlich auch des einzelnen —, ist die Richtung, welche das sinnliche Wohlergehen des einzelnen, damit aber auch den Kampf aller gegen alle, zum Mittelpunkt erhebt.: Keinen Satz bestätigt die Geschichte in ihrem Verlaufe sicherer als das Wort Jesu, daß der, welcher nur sein Leben erhalten will, es verliert. Das Weltgeschehen zeigt, daß hinter der Richtung, welche kraftvoll über das Naturhafte und Egoistische aufstrebt, das Chaos liegt und der Tod. Zu dieser kraftvollen Richtung gehört aber auch, daß sie sich nach allen Seiten zur Einheit ausgestaltet. Sie darf nicht nur eine schmale Linie bleiben, sondern sie muß, alles durchdringend und nach allen Seiten vordringend, Charakter und Stil werden und sich als Organismus auswirken. Das ist Kultur, die als solche gar nicht bestehen kann, wenn sie nicht das Naturhafte sich unter-
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werfend, fortwährend und alles erfassend tätig ist. Entflieht ihr das rastlose Streben, der nie ruhende Aufstieg und der Drang nach Einheit, so beginnt sie alsbald in bloßer Zivilisation zu erstarren, womit sofort der Zerfall absterbender Glieder einsetzt, bis die Barbarei eintritt, die um so abschreckender ist, je zahlreicher die Larven und Grimassen sind, in die sie die hohen Güter besserer Tage verwandelt hat. Jede von dem Naturhaften aufsteigende Richtung, jede Kraft, jedes Ringen nach Einheit und Stil trägt seinen Lohn in sich selbst — die Erhaltung des Lebens. Und jede absteigende Richtung, jede Schwäche, jede Charakterund Stillosigkeit trägt ihre Strafe in sich selbst — die Zersetzung, den Zerfall. Das hat zuerst Augustin aus der Weltgeschichte gelernt und diese Erkenntnis mit Menschen· und mit Engelzungen gepredigt — er, der erste wahrhaftige und große Deuter des Weltgeschehens. Er aber ist es auch gewesen, der, hellen Auges und mutig, in der christlichen Wissenschaft den Begriff des Lebens in den Mittelpunkt gerückt hat: alles Sein und Leben, wenn es nicht ein Schein-sein und Schein-leben ist, ist gut, er nennt es Gottes Werk. Man verdankt ihm noch mehr: Er hat mit überzeugender Klarheit erkannt, daß alles menschliche Streben und Tun ausschließlich und allein von der Liebe abhängt, entweder von der Liebe zu sich selber und dem Naturhaften oder von einer anderen, höhern Liebe. „Faciunt malos vel bonos mores mali vel boni amores." Er hat aber niemals gezweifelt, daß diese andere, höhere Liebe die Gottesliebe sei, die der Schöpfer tief in die Menschenbrust eingesenkt habe: „Du hast uns zu dir hin geschaffen." So weit kann die Geschichtserkenntnis, wenn sie sich reinlich auf ihr Gebiet beschränkt, nicht gelangen; aber sie kommt schließlich doch dieser Erkenntnis sehr nahe; denn nach dem Ausgeführten konstatiert sie die paradoxe Tatsache, daß alles wertvolle Geschehen in der Geschichte von dem mächtigen Drang zu einem höheren Aufstieg über das Naturhafte — bis zur freudigen Preisgabe des eigenen empirischen Lebens — und von der Wertschätzung eines rätselvollen ,,Gan-
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5. Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens (1920)
969
zen" und „Einen" bestimmt ist, das mit leidenschaftlichem Wollen erfaßt wird. Es ist kein Zweifel — die Menschheit arbeitet in der Geschichte, „als ob Gott existiere", als ob sie, von einem höheren Ursprung herstammend, diesen in zielstrebendem Wirken wieder erreichen müßte, dabei alle ihre Glieder zu einer Einheit zusammenschließend. Die Religion ist es, die dieses Streben als Gottes- und Nächstenliebe deutet. An dem Empirischen gemessen, ist dieses Streben vollkommen irrational, ein begeisterter hoher Drang zu etwas, was man nicht sieht noch hört und sich als mächtiges und beglückendes Lebensgefühl geltend macht. Und zur Erkenntnis dieser großen Triebfeder der höheren Geschichtsbewegung tritt noch von einer anderen Seite eine ergänzende Beobachtung. Wir haben im Eingang des Vortrage bemerkt, daß man von der „Geschichte" die „Biographie" als eine besondere Aufgabe unterscheiden müsse. In bezug auf die Biographie aber ist zu sagen, daß das Wichtigste, was sie leistet, die Ehrfurcht vor großen und guten Personen ist, die sie in uns hervorruft. Indem sie uns Menschen kennen lehrt, die höher stehen als wir, deren Erkenntnis tiefer, deren Absichten reiner und deren Streben kraftvoller war, schließt sie uns durch ein geheimnisvolles Band mit ihnen zusammen, hebt uns zu ihnen empor und erfüllt uns zugleich ihnen gegenüber mit dem erhabenen Gefühl der Ehrfurcht. Wie aber der begeisterte Drang zum „Ganzen-Einen" irrational ist, weil höher als alle Vernunft, so ist auch diese Ehrfurcht irrational; aber nicht nur hierin treffen sie sich, sondern auch in der Kraft, die beide besitzen, uns ganz zu erfüllen, zu (reinigen und zu stärken. „Das Beste in der Geschichte," sagt Goethe, „ist der Enthusiasmus, den sie erregt." Dies Wort ist wahr, wenn unter Enthusiasmus das verstanden wird, was wir als leidenschaftlichen Drang zum Ganzen und als Ehrfurcht vor der persönlichen Erscheinung des Großen und Guten skizziert haben. Sieht man aber genauer zu, so sind es in der Geschichte nur wenige Hände, aus denen die ganze Menschheit als werdende Einheit unvergängliche Gaben empfangen hat; aber jedem von uns
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VII. Zur Theorie der Geschichte
[193]
ist auf seinem Lebenswege ein Höherer, Reinerer, Kräftigerer begegnet, an dem er sich aufgerichtet hat. Was die Geschichte zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten vermag, haben wir festzustellen versucht; es erübrigt sich noch auf einige Fragen kurz einzugehen, die nahe mit dem Ausgeführten zusammenhängen: Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte? Viele ernste Beobachter leugnen ihn, und Spengler glaubt sogar den Beweis gegen ihn erbracht zu haben; denn nach ihm sind die Kulturen in sich geschlossene große Kugeln oder Blasen, die langsam aufsteigen, ein Maximum der Ausdehnung erreichen und dann langsam zusammenschrumpfen und vergehen. Jede ist eine Größe f ü r sich, ohne Zusammenhang mit der vorhergehenden und nachfolgenden; keiner kommt ein größerer Wahrheitsgehalt vor der anderen zu; denn die „Wahrheit" ist überhaupt etwas Erträumtes, Unerreichbares, und keine besitzt ein Höheres über der anderen; denn die Menschheit bleibt immer dieselbe, und es gibt f ü r sie kein Höheres oder Niederes. Allein, abgesehen von den Widersprüchen, in die sich Spengler verwickelt, und ohne auf die philosophische Grundfrage hier einzugehen, ist ein Doppeltes gegen ihn geltend zu machen. Erstlich ist es tatsächlich unrichtig, die Kulturen wie Perlen aufzufassen, die ohne Zusammenhang nebeneinander stehen, vielmehr quillt eine Kultur aus der anderen hervor und arbeitet mit einem großen Kapital, das sie aus der Kultur empfangen hat, die sie ablöst. Sie transformiert dieses Kapital in wundersamster Weise, aber sie wäre ohne dasselbe überhaupt nicht. Sodann läßt sich an einer Größe unzweifelhaft ein Fortschritt durch die Kulturen hindurch nachweisen, nämlich an der Wissenschaft als Naturerkenntnis und -beherrschung. Zwar will Spengler auch dies leugnen, aber umgeht im Grunde das Problem, statt deutlich Rede und Antwort zu stehen. Ist aber auf einer Linie der Fortschritt nicht zu verkennen, weil es unleugbar ist, daß von den Tagen der Ägypter und Babylonier her an dem großen Bau der Wissenschaft, der in allem Wechsel der Kulturen sich als einheitlicher darstellt, fortschreitend gearbeitet worden ist, so ist die entsetzliche
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5. Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens (1920)
971
Vorstellung abgetan, daß in der Geschichte ein nichtswürdiger Kreislauf des Denkens und des Strebens den anderen ablöst, so daß alle Hoffnung sich auf die trostlose Aussicht reduziert, die heute zerplatzende Seifenblase werde nicht die letzte sein. Gibt es einen fortwährenden Fortschritt in der Geschichte? Gewiß nicht; wir beobachten vielmehr schwere Rückschritte, wenn sie auch manchmal nur scheinbare sind oder sich nachträglich als Anläufe zu einem weiteren Fortschritt offenbaren. Kann der Fortschritt ganz aufhören und die Menschheit wieder — über die Barbarei — auf die Naturstufe zurücksinken? Die Geschichte vermag diese Frage nicht zu beantworten. Ist die Weltgeschichte das Weltgericht? Im einzelnen und kleinen ist die Frage zu verneinen, im großen ist sie nach dem, was wir ausgeführt haben, zu bejahen; denn falsche Richtung, Schwäche und Zerfahrenheit führen sicher zum Verfall und Untergang, Aufwärtsstreben aber, Kraft und Einheit zur Sicherung des Lebens. Aber in bezug auf die Deutung und Wertung von Zeitereignissen muß sich der Historiker große Zurückhaltung auferlegen — nicht nur, weil „Gott nicht jeden Tag die Zeche macht," sondern auch vor allem deshalb, weil der Historiker selbst in der Regel von den Zeitereignissen zu sehr affiziert ist, um unparteiisch sein zu können, und weil wir oft genug nicht klar zu erkennen vermögen, ob eine Kraft, weil sie abstirbt, nicht schon zum Hemmnis geworden ist, und umgekehrt, ob ein aufstrebendes Neues bereits keine gefährliche Rebellion bedeutet, sondern als Befreiung und Erlösung zu begrüßen ist. Gereifte Lebenserfahrung vermag hier viel, ähnlich wie beim Prophezeien; aber vor Irrtümern ist sie auch nicht geschützt. — Die letzte Frage endlich: Wirkt die Beschäftigung mit der Geschichte nicht quietistisch, lähmt sie nicht das frische Handeln und Leben? Mit Nietzsche behaupten das heute viele und wenden sich von der Geschichte ab. Aber wer den hohen Orgelton des Weltgeschehens, wie er durch drei Jahrtau-
972
VII. Zur Theorie der Geschichte
[195]
sende rauscht, nicht vernehmen will, der muß am Glockenzug der Minute stehen, und das ist ein schlechter Tausch. Lähmend wirkt die Geschichte nur dann, wenn man ihren tiefsten Inhalt nicht auf sich wirken läßt. Dieser ist wie wir gesehen haben, in der aufwärtsstrebenden Richtung, in der Kraftentwicklung, in dem Streben nach Einheit und in ihren großen und guten Personen gegeben. Diese Mächte aber haben das eingeborene Vermögen, uns in sie hineinzuziehen und mit Leben zu erfüllen. Wahrlich: „Alles verstehen und alles verzeihen", ist nicht das letzte Wort der Geschichte, sondern ihr letztes Wort ist der begeisternde Antrieb, sich in die Reihe der Helden zu stellen und in ihrer Nachfolge und mit ihnen zu wirken. „Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt." Wie also sollte die Geschichte lahmen? Nein, aus triebseligen und trübseligen Menschen will sie reine und hochgemutete schaffen, und noch mehr: im Blick auf die großen und guten Personen, die in die Geschichte eingegriffen haben, lernen wir, daß wir nicht völlig hilflos einem ehernen Geschick gegenüber stehen, sondern daß der wichtigste Teil unseres Schicksals in unsere eigene Hand gelegt ist. Bekennt euch also zum amor fati d. h. nehmt das Geschick hochgemutet hin und schafft es um!
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Theologische Realenzyklopädie
Studienausgabe Teil I Bände 1 (Aaron) — 17 (Katechismuspredigt) und Registerband In Gemeinschaft mit H o r s t Robert Balz, James K. C a m e r o n , Wilfried Härle, Stuart G. Hall, Brian L. Hebblethwaite, Richard Hentschke, Wolfgang Janke, Hans-Joachim Klimkeit, Joachim Mehlhausen, K n u t Schäferdiek, H e n n i n g Schröer, G o t t f r i e d Seebaß, Clemens T h o m a herausgegeben von G e r h a r d Müller 20,5 χ 13,5 cm. 17 Bände, 1 Index-Band. Etwa 800 Seiten je Band. Kartoniert D M 1 . 2 0 0 , - ISBN 3-11-013898-0 (de Gruyter Studienbuch) Die T R E - S t u d i e n a u s g a b e Teil I u m f a ß t die Bände 1 bis 17 der T H E O L O G I S C H E N R E A L E N Z Y K L O P Ä D I E . Erschlossen wird die Studienausgabe d u r c h einen entsprechenden Registerband, der auch E r w ä h n u n g e n der Stichworte nachweist, die alphabetisch nach den L e m m a t a „ A a r o n " bis „Katechismuspredigt" angesiedelt sind (ζ. B. Zwingli). Die T R E Studienausgabe Teil I ist damit schon jetzt ein vollwertiges Arbeitsmittel f ü r jeden Theologen. U m weitesten Kreisen die T R E zugänglich zu machen, wird die Studienausgabe zu einem wirklich günstigen Preis angeboten: D M 1.200,— für 17 Bände plus Register.* D a s sind über 13 000 Seiten solidester wissenschaftlich-theologischer F o r s c h u n g . Selbstverständlich wird die T R E - S t u d i e n a u s g a b e zu einem späteren Zeitpunkt eine entsprechende Fortsetzung finden. In etwa sieben bis acht Jahren wird es von Seiten des Verlages ein analoges Angebot geben. * D i e B ä n d e der S t u d i e n a u s g a b e e n t s p r e c h e n im G r u n d s a t z d e n e n der O r i g i n a l a u s g a b e , bei allerdings v e r k l e i n e r t e m Satzspiegel. A u ß e r d e m m u ß t e a u s K o s t e n g r ü n d e n auf Tafeln u n d F a l t k a r t e n verzichtet w e r d e n .
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NEUER WETTSTEIN Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus Band II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse Herausgegeben von Georg Streckert und Udo Schnelle unter Mitarbeit von Gerald Seelig 23,0 X 15,5 cm. Etwa 1.700 Seiten in zwei Teilbänden. 1996. Ganzleinen etwa DM 4 8 0 , - / öS 3.744,- / sFr 4 5 5 , - ISBN 3-11-014507-3 Auf der Basis des Quellenteils von J . J . Wettstein (Hg.), Novum Testamentum Graecum, Amsterdam 1751/52, bietet der II. Band des NEUEN WETTSTEIN ca. 3.600 Vergleichstexte zur ntl. Briefliteratur und zur Johannesapokalypse. Neben den wichtigsten bereits von Wettstein angeführten Parallelen wurden zahlreiche weitere Texte aufgenommen. Alle Vergleichstexte werden in der Regel ausführlich und in ihren Kontext eingebettet in deutscher Sprache zitiert. Die zentralen Parallelen sind jeweils im griechischen bzw. lateinischen Originaltext beigefügt. Als Textbasis dienen anerkannte neuere Ausgaben, so daß die Stellenangaben für den Benutzer leicht auffindbar sind. Jedem Text geht eine kurze Einleitung voran, die den Kontext des Textabschnitts verdeutlicht. Schließlich stehen dem Leser Anmerkungen zur Verfügung, die ihm das Verständnis des zitierten Textes erleichtern. Den Abschluß des Bandes bilden ein ausführliches Verzeichnis der zitierten lateinischen und griechischen Autoren samt ihrer Werke, ein Stellenregister sowie ein Begriffs- und Sachregister. Band I des NEUEN WETTSTEIN (Evangelien und Apostelgeschichte) wird am Corpus Hellenisticum in Halle erarbeitet und in etwa 4 Jahren erscheinen.
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Kurt Nowak Mit einem bibliographischen Anhang von Hanns-Christoph Picker
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Adolf von Harnack als Zeitgenosse Teil 2 Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker
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Einheitsaufhahme
Harnack, Adolf von: Adolf von Harnack als Zeitgenosse : Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik / hrsg. und eingeleitet von Kurt Nowak. Mit einem bibliogr. Anh. von HannsChristoph Picker. - Berlin ; New York : de Gruyter. ISBN 3 - 1 1 - 0 1 3 7 9 9 - 2 NE: Nowak, Kurt [Hrsg.] Teil 2. Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker. - 1996 © Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co, D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhaltsverzeichnis
Teil 2 Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker I.
Wissenschaft als Großbetrieb 1. Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. (1890) 2. Die Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften (1900) . . 3. Vom Großbetrieb der Wissenschaft. (1905) 4. Ansprache bei der Übernahme der Generalverwaltung der Königlichen Bibliothek. (1905) 5. Zur Kaiserlichen Botschaft vom 11. Okt. 1910: Begründung von Forschungsinstituten (1909/1910/1911)) 6. Rede, gehalten bei der Einweihung der neuen Königlichen Bibliothek am 22. März 1914: Die Geschichte der Kgl. Bibliothek 7. Die deutsche Universität Dorpat, ihre Leistungen und ihr Untergang. (1915) 8. Bericht über die Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte (1891-1915) (1916) 9. Über die Zukunft des Orientalischen Seminars, den Plan einer Auslandshochschule und die Teilung der Berliner Philosophischen Fakultät. (1913/17) 10. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1922. (1923) 11. Die Krisis der deutschen Wissenschaft. (1922) - Offener Brief an Viscount Haidane. (1922) - Anhang. (1923) 12. Bericht über die Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte (1916-1926) (1927) 13. Ansprache bei der Einweihung des Harnack-Hauses der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. (1929) . .
976 983 1009 1020 1025 1051 1064 1077
1086 1105 1115 1127 1135
II. Bildungspolitik 1. Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens (1902) 1142 2. Die Notwendigkeit der Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit (1904) 1171
VI
I nhaltsverzeichnis 3. Die Beziehungen zwischen Universität und Schule in bezug auf den Unterricht in Geschichte und Religion (1907) - Anhang: Zur Behandlung der Römischen Kaisergeschichte auf der Schule (1902) 4. Die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preussen nebst einem Anhang (1908) 5. Was verdankt unsere Kultur den Kirchenvätern? (1910) 6. Die Bedeutung geistiger Werte für Arbeit und Wirtschaft. (1927)
1189 1215 1233 1255
III. Sozialengagement 1. Der Evangelisch-soziale Kongress zu Berlin (1890) 2. Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte der Kirche (1894) 3. Carnegies Schrift über die Pflicht der Reichen. (1903) 4. Das Urchristentum und die sozialen Fragen (1908) - Anhang: Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung (1905) 5. Die Nachlaßsteuer vom sozialethischen Gesichtspunkt. (1909) . . . 6. Eröffnungsrede beim 21. Evangelisch-Sozialen Kongreß zu Chemnitz am 18. Mai 1910 7. Der proletarische Charakter des Urchristentums. Offenes Antwortschreiben an Herrn Dr. Max Maurenbrecher. (1910) 8. Kann das deutsche Volk gerettet werden? Die Erneuerung der Arbeitsfähigkeit und öffentlichen Sittlichkeit. (1925) 9. Rückblick auf den Evangelisch-Sozialen Kongreß. (1927)
1270 1287 1340
1345 1371 1381 1387 1395 1403
IV. Zwischen M a c h t p o l i t i k u n d Friedensethik 1. 2. 3. 4.
Deutschland und England. (1909) Der Friede die Frucht des Geistes. (1911) Offner Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze. (1912) . . . . Rede zur „Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung" (11. August 1914 im Berliner Rathaus) 5. Ein Schreiben von elf englischen Theologen. - Meine Antwort auf den vorstehenden Brief. (1914) 6. Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen. Rede am 29. September 1914 in Berlin gehalten 7. „Der Abschied von der weißen Weste." (1916) 8. An der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. Rede am 1. August 1916 in Berlin gehalten 9. Friedensaufgaben und Friedensarbeit. Eine Denkschrift im Sommer 1916 dem Reichskanzler auf Ersuchen eingereicht. (1916/1923) . 10. Das Gebot der Stunde. Eine Denkschrift im Juni 1917 dem Reichskanzler eingereicht. (1917/1923)
1410 1417 1424 1428 1435 1445 1465 1473 1491 1510
Inhaltsverzeichnis 11. Offener Brief an Herrn Clemenceau. (1919) 12. Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet. (1919) 13. Deutschland und der Friede Europas. (1922)
VII 1515 1518 1522
V. W e g - u n d Zeitgenossen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Theodor Mommsen. (1903) 1530 Friedrich Paulsen. Zum sechzigsten Geburtstag (16. Juli 1906) . . . 1540 Oskar von Gebhardt. (1906) 1544 Bismarck. Zum Gedächtnis seines Todestages. (1908) 1547 Albrecht Ritschi. Rede zum hundertsten Geburtstag am 30. April 1922 in Bonn gehalten 1553 Ernst Troeltsch. Rede gehalten bei der Trauerfeier am 3. Februar 192 3 1572 Nathan Söderblom. (1926) 1580 Karl Holl. Rede bei der Gedächtnisfeier der Universität Berlin am 12. Juni 1926 1581 Martin Rade. (1927) 1595 Bibliographischer A n h a n g
Nachweis der Drucke (Hanns-Christoph Picker unter Mitarbeit von Martin Koenitz)
1601
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks (Hanns-Christoph Picker)
1655
Inhalt Teil 1 Vorwort
VII Historische Einführung
I.
Adolf von Harnack. Wissenschaft und Weltgestaltung auf dem Boden des modernen Protestantismus
1
Von Dorpat nach Berlin
2
1. Herkunft 2. Leipzig, Gießen, Marburg 3. Ruf in die Reichshauptstadt
2 5 17
VIII
Inhaltsverzeichnis
II. Horizonte des freien Christentums
25
1. Christentum ohne Dogma 2. Theologische Richtungskämpfe 3. Bürgerfrömmigkeit
25 30 42
III. Wissenschaft, Staat, Gesellschaft
46
1. 2. 3. 4.
Wissenschaft als Großbetrieb Sozial- und Bildungspolitik Internationale Kulturpolitik Weltkrieg und Staatsumbruch
46 64 72 76
IV. Die letzten Lebensjahre
84
V.
95
Bemerkungen zu den Texten und zum bibliographischen Anhang
Der Theologe und Historiker I.
Person und Botschaft Jesu 1. 2. 3. 4. 5.
Als die Zeit erfüllet war. (1899) Christus als Erlöser. (1899) Der Heiland. (1900) Einige Worte Jesu, die nicht in unseren Evangelien stehen. (1904) Vorfragen die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte betreffend (1905) 6. Hat Jesus gelebt? (1910) 7. Das doppelte Evangelium im Neuen Testament (1910) 8. Der gegenwärtige Christus. (1927)
104 111 124 129 139 167 177 191
II. Der Protestantismus 1. Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung (1883) 2. Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus (1896) 3. Philipp Melanchthon (1897) 4. Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte (1899) 5. Protestantische Kultur (1912) 6. Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher. (1912) 7. Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers (1926)
196 223 253 273 305 314 329
Inhaltsverzeichnis
IX
III. K a t h o l i k a 1. Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen. (1891) 2. Das Testament Leos XIII. - Das päpstliche Rundschreiben an die Fürsten und Völker des Erdkreises vom 20. Juni 1894 (1894) 3. Protestantismus und Katholizismus in Deutschland (1907) 4. Die päpstliche Enzyklika von 1907 nebst zwei Nachworten (1908) 5. Pater Denifle, Pater Weiß und Luther (1909) - Die Lutherbiographie Grisars (1911) 6. Die Borromäus-Enzyklika (1910) - Anhang: Konfession und Politik (1911) 7. Möhler, Diepenbrock, Döllinger. (1927)
344 361 391 417 431 477 494
IV. K a m p f u m das „Freie C h r i s t e n t u m " 1. Das apostolische Glaubensbekenntnis. Ein geschichtlicher Bericht nebst einer Einleitung und einem Nachwort (1892) 2. Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Z u m Kampf um das Apostolikum (1892) 3. Beunruhigungen des christlichen Glaubens und der Frömmigkeit (1907) 4. Soll in Deutschland ein Weltkongreß für freies Christentum gehalten werden? Offener Brief an D. Rade. (1908) 5. Das neue kirchliche Spruchkollegium nebst zwei Nachworten (1909/1911) V.
500 545 579 598 605
Religion u n d F r ö m m i g k e i t 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Weihnachtsbetrachtung des vierten Evangelisten. (1902) . . . . Heilige Schriften. (1902) Naumanns Briefe über Religion. (1903) Alte Bekannte (1903) Die Höhepunkte in Augustins Konfessionen (1912/1913/1916) . . Über den Ursprung der Formel „Glaube, Liebe, Hoffnung" (1916) Vom Reiche Gottes. Predigt im akadem. Gottesdienst gehalten am 4. März 1917 8. Vom inwendigen Menschen. Predigt im Akademischen Gottesdienst gehalten am 28. Juli 1918 9. Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung. (1922) . . . 10. Das kommende Zeitalter des Geistes und der Geist unserer Zeit (1924)
639 644 647 655 665 697 715 724 735 765
V I . T h e o l o g i e als W i s s e n s c h a f t 1. Ritsehl und seine Schule (1897)
774
χ
Inhaltsverzeichnis 2. Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte nebst einem Nachwort (1901) 3. Religiöser Glaube und freie Forschung (1908) 4. Die Theologische Fakultät der Universität Berlin (1910) 5. Ansprachen in der Festsitzung des Kirchenhistorischen Seminars zur Feier des sechzigsten Geburtstages. (1911) 6. Die Bedeutung der theologischen Fakultäten. (1919) 7. Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen. (1923)
797 825 835 847 856 875
VII. Z u r T h e o r i e der Geschichte 1. Das Christentum und die Geschichte (1895) 2. Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte (1904) 3. Uber die „Vorzeichen" der in der Geschichte wirksamen Kräfte. (1905) 4. Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis. (1917) 5. Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? (1920)
880 901 923 927 948
Teil 2 Der Wissenschaftsorganisator und Gelehrtenpolitiker
I. Wissenschaft als Großbetrieb
Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. (1890)
Bevor ich dem Brauche der Akademie folge und Rechenschaft ablege über meine wissenschaftlichen Ziele, spreche ich nochmals meinen Dank aus für die durch die Wahl mir erwiesene Ehre. Die Geschichte des Christentums und der Kirchen habe ich in Ihrem Kreise zu vertreten, und es erfüllt mich mit hoher Freude, daß Sie, einer alten Tradition folgend, dieser Wissenschaft eine Stelle unter den Disziplinen gegeben haben, mit denen sich die Akademie beschäftigt. Man hat M o s h e i m mit Recht den Vater der kirchengeschichtlichen Wissenschaft genannt; aber dieser große Gelehrte verdankte das Beste, was er besaß, einem Größeren, L e i b n i z . L e i b n i z ist in Wahrheit, wenn auch mittelbar, der Begründer der unparteiischen und kritischen Kirchengeschichtsschreibung, und unsere Akademie folgt auch hier den Anregungen dieses universalen Geistes, indem sie die Beförderung der kirchenhistorischen Forschungen in den Kreis ihrer Aufgaben wieder aufnimmt. Möge es mir vergönnt sein, den Verpflichtungen nachzukommen, welche die Würde des Gegenstandes und die Traditionen der Akademie mir auferlegen! — Durch eine Preisaufgabe über den Gnostiker Marcion, welche die Universität Dorpat vor zwanzig Jahren stellte, wurde ich zur Geschichte der alten Kirche geführt. Die Aufgabe gehörte zu jenen trefflichen Thematen, die zur
[210]
1 · Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften ( 1 8 9 0 )
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genauesten philologischen und kritischen Arbeit zwingen und doch zugleich nötigen, den Blick auf den Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen zu richten und bedeutende Gesichtspunkte zu gewinnen. Aus einer großen Menge von Fragmenten ist das Bild einer der einflußreichsten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts zu gestalten, und mit einem Schlage sieht sich der Forscher mitten in die zahlreichen und verwickelten Probleme versetzt, welche die Religionsgeschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts bietet. Unter der ausgezeichneten Anleitung v o n E n g e l h a r d t ' s versuchte ich, mich in dieselben einzuarbeiten. Sie bilden noch heute den eigentlichen Gegenstand meiner Untersuchungen. Wenn es mir gelungen ist, Einiges zu ihrer Aufhellung beizutragen, so verdanke ich das dem glücklichen Umstände, daß mir niemals eine andere Aufgabe begehrenswerter oder interessanter erschienen ist. Die Probleme der Kirchengeschichte des Altertums lassen sich auf ein einziges zurückführen: wie hat sich aus der Predigt des Evangeliums der Katholizismus und die katholische Reichs- und Staatskirche entwickelt? Diese Frage scharf gestellt zu haben, ist das unvergängliche Verdienst F. Chr. Β a u r ' s. Aber Β a u r hat sie nicht nur gestellt, sondern in umfassender Weise selbst zu lösen gesucht. Bei diesem Unternehmen folgte er dem Grundsatze, die W a n delungen, welche das Christentum im zweiten Jahrhundert in Lehre, Verfassung und Kultus erfahren hat, soweit irgend möglich, aus den inneren Spannungen abzuleiten, welche bereits im apostolischen Zeitalter vorhanden waren. Allein er selbst erkannte doch, daß diese Art der Ableitung ihre Grenzen hat, und daß man neben den inneren Spannungen auch die äußeren Zustände ins Auge fassen müsse, um die Entwicklung der christlichen Religion zum Katholizismus zu verstehen. In der Gegenwart ist unter den Forschern darüber kein Zweifel, daß keine der beiden Erklärungen vernachlässigt werden darf; aber über das Maß
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ihrer Anwendung herrscht noch kein Einvernehmen. Ich habe mich — anfangs im Anschluß an R i t s c h l ' s Forschungen — bemüht, zu zeigen, daß die innerchristlichen Bewegungen des apostolischen Zeitalters nach der Zerstörung Jerusalems wesentlich zur Ruhe gekommen sind, und daß daher die Entwicklungen, welche nun folgten, nicht aus ihnen abgeleitet werden können. Demgemäß suchte ich nachzuweisen, daß die ungeheuren Krisen, welche die neue Religion im zweiten und dritten Jahrhundert erlebt hat, aus der Verflechtung mit der sie umgebenden griechischrömischen Welt hervorgegangen sind, und daß die neue Ordnung der Kirche auf den Gebieten der Lehre, der Verfassung und des Kultus Kompromisse sind zwischen der evangelischen Verkündigung und der Denkweise und den Institutionen der Antike. Diese Auffasung ist keineswegs neu; nicht wenige Forscher, vor allem R. R o t h e , haben sie bereits vorgetragen. Ich bin lediglich in die Reihe derer eingetreten, welche versuchen, sie pünktlich im Einzelnen durchzuführen. Mit dem allgemeinen Grundsatz ist wenig erreicht; es gilt vielmehr, alle Erscheinungen des kirchlichen Lebens im Altertum mit den entsprechenden des antiken Lebens zu vergleichen, um ihren Ursprüngen und ihrer Geschichte auf den Grund zu kommen. Der Religionshistoriker nimmt an diesen Untersuchungen einen noch höheren Anteil als der politische Historiker; denn seine oberste Aufgabe ist es, festzustellen, was in der Geschichte der Religion aus ihrem eigenen, ursprünglichen Geiste geflossen ist. Um dieser Aufgabe zu genügen, muß er versuchen, die Elemente kennen zu lernen und zu sondern, welche sich die Religion — in der Regel unter schweren Opfern — lediglich assimiliert hat. Sie hat auch bei diesen Assimilationen ihre Kraft bewiesen; aber man darf die so entstandenen Produkte doch nicht als ihren reinen Ausdruck betrachten. Die Forschungen in dieser Richtung sind noch in den Anfängen. Im vorigen und in unserem Jahrhundert ist viel
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Talent und viel Geist auf die Geschichte der Kirche im Altertum verwendet worden; aber verhältnismäßig wenig planvolle historisch-philologische Arbeit. Die Durchforschung der patristischen Literatur hat seit den Tagen der gelehrten Benediktiner und Jansenisten nur in bezug auf das zweite Jahrhundert und die lateinischen Schriftsteller erhebliche Fortschritte gemacht. Noch immer gleichen weite Strecken dieser Literatur nicht einem gepflegten Garten, sondern einem Urwalde, den man sich zu betreten scheut. Und doch sind die Schriften der Kirchenväter Quellen der Nationalliteraturen der Romanen, Germanen und Slaven und das Mittelglied zwischen der antiken und der mittelalterlichen Literatur. Nicht viel günstiger steht es in bezug auf die Geschichte der kirchlichen Institutionen. Zwar ist die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments mit vielem Fleiß untersucht worden, und an der Aufhellung der Geschichte der Dogmen hat man seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ununterbrochen gearbeitet. Allein eine Geschichte! der kirchlichen Verfassung im Zusammenhang mit der allgemeinen Verfassungsgeschichte fehlt uns noch, und ebenso fehlt uns eine kritische und vergleichende Geschichte des kirchlichen Kultus, sowie eine Geschichte der sozialen Wirkungen des Christentums. Auf diesen Gebieten hat man eben erst damit begonnen, die ausgezeichneten Fortschritte, welche die Erforschung der römischen Kaiser- und Religionsgeschichte gemacht hat, für die Kirchengeschichte zu verwerten. Der Zaun, welcher früher das Feld der Kirchengeschichte von dem Felde der allgemeinen Geschichte getrennt hat, ist niedergerissen. Für die Bearbeitung beider Gebiete bedeutet der begonnene Austausch die höchste Förderung; er stellt auch neue Aufgaben. Wenn es aber den Kirchenhistorikern in der Gegenwart möglich ist, sich außerhalb ihrer eigenen Grenzen auf den Gebieten der römischen Kaisergeschichte und der antiken Philosophie zurechtzufinden, so verdanken sie das in erster Linie der Lebens-
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arbeit zweier Männer, welche unsere Akademie zu den ihrigen zu zählen das Glück hat. Es ist mir ein Bedürfnis, an dem heutigen Tage meinen besonderen Dank Herrn Μ ο m m s e η und Herrn Ζ e 11 e r auszusprechen, und ich weiß, daß alle meine Fachgenossen in diesem Danke mit mir übereinstimmen. Mein Lehrauftrag an der Universität verpflichtet mich, über das gesamte Gebiet der Kirchengeschichte Vorlesungen zu halten. Es ist f ü r den Einzelnen schlechterdings unmöglich, sich hier überall selbständige Kenntnisse zu erwerben oder auch nur dem Gang der Forschung pünktlich zu folgen. Zwar empfinde ich die Forderung, immer wieder den Blick auf das Ganze zu richten und die verschiedenen Entwicklungen in den verschiedenen Epochen zu verfolgen, als einen heilsamen Zwang; aber das Gefühl des Unvermögens gegenüber dem Umfang der Aufgabe ist oft genug drückend. Deshalb schätze ich meine Aufnahme in die Akademie als ein Glück, weil sie es mir ermöglichen wird, eine Fülle von Belehrung über die der Kirchengeschichte verwandten Disziplinen — auch in bezug auf das Mittelalter und die Neuzeit — in willkommenster Weise einzusammeln. Theodor Μ ο mm s e η , der philosophisch-historischen Klasse, erwiderte: Ich darf heute der Freude Ausdruck geben, daß es uns gestattet ist, den Verfasser der Dogmengeschichte des Christentums den unsrigen zu nennen, den Mann, welcher die Entwicklung des orientalischen Wunderkeimes zur weltgeschichtlichen, die Geister durch zwanzig Jahrhunderte bald befangenden, bald befreienden Universalreligion uns erschlossen, uns von Christus und Paulus zu Origenes und Augustinus und Luther geführt hat, welcher uns gelehrt hat, die Macht und die Wirkung des Christentums nicht lediglich in seinem Sprossen zu erals Sekretär
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kennen, sondern ebenso sehr in seiner Verzweigung und Verästung. Freilich, die zufälligen Schranken, welche zwischen Theologie und Philosophie und Geschichte die Fakultätsorthodoxie zu gegenseitigem Schaden aufgerichtet hatte, schwinden hüben wie drüben mehr und mehr vor der mächtig vordrängenden rechten Wissenschaft; unsere Akademie aber darf mit Stolz darauf hinweisen, daß wir sie nie anerkannt haben, und daß in dem Kreise, den Leibniz gezogen hat, für die freie Forschung von je her Raum gewesen ist. In wie hohem Grade gerade Ihre Studien, Herr Η ar nack, ergänzend und belebend in diejenige Geschichtsforschung eingreifen, welche uns die Gegenwart verständlich macht, wie die griechischrömische Zivilisation eben durch ihre meistenteils gegensätzliche Verschmelzung mit dem im Orient wurzelnden Christenglauben zu einem notwendigen Bestandteil der heutigen geworden ist, das mit einem Wort zu bezeichnen muß heute genügen; Ihre und meine und vieler anderer, die da waren und sind und sein werden, Lebensarbeit ist es, diesem in seiner vollen Höhe unerreichbaren Ziel näher und näher zu kommen. Aber einen der vielen Momente, um deren willen wir Sie mit besonderer Freude als unseren Genossen begrüßen, gestatten Sie mir heute noch besonders zum Ausdruck zu bringen. Ich meine Ihre Gabe, jüngere Genossen zu fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen und bei derjenigen Organisation, welche die heutige Wissenschaft vor allem bedarf, als Führer auf zutreten. Sie empfinden es, daß die Aufgabe des rechten Akademikers eine andere und eine höhere ist, als sich Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu nennen und statt des bescheidenen Oktavformats unserer Zeitschriften im vornehmen Quart gedruckt zu werden. Auch die Wissenschaft hat ihr soziales Problem; wie der Großstaat und die Großindustrie, so ist die Großwissenschaft, die nicht von Einem geleistet, aber von Einem geleitet wird, ein notwendiges Element unserer
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Kulturentwicklung, und deren rechte Träger sind die Akademien oder sollten es sein. Als einzelner Mann haben Sie in dieser Richtung getan, was wenige Ihnen nachtun werden. Jetzt sind Sie berufen, dies im größeren Verhältnisse weiterzuführen; und die wenigen Monate, seit sie uns angehören, haben uns gezeigt, daß Sie es können, und daß Sie es wollen. Freilich hängt dies nicht allein von Ihnen und auch nicht allein von uns ab. Die Großwissenschaft braucht Betriebskapital wie die Großindustrie, und wenn dies versagt, so ist die Akademie eben ornamental, und müssen wir es uns gefallen lassen, von dem Publikum als Dekoration angesehen und als überflüssig betrachtet zu werden. Wir müssen es hinnehmen, aber es wird uns dies nicht leicht. Wenn der Soldat nichts leistet, so fragt man nicht viel danach, ob das Pulver gefehlt hat, oder der Mann versagt hat; ihm bleibt im ersteren Fall neben dem schmerzlichen Gefühl des vergeblichen Beginnens noch der bittere Eindruck des unverdienten Tadels.
DIE KÖNIGLICH PREUSSISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
Rede zur Zweihundertjahrfeier der Akademie gehalten in der Festsitzung am 20. März 1900 und erschienen in den Sitzungsberichten der Akademie.
Wo nur immer ein hoher Tag festlich begangen wird, da empfängt er seine Weihe durch geschichtliche Erinnerung. I n besonderem Sinne gilt dies von den Festen der Wissenschaft. Sie, die stets in einem historischen Elemente lebt, sucht an solchen Tagen ihre lebendige G-eschichte auf. Freudig feiert sie die Manner, aus deren Händen sie das Erbe empfangen hat, und vertieft und erweitert ihre Geschichte, bis sie sie als G-eschichte des G-eistes zu fassen vermag. So lassen auch wir an dem heutigen Tage die Erinnerung walten und grüßen die Vorfahren, die ihn uns bereitet haben. Wir grüßen dankerfüllt das erlauchte Herrscherpaar, welches diese Akademie gestiftet hat; wir grüßen ehrfurchtsvoll die stolze Reihe unserer Könige und Protektoren; wir grüßen alle die, welche diese Schöpfung in K r a f t und G-lanz erhalten haben, die G-elehrten und Staatsmänner, von L e i b n i z an bis zu den Forschern, die jüngst aus unserer Mitte geschieden sind. Würdig aber ist es, daß wir, ihrer gedenkend, die höchste Anschauung von Wissenschaft zu erfassen suchen, zu der sie sich erhoben haben; denn eben diese haben sie in dem G-emeinwesen zum Ausdruck gebracht, dessen Jubelfest wir feiern. Die Geschichte der Akademie ist die G-eschichte der Ideen und Kräfte ihres Stifters und ihrer großen Mitglieder; denn in ihrer Einrichtung und in der Entwicklung ihrer Organisation haben sich die Erkenntnisse und die Ziele jener gleichsam verdichtet. Dieser Bau stellt darum in lebendiger Verwirklichung ein Stück Geschichte
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der Wissenschaft dar — und nicht nur der Wissenschaft in diesem Lande. Den heutigen Tag feiert die gesamte wissenschaftliche Welt mit uns; denn unsere G-eschichte ist ihre Geschichte. Es umfaßt aber die Entwicklung der Akademie vier sich scharf voneinander abhebende Stufen. I n merkwürdiger Regelmäßigkeit begreift eine jede von ihnen etwa ein halbes Jahrhundert. Die Akademie L e i b n i z e n s beherrscht die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts; in der zweiten wird sie zur fridericianischen Akademie. Dann sind es die Brüder H u m b o l d t , N i e b u h r und S c h l e i e r m a c h e r gewesen, die ihr f ü r fünfzig weitere Jahre Grundlage und Richtung gegeben haben. Die vierte Stufe ist die unsrige. Wir betrachten, wie auf jeder die Aufgabe der Wissenschaft in der Akademie erfaßt und wie sie in ihrer Arbeit durchgeführt worden ist. „Se. Kurf. Durchlaucht haben gnädigst resolvieret, eine Academie des Sciences und ein Observatorium, wie vorgeschlagen, zu etablieren" — so lauten die denkwürdigen Worte, durch welche unsere Akademie gestiftet worden ist. Einige Berliner Gelehrte, an ihrer Spitze der Hofprediger J a b l o n s k i , hatten den Plan ausgearbeitet, die Kurfürstin S o p h i e C h a r l o t t e ihn bei ihrem Gemahl befürwortet. Von Anfang an war L e i b n i z als Präsident ins Auge gefaßt; von ihm war die Idee ausgegangen, und er hatte die Berliner Freunde beraten. Den nächsten Anlaß aber zur Stiftung bot die große Kalenderreform, die eben vollzogen worden war. Sie verlangte zu ihrer Durchführung regelmäßige astronomische Beobachtungen und daher auch eine Sternwarte. Wie einst im alten Babylonien die Wissenschaft mit der Himmelskunde begonnen hat, so begann die neue Stufe, auf die sie in diesem Lande gehoben werden sollte, wiederum mit der Astronomie. Noch mehr — ein volles Jahrhundert lang hat die Wissenschaft hier in Berlin
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im buchstäblichen Sinne des "Worts von der Astronomie gelebt; denn fast die gesamte Einnahme der Akademie flöß in dieser Zeit aus dem ihr verliehenen Kalendermonopol. So bildeten die Astronomie und die mit ihr verschwisterte Mathematik das eigentliche Fundament der neuen Schöpfung. Aber nicht nur ihrer ökonomischen Leistungen wegen nahmen sie diese Stellung ein. Durch K e p l e r und C a r t e s i u s , durch N e w t o n und L e i b n i z war die Mechanik des Himmels und die mathematische Physik auf eine Höhe gehoben, die in gewissem Sinne einem Abschluß gleichkam. Der Naturbewegung hatten sie das Geheimnis abgetrotzt, ein neues "Weltbild gewonnen und damit den Beweis geliefert, daß der menschliche Verstand fähig sei, durch Beobachtung und Spekulation in die unermeßlichen Himmelsräume vorzudringen und die Gesetze aller Bewegung zu entziffern. "Wie eine Offenbarung wirkten die neuen Erkenntnisse, und schon strahlte die Hoffnung auf, zahlreiche Naturerscheinungen nun in den Dienst nehmen und beherrschen zu können. Dieser jungen Wissenschaft eine Stätte zu bereiten, war L e i b n i z e n s vornehmste Absicht bei der Stiftung unserer Akademie. Von den Universitäten erwartete er nichts; der Betrieb der "Wissenschaft dort steckte in veralteten Formen: eine rückständige Lehre überlieferten sie in einförmiger "Wiederholung. Er aber wollte auf Grund der neu gewonnenen Prinzipien eine Anstalt für Forschung gründen; denn eben diese Prinzipien erschienen der reichsten Entwicklung fähig und eröffneten der Anwendung ein unbegrenztes Gebiet. Darin aber erhob sich L e i b n i z über alle seine Zeitgenossen, daß er seinen Blick durch keine Spezialwissenschaft, sei es auch die umfassendste, einschränken ließ. "Wie er die mathematische Physik sofort mit dem ganzen Kreise der metaphysischen Probleme in Verbindung setzte und teils im Anschluß an S p i n o z a , teils in scharfem Gegensatz zu
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ihm eine neue Kosmologie ausarbeitete, so behielt er mit stets gleichem, produktiven Interesse die Mannigfaltigkeit in der Abfolge der Erscheinungen und alle wissenschaftlichen Disziplinen im Auge. „Die verschiedenen Arten der "Wissenschaften sind dergestalt miteinander verbunden, daß sie nicht wohl gänzlich getrennt werden können" — so heißt es in unserer, von L e i b n i z entworfenen Stiftungsurkunde. Sah er doch in allen Bewegungs- und Lebensvorgängen nur die unendlich reichen Entfaltungen eines einzigen, aber in einer Fülle von Erscheinungen sich auswirkenden Prinzips. Das Studium dieser Auswirkungen verlangt Individualisierung; aber selbst die intimsten Besonderheiten lassen sich ohne Kenntnis der "Wechselwirkungen, in denen sie stehen, nicht ergründen und weisen auf ein Allgemeinstes zurück. Träumte er doch davon, daß es gelingen könne, die ganze Fülle der Erscheinungen mit dem Gedanken so sicher zu erfassen, daß sie sich als ein Q-ewebe von Ziffern und Rechnungen darstellen lasse. Gilt es nun, eine wissenschaftliche Anstalt zu gründen, die dieser Aufgabe entspricht, so kann nur eine Akademie, oder wie L e i b n i z lieber sagte, eine Sozietät der "Wissenschaften in Frage kommen. Unter einer solchen verstand er nicht eine einzelne Anstalt in einem Lande und mit beschränkten Aufgaben, dergleichen es schon in anderen Ländern manche gab, sondern den Zusammenschluß aller Forscher auf der ganzen Erde. I n jedem Kulturstaate soll eine Sozietät der "Wissenschaften gegründet werden; sie sollen in engster Verbindung miteinander stehen, sollen nach einem gemeinsamen Plane arbeiten, sich derselben Methoden und Ausdrucksmittel bedienen und so eine große Gemeinschaft darstellen. Das hohe Ideal der Platoniker leuchtet hier wieder auf, aber auf den Boden von Europa gestellt. Mit religiösem Enthusiasmus hat L e i b n i z , einundzwanzig Jahre alt, diesen Gedanken erfaßt, und noch als Greis hat er eigentlich nur f ü r ihn gelebt. Staaten
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und Kirchen verblaßten ihm neben der neuen Gemeinschaft, wie sie seinem Geiste vorschwebte. In ihr stellt sich die Menschheit dem großen Baumeister der "Welten zu Dienste; in ihr hat die wahre Verehrung Gottes, die in der Erkenntnis seiner Werke besteht, ihre Stätte; aus ihr muß sich ein neuer intellektueller und sittlicher Zustand und eine bisher nicht gekannte Glückseligkeit entwickeln. Aber wie eine solche Sozietät begründen und wo anfangen? Zuerst dachte er an den Kaiser und darum an Mainz und Wien. An der Würde des Kaisers haftete noch immer etwas Universales — das heilige römische Reich war noch kein ganz leerer Begriff. Unter den Fittichen seines Adlers sollen die neuen Bestrebungen Kraft und Gestalt gewinnen. Vergebliche Hoffnung! Von Hannover aber, seiner engeren Heimat, konnte Leibniz vollends nichts erwarten. Da lenkte sich sein Blick auf Brandenburg. Als der Staat des großen Kurfürsten, als Vormacht des Protestantismus und der religiösen Freiheit, als Grenzland der wissenschaftlich noch unentdeckten Gebiete des Ostens rückte Brandenburg-Preußen in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen und politischen Interessen. Mit zäher Energie suchte er Eingang in das Land, dessen große Zukunft er sicher vorausgesehen hat. Die ersten Anläufe mißglückten. Dann aber kam seinen Plänen die hohe Frau entgegen, die mit lebendigem Anteil allen Bewegungen des Zeitalters folgte — Sophie Charlotte. Die Sozietät wurde gestiftet. Das Statut vom Juli 1700 steckt der neuen Schöpfung die weitesten Grenzen und stellt ihr bisher unerhörte Aufgaben. Ausdrücklich heißt es, daß diese Sozietät sich „alles das zum Objekt nehmen soll, was die anderswo aufgerichteten Sozietäten, Akademien und Vereine — einschließlich der Missionsvereine — in allen Zweigen der Wissenschaft verfolgen". Auch wird die Unterscheidung einer rein betrachtenden und einer praktischen Tätigkeit
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in der "Wissenschaft nicht zugestanden; denn es handelt sich um die Förderung „des ganzen gemeinen Wohlwesens": Produktivität und Können sind für alle Disziplinen die höchsten Maßstäbe. Darum soll es keine besondere philosophische Klasse in der Sozietät geben — die wahre Philosophie kommt allein durch das Zusammenarbeiten aller Klassen zustande. Ursprünglich wurden drei unterschieden, die physikalisch-mathematische, die deutsche und die historisch-literarische Klasse. Bald aber wurde eine vierte, die medizinisch-naturwissenschaftliche, hinzugefügt. Jeder wurden bestimmte Hauptaufgaben vorgeschrieben. Die physikalisch-mathematische soll magnetische Beobachtungen vom Rhein bis zur Memel anstellen lassen, nach Rußland und China vordringen und diese weiten Gebiete wissenschaftlich nach allen Richtungen untersuchen. Sofern sie in überseeische Länder geht, wird ihr die Unterstützung „Unserer afrikanischen und amerikanischen Kompagnie" versprochen. Als physikalisch-technisches Kollegium soll sie alle neuen Entdeckungen, Maschinen, Modelle usw. prüfen, Maße und Gewichte inspizieren und sie einheitlich nach dem Dezimalsystem regeln. Die medizinisch-naturwissenschaftliche Klasse soll überall im Lande „medizinische Observationen" veranlassen, das Wetter beobachten, den Zusammenhang der Epidemien mit ihm studieren, über Wachstum und Schädigung der Feldfrüchte regelmäßige Erkundigungen einziehen, Bodenuntersuchungen anstellen und die Ursachen von Kalamitäten ergründen. Die deutsche Klasse — ihre Niedersetzung geschah auf speziellen Befehl des Kurfürsten — soll „die uralte teutsche Sprache in ihrer natürlichen, anständigen Reinigkeit und Selbststand erhalten", gute deutsche Redensarten an Stelle der Fremdwörter hervorsuchen und „den Schatz des teutschen Altertums, auch die Rechte und Gewohnheiten unserer Vorfahren, so in den alten jetzt fast unbekannten Worten verborgen stecken, anmerken, sammeln und erläutern".
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Die literarische Klasse soll sich „das wichtige "Werk der Historien, sonderlich der teutschen Nation und Kirchen, zumalen in Unseren Landen, angelegen sein lassen, Alles soviel möglich, aus Diplomatibus, glaubwürdigen Skripturen und gleichzeitigen Skribenten darthun", und das Wesen und Recht der deutschen Reformen ins Licht stellen und verteidigen. Dazu soll sie die orientalischen Sprachen und Studien pflegen und zusammen mit der mathematischen Klasse in fremde Länder vordringen, um sie f ü r die christliche Kultur und Gesittung erobern zu helfen. Die gesamte Akademie endlich soll als eine wissenschaftliche Aufsichtsbehörde und als eine Normalanstalt f ü r alle notwendigen Hand-, Lehr- und Schulbücher fungieren. "Welch eine Fülle von Aufgaben! Und noch ist längst nicht alles genannt, was dieser ersten universalen Akademie in Europa an ihrer "Wiege als Zweck gesetzt worden ist. Mit dem Auge des Propheten schaute L e i b n i z in die Zukunft, weil er in seinem Geiste die ganze Entwicklung der Wissenschaften gleichsam schon erlebt hatte. Keine einzige hohe Aufgabe fehlt hier, und keine ist genannt, die nicht in der Folgezeit aufgenommen worden wäre. Die Geschichte kennt nur einen Mann, der ähnliches geleistet hat, A r i s t o t e l e s . Nie aber soll es diese Akademie vergessen, daß sie es gewesen ist, welche ausersehen wurde, die erste Trägerin universaler wissenschaftlicher Aufgaben in der modernen Zeit zu werden! Wie wunderbar ist doch der Gang der Geschichte! Von dem kleinen Wittenberg ist die Reformation Europas ausgegangen, und die damals noch unbedeutende Hauptstadt des brandenburgischen Kurfürstentums wurde als Stätte f ü r wissenschaftliche Bestrebungen ausersehen, wie sie in dieser Universalität weder in Paris noch in London zu finden waren. Und auch darin hat sich L e i b n i z ens Seherblick bewährt, daß er einen ganzen Kreis von Akademien in der Zukunft schaute. Heute stehen wir in einem solchen; sie sind, soweit sie
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universale sind, sämtlich nach, dem Muster der unsrigen gestiftet worden, und sie haben sich zu gemeinsamen Aufgaben vereinigt. Aber so genial und groß gedacht der Plan der neuen Schöpfung war, so weit blieb diese selbst am Anfang hinter ihrer Aufgabe zurück. Es fehlte nahezu alles, die Personen und die Mittel. Solange L e i b n i z lebte, war er selbst die Akademie. Außer ihm hat sie in den vierzig ersten Jahren ihres Bestehens kaum ein halbes Dutzend nennenswerter Gelehrter besessen. Die Kraft, bildend auf Persönlichkeiten einzuwirken und bedeutende Männer zu erziehen, ist ihm versagt gewesen. Dazu kam noch ein anderes: um einen wirklichen Fortschritt in der ganzen Breite der Entwicklung zu bewirken, war es notwendig, die dumpfen Mauern vollends niederzureißen, in denen die alte Zeit gelebt hatte. Der scholastische Betrieb der Wissenschaften war aufgelöst; ihre Emanzipation von der Kirche und Theologie war im Prinzip vollzogen; es galt, die Ruinen zu beseitigen. Aber die K r a f t der Exklusive fehlte dem großen, alles in eins schauenden Denker; auch das Veraltete vermochte er zu konservieren und das Fragwürdigste an irgend einer Stelle seines weitschichtigen "Weltbildes noch unterzubringen: seine Stärke war auch seine Schwäche. So vermochten die Geisteswissenschaften noch nicht zu einem frischen Leben zu gelangen. Die Elemente f ü r einen neuen Bau waren noch zerstreut; auch besaßen sie noch nicht die Bedeutung durchschlagender produktiver und kritischer Prinzipien. Freiheit und Geschmack, sichere Beobachtung und strenger Stil fehlten: vom Engländer und Franzosen war der Deutsche noch durch einen weiten Abstand getrennt. Und vor allem: nicht nur der deutsche Geist schlummerte noch — es gab noch keinen deutschen Staat! Die Geistes Wissenschaften aber bedürfen zu ihrer Blüte den frischen Tau persönlichen Lebens und die feste Unterlage nationalen Volks- oder Staatsbewußtseins. Ohne sie führen sie ein
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"bloßes Scheindasein. Das hat der Monarch wohl erkannt, vor dessen Blick alles Scheinwesen sich auflöste, Friedrich Wilhelm I. E r dachte daran, die Akademie aufzuheben, da sie nichts Ersprießliches leiste. Zu Hilfe zu kommen vermochte er ihr nicht — das lag außerhalb des Kreises seiner Fähigkeiten und Aufgaben. Mit seiner offenbaren Ungunst belastet, eines Führers entbehrend, ohne Mittel, sich würdig zu ergänzen, durchlebte die Akademie dunkle Jahre. Und doch hat sie auch in dieser Zeit gezeigt, daß sie lebte. Die Schriften, welche sie erscheinen ließ, sind nicht weltbewegend, aber förderlich gewesen. Die Dämmerung, in der das geistige Leben unseres Vaterlandes lag, wich, als der große Friedrich den Thron bestieg. Schon als Kronprinz hatte ihn die Frage der Neubildung der Akademie lebhaft beschäftigt. Sobald er die Zügel der Regierung ergriffen hatte, begann er sie durchzuführen, ja, er wollte ursprünglich eine ganz neue Akademie stiften. A n die ersten Gelehrten Europas schrieb er, um sie zu gewinnen. Die schlesischen Kriege verzögerten das "Werk. Unterdessen hatte der geistvolle Feldmarschall v o n S c h m e t t a u eine literarische Gesellschaft in engem Anschluß an den Hof und die Aristokratie nach dem Vorbild französischer Societes gegründet. Der König befahl die Verschmelzung beider Gesellschaften, stellte den berühmtesten Gelehrten des Zeitalters, M a u p e r t u i s , mit außerordentlichen Gewalten an die Spitze der neuen Schöpf u n g , hieß sie die lateinische Sprache mit der französischen vertauschen und erklärte sich selbst nicht nur zum Protektor, sondern auch zum wirklichen „Academicien". So wurde die Akademie die fridericianische und eine französische zugleich. Es ist üblich, das eine zu verherrlichen und das andere zu beklagen. Uberschlägt man aber, in welchem Zustande sich Geist, Wissenschaft und Geschmack bei den Deutschen um das J a h r 1745 befanden, so wird man dem
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Könige recht geben. Nicht nur wurde erst jetzt die preußische Akademie wirklich auf die europäische Bühne gestellt, sondern sie gewann auch in der französischen Schule Form und Haltung; sie lernte f ü r das Publikum — im idealen Sinne des Worts — schreiben und sich ein solches in Deutschland erziehen. Der deutsche Geist aber ging dabei nicht unter: ihn belebte der große König nicht durch Worte, sondern durch Taten, und die hervorragendsten Gelehrten in seiner Akademie neben M a u p e r t u i s und L a g r a n g e waren nicht die schiffbrüchigen französischen Theologen und Literaten, sondern die deutschen Forscher — ein E u l e r und L a m b e r t , ein M a r g g r a f , L i e b e r k ü h n , S ü ß m i l c h u. a. Was hat die fridericianische Akademie geleistet? Sie hat eine feste und eigentümliche Vorstellung von ihren Aufgaben besessen und sie hat sie ehrenvoll durchgeführt. Auf drei Linien stellt sich das dar. Erstlich, in der Mathematik und den Naturwissenschaften hat sie stetig und fruchtbringend gearbeitet. Die Mathematiker E u l e r und L a g r a n g e waren die Führer in ihrer Wissenschaft; die Astronomen der Akademie waren hoch angesehen, und von den Chemikern durfte M a u p e r t u i s rühmen, „daß sie alle Chemiker Europas ausstechen". Die naturwissenschaftlichen Leistungen der Akademie verdienen um so größere Anerkennung, als der König sie nicht lebhaft unterstützte. „Alle die Bemühungen in bezug auf Elektrizität, Gravitation und Chemie haben die Menschen nicht gebessert", schrieb er an d ' A l e m b e r t , „und ihren moralischen Zustand nicht geändert: sie sind also ein Luxus. Was wollen alle jene Entdeckungen der Modernen für die Gesellschaft bedeuten, wenn die Philosophie das Kapitel der Moral und der Sitten vernachlässigt?" Die Naturforscher ließen sich nicht irre machen, sondern arbeiteten ruhig weiter. Aber auch die Aufgabe, welche ihr königlicher Pro-
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tektor der Akademie besonders nahe legte, ist von ihr energisch aufgenommen worden. Es ist die zweite Linie, auf der sie sich bewegte, und sie ist mit einem "Worte charakterisiert: Aufklärung. Der König lebte in dem antiken, lateinischen Begriff von "Wissenschaft und Philosophie und in der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts. Die Wissenschaft war ihm kein loses Gefüge von Disziplinen, sondern ein Ganzes, und die Ausbildung einer neuen Form wissenschaftlicher Mitteilung im Gegensatz zur scholastischen war ihm ebenso wichtig wie die Sache selbst. Dieses "Wertlegen auf die Form entsprang einem sehr lebhaften didaktischen und moralischen Bestreben: er wollte nicht "Wissenschaft um ihrer selbst willen verbreitet, noch weniger tote Gelehrsamkeit gepflegt sehen, sondern eine vernünftige Denkungsart durchsetzen, überall die Aufklärung befördern und den sittlichen Zustand der Gesellschaft dadurch bessern. Durch „Raison", klar und formvollendet an jedem wissenswürdigen Objekt entwickelt, zur Moral und Toleranz: das ist die Aufgabe der "Wissenschaft! Die Geschichte vermag seit sechzehnhundert Jahren wenig oder nichts zu lehren; es gilt vielmehr, sich von ihr zu befreien. Am besten wäre es, über sie hinweg einfach zu den Alten zurückzukehren; da dies unmöglich, so soll jede Überzeugung, mit Gründen vorgetragen, vernünftig entwickelt und gefällig dargestellt, respektiert werden. Aufklärung ist bereits dort, wo Geist und Klarheit, Zucht der Gedanken und Anmut herrschen. "Wenn sich in diesem Medium der Theologe, der Historiker, der Naturforscher und der Philosoph zusammenfinden, so ist zu hoffen, daß die schlimmsten "Wirkungen der Superstition, nämlich Barbarei, Zuchtlosigkeit und Fanatismus schwinden. Diese Ideen des Königs sind von seiner Akademie ergriffen worden. Man durchblättere die vierzig Bände ihrer Abhandlungen aus jenen Jahren. Die Standpunkte ihrer Verfasser sind ganz verschieden; die Themata entstammen
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allen möglichen Wissenschaften — aber dennoch sind die Arbeiten von e i n e m Geiste beherrscht und dienen e i n e r Aufgabe: ein strebsames, f ü r die höheren Fragen aufgeschlossenes Publikum zu schaffen, es von allen Einseitigkeiten zu befreien, es an gesundes Denken zu gewöhnen und ihm lebendigen Sinn und Geschmack f ü r die "Wissenschaften zu geben. So arbeitete die Akademie, und in dieser Tätigkeit, formgebend, vermittelnd, aufklärend und tolerierend, war sie die fridericianische. Wissenschaft und Literatur bildete f ü r sie noch ein untrennbares Ganzes; in allen Hauptfragen trat die Gesamtakademie zusammen und überließ die Entscheidung nicht einer einzelnen Klasse. So stand alles noch in einer wirksamen Einheit. I n keiner Periode ihrer Geschichte hat sich die Wissenschaft so hohe Verdienste um die Kultur in der Breite ihrer Entwicklung erworben wie damals. Nun erst wurde die mittelalterliche Weltanschauung in unserem Vaterlande wirklich gestürzt, ihre veralteten Hervorbringungen beseitigt. Welch ein Publikum hätten unsere großen Klassiker gefunden, wenn die Aufklärung ihnen nicht vorgearbeitet hätte? Und an einer führenden Stelle in ihr stand die fridericianische Akademie. Unverflochten mit den Tagesfragen deutschen Kleinlebens, allen großen Problemen der wissenschaftlichen Entwicklung folgend, jeden Standpunkt in ihrer Mitte duldend, aber alle an dieselbe Regel wissenschaftlicher Aussprache bindend, eine Stätte der Vernunft und der Toleranz — so hat die Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres vierzig Jahre gewirkt u n d das neue Preußen erziehen helfen. Endlich noch ein Drittes: Die Vertretung der L e i b n i z W o l f f s c h e n Philosophie war ein überkommenes Erbe der Akademie; aber sie hat sich niemals mit ihr identifiziert. I m Gegenteil, sie hat sie sehr bald unter die Kontrolle der Erfahrung gestellt und dem scharfen Luftzuge der englischen Philosophie ausgesetzt. Wie es V o l t a i r e s Verdienst
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gewesen ist, diese auf den Kontinent gebracht zu haben, so haben die Berliner Akademiker ein redliches Stück Arbeit in der Kritik und den Ausgleichsversuchen der idealistischen und der empiristischen Philosophie geleistet. Die Weltanschauung ihres Königs respektierend, sind sie doch stets ihre eigenen Wege gegangen; sie haben L a M e t t r i e s kecke Sätze ebenso abgelehnt wie den Skeptizismus H u m e s und die Probleme vor den Gewaltsamkeiten schnellfertiger Dogmatiker geschützt. Aber als der große König die Augen schloß, war auch die Zeit f ü r diese seine Schöpfung abgelaufen, ja sie hatte ihre Aufgabe bereits seit einem Jahrzehnt erfüllt. Um das J a h r 1786 war eine Akademie in Deutschland zum Anachronismus geworden, die französisch sprach, K a n t nicht begriff und des wirklichen Zusammenhangs mit H e r d e r und G o e t h e , mit der höher strebenden deutschen Geistesbewegung jener Tage entbehrte. Daß die Akademie eine deutsche werden müsse, erkannte der patriotische Staatsmann, dem F r i e d r i c h W i l h e l m II. die Sorge f ü r sie anvertraute, H e r t z b e r g ; aber daß der Zeiger der Zeit nicht mehr bei der „Aufklärung" stand, erkannte er nicht. E r hielt diese vielmehr f ü r den bleibenden Höhepunkt des Geistes und beeilte sich, ihren ganzen berlinischen Generalstab, C a s t i l l o n , T e l l e r , Z ö l l n e r usw., in die Akademie aufzunehmen — aufzunehmen, als er bereits von der Geschichte besiegt war. Traurigere Tage hat die Akademie kaum je früher erlebt als die letzten vierzehn Jahre des achtzehnten Jahrhunderts. Jene Aufklärer kommandierten nur noch Schatten, lebten vom Ruhm ihrer Vergangenheit und sperrten sich selbstzufrieden gegen den neuen Geist ab. Vollends aber schien die Akademie zu versinken, als W ö l l n e r und nach ihm der Minister v o n M a s s o w die Parole ausgaben, die reine Wissenschaft sei zu nichts nütze, die Technik aber sei das Mittel, durch welches der Staat gebaut
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werden müsse: die Akademie solle sich „humanisieren'1 und ihre Kräfte dem „gemeinen Leben" und seiner Verbesserung, sowie allen seinen Bedürfnissen zuwenden; sie möge die nationale Industrie heben, die Vorurteile des Volkes aufklären und das Erziehun gewesen reinigen und fördern. Wurde ihr doch durch eine Kabinettsordre vom April 1798 geradezu zugemutet, die Nützlichkeit in Paragraphen zu fassen und sich als technische Staatsanstalt und als Staatserziehungsbehörde zu etablieren. Gewiß kündigten sich hier auch neue, sehr berechtigte Bedürfnisse an, vor allem das nach einer höheren Lehranstalt, einer zentralen Universität. Sie fehlte in Berlin und im preußischen Staate noch, und es war ein richtiger Gedanke, sie in Verbindung mit der Akademie zu setzen. Aber eine einfache Verwandlung derselben in eine hohe Schule war höchst bedenklich. Der Akademie gelang es, sich dieser Zumutung zu entziehen, aber besser wurde es auch nicht: noch im Jahre 1799 wurde der Großmeister der Aufklärung, Nicolai, aufgenommen, und die Publikationen der Akademie rückten in bedenkliche Nähe zu der „Allgemeinen deutschen Bibliothek". Aber der große Umschwung trat doch ein; nur kam er anders, als Mas sow und die Nützlichkeitsfanatiker ihn gewünscht hatten. Der erste Dank gebührt dem Geheimen Kabinettsrat B e y m e . Begeistert von dem Idealismus F i c h t e s und verehrungsvoll zu G o e t h e und S c h i l l e r aufschauend, ist er es gewesen, dem die Akademie die Grundlegung ihrer Reorganisation verdankt. Nicht neue Statuten sind zunächst nötig, sondern neue Männer: das war die Einsicht, nach der er gehandelt hat. Nachdem im Jahre 1800 A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t aufgenommen war, führte B e y m e in den nächsten Jahren der Akademie H u f e l a n d , T h a e r und J o h a n n e s v o n M ü l l e r zu. S c h i l l e r und G o e t h e , mit denen er verhandelt hat, blieben unerreichbar, und F i c h t e , dessen Aufnahme er energisch betrieb, wurde von der Akademie abgelehnt. Aber F r i e d -
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rich. A u g u s t W o l f , v o n B u c h und B u t t m a n n wurden ihr schon vor der großen Katastrophe des Staates zugeführt. Die Akademie war bereits in der Umwandlung begriffen, als die Reinigung eintrat, die zur "Wiedergeburt des preußischen Volkes geführt hat. Mitten in der Niederlage erstarkte der Glaube an eine neue, höhere Existenz, an die umbildende K r a f t der Gesinnung und der Wissenschaft, die den Menschen in seinem ganzen Dasein erfassen sollten, damit aus dem Geiste alles neu würde, damit unter den Trümmern der Bau der Zukunft entstünde. W i l h e l m v o n H u m b o l d t , N i e b u h r , S c h l e i e r m a c h e r und S a v i g n y traten fast gleichzeitig in die Akademie ein: sie haben die dritte Periode unserer Geschichte begründet. Diese neue Periode ist durch ein Doppeltes charakterisiert: durch das Verhältnis, in welches die Akademie zu der damals gestifteten Berliner Universität gesetzt worden ist, und durch, den neuen Geist, in welchem sie ihre eigene Aufgabe und die der Wissenschaft überhaupt erfaßt hat. Die Universitäten waren im 18. Jahrhundert langsam wieder aufgeblüht. Das Vorbild Halles hatte mächtig gewirkt, und in Göttingen war ein Muster aufgestellt worden, welches die Schwesteruniversitäten zur Nachfolge reizte. I n Halle blühte ein philologisches Seminar, welches die ganze Altertumswissenschaft auf eine höhere Stufe hob, und auch in Göttingen wurde nicht nur gelehrt, sondern wirklich geforscht. Noch mehr: an dieser Zentralstätte deutscher Bildung war eine Sozietät der Wissenschaften mit der Universität vereinigt, und diese Verbindung trug reiche Früchte. Als nun in Berlin die neue große Lehranstalt gestiftet werden sollte und wirklich ins Leben trat, als viele Stimmen verlangten, die Akademie solle einfach in sie eingeschmolzen werden, da war es vor allem W i l h e l m v o n H u m b o l d t , der den richtigen W e g wies. E r
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erkannte unbefangen an, daß die Akademien in Deutschland bisher noch nicht Befriedigendes geleistet hätten, aber er erkannte auch, daß die Idee, die ihnen zugrunde liegt, richtig sei und daß sie lebensfähig werde, wenn man die Akademien mit den Universitäten in Verbindung bringe. „Die Idee einer Akademie", so lauten seine Worte, „als die höchste und letzte Freistätte der Wissenschaft und die vom Staate am meisten unabhängige Korporation muß festgehalten werden; man muß es auf die Gefahr ankommen lassen, ob eine solche Korporation durch zu geringe oder einseitige Tätigkeit beweisen wird, daß das Rechte nicht immer am leichtesten unter den günstigsten äußeren Bedingungen zustande kommt. Man muß es darauf ankommen lassen, weil die Idee an sich schön und wohltätig ist, und immer ein Augenblick eintreten kann, wo sie auch auf eine würdige Weise ausgefüllt wird." „Akademie, Universität und große wissenschaftliche Einzelinstitute", fährt er fort, „sind drei gleich unabhängige und integrante Teile der wissenschaftlichen Gesamtanstalt des Staates. Akademie und Universität sind beide gleich selbständig, allein insofern verbunden, daß sie gemeinsame Mitglieder haben und daß die Universität alle Akademiker zu dem Rechte, Vorlesungen zu halten, zuläßt." In maßgebenden Ausführungen hat H u m b o l d t das Wesen und Recht der Akademie neben der Universität — aber nie ohne sie — dargelegt. Das, was er gefordert und geordnet hat, hat sich bis auf den heutigen Tag bewährt. Ihm und seinen Mitarbeitern verdanken wir unser neues Dasein, ihm und ihnen die Verbindung mit der Universität, die uns im höheren Sinne wirklich erst lebensfähig gemacht hat. Erst jetzt war die Akademie sicher, daß es ihr nie an ausgezeichneten Kräften fehlen werde, während bisher die Wahl neuer Mitglieder bei den knappen Mitteln stets die größten Schwierigkeiten gemacht hatte. Erst jetzt erhielt sie fort und fort Gelehrte, die ihre Wissenschaft
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auch, als Lehre erprobt hatten, und wurde doch endgültig von der Verpflichtung entbunden, für die Verbreitung derselben zu sorgen. An dem heutigen Tage bezeugt daher die Akademie ihrer jüngeren, in mancher Beziehung mächtigeren Schwester, der Universität, ihren lebhaften Dank; sie bezeugt auch, daß niemals ein Mißton, niemals auch nur ein Schatten von Eifersucht ihr gegenseitiges Verhältnis getrübt hat. Aber das neue Dasein, welches die Akademie empfing, war doch nicht nur in der segensreichen Verbindung mit der Universität gegeben: ein neuer Geist hielt seinen Einzug, unterwarf sich alle Anschauungen und Erkenntnisse, steckte neue Ziele und hauchte Kraft und Leben ein. Polyhistorie, Raison und Moral waren die Devisen des vergangenen Jahrhunderts gewesen, ein aufgeklärter Ciceronianismus, teils französisch gefärbt, teils in deutscher Schulgestalt — keine Spur von „Griechheit". Nun aber war durch Rousseau die Individualität und das Innenleben entfesselt worden — entfesselt durch die Phantasie und den Drang nach Freiheit; nun hatten K a n t und F i c h t e die behagliche Ruhe eines konventionellen Idealismus gestört und die Anspannung aller sittlichen Kräfte verlangt; nun war durch Winckelmann das Auge erschlossen worden für die Schönheit griechischen Lebens, und der höhere Kunstsinn war geweckt; nun entschleierte sich durch Herder dem empfindenden und nachempfindenden Geiste das Antlitz seiner bisher verhüllten Geschichte: die Berge taten sich auf; Völkerpoesie und Völkergeschichte in der unendlichen Anzahl ihrer Typen erschlossen sich und trafen mit einem neuen Verständnis des Menschen zusammen. Und über das alles — nun erlebte man Goethe und erlebte in ihm einen Dichter und Denker, in welchem sich das neue Dasein wie von einer göttlichen Naturkraft ausgewirkt darstellte. In der Philologie als der genialisch-kritischen Wissen-
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schaft vom Altertum fanden die neuen Erkenntnisse zuerst Ausdruck und Halt. I n ilir ließ man Plato wieder aufleuchten mit dem großen, tiefen Auge, und weil man den Geist des Altertums, wie man ihn auf den Höhen empfing, verehrte, nahm man es auch genau mit dem Buchstaben; man wollte die ganze herrliche "Welt wiedererwecken, die einst eine Wirklichkeit und jetzt noch kein Traum schien. Aber das Griechische war in Wahrheit doch nur ein idealisiertes Paradigma: der eigene Sinn f ü r das Bewegte und Lebendige, das Hohe und Erhebende war geweckt und zündete dem verwandten griechischen Geiste das erste Lobopfer an. Bald aber verbreitete sich dieser Sinn über alle Gebiete geschichtlicher Erkenntnis und Wissenschaft, die Religionslehre, das Studium des Rechts, die heimische Sprache, die Sprachwissenschaft überhaupt, das Leben und die Dichtung aller Völker. Die herrliche Erhebung der Freiheitskriege machte auch die Denker schaffensfreudig. Mit unauslöschlicher Dankbarkeit schauen wir auf zu der Generation von Gelehrten, die in jenen Jahrzehnten unsere Akademie neu gebaut, die moderne Geisteswissenschaft in allen ihren Disziplinen begründet, ja geschaffen und unser Vaterland an die Spitze der geistigen Bewegung in Europa gestellt haben. I n diesen Männern hat Deutschland die zweite Epoche seiner Renaissance erlebt. Mit dem reinsten Eifer f ü r die Wissenschaft verbanden sie ein starkes Gefühl, einen edlen Freiheitssinn und eine kräftige Uberzeugung von der wesentlichen Einheit aller höheren Erkenntnisse. Von einer erhebenden Weltanschauung getragen, strebten sie danach, eben diese Anschauung durch ihre Arbeit zu erweitern und zu befestigen. Unsere Akademie hat die Ehre gehabt, die Mehrzahl dieser deutschen Gelehrten zu ihren Mitgliedern zählen zu dürfen. Sie hat von ihnen den Gehalt und die Form, sie hat den Ruhm, aber auch heilige Pflichten als Erbe empfangen. Brauche ich Sie an S c h l e i e r m a c h e r s Religionsphilosophie, an Nie-
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b u h r s römische Geschichte, W i l h e l m v o n H u m b o l d t s und B o p p s Sprachwissenschaft, an S a v i g n y s römisches Recht, an G r i m m s deutsche Grammatik und Volkskunde, an B ö c k h s Altertumswissenschaft, an R i t t e r s Geographie und an L a c h m a n n s Textkritik zu erinnern? Alle diese Männer wirkten einmütig in dieser Akademie zusammen und hoben die historisch-philologische Klasse auf eine beherrschende Höhe. Die akademischen Abhandlungen, die sie veröffentlichten, haben eine tiefe innere Verwandtschaft: sie verbinden eine neue Betrachtung des Stoffs mit einer Methode, die deshalb „exakt" ist, weil sie sich des Einzelnen wie des Ganzen mit Liebe bemächtigt. Dazu sind diese Abhandlungen durchwaltet von einer inneren Idealität der Sprache, die ihnen einen unvergänglichen Reiz verleiht. I m achtzehnten Jahrhundert schrieb man mit Esprit, weil man sich selbst für klüger hielt als die Geschichte, jene aber sind mit Geist geschrieben; denn sie sind aus der Begeisterung für die Sache geboren. Nicht ebenso schnell und umfassend entwickelten sich die Naturwissenschaften bei uns. Zu weit und zu lange war Deutschland hier hinter anderen Ländern zurückgeblieben, und als eine Erhebung begann, da mußte der schwere Kampf ausgefochten werden wider eine phantastische Naturphilosophie. Die Akademie wies diese Pseudowissenschaft von Anfang an ab, und um A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t , der endlich aus Paris — nachdem er der deutschen Wissenschaft dort unsägliche Dienste geleistet hatte — zurückgekehrt war, sammelten sich allmählich S e e b e c k , M i t s c h e r l i c h , E n c k e , R o s e , D i r i c h l e t und J a c o b i . H u m b o l d t ist es gewesen, der in Preußen der Naturwissenschaft in ihrem ganzen Umfange das Haus gebaut und der Wissenschaft überhaupt im Staatsleben die gebührende Stellung errungen hat, an Vielseitigkeit der Interessen und wirksamer Sorge f ü r das Ganze einem L e i b n i z wahlverwandt. Um 1835 standen die physika-
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lisch-mathematischen Disziplinen in ebenbürtiger Vertretung neben den historischen; die biologischen aber erhielten in J o h a n n e s M ü l l e r den epochemachenden, universalen Forscher, der der Lehrer der Lehrer geworden ist. Immer deutlicher, wenn auch durch schwere innere Spannungen hindurch, erkannte die Akademie jetzt die Aufgabe, die ihr im Unterschied von allen anderen wissenschaftlichen Anstalten obliegt. Als dreifache hat sie sie bestimmt. Erstlich, sie wurde sich bewußt, daß sie als repräsentierende und begutachtende Körperschaft die ideale Einheit der Wissenschaft zu verwirklichen und im Leben des Staates und der Gesellschaft darzustellen habe. Zweitens, sie erkannte, daß es ihre Aufgabe sei, „wie ein mächtiges Schiff die hohe See der "Wissenschaft zu halten und in tonangebenden Vorträgen und Mitteilungen alle auftauchenden Spitzen der Forschung neu und frisch hervorzuheben". Drittens, sie begann einzusehen, daß sie ihre Organisation ausnützen müsse, um große wissenschaftliche Unternehmen zu leiten, deren Durchführung die Kräfte des Einzelnen übersteigt. S c h l e i e r m a c h e r , N i e b u h r und S a v i g n y sind es gewesen, die diese Aufgabe der Akademie erkannt und gefordert haben, zuerst durchgeführt hat sie B ö c k h in seinem Corpus Inscriptionum G-raecarum. Doch erst in unserer Periode ist die Aufgabe durch die vorbildlichen Leistungen e i n e s Mannes zu ihrer vollen Verwirklichung gelangt. So, im einzelnen und im großen arbeitend, dem genialen Forscher Raum gebend und verstreute Kräfte sammelnd, in der Stille wirkend und doch bewegt und bewegend, hat die Akademie F r i e d r i c h W i l h e l m s H I . und F r i e d r i c h W i l h e l m s IV. sich bewährt. Langsam aber änderten sich seit der Mitte des Jahrhunderts die Ziele und Aufgaben der Wissenschaft. „Entwickelung" und „G-eschichte" waren schon in seiner ersten
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Hälfte die Losung gewesen, aber es bestellt ein fundamentaler Unterschied zwischen damals und jetzt. Damals faßte die Wissenschaft noch mit Vorliebe in allen Disziplinen das Ungemeine und Hervorragende ins Auge, gleichsam die Blüte der Erscheinungen. Der Forscher wollte unmittelbar durch seinen Gegenstand erhoben sein; darum wählte er sich das Größte. Entschloß er sich zu niederen Formen herabzusteigen, so geschah es, um das Erhabene in ein helles Licht zu setzen. Einige geniale Naturforscher, wie G o e t h e , abgerechnet, hatte man, trotz allem Ausschreiten ins Allgemeine, doch noch keinen rechten Sinn für das Ganze und darum auch keine Ehrfurcht vor ihm. Immer lockte noch das hervorragend Besondere und hielt Sinn und Interesse gefangen. Das wurde nun anders. Man lernte einsehen, daß ein volles Verständnis der Erscheinungen nur an ihren Ursprüngen und auf Grund des ganzen Tatsachenmaterials aufgehen könne. Umfassende Induktion und peinlichste Kritik, Massenbeobachtung und Argwohn gegenüber einem vorgreifenden Idealismus wurden die Grundzüge der wissenschaftlichen Haltung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Forderung der Massenbeobachtung führte zur Forderung der Arbeitsteilung, die Aufgabe der „Entwicklungsgeschichte" zum Studium der ersten Glieder in jeder Reihe. Von den Höhen nicht nur der Spekulation, sondern auch der Betrachtung komplizierter Ordnungen stieg die "Wissenschaft überall herab zu den Niederungen der primitiven Tatsachengruppen. Fast darf man sagen, sie entäußerte sich ihres „humanen" Charakters, um zunächst die Erscheinungen zu studieren, welche die elementaren Voraussetzuugen f ü r alles Sein und Werden bilden. Der Biologe studierte vor allem die niedersten Organismen; der Psychologe wurde zum Psychophysiker, der Sprachphilosoph zum Lautphysiologen, der Historiker zum Wirtschaftsstatistiker oder Urkundenforscher. Es wäre ungerecht, zu behaupten, daß diese Wendung
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des wissenschaftlichen Betriebs zur Empirie überall ein Erlahmen der tieferen geistigen Arbeit verursacht habe. Zwar erliegen kleinere G-eister der Versuchung, sich alles höhere Streben abzugewöhnen, heute leichter; denn die Brücke, die von der Einzelwissenschaft zu einer Weltanschauung und zur Weisheit führt, ist schwerer zu finden als ehedem. Allein die Meister stehen, was Vielseitigkeit in der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und gesunde, tiefe Spekulation anlangt, keinem früheren Zeitalter nach. Das Gesetz von der Erhaltung der K r a f t und die Gesetze entwickelungsgeschichtlicher Bewegung, nicht erträumt, sondern bewiesen, schweben über der gesamten Forschung und verheißen jeder Gruppe von Untersuchungen Frucht. Dazu: die tieferen entwicklungsgeschichtlichen Forschungen haben zwar die Allgemeingültigkeit des Mechanismus gelehrt, nicht aber seine Alleingültigkeit. Der Einsicht, daß es ein überall tätiges, formgebendes, teleologisch wirkendes Prinzip gibt, dem der kausale Ablauf der Erscheinungen eingeordnet ist — dieser Einsicht sind wir heute näher als vor dreißig Jahren, und das leere Spiel mit "Worten, die Gewaltsamkeiten und die täuschenden Zurückschiebungen der Probleme haben wieder der einfachen, alten Fragestellung weichen müssen. Den Naturwissenschaften ist in erster Linie dieser Umschwung der Dinge zugute gekommen, und nicht mit Unrecht spricht man von dem „naturwissenschaftlichen Zeitalter" . Ihrem Aufstreben kam noch ein besonderer Umstand zu Hilfe. Die gesteigerten Anforderungen des modernen Lebens bedeuteten ebenso viele Anfragen an die Leistungsfähigkeit der Naturerkenntnis, und sie hat ihnen in glänzender Weise entsprochen. Neben H e l m h o l t z steht W e r n e r S i e m e n s . Wir dürfen sie stolz die Unsrigen nennen; aber wir nennen sie auch als die bleibenden Vorbilder echt wissenschaftlicher Haltung. Von W e r n e r S i e m e n s , dem Techniker, stammt das Wort: „Die wissenschaftliche Forschung
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darf nicht Mittel zum Zweck sein, sie muß um ihrer selbst willen betrieben werden," und das Geheimnis der Kraft Helmholtzens lag in der geschlossenen Größe seines einzig auf Erkenntnis gerichteten Geistes. Helmholtz und S i e m e n s sind uns entrissen worden; aber der Dritte aus ihrem Kreise, der Gelehrte, der die Pathologie der Zelle begründet und die ganze Heilkunde reformiert hat, wirkt in ungeschwächter Kraft noch unter uns; er verbindet die heutige Naturforschung mit der stolzen Epoche ihrer Grundlegung. Blicken wir auf die Geisteswissenschaften: auch das Studium der Geschichte und der Sprachen blieb in diesem Zeiträume hinter dem der Naturwissenschaften nicht zurück. "Welche Erinnerungen steigen in uns auf, wenn wir neben den ausgezeichneten Naturforschern — einem D u b o i s R e y m o n d , v o n H o f m a n n , P r i n g s h e i m und anderen — der Namen H a u p t und C u r t i u s , D r o y s e n und D u n c k e r , M ü l l e n h o f f und S c h e r e r , S y b e l und T r e i t s c h k e und so vieler anderer gedenken, wenn wir R a n k e nennen, ihn, dessen Schüler wir alle sind. Die neue Sprachforschung und Geschichtschreibung hat an dieser Akademie ihren Ursprung gewonnen, und hier ist sie zur Blüte gebracht. Noch genießen wir das Glück, in unseren Senioren die lebendigen Zeugen des Aufschwungs verehren zu dürfen. Was die „Römische Geschichte" und die „Geschichte der griechischen Philosophie" bedeuten, weiß mit uns die ganze gebildete Welt. Auch die Geschichts- und Sprachforschung haben in dem letzten halben Jahrhundert Umwandlungen erlebt, die an Bedeutung keiner früheren nachstehen. Auch sie haben den ihnen überlieferten Entwicklungsgedanken neu, d. h. exakt und konkret, anzuwenden gelernt, überall die elementaren Bedingungen aufgesucht, die Wechselwirkungen studiert und an der Fülle des Einzelnen die Lebensbewegung des Ganzen zu durchschauen begonnen. Aber die Akademie hat sich niemals weniger als in
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dem letzten halben Jahrhundert darauf beschränkt, den Mitteilungen ihrer Mitglieder zu lauschen. Den Großbetrieb der "Wissenschaft, den das Zeitalter forderte, hat sie aufgenommen und im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr als zwanzig umfassende Unternehmungen ins Werk gesetzt, welche die Kräfte des einzelnen Mannes übersteigen und Menschenalter zu ihrer Durchführung erheischen. Sie hat treue Arbeiter ermittelt und gesammelt; sie ist die Schutzstätte der jungen Talente geworden, und sie hat auch dort gesät, wo sie selbst nicht ernten wird. Diese Unternehmungen einzuleiten und im Gang zu erhalten, wäre der Akademie aber unmöglich gewesen, hätte ihr nicht die Gnade ihrer Königlichen Protektoren die Mittel gewährt und hätte sie nicht die Fürsorge der Königlichen Staatsregierung in reichstem Maße stets gefunden. Das heutige Fest bietet uns erwünschten Anlaß, vor dieser illustren Versammlung es dankbar auszusprechen, was die Wissenschaft in Preußen, was diese Akademie der Königlichen Unterrichtsverwaltung verdankt. Niemals hat sie uns im Stiche gelassen; unsere Unternehmungen hat sie wie ihre eigenen betrachtet, ihren Rat und ihre tatkräftige Hilfe ihnen zugewandt, und doch stets Freiheit walten lassen. Ihrer Fürsprache verdanken wir die neue Institution, unsere wissenschaftlichen Beamten. Sie hat damit den Grund zu einer noch umfassenderen Wirksamkeit der Akademie gelegt. Zu höchst aber richtet sich unser Dank an unseren allergnädigsten Protektor, König und Herrn. Unter Seinem Schutze arbeiten wir; I h m ist auch die Wissenschaft vertraut; Seine Sorge waltet über uns. Königlich hat E r diese Akademie geehrt. Wir wollen uns solcher Ehre würdig erweisen, wie es dem Preußen geziemt: wir wollen unsere Pflicht tun. Gott schütze den König! Die Wissenschaft ist nicht die einzige Aufgabe der Menschheit, sie ist auch nicht die höchste; aber die, denen sie befohlen ist, sollen sie von ganzem Herzen und mit
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allen Kräften treiben. "Wie verschieden sich auch die wissenschaftlichen Epochen gestalten — im Grunde bleibt die Aufgabe immer dieselbe: den Sinn f ü r die Wahrheit rein und lebendig zu erhalten und diese Welt, die uns gegeben ist als ein Kosmos von Kräften, nachzuschaffen als einen Kosmos von Gedanken. Möge es unserer Akademie in ihrem dritten Jahrhundert beschieden sein, an diesem Werke der Menschheit mitzuarbeiten; mögen finstere Mächte ihr fern bleiben; möge das Licht, das im Anfang war, ihren Weg bestrahlen und das Wort, das im Anfang war, ihrem Geiste leuchten.
Vom Großbetrieb der Wissenschaft. Als jüngst bekannt wurde, daß an eine Art von Austausch zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten — natürlich in bescheidenen Grenzen — gedacht werde, haben einige Zeitungen zu diesem Plane teils Glossen gemacht, die zeigten, wie unvorbereitet man für ihn war, teils den Ursprung des Planes an falscher Stelle gesucht. Schon seit zwei Jahren — es kann noch länger her sein — ist ein solcher Austausch ins Auge gefaßt; die Initiative ging vom K a i s e r und dem P r ä s i d e n t e n der H a r v a r d - U n i versität unter dem Beirat A l t h o f f s aus. Die Anwesenheit zahlreicher deutscher Gelehrter in St. Louis (1904) bei dem wissenschaftlichen Kongreß und ihre freundliche Aufnahme seitens amerikanischer Universitätslehrer haben dann den Gedanken der Verwirklichung nahe gebracht. Das Befremden, das er hier und dort hervorgerufen, mag mancherlei Ursachen haben. Vielleicht tut man am besten, es zu übersehen, da man erwarten kann, daß es von selbst einem richtigeren Urteile Platz machen wird. Allein da eine seiner Ursachen gewiß in der unvollständigen Vorstellung vom heutigen Betriebe der "Wissenschaft liegt, so wird es nicht überflüssig sein, über diesen einiges Aufklärende mitzuteilen. "Wissenschaft ist im Grunde und letztlich immer Sache des Einzelnen; daran vermag keine Entwicklang etwas zu ändern. Aber es gibt Aufgaben, deren Bewältigung ein Menschenleben weit übersteigt; es gibt ferner Aufgaben, die so viele Vorbereitungen verlangen, daß der Einzelne bis zur Aufgabe selbst gar nicht vorzudringen vermag; es gibt
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endlich solche, die durch ihre Kompliziertheit eine Arbeitsteilung fordern. Man kann noch mehr sagen — genau betrachtet sind alle wissenschaftlichen Aufgaben in jedem Falle Teile einer größeren Aufgabe und sind, solange sie isoliert behandelt werden, überhaupt unlösbar. Hier stoßen wir also wieder einmal auf eine der Paradoxien, die wie mit einem ehernen Ring unsere geistige Existenz umgeben: "Wissenschaft ist immer Sache des Einzelnen, und die wissenschaftlichen Aufgaben können doch niemals von Einzelnen erledigt werden. Der Dichter hat dieses Paradoxon wohl gefühlt, wenn er ausruft: Eh' es sich ründet in e i n e n Kreis, ist kein Wissen vorhanden, Ehe nicht E i n e r a l l e s weiß, ist die Welt nicht verstanden.
"Wie helfen wir uns bei dieser Lage der Dinge? "Wir dürfen die "Wissenschaft weder ausschließlich in der Studierstube oder dem Laboratorium des einzelnen Gelehrten belassen, noch weniger dürfen wir daran denken, sie in ein allgemeines Arbeitsbureau zu verweisen, sondern wir müssen in konzentrischen Kreisen, die sich immer weiter erstrecken, die Aufgaben anordnen, müssen in derselben Weise die Arbeitenden in Fühlung mit einander bringen und den Versuch wagen, auf dem Boden der Freiheit des Einzelnen ein System der Forschung herzustellen. Man kann einwenden, diese Lösungsmethode sei kaum minder schwierig als das Problem, das sie lösen soll. Allein — sie ist schon lange in K r a f t und im "Werden; es kommt nur darauf an, sie immer energischer zu fördern und immer weiter auszubreiten. Soll ich von der Geschichte ihrer Entstehung und allmählichen Entwicklung berichten, von dem Zusammenwirken großer Kreise von Gelehrten bereits im 17. Jahrhundert, von der erstaunlichen Einsicht und Kraft, mit der L e i b n i z diese Aufgabe erkannt, ergriffen und ein halbes Jahrhundert hindurch mit unbesieglicher Zähigkeit betrieben hat, von den europäischen Akademien, die ihren Ursprung zu einem großen Teil an diesem Gedanken ge-
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nommen haben, von deutschen und von ausländischen Gelehrten, die am Anfang des 19. Jahrhunderts ihn erfaßten und in bedeutenden Unternehmungen zum Ausdruck brachten, endlich von Mo mm sen, der den größeren Teil seiner unvergleichlichen Arbeitskraft und seines langen Lebens in den Dienst gemeinsamer wissenschaftlicher Aufgaben gestellt hat? Es ist unmöglich, davon hier zu erzählen. Der Hinweis mag genügen, daß allein die Berliner Akademie der Wissenschaften heute gegen vierzig große wissenschaftliche Unternehmungen teils direkt leitet, teils an ihnen beteiligt ist. Unter ihnen sind solche, deren jede mehrere Dutzende von Gelehrten zu planvoller Arbeit vereinigt, und auch die konzentrischen Kreise, von denen ich oben gesprochen, finden sich hier wieder. Da sind Aufgaben, die von einem kleinen Stabe von Gelehrten unter der Leitung einer Akademie gelöst werden. Da sind solche, die einen größeren Kreis von Mitarbeitern verlangen und für die Oberleitung mehrere Akademien in Anspruch nehmen. Da sind endlich solche, deren Schauplatz ganze "Weltteile, ja die Erde und der Himmel selbst ist, und die eine internationale Leitung erfordern. Haben doch schon sämtliche bedeutendere Akademien der "Welt ein Kartell miteinander geschlossen, um große Unternehmungen ins Werk zu setzen und Zersplitterungen zu verhüten! Welche Unmenge von Vorurteilen überwunden werden mußte, bevor das Kartell verwirklicht wurde, davon muß ich hier schweigen. Die Sternwarten der Erde stehen längst unter einander in Verbindung, und auch für Aufgaben, wie die der Meteorologie, der Gradmessung usw. bestehen internationale Kommissionen. Dächten wir uns aus dem, was die Wissenschaft der letzten fünfzig Jahre erarbeitet hat, alles das weg, was durch planvolle gemeinsame Unternehmungen zu stände gekommen ist, so entfiele damit nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den sogenannten Geisteswissenschaften eine so große Summe erworbener Erkennt-
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nisse, wie wir sie uns gar nicht vorzustellen vermögen. Wer daher heute gegen den Großbetrieb der "Wissenschaften spricht — das "Wort ist nicht schön, aber ich finde kein besseres — , der weiß nicht, was er tut, und wer die fortschreitende Ausbreitung dieser Methode der "Weltbezwingung zu hemmen sucht, der wirkt gemeinschädlich. Die Gefahren dieses Betriebes kennen wir genau — Mechanisierung der Arbeit, Überschätzung der Stoff-Sammlung und -Reinigung gegenüber der geistigen Durchdringung, wohl auch eine gewisse Verblödung der Arbeiter—, aber gegen alle diese Gefahren vermögen wir uns selbst und unsere Mitarbeiter zu schützen. Die Arbeitsteilung darf nicht übertrieben, kein Gelehrter darf auf längere Zeit mit wesentlich mechanischen Arbeiten belastet werden; ein jeder soll wissen, weshalb er arbeitet, man soll ihn an der Ausnutzung des Materials teilnehmen lassen usw. "Wir haben bisher von rein wissenschaftlichen großen Aufgaben gesprochen, die von Akademien und Spezialvereinigungen verschiedenster Art — lokalen, nationalen und internationalen — in Angriff genommen werden. Aber neben diesen rein wissenschaftlichen Aufgaben steht in allen Kulturländern die hohe Verpflichtung im Vordergrund, die "Wissenschaft durch Überlieferung fortzupflanzen und zu lehren; den Universitäten und den ihnen verwandten hohen Schulen ist sie anvertraut. Diese Aufgabe ist nicht in derselben "Weise international wie es die der reinen "Wissenschaft ist, vielmehr kommt hier der Nationalität ein bedeutender Anteil zu. Art, Maß und Methoden der wissenschaftlichen Überlieferung sind das Ergebnis des Volkscharakters und der Geschichte, die das Volk erlebt hat. Sie lassen sich nicht willkürlich übertragen oder nach einem gewissen Schema regeln. Die hohen Schulen sind historische Gebilde, in denen die Eigenart jeder großen Nation sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Im Mittelalter war das anders; aber da hatten sich die Volksindividualitäten
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auch noch nicht kräftig entwickelt: die universale Kirche beherrschte, überall gleichartig, das gesamte Bildungswesen. Nun aber sind — und zwar schon seit langer Zeit — die verschiedenen Völker kräftig hervorgetreten, und das spiegelt sich auch in ihrem höheren Bildungswesen ab. Lediglich ein Gewinn ist das nicht; die Uniformität des Mittelalters hatte auch ihre Vorteile. Der berühmte Lehrer war nicht ausschließlich an ein Land gebunden; er las in Neapel, in Bologna, in Paris, in Köln oder in Oxford. Die Studenten brauchten nicht ihre Bildung ausschließlich im Heimatlande zu suchen; sie gingen den großen Lehrern nach, und sie lernten dabei fremde Länder kennen. "War auch die Wissenschaft und die wissenschaftliche Sprache dieselbe, so waren doch die Sitten verschieden; Ungewohntes gab es in der Fremde zu sehen; bereichert kehrten sie in ihre Heimat zurück. In und nach der Reformationszeit hörte das mehr und mehr auf; nur noch einer immer kleiner werdenden Elite war es vergönnt, im Auslande ihre Bildung zu vermehren. Erst im letzten Menschenalter hat wieder eine Gegenbewegung deutlich eingesetzt, und sie ist — bei den einzelnen Völkern in verschiedener Stärke — noch immer im Wachsen. Das ist wohl verständlich; denn heute lernen die ausziehenden Studenten in der Fremde nicht nur wie im Mittelalter die immer gleiche Wissenschaft kennen, sondern sie finden einen national eigentümlich gestalteten Lehr- und Wissenschaftsbetrieb. Forschung und Lehre stehen aber in einer geheimen, innerlichen Verbindung. Man kann die Lehre (die Uberlieferung) von der Forschung (der Wissenschaft) nicht einfach abstreifen wie ein Gewand. Der wahrhaft gute Lehrer legt in seinen Unterricht Imponderabilien, die auch für die Forschung von größter Bedeutung sind. Er selbst hat sie teils aus der Überlieferung in seiner Nation empfangen, teils eigentümlich ausgebildet — nicht einmal in seine eigenen Bücher vermag er sie hineinzuschreiben, geschweige, daß sie ein
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Fremder einfach zu kopieren vermöchte. Dazu, besondere Zweige der "Wissenschaft werden in dem einen Lande mehr gepflegt als in dem anderen; gewisse Methoden sind dort besser ausgebildet als hier, gewisse Hilfsmittel vollständiger und reicher. Der Austausch der Studierenden ist nun wieder im Gange. Man kann das auch, nur in einem anderen Sinn, einen Großbetrieb der Wissenschaft nennen. Wie würde Leibniz frohlocken, wenn man ihm diese Kunde noch bringen könnte! Unter den 7700 Studenten der Berliner Universität befinden sich zurzeit nicht weniger als 1150, die aus dem Ausland gekommen sind. Auch wenn man die Deutsch-Österreicher und die deutschen Schweizer abzieht, sind es noch immer etwa 1000! In Paris ist es nicht anders, und auch in Harvard studieren nicht nur Bürger der Vereinigten Staaten. Unsre technischen Hochschulen und Universitäten, wie München und Leipzig, haben zahlreiche Studierende aus dem Ausland; aber auch an den mittleren Universitäten fehlen sie nicht. Es gibt kurzsichtige Patrioten und kurzsichtige Politiker, die das nicht recht statthaft finden oder gar bedauern. Dies und jenes wird genannt: es seien unter den Fremden bedenkliche Elemente — man stoße sie ab, aber wirklich nur die bedenklichen! — sie nährten sich an unserer Bildung, und wir erzögen uns selbst Konkurrenten — als ob das, was unliebsame Konkurrenz hervorruft, nicht auch aus unseren Büchern und Zeitschriften gelernt werden kann! Freuen sollten wir uns vielmehr über jeden Ausländer, der wissensdurstig unsre hohen Schulen aufsucht. Die Bilanz für uns, mögen denn wirklich einige Unbequemlichkeiten entstehen, wird wahrlich keine ungünstige sein! Auch hier gilt die große Regel: „Willst du haben, so gib". Was wir durch Geben verlieren, wenn wir diese in einer idealen Frage meines Erachtens überhaupt nicht statthafte Erwägung anstellen sollen, werden wir zehnfach zurückempfangen, zu-
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rückempfangen in unmeßbaren, aber auch in meßbaren Wirkungen. Cecil R h o d e s wußte, was er tat, als er zahlreiche Stipendien für Ausländer an der Universität Oxford stiftete, oder glaubt man, daß er seinem England damit ins Fleisch schneiden wollte? Der Austausch der Studierenden an den Hochschulen ist eine der seltenen Unternehmungen, in der der G-ebende und der Empfangende beide in gleicher Weise gewinnen, wenn sie den rechten Gebrauch von ihr machen. Wie wir wünschen müssen, daß die Zahl der Ausländer an unseren Hochschulen wachse, so müssen wir ebenso auch wünschen, daß unsre Studierenden zahlreicher ins Ausland gehen — natürlich nicht als unreife Anfänger, sondern als solche, die in der Heimat gefestigt und bereits in die Wissenschaft eingedrungen sind. Was haben die jungen deutschen Chemiker dadurch gelernt, daß sie im Anfang des vorigen Jahrhunderts nach Paris und zu Berzelius nach Schweden gegangen sind! Erinnert sei nur an L i e b i g und Mitscherlich! Was verdankt die orientalische Wissenschaft in Deutschland jenen jungen Gelehrten, die in Paris bei Silvestre de Sacy u. a. gelernt haben! Wäre Lieb ig ohne die Pariser Chemiker Liebig geworden, und hätte F l e i s c h e r die arabischen Studien bei uns begründen können ohne seinen Pariser Aufenthalt? Aus Büchern konnten sie das nicht lernen, sie mußten sich den Meistern zu Füßen setzen! Daß hier außerdem auch ein großes, weittragendes Mittel gegeben ist, um die Vorzüge und Schwächen des eigenen Landes und wiederum die Art und die Leistungen der anderen Nationen besser kennen zu lernen, Mängel dort billiger zu beurteilen und Vorzüge tiefer zu würdigen, ist gewiß. Die Humanität und die Verbrüderung der Völker ist in unsern Tagen, da sie sich im Räume immer härter zu stoßen beginnen, mehr bedroht, als die meisten noch ahnen. Der wissenschaftliche Austausch, der sachliche und der persönliche, und der friedliche Wetteifer in der Arbeit der Wissenschaft vermögen hier viel
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aufzuhalten und viel zu verbessern! Es sind nicht nur Professoren, die von dieser Wahrheit überzeugt sind — man kann sie als kurzsichtig oder als selbstgefällig beiseite schieben —, sondern es sind auch tiefblickende Staatsmänner, die nicht anders urteilen und sich in diesem Sinn ausgesprochen haben. Die Fragen um den Besitz der Erde und die mit ihnen zusammenhängenden vermag die Wissenschaft nicht zu beschwichtigen, und nicht alle brutalen Instinkte der Menschheit vermag sie zu bannen. Aber wie sie imstande ist, durch Entdeckungen und Erfindungen die Hilfsquellen zu vermehren, Erleichterungen zu schaffen und dadurch Krisen zu verzögern, so vermag sie auch — und das ist nicht das Geringere — in den Arbeitenden einen ganzen Chor von Tugenden zu schaffen und Ungeduld, Kleinsinn und Engherzigkeit, Frivolität und Leichtsinn auszutreiben. Wenn sie die Entfernten persönlich einander näher bringt, führt sie auch die Verbrüderung der zivilisierten Nationen um einen Grad der Verwirklichung näher. Der Austausch der Lernenden weist aber auch mit einer gewissen Notwendigkeit auf den Austausch der Lehrenden hin, wie ein solcher im Mittelalter schon bestanden hat. Groß wird die Anzahl der Studierenden nie sein, die ins Ausland zu gehen vermag, und, davon abgesehen — der Lehrende wird lernen, wenn er unter neuen Bedingungen lehrt. Auch hier steht es so, daß in bescheidener Weise der Austausch schon längst wieder begonnen hat. Nicht nur die internationalen Kongresse der verschiedenen Wissenschaften sind hier zu nennen, auf denen die Gelehrten fremder Nationen Vorträge halten, sondern immer häufiger wird es auch, daß berühmte Forscher und Lehrer in die ausländischen Universitätsstädte gehen und dort ihre Entdeckungen vortragen oder ihre Lehrweise bekanntmachen. So sind, um nur einiges zu nennen, was mir gerade im Gedächtnis ist, der Physiker Lord K e l v i n , der Chemiker R a m s a y , der Polarforscher Nansen, wenn ich nicht irre,
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auch N o r d e n s k j ö l d , bei uns in Berlin gewesen und haben Vortrage gehalten. Wir haben van t1 H o f f aus Holland bekommen; er ist von uns nach Amerika gegangen und hat dort aus dem Schatze seiner Wissenschaft Mitteilungen gemacht. Der Chemiker A. W. von H o f m a n n ist von uns nach London gezogen, hat dort gewirkt und ist dann nach Deutschland zurückgekehrt. E u c k e n ist von den Studenten der holländischen Universitäten zu Vorlesungen eingeladen worden. Französische Gelehrte halten in Amerika in den Universitätsstädten Vorträge, und ein Professor der HarvardUniversität lehrt einen Winter hindurch an der Sorbonne. Max Müller kam aus Oxford und wurde, ohne seine Stelle dort aufzugeben, zeitweilig Professor in Straßburg. Der alttestamentliche Gelehrte B u d d e , damals in Straßburg, hat zusammenhängende Vortragskurse an mehreren amerikanischen Universitäten gehalten, und der neutestamentliche Textkritiker G r e g o r y , einst Amerikaner, dann Deutscher, hat von Leipzig aus ähnliche Kurse in demselben Lande geleitet. Diese Liste wird leicht vermehrt werden können, und soll ich aus früherer Zeit an das internationale Wirken L e i b n i z e n s und A l e x a n d e r von H u m b o l d t s erinnern? Sie haben sich nicht damit begnügt, durch Bücher auf das Ausland einzuwirken, sondern sie haben durch ihre persönliche Gegenwart im Ausland das zu erreichen gesucht, was ihnen als hohes Ziel vorschwebte. Als hannoverscher Beamter hat Leibniz in Preußen — es war für den Hannoveraner im vollen Sinne damals „Ausland" — die Akademie der Wissenschaften begründet und die Schöpfung der Akademien in anderen Ländern angeregt. Aber von Hannover aus konnte er das nicht schaffen; monatelang hat er in Berlin und in Wien leben müssen. Diese Übersicht zeigt, daß die Art und Weise, wie ein Austausch der Gelehrten herzustellen ist, eine sehr verschiedene sein kann. Aufforderungen an bedeutende ausländische Gelehrte, einzelne Vorträge zu halten, sind das
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einfachste Mittel; aber es genügt nicht. Einladungen zu Kursen von vier bis acht Vorlesungen führen schon weiter und werden eine nachhaltigere Wirkung erzielen. Aber auch sie entsprechen noch nicht ganz dem, was zu wünschen ist. Das Beste wäre, wenn es sich erreichen ließe, daß ein fremder hervorragender G-elehrter auf ein ganzes Semester oder auf noch längere Zeit käme und sich in die Weise und den Gang des Unterrichts der betreffenden Universität zeitweilig einordnete. Natürlich braucht sich kein Land aus dem Ausland zu besorgen, was es selbst ebenso gut oder besser besitzt. Aber, wie schon bemerkt wurde, die Unterrichts weise und die Imponderabilien, die auch in der Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielen, sind in den großen Kulturländern verschiedene; besondere Spezialitäten werden überall gepflegt und vor allem — es ist von ausgezeichnetem Werte, die Sprache, die G-eschichte, die Literatur und die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse eines großen Landes von einem Bürger dieses Landes dargestellt zu sehen. Kein Fleiß und keine Gelehrsamkeit eines Ausländers vermögen in alle diese Verhältnisse einzudringen und sie richtig zu würdigen. In dieser Erkenntnis ist in Berlin auf eine Reihe von Semestern bereits ein französischer G-elehrter angestellt worden, und man kann nur dringend wünschen, daß es nicht bei diesem Anfange bleibt. Aber aus derselben Erwägung heraus ist der Gedanke aufgetaucht — ich weiß nicht, wer ihn zuerst erfaßt hat —, amerikanische Gelehrte zu semestralen Vorlesungen nach Deutschland einzuladen und umgekehrt. Amerika ist unter den Kulturländern für uns das räumlich entfernteste, geistig aber das nächste und verwandteste. Bei einem Austausch denken wir in erster Linie an dieses Land. Zwischen der Harvard-Universität und der Berliner Universität sollen daher Verhandlungen beginnen. Vorsichtig und in bescheidenen Grenzen wird man zunächst vorgehen müssen. Aus der verschiedenen Organisation dort
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und hier wird sich, vielleicht ergeben, daß man den Austausch herüber und hinüber nicht ganz gleichartig gestalten kann. Ist die Sache haltbar, so wird sie sich verwirklichen lassen und dann wie von selbst wachsen. Schwierigkeiten sind dabei gewiß zu überwinden. Sie liegen nicht nur in der verschiedenen Semestereinteilung und in der Sprache, sondern auch, in manchen anderen Verhältnissen. Auch wird es niemandem leicht sein, seine regelmäßige Tätigkeit zu unterbrechen, und die heimische Universität wird einen hervorragenden Lehrer ungern ziehen lassen, sei es auch nur auf ein Semester. Allein unüberwindlich sind die Schwierigkeiten keineswegs; die Entfernungen spielen keine Rolle mehr, und die Uberzeugung, daß sich für die "Wissenschaft neue internationale Pflichten entwickelt haben, die aber zugleich Erweiterungen ihrer "Wirksamkeit bedeuten, wird den Plan gelingen lassen und so der Verbreitung der "Wissenschaft zugut kommen und das Band der Verbrüderung stärken.
Ansprache bei der Übernahme der General Verwaltung der Königlichen Bibliothek. 2. Oktober 1905. „Euer Exzellenz! Hochgeehrte Herren! Indem ich das mir kommissarisch übertragene Amt des Generaldirektors der Königlichen Bibliothek übernehme, danke ich allem zuvor Euer Exzellenz wie für den ehrenvollen Auftrag so für die weitblickenden und vertrauensvollen Worte, welche Sie an mich gerichtet haben. So lange ich Professor bin — und das sind nun dreißig Jahre — habe ich von dem Beruf des Bibliothekars und von den Aufgaben des Bibliothekswesens die höchsten Vorstellungen gehegt. Gewiß hängt die Gesundheit und Blüte der Wissenschaft in erster Linie von den wissenschaftlichen Persönlichkeiten ab; sie werden uns geschenkt, wir können sie nicht schaffen. Aber die nächstwichtige Bedingung sind die wissenschaftlichen Institute, und unter ihnen nehmen die Bibliotheken die erste Stelle ein. Sie umfassen den ganzen Ertrag der Arbeit und die Mittel zu ihrer Fortführung; sie sind Speicher und Werkstätte und Instrumente der Wissenschaft zugleich! Aber nicht nur der Wissenschaft im engeren Sinne sind sie nötig. Vielleicht noch größer ist ihre Bedeutung in einer Zeit, in der das Bildungsbedürfnis ein so eminentes geworden ist, und in der jeder Arbeiter verloren ist, der sich nicht Kenntnisse erwirbt und sich in seinem Fache nicht fort-
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bildet. Hier haben die Bibliotheken einzustehen, von dieser Königlichen Bibliothek ab bis zu den kleinen Sammlungen, die wir jedem Flecken und jedem Dorfe wünschen müssen. Ich sehe in dieser Bibliothek hier nicht ein isoliertes Institut, sondern den Mittelpunkt eines großen Systems, welches unser ganzes Vaterland umspannt oder doch umspannen soll. In diesem Ausblick übernehme ich das mir übertragene Amt und bin dabei der guten Zuversicht, daß diese Auffassung im Sinne der Königlichen Staatsregierung ist, und daß ich ihre Absichten erfülle. Darin haben mich die Worte Euer Exzellenz bestärkt. Große Mittel sind nötig. Aber was die Staatsregierung schon geleistet hat, gibt die sichere Bürgschaft, daß sie in ihrer Fürsorge niemals erlahmen wird. Mit Recht haben Euer Exzellenz daran erinnert, was Preußens Könige für diese Bibliothek getan haben, und was wir insonderheit Sr. Majestät, unserem allergnädigsten Könige, verdanken. Mit patriotischem Stolz darf ich hinzufügen: noch niemals hat in Preußen die Königliche Staatsregierung und die Volksvertretung die ausreichenden Mittel für wissenschaftliche und für Bildungszwecke verweigert, wenn die Forderungen wirklich begründete waren. Die Bedürfnisse der Bibliotheken können freilich im einzelnen Fall nicht immer so drastisch motiviert werden wie die Forderung eines neuen naturwissenschaftlichen oder technischen Instituts. Man darf aber die Pflege der Bibliotheken mit der Pflege des Waldes vergleichen. Die Sünden und Vernachlässigungen rächen sich erst an den Kindern und Enkeln; daher auch umgekehrt: die Kinder und Enkel werden den Schatten der Bäume preisen, die wir gepflanzt haben. Es genügt nicht, den alten Bestand zu erhalten und für die nächsten Zwecke zu vermehren; es gilt auch hier, aufzuforsten und neue Gebiete zu gewinnen. Darf ich e i n e n besonders wichtigen Punkt hervorheben. Die deutsche Wissenschaft, Literatur und Kultur verdankt ihre zentrale Stellung seit einem Jahrhundert nicht
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zum geringsten Teil der Aufmerksamkeit, mit welcher sie verfolgt und in sich aufgenommen hat, was in anderen Ländern hervorgebracht wird. Hier bei uns soll wie in einem Brennpunkt jeder Strahl sich sammeln. Wir Deutsche müssen zu unserer eigenen Arbeit auch noch alles aufnehmen und doppelt wiedergeben, was wir empfangen. Das ist unser nationaler Beruf. Aber eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß man bei uns wirklich und mühelos das finden kann, was in anderen Ländern gedacht und geschrieben wird. Diese Voraussetzung trifft leider nicht mehr zu. Unsere Königliche Bibliothek ist aus Mangel an Mitteln zurückgeblieben. Die neuere ausländische Literatur ist nicht hinreichend in ihr vertreten. Sie kann sich in dieser Hinsicht mit dem Britischen Museum und der Bibliothek in Washington nicht messen, und es wird großer Anstrengungen bedürfen, um diese Lücken zu ergänzen. Und doch ist das nur einer von den zahlreichen und heißen Wünschen, die wir geltend zu machen haben, aber geltend machen in der Gewißheit, daß sie ihre Erfüllung finden werden. Und nun das andere! Ich wende mich an Sie, meine Herren Kollegen. Wie mir ein hohes Ideal des deutschen Bibliothekswesens vorschwebt, so auch ein hohes Ideal des Bibliothekars. Dieser Beruf genießt den Vorzug, daß er, mitten im geistigen Leben stehend, doch seinen Kämpfen entrückt ist. Innerhalb dieser Mauern gibt es keine Parteien; die politischen, kirchlichen und sozialen Kämpfe überschreiten diese Schwelle nicht. Die Sonne geht hier auf über Gerechte und Ungerechte, und ein jeglicher kommt an seinen Ort. Aber keine Bibliothek ist so gestellt, daß sie lediglich sammeln könnte: sie muß auswählen; und wiederum kein Bibliothekar darf nur Handlanger sein: er muß seine Schätze recht verwalten und sie in der besten Weise zugänglich machen. Diese Tätigkeit stellt die höchsten Anforderungen; aber nur sie ist des Bibliothekars würdig und sie entschädigt ihn für die abstumpfende Mühe, die sich in diesem Berufe reichlich findet. A u s w ä h l e n , V e r -
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w a l t e n , D i e n e n : so gilt es an dieser Stelle die Wissenschaft zu pflegen und die Nation erziehen zu helfen. Das ist das Ideal, und was in meinen Kräften steht, soll geschehen, damit kein einziger Mitarbeiter im Staube stekken bleibt. Die Voraussetzung dafür ist, daß sich ein jeder neben der allgemeinen enzyklopädischen Kenntnis und Sorge einen Hauptzweig der Arbeit besonders angelegen sein läßt und bibliothekarischer Fachmann für denselben wird. Sie, meine Herren, haben an dieser großen Bibliothek unter ganz besonders schwierigen Umständen, die nun bald in dem herrlichen Neubau ihr Ende finden werden, Bedeutendes geleistet. Dankbar gedenke ich in dieser Stunde vor allem der Verdienste meines verehrten Vorgängers, des Herrn Generaldirektors Dr. Wilmanns. Aber vieles ist noch zu tun; denn wir dürfen nicht rasten, damit wir im Strom der Geschichte nicht zurückbleiben. Aufs neue stellen wir diese Bibliothek unter den Schutz unseres allergnädigsten Königs; wir wissen es, daß er an ihr Anteil nimmt als ein Herrscher auch im Reiche des Geistes. Aufs neue empfehlen wir sie der Fürsorge Euer Exzellenz. Wir aber, meine Herren Kollegen, wollen uns zu energischer, fortschreitender Arbeit zusammenscharen. Ich bitte um Ihr Vertrauen, wie ich Ihnen mit vollem Vertrauen entgegenkomme. Ergreifen Sie meine Hand; sie wird stärker werden, je fester Sie sie fassen.
ZUR KAISERLICHEN BOTSCHAFT. VOM 11.0KT.1910: B E G R Ü N D U N G VON F O R S C H U N G S I N S T I T U T E N
Denkschrift, Sr. Majestät dem deutschen Kaiser am 21. November 1909 unterbreitet. Die bisher nicht gedruckte Denkschrift erscheint hier mit ganz geringer Kürzung. Auf ihrer Grundlage ruht der Aufsatz, der in der „Woche", 12. November 1910, erschienen ist. Der in der Denkschrift entwickelte Plan ist im Laufe eines Jahres unter meiner Mitwirkung bedeutend umgestaltet worden; aber die Grundzüge sind geblieben.
Ew. K a i s e r l i c h e u n d K ö n i g l i c h e
Majestät
haben in unermüdeter Fürsorge für den Fortschritt der Wissenschaften auch dem Bedürfnisse nach Forschungsanstalten huldvollstes Interesse gewidmet und über den Plan, der bevorstehenden Jubelfeier der Berliner Universität durch Begründung eines neuen der Wissenschaft gewidmeten Instituts eine besondere Weihe zu verleihen, allergnädigst meine Meinung hören wollen. Demzufolge beehre ich mich, unterstützt durch die sachkundige Beratung des Geheimen Regierungsrats Professors Dr. Fischer und des Geheimen Medizinalrates Professors Dr. Wassermann, denen ich tatsächliches Material und wichtige Ausführungen verdanke, Ew. Majestät eine Denkschrift alleruntertänigst vorzulegen. 1. Die heutige Organisation der Wissenschaft und des höheren Unterrichts in Preußen beruht auf den Gedanken und Grundsätzen W i l h e l m von Humboldts. Diese, von dem höchsten Idealismus und von dem sichersten Verständnis für das Notwendige und Praktische zugleich getragen, wurden vor hundert Jahren in der schwersten Zeit des Staates durchgeführt. Sie haben, von Preußen auf ganz Deutschland einwirkend, unser Vaterland in seinem wissenschaftlichen Ansehen an die Spitze aller Kulturnationen gerückt. Zwei Hauptsätze liegen der Organisation zugrunde; sie haben sich während eines Jahrhunderts bewährt und müssen daher auch heute noch in Kraft bleiben:
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1. Forschung und Unterricht müssen aufs engste verbunden sein, 2. der vollständige und sichere Betrieb der "Wissenschaften bedarf Akademien, U n i v e r s i t ä t e n und relativ selbständige F o r s c h u n g s i n s t i t u t e (Humboldt nannte sie „Hilfsinstitute"). „Die letzteren" — schreibt er in einer Denkschrift von 1809/10 — „müssen abgesondert zwischen Akademie und Universität stehen; allein beide müssen, unter gewissen Modifikationen, nicht bloß die Benutzung, sondern auch die Kontrolle über die Hilfsinstitute haben. Akademie, Universität und Hilfsinstitute sind drei integrierende Teile der wissenschaftlichen Gesamtanstalt unter Leitung und Oberaufsicht des Staates". Warum hielt Humboldt neben den Akademien und Universitäten besondere wissenschaftliche „Hilfsinstitute" für notwendig? Weil er erkannte, daß die gebotene segensreiche Verbindung von Forschung und Unterricht einer E r g ä n z u n g bedürfe, sollte schließlich nicht die Forschung doch Schaden leiden. Denn es werden auf den Universitäten die Bedürfnisse der Lehre und des Unterrichtes stets im Vordergrund stehen; ihnen werden die UniversitätsLaboratorien und -Institute in erster Linie dienen, und die Zeit des Professors wird zum größeren Teile von ihnen ausschließlich in Anspruch genommen sein. Aber es gab schon zu Humboldts Zeit wissenschaftliche Aufgaben, die nur erledigt werden konnten, wenn sich ihnen der Forschende, unterstützt von einem Stabe von Gelehrten, Jahre hindurch ausschließlich zu widmen vermochte, und es gab schon damals tastende Forschungen, die für den Unterricht noch gar nicht fruchtbar gemacht werden konnten. Deshalb verlangte Humboldt wissenschaftliche Forschungsinstitute. Aber am Anfang des vorigen Jahrhunderts war das Bedürfnis nach solchen „Hilfsinstituten" noch gering. Nur der Botanische Garten, die Sternwarte und die Königliche Bibliothek lagen in Humboldts Gesichtskreise. Um so
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bewunderungswürdiger ist sein prophetischer Blick, der vorauseilend bereits eine ganze Gruppe von solchen Forschungsinstituten in das Auge gefaßt hat. 2.
Wie ist nun die Entwicklung fortgeschritten? Die Akademien und Universitäten haben ein Jahrhundert lang im Geiste Humboldts gearbeitet, und es wird ihnen bezeugt, daß sie den Aufgaben wesentlich entsprochen haben, die ihnen gestellt waren. Die technischen Hochschulen traten ihnen für die hochgesteigerten naturwissenschaftlich-technischen Aufgaben zur Seite und sind in den Grundzügen nach dem Muster der Universitäten organisiert worden. Endlich sind auch einige neue „Hilfsinstitute" geschaffen worden, so das Meteorologische, das Astrophysikalische, das G-eodätische Institut, sowie die Physikalischtechnische Reichsanstalt (die Aufgaben und Zwecke der letzteren sind jedoch nicht rein wissenschaftliche). Dennoch steht heute, am Anfange des 20. Jahrhunderts, die deutsche Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaft, in einer Notlage, die nicht vertuscht werden darf. Zwar ist es eine Übertreibung, wenn jüngst von einem Hochschullehrer rund behauptet worden ist, die deutsche Wissenschaft sei bereits (namentlich von der amerikanischen) überflügelt, und ihre Universitäten ständen nicht mehr an der Spitze; wahr aber ist, daß die deutsche Wissenschaft auf w i c h t i g e n Linien der Naturforschung hinter der anderer Länder zurückgeblieben und in ihrer Konkurrenzfähigkeit aufs stärkste bedroht ist. Diese Tatsache ist schon jetzt national-politisch verhängnisvoll und wird es auch wirtschaftlich immer mehr werden. National-politisch ist sie verhängnisvoll, weil, anders als früher, heutzutage bei dem außerordentlich gesteigerten Nationalgefühl jedem wissenschaftlichen Forschungsergebnis ein nationaler Stempel aufgedrückt wird.
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Man liest heute in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen von deutschen, französischen, amerikanischen Forschungsergebnissen, bzw. Forschern, was früher in diesem Maße nicht der Fall war. Die Völker legen eben Wert darauf, jedem neuen Wissensfortschritt gleichsam das Ursprungszeugnis mit auf den Weg zu geben. Sie werden dabei in früher nie geübter "Weise von ihrer Tagespresse unterstützt, in wohl erwogener Absicht. "Wissen sie doch, daß nichts so sehr geeignet ist, für ein Volk auf der ganzen Welt zu werben und es als den führenden Kulturträger erscheinen zu lassen als die Erweiterung des menschlichen Wissens und die Erschließung neuer Quellen für die Arbeit und Gesundheit der gegenwärtigen und künftigen Generationen. Deshalb hat die Führung auf dem G-ebiete der Naturwissenschaften nicht mehr nur einen ideellen, sondern sie hat auch einen eminenten nationalen und politischen Wert. Daß sich an diesen auch ein wirtschaftlicher anschließt, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden. Eine Täuschung ist aber zurzeit nicht mehr möglich. Unsere Führung auf dem Gebiete der Naturforschung ist nicht nur bedroht, sondern wir haben dieselbe in wichtigsten Teilen bereits an das Ausland abgeben müssen. Schon teilt sich dieses Bewußtsein weiteren Kreisen mit. Schon macht es sich in der Presse Luft; schon erscheinen Artikel mit der Uberschrift: „Die deutsche Wissenschaft im Hintertreffen." Schon loben ergraute deutsche Forscher ihr Alter, weil sie nicht mehr genötigt sind, für die Zukunft zu sorgen und mit den ungleichen Waffen in den wissenschaftlichen Wettstreit gehen zu müssen. Wodurch ist diese ernste Lage herbeigeführt? Diese Frage nach allen Seiten hier zu erörtern, würde zu weit führen. Es genügt aber, auf ein entscheidendes Versäumnis hinzuweisen, das durch energische Anstrengung beseitigt werden muß und sicher beseitigt werden kann: Die Errichtung von F o r s c h u n g s i n s t i t u t e n , wie
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sie einem Humboldt als dritter F a k t o r in der wissenschaftlichen Gesamtanstalt vorschwebten, hat in Preußen und D e u t s c h l a n d n i c h t S c h r i t t geh a l t e n mit der großen E n t w i c k l u n g der "Wissenschaft. Seit einem Menschenalter hat sich die Naturwissenschaft fächerförmig ausgebreitet; zahlreiche neue Disziplinen, zum Teil von der Technik gefordert, zum Teil ihr vorauseilend, sind entstanden, zugleich aber sind Methoden der Massenbeobachtung, der Vergleichung und der Feinheit der Untersuchung gefunden worden, die es ermöglichen, eine Fülle neuer Aufgaben in Angriff zu nehmen. Ganze Disziplinen gibt es heute, die in den Rahmen der Hochschule überhaupt nicht mehr hineinpassen, teils weil sie so große maschinelle und instrumenteile Einrichtungen verlangen, daß kein Universitätsinstitut sie leisten kann, teils weil sie sich mit Problemen beschäftigen, die für die Studierenden viel zu hoch sind und nur jungen Gelehrten vorgetragen werden können. Dies gilt ζ. B. von der Lehre von den Elementen und von den Atomgewichten, wie sie sich gegenwärtig ausgebildet hat. Sie ist eine Wissenschaft für sich; jeder Fortschritt auf diesem Gebiete ist von der größten Tragweite für das Gesamtgebiet der Chemie; aber im Rahmen der Hochschule kann diese Disziplin nicht mehr untergebracht werden, sie verlangt eigene Laboratorien. Ferner die organische Chemie, deren Führung bis vor noch nicht langer Zeit unbestritten in den chemischen Laboratorien der deutschen Hochschulen lag, ist heute von da fast völlig in die großen Laboratorien der Fabriken abgewandert. Damit ist diese ganze Forschungsrichtung für die reine Wissenschaft zu einem großen Teile verloren; denn die Fabriken setzen die Forschungen stets nur soweit for^ als sie praktische Resultate versprechen, und sie behalten diese Resultate als Geheimnisse oder legen sie unter
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Patent. Daher ist nur selten eine Förderung der Wissenschaft von Seiten der mit noch so großen Mitteln arbeitenden Laboratorien der einzelnen Fabriken zu erwarten. "Wohl aber hat sich stets das Umgekehrte gezeigt, und die Industrie ist sich dessen selbst bewußt: die reine Wissenschaft hat der Industrie die größten Förderungen durch die Erschließung wirklich neuer Gebiete gebracht. Es sei an die Entdeckung der Konstitution des Indigo durch Baeyer erinnert, und hat nicht Far a days rein theoretische Entdeckung die heutige Dynamomaschine und damit die heutige Elektrizitätsindustrie geschaffen, haben nicht Hertz s rein wissenschaftliche Untersuchungen über die Fortpflanzung der elektrischen Wellen zur drahtlosen Telegraphic geführt? Humboldts Wort: „Die Wissenschaft gießt oft dann ihren reichsten Segen über das Leben aus, wenn sie sich von demselben gleichsam zu entfernen scheint", bewährt sich fort und fort. Aber dann muß auch die Möglichkeit geboten sein, die reine Wissenschaft zu pflegen; es müssen daher neue F o r s c h u n g s s t ä t t e n für Chemie und Physik g e s c h a f f e n werden. Die Arbeitslaboratorien und die Kräfte unserer Universitäten und technischen Hochschulen genügen heutzutage um so weniger, als die Anforderungen, „Übungen" mit den Studierenden zu halten und den Schwerpunkt des Unterrichts auf sie zu legen, mit Recht immer größere werden und alles in Beschlag zu nehmen drohen. Aber nicht minder dringend ist das Bedürfnis, den biologischen W i s s e n s c h a f t e n Raum und Licht und Mittel zu gewähren, deren Bedeutung in schneller Progression eine immer größere wird. Hier kommt sowohl die rückschauende Biologie, die Paläontologie, als auch die v e r g l e i c h e n d e P h y s i o l o g i e der Pflanzen und Tiere in Betracht. Beide können im Rahmen der Hochschulen nicht wohl gepflegt werden. Aber darüber hinaus meldet sich jener junge For-
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schungszweig gebieterisch, an, der das praktisch wichtigste G-ebiet der Naturwissenschaften darstellt. Es ist das die Wissenschaft, die sich mit der Ergründung der exakten Krankheitserkennung und Krankheitsheilung, d. h. der experimentellen Diagnostik und Therapie, beschäftigt. Auch diese Disziplin eignet sich ihrem ganzen "Wesen nach mindestens zurzeit nicht für den Rahmen unserer heutigen Hochschulinstitute. Auf diesem Gebiete aber überflügelt zu werden, bedeutet eine durch nichts zu ersetzende Herabminderung unserer wissenschaftlichen Stellung und "Wertschätzung bei den übrigen Völkern. Denn nichts wird höher eingeschätzt als neue Methoden, neue wissenschaftliche Funde, welche geeignet sind, Krankheiten zu verhüten bzw. in Heilung überzuführen. Und gerade nach dieser Hinsicht droht uns am meisten Gefahr. Diese neu erstandenen "Wissensgebiete, welche mit ihren überraschenden Entdeckungen sowohl eine sichere Diagnostik der Erkrankungen gestatten als auch die Herstellung von Heilstoffen auf chemisch-biologischem "Wege lehren, welche im erkrankten Organismus die Ursache der Krankheit zerstören, sind heute der wichtigste Forschungsgegenstand für die Yolksgesundheit und beherrschen deshalb die moderne Medizin. Sie können aber, mit ihren verschiedenen Zweigen, der Chemotherapie und Immunotherapie, nur in speziellen Forschungsinstituten fortentwickelt werden. 3.
Was tut diesen neuen Bedürfnissen der Wissenschaft gegenüber das Ausland? Nun — die großen anderen Kulturnationen haben die Zeichen der Zeit erkannt, und sie haben in den letzten Jahren ungeheuere Aufwendungen f ü r die Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung gemacht. In der Überzeugung, daß Universitätslaboratorien nicht ausreichen und der Unterrichtszweck mindestens zunächst zurücktreten muß, ist man
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im Auslande dazu übergegangen, besondere große Forschungsinstitute zu errichten, die frei von jeder Verpflichtung zum Unterrichte sind und nur der Ergründung neuer Tatsachen dienen soll. Diese Institute stellen heute in dem Ringen, der Natur ihre G-eheimnisse abzulauschen, und in dem Kampfe um den Vorrang in der naturwissenschaftlichen Forschung mächtige große Kampfeseinheiten dar. Eine Anzahl Beispiele möge die Lage in dieser Hinsicht beleuchten. So besitzt England in der staatlichen, aber auch durch private Zuschüsse unterstützten Forschungsstätte, welcher Lord Ramsay vorsteht, eine Institution, in der ausschließlich die rein wissenschaftliche Seite der anorganischen Chemie, besonders die Lehre von den Elementen, durchstudiert wird, und aus der in den letzten Jahren große Forschungsergebnisse, so die Entdeckung neuer Elemente in der Luft, des Neon, Krypton, Argon und Heliums, hervorgegangen sind. Auch die Radiumforschung wird dort in einer bei uns bis heute unausführbaren Weise gepflegt. Amerika besitzt in dem unter der Leitung von Richards stehenden Institute eine Forschungsstätte, in der fast ausschließlich über die Probleme der Atomgewichte gearbeitet wird. Die Ergebnisse dieses Institutes sind für die gesamte "Welt maßgebend geworden. Schweden hat in jüngster Zeit in dem Nobelinstitut, das unter der Leitung von Arrhenius steht, eine Forschungsstätte ersten Ranges für physikalisch-chemische Probleme erhalten, der wir nichts Gleichwertiges an die Seite stellen können. Ebenso besitzt England in der altberühmten Royal Institution of Great Britain und Frankreich im College de France Zentralstellen für naturwissenschaftliche Forschungen. Sie sind solche im exklusiven Sinn; denn der Unterricht wird nicht hier, sondern an anderer Stelle erteilt. In Amerika ist ferner im Laufe der letzten Jahre von Carnegie mit einem Stiftungskapital von 40 Millionen Mark eine Institution gegründet worden zu dem Zwecke,
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um besondere Forschertalente in die Lage zu setzen, frei von jeder Lehrtätigkeit ihre besondere Begabung voll entfalten zu können, und ihnen die Mittel zu schaffen, auf dem G-ebiete der Naturforschung ihre Untersuchungen anzustellen. Blicken wir auf die Biologie, so sind in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada allein für Paläontologie 31 Gelehrte angestellt. England hat für diesen Zweck am British Museum 6 Paläontologen tätig, bei uns aber ist die Paläontologie durch einen einzigen Berufsforscher vertreten, der zugleich auch Geologe ist. In den genannten Ländern, sowie besonders in Frankreich, geht auch durch die Forschung auf anderen biologischen Gebieten ein großer Zug. So hat die englische Regierung allein für die Veröffentlichung der Ergebnisse der Challenger-Expedition über Meeresforschung bisher 2 400000 Mark aufgewendet. In Paris sind nur für vergleichende Zoologie und Paläontologie 16 Professoren, für die vergleichende Biologie der Pflanzen 4 Professoren wirksam. Außerordentlich groß ist die Förderung, welche die biologischen Wissenschaften in neuester Zeit in den Vereinigten Staaten gefunden haben. Nicht nur der Staat, die Provinzen und Städte, sondern auch besonders das Privatkapital haben ungezählte Millionen dafür aufgebracht. Die Anstrengungen, welche das Ausland zurzeit auf dem Gebiet der medizinischen Naturforschung macht, um den Vorrang zu erringen, sind aber als geradezu beispiellose zu bezeichnen. Beginnen wir mit Frankreich. Dortselbst hat das bereits vorher sehr reiche Institut Pasteur zu Paris in den letzten Wochen den Besitz einer Erbschaft von 20 Millionen Mark angetreten, ein Vermächtnis des verstorbenen Bankiers Osiris. Die Erträgnisse dieses riesigen, einem einzigen Forschungsinstitute gehörigen Kapitals, sollen nur verwandt werden, um die medizinische naturwissenschaftliche Forschung auf dem
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Gebiete der experimentellen Therapie zu fördern. Für Unterrichtszwecke darf nichts davon verwendet werden. In Lille ist unter Beihilfe des Staates, der Provinz und besonders des Privatkapitals ein zweites großes, auf das reichste ausgestattetes Forschungsinstitut, das Institut Pasteur zu Lille, entstanden, das ebenfalls nur reinen Forschungs- und keinen Unterrichtszwecken dient. — Hierzu kommen die verschiedenen Instituts Pasteur, welche französisches Kapital speziell zum Zwecke der Forschung, besonders aber auch zum Zwecke der Ausbreitung des französischen Einflusses in seinen Kolonien errichtet, so zwei Institute in Indochina und Madagaskar, je eines im französischen Kongo, in Algier und Tunis. Ja sogar in fremden Ländern, wie in Südamerika und in Belgien, werden die dort bestehenden Instituts Pasteur von Frankreich aus in jeder Hinsicht unterstützt, in der wohl erwogenen Absicht, daß derartige Forschungsinstitute, abgesehen von dem Nutzen, den sie der "Wissenschaft bringen, zur Ausbreitung der französischen Nationalkultur und deshalb des französischen Einflusses sehr viel beitragen. England besitzt in den T h o m p s o n Y a t e s Laboratories, im L i s t er Preventive Institute, sowie in dem Liverpooler tropenmedizinischen Institut Forschungsstätten, die im Besitze großer, von privater Seite aufgebrachter, Mittel sind. Besonders reiche, der reinen wissenschaftlichen Forschung gewidmete Institute errichtete weiterhin England in seinen Kolonien. So in Indien bei Singapore auf der Halbinsel Malacca, ferner das Institut in Muktesar bei Simla und endlich das Kinginstitut bei Madras. Speziell hervorzuheben ist das neugegründete G o r d o n Memorialinstitut in Khartum im Sudan. Dieses Institut ist vor einigen Jahren errichtet worden. Es steht unter dem Patronat S e i n e r M a j e s t ä t des K ö n i g s v o n E n g l a n d , und es gehören ihm die ersten Männer Englands als Präsidenten oder Komiteemitglieder an; unter anderen der Feld-
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marschall Lord Kitchener, der frühere Gouverneur von Ägypten, Earl of Cromer, weiterhin die reichsten Leute Englands, Lord Rothschild, Sir Ernest Cassel u. a. Das Institut besitzt einen eigenen Dampfer, um neben den medizinischen die übrigen biologischen Forschungen auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik durchführen zu können. Dementsprechend sind in ihm Mediziner, Chemiker, Zoologen, Botaniker tätig. — In der neuen Transvaalkolonie verfügt England unter der Leitung von Theiler über ein Institut für das experimentelle Studium der Infektionskrankheiten, das nach Mitteilungen des Direktors Theiler einen Jahresetat von 500 000 Mark für Ausgaben besitzt. Selbst Brasilien hat sich in jüngster Zeit in Rio de Janeiro, angefeuert durch die glänzenden Erfolge, welche die moderne experimentelle Forschung durch Ausrottung des Gelbfiebers errungen hatte, ein großes, reich ausgestattetes, medizinisch-naturwissenschaftliches Forschungsinstitut, das Oswaldo Cr uz-Institut, errichtet. Alles aber wird in den Schatten gestellt durch die Anstrengungen, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika seitens des Gesamtstaates, der Einzelstaaten und der Privaten gemacht werden, um die Führung in der naturwissenschaftlichen, besonders aber der medizinischen Forschung in die Hand zu bekommen. So hat John D. Rockefeller im Laufe der letzten Jahre weit über 100 Millionen Mark für medizinische Forschungszwecke in den Vereinigten Staaten ausgegeben. Er unterhält ein eigenes Bureau von Gelehrten, die fortlaufend nur zu überwachen haben, für welche bestimmten Probleme es angezeigt ist, große Geldsummen zur Verfügung zu stellen. Neben seinen Aufwendungen für die wissenschaftlichen medizinischen Institute in Chicago und anderen Städten Amerikas hat er in New York ein medizinisches Forschungsinstitut, das Rockefeller-Institute for Medical Research, gegründet und bis heute mit etwa 12 Millionen Mark Kapital ausgestattet.
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Er führt dieser Schöpfung fortdauernd neue Kapitalien zu. Dieses Institut soll für solche Forscher eine Arbeitsstätte darstellen, welche eine besondere Begabung auf dem Gebiete der medizinischen Naturforschung an den Tag gelegt haben. Es stehen ihnen die Laboratorien des neu erbauten Instituts mit allen Hilfsmitteln zur freien Verfügung, abgesehen davon, daß sie die nötigen Mittel zu ihrem Lebensunterhalt erhalten. In Philadelphia hat H e n r y P h i p p s ein großes wissenschaftliches Forschungsinstitut, speziell für die experimentelle Erforschung der Infektionskrankheiten, insonderheit der Tuberkulose, errichtet und auf das reichste ausgestattet. Aber auch die a m e r i k a n i s c h e R e g i e r u n g macht in den letzten Jahren bedeutende Anstrengungen. So ist seitens derselben in Manila ein großes biologisches Forschungsinstitut, das Philippine Bureau of sciences geschaffen worden. Dasselbe hat die gesamte Biologie, Zoologie und Botanik, und insbesondere die experimentelle Medizin zu bearbeiten. Auch wichtigste soziale Probleme, wie ζ. B. physiologische Untersuchungen über die geeignetste Ernährung der arbeitenden Bevölkerung, werden in diesen Instituten ausgeführt. Alle diese genannten Institute sind so dotiert, daß sie ihre Forschungsergebnisse in eigenen, vortrefflich ausgestatteten Zeitschriften der wissenschaftlichen Welt mitteilen, um damit noch stärker als es sonst möglich wäre, die Ursprungsstätte der neuen Funde vor Augen zu führen. 4.
Das i s t im A u s l a n d g e s c h e h e n , was g e s c h i e h t bei uns? Es wäre unrichtig und undankbar zu sagen, daß nichts geschieht,aber d a ß wir im b e d e n k l i c h s t e n R ü c k s t a n d e sind, k a n n n i e m a n d l e u g n e n ! UnsereHochschulLaboratorien und -Institute arbeiten, soviel sie nach ihren "Kräften vermögen. Das Reich hat die C h u n s c h e Tief see-
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Expedition und die Südpolar-Expedition ermöglicht. An dauernden Forschungsinstituten haben wir die Biologische Reichsanstalt und das Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt. In gewisser Beziehung gehören hierher auch die Biologische Anstalt auf Helgoland und das Zoologische Institut in Neapel — aber was bedeutet das gegenüber der Fülle der Aufgaben und gegenüber den Anstrengungen des Auslandes? Wir bleiben zurück, von Jahr zu Jahr mehr zurück, und hätten doch die persönlichen Kräfte in genügender Zahl, um die größten und umfangreichsten Arbeiten zu bezwingen, wenn nur Arbeitsstätten und Mittel vorhanden wären! Ein Beispiel aus vielen: "Wir besaßen die Führung in einem der wichtigsten biologischen Wissenszweige, der Lehre von der Befruchtung; wir haben aber diese Führung an ein amerikanisches Institut abgeben müssen, und noch dazu ist es ein deutscher Forscher, der in Amerika die betreffenden Entdeckungen machte, weil er in Deutschland keine geeignete Forschungsstätte für seine Pläne fand (Jacques Löb in Berkeley California University, früher in Chicago, ausgebildet in Bonn). So kann und darf es nicht bleiben, soll nicht die deutsche Wissenschaft und mit ihr das Vaterland — seine Kraft nach innen und sein Ansehen nach außen — den schwersten Schaden nehmen. Forschungsinstitute brauchen wir, nicht eins, sondern mehrere, planvoll begründet und zusammengefaßt als Kaiser-WilhelmInstitut f ü r naturwissenschaftliche Forschung. Wo ein Wille ist, da wird sich auch ein Weg finden. Es muß zu allgemeiner Anerkennung bei den Einsichtigen, in dem Staate und in dem ganzen Volke kommen, daß unser Betrieb der Naturwissenschaften eines neuen Hilfsmittels bedarf — des alten, aber neu ausgestalteten und erweiterten Hilfsmittels, das schon Humboldt vorgeschlagen hat, nämlich der Forschungsinstitute, die rein der Wissenschaft dienen sollen. Es gilt, die Unterlassungen eines
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Jahrzehnts mit allen Mitteln wieder gutzumachen! Vor allem aber verbanne man den Kleinmut, als sei gegenüber den ungeheuren Aufwendungen der Ausländer, namentlich Amerikas, jeder Konkurrenz versuch doch unmöglich. Dieser Kleinmut ist der schlimmste Feind! "Wir Deutsche arbeiten wissenschaftlich noch immer sehr viel sparsamer als die Amerikaner, und wenn wir auch in Zukunft an dieser Sparsamkeit festhalten, werden wir auch mit geringeren Mitteln Bedeutendes leisten können. Natürlich läßt sich das Versäumte nicht mit einem Schlage nachholen. Angezeigt erscheint es deshalb, mit der Gründung eines großen chemischen Forschungsinstituts zu beginnen, weil hier ein besonders starkes Bedürfnis vorliegt und bedeutende Vorbereitungen schon getroffen sind (s. u.). Die Gründung eines b i o l o g i s c h e n Forschungsinstituts muß sodann sofort als nächstes Ziel ins Auge gefaßt werden. Bis es ins Leben gerufen wird, kann schon jetzt den zoologischen, botanischen usw. Fächern, die auf der Universität stets in Gefahr sind, lediglich als Hilfsfächer für das medizinische Studium betrachtet und behandelt zu werden, eine Verstärkung und Förderung durch Vermehrung der Hilfskräfte und Hilfsmittel gegeben werden. Andere Forschungsinstitute müssen dann später nachfolgen, vor allem ein physikalisches. Das Bedürfnis wird hier durch die Tätigkeit der Physikalisch-technischen Reichsanstalt nicht gedeckt, da es sich vor allem um Verstärkung der experimentellen Untersuchungen im Dienste der neuen Erkenntnisse der physikalischen Grunderscheinungen handelt, und weil die, welche solche leiten sollen, von sonstigen Geschäften frei sein müssen. Eine bis ins einzelne ausgeführte Denkschrift und ein Entwurf zu einem großen Institut für physikalische Forschung aus der Feder des berufensten Gelehrten, des Professors Lenard (früher in Kiel, jetzt in Heidelberg), liegt bereits vor.
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5. Sehr wichtig ist es, die Zwecke der zu gründenden Institute nicht von vornherein zu spezialisieren, sondern in den weitesten Grenzen zu halten. Die besondere Arbeitsrichtung sollen die Institute durch die Persönlichkeit des sie leitenden Gelehrten erhalten, sowie durch den Gang der "Wissenschaft selbst. Die Institute müssen so angelegt und ausgestattet sein, daß sie die verschiedensten Untersuchungen ermöglichen; wenn man ihnen aber von vornherein spezielle Zwecke vorschreiben würde — sei es auch solche, die heute im Mittelpunkte des Interesses stehen —, würde man leicht auf einen toten Strang geraten, da auch in der Wissenschaft ein Acker sich oft überraschend schnell erschöpft und erst nach Jahrzehnten wieder mit Erfolg in Angriff genommen werden kann. Die Organisation dieser Forschungsinstitute soll einfach und elastisch gehalten sein. Als Vorbild kann hier die Organisation der Zoologischen Station in Neapel dienen. Der leitende Direktor muß stets ein Mann sein, der sich durch große Erfolge auf experimentell-wissenschaftlichem Gebiete als hervorragender Forscher bewährt hat. Außer ihm, der sich je nach Bedarf auf längere oder kürzere Zeit Assistenten erwählt, sollte womöglich kein Gelehrter auf Lebenszeit angestellt, aber möglichst viele Arbeitsplätze für junge Gelehrte eingerichtet werden. So bleiben die Institute stets imstande, auf alle neuen Fragen und Bedürfnisse der Wissenschaft einzugehen. Auch Universitätsprofessoren sollten die Möglichkeit erhalten, ein oder mehrere Semester hier zu arbeiten, wenn ihre experimentellen Studien sie zu Forschungen geführt haben, für welche die Universitätslaboratorien zu enge sind. Kürzere Spezialkurse für schon Geförderte könnten nach Bedarf bei den Instituten abgehalten werden. Sehr wünschenswert ist es, daß in den Etats der Institute eine beträchtliche Summe vorgesehen wird,
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um wissenschaftliche Materialien, Präparate usw. anderen Instituten zu überweisen und auch sonst die Forschungen außerhalb der Institute gegebenenfalls zu unterstützen. Die Institute sind verwaltungsmäßig, wie die bereits vorhandenen selbständigen wissenschaftlichen Institute, dem Unterrichtsministerium direkt zu unterstellen. Aber für die rein wissenschaftlichen Angelegenheiten ist ein wissenschaftlicher Beirat für jedes einzelne Institut einzusetzen. In diesem sollten die Akademie der "Wissenschaften und — dem Humboldtschen Gedanken gemäß — die Universität Berlin das ausschlaggebende Gewicht haben. Für die Universität Berlin bedeutet das eine ganz neue Kompetenz; aber sie ist sachlich gerechtfertigt, weil diese Forschungsinstitute auch als Hilfsinstitute für die Universität wirksam sein sollen, und weil ein personaler und sachlicher Austausch zwischen ihnen und der Universität erwartet werden muß. Das Jubiläum der Universität erscheint als besonders geeignet, um der Universität die wichtige Kompetenz zu übertragen. Wie sie dieselbe auszuüben hat, dies zu bestimmen kann ihr selbst überlassen werden. Außer der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Berliner Universität werden zweckmäßigerweise auch noch für dieses oder jenes Institut Vertreter der wissenschaftlichen Technik, der G-öttinger Gesellschaft der Wissenschaften, sowie hervorragende Fachgelehrte der übrigen Hochschulen in den Beirat zu berufen sein. Diese naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute sind in Dahlem zu begründen. Dort besitzt der Fiskus noch bedeutende Grundstücke; dort befinden sich schon mehrere wissenschaftliche Institute — so der Botanische Garten, das Pharmakologische Institut, die Biologische Reichsanstalt und das Königlich Preußische Material-Prüfungsamt —, und es treffen auch sonst alle Bedingungen zusammen, welche die Entwicklung der Institute an dieser Stelle begünstigen.
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Die Errichtung von naturwissenschaftlichen Forschungsinstituten ist ein so notwendiges Bedürfnis, die Ausführung und Organisation ist nach den Erfahrungen, die bereits gemacht sind, etwas so Einfaches und der Erfolg ein so sicherer, daß der Plan die allgemeinste Billigung finden muß. Allerdings sind bedeutende Mittel nötig; aber wenn es in den schwersten Tagen des Vaterlandes vor hundert Jahren möglich war, die Universität Berlin zu gründen, so wird es jetzt auch möglich sein, trotz der ungünstigen Finanzlage, die Mittel zu beschaffen, um die Wissenschaft im Yaterlande auf der Höhe zu erhalten. Die "Wehrkraft und die "Wissenschaft sind die beiden starken P f e i ler der G-röße Deutschlands, und der Preußische Staat hat seinen glorreichen Traditionen gemäß die P f l i c h t , für die E r h a l t u n g beider zu sorgen. Das Jubiläum der Universität Berlin aber ist auch in dieser Hinsicht der gegebene Anlaß, Versäumtes nachzuholen und zugleich die Grundlage für eine neue Stufe wissenschaftlicher Arbeit zu legen. Neben die Friedrich-"WilhelmUniversität müssen die K a i s e r - W i l h e l m - I n s t i t u t e treten! Erkennt der Staat diese Pflicht an, und ist er bereit, sie nach Maßgabe seiner Kräfte zu erfüllen, so darf er aber auch auf die Beteiligung weiter privater Kreise rechnen; denn es ist allerdings kaum mehr möglich, daß der Staat allein allen Bedürfnissen der "Wissenschaft gerecht wird. Hier nun ist, wie von authentischer Seite berichtet wird, bereits Bedeutendes in Vorbereitung. Nimmt der Staat g r u n d s ä t z l i c h den Plan der Errichtung von Instituten für naturwissenschaftliche Forschung auf, reserviert er für sie in Dahlem ein angemessen großes Grundstück, das ich — alle wissenschaftlichen Bedürfnisse für das nächste halbe Jahrhundert zusammengerechnet — auf nicht weniger als 40 Hektar veranschlagen kann, und beschließt er am Jubi-
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läumstage der Universität den Grundstein für eines derselben, und zwar für das Chemische Forschungsinstitut, zu legen und zunächst dieses auszubauen, so sind die Aufwendungen, die er zu machen hat, keineswegs sehr beträchtliche. Für die Errichtung eines großen c h e m i s c h e n Forschungsinstituts nämlich sind bereits von privater Seite bedeutende Mittel gesammelt worden (etwa 1000 000 Mark Stiftungskapital und etwa 58 000 Mark jährliche Beiträge). Denn in den Kreisen der Interessenten der chemischen Industrie ist seit geraumer Zeit das Bedürfnis nach einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut hervorgetreten, und diese Herren sind entschlossen, mit eigenen Opfern die Errichtung eines solchen ermöglichen zu helfen. Sie werden es mit besonderem Dank begrüßen, wenn der Staat mit ihnen zusammenarbeitet, und die neue Schöpfung als erstes Institut die Reihe der „Kaiser-Wilhelm-Institute für wissenschaftliche Forschung" eröffnen wird. Zwar ist von ihnen ursprünglich an ein Reichsinstitut gedacht worden; allein es wird sich — zu dieser Erwartung ist aller Grund vorhanden — unschwer ein Modus finden lassen, um Preußen an die Spitze zu stellen und das Reich zu beteiligen, wie das ja auch der vom Reiche selbst vertretenen Auffassung entspricht, daß die Pflege der "Wissenschaften bei den einzelnen Staaten liegt. Die Baugelder sind bereits durch die aufgebrachte Million so weit gesichert, daß der Staat nur dann zum Baue etwas beizutragen hätte, wenn eine Erweiterung des bereits vorliegenden Bauplanes sich schon jetzt empfehlen würde, was zu entscheiden außer meiner Kompetenz liegt. Da die gesamten jährlichen Betriebskosten (einschließlich Gehalte) sich auf 150000 Mark belaufen dürften, von denen 58000 Mark ebenfalls bereits gesichert sind, so handelt es sich um die Deckung von etwa 90000 Mark. Diese Summe also wäre seitens des Staats im Ordinarium zu bewilligen. Sie wäre aber noch erheblich zu reduzieren, wenn das Reich
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einen Teil der Kosten zu übernehmen sich entschlösse, und sie brauchte erst für das Etatsjähr 1911/12 bewilligt zu werden. Sehr erwünscht wäre es, wenn im Extraordinarium, sobald es die Finanzlage irgend gestattet, eine beträchtliche Summe (etwa eine Million) bereitgestellt würde, um die Fortsetzung des Baues von Forschungsinstituten — zunächst eines biologischen — zu sichern. Könnte dies am Jubiläumstage der Universität angekündigt werden, und würde Ew. Majestät die Gnade haben, den zu begründenden naturwissenschaftlichen Forschungsinstituten den Gesamtnamen KaiserWilhelm-Institut f ü r naturwissenschaftliche Forschung zu erteilen, so würde dadurch die große Sache der Wissenschaft ausgezeichnet gefördert werden, und es würde zugleich die neue Epoche, in welcher diese Institute entstanden sind, in glücklichster Weise gekennzeichnet sein. 7. Der Staat ist nach unseren preußischen Traditionen Führer der Wissenschaft. Aber seine Leistungsfähigkeit in finanzieller Hinsicht hat, zumal in der Gegenwart, ihre Grenzen. Es gibt aber die Opferwilligkeit privater Kreise, die in bezug auf die Errichtung einer chemischen Forschungsanstalt und schon früher in bezug auf die Bereitstellung bedeutender Mittel zur Pflege der Wissenschaft hervorgetreten ist, einen Fingerzeig, wie im großen und dauernd Gelder für die Bedürfnisse der Forschungsinstitute und der Wissenschaft über die Staatszuschüsse hinaus aufgebracht werden können. Die großen wissenschaftlichen Einrichtungen und Institute in Amerika sind, wie bemerkt, fast durchweg aus hochherzigen Stiftungen Privater entstanden. Bei uns in Deutschland sind dagegen in dieser Hinsicht nur Anfänge vorhanden, so Anerkennenswertes auch wenige Einzelne — es sind immer wieder dieselben — bereits geleistet haben und noch leisten. Der Grund dafür
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ist ein doppelter: man erwartete bei uns alles vom Staat, und wir waren nicht reich genug. Jetzt haben wir genug erworben, und die bequeme Zuversicht zu dem Staate ist deshalb nicht mehr „nostri saeculi". Die Wissens c h a f t ist in ihrer A u s b r e i t u n g und in ihrem Betriebe an einen Punkt g e l a n g t , an welchem der Staat allein für ihre B e d ü r f n i s s e nicht mehr aufzukommen vermag. Eine Kooperation des Staates und privater k a p i t a l k r ä f t i g e r und für die W i s s e n s c h a f t interessierter Bürger ist ins A u g e zu fassen; denn in ihr allein ist die Z u k u n f t der w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r s c h u n g nach der materiellen Seite hin sicher verbürgt. Sobald dies erkannt ist, muß aber noch ein Schritt weiter getan werden: es genügt nicht, jedesmal ad hoc, wenn ein neues Bedürfnis sich auftut, mit dem Klingelbeutel im Lande umherzugehen und die nötigen Gelder mühsam zu sammeln, sondern es muß auf G-rund eines Appells an die Nation, daß ihre höchsten Interessen auf dem Spiel stehen, und daß es einer gemeinsamen großen A n s t r e n g u n g bedarf, eine Organisation ges c h a f f e n werden. Wie kann das geschehen? Die Antwort liege nahe, weil sie im kleinen für einzelne wissenschaftliche Aufgaben bereits längst gegeben worden ist: es muß eine Vereinig u n g von Mäzenaten, über die ganze Monarchie sich erstreckend, begründet werden, eine Vereinigung, mit dem Zwecke, durch die Bereitstellung von Mitteln die Aufgaben rein wissenschaftlicher Forschung im Staate zu fördern, bzw. zu unterstützen. Die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n mögen dabei im Vordergrunde stehen; aber auch die G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n bedürfen heute für ihren Großbetrieb außerordentlicher Mittel; auch sie werden daher im Zusammenhang mit der Stiftung einer solchen Vereinigung angemessen zu berücksichtigen sein.
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Soll aber eine solche Vereinigung zustande kommen, lebenskräftig sein und ihren Zweck erfüllen, so dürfen ihre Mitglieder nicht nur die Pflicht haben, G-elder aufzubringen, sondern es müssen ihnen auch Ehren bzw. Rechte erteilt werden, da ihr gemeinnütziges "Wirken eine solche Anerkennung verdient. Auf der höchsten Stufe muß ihnen das Recht der Mitwirkung bei der Verwendung der G-eldmittel zuerkannt werden. Die V e r e i n i g u n g muß daher eine f e s t e und s t r a f f e Form erhalten. Ich erlaube mir, dieselbe in den Grundzügen zu skizzieren: Unter dem Protektorate Ew. Majestät wird eine K ö n i g l i c h Preußische G-esellschaft zur Förderung der W i s s e n s c h a f t e n begründet. Diese Gesellschaft, die ihren Sitz in Berlin hat, aber Zweigvereine, sei es in den großen Städten des Landes, sei es in ganzen Provinzen besitzt, soll aus einem weiteren und einem engeren Kreise bestehen. In den weiteren Kreis wird jeder aufgenommen, der sich zu einem nicht gering zu bemessenden jährlichen Beitrag (nicht unter 1000 Mark) verpflichtet oder einmal eine gewisse näher festzustellende Summe spendet. Die, welche diesen weiteren Kreis bilden, sollen sich „Mitglieder der K ö n i g l i c h Preußischen G-esellschaft zur Förderung der "Wissenschaften" nennen dürfen, und es soll ihnen nach einem zu entwerfenden Statute zustehen, eine bestimmte Anzahl von Deputierten in den Senat der Gesellschaft zu entsenden. Den engeren Kreis der Gesellschaft bildet der Senat, und seine Mitglieder führen die Bezeichnung: „Senator der K ö n i g l i c h Preußischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften." Dieser Senat soll sich zusammensetzen: 1. aus den Stiftern großer Kapitalien, deren Minimalhöhe statutenmäßig festzusetzen ist, 2. aus Gönnern der Wissenschaft, die sich zu einem jährlichen Beitrage in einer zu bestimmenden sehr beträcht-
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liehen. Höhe verpflichten und solange sie diesen Beitrag gewähren, 3. ans den Deputierten des weiteren Kreises, 4. aus einer festen Anzahl von G-elehrten und Freunden der "Wissenschaft, die von Ew. Majestät ernannt werden, und endlich 5. aus Mitgliedern, die der Unterrichtsminister deputiert; denn es muß angenommen werden, daß auch der Staat einen angemessenen jährlichen Beitrag den Forschungsinstituten gewährt. Diesem so gebildeten Senate steht die Verwendung der jährlich zur Verfügung stehenden Gelder unter Oberaufsicht des Unterrichtsministers zu. Wie dabei formell zu verfahren ist, bzw. die Bildung eines geschäftsführenden Ausschusses, bleibt der aufzustellenden Geschäftsordnung überlassen. Der Senat erhält die Rechte einer juristischen Person und ist somit befugt, Schenkungen aller Art und testamentarische Zuweisungen entgegenzunehmen, mögen diese sich nun auf die Förderung der Wissenschaft im allgemeinen beziehen oder bestimmte Zwecke ins Auge fassen; denn auch denjenigen Mitgliedern, welche Kapitalien stiften oder Jahresbeiträge geben, soll es freigestellt bleiben, ob sie diese der Förderung der W i s s e n s c h a f t überhaupt oder besonderen Z w e i g e n derselben bzw. bestimmten I n s t i t u t e n zuweisen wollen. Ebenso soll die Möglichkeit offen bleiben, bei den Stiftungen bestimmte Städte ins Auge zu fassen, in denen auch Institute errichtet werden sollen; denn es ist keineswegs die Meinung, alles in Berlin zu zentralisieren, so gewiß es zweckmäßig ist, mit der Errichtung der wissenschaftlichen Institute in der Hauptstadt zu beginnen. Dieser Plan bedarf natürlich noch der Durcharbeitung im einzelnen. Vor allem wird zu erwägen sein, ob die Gesellschaft sofort in vollem Umfange, das heißt auf den gesamten Bereich der Wissenschaften sich beziehend, ins
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Leben gerufen werden soll, oder ob man sich zunächst damit zu begnügen hat, ihn für die naturwissenschaftlichen Forschungsinstitute zu begründen. Der Plan hat meines Erachtens Aussicht auf einen vollen Erfolg, da in den letzten Jahren Erwägungen und Wünsche in dieser Richtung öfters laut geworden sind, und da jüngst ein hervorragendes Mitglied der Großindustrie ihn dem alleruntertänigst Unterzeichneten in einer Unterredung in den Grundzügen entwickelt und nahegelegt hat. Wenn Ew. Kaiserliche und K ö n i g l i c h e Majestät, mein A l l e r g n ä d i g s t e r Herr, die Nation für die Pflege der Wissenschaft in großem Stil und für die Wahrung unserer bedrohten Führung auf naturwissenschaftlichem Gebiet aufrufen wollen, und wenn an dem Tage der Jubelfeier der Berliner Universität in Gestalt eines KaiserW i l h e l m - I n s t i t u t s für n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Forschung der Q-rundstein für das zukünftige Gebäude gelegt wird, dann wird dieser Jubeltag zugleich ein Geburtstag für die deutsche Naturforschung in bezug auf eine höhere und ausgebreitetere Wirksamkeit werden. Sie wird, die gleichen Waffen wie das Ausland empfangend, diesem nicht nur wieder ebenbürtig sein, sondern auch friedliche Siege aufs neue gewinnen! Ich gestatte mir, meine Ausführungen in folgenden Anträgen alleruntertänigst zusammenzufassen: Ew. Kaiserliche und K ö n i g l i c h e Majestät wollen die Gnade haben, Allerhöchst am Jubelfeste der Berliner Universität ein Kais e r - W i l h e l m - I n s t i t u t für naturw i s s e n s c h a f t l i c h e F o r s c h u n g zu stiften, es mit der Akademie der Wissenschaften und der Berliner Universität in Beziehung zu setzen, die nötigen Grundstücke für dasselbe in Dahlem huldvollst zu überweisen und als erste Anstalt innerhalb dieses Instituts ein Chemisches Forschungsinstitut zu begründen, zu dessen Unterhaltung, da der Bau durch private Zuwendungen in gewissen Grenzen
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bereits gesichert ist, aus Staatsmitteln soviel aufzubringen wäre, als der Betrieb nach Abzug der bereits zugesicherten Beiträge bedarf. Die Bereitstellung von Mitteln für das sodann zu errichtende Biologische Institut für eine nahe Zukunft ins Auge zu fassen und dies jetzt anzukündigen, würde mit besonderem Danke aufgenommen werden. Ew. Majestät wollen ferner die G-nade haben, am Jubeltage der Universität Allerhöchst unter Hinweis auf das, was die Zeit bedarf und die Notlage der Wissenschaft im Vaterlande fordert, einen Appell an die Nation zu richten und alle Vermögenden aufzurufen, Ew. Majestät in der Fürsorge für die Wissenschaft opferfreudig zu unterstützen, mit dem Staate werktätig zusammenzuarbeiten und an die Bildung einer Vereinigung zur Förderung der Wissenschaften in der oben skizzierten Weise demnächst heranzutreten. In tiefster Ehrfurcht Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster Harnack.
REDE, GEHALTEN BEI DER EINWEIHUNG DER NEUEN KÖNIGLICHEN BIBLIOTHEK AM 22. MÄRZ 1914: DIE GESCHICHTE DER KGL. BIBLIOTHEK
Erschienen im Zentralblatt für Bibliothekswesen, 31. Jahrg., 4. Heft, 1914, April.
Ew. Kaiserliche und Königliche Majestät! Hochansehnliche Versammlung! An dem hohen Tage, der eine neue Epoche in der Geschichte der Königlichen Bibliothek bedeutet, ist es mir vergönnt, Ew. Majestät begrüßen und f ü r die gnädigen und erhebenden Worte alleruntertänigsten Dank sagen zu dürfen. Wir werden sie nicht vergessen; denn sie werden uns zur Richtschnur dienen bei unsrer Arbeit in diesem Hause. „Habemus domum" rufen wir heute aus — in Wahrheit einen Dom der Wissenschaft, nicht nur ein Haus! —, und voll Freude blicken wir in diese wunderbare Halle. Sie umfaßt uns, und während unser Fuß auf fest gegründetem Boden steht, trägt sie uns aufwärts. Und so wie s i e ist, so ist auch das Ganze! Für jedes wissenschaftliche Institut ist die Stätte, ist das H a u s eine wichtige Voraussetzung der Arbeit und des Gedeihens. Aber f ü r eine Bibliothek, und zumal f ü r eine Zentralbibliothek, ist das Haus sehr viel mehr als eine Voraussetzung. Es ist zu einem wichtigen Teile schon die Sache selbst; denn in seiner Konstruktion und Anlage muß es f ü r die sichere Konservierung der Bücherschätze, f ü r ihre zweckmäßige und übersichtliche Aufstellung, und f ü r ihre einfache und leichte wissenschaftliche Benutzung bürgen. Gleichsam ein planetarisches System von zusammenwirkenden Kräften stellt ein großer Bibliotheksbetrieb dar: das H a u s muß ihm Freiheit, Leichtigkeit und Sicherheit geben. Das konnte der Bau Friedrichs des Großen schon seit Jahrzehnten nicht mehr, und wir standen in bezug auf die Erfüllung unserer Pflichten unter schwerem Druck. Nun
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ist die Zeit der Sorge und Not beendet! Mit Stolz erfüllt uns dieser herrliche Neubau, in welchem zu arbeiten eine Erhebung sein wird! Und mit voller Zuversicht zu seiner Fülle und Zweckmäßigkeit werden wir uns in ihm heimisch machen; denn — das darf ich sagen — was vorschauend und vorbereitend geschehen konnte, um ihn zum besten und schönsten Bibliotheksgebäude der Welt zu machen, was an Sachverständnis und an Kunstsinn, an Studium und an Hingebung nötig war, das ist hier in unermüdlicher Arbeit geleistet worden. Dank sei Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät — wir wußten es vom ersten Tage an und erfahren es heute wieder, mit welch landesväterlicher Huld und innerem Interesse Ew. Majestät über diesem großen Werke walten — ; Dank der hohen Staatsregierung und den Parlamenten, daß sie die Mittel so reichlich gespendet haben, Dank Sr. Exzellenz dem Herrn Unterrichtsminister mitsamt seinen Räten f ü r ihre unablässige Fürsorge, f ü r ihr großzügiges Walten und ihre vorbildliche Treue im Kleinen, Dank nicht zum letzten dem großen Baumeister (v. Ihne) und der Bauverwaltung mit u n s e r e m Baurate (Adams f ) f ü r das, was sie geschaffen. Sie ergreifen heute nicht das Wort; aber in Wahrheit spricht hier der Baumeister zu uns, und wir anderen lauschen. Die nachfolgenden Geschlechter aber werden an diesem Bau lernen, wie man im 20. Jahrhundert das Erbe hoher alter Meister geschätzt und wie man es in neuer Weise fruchtbar gemacht h a t ! Dankbar gedenken wir aber auch am heutigen Tage des Vorgängers des Herrn Unterrichtsministers, unter dessen Fürsorge dieser Bau vor elf Jahren begonnen worden ist, und wir gedenken seines unvergeßlichen Ministerial-Direktors Althoff — Er, die „magna pars" in allen Unternehmungen f ü r die Wissenschaft, die um die Wende des Jahrhunderts ins Leben gerufen worden sind! Und nun möge mir gestattet sein, einen Blick rückwärts zu werfen und in kurzen Zügen einige Hauptpunkte aus der Geschichte dieser Bibliothek zu vergegenwärtigen.
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Vor 253 Jahren ist sie gegründet worden. Wir hätten also vor drei Jahren das Vierteljähr tausend ihres Bestehens feiern können. Wir haben es im Hinblick auf die heutige Feier damals unterlassen. Ein Vierteljahr tausend! Das ist eine lange Spanne Zeit, aber f ü r eine große Bibliothek ist sie kurz. Wie viel weiter reichen die Bibliotheken in München und Wien, in Paris und Rom zurück! Schon seit zwei Jahrhunderten waren in Europa Bücher gedruckt worden, bevor hier der Große Kurfürst die erste Sammlung zum allgemeinen Besten befahl und seinen eigenen Bücherbesitz als Grundstock bestimmte. Der Große Kurfürst — die Schöpfung der Bibliothek ist ganz und gar sein eigenes Werk. An einsichtsvollen und hingebenden Helfern fehlte es dem Kurfürsten bei seinen Bemühungen f ü r die Wissenschaft leider; aber er sorgte persönlich dafür, daß der einmal gefaßte Plan nicht in den Anfängen stecken blieb. In seinem Schlosse über der Hofapotheke wies er der Bibliothek eine Stätte an. Hier ist sie in vergrößerten Räumen mehr als ein Jahrhundert lang geblieben, obschon ein eigener Bibliotheksbau f ü r 26 000 Taler im Lustgarten bereits vom Großen Kurfürsten begonnen worden ist, der aber stecken blieb. Was waren die Mittel und Einkünfte, von denen die Bibliothek leben sollte? Nun, außer zahlreichen kurfürstlichen Geschenken an Büchern und vom Monarchen nach Bedarf bewilligten Summen wurde der Bibliothek der Ertrag gewisser Gebühren angewiesen. Das waren seltsame Gebühren: Wenn ein Brautpaar vom dreimaligen kirchlichen Aufgebot befreit sein wollte, wenn ein Vetter seine Cousine zu heiraten begehrte, wenn jemand f ü r sein Kind mehr als die übliche Zahl von Paten bestellen wollte, so hatte er eine kleine Gebühr an den Staat zu bezahlen, und diese Gebühren zusammen mit einigen Gerichtsstrafgeldern bildeten den regelmäßigen Etat der Bibliothek! Weiteres gab's nicht! Die Bibliothekverwaltung hatte also das
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höchste Interesse an Brautpaaren im Lande, die sich mit der Hochzeit beeilen, und an Vettern, die um jeden Preis ihre Cousine heiraten wollten! Regelmäßig war freilich auch diese Einnahme nicht, und wer bürgte, daß die Gelder richtig abgeliefert wurden? Sie schwankten bis zum Ende des 17. Jahrhundert zwischen 40 und 1100 Taler jährlich und betrugen durchschnittlich etwa 324 Taler. Im 18. Jahrhundert stiegen diese Gebühren bedeutend; denn — so erstaunlich das ist — bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieb diese Einrichtung in K r a f t und bildete in dieser ganzen Zeit die einzige regelmäßige Einnahme der Bibliothek. Die Akademie der Wissenschaften lebte von den Kalendern, wir hier von den Unregelmäßigkeiten des Personenstandes im Lande! Aber auch diese Gelder, auf die wir ein Recht hatten, wurden uns in knappen Zeiten nicht selten teilweise entzogen, und außerdem machte die Verwaltung nolens volens „Ersparnisse", die sie an die Königliche Kasse ablieferte ! So ging es in dem armen Brandenburg-Preußen zu, als der schwarze Adler seine Fittiche zu strecken begann, und aus solcher Dürftigkeit ist der Staat emporgestiegen! Als der Große Kurfürst die Augen schloß, zählte die Bibliothek ungefähr 20 000 Werke und 1618 Manuskripte. Die letzteren waren des Kurfürsten Stolz. Wie er mit weitausschauendem Blick die Ostindische Handelsgesellschaft gegründet hatte, so lag ihm auch viel — um des Studiums und praktischer Zwecke willen — an der Erwerbung indischer, arabischer, türkischer, koptischer und namentlich chinesischer Handschriften. Für letztere besaß besonders der große L e i b n i z ein reges Interesse. Die Abteilung „Orientalische Handschriften" ist seitdem und bis heute eine besondere Stärke der Königlichen Bibliothek geblieben. In bezug auf lateinische und griechische Handschriften kann sie sich mit München, Wien, Paris, Rom und London nicht messen; denn reiche Klosterbibliotheken, die sie hätte beerben können, fehlten im Lande fast ganz; aber ihre Sammlung orientali-
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scher Handschriften der verschiedensten Sprachen ist ersten Ranges. Unter dem ersten Könige Preußens wurde die große Büchersammlung des Diplomaten und Historicus Spanheim für 12 000 Taler angekauft und wurde das wichtige Gesetz zur unentgeltlichen Lieferung der Bücher an die Buchdrucker bzw. Verleger des Landes erlassen. Dieses Gesetz der Pflichtexemplare ist noch heute in Kraft und ist der Bibliothek von unschätzbarem Werte geworden. Dankbar weiß sie sich seit 200 Jahren den preußischen Verlegern verbunden und bezugt am heutigen Tage, wie hoch sie diese Verbindung schätzt; denn über die Pflicht hinaus hat sie stets auch wirkliche Freunde und Gönner unter den deutschen Buchhändlern in Preußen und außerhalb des Landes gefunden. Mit welcher Freude und welchem Dank durften wir ζ. B. vor neun Jahren die Gründung der Deutschen Musiksammlung begrüßen, die sich so großartig entwickelt hat und sich noch fort und fort aus der Liberalität der Herren Verleger auferbaut. Wir bitten um die Fortsetzung des guten Verhältnisses, das der ganzen Wissenschaft zum Segen gereicht. Wir Deutsche sind stolz auf unseren Buchhändlerstand! Möge sich umgekehrt auch die Königliche Bibliothek stets der fördernden Wertschätzung der Herren Verleger erfreuen dürfen! Sie bleibt doch — mag auch Neues und Notwendiges neben ihr aufwachsen, wie jetzt in Leipzig — das dem ganzen Vaterlande, und so auch dem Buchhandel, unentbehrliche Institut! Vom Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. bis zum Jahre 1770, also 57 Jahre hindurch, hat die Bibliothek nur sehr langsame Fortschritte machen können. Friedrich Wilhelm I. wollte ihr nicht helfen, und Friedrich der Große hatte 30 Jahre lang Wichtigeres zu tun, als an die Bibliothek zu denken. Heute verstehen wir aber, besser als früher, warum der rauhe Soldatenkönig sparte und sparen mußte. Für die Betroffenen war diese Kargheit freilich bitter genug.
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In einer Order von 1722 heißt es: „Ich streiche die Besoldungen der Bibliothekare, und soll der Generalmajor G l a s e n a p p 1000 Taler auf die Bibliotheksgelder jährlich bekommen." Das war aber nahezu die ganze Summe, welche der Bibliothek zur Verfügung stand. In den Jahren 1722 bis 1740 lebte die Bibliothek nur von den Pflichtexemplaren und von zum Glück reichlichen Geschenken. In diesen 18 Jahren durften f ü r Ankäufe zusammen nur 122 Taler ausgegeben werden! Aber noch Schlimmeres drohte. Der praktisch gerichtete König konnte sich von dem Nutzen einer Zentralbibliothek nicht überzeugen. Er begann mit Anordnungen, die Bücher sollten an die Akademie und an praktisch-wissenschaftliche Spezialinstitute abgegeben werden. Ein Schrei des Entsetzens ertönte — freilich ein halbunterdrückter ; denn es war nicht ratsam, unter dem strengen Könige laut zu schreien. Und doch hatte er nicht so unrecht. Wenn nur die Wahl gelassen ist, entweder die wissenschaftlichen Spezialinstitute mit Handbibliotheken auszustatten oder eine Zentralbibliothek zu pflegen, so urteilte der König r i c h t i g : die Spezialbibliotheken sind nötiger. Heute wissen wir freilich, daß beides erforderlich ist, Spezialbibliotheken und neben ihnen eine große Zentralbibliothek. Heute haben wir in Berlin neben der Königlichen Bibliothek und der Universitätsbibliothek mehr als ein Dutzend großer und mehr als drei Dutzend kleinerer aber bedeutender Spezialbibliotheken. Ihre Bestände zusammen belaufen sich auf mehr als das Doppelte der Bücher der Königlichen Bibliothek (rund 4 Millionen). Aber jeder Einsichtige weiß heute auch, daß die Wissenschaft ohne eine Zentralbibliothek überhaupt nicht zu bestehen vermag — nicht zur Repräsentanz und Parade, sondern weil alle wissenschaftlichen Hauptaufgaben aus dem Spezialistentum herausführen und einen universalen Bücherbestand fordern, ferner aber weil es geschriebene und gedruckte Schätze gibt, die erst durch die Verbindung miteinander ihren wahren Wert erhalten.
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Beim Begierungsantritt Friedrichs des Großen (1740) zählte die Bibliothek etwa 72 000 Bände und ca. 2000 Handschriften, im Jahre seines Todes 1786 aber mehr als das Doppelte, nämlich etwa 150 000 Bände. Diese außerordentliche Vermehrung fällt zum größten Teil in die letzten 16 Jahre seiner Regierung. Zwar hatte er seine königliche Fürsorge auch schon vorher dadurch bewährt, daß er den großen W i n c k e l m a n n aus Rom im Jahre 1765 als Direktor berief — die Berufung scheiterte an finanziellen Forderungen •—, aber sonst war ihm ein Menschenalter hindurch wenig zu tun möglich. Jetzt aber, seit dem Jahre 1770, kam er der Bibliothek mit großen Extrabewilligungen entgegen und bereits im Jahre 1775 begann auf seinen Befehl der Bau des prächtigen und zugleich so anmutigen Bibliotheksgebäudes am Opernplatz. Endlich erhielt die Königliche Bibliothek ein eigenes Haus. Scherzend konnte der König an V o l t a i r e schreiben: „Ich habe eine öffentliche Bibliothek in Berlin bauen lassen; die Werke V o l t a i r e s waren bisher zu schlecht untergebracht". Bei der Aufschrift aber f ü r diese Bibliothek dachte er nicht an Voltaire, sondern bestimmte die Worte: „Nutrimentum spiritus". Man hat gelächelt: die Aufschrift sei platt und das Latein fragwürdig. Allein gegen das Latein ist nichts einzuwenden, und die Devise gab dem nüchternen Geist jenes Zeitalters einen trefflichen Ausdruck. Wenn ich am heutigen Tage einen kühnen Vorschlag f ü r die Aufschrift wagen darf, so wären es die Worte: „ V e n i C r e a t o r S p i r i t u s " oder einfach C r e a t o r S p i r i t u s . Sie würden an das „Nutrimentum spiritus" noch immer erinnern, aber wie eine lohende Flamme über dem Hause stehen und der tiefsten Erkenntnis und dem heißesten Wunsche Ausdruck verleihen. Fünf Jahre (1775—1780) ist gebaut worden. Am 11. September 1780 weihte der König das vollendete Gebäude ein. Aber zwei Jahre dauerte dann der Umzug. Man hatte damals noch Zeit, und scheint sich darüber auch nicht
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aufgeregt zu haben, dali noch weitere anderthalb Jahre nötig waren, bis das Publikum zugelassen werden konnte. Wir werden diesmal kürzer sein und vielleicht vom Tage des Umzugs an nur ebenso viele Wochen brauchen! Friedrich der Große ist der zweite Stifter der Bibliothek. Bereits durch ihn wurde sie zur Höhe einer europäischen Bibliothek erhoben. Unter seinem Nachfolger wurde endlich ein fester Jahresetat bewilligt und begann eine neue umfassende Katalogisierung. Der ausgezeichnete B u t t m a n n , der Freund S c h l e i e r m a c h e r s , hat sich um die Katalogisierung die größten Verdienste erworben. Gleich nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. wurden jene seltsamen Gebühren abgeschafft, von denen ich gesprochen habe. Zeitweilig (von 1798—1810) wurde die Bibliothek der Königlichen Akademie der Wissenschaften unterstellt. Diese übergab ihr dafür fast ihre ganze eigene Büchersammlung. Das Verhältnis der Bibliothek zur Akademie der Wissenschaften hat in allen den Jahren mannigfach gewechselt: zeitweise war es ein organisches; in der Hegel standen sich die beiden Institute selbständig gegenüber. Seit einem Jahrhundert besteht diese letztere Ordnung, und sie scheint mir die richtige. Aber die Bibliothek muß sich der schönen Pflicht stets bewußt bleiben, in besonderer Weise der Akademie der Wissenschaften zu dienen. Nun sind wir zum ersten Male unter e i n e m Dache vereinigt, und diese Symbiose wird gewiß beiden Teilen förderlich sein. Wir wollen aus ihr all das Gute hervorgehen lassen, was in ihr beschlossen liegt! Es kamen die Zeiten der furchtbaren Not des Vaterlandes, der Fremdherrschaft und der Schmach. Aber mitten aus dem Elend heraus erhob der deutsche Idealismus sein Haupt und schuf aus der Not einen Chor von Tugenden. An die Spitze der Unterrichtsverwaltung trat W i l h e l m v. H u m b o l d t . Erfüllt von der Bedeutung geistiger Kräfte faßte er mit dem Plane der Stiftung der Universität Berlin
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auch den Plan, das w i s s e n s c h a f t l i c h e Z e n t r a l i n s t i t u t , wie er es nannte, die Bibliothek, zu heben. Schon ein Jahr nach der Niederlage von Jena setzte er es durch, daß der Etat der Bibliothek fast um das Doppelte erhöht wurde. Seitdem erfolgte eine Vermehrung des Etats nach der anderen. Und weiter: die Stiftung der Universität erwies sich als der größte Segen auch für die Bibliothek. Vorher war in den Neuanschaffungen immer noch etwas Planloses, Unsicheres. Jetzt wurde alles klar: es galt, sämtliche Disziplinen der Wissenschaft gleichmäßig zu pflegen, vor allem aber in bezug auf die deutsche Geschichte nach Vollständigkeit zu streben. Zwanzig Jahre nach Jena, nachdem der Staat wiederhergestellt und vergrößert war, betrug der Etat 26 000 Mark, war an alle Preußischen Gesandtschaften die Anweisung ergangen, im Auslande wichtige Werke zu kaufen, und war die Zahl der Bücher auf eine Viertelmillion gestiegen. Hochansehnliche Versammlung! Noch vor 80 Jahren mußten wir mit nur 26 000 Mark haushalten, und die Zahl der Bücher betrug nur eine Viertelmillion. Heute beträgt der Etat das Fünfzigfache, nämlich etwa 1 300 000 Mark und die Zahl der Bücher, Handschriften, Karten und Musikalien ist zur Höhe von nahezu zwei M i l l i o n e n angewachsen. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen breit erzählen werde, wie es in den letzten zwei, drei Menschenaltern zu diesem Erfolge gekommen ist. Ich brauche es nicht; denn mit einem Satze vermag ich zu sagen, wie es geschehen ist: die Königliche Staatsregierung hat wie überall in Kunst und Wissenschaft, so auch in bezug auf die Bibliothek stetig jedes wohlmotivierte Bedürfnis anerkannt und die Mittel gewährt, um es zu befriedigen. In dieser eicheren S t e t i g k e i t , wie auch immer die Personen wechselten, in dieser mit e r n s t e s t e r P r ü f u n g gepaarten L i b e r a l i t ä t l i e g t das Geheimnis des F o r t schritts. Wohl dauert es manchmal ein, auch zwei Jahre, bis einem dringenden Bedürfnis Abhilfe gewährt wird; aber
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im Stich gelassen hat auch das Finanzministerium uns niemals. Wenn wir heute in der herrlichen Vorhalle eine Ehrentafel stiften wollten mit den Namen derer, die sich um die Bibliothek im vergangenen Jahrhundert verdient gemacht haben, so können wir zwar einige Namen besonders unterstreichen — auch in bezug auf diesen Neubau; mit wie beredtem Munde hat ihn ζ. B. M o m m s e n , hat ihn T r e i t s c h k e gefordert! —, aber eigentlich gehören sie alle auf die Ehrentafel, voran die Könige, dann die TJnterrichtsminister, die Finanzminister und ihre sachkundigen Räte S Sie haben die Bibliothek in den Stand gesetzt, ihre Leistungen — und darauf kommt es doch schließlich allein an — fort und fort zu steigern. E i n e n Namen aber muß ich doch hier nennen, den die Bibliothek niemals vergessen darf und wird. Es ist der Name König F r i e d r i c h W i l h e l m s IV. Er nahm das Band persönlicher Beziehung zur Bibliothek wieder auf, das seit dem Tode Friedrichs des Großen gelockert war, und wie er die Brüder G r i m m nach Berlin berufen, so war es sein eigenster Wille, die Bibliothek nach der Seite der d e u t s c h e n S p r a c h e u n d L i t e r a t u r auszugestalten. Aus seiner Schatulle hat er große Summen bewilligt, um endlich die Hauptlücken zu ergänzen, die hier bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts bestanden. Aber die größte Steigerung des Wachstums der Bibliothek fällt doch ganz und gar in die 26 Jahre der Eegierungszeit Ew. Majestät. In dieser Zeit hat sich der Etat mehr als verdreifacht und die Benutzung hat noch viel stärker zugenommen. Im vorigen Etatsjahr haben wir 630 000 Bücher zum Studium am Ort ausgereicht, noch vor 12 Jahren waren es erst 260000. Vor 12 Jahren sandten wir an auswärtige Benutzer IT 000 Bände, im letzten Jahre aber 56 000 Bände. Fast 700 000 Bücher sind jährlich in Bewegung; rund 50 000 kommen jetzt jährlich hinzu; die Bibliothek hält ungefähr 12 000 Zeitschriften; die Zahl ihrer Beamten und Hilfsarbeiter hat bereits das zweite Hundert überschritten. Neue
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zweckmäßige organische Einrichtungen sind in den letzten Jahren getroffen worden: vor allem das Auskunftsbureau der Deutschen Bibliotheken, die Gebührenordnung, die Eröffnung eines mittleren Bibliotheksdienstes, die Zulassung weiblicher Beamten u. a. Zurzeit aber stehen wir vor der Frage des größten bibliothekarischen Unternehmens, der D r u c k l e g u n g des Gesamtkatalogs der Königlichen Bibliothek und der preußischen Universitätsbibliotheken, ein Unternehmen, auf dessen Durchführung wir hoffen und das der Wissenschaft ein ausgezeichnetes Hilfsmittel darbieten wird! Hochansehnliche Versammlung! Wem unter uns sollten angesichts der stets wachsenden Bücherflut nicht schwere Bedenken und Sorgen kommen. Die Zeiten sind vorbei, da ein L e i b n i z sagen konnte, er könne sich kaum jemals erinnern, ein Buch in die Hand genommen zu haben, aus dem er nicht etwas gelernt hätte. Heutzutage erscheinen Hunderte und aber Hunderte von Büchern, Berichten, Abhandlungen, ja auch Zeitschriften, die wirklich nichts anderes sind als Eintagsfliegen. D i e D r u c k l e g u n g b e d e u t e t h e u t e d a s n i c h t m e h r , w a s sie n o c h v o r z w e i M e n s c h e n a l t e r n b e d e u t e t h a t . Um der subalternen Vollständigkeit willen schlechthin alles zu sammeln, nur weil es in deutscher Sprache gedruckt ist, kann daher nicht die Aufgabe einer deutschen Nationalbibliothek sein. Sie kann das ihr gesteckte Ziel, die deutsche Literatur v o l l s t ä n d i g zu repräsentieren, nicht ohne eine S i c h t u n g erreichen, die freilich die höchste Umsicht und Sachkunde verlangt. Und mindestens ebenso dringlich wie die Aufgabe, die Gegenwartsliteratur ausreichend zu sammeln, ist die andere, die Lücken zu ergänzen, die noch immer namentlich in bezug auf die ältere deutsche Literatur vorhanden sind. In dieser Hinsicht habe ich die Freude, am heutigen Festtage mitteilen zu dürfen, daß sich eine Vereinigung von F r e u n d e n d e r K ö n i g l i c h e n B i b l i o t h e k gebildet hat. Sie will ihr zu Bücherschätzen verhelfen, die aus den regelmäßigen Ein-
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nahmen nicht erworben werden können. Bereits hat sie uns mit einer kostbaren deutschen Inkunabel beschenkt. Ich habe ferner die Freude, dankbar zweier nichtpreußischer deutscher Verleger zu gedenken, die ihren ganzen Verlag der Bibliothek darbringen, und ein bayrischer hochverdienter Antiquar hat uns mit einem herrlichen Donat-Fragment beschenkt. Aber wir wünschen nicht nur einen Verein von Freunden der Königlichen Bibliothek, sondern wollen und müssen alle unsere Benutzer zu Mitarbeitern und Freunden haben. Dankbar werden wir alle Vorschläge aus ihrer Mitte zur Verbesserung unseres Betriebes prüfen. Alle Forscher und Leser sind uns gleich willkommen. Hier gibt es wohl ein Ansehen des Buchs, aber kein Ansehen der Person! Meine Herren! Nicht eine ungeheuere Prachtkatakombe weihen wir hier ein, in der Bücher beigesetzt werden sollen, nein — eine Schatzkammer, ein Arbeitsfeld, einen Tempel der Musen und eine feste Burg der Wahrheit. Tausend Jünger der Wissenschaft werden täglich diese Stätte betreten, und friedlich und geräuschlos werden hier die heißesten Kämpfe, Seelen- und Geisteskämpfe, um die Erkenntnis der Wahrheit ausgefochten werden! Möge der schöpferische Geist der Wahrheit allen Irrtum niederzwingen und die Forscher von einer Klarheit zur anderen leiten! Möge jedem ernsten Bemühen hier Erfolg, jeder tüchtigen Arbeit hier Frucht beschert sein ! Möge es unserem deutschen Volke beschieden sein, ein f ü h r e n d e s Volk zu bleiben auch im Reiche des Gedankens! Wie im Politischen, so auch in der Erkenntnis soll es sich zu immer festerer und tieferer Einheit zusammenfassen, geschart um Ew. Majestät, Allerhöchstder ich am heutigen Tage im Namen dieser Versammlung in Ehrfurcht huldige als unserem kaiserlichen und königlichen Herrn, als dem hochherzigen Kenner und Förderer der Wissenschaft, als dem geliebten Vater des Vaterlandes !
Die deutsche Universität Dorpat, ihre Leistungen und ihr Untergang. Manche deutsche Universität ist im Laufe der Zeiten untergegangen; aber ihr Untergang bedeutete in Wahrheit nur einen geringen Verlust. Einige von ihnen waren von Anfang an nicht recht lebensfähig, andere sind mit benachbarten Universitäten verschmolzen worden. Wer wollte heute Altdorf neben Erlangen, Bamberg neben Würzburg, Duisburg neben Bonn, E r f u r t neben Jena, Einteln neben Marburg, Wittenberg neben Halle wieder zurückrufen ? Nur an die Wiederherstellung von Helmstedt wird gedacht, und eine Universität östlich von Berlin als Ersatz f ü r Frankf u r t a. O. wird vielleicht einmal gegründet werden. Der Untergang mehrerer dieser Universitäten stand mit dem Zerfall des alten Deutschen Reichs und dem Verschwinden so vieler deutscher „Staaten" am Anfang des vorigen Jahrhunderts in engem Zusammenhang; nur in kleinen Kreisen wurde ihnen eine Träne nachgeweint. Aber anders steht es mit der deutschen Universität Dorpat, die vor unseren Augen vor wenigen Jahrzehnten zerstört worden ist. Zwar als Universität Jurjew besteht sie noch f o r t ; aber es ist gut, daß auch der alte Name verschwunden ist; denn die russische Universität J u r j e w hat mit der deutschen Universität Dorpat nichts gemein, zumal jetzt nicht mehr, nachdem am Anfange des Weltkrieges auch der letzte Rest der deutschen Universität, die theologische Fakultät, als deutsche aufgehoben worden ist. Dorpat — Tausende akademisch gebildeter, deutscher Männer nennen diesen Namen mit derselben Verehrung und Liebe, mit der in deutschen Landen die heimischen Universitäten gepriesen werden. Diese Universität ist ihnen die „Alma mater" in vollkommenem Sinne gewesen und ge-
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blieben; ja vielleicht noch inniger als irgendwo sonst ist hier die Universität festgehalten worden als die Burg deutscher Wissenschaft und deutscher Sitte und Art. Freudiger konnte das Lied „Der Mai ist gekommen" in der Nacht zum 1. Mai nicht von den Neckarbergen ins Tal heraberklingen, als es von den Embachhügeln Jahr um Jahr in die gute Stadt Dorpat klang. Stolzer als in der Studentenschaft Dorpats ist nirgendwo das alte Burschenlied: „Stoßt an", gesungen worden; aber auch tiefer und ernsthafter ist nirgendwo das Lied männlicher Klage und männlicher Zuversicht: „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus", erfaßt worden ! Es war jedesmal ein Gelöbnis des Ausharrens und der Treue, wenn dieses Lied erschallte, und noch bestand der Schlußvers zu Recht: „Das Haus mag zerfallen, Was hat's denn für Not! Der Geist lebt in uns allen, Und unsre Burg ist Gott."
Wohl war er zerfallen, der selbständige, zum Deutschen Reich gehörige livländische Ordensstaat, nach dreihundertjährigem Bestehen, wohl war man nacheinander polnisch, schwedisch und zuletzt russisch geworden, wohl hatte das Land Jahrhundert um Jahrhundert vandalische Zerstörungen und unsägliche Leiden erduldet — Dorpat besaß ζ. B. in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gegen 30 000 Einwohner, um das Jahr 1565 fast gar keine mehr — ; aber noch immer hatte es sich bewährt: „Es ist der Geist, den sich der Körper baut." So hatte man auch unter russischer Herrschaft das Land allmählich wieder in Blüte gebracht, und der deutsche Geist fand Mittel und Wege, sich zu behaupten, zu stärken und zu verbreiten. Nahezu zwei Jahrhunderte lang lebte man so; in die Mitte dieser Zeit fiel die Gründung der deutschen Universität. Drei Menschenalter lang ließ man sie wirken und schaffen, dann legte man Hand an sie und „die hohe Feste fiel".
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Es ist in deutschen Landen wenig davon geredet worden, als Alexander I I I . die deutsche Universität Dorpat zerstörte. Man nahm es als ein Unvermeidliches und Unabänderliches hin und legte es zu den übrigen Einbußen des deutschen Besitzes im Ausland, an die man sich gewöhnen zu müssen glaubte. Nun aber ist der Weltkrieg gekommen, nun stehen unsere Truppen in Libau auf kurländischem Boden, unsere Schiffe an der baltischen Küste, nun soll und muß in dieser hohen Zeit ein jeder Deutscher wissen, um was es sich dort handelt und daß es alter deutscher Besitz ist, um den dort gekämpft wird. Hierzu sollen die folgenden kurzen Ausführungen einen kleinen Beitrag bieten. Von der deutschen Universität Dorpat will ich erzählen. 1 ) Sie hat eine Vorgeschichte schon im siebzehnten Jahrhundert gehabt. Im Jahre 1629 wurde Livland schwedisch, drei Jahre später unterzeichnete Gustav Adolf im Feldlager bei Nürnberg — kurz vor seinem Heldentode — die Stiftungsurkunde der Universität Dorpat. Diese Stadt, die im Jahre 1224 gegründet war und sich als bischöfliche und hanseatische Stadt gut entwickelt hatte, war zum Sitz der neuen Universität erwählt worden. Sie lag zentral zwischen Riga, Pernau, Reval und dem Peipussee und war der Umschlagplatz des baltisch-russischen Binnenhandels, der über diesen See ging. Aber die neue Universität entwickelte sich nicht wie sie sollte, da die kurzsichtigen Nachfolger des großen Königs sie benutzten, um das Deutsche zurückzudrängen und das Land schwedisch zu machen. Dieses konnte daher kein rechtes Vertrauen zur Universität fassen, die bald auch unter den schweren Russeneinfällen zu leiden hatte. I n den Jahren 1656 bis 1690 hörte aller Unterricht a u f ; die „Gustaviana" schien erloschen. Aber im Jahre 1690 wurde sie als „Gustaviana - Carolina" restauriert und hat *) Näheres siehe in der Schrift: „Die deutsehe Universität Dorpat." Leipzig, F. A. Brockhaus, 1882.
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dann noch zwanzig Jahre bestanden, nachdem sie beim Ausbruch des Nordischen Kriegs (1699) in die Hafenstadt Pernau verlegt worden war. Als sich dann Peter der Große durch Kapitulation Livlands bemächtigte, war das Land so verwüstet und entvölkert, daß an das Fortbestehen der Universität nicht gedacht werden konnte. Das Album der alten Universität Dorpat enthält die Namen von 1662 akademischen Bürgern; die H ä l f t e waren Deutsche, die andere Hälfte Schweden. Unter jenen war fast ein Viertel nicht-baltischer Herkunft, sondern reichsdeutsch. Also bestand noch immer ein Zusammenhang mit dem alten Mutterland, zumal da auch anderseits trotz der heimischen Universität noch immer nicht wenige Balten auf reichsdeutschen Universitäten studierten. Das Luthertum ist durch die Universität in den baltischen Landen gefestigt worden und hat sich nun auch mit dem Geist der Esten und Letten vollkommen verschmolzen. Der Pastorenstand, materiell sichergestellt und hoch angesehen, wurde (neben dem Adel) der wichtigste Stand im Lande. Er erfüllte die Aufgabe, die Gustav Adolf bei der Errichtung der Universität durch die Professoren ihm gestellt hatte: „Ich will nicht dulden, daß die Professoren (besonders die Theologen) die Wahrheit mit metaphysischen Spekulationen umhüllen, sondern die Professoren sollen die Jugend, ohne sie in theoretischen Labyrinthen aufzuhalten, gerade zur Praxis führen, damit sie in allen Dingen Gott und den Menschen nützlich sein können." In dem ersten Jahrhundert der russischen Herrschaft, da es keine heimische Universität mehr gab, mußten die baltischen Prediger, Juristen, Ärzte und Lehrer sämtlich in Deutschland studieren. Bis zum Jahre 1798 wurden ihnen dabei von der russischen Regierung keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. So fanden sich an vielen deutschen Universitäten im achtzehnten Jahrhundert zahlreiche baltische Studenten, und sie bildeten an einigen von ihnen, wie
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in Königsberg, Jena und Göttingen, eigene Verbindungen. Der geistige Zusammenhang mit dem Mutterland wurde dadurch aufs beste gewahrt, zumal da noch fort und fort Reichsdeutsche, wenn auch nicht in großer Zahl, in den baltischen Provinzen eine zweite Heimat suchten und fanden. Riga, im achtzehnten Jahrhundert eine ganz deutsche Stadt, war der geistige Mittelpunkt des Landes. Hier wirkte Herder, hier ließ Kant seine Werke verlegen; aus einem Pastorat, nicht weit von Riga, stammte Lenz, der Jugendfreund Goethes. Im Jahre 1798 wurde sämtlichen, in fremden Ländern studierenden russischen Untertanen die Rückkehr befohlen. Aber schon im Jahre 1802 gründete Alexander I. für die baltischen Provinzen und durch sie für das ganze russische Reich die Universität Dorpat „Zur Erweiterung der menschlichen Kenntnisse in Unserem Reich", m i t a u s s c h l i e ß l i c h deutscher U n t e r r i c h t s s p r a c h e . In der Tat haben bis zum Untergang der Universität fast nur deutsche Gelehrte an ihr gewirkt; die Zahl der übrigen läßt sich an den Fingern abzählen, wenn man von den Lehrstühlen für russische Theologie und Sprache absieht. Alexander I. erkannte mit erleuchtetem Weitblick, daß die Universität dann dem großen Reiche den höchsten Nutzen stiften werde, wenn sie ihm die deutsche Wissenschaft, ungeschmälert und ohne fremde Bevormundung, bringe. In diesem Sinne sah er über jedes national-russische Bedenken hinweg und schenkte zugleich der Loyalität der Deutschen in den Ostseeprovinzen ein vollkommenes Vertrauen. So wurde denn die Universität auch in ihrer Organisation und in den Einrichtungen (akademische Freiheit) ganz nach deutschem Muster gestaltet, und der neue deutsche Idealismus fand hier sofort eine Stätte. Goethes anderer Jugendfreund Klinger, der einstige „Stürmer und Dränger", wurde der erste Kurator; ihm folgte der Fürst Lieven, ein Einheimischer, durch den die evangelische Erweckungs-
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bewegung gefördert wurde, der aber zugleich mit höchster Gewissenhaftigkeit über der Universität gewaltet hat. Der erste Rektor war Parrot, ein Württemberger; bald folgte ihm der Westfale Evers, der das Amt so glänzend verwaltete, daß er von seinen Kollegen immer wiedergewählt wurde (1818 bis 1830). Er hat, ein Schüler der Göttinger Historikerschule, die Wissenschaft der russischen Rechtsgeschichte begründet. Sein Name hat daher noch heute bei den russischen Rechtshistorikern den besten Klang. Die deutsche Universität Dorpat hat er vor allen anderen zu dem gemacht, was sie geworden. An seinem Grabe bezeugte (1830) der Universitätsprediger: „Die Werke seines Geistes muß der Tod stehenlassen; sie lassen sich nicht einsargen, sondern bleiben unter uns und zeugen überall von des Verewigten Gegenwart. Es müßte die ganze Universität begraben werden, wenn sein Andenken erlöschen sollte; denn es ist nichts an ihr, was nicht während seines zwölfjährigen Rektorats seine wohltätige Wirksamkeit erfahren hätte und dadurch zu höherer Vollkommenheit gehoben worden wäre." Die Universität wurde sofort mit 29 Professuren eingerichtet, und die Zahl der Lehrstühle wuchs bis zum Jahre 1881 bis zu 45. Das entspricht den Verhältnissen einer mittleren deutschen Universität in jener Zeit. Von den 72 Professoren, die in den ersten fünfundzwanzig Jahren angestellt worden sind, waren 51 aus Deutschland, 16 aus den Ostseeprovinzen selbst, 4 aus Rußland. Man sieht also, daß die Universität einfach in dem Verbände der deutschen Hochschulen ihre Stellung erhielt. N u n aber begann eine Entwicklung, die dem geistigen Leben der baltischen Provinzen zur höchsten Ehre gereicht; in bedeutender Anzahl wählten sich die Balten selbst die akademische Laufbahn, so daß unter den 45 Dorpater Professoren des Jahres 1881 neben 19 reichsdeutschen 24 baltische wirkten. Nimmt man hinzu, daß um dieselbe Zeit mehr als 30 Balten an deutschen Hochschulen Professuren bekleideten, so gab es
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im Jahre 1881 etwa 55 Professoren, die ihre Heimat in den russischen Ostseeprovinzen hatten. Das ist eine sehr große Zahl, wenn man bedenkt, daß sie einer Bevölkerung von etwa 200 000 Seelen entstammten; denn nur so viele Deutsche gibt es in den Ostseeprovinzen. Diese Bevölkerung erbrachte den Beweis, daß sie mehr als eine ganze Universität aus ihren Kräften zu besetzen vermochte, und die zahlreichen Berufungen von Balten an die reichsdeutschen Hochschulen zeigten, daß diese Kräfte nicht minderwertig waren. Diese Verhältnisse haben bis zum Untergang der Universität angedauert. Bis zum Untergang der Universität — sie hatte in den Jahren von 1838 bis 1854 unter Nikolaus I. bereits eine Epoche durchlebt, die sie der Vernichtung nahezubringen schien. Professoren wurden abgesetzt, verbannt; reichsdeutsche Professoren sollten nicht mehr berufen werden und der deutschen akademischen Freiheit suchte man den Garaus zu machen. Der absolutistisch-militärische Kaiser wollte die Universität in ein russisches Kadettenkorps verwandeln, wenn er auch die deutsche Unterrichtssprache bestehen ließ. Die Wissenschaften sollten wie im Mittelalter traktiert werden nach vorgeschriebenen Lehrbüchern und approbierten Kollegienheften. Aber eben damals raffte sich der baltischdeutsche Geist auf, verdoppelte seine Kräfte und steckte sich das Ziel: wenn wir keine Lehrer aus Deutschland mehr bekommen, so müssen wir selbst die Universität besetzen, und wenn die Vorlesungen kontrolliert und niedergedrückt werden, so müssen wir neben den Vorlesungen die Studenten belehren und erziehen. So kam man wirklich über die schwierige Zeit nicht nur hinweg, sondern schuf auch aus der Not einen Chor von Tugenden. Niemals hat Livland eine Zeit gehabt, in der die Jugend inniger alle hohen Ideale umfaßt und in der das geistige Leben stärker pulsiert hat als damals. Das Feuer, welches die Nikolaitischen Drangsale entzündet, lohte noch fort, auch nachdem Alexander II.
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die schlimmen Maßregeln, seines Vaters zurückgenommen hatte und reichsdeutsche Professoren wieder nach Dorpat berufen wurden. Dieses Feuer stammte aus der heiligen Flamme, die in Deutschland im Anfange des Jahrhunderts in der Zeit der höchsten Not emporgelodert war. Die Professoren der Universität hüteten es, und der ausgezeichnete Kurator, Graf Keyserling, der Freund Bismarcks, respektierte es. Seine ungewöhnliche Weisheit nahm es in den Dienst der hohen Aufgabe, die deutsche Universität Dorpat f ü r das ganze Kussische Reich zum Segen werden zu lassen. Unter seiner Leitung kam die Universität in dem letzten Drittel des Jahrhunderts zur höchsten Blüte, und ganz Rußland empfing von dort Lehrer, Ärzte, Apotheker, Landwirte usw., die durch ihre Zuverlässigkeit wie durch ihre Kenntnisse sich unentbehrlich machten. In jeder russischen Gouvernementsstadt und an vielen anderen Plätzen bis zum Stillen Ozean waren sie zu finden, und das russische Volk freute sich ihrer Wirksamkeit, soweit es nicht planmäßig verhetzt wurde. Diese teils panslawistische, teils „echt russische" Hetze setzte freilich schon am Ende der sechziger Jahre wieder ein. Damals begegnete ihr der Professor der Geschichte Schirren mit einer Streitschrift, die Fichteschen Geist atmete. Er mußte seinen Lehrstuhl aufgeben. Mit Lug und Trug, mit Verleumdungen und Entstellungen aller Art schritt die russische Kampflinie vor und unterminierte die Existenz des Deutschtums und seiner Universität. Doch vermochte sie unter Alexander II. noch nichts Wesentliches zu erreichen. Erst unter seinem Sohne, Alexander III., gelang das Zerstörungswerk. Daß es ein solches war, darüber sind sich erleuchtete Russen, ja selbst die Urheber der Zerstörung, nicht unklar geblieben: „Mag die Kultur in den Ostseeprovinzen den größten Schaden leiden — russischer Geist muß dort herrschen !" So wurde der Universität die russische Unterrichtssprache fast mit einem Schlage auferlegt und
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der Bund mit der deutschen Wissenschaft zerschnitten. Dorpat mit seinen mehr als tausend Studenten fiel, und J u r j e w entstand, ein kümmerlicher Ableger der russischen Universitäten; denn die besseren russischen Professoren ziehen in der Regel jede andere russische Hochschule vor. Es gibt eine Russifizierung, sagen wir mit Schirren, gegen die nichts einzuwenden ist. Das ist die Russifizierung, wie sie nach ehrlicher Arbeit und ehrlichem Kampf im Lauf der Generationen gleichen Schritts mit der Entwicklung des Verkehrs und der Kultur des russischen Volks in die livländischen Städte und Dörfer einziehen mag — wenn Rußland eine solche Kultur einst bieten kann und diese Provinzen nicht aufgeben muß. Aber, als es vor zwanzig Jahren die Universität zerstörte, konnte es nur einen Ersatz bieten, der keiner war. So ist es ein Kulturmord gewesen und teilweise auch ein Selbstmord, ein blühendes Leben zu zerstören, dessen reiche Früchte auch der Neider und Feind nicht zu leugnen vermochte und die mindestens in derselben Fülle dem ganzen Russischen Reiche zugute kamen wie den baltischen Provinzen. Ich habe einsichtige Russen gesprochen, die bekannten, daß die Aufhebung der deutschen Universität Dorpat eine böse Konzession an den russischen Chauvinismus gewesen ist und die schwerste Einbuße f ü r das Reich bedeutete. Auch ist es einfach nicht wahr, daß sich die Universität jemals in Widerspruch zu ihren Aufgaben f ü r Rußland gesetzt hat, und daß die Studenten kein Russisch verstanden. Das Gegenteil ist der Fall. Mit großem Ernst hielt der Kurator Graf Keyserling darauf, daß auf den Gymnasien die russische Sprache tüchtig gelernt wurde. Wir Dorpater und Rigaer Abiturienten verstanden Russisch sehr viel besser als Französisch oder gar Englisch. Bei der Abgangsprüfung wurden wir über russische Sprache, Geschichte und Literatur in dieser Sprache examiniert; ein langer russischer Aufsatz mußte aus dem Stegreif geschrieben werden — ich habe einen solchen über den Einfluß Goethes
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auf Schiller verfaßt — und niemand erhielt das Zeugnis der Reife, der im Russischen nicht mindestens „ G u t " hatte. So waren wir wohl vorbereitet, dem Reiche auch in seiner Sprache zu dienen. Daß aber die Universität nicht nur ihrer wissenschaftlich-praktischen Aufgabe genügt, sondern auch die Wissenschaft selbst fort und fort gefördert hat, das wissen heute noch die Fachmänner in allen Fakultäten. Nicht nur die medizinischen Doktor-Dissertationen, die gehaltvoller waren als die meisten reichsdeutschen, sondern auch die gelehrten Werke in allen wissenschaftlichen Disziplinen legen dafür Zeugnis ab. I m folgenden möchte ich durch eine Reihe von Namen an die Leistungen der Universität erinnern; nicht wenige von ihnen sind auch über den Kreis der Fachgelehrten hinaus bekannt geworden. In der theologischen Fakultät wirkten von reichsdeutschen Gelehrten der Dogmatiker Philippi, der scharfsinnigste Vertreter der lutherischen Orthodoxie im neunzehnten Jahrhundert, und der Kirchenhistoriker Kurtz, dessen Lehrbuch der Kirchengeschichte vierzig Jahre lang das verbreitetste Studentenbuch auf allen deutschen Hochschulen gewesen ist. Baltische Theologen von hervorragender Bedeutung waren v. Oettingen, der die Moralstatistik begründet hat, der geistvolle Kirchenhistoriker v. Engelhardt, aus dessen Schule mehrere akademische Lehrer, die in Deutschland wirken, hervorgegangen sind, und der Vertreter der praktischen Theologie Theodosius Harnack. Die juristische Fakultät widmete sich in erster Linie der Pflege des heimischen Rechts, das sich eng an das gemeine Recht anschließt. Hier hat sich der Balte Bunge als Sammler und Bearbeiter die größten Verdienste erworben. Als Reichsdeutsche aber wirkten hier Savignys Schüler Clossius, der schon genannte Evers, der Kriminalist Osenbrüggen, der Kirchen- und Staatsrechtslehrer Loening und andere.
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Die Blüte der medizinischen Fakultät haben, aua Deutschland berufen, Burdach, Volkmann, Reichert, Buchheim, Dragendorff, N a u n j n — alles Namen vom besten Klang — hervorgerufen; aber neben ihnen wirkten die Balten Kupffer, Rosenberg und Stieda als Anatomen, Bidder (der bedeutende Schüler von Johannes Müller), Alexander Schmidt und Gustav Bunge als Physiologen, v. Bergmann als Chirurg, Schmiedeberg als Pharmakolog. Besonders zahlreich und bedeutend waren die reichsdeutschen Professoren in der Historisch-Philologischen Fakultät. Als Nationalökonomen wirkten in Dorpat Adolf Wagner, den heute noch ein starkes Band mit dem Lande verbindet. Laspeyres und Bücher, als Philologen und Archäologen Neue, Stephani, Schwabe, Petersen, Löschcke, als Sprachvergleicher Leo Meyer, als Historiker Maurenbrecher, Ulimann, Wilmanns, Rühl, Walz, als Philosophen Jäschke, der seinem Lehrer Kant so nahe stand, und Strümpell. Unter den baltischen Lehrern ist der Historiker Schirren und der Philologe Paucker hervorzuheben. In den Naturwissenschaften ist der größte Sohn der baltischen Lande Ernst v. Baer gewesen, der die Entwicklungsgeschichte begründet hat. Über seine epochemachenden Leistungen hinaus gehört die wissenschaftliche Persönlichkeit dieses Mannes zu jenen leuchtenden Vorbildern, an denen sich auch ferner noch ganze Generationen von Gelehrten bilden und innerlich erheben werden. Neben ihm haben die baltischen Lande die Astronomen - Dynastie der Struves, die Botaniker Bunge und Russow, die Mineralogeu v. Engelhardt, v. Helmersen, Graf Keyserling und Grevingk, den Chemiker Carl Schmidt, den Physiker Arthur v. (Dettingen und andere hervorgebracht. Unter den reichsdeutschen Professoren in dieser Fakultät seien der Astronom Mädler und der Mathematiker Minding hervorgehoben. Nichts als Namen konnten hier geboten werden, und auch diese nur unvollständig; aber sie werden doch nicht
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wenige Leser daran erinnern, daß in Dorpat fast ein Jahrhundert lang, und noch vor zwei bis drei Jahrzehnten, die deutsche Wissenschaft herrlich geblüht hat. Das alles ist nun versunken, versunken auch das echt deutsche Studentenleben mit seiner baltischen Eigentümlichkeit und seinem Idealismus. Jetzt aber stehen wir im Weltkriege! Was wird er den baltischen Landen bringen? Niemand weiß es noch; aber wir hoffen mit Zuversicht. Niemals aber soll und wird es dort an der Gesinnung fehlen, die sich von dem Zurufe jener Mächte stärken läßt, die dem Leben Inhalt und K r a f t geben: „Komm, wir wollen dir versprechen Rettung aus dem tiefsten Sehmerz, Säulen, Pfeiler kann man brechen, Aber nicht ein freies Herz; Denn es lebt ein ewig Leben, Ea ist selbst der ganze Mann, In ihm wirken Lust und Streben, Die man nicht zermalmen kann."
BERICHT ÜBER DIE AUSGABE DER GRIECHISCHEN KIRCHENVÄTER DER DREI ERSTEN JAHRHUNDERTE (1891 — 1915)
Rede, gehalten in der Festsitzung der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften am 27. Januar 1916 und in ihren Sitzungsberichten erschienen.
Die Bedeutung der Aufgabe, welche sich die Akademie mit der Edition der griechischen Kirchenväter der vorkonstantinischen Zeit gestellt, und die sie nun durch fünfundzwanzig Jahre verfolgt hat, bedarf einer Erläuterung. In den 150 Jahren, die mit der Regierung Konstantins des Großen begannen, d. h. in der Zeit von 300 bis 450, ist durch die innige, wenn auch reservierte Verschmelzung der Kirche mit den Kräften der Antike der Grund zur mittelalterlichen Weltanschauung, Gesinnung und Kultur gelegt worden. Noch mehr: in jenen anderthalb Jahrhunderten hat sich der Orbis Romanus ideell in die „Christenheit", in die Civitas dei auf Erden verwandelt, die die Grundvoraussetzung des mittelalterlichen Lebens und Denkens geworden ist, in jene Civitas, die nun nach anderthalb Jahrtausenden durch den ungeheuren Weltkrieg zum erstenmal ernstlich in Frage gestellt erscheint. Denn bis zum 1. August des Jahres 1914 hat sich jene internationale Idee — wenn auch in Umformungen und Verhüllungen — stärker erwiesen als alle zentrifugalen nationalpolitischen Gewalten, und selbst die Zeitalter der Reformation und der Revolution haben sie nicht niederzuringen vermocht. Die Verkörperung aber und Organisation jener Idee auf allen Gebieten des Lebens haben die Kirchenväter des 4. und 5. Jahrhunderts vollzogen, und noch hat es in Europa keinen Mann gegeben, der sich an Umfang des Form und Inhalt gebenden Einflusses mit Augustin und seinen griechischen und lateinischen Zeitgenossen messen könnte. Auch sind schlechthin alle ostund westeuropäischen Nationalliteraturen, als geistliche und
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größtenteils auch als profane, aus der Arbeit jener Kirchenväter entstanden und wurzeln stofflich und formell in ihnen. Diese Literatur des 4. und 5. Jahrhunderts, die uns in größtem Umfange noch vorliegt, rein und vollständig überschauen zu können, ist in bezug auf den griechischen Teil eine noch ungelöste Aufgabe, den lateinischen hat unsere Wiener Schwesterakademie übernommen. Nur im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung, die diese Literatur gewonnen hat, kann die Aufgabe als lockende bezeichnet werden; denn das, was sich hier verschmolzen hat, waren, von der antiken und von der christlichen Seite her betrachtet, längst nicht mehr frische oder gar originale Erkenntnisse, sondern vielfach Exzerpte, Plagiate, und Verunstaltungen, dennoch aber lebenskräftig und in der Verbindung aufs neue erstarkend. Aber hinter dieser umfangreichen Literatur des 4. und δ. Jahrhunderts, die der Aufarbeitung noch harrt, liegt nun noch eine — vom Mittelalter aus betrachtet — p a l ä o n t o l o g i s c h e Schicht. Ihre gewaltige Bedeutung und ihr unerschöpflicher Reiz besteht darin, daß sie die Dokumente jenes Zeitalters enthält, i n w e l c h e m d a s r e l i g i ö s e Gef ü h l s l e b e n d e r G r i e c h e n u n d R ö m e r m ü n d i g gew o r d e n ist. In dies Zeitalter der drei ersten Jahrhunderte tritt die christliche Religion ein, und von dem Moment an handelt es sich letztlich allein nur um die beiden Fragen: „ W e l c h e R e l i g i o n soll der A u s d r u c k der m ü n d i g e n F r ö m m i g k e i t d e r G r i e c h e n u n d R ö m e r w e r d e n ? " und „Wie lassen sich die A n s p r ü c h e der m ü n d i g e n Religion mit K u l t u r und Staat in E i n k l a n g bringen?'1 Was uns von den Evangelien an bis Eusebius und von Posidonius bis Porphyrius erhalten ist, dient alles ausschließlich der Beantwortung dieser beiden Fragen, ein ungeheures Ringen, ein vielfach verschlungener Prozeß mit progressiven und reaktionären Versuchen aller Art, der mit dem Siege der christlichen Religion endet — nachdem diese selbst zu einer halbhellenischen geworden war.
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Die Literatur dieses weltgeschichtlichen Prozesses liegt •on christlicher Seite in den Werken der vorkonstantinischen Kirchenschriftsteller vor. Aber diese Literatur ist uns im Unterschied von der nachkonstantinischen nur in Trümmern erhalten. Absichtlich aufbewahrt ist uns nur, was im Neuen Testamente und etwa noch in den Apologeten vorliegt. Wie das % Nicht nur, weil Sorglosigkeit oder Barbarei die Schriften verloren gehen ließ, sondern noch mehr, weil fast kein Stück aus dieser Literatur vor den Augen der byzantinischen Orthodoxie der Folgezeit Gnade finden konnte. Sie hat sie absichtlich unterdrückt. Aber zum Glück sind die anderen Nationalkirchen, die Töchter der hellenischen, milder bzw. stumpfer in ihrem Urteil gewesen als die Mutter. I n ihre Sprachen wurden ur- und altchristliche Schriften zahlreich übersetzt, und hier haben sie sich zu einem beträchtlichen Teile erhalten. Die altchristlich-hellenische Literatur ist heute neben dem, was das Neue Testament und der Zufall uns geschenkt haben, aus der lateinischen, syrischen, koptischen, äthiopischen, arabischen, armenischen, georgischen, altbulgarischen, ja aus der altenglischen Überlieferung und nun auch aus den Turfanpprachen zu ermitteln. Zahlreiche Stücke haben sich nur in einer dieser Sprachen erhalten. Das griechische, altrömische Symbolum kennen wir am besten aus einem angelsächsischen Psalterium, in welchem es nachgemalt ist; große Teile der Apokalypse Henochs, die zur Zeit Jesu geschrieben wurde, sind nur äthiopisch vorhanden; gewisse Schriften des Methodius kennt man nur altbulgarisch; der georgische und armenische Kaukasus bietet uns verlorene Schriften Hippolyts; nur die Armenier haben das Weltbuch, Eusebs Chronik, treu bewahrt, und ohne das Koptische besäßen wir keine gnostischen Literaturwerke. I n Tausenden von Stücken und Fetzen, in zehn Sprachen vermummt, mit späteren Schriften vermengt, überarbeitet und exzerpiert, liegt ein beträchtlicher Teil der altchristlichen griechischen
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Literatur vor uns und muß gesammelt werden. Hierbei macht man die paradoxe, meines Wissens noch nicht erklärte Beobachtung, daß alle Nationen, welche von hellenischen Gelehrten die Übersetzung der Bibel in ihre Sprache erhielten, alsbald eine reiche christlich-nationale Literatur ausbildeten und der Bibelübersetzung andere Übersetzungen hinzufügten. Nur die Goten haben das nicht getan und auch bei den deutschen Nachbarstämmen nicht erweckt. Die Übersetzung des Ulfilas ist bei ihnen ohne jede literaturgeschichtliche Frucht geblieben. Woher das? Waren sie barbarischer als Kopten, Äthiopier, Armenier und Georgier? Haben andere Gründe gewaltet? Ich weiß keine Antwort. Die Reste der altchristlich-hellenischen Literatur der drei ersten Jahrhunderte, diese originalen Zeugnisse der christlichen Religion und ihrer w e r d e n d e n säkularen Entwicklung, zu sammeln, mußte als eine hohe Aufgabe erscheinen. Im Jahre 1891 stellte M o m m s e n den Antrag bei der Akademie, diese Aufgabe in die Hand zu nehmen. Die Akademie nahm unter warmer Befürwortung des Plans seitens der Herren D i l l m a n n , D i e l s , H i r s c h f e l d u. a. den Antrag an und bewilligte zunächst für die Vorarbeiten die entsprechenden Mittel. Im Laufe der folgenden zwei Jahre wurde unter Hinzuziehung des Herrn P r e u s c h e n das gesamte bisher gedruckte Material durchgearbeitet und im Jahre 1893 in zwei Bänden das Werk veröffentlicht: „Die Überlieferung und der Bestand der altchristlichen Literatur bis Eusebius." Diesem Werke folgten in den Jahren 1897 und 1904 zwei weitere Bände, welche „die Chronologie der altchristlichen Literatur" und die Echtheitsfragen behandeln. Die Ausgabe selbst anlangend, wurde zunächst in den Jahren 1893 bis 1896, gleichsam zur Probe, die Edition der Werke Hippolyts in Angriff genommen, eines Schriftstellers, dem die Überlieferung besonders schlimm mitgespielt hat und dessen Herstellung daher große Schwierigkeiten bot. Ende 1896 erschien, von den Herren A c h e l i s und B o n w e t s c l i
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besorgt, der erste Band der Werke Hippolyts. Gleichzeitig übernahm, nachdem ein Finanzplan aufgestellt war, die H e r m a n n - u n d E l i s e - geb. - H e c k m a n n - W e n t ζ e l - S t if t u n g die Kosten des Unternehmens und die J . C. H i n r i c h s s c h e B u c h h a n d l u n g in Leipzig den Verlag. Die nunmehr dauernd niedergesetzte akademische Kommission f ü r die Leitung des Unternehmens (erste Sitzung März 1897) bestand ursprünglich aus den Herren D i eis, l o m m s e n , von G e b h a r d t , L o o f s und dem Berichterstatter als Geschäftsführer, denen bald Herr H i r s c h f e l d , Herr v o n W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f und Herr J ü l i c h e r , später Herr H o l l , beitraten. Nach Herrn Ρ r e u s c h e n hatte der letztere eine Reihe von Jahren hindurch der Kommission durch die Bearbeitung der indirekten Überlieferung die ersprießlichsten Dienste geleistet. Im Jahre 1900 erhielt die Kommission in Dr. K a r l S c h m i d t einen etatsmäßigen wissenschaftlichen Beamten f ü r die koptisch - christliche Literatur, zur Unterstützung des Geschäftsführers und zur Überwachung des Drucks der Ausgaben. In den letzten Jahren wurde er bei dieser Aufgabe durch Herrn K l o s t e r m a n n unterstützt. Bereits in der ersten Sitzung der Kommission wurde beschlossen, auch solche spätere griechische Kirchenschriftsteller in die Sammlung aufzunehmen, die wichtiges Material zur älteren christlichen Literatur enthalten. Ferner schuf sich die Kommission in den „Texten und Untersuchungen zur altchristlichen Literatur" ein ..Archiv", in welchem vorläufige Textpublikationen, Versionen usw., vor allem aber solche Voruntersuchungen und Untersuchungen zum Abdruck kommen sollten, deren Aufnahme in die Ausgaben diese allzusehr belasten würde. Die Ausgabe ist auf etwa 54 Bände berechnet. Von diesen sind bisher 27 Bände erschienen, 8 befinden sich im Druck, 13 sind in Bearbeitung. Von dem „Archiv f ü r die Ausgabe" sind seit dem Jahre 1897 ebenfalls 27 Bände erschienen, die mehr als 100 Abhandlungen enthalten.
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An den bisher erschienenen oder in Bearbeitung befindlichen Bänden der Ausgabe sind 33 Gelehrte beteiligt; an dem „Archiv" haben 70 mitgearbeitet. Von ihnen sind 18 nicht Reichsangehörige, und zwar je drei Amerikaner und Armenier, je zwei Österreicher, Niederländer, Griechen und Belgier und je ein Balte, Schweizer, Finnländer und Italiener. Die beiden belgischen Gelehrten, denen wir die ausgezeichneten Ausgaben des Theodoret und Philostorgius verdanken, die Herren B i d e z und P a r m e n t i e r , hatten vor Ausbruch des Krieges zwei weitere Editionen fast schon bis zum Abschluß gefördert; der Kustos an der Vaticana, Herr M e r c a t i , ist seit Jahren mit den Psalmen - Katenen beschäftigt. Wir müssen abwarten, wie sich nach dem Kriege diese Unternehmungen gestalten werden. Ich möchte aber hier der Freude Ausdruck geben, daß unser Werk über die Grenzen unseres Vaterlandes heraus tüchtige und treue Mitarbeiter gefunden hat. Engländer, Franzosen und Bussen fehlen, und jetzt hat die Verwaltung der französischen Nationalbibliothek selbst neutralen Gelehrten, die f ü r uns arbeiten, brüsk ihre Tore verschlossen. Der Tod hat uns in diesen 25 Jahren schwere Einbußen gebracht. Die Kommission verlor Μ ο m m sen und von G e b h a r d t . Was der erstere ihr bedeutet hat, entsprach der Kraft, die er überall einsetzte, wo er wirkte. Wohl war er erfinderisch in den scherzhaften Bemerkungen „er sei hier wie Saul unter die Propheten geraten" oder „eine jede Kommission müsse e i n Mitglied besitzen, welches von der Sache nichts versteht"; in Wahrheit gehörte sein Interesse in wachsendem Maße der in der Kaiserzeit sich entwickelnden christlichen Bewegung, und seine Kenntnisse steigerte er auch auf diesem Gebiete fort und fort. Die Bedingungen, unter denen große wissenschaftliche Unternehmungen zu leiten sind, waren ihm wie keinem anderen geläufig, und der unvermeidlichen Schwierigkeiten und Reibungen Herr zu werden, war er durch eine lange Erfahrung in Strenge
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und Nachsicht geübt. Auch im höchsten Alter zu lebendig und tätig, um den Patriarchenstuhl einzunehmen, stand er als Führer unter uns und blieb, nachdem er alle anderen Ämter niedergelegt, nicht nur aktives Mitglied der Kommission, sondern gab auch selbst — seine letzte große Arbeit — die Kirchengeschichte des Rufin heraus. Neben ihm vermissen wir v o n G e b h a r d t schmerzlich, den Gelehrten der personifizierten Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit, der auf den Feldern, wo er arbeitete, den letzten Halm in die Scheuern gebracht hat. Wie viele Namen aber von Mitarbeitern neben diesen Männern müßte ich nennen, denen der Tod die Feder vorzeitig aus der Hand genommen hat! B e r e n d t s - D o r p a t , der sich 20 Jahre hindurch mit den Apokryphen des Neuen Testaments opferfreudig und hingebend beschäftigt hat, hat aus den reichen, von ihm auf vielen Reisen gesammelten Schätzen nur sehr Weniges selbst veröffentlichen können. W e n d l a n d , der Doctor theologiae utriusque, hat die abgeschlossene Ausgabe der Philosophumena des Hippolyt nicht selbst mehr in unsere Hände legen können. L o e s c h c k e , der junge Gelehrte größter Hoffnungen, hat neben einem fast fertigen Manuskript weitausschauende Pläne zurückgelassen. E i n Teilunternehmen ist vom Tode geradezu verfolgt worden: die große Aufgabe, die pseudoklementinische Literatur herauszugeben, übernahm zuerst F u n k , nach seinem Tode L o e s c h c k e , nach dessen T o d e H e i n t z e . H e i n t z e ist auf dem Felde der Ehre gefallen — wir gedenken seiner auch an dieser Stelle mit ehrfurchtsvollem Dank — , und so ist die Aufgabe zum dritten Male verwaist. Neben diesen Gelehrten nenne ich den Äthiopen F l e m m i n g und den Latinisten S k u t s c h , auf dessen uns zugesagte Hilfe wir große Erwartungen setzen durften. Bei diesen Verlusten steigt aber noch die schwere Sorge auf, ob wir sie werden ersetzen können — nicht nur weil der ungeheure Krieg seine Ernte unter dem Nachwuchs hält und überall die größten Anstrengungen nötig sein werden,
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um die Wissenschaften nicht herabgleiten zu lassen, sondern auch weil die Zeitströmungen, unabhängig vom Kriege, unserer besonders schwierigen und komplizierten Aufgabe nicht günstig sind. Diese Aufgabe verlangt Gelehrte von einer benediktinischen Gelehrsamkeit in den Sprachen und Literaturen, von theologischem Verständnis, von Sicherheit in der Kritik und den philologischen Methoden und von zäher Ausdauer. Aber das sind heute nicht die Sterne, denen die zukünftigen Weisen nachziehen. Andere Ziele haben sich in den Vordergrund geschoben, und wir gehen, wenn nicht alles täuscht, aufs neue einem philosophischen Zeitalter der Wissenschaften entgegen auf idealistischer, aber zugleich auf soziologischer Grundlage. Gewiß eine erhebende Aussicht! Wie innig seufzt die Seele unseres Volkes einer gemeinsamen Weltanschauung entgegen! Aber von vornherein müssen wir der Gefahr vorbeugen, daß diese neue idealistisch-philosophische Epoche nicht allzu rasch dem Geschick der älteren unterliegt. Nur wenn der Umfang und die Reinheit der Induktion, nur wenn die selbständige und originale Quellenforschung, nur wenn der Fleiß, den keine Mühe bleichet, Schritt hält mit dem Gang der Spekulation, kann etwas Dauerndes geleistet werden. Und heute ist die Gefahr schneller Verflachung ungleich größer als vor hundert Jahren; denn neben der Wissenschaft steht ein mächtiger Journalismus — ich meine nicht die Zeitungen —, stets bereit, unreife Früchte einzusammeln und fragwürdige Ergebnisse zu trivialisieren. Gewiß — wer zusammenschaut, kann nicht selbst alles studiert haben; aber wissen muß er, wann und wo die Zusammenschau beginnen darf. Möge es der Akademie, die von L e i b n i z , dem Forscher und Denker, ihr Mandat erhalten hat, vergönnt sein, an ihrem Teile Forschung und Spekulation stets im Gleichgewicht zu erhalten!
Über die Zukunft des Orientalischen Seminars, den Plan einer Auslandshochschule und die Teilung der Berliner Philosophischen Fakultät. Die Notwendigkeit, den überschüssigen deutschen Kräften von höherer Ausbildung neue Arbeitsgebiete zu erschließen, steht ebenso fest wie die Aufgabe, die unserem Volke gesetzt ist, in dem Zeitalter gesteigerter Weltwirtschaft nicht nur seinen Platz zu behaupten, sondern auch die Werbekraft und den Einfluß deutscher Kultur zu verstärken. Eine große wirtschaftliche und eine kulturelle Aufgabe sind uns hier zugleich gestellt. Beide Aufgaben sind untrennbar; denn unsere wirtschaftliche Stellung und Kraft wurzelt ganz wesentlich in unseren iuissenschaftlich-technischen Leistungen, und umgekehrt können heutzutage große kulturelle Einflüsse auf andere Nationen in der Regel nur auf wirtschaftlicher Grundlage bzw. in engem Zusammenhang mit ihr wirksam werden; denn in dem harten Kampf um Sonne und Boden vermögen Erkenntnisse und Ideen, ja die Gesittung selbst, nur dann zu Kraft und Einfluß zu gelangen, wenn sie erweisen, daß sie den äußeren und inneren Zustand der Völker zu heben imstande sind. Unsere Nation verfügt aber über Gaben und Kräfte, die sich in dieser Mischung bei den anderen Kulturnationen nicht finden. Produktive Ideen, wissenschaftliche Schulung, hingebender Fleiß und ein starkes Pflichtgefühl verbinden sich noch immer bei uns in zahlreichen Arbeitern auf allen Stufen der Ausbildung zu einer mächtigen, man darf wohl sagen: spezifisch deut-
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sehen Einheit, die die unleugbaren Mängel zu ersetzen vermag, die unserer Nation im Vergleich und im Wettbewerb mit den anderen anhaften. Durch jene Eigenschaften sind wir in den Stand gesetzt, uns wirksam an der Doppelaufgabe zu beteiligen, die dem 20. Jahrhundert gestellt ist: nämlich 1. große Völker mit eigenartiger, alter Kultur bzw. halbfertige Staaten mit bedeutenden Ländergebieten f ü r die europäische Kulturgemeinschaft zu erschließen und in diese Kulturgemeinschaft aufzunehmen, 2. wilde und halbwilde Völker zu befähigen, Kulturarbeit zu leisten. Das eigene Interesse, welches wir dabei im Auge haben, ist vor dem Forum der Geschichte und Moral dann ein berechtigtes, wenn wir uns die Ertüchtigung und das wirkliche Wohl jener Völker ebenso angelegen sein lassen, wie unseren Vorteil. Diese beiden Gesichtspunkte schließen sich aber deshalb nicht aus, weil sich — wie das Beispiel γοη Portugal zeigt — jeder Raubbau in der Geschichte schließlich am Räuber selbst rächt. Das große Grundwort der Moral: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst", ist auch die beste sozial wirtschaftliche Maxime, und wer sie egoistisch überhört, sieht sich früher oder später schwer gestraft. Daß unter den Mitteln, welche wir f ü r die Arbeit im Ausland bei uns ausbilden müssen, die im Inland zu gewinnende Schulung in der ersten Linie steht, bedarf keines besonderen Nachweises. Der Deutsche vermag ungeschult viel weniger als andere Nationen. Ihm fehlt die Leichtigkeit und Versatilität im Verkehr, ihm fehlt die glückliche Mischung von Selbstbehauptung und Anpassung, die dem Engländer eignen. Der ungeschulte Deutsche ist in der Regel hilflos, da er sich auf die Treffsicherheit seines Instinkts nie verlassen kann. Sieht er sich genötigt, sich anzupassen, so verfällt er alsbald in eine würdelose Abhängigkeit und gibt seine Eigenart, Heimat und Volkstum im Handumdrehen preis. Aber starke und feste Schulung schützen ihn vor solchem Fall, und sie kann und muß ihm im Inlande so geboten werden, daß er sich über diesen Schutz hinaus mit Superiorität im Ausland geltend zu machen vermag.
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Unter den verschiedenen Instituten der Schulung für den Dienst und die Arbeit im Ausland nimmt das Orientalische Seminar eine hohe, ja die erste Stelle ein. Aber, fort und fort erweitert und vergrößert, ist es in seiner Entwicklung an einen Punkt gekommen, an dem es sich in seiner bisherigen Gestalt nicht mehr zu behaupten vermag. Das ist die Überzeugung der Sachverständigen, vor allem die des Direktors des Seminars selbst, und diesen Eindruck haben auch die weitesten Kreise gewonnen, die für die Aufgaben des Seminars ein Verständnis haben. Der Rahmen des Seminars ist schon seit vielen Jahren gesprengt. Weder ist es ein „Seminar" mehr im gewöhnlichen Sinne des Wortes noch ein „orientalisches" Seminar, da es nachgerade — und in zwingendem Fortschritt — den größten Teil der lebenden wichtigen Sprachen in seinen Lehrplan aufgenommen hat. Auch vermittelt es längst nicht mehr nur sprachliche Schulung, sondern Landeskunde, Volkswirtschaft, Rechtskunde, naturwissenschaftliche Kenntnisse, Hygiene usw. sind zum Teil bereits aufgenommen, zum Teil pochen sie kräftig an den Pforten des Seminars. Was zu tun ist, scheint sich sehr einfach zu ergeben — man erweitere das Seminar auf allen diesen Linien zu einer umfassenden Anstalt und gebe ihm dementsprechend einen neuen Namen, oder man zerschlage das Seminar und verteile seine zu erweiternden und zu vertiefenden Aufgaben einzeln auf verschiedene Lehranstalten. Ich werde im folgenden zu zeigen versuchen, daß beide Wege nicht gangbar sind, daß es also gilt, einen anderen Weg zu finden, und daß ein solcher — ein zum Ziele führender Mittelweg — wohl gefunden werden kann. I. Widerlegung des Planes der Umvoandlung des Orientalischen Seminars in eine selbständige Auslandshochschule. Auf den ersten Blick scheint alles für den Plan zu sprechen, aus dem Orientalischen Seminar eine Auslandshochschule zu schaffen, und so haben sich auch bereits zahlreiche und sehr gewichtige Stimmen für diesen Plan erhoben, ja der Reichstag selbst ist für ihn eingetreten.
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Für die „Auslandshochschule" lassen sich folgende Gründe geltend machen: 1. Sie liegt in der natürlichen Konsequenz der bisherigen Entwicklung des Orientalischen Seminars und setzt diese organisch fort.1 2. Sie hält die Einheitlichkeit aller der Schulungen aufrecht, die für das Wirken im Ausland nötig sind und zentralisiert sie.2 3. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Jugend auf die Berufsmöglichkeiten im Ausland und gibt so dem Gedanken: „Diene deinem Vaterland im Ausland", Werbekraft und Dauer.3 Aber diesen wohlberechtigten Erwägungen stehen, sobald man den Plan konkret prüft, Schwierigkeiten gegenüber, die teils aus der Sache selbst fließen, teils aus der Eigenart unseres Hochschulwesens. Sie sind so groß, daß mir der Plan undurchführbar erscheint: 1. Die Bedürfnisse, die das geplante selbständige Institut erfüllen müßte, sind so zahlreiche und mannigfaltige, daß man eine Hochschule größten Stils und Umfange errichten müßte. Schafft man auch nur vier Abteilungen: a) die sprachliche nebst Landeskunde und Ländergeschichte, b) die volks- und handelswirtschaftliche, c) die staats- und rechtskundliche, d) die naturwissenschaftlich - medizinische, und überlegt man, daß schon jetzt das Seminar etwa 30 europäische Lehrer bzw. Professoren und etwa 22 teils europäische, teils außereuropäische Lektoren, Hilfslehrer usw. umfaßt, so läßt sich mit Bestimmtheit berechnen, daß eine relativ vollständige Auslandshochschule nicht unter 40—50 Hauptlehrern (Professoren) und ca. 40 Lektoren, Hilfslehrern usw. bestehen könnte. Die Kosten einer solchen Anstalt wären enorme, und je tüchtigere Lehrer berufen würden, 1 Dagegen läßt sich aber einwenden, daß die bisherige Entwicklung auf den toten Punkt gekommen, also, wie es scheint, nicht fortzusetzen ist. — 2 Aber dieser Vorteil kann auch auf einem anderen Wege festgehalten werden.— 3 Auch dieser Vorteil kann durch ein anderes Mittel festgehalten werden.
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mit um so mehr Recht würde man es bedauern, daß sie nur den speziellen Zwecken der Auslandshochschule dienen sollen. 2. Aber das ist nicht die größte Schwierigkeit — auch sehr große Mittel müßten aufgebracht werden, wenn die Sache es verlangt — ; viel größer ist die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, daß sich eine solche Anstalt in das Gefüge unseres höheren Unterrichts- und Schulwesens schlechterdings nicht einfügt. Daran krankte schon das Orientalische Seminar: es war und ist, schultechnisch betrachtet, ein Zwitterinstitut, und dieser Übelstand würde nur noch wachsen, wenn das Seminar durch eine Metamorphose gehoben würde. So wie die Dinge bei uns liegen, ist die Universität der Orientierungspunkt für allen höheren Unterricht, der schlechterdings nicht übersehen oder eliminiert werden kann. Eine jede „Hochschule" kann bei uns — ich lasse hier noch die technischen Hochschulen beiseite — nur unter oder über der Universität stehen. Die zu gründende Auslandshochschule darf aber weder unter der Universität noch über ihr stehen. Nicht über ihr: denn unsere Universitätsverhältnisse würden einen unberechenbaren Schaden erleiden, wenn den Universitäten irgendeine Hochschule übergeordnet würde; sie würden über kurz oder lang auf die Stufe von Lyzeen herabgedrückt sein, wenn die endgültige Fach- und Berufsausbildung speziellen Anstalten zugewiesen würde. Diese Gefahr — ich komme unten noch einmal auf sie zu sprechen — liegt heutzutage bereits näher, als die meisten ahnen. Daß es sich hier aber um eine wirkliche Gefahr und um einen drohenden schweren Schaden handelt, das braucht niemandem nachgewiesen zu werden, der auch nur eine Ahnung davon hat, was die Einheit der universitas litterarum in unserer deutschen Kultur und Geschichte bedeutet hat und noch immer bedeutet. So unschuldig und notwendig alle „Fortbildungskurse" sind, wenn sie in engem Zusammenhang mit den Universitäten gehalten werden, so gefährlich und zersetzend sind alle „Hochschulen", „Akademien", Lehranstalten und Kurse, die unabhängig von den Universitäten, also über denselben, als
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obligatorische Institute den auf den Universitäten begonnenen Unterricht fortsetzen bzw. erst abschließen oder Teile des Universitätsunterrichts ganz übernehmen. Aber die geplante „Auslandshochschule" kann und darf auch nicht unter den Universitäten stehen. Ein Unterricht zweiter Ordnung, der die dort Studierenden zu Studenten II. Klasse macht und der unter anderen Voraussetzungen erfolgt als der Universitätsunterricht, ist für die Lehrer und die Studenten in gleicher Weise unerträglich. Man wird nur halbe und unzufriedene Lehrkräfte und ein fragwürdiges Studentenmaterial bekommen! Langt es nicht für die Universität, so langt es noch für die Auslandshochschule! Also wird man das Mittelgut dorthin abschieben! Es bleibt eben die Tatsache bestehen: man kann als Studierender, wenn man nicht an einer Universität studiert, nur über den Universitätsstudenten stehen oder unter ihnen. Daß die zukünftigen „Auslandshochschüler" unter den Studenten stehen werden, ist zu befürchten, und damit erhält das neue Institut von vornherein den Keim zu einer unheilbaren Krankheit. Es ist zur Inferiorität verurteilt. W a s von den Studenten gilt, gilt genau so von den Professoren. Bedeutende Gehälter und andere Vorteile, die man ihnen zusichert, würden nichts bessern. Die „Auslandshochschullehrer" würden, da sie hoffentlich niemals Oberkollegen der Universitätsprofessoren werden, sicher zu Unterkollegen werden — schon deshalb, weil sie sich selbst so vorkommen werden. Sie werden an die Universitäten streben! Gescheiterte Privatdozenten aber werden nach der Auslandshochschule ausblicken! 3. Eine besondere „Auslandshochschule" wird das Studium der Studierenden, die im Ausland tätig sein wollen, in der Regel verlängern und verteuern oder — wenn dieser Erfolg nicht eintritt, weil diese Studierenden nur die Auslandshochschule besucht haben — der Durchschnitt derer, die ins Ausland gehen, wird minderwertig sein gegenüber dem Durchschnitt derer, die im Inland bleiben; denn keine Spezialhochschule vermag das Maß von zu erwerbenden grundlegenden Kenntnissen und den wissenschaftlichen
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Geist zu ersetzen, welchen die Universitas litterarum bietet. Selbst in dem Falle, daß man f ü r gewisse Klassen solcher, die im Ausland tätig sein wollen, eine geringere Vorbildung verlangt, wird die Berührung mit der Universität ein großer Vorteil sein. Muß man aber grundsätzlich dafür Sorge tragen, daß die, welche sich mit voller Gymnasialbildung dem Auslandsdienst widmen wollen, keine Zeit verlieren, so ist eine spezielle „Auslandshochschule", die neben oder nach der Universitätszeit besucht werden soll, keine geeignete Einrichtung; denn sie wird — das kann man mit Sicherheit sagen — zu überflüssigen Kumulationen in den Anforderungen führen — eine Gefahr, der unsere bureaukratisch-pedan tische Art stets ausgesetzt ist. Die Abhilfe hier liegt in dem Vorschlage, den ich unten skizzieren werde. 4. Eine „Auslandshochschule" würde zweifelsohne zu einer „Reichshochschule" werden. Das ist nicht nur vom preußischen Standpunkt aus, der hier zurückzutreten bat, nicht wünschenswert, sondern auch die Sache selbst wird unter dieser Voraussetzung nicht recht gedeihen können. Der entscheidende Grund liegt darin, daß das Reich nicht über die Kräfte verfügt, mit denen solch eine Hochschule zu besetzen ist; nur die Einzelstaaten besitzen sie. Das Reich verfügt aber auch nicht über die Erfahrungen und über die Männer, die solch eine Hochschule zu leiten vermögen ; denn hier kommt es nicht auf ein oder zwei treffliche Räte an, sondern auf einen ganzen Stab und auf eine lange Erfahrung und Tradition. Eine Mitwirkung des Reichs ist gewiß nicht ausgeschlossen, ja erwünscht und erstrebenswert. Aber es ist zu befürchten, daß das Reich sich mit solcher Mitwirkung nicht begnügen kann und wird, wenn der neue Typus „Auslandshochschule" geschaffen wird. Der heutige politische Zustand des Orientalischen Seminars wird also wahrscheinlich nicht festgestellt werden können, wenn es in eine Auslandshochschule verwandelt wird. Dafür wird schon der Reichstag sorgen! Kann man aber eine Auslandshochschule nur als Reichshochschule bekommen, so muß man sich aufs ernstlichste fragen, ob sie als solche wünschenswert ist;
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auch wenn es feststünde, daß sie an sich eine richtig gedachte Schöpfung wäre; denn das Preußische Kultusministerium kann m. E. hier allein die maßgebende und wünschenswerte leitende Stelle sein. Das Reich vermag nur eine erwünschte Mitwirkung zu leisten. II. Widerlegung der Auskunft, die gesteigerten Aufgaben des Orientalischen Seminars auf verschiedene Lehramtalten zu verteilen. Ich kann mich hier kurz fassen: man könnte wohl einen Augenblick daran denken, die gesteigerten Aufgaben des Orientalischen Seminars zu verteilen: die Handelshochschulen, das Kolonialinstitut in Hamburg, niedere Kolonialschulen könnten gewisse Teile der Aufgabe übernehmen, und dazu könnten an den verschiedenen Universitäten Völker- und staatswissenschaftliche, weltwirtschaftliche usw. Vorlesungen und Kurse verstärkt bzw. neu eingerichtet werden. Allein das hieße, den großen Gedanken, dem das Orientalische Seminar dient, unwirksam machen oder doch lähmen, zumal bei der Eigenart unseres Volkes, das erst lernen muß, seine besten Söhne im Dienst des Vaterlandes ins Ausland zu schicken, und das noch immer einen Staatsbeamtenposten im Inland für das Α und Ο aller Ziele hält. Mit Frakturbuchstaben muß der Nation vorgestellt werden, daß sie in dem neuen Zeitalter nur zu gedeihen vermag, wenn sie im Auslande noch ganz anders arbeitet als bisher und sich nicht von Amerikanern, Engländern und Franzosen Brot und Einfluß wegnehmen läßt. Bestehen bleiben muß also in starker einheitlicher Ausprägung die Aufgabe, welche das Orientalische Seminar vertritt, unbeschadet dessen, daß auch Handelshochschulen und andere Anstalten sich den Auslandsaufgaben hingebender widmen mögen und sollen. Die Verteilung der Aufgaben des Orientalischen Seminars auf verschiedene Lehranstalten würde aber nicht nur die Werbekraft des Gedankens herabsetzen, sondern würde auch die Aufgabe selbst herabstimmen; denn die Besten für diese Sache können nur gewonnen werden, wenn ihre Ausbildung die bestmögliche und eine einheitliche ist. Eine
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solche Ausbildung kann aber nur eine einheitliche und hohe Lehranstalt leisten. III. Was hat mit dem Orientalischen Seminar zu geschehen? Die Einschmelzung in die Universität Berlin. Wenn das Orientalische Seminar nicht in eine selbständige „Auslandshochschule" umgewandelt werden darf, wenn ferner seine gesteigerten Aufgaben nicht an verschiedene Lehranstalten verteilt werden können, wenn es endlich in seiner gegenwärtigen Gestalt nach dem Urteil der Sachverständigen unzureichend ist — was hat zu geschehen? Nur ein einziger Weg bleibt übrig: es muß mit der Universität verschmolzen werden. Quartum non datur! Aber ist dieser Weg gangbar? Ich bin der sicheren Überzeugung, daß er es ist und daß er daher eingeschlagen werden muß — aber allerdings nötigt er die Universität, speziell die philosophische Fakultät, zu einschneidenden Maßregeln. Sie werden anfangs als Opfer empfunden werden, auch dort, wo man es nicht mit der bloßen „Neophobie" zu tun hat — sie legen auch wirkliche Opfer auf; aber ich zweifle nicht,daß diese gebracht werden müssen und daß sie der Universität und Fakultät selbst schließlich zur besten Förderung und zum Segen gereichen werden. Die philosophische Fakultät der Universität Berlin muß die gesteigerten Aufgaben des Orientalischen Seminars übernehmen, muß also neben ihren bisherigen Aufgaben die „Auslandshochschule" sich einverleiben. Daß nur Berlin in Frage kommt und keine andere Universität, scheint mir einer längeren Ausführung nicht zu bedürfen. Nur in Berlin sind alle die zahlreichen Hilfsmittel vorhanden — ich erinnere nur an die Königliche Bibliothek mit ihren einzigartigen Schätzen und an das Völkermuseum mit seinen unvergleichlichen Sammlungen — welche gerade die „Auslandshochschule" braucht, und nur In Berlin findet der Austausch γοη Wissenschaft, Technik, Handel, Volkswirtschaft und Kolonialwissenschaft im großen Stile statt, der den notwendigen Hintergrund und den fruchtbaren Boden für die Aufgaben der „Auslandshochschule"
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bildet. An anderen Universitäten müßte man erst künstlich und mit Aufwendung großer Mittel mühsam zu schaffen versuchen, was in Berlin einfach gegeben ist, und würde es doch nicht erreichen. Ich gedenke dabei noch der zahlreichen Kolonien von Ausländern und ihrer Vereine in Berlin, die f ü r die Studierenden der „Auslandshochschule" sehr wichtig werden können. Auch ist der Genius Berlins und der Berliner Universität ein Geist rastlosen Fleißes und fortschreitender Bewegung, dazu ein Geist großzügiger Auffassung. Diesen Geist soll der Studierende, der sich zum Dienst im Auslande vorbereitet, atmen! Aber verträgt es die Universität Berlin und speziell die philosophische Fakultät, mit einer so großen neuen Aufgabe belastet zu werden? Wird sie nicht genötigt sein, in ihren Organismus umgestaltend einzugreifen und bewährte Einrichtungen zu ändern? In der Tat — ohne gewisse einschneidende Änderungen kann die philosophische Fakultät die neue Aufgabe m. E. nicht auf sich nehmen; davon werde ich unten handeln. Aber, wie groß oder wie klein die Änderungen sein mögen: aus prinzipiellen Gründen scheint mir die Aufnahme der Aufgabe eine Notwendigkeit. Es war schon ein schwerer Fehler, daß die technischen Hochschulen nicht in den Organismus der Universitäten aufgenommen worden sind. Die Universitäten haben sich damit einen sehr wichtigen Teil der höheren wissenschaftlichen Forschung und des Unterrichts entgehen. lassen; sie haben dadurch ihre universale und führende Stellung beeinträchtigt und sich sozusagen ihr „Monopol" in bedenklicher Weise verkürzen lassen. Sofern dieses trotz der Schöpfung der technischen Hochschulen doch noch in gewisser Weise besteht, besteht es, weil die technischen Hochschulen die Stellung von Hochschulen, die der Universität ganz ebenbürtig sind, in der öffentlichen Schätzung trotz ihrer ausgezeichneten Leistungen noch nicht vollkommen haben erlangen können. Die Stellung, die sie einnehmen, ist f ü r sie noch nicht ganz befriedigend, und daß die zukünftigen Ingenieure, Architekten, Maschinen-
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konstrukteure, Chemiker usw. nicht in der Luft der Universitas litterarum geatmet haben, ist in der Tat sowohl vom Standpunkt dieser Berufsklasse selbst als auch vom Standpunkt des Staats- und Volksinteresses zu bedauern. Ich glaube sagen zu dürfen, daß der ganze ausgezeichnete, hochverdiente und den andern Studierten ebenbürtige Stand, sowohl in der Schätzung der Öffentlichkeit als auch in sich selber, noch wertvoller sein würde, wenn er durch die Universität hindurchgegangen wäre. Umgekehrt aber haben die Universitäten zu ihrem Nachteil eine bedeutende Berührungsfläche mit dem lebendig flutenden Leben und seinen wissenschaftlichen Nötigungen dadurch verloren, daß sie die Aufgaben der technischen Hochschule nicht übernommen haben. Diese Berührungsfläche wäre ihnen sehr heilsam; denn die Universitäten stehen immer in Gefahr, hinter den wissenschaftlich -praktischen Aufgaben der fortschreitenden Zeit, d. h. hinter den pädagogischen und aktuellen Forderungen der Gegenwart, zurückzubleiben und sich in sich selbst zu versteifen. Endlich hat auch die Schöpfung eigener technischer Hochschulen Kosten verursacht und verursacht sie noch immer, die erheblich geringere sein könnten, wenn sie eine Abteilung der Universitäten bildeten. Aber nicht nur durch die Errichtung der technischen Hochschulen sind die Universitäten in ihrer Stellung beeinträchtigt worden: auch alle jene modernen Schöpfungen der medizinischen, staats- und volkswirtschaftlichen usw. Fortbildungsakademien, sofern sie unabhängig von den Universitäten errichtet werden bzw. errichtet werden sollen, bedrohen die Stellung der Universitäten. Der Prozeß, der auf einigen Linien damit beginnt, dem Lehrbetrieb an den Universitäten höhere Lehrkurse unabhängig von den Universitäten überzuordnen, wird nicht aufzuhalten sein, bis den Universitäten nichts anderes nachbleibt als die allgemeine einleitende Vorbereitung für die höheren Berufs- und Fachausbildungen, die dann in besonderen Anstalten und Kursen dargeboten wird. Schon handelt es sich hier für die Universitäten nicht mehr um den Satz: „Principiis obsta" — denn die principia sind
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schon da! —, sondern um den anderen: „Erobere Verlorenes zurück!" Die Universität muß jede wissenschaftliche Fachausbildung, und zwar von Anfang bis zur letzten Höhe, leiten, sonst wird sie eine wissenschaftliche Anstalt zweiter Ordnung.
Die Frage der „Auslandshochschule" bedeutet somit wiederum eine kritische Stunde in der Entwicklungsgeschichte der Universität. Weist sie diese Aufgabe zurück oder wird sie ihr nicht zugebilligt, so verliert sie wieder ein Stück ihres Gebietes. Videant consules, ne quid detriment! respublica capiat! Was noch heute Kurzsichtigen als keine Einbuße erscheinen mag, weil die neue Anstalt zunächst nur eine Zwitterstellung erhalten wird und an das Ansehen der Universität nicht heranreicht, das kann sich schon morgen auch dem blöden Auge als schwerer Verlust entschleiern. Liegt folgendes Zukunftsbild für die wissenschaftliche Ausbildung in allen Disziplinen so fern: 9 Jahre Gymnasium, 3 bis 4 Jahre Universität, 2 bis 3 Jahre Spezialausbildung auf besonderen Fachhochschulen bzw. in besonderen Fachkursen, die mit der Universität keinen Zusammenhang haben? Viele werden heute noch dieses Zukunftsbild als ein Phantasieprodukt unnützer Sorge bezeichnen und verlachen; noch sind wir ja auch, Gott sei Dank, nicht so weit; aber daß es droht, wenn der Entwicklung nicht Einhalt geboten wird, ist mir nicht fraglich. Also muß die Universität bzw. die philosophische Fakultät der Berliner Hochschule die Aufgaben der Auslandshochschule übernehmen. Das kann sie, aber in ihrer gegenwärtigen Organisation kann sie es schwerlich. Es seien hier ein paar Worte über die Berliner philosophische Fakultät gestattet: Diese Fakultät nimmt mit ihren 53 (54) ordentlichen Lehrstühlen und ca. 60 außerordentlichen (inkl. der Honorarprofessuren) nicht nur an der Berliner Universität — die übrigen Fakultäten haben zusammen ca. 38 ordentliche Lehrstühle —, sondern auch im deutschen Universitätswesen überhaupt eine ganz eigentümliche Stellung ein. Durch ihre Größe, ihre Geschichte und den Zusammenschluß, der in wöchentlichen Sitzungen zum
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Ausdruck kommt, stellt sie eine Repräsentanz der Wissenschaft dar, welche der in der Akademie der Wissenschaften gegebenen Repräsentanz zur Seite tritt. Da ferner aber 38 von ihnen ordentliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sind und etwa 2 Drittel der Zahl der Akademiker ausmachen, so hat sie ohne weiteres auch in der Akademie die große Majorität. Man kann also sagen: Die Autorität der Akademie wird verstärkt durch die Autorität der philosophischen Fakultät der Berliner Universität, und hinter der Autorität dieser Fakultät steht auch die Autorität der Akademie. Empfindliche Nachteile haben sich aus diesem Stande der Dinge niemals ergeben; hin und her haben sich wohl die Mitglieder anderer Fakultäten oder diese selbst durch die übermächtige philosophische Fakultät bedrückt gefühlt; aber sie hat — das muß rühmend hervorgehoben werden — in Universitätsfragen stets eine weise Selbstbeschränkung geübt, den Rechten der anderen Fakultäten vollen Spielraum gelassen, auftauchende Klagen gegebenenfalls rasch beseitigt und ihre faktische Übermacht niemals ausgebeutet. Ja es gereicht den anderen Fakultäten zur Freude und Genugtuung, daß die Autorität der reinen Wissenschaft in der Berliner philosophischen Fakultät und durch sie so kraftvoll zum Ausdruck kommt. Allein es läßt sich m. E. nicht verkennen, daß diese nichtdifferenzierte, weitschichtige Fakultät kein zweckmäßiges Institut ist gegenüber den großen besonderen Lehraufgaben, die den Vertretern der zahlreichen Hauptfächer in ihr gestellt sind und von unserer fortschreitenden Zeit in steigendem Maße gefordert werden. In einer so umfangreichen und bunt zusammengesetzten Körperschaft lassen sich die Unterrichts- und Lehrfragen nicht leicht verhandeln. Diese werden aber immer wichtiger, da die Berufsausbildung im einzelnen viel genauer und gründlicher überlegt werden muß als früher. Will die philosophische Fakultät den Einfluß auf die Behandlung· dieser Fragen behalten bzw. stärker an sich ziehen — und sie muß das, falls sie sich nicht immer aufs neue durch Fachschulen überrascht sehen will —, so muß sie sich zu
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einer Teilung entschließen. Sie kann das um so leichter, als die höchst wertvolle und autoritative Repräsentanz der reinen Gesamtwissenschaft in den Händen der Akademie Hegt und die Fakultät dort stets die Oberhand haben wird. Eine Teilung der Fakultät ist nötig, und zwar reicht m. E. eine Teilung in eine größere geisteswissenschaftliche und eine kleinere naturwissenschaftliche Hälfte nicht aus, da die geisteswissenschaftliche als Gesamtheit noch immer kein praktisches Instrument sein würde, sondern es müssen drei Fakultäten geschaffen werden: eine naturwissenschaftliche, eine Fakultät f ü r klassische und altorientalische Philologie, Altertumskunde und Geschichte und eine Fakultät f ü r Kunde des Mittelalters und der Neuzeit (inkl. ihrer Sprachen). Eine solche Teilung wäre viel besser als die Teilung nach Sprachen und Geschichte, denn Geschichte und Sprachen lassen sich f ü r keine der Hauptperioden trennen. Jede große geisteswissenschaftliche Frage hat eine philologische, eine geschichtliche und philosophische Seite; also kann man die Geisteswissenschaften nicht in Philologie, Geschichte und Philosophie trennen. Jeder der drei Fakultäten wäre eine philosophische Professur beizugeben, deren Inhaber natürlich über alle Zweige der Philosophie nach seiner Auswahl lesen könnte, die nationalökonomischen Fächer aber wären zu verstärken und in die juristische Fakultät überzuführen, die als juristisch-staatswissenschaftliche Fakultät auszubauen wäre. Die Berliner Universität würde demgemäß sechs Fakultäten umfassen: 1. die theologische, 2. die juristisch-staatswissenschaftliche, 3. die medizinische, 4. die naturwissenschaftliche, 5. die Fakultät f ü r klassische und altorientalische Philologie, Altertumskunde und Geschichte, oder kurzweg: die Fakultät f ü r Altertumskunde, 6. die Fakultät f ü r Mittelalter und Neuzeit (und ihre Sprachen).
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Die 53 (54) Lehrstühle der gegenioärtigen philosophischen Fakultät würden sich bei dieser Ordnung der Dinge so verteilen, daß die nationalökonomischen Professuren in Wegfall kämen, die drei philosophischen auf die drei neuen Fakultäten verteilt würden 1 und die U. Fakultät die 19 naturwissenschaftlichen Lehrstühle (dazu ein Philosoph) umfassen würde, die 5. Fakultät etwa 12 Lehrstühle (dazu ein Philosoph) 2 und die 6. Fakultät etwa 15 (16) Lehrstühle (dazu ein Philosoph). 3 Hiermit wären witkungskräftige Fakultäten geschaffen, die die Fragen der Fach- und Berufsausbildung sachverständig in ihrer Mitte behandeln könnten und ebenso jede „Fortbildungsfrage", sowie die besonderen, in ihren Kreis einschlagenden Unterrichts- und Berufsprobleme. Wenn diese Ordnung der Dinge von der auf anderen Universitäten üblichen etwas abweicht — die Abweichung ist nicht groß und hat auch schon Analogien —, so hat man nicht zu vergessen, daß es dem weitausschauenden Blick Wilhelm von Humboldts von Anfang an klar war, daß die neue Universität zu Berlin nicht nur eine Universität wie andere sein könne und solle, sondern ein wissenschaftliches Zentralinstitut, das zum Teil nach eigenen organischen Gesetzen zu gestalten sei. Wenn die neue Schöpfung trotzdem zunächst wesentlich die alte Universitätsverfassung erhielt, so soll jenes Wort doch unvergessen sein! Nichts liegt aber hier ferner als der Gedanke, eine Art von „Überuniversität" in Berlin auszugestalten — es gibt nichts Höheres als der freie Betrieb der Wissenschaft, wie er an allen Universitäten blüht —, sondern es handelt sich darum, Aufgaben zu übernehmen, die nicht von allen Universitäten aufgenommen werden können, weil eine oder ein paar Stätten dem Bedürfnis genügen. 1 Eine dritte Professur für Geographie wäre zu schaffen, so daß jede der drei neuen Fakultäten eine solche erhielte. — 2 Nämlich die 6 für klassische Philologie, Geschichte und Kunstgeschichte und die Lehrstühle für Indisch, Sanskrit, Altorientalisch, Vergleichende Sprachforschung, Alte Geographie und Allgemeine Völkerkunde. — 3 Nämlich die 6 für Geschichte und die Lehrstühle für Germanisch, Englisch, Irisch, Französisch, Slawisch, Neuorientalisch, Chinesisch, Kunstgeschichte, Musik.
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Aber freilich mit einer bloßen Zerlegung der philosophischen Fakultät in drei Fakultäten ist es noch nicht getan; ja es könnten auf diese Weise leicht neue unliebsame Zäune aufgerichtet werden, die die Wissenschaft stören; denn auch Mommsens Wort soll unvergessen bleiben: „Unter den Fesseln, in denen unsere Universitäten liegen, sind die, in die sie sich selbst durch ihre Fakultäteneinteilung geschlagen haben, die 'drückendsten!" Daher wird hier eine neue Fakultätseinteilung nur empfohlen unter der Voraussetzung: die Fakultäten sollen in Zukunft viel elastischere Gebilde werden. Die oben angegebene Einteilung in sechs Fakultäten, die wie jede Einteilung ihre Mängel hat 1 , wird nur empfohlen unter Hinzufügung des weiteren Vorschlages, daß aus den verschiedenen neuen Fakultäten permanente Kommissionen zu verschiedenen großen Zwecken niedergesetzt werden. Die Einteilung in sechs Fakultäten soll nur für die formale Universitätsverwaltung und für die materialen obersten Zwecke gelten (die letzteren werden durch die Sechsteilung in der Tat am besten erfüllt). Daneben aber sollen für die anderen wichtigen Zwecke der Wissenschaft, des Unterrichts und der besonders kombinierten Fach- und Berufsausbildung1 1 Einer der empfindlichsten Mängel scheint der zu sein, daß die drei philosophischen Lehrstühle an die drei Fakultäten verteilt werden. Erwägt man aber, daß so jede dieser Fakultäten die Philosophie in ihrer Mitte haben wird, daß ferner die volle Lehr- und Lernfreiheit f ü r die Lehrer und Lernenden gegeben ist, so daß die Vorlesungen jedes philosophischen Lehrers allen Studierenden angeboten werden und daß sich endlich die drei Philosophen zu einer permanenten Kommission zusammenschließen können und sollen, zu welcher auch der Religionsphilosoph der theologischen Fakultät und der Rechtsphilosoph der juristischen Fakultät hinzugezogen wird — so wird man in der Neuordnung nicht eine Schwächung, sondern eine Verstärkung der Bedeutung der Philosophie f ü r die Universität anerkennen müssen. — Schwierigkeiten macht auch die Unterbringung des Lehrstuhls für vergleichende Sprachforschung. Man kann ihn in die 5· oder 6 . Fakultät setzen. Zweckmäßiger scheint mir das erstere zu sein. Ganz ohne Gewaltsamkeiten läßt sich keine Teilung vollziehen, und ein Rest von Willkür bleibt immer übrig. Weist man darauf hin, daß bei dieser Teilung die „Geschichte" auseinandergerissen wird, so ist zu erwidern, daß das tatsächlich schon der Fall ist, daß sich aber hoffentlich, später wie jetzt, Historiker finden werden, die, sei es vom Altertum aus Mittelalter und Neuzeit, sei es umgekehrt von der Neuzeit das Altertum in ihren Kreis ziehen werden.
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ständige Kommissionen fungieren, die aus Mitgliedern der verschiedenen Fakultäten zusammengesetzt sind. Tritt ein so organisiertes System ins Leben, so wird die Universität befähigt sein, allen Anforderungen und neuen Bedürfnissen, die das fortschreitende Leben in bezug auf Unterricht und differenzierte Berufsaufgaben stellt, zu entsprechen, und sie wird die Bildung besonderer Fachhochschulen neben den Universitäten verhindern können. Die Universität wird dann auch ohne Schwierigkeit den Gedanken der „Auslandshochschule" in sich aufzunehmen und trefflich zu verwirklichen vermögen. Die Mehrzahl der Lehrer f ü r diesen Zweck wird in der sechsten Fakultät, einige werden auch in der zweiten, dritten und vierten ihren regelmäßigen Sitz haben. Desgleichen werden die Lektorate hauptsächlich bei der sechsten Fakultät einzurichten sein. Dazu wird eine permanente Kommission unter einem besonderen, die Aufgabe der Auslandshochschule kennzeichnenden Titel niedergesetzt werden, die ihre eigenen Sitzungen hält und zu der Mitglieder aus den verschiedenen Fakultäten gehören. Ich setze voraus, daß die drei neuen Fakultäten die ihnen gestellten Aufgaben unter diesen Umständen mit gesteigerter Geschlossenheit, Kraft und Autorität vollziehen und auch die permanenten gemischten Kommissionen, insonderheit die f ü r den Dienst im Ausland, blühen und gedeihen werden. 1 Viele Detailfragen tauchen nun natürlich auf, aber sie zu erörtern ist noch nicht an der Zeit. Doch will ich ein paar herausheben: Daß f ü r einen Teil der wissenschaftlichen Darbietungen und f ü r besondere Berufsvorbereitungen eine gewisse Ein1 Man könnte einwenden, daß eine Teilung der philosophischen Fakultät eben dann nicht notwendig sei, wenn man in ihr permanente Kommissionen zu bestimmten wissenschaftlichen und Unterrichtszwecken einrichtet. Allein erstlich würde die philosophische Fakultät durch A u f n a h m e der Aufgaben der „Auslandshochschule" noch mindestens ein Dutzend Lehrstühle mehr erhalten und nun vollends ungefüge und inkommensurabel gegenüber den anderen Fakultäten werden, sodann verlangt m. E. a) die Naturwissenschaft, b) die Altertumskunde (inkl. der alten Sprachen) und c) Mittelalter und Neuzeit (nebst den dazu gehörigen Sprachen) eine so feste und geschlossene Vertretung, wie sie nur eine Fakultät bietet.
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schränkung der akademischen Lernfreiheit anzuordnen und ein bestimmter Lehrgang einzuhalten ist, ist selbstverständlich und geschieht schon jetzt, ohne den Charakter der Universitäten als freier Lehranstalten zu beeinträchtigen. Nicht nur in der medizinischen Fakultät, sondern auch in den anderen Fakultäten existieren f ü r den Besuch von Kursen und Seminaren bestimmte strengere Regeln, und sie gewinnen immer größere Bedeutung. Studenten werden deshalb nicht zu Studenten zweiter Ordnung, weil ihre Freiheit auf gewissen Linien durch notwendige und zweckmäßige Anordnungen zu einer „vernünftigen" Freiheit gemacht wird. Das wird auch von den Studierenden der „Auslandshochschule" innerhalb der Universität gelten. Entschließt sich einer während oder schon im Anfang seiner Studienzeit, sich dem Dienst im Ausland zu widmen, so wird er eine Anweisung empfangen, die ihn nötigt, seine Studienfreiheit im Interesse eines geregelten Studienganges zu beschränken und auf eine bestimmte Bahn unter bestimmten Regeln zu leiten. Das hat keine Schwierigkeit, und auch das hat keine Schwierigkeit, daß in den Auslandsdienst auch solche werden einzutreten wünschen, die nicht das Abiturientenzeugnis, sondern nur einen geringeren Grad der Vorbildung (Primareife) besitzen. Man wird ihnen die kleine Matrikel geben und die Studienvorschriften f ü r sie besonders regeln. Endlich bietet auch der Umstand keine Schwierigkeit, daß zahlreiche Studierende f ü r ihre Berufsausbildung Vorlesungen in verschiedenen Fakultäten werden hören müssen. Das ist schon jetzt der Fall, und auch die Inskription in zwei Fakultäten hat nichts gegen sich. Die Vorschläge, die ich Ew. Exzellenz hiermit unterbreite, habe ich bereits seit Jahren erwogen. Nicht erst der Plan einer „Auslandshochschule" hat sie gezeitigt, sondern, um die Zukunft unserer Universitäten Sorge tragend, haben sich meine Gedanken schon längst in dieser Richtung bewegt. Jener Plan hat mir nur einen willkommenen Anstoß gegeben, die Gedanken zu formulieren. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich die Imponderabilien nicht voll zu übersehen und zu würdigen vermag, die auch
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hier, wie überall, sorgfältige Beachtung verlangen. Nur der Eingeweihte ist imstande, ihr ganzes Gewicht zu ermessen, nur er vermag ein Votum abzugeben, das über ein „votum deliberativum" hinausführt. Ferner weiß ich als Historiker, daß nichts schwerer ist, als eine alte Verfassung zu ändern, weil man sich an die Übelstände bzw. Mängel des Alten gewöhnt hat, dagegen am Neuen zunächst nur die Gefahren und Schwächen sieht und empfindet. Aber andererseits bin ich fest davon überzeugt, daß unsere Universitäten mit ihren überkommenen Einrichtungen, Ordnungen und Grenzen schon seit Jahren in einer latenten Krisis stehen, daß sie die volle Schätzung — leider nicht ohne ihre Schuld, denn sie sind zu stabil geblieben — nicht mehr bei der Nation besitzen, die sie früher hatten, und daß ihre universale und führende Stellung und Bedeutung schwer gefährdet ist. Ihr Organismus muß vielseitiger und elastischer werden, damit er fähig sei, jedem großen neuen wissenschaftlichen Berufsbedürfnis zu entsprechen, mag es sich nun um Vertiefung und Fortbildung, mag es sich um neue Aufgaben handeln. Der Unterrichtscharakter, je nach der Eigenart jedes Berufskreises, muß scharf hervortreten, und die pädagogischen Aufgaben hier müssen direkt von den Fakultäten bzw. permanenten Kommissionen ins Auge gefaßt und geregelt werden, also Gegenstand ihrer höchsten Sorge sein. Fachhochschulen, ständige höhere Fortbildungskurse außerhalb ihres Rahmens und dergleichen dürfen die Universitäten dann nicht dulden; denn sie können und sollen sich innerlich und äußerlich so ausbilden, daß sie — voran die Berliner Universität — allen diesen Bedürfnissen wirksam entgegenzukommen vermögen. Tun sie das nicht, so werden sie sich immer mehr eingeschränkt sehen von gefährlichen Rivalen aller Art, und sie werden es erleben, daß sie zu einer Zwischenstufe werden zwischen dem Gymnasium einerseits und den Fachhochschulen und höheren Fachkursen andererseits.
Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Jahre 1922. Die Arbeit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beruht auf dem Zusammenwirken des Bürgertums, der Wissenschaft und des Staates. Wenn in den acht schweren Jahren, die hinter uns liegen, einer dieser Faktoren versagt hätte, wäre die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zusammengebrochen und ihr Werk mit ihr. Aber sie haben alle standgehalten, ihre Anstrengungen und Opfer verdoppelt und das gegenseitige Vertrauen sich bewahrt. So ist die Gesellschaft nicht nur am Leben geblieben, sondern sie hat auch Jahr um Jahr einen größeren Aufschwung genommen, immer weitere Kreise von Interessenten und Freunden sich gewonnen, und die Zahl ihrer Institute fort und fort vermehrt. Erst wütete der Krieg, dann noch schlimmer der Friede; aber dieses große Werk hat sich dennoch behauptet! Daß die Gesellschaft ein wachsendes Vertrauen genießt, verdankt sie in erster Linie ihrem siegreichen Grundgedanken. Vor mehr als 200 Jahren wollte Leibniz in Berlin und anderen Hauptstädten Deutschlands Gesellschaften schaffen, die das in sich vereinigen sollten, was heute die Akademien der Wissenschaften und die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft getrennt leisten; aber es gelang ihm nur eine Akademie der Wissenschaften zu begründen. 100 Jahre später reorganisierte W.v. Humboldt diese Akademie und nahm zugleich den Plan Leibnizens wieder auf, große Forschungsinstitute ins Leben zu rufen;
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aber die Durchführung gelang ihm nur in bescheidenstem Umfang. Wieder 100 Jahre später hat sich endlich dieser Plan verwirklicht, wenn auch nicht in der Akademie der Wissenschaften, so doch in freundschaftlicher Verbindung neben ihr. Und nach dem Vorbild der Kaiser-WilhelmGesellschaft ist nun in Europa und über Europa hinaus ihr Grundgedanke en marche! Dieser Grundgedanke liegt nicht nur in ihrer eigentümlichen Konstitution, sondern ebensosehr in der Aufgabe der Wissenschaft, wie sie sie faßt. Die Kaiser-WilhelmGesellschaft hat sich dieser Aufgabe bereits im Anfang ihres Daseins bemächtigt, aber sie ist ihr in ihrer Bedeutung und Größe erst im Laufe der Entwicklung, in der Zeit der Not, in vollem Umfang aufgegangen und zugleich ihr aufgenötigt worden. Um so klarer sieht sie sie jetzt, und um so sicherer hält sie sie fest. Mit den Akademien und Hochschulen ist sie der Überzeugung, daß alle Wissenschaft letztlich immer „reine" Wissenschaft ist, daß sie sich zunächst vom Leben entfernen muß und daß sie daher als reine Wissenschaft nur esoterisch sein kann. Aber es müssen die Männer der Wissenschaft entweder selbst auf einem Umwege zum Leben zurückkehren oder, wie Goethe sagt, „scharfsinnige, lebenslustige, technisch-geübte und gewandte Geister" erwecken, die „die Anwendung auf das zum Leben Notwendige machen.'" Scientia cum arte et vita conjugenda: das ist hier die oberste und letzte Aufgabe. Kein Schielen auf den augenblicklichen Nutzen, überhaupt keine „Tendenzen"! Aber wie es keine Profanierung der Wissenschaft ist, wenn sie sich ihre Aufgabe nicht nur von ihrer eigenen Empirie, sondern auch von der Empirie des werktätigen Lebens stellen läßt, so ist es auch keine Profanierung, wenn der Gelehrte seine Hand am Pulse des Lebens hält und ihn mit seiner Arbeit zu kräftigerem Schlagen bringt. Wahre Wissenschaft ist selbst auf ihren Höhepunkten immer ein Tun und Schaffen; wie sollte sie da gleichgültig bleiben können gegenüber der Welt des Lebens? Und wie sollte umgekehrt diese Welt auf irgendeiner Linie des schaffenden Lebens die Wissenschaft entbehren können?
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Aber, gemessen an diesem Begriff von der Aufgabe der Wissenschaft und ihrem Verhältnis zum Leben — wie tief stecken wir noch in den Anfängen und wie viel ist noch zu tun! Es dürfte keine Industrie und keine Technik in unserem Vaterlande mehr geben, die sich nicht auf mehrere Forschungsinstitute stützte, und statt der paar hundert Mitglieder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft müßten es Tausende sein! Vor allem aber müßte in dieser unserer Zeit, in der uns nur schaffende Arbeit zu retten vermag, jedes Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, das sich von ihrem Grundgedanken überzeugt hat, auch für ihn werben. Schaffende Arbeit ist immer Qualitätsarbeit, und diese ist auf dem dürren Boden überkommener Empirie und Routine nicht zu leisten, hier muß die Wissenschaft eintreten. Aber nicht nur für solche Forschungsinstitute ist zu werben, die den Industrien nahe stehen, sondern mit demselben Eifer und Nachdruck auch für solche, die nicht direkt mit ihnen verbunden sind — nicht nur weil alle Wissenschaften als Erkenntnis des Wirklichen eine strenge Einheit bilden und daher unvermutet aus der abstraktesten ein helles Licht über das Ganze auszustrahlen vermag, sondern in noch höherem Grade deshalb, weil die Wissenschaften vom leiblichen, geistigen und seelischen Wesen des Menschen und von seiner Geschichte die Wissenschaften sind, die von keiner einzigen Disziplin entbehrt werden können; denn in jeder steckt ein subjektives und humanes Element, das genau erkannt werden muß. Es gibt keine rein-objektive Wissenschaft, sondern nur eine human-objektive! Und darüber hinaus — Wissenschaft und Leben bedürfen auf allen Stufen erzogener Menschen; ohne die Erkenntnisse aber und ohne die Güter, welche die Kulturwissenschaften vermitteln, gibt es solche nicht. Daher behält die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wenn sie auch in erster Linie auf die Schöpfung naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute bedacht ist, auch die Geisteswissenschaften im Auge, und ihre Fortschritte auf diesem Gebiete werden lediglich von der Höhe der gewährten Mittel abhängen. Auch in der schwersten Not priesen die Alten den
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„Amor fati". Amor fati — das heißt nichts anderes als sein Schicksal hinnehmen, um es umzuschaffen und einen Chor von Kräften und Tugenden aus ihm zu erwecken. In dieser Gesinnung gilt es der Zukunft entgegenzugehen. Die Gesellschaft, die jetzt nahezu 300 Mitglieder zählt, wird durch den Senat (30 Mitglieder) geleitet, nämlich von den Herrn Eduard Arnhold, Geh. Kommerzienrat, M. d. RWR., Berlin; Dr. v. Bach, Wirkl. Geh. Rat, Prof., Stuttgart; Dr. Bosch, Stuttgart; Dr.Darmstaedter,Vvoi., Berlin; Dr. David, Reichsminister a. D., M. d. R., Darmstadt; Dr. Dr. Dulsberg, Geh. Reg.-Rat, Prof., M. d. RWR., Leverkusen b. Köln a. Rh.; Dr. υ. Gwinner, Berlin; Dr. Haber, Geh. Reg.-Rat, Prof., Berlin-Dahlem; D. Dr. v. Harnack, Wirkl. Geh. Rat, Prof., Berlin-Grunewald; Dr. Eilger, Geh. Bergrat, M. d. RWR., Berlin; Dr. Konen, Prof., Bonn a. Rh.; Leopold Koppel, Geh. Kommerzienrat, Berlin; Dr. Krupp von Bohlen und Halbach, außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister, M. d. StR., Essen-Hügel; Franz v. Mendelssohn, M. d. RWR., Berlin; Dr.-Ing. Alfred Merton, Frankfurt a. M.; Dr.-Ing. v.Miller, Wirkl. Geh. Rat, München; Dr. v. Möller, Staatsminister, Berlin; Dr. IS ernst, Geh. Reg.-Rat, Prof., Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Berlin; Dr. Planck, Geh. Reg.-Rat, Prof., Berlin; Dr.vom Rath, Frankfurt a. M.; Saemisch, Staatsminister a. D., Berlin; Dr. Salomonsohn, M. d. RWR., Berlin; Dr. Schmidt-Ott, Staatsminister, Berlin-Steglitz; Dr. Schottländer, Breslau; Dr. v. Schwabach, Berlin; Siegmund Seligmann, Geh. Kommerzienrat, Hannover; Dr.-Ing. Springorum, Kommerzienrat, Dortmund; Dr. Ernst Trendelenburg, Ministerialdirektor, Berlin-Nikolassee; D. Dr. v. Trott zu Solz, Staatsminister, M. d. Reichsrats, Imshausen b. Bebra; Dr.Ing. Vogler, M. d. R. u. RWR., Dortmund. Den Verwaltungsausschuß bilden die Herren von Harnack, Krupp von Bohlen und Schmidt-Ott (Präsidium), von Mendelssohn und Duisberg (Schatzmeister), Arnhold und vom Rath (Schriftführer). Geschäftsführendes Mitglied ist der Direktor Dr. Glum.
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Zur Zeit unterhält die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 19 Institute, von denen einige mehrere nahezu selbständige Institute umfassen. Ein Drittel dieser Institute ist vor dem Kriege entstanden, ein Drittel während des Kriegs und das letzte Drittel in der Nachkriegszeit. Ausgangspunkt der Schöpfungen ist das große Chemische Institut gewesen. Der zentralen Erforschung des Lebens ist das KaiscrWilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem gewidmet, das die Förderung der allgemeinen experimentellen Biologie, insbesondere der Vererbungslehre, der Entwicklungsmechanik, der Protozoenkunde und verwandter Disziplinen sich als Aufgabe gestellt hat und auch eine physiologisch - chemische Abteilung besitzt. Hier wirken Correns, Goldschmidt, Hartmann und Warburg. Dem Institut ist ferner eine Forschungsstelle für Bienenbiologie und Bienenzüchtung in Berlin-Dahlem angegliedert, in der Hartmann und Armbruster theoretische und praktische Probleme des Bienenlebens untersuchen. Dem biologischen Institut benachbart, ebenfalls in Berlin-Dahlem, liegt das Kaiser-Wilhelm-/ns£i7uf für experimentelle Therapie, das der Erforschung und Bekämpfung der Infektionskrankheiten gewidmet ist. Hier arbeiten v. Wassermann, Neuberg und Ficker. v. Wassermann ist vor allem der Ausbau der Serodiagnostik der Syphilis gelungen, Untersuchungen, die in letzter Zeit die Grundlage zu der Aufklärung dieser Reaktion gegeben haben. In enger Verbindung mit diesem Institut steht das Kaiser-Wilhelm-/ns£ifu£ für Biochemie in Berlin-Dahlem, unter Leitung von Neuberg, das besonders über die Aufklärung der wichtigsten Gährungserscheinungen und über die Synthese und den Abbau biochemisch wichtiger Substanzen arbeitet. Weiter reiht sich an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin, das in erster Linie der Physiologie, Pathologie und Hygiene der körperlichen und geistigen Arbeit gewidmet ist. Hier arbeiten vorwiegend Rubner und Atzler, insbesondere über die Frage der Er-
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müdung, der Zweckmäßigkeit des Arbeitsprozesses, der Arbeitskleidung und der Ernährung. Die Gründung eines großen allgemeinen physiologischen Forschungsinstituts, das geplant war und an dessen Spitze Abderhalden, Halle, treten sollte, hat der Krieg verhindert. Indes ist es bisher möglich gewesen, Abderhalden im physiologischen Universitätsinstitut in Halle eine breitere Forschungstätigkeit zu ermöglichen, als er mit den beschränkten Mitteln des Universitätsinstituts hätte entfalten können. Hier wird besonders über Nahrungsstoffe und ihre Wirkung auf die einzelnen Organe sowie auf die niederen Organismen und ferner auf dem Gebiete der Eiweißchemie gearbeitet. Einen anderen Teil ihrer Pläne auf dem Gebiete der Förderung der physiologischen Wissenschaften hat die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in dem Kaiser-Wilhelm-/nstitut für Hirnforschung in Berlin verwirklichen können. Hier arbeiten Oskar Vogt und CScile Vogt und Bielschowsky, die ersteren über den Ausbau der Lehre der Lokalisation des Gehirns, über Psychologie der Neurosen und über das Problem vererbbarer Eigenschaften, der letztere über die feinsten Veränderungen des Gehirns bei Krankheiten. Die Kenntnis der Hydrobiologie und Planktonkunde der Binnengewässer vermittelt die Hydrobiologische Anstalt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Plön. Hier hat August Thienemann unter Benutzung des reichen Materials der holsteinischen Seenplatte Untersuchungen über den Sauerstoffgehalt des Wassers und die Zusammensetzung der Fauna in norddeutschen Seen, über die Lebensgemeinschaften eines Sees und ihre Abhängigkeit von dem Lebensraum angestellt. Neuerdings widmet sich die Anstalt auch der Frage der Seendüngung, die f ü r die Vermehrung des Fischbestandes und damit für die Volksernährung von außerordentlicher Bedeutung ist. Der Erforschung der Flora und Fauna des Meeres war die Zoologische Station der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Rovigno auf Istrien gewidmet. Diese ist von der italienischen Regierung beschlagnahmt und neuerdings natio-
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nalisiert worden. Verhandlungen wegen Rückgabe bzw. Entschädigung haben bisher noch zu keinem Ziele geführt. Der Verlust von Rovigno ist f ü r Deutschland um so schmerzlicher, als zugleich auch die Wiederinbetriebsetzung der Zoologischen Station Neapel wegen Mangel an Mitteln fraglich geworden ist, so daß deutschen Gelehrten das Arbeiten mit der f ü r die biologische Forschung so wichtigen Flora und Fauna des Mittelmeeres sowohl an Ort und Stelle als auch an nach Deutschland zu versendendem lebenden Material verschlossen ist. Auf dem Gebiete der Chemie besteht das große KaiserWilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem, das von der Gesellschaft zusammen mit dem Verein Chemische Reichsanstalt, an dessen Stelle jetzt die Emil-Fischer-Gesellschaft getreten ist, gegründet worden ist. Dieses ist der chemischen Forschung in ihrem gesamten Umfange gewidmet. Hier arbeiten Beckmann, Stock und Heß, Hahn und Meitner über die verschiedensten chemischen Probleme. Daneben besteht das umfangreiche Kaiser-Wilhelm-Tnstitut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, in dem neben Haber seine Mitarbeiter Freundlich und Flury eine reiche Forschungstätigkeit entfalten. Für das Gebiet der Physik und der angewandten Mathematik hat die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kein eigenes Institutsgebäude errichtet, weil die physikalisch-technische Reichsanstalt dieses Bedürfnis wesentlich erfüllt. Aber unter Leitung von Einstein besteht das Kaiser-WilhelmInstitut für Physik in Berlin, dessen Aufgabe hauptsächlich darin besteht, Mittel zu verteilen, um verschiedenen Forschern Gelegenheit zu geben, Instrumente zur Förderung ihrer Untersuchungen anzuschaffen und große Arbeiten auszuführen. Ferner hat die Gesellschaft eine Aerodynamische Versuchsanstalt in Göttingen errichtet, in der auf dem Gebiete der angewandten Physik und Mathematik, insbesondere der Messung der Stärke der Windgeschwindigkeit und des
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Luftwiderstandes, unter der Leitung von Prandtl gearbeitet wird. Auf' dem Gebiete der angewandten Chemie, Physik und Biologie sind in den letzten Jahren eine Reihe von Instituten errichtet worden. Der Erforschung unseres wichtigsten Rohstoffes sind zwei Institute gewidmet, das große Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung in Mülheim (Ruhr) und das Schlesische Kohlenforschungsinstitut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, errichtet von der Fritz-vonFriedlaender-Fuld-Stiftung in Breslau. Das erstere unter der Leitung von Franz Fischer hat sich dem großen Problem Verflüssigung der Kohle zugewandt, Untersuchungen, die von besonderer Bedeutung f ü r die größtmögliche Ausnutzung dieses wichtigen Rohstoffes sind. Das Schlesische Kohlenforschungsinstitut, unter Leitung von Fritz Hof mann, ist erst in jüngster Zeit errichtet worden. Es hat bisher besonders über Urteerphenole und den Pyridinkohlenextrakt gearbeitet. Ferner besteht seit kurzem das mit großen Mitteln gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf, unter Leitung von Wüst, und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung in Neubabelsberg, dessen erster Direktor der bekannte Metallurge und Metallograph Heyn war. Dieses Institut ist zur Zeit ohne Direktor, da Heyn mitten aus erfolgreicher Arbeit heraus dem Institut durch den Tod entrissen worden ist. Zu diesen Instituten ist ein Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie in Berlin-Dahlem, unter Leitung von Herzog gekommen, das sich dem Problem der Festigkeit und des Aufbaues der Faserstoffe, insbesondere auch der Zellulose, zugewandt hat. Das jüngste Institut ist das Institut für Lederforschung in Dresden unter der Leitung von Max Bergmann, das sich einmal mit der Chemie der tierischen Haut und zum anderen mit der Chemie der verschiedenen Gerbstoffe befassen soll. Alle diese zuletzt erwähnten Institute werden fast ausschließlich γοη der ihnen nahestehenden Industrie unter-
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halten, in einzelnen Fällen, insbesondere in Mülheim, Breslau und Dresden wirken auch die Städte mit; außerdem hat der Direktor der Institute f ü r Eisenforschung, Metallforschung und Lederforschung eine in den Haushaltsplan des betreffenden Landes eingesetzte Stelle. Obgleich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hauptsächlich durch die Errichtung und Erhaltung der vorher erwähnten Institute und durch die Verteilung von Mitteln an einzelne Forscher vorwiegend die Unterstützung der Naturwissenschaften sich hat angelegen sein lassen, so werden doch auch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften einige Institute unterhalten, so das Kaiser-Wilhelm-Znsiiiui für Deutsche Geschichte in Berlin unter der Leitung von Kehr, welcher sich zur Zeit die Herausgabe der politischen Korrespondenz Kaiser Wilhelm I. und die Bearbeitung einer Geographia Germaniae Saera et Profana zur Aufgabe gestellt hat, und die Bibliotheca Hertziana in Rom, eine große kunstgeschichtliche Bibliothek und Photographiensammlung der Henriette Hertz-Stiftung, die unter der Leitung von Steinmann steht und eine Zentralstelle kunstgeschichtlicher Forschung in Rom f ü r alle Nationen bildet. Insgesamt sind an den Kaiser-Wilhelm-Instituten 371 Personen beschäftigt, und zwar 19 Direktoren, 44 Abteilungsleiter und wissenschaftliche Mitglieder, 74 Assistenten, 32 Doktoranden, 109 Angestellte, 93 Arbeiter und Lehrlinge. Der Geldbedarf der Institute betrug schon am 1. September 1922 rund 90 Millionen Mark, die zur Hälfte von der deutschen Industrie aufgebracht wurden. Seitdem hat sich der Bedarf infolge des katastrophalen Sturzes der Valuta vervierzigfacht. Aus den Zinsen ihres Vermögens und ihren jährlichen Einkünften vermag die Gesellschaft nur noch einen verschwindenden Teil der nötigen Summen aufzubringen; aber in Würdigung der Tatsache, daß neben den Universitäts-Lehrinstituten große Forschungsinstitute bestehen müssen, damit die Wissenschaft in unsrem Vaterland gedeihen kann, haben Preußen und Reich die fehlenden Summen bisher gedeckt, und die Industrie hat die
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Institute, die sie im Verein mit der Gesellschaft gegründet hat, niemals im Stich gelassen. Dafür sei auch an dieser Stelle der wärmste Dank ausgesprochen. Auf ihre einsichtsvollen und mächtigen Förderer gestützt, sieht die Gesellschaft mutig in die Zukunft und wird, wie bisher, aus dem Dunklen ins Helle schreiten.
Die Krisis der deutschen Wissenschaft. I. 2. Dezember
1922 (The Nation and the Athenaeum).
Vor zwei Jahren, am 20. November 1920, traten im großen Saale des deutschen Reichstages der Reichspräsident, der Reichskanzler, die leitenden Minister, zahlreiche Parlamentarier und führende Männer der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens zusammen, um die schwere Notlage der deutschen Wissenschaft zu besprechen und auf Mittel zur Abhilfe zu sinnen. Ein Wille und ein Geist belebten die illustre Versammlung, und die Frucht der Tagung war der Entschluß, die gefährdete Wissenschaft kräftig zu unterstützen. Dem Entschluß folgte die Tat: Die Parlamente im Bund mit der Regierung, die Industrien und die Banken brachten bedeutende Mittel auf, und eine große Organisation, die „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft" wurde mit ihrer Verwaltung betraut. Diese Organisation unter der Leitung des hochverdienten Staatsministers Dr. Schmidt-Ott arbeitete tatkräftig, umsichtig und sparsam, und so gelang es wirklich, zwanzig Monate hindurch die deutsche Wissenschaft mit ihren Bibliotheken, Instituten, Laboratorien und Seminaren und vor allem mit ihren Arbeitern nicht nur kümmerlich am Leben zu halten, sondern auch in den Stand zu setzen, die gewohnten wissenschaftlichen Arbeiten mit frischen Kräften fortzuführen und neu zu beleben. Zwar fehlte es noch an allen Ecken und Enden, aber die notwendigsten Bedürfnisse konnten befriedigt werden. Seit vier Monaten aber ist die Katastrophe wie f ü r die
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deutsche Wirtschaft, so auch f ü r die deutsche Wissenschaft hereingebrochen und vernichtet durch die Entwertung des deutschen Geldes auch alle anderen Werte, indem sie sie außer Kraft setzt. W i r glaubten schon vor zwei Jahren in höchster Not zu sein, aber nun erst erfahren wir es, was höchste Not und Zusammenbruch ist und bedeutet! Heute heißt der Ruf nicht: „Helft der deutschen Wissenschaft", sondern „Rettet die deutsche Wissenschaft". Dieser Ruf ergeht nicht nur an die Deutschen selbst — was vermögen die zu retten, die selbst in den Abgrund gestoßen sind! — er ergeht an sämtliche Kulturvölker und vor allem an die Nationen, die unseren Sturz verursacht haben. Ich will die Schuldfrage nicht aufrollen, aber mindestens ist soviel gewiß, daß hier eine Kollektivschuld der Nationen vorliegt, die nur durch gemeinsames Handeln wieder gutgemacht werden kann. Wie groß ist die Katastrophe der deutschen Wissenschaft und worin besteht sie? Was bedeutet sie für die Kultur und Zivilisation der Welt, und warum ist sie eine internationale Kalamität? Kann sie noch aufgehalten werden, und wie muß die Rettung beschaffen sein? Diese drei Fragen gilt es zu beantworten. 1. Die Katastrophe der deutschen Wissenschaft ist so groß, weil sie sich schlechthin auf alle Faktoren und Elemente bezieht, die der Wissenschaft notwendig sind. Erstlich, wir können keine ausländischen wissenschaftlichen Bücher mehr erwerben; denn wenn wir ein ausländisches wissenschaftliches Werk mittleren Umfangs oder den Jahrgang einer Fachzeitschrift von 30 Bogen mit 20 bis 40 000 Mark bezahlen sollen, hört f ü r uns jede Möglichkeit des Erwerbs auf. Wir sind also ausgeschlossen vom internationalen wissenschaftlichen Verkehr; wir erfahren nicht mehr was in Amerika, England, Frankreich usw. in den exakten Wissenschaften, in den Geisteswissenschaften, in der Rechtsprechung, Technik usw. gearbeitet wird. Was das bedeutet, braucht nicht ausgeführt zu werden! Die Wissenschaft ist nicht national, sondern international! Zweitens, wir können unsere eigenen wissenschaftlichen
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Arbeiten nicht mehr drucken lassen und unsere Fachzeitschriften nicht mehr fortführen. Papier, Druck und Arbeitslöhne sind so gestiegen, daß eine kleine Dissertation nicht mehr unter 80 bis 100000 Mark herzustellen ist. Kein Verleger kann das leisten und die Verfasser noch weniger. Nur „Textbücher", bequeme Auszüge aus den Wissenschaften können noch gedruckt werden, aber wie lange noch? Und was bedeuten Textbücher f ü r das Leben und den Fortschritt der Wissenschaft? Drittens, erprobte Gelehrte haben mit schweren Nahrungssorgen zu kämpfen und wissen oft nicht, wovon sie in der nächsten Woche leben sollen; sie suchen nach Nebenbeschäftigungen und Nebenverdienst; sie sind zu stolz um zu klagen, aber die bittere Not verzehrt ihre Kräfte. Viertens, der wissenschaftliche Nachwuchs nimmt rapid ab; zwar studieren noch verhältnismäßig viele, indem sie als „Werkstudenten" sich die Mittel zum Studium erwerben, aber nur ein Teil vermag das Studium zu Ende zu führen, und ein anderer Teil geht sofort in die praktischen Berufe über. Die besondere Kraft der deutschen Wissenschaft, über zahlreiche junge Gelehrte zu verfügen, und dadurch der wissenschaftlichen Arbeit über der Tiefe die notwendige Breite zu geben, ist im Erlöschen — sie erlischt nicht nur numerisch, sondern auch qualitativ, denn welcher Student vermag sich noch Bücher zu kaufen, und wie unvollkommen muß die Ausbildung werden, wenn in den Laboratorien um der Teuerung der Rohstoffe und Chemikalien willen, kaum mehr experimentiert werden kann und wenn in den Krankenhäusern die wissenschaftlichen Untersuchungen aufhören müssen! Die gedankenlose Rede, die Wissenschaft gedeihe am besten in der Dachkammer, ist längst veraltet. Der Wissenschaft ist vielmehr etwas von dem Reichtum und der Verschwendung der Natur nötig! Man muß oft hundert Experimente machen, um ein Resultat zu bekommen, man muß sie wiederholen können, und nur ein guter gedüngter Boden ist fruchtbar. Aber davon ist heute in Deutschland nicht die Rede; sondern es handelt sich um die Fortexistenz der Wissenschaft überhaupt. Die Nöte, die oben angeführt sind, bedeuten in ihrem Zu-
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sammenwirken nicht nur Siechtum und Schwäche f ü r die deutsche Wissenschaft, sondern den Tod. 2. Aber, mag das Ausland einwerfen, was geht uns die deutsche Wissenschaft an; wir haben unsere eigene, und was schadet es, wenn das wissenschaftliche Deutschland, das lange Zeit hindurch so rührig war, einmal ein Menschenalter oder ein halbes „pausiert", und selbst wenn die Wissenschaft dort ganz aufhören sollte, was bedeutet das f ü r die Welt? Haben nicht auch in früheren Zeilen die Völker, welche Träger der Wissenschaften waren, gewechselt? Wir anderen sind doch da, und andere Nationen werden die Arbeiten der Deutschen übernehmen! Nun, was zunächst das „Pausieren" betrifft, so gibt es kein „Pausieren" in der Wissenschaft, wie ihre Geschichte lehrt. Alle Wissenschaft lebt nur als fortschreitende, und wie daher der mangelnde Fortschritt hier bereits Rückschritt bedeutet, so bedeutet jedes Aufhören der Arbeit definitiven Tod. Es ist wie mit einem Hochofen; wenn er nicht fort und fort gespeist wird, erkaltet er, und schon eine kurze Pause bringt ihn zum Erlöschen. Die Hoffnung ist also völlig trügerisch, man könne nach einer Pause die deutsche Wissenschaft wieder beleben. Was aber die selbstbewußte Meinung betrifft, man könne die deutsche Wissenschaft entbehren, weil man selbst oder andere Völker sie übernehmen werden, so will ich diesen Einwurf nicht mit dem Hinweise auf das begegnen, was die Deutschen in der Wissenschaft geleistet haben, und zwar geleistet haben aus ihrer deutschen Eigenart heraus, sondern es gibt hier noch ein stärkeres Argument: Die moderne Wissenschaft ist genau so solidarisch toie die moderne Weltwirtschaft. Die Kulturvölker der Erde sind auf Gedeih und Verderb, auch in Hinsicht ihrer Kultur und Wissenschaft, mit einander verbunden. Gerade der große Krieg hat das gezeigt; wie er zum Weltkriege werden mußte, so mußte er auch f ü r alle ihre Wirtschaft, ihre Moral, ihr geistiges Leben und also auch ihre Wissenschaft aufs tiefste erschüttern. Wird nun in einem großen Brande das geistige Leben und die Wissenschaft definitiv zerstört, so werden alle anderen Nationen in Mitleiden-
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schaft gezogen werden. Sie werden in die schwersten Leiden gestürzt werden — nicht nur weil ein Glied des Körpers fehlt, und seine Kräfte fortan entbehrt werden müssen, sondern vor allem weil aus seiner Vernichtung sich Seuchen entwickeln werden, die sich ausbreiten und die Welt vergiften. Eine absterbende Kultur mit allen den Begleiterscheinungen von geistigen Fiebern, seelischen und leiblichen Krankheiten, Aufständen und Verwüstungen ist nicht nur eine Gefahr für ihre nächsten Nachbarn, sondern auch für die ganze Welt. Niemand wird dann mehr von wissenschaftlicher Verarmung, niemand mehr von mangelndem Fortschritt reden, weil die deutsche Wissenschaft fehlt, das werden längst vergessene Themata sein — ob man die Kultur, ob man die Zivilisation Europas noch vor einer allgemeinen Vergiftung oder vor einem allgemeinen Verfall zu retten vermag, das wird die einzige Frage werden. Wer die moderne Geschichte der Völker studiert hat, wer den unauflöslichen Zusammenhang von Kultur und Wissenschaft kennt, wer Verständnis gewonnen hat für das Labile, Reizbare und Gefährliche unserer gesamten öffentlichen Zustände, der wird in dieser Ausführung keinen übertriebenen Pessimismus sehen. 3. Kann der Untergang der deutschen Wissenschaft und Kultur noch aufgehalten werden und wie vermag man sie zu retten? Noch ist meines Erachtens Rettung möglich, aber es ist die allerletzte Stunde, und es bedarf eines großen Entschlusses. Kleine Mittel helfen nicht mehr. Zwar werden wir uns stets dankbar der Freunde im Ausland, namentlich auch in Amerika, erinnern, die unseren Bibliotheken geholfen, einzelne wissenschaftliche Institute unterstützt und zahlreiche Studenten durch Speisungen gesund erhalten haben; auch bitten wir, daß die Freunde diese ihre Tätigkeit fortsetzen und neue Freunde gewinnen mögen; allein das alles ist jetzt zu einem Tropfen geworden, der auf einen heißen Stein fällt. Eine durchgreifende Hilfe würde das auch nicht sein. Eine Hilfe würde es sein, wenn große Fonds im Ausland, die dort der Wissenschaft zur Verfügung stehen, der deutschen
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Wissenschaft zugewandt werden, weil sie ja mit der Wissenschaft jedes Landes solidarisch verbunden ist. Aber ob das zu erreichen ist, entzieht sich meiner Kenntnis, auch können wir nicht darum bitten. Nur eine wirklich erfolgreiche Hilfe zur Rettung der deutschen Wissenschaft gibt es — das ist die Abänderung des Versailler Vertrages. Er vernichtet die deutsche Wirtschaft und mit ihr die deutsche Wissenschaft und Kultur. Bleibt er noch länger in Kraft, so vermag Niemand sie zu retten; denn dieser furchtbare „Friede" spottet aller Hilfe von Innen und von Außen, und macht jede Anstrengung und jede Aktion fruchtlos und illusorisch. Wer daher den wirklichen Frieden liebt, wer die Wissenschaft und Kultur hochschätzt, — nicht rede ich nur von den Deutschen — wer Europa vor dem Untergang bewahren will, der muß seine Stimme erheben und die Revision des Friedens von Versailles verlangen. Einst ist uns ein Friede in 14 Punkten versprochen worden, und unter diesem Frieden, wenn er wirklich in Geltung gesetzt worden wäre, hätte die Arbeit der Wissenschaft — unter schweren Anstrengungen — langsam wieder aufblühen können. Um diesen Frieden ist Deutschland betrogen worden. Nicht 3er Krieg hat es vernichtet; dieser „Friede" vernichtet mit der deutschen Wirtschaft auch die deutsche Wissenschaft und bedroht die Wissenschaft aller Nationen. Dieser Artikel wurde sofort in der „Times" in einer ebenso gehässigen wie unwahrhaftigen Weise kurz beantwortet. Während ich von der Chemie und der chemischen Industrie in meinem Aufsatze überhaupt nicht gesprochen hatte, spiegelte die „Times" ihren Lesern vor, ich hätte mich besonders auf sie berufen, um die Not der deutschen Wissenschaft zu begründen, und verhöhnte mich deswegen. Sodann erdreistete sie sich, mich einen „bettelnden Humanisten" zu nennen um des von ihr klugerweise ihren Lesern im Wortlaut nicht mitgeteilten Satzes willen (Siehe oben): „Eine Hilfe würde es sein" usw., obgleich dieser Satz mit den Worten schließt: „Ob das zu erreichen ist, entzieht sich meiner Kenntnis, auch können wir nicht
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darum bitten". Da sie anderes nicht entgegnet hat, bewies sie, daß meine Ausführungen sie in die größte Verlegenheit gebracht hatten und sie sich nur durch eine böswillige Verschiebung des Tatbestandes zu retten wußte. Sie hat nichts widerlegt, was ich geschrieben habe, sondern nur was sie wünschte, daß ich es geschrieben hätte. Gleichzeitig mit der Entgegnung der „Times" erschien in der „Nation" (9. Dezember) eine ernsthafte und freundliche Entgegnung von Viscount Haidane; aber auch sie beschränkte sich wesentlich nur auf zwei Punkte. Ich konnte daher in meiner Erwiderung, die hier folgt, nur diese beiden Punkte beleuchten. II. Offener Brief
an Viscount
Haidane.
Dezember 1922 (Berliner
Tageblatt).
Hochzuverehrender Herr! Sie haben in der Zeitschrift „The Nation and the Athenaeum" (9. Dezember) freundlichst beachtet, was ich über die Not der deutschen Wissenschaft geschrieben habe, und aus Ihren Worten spricht nicht nur die Anerkennung dieser Wissenschaft — aufs neue sind wir Ihnen dafür dankbar —, sondern auch die herzliche Teilnahme an ihrem Geschick. Aber nach Ihrer Meinung befindet sich die deutsche Wissenschaft nicht in einer solch traurigen Lage, wie ich sie geschildert habe, und ihre Zukunft scheint Ihnen nicht düster und schwarz, geschweige katastrophal. Sie verweisen uns, an eine Ausführung Renans erinnernd, erstlich darauf, daß die Zeiten der äußeren Not, wie die Geschichte lehre, oft zu Zeiten der seelischen und geistigen Erhebung f ü r ein Volk geworden sind. Sodann machen sie uns darauf aufmerksam, daß unsere wissenschaftliche und literarische Produktion nicht nachgelassen hat, daß unsere Buchhandlungen von neuen Büchern und Broschüren gefüllt sind, und daß in keinem anderen Lande die großen Fragen der Wissenschaft und Literatur so lebhaft verhandelt werden, wie bei uns. Sie
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schließen Ihren Artikel mit den Worten: „Wenn Harnack von einer Paralyse der wissenschaftlichen Forschung in seinem Lande spricht und behauptet, daß sie mit dem Untergang bedroht sei, so ist, meine ich, seine Ansicht unnötig verzweifelnd. Die Leidenschaft, sich in dem Erkenntnisstreben von niemandem übertreffen zu lassen, ist heute noch in Deutschland so groß wie vor dem Kriege, und nicht weniger groß — so belehrt mich meine eigene Lektüre und der Verkehr mit deutschen Gelehrten — als in früheren Perioden. Von allen Gefahren, welche Deutschland bedrohen, ist die Gefahr, Deutschland könne diese Leidenschaft verlieren, die geringste. Mit allen Mitteln wollen wir es ermöglichen, daß Deutschland zu leben und sich wirtschaftlich zu entwickeln vermag. Aber laßt uns unsere Aufmerksamkeit der wirklichen Gefahr zuwenden, nicht aber einer zwar störenden, aber nicht bedrohlichen." Mit dem Trost, verehrter Herr, den Sie uns aus der Geschichte bringen, versuchen wir uns selbst zu trösten. Jüngst hat ein ausgezeichneter Mann, Johannes Müller, uns zugerufen: „Die wirtschaftliche Katastrophe, die jetzt über Deutschland hereinbricht, kann wohl nicht den deutschen Geist vernichten. Im Gegenteil: wir hoffen, daß sie ihn läutert und entflammt, vertieft und wesenhafter werden läßt. Zur Wiedergeburt geht es nur durch Tod. Aber sie kann seine Träger umbringen — es ist schon eine ganze Reihe von ihnen der Unterernährung erlegen — und ihre Wirksamkeit verhängnisvoll beeinträchtigen. Aber das braucht kein Schade zu sein. Wenn sie nicht mehr in die Weite gehen kann, geht sie vielleicht in die Tiefe. Was sie an Umfang verliert, gewinnt sie vielleicht an Kraft. Der Geist versiegt nicht wenn er verstummt, sondern aus notgedrungenem Schweigen bricht er schöpferisch und sieghaft hervor, wenn die innere Gewalt zur Äußerung drängt." Wir wollen uns das gerne gesagt sein lassen, aber über dieser Wiedergeburt steht doch ein sorgenvolles „Vielleicht". Haben die Zeiten äußerer Not einem Volk immer geistige und seelische Erhebung gebracht? Gibt es nicht
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eine Größe der Not, die jeden Aufschwung unmöglich macht? Müssen wir nicht von einer drohenden Katastrophe, auch für das geistige Leben, sprechen, wenn unsere Säuglinge sterben, unsere Kinder Hunger leiden und unsere Studenten ihre Wissenschaft nur noch „im Nebenamt" treiben können, weil sie nach Brot gehen müssen? Bei Hunderten, ja bei Tausenden von ihnen hat, ich versichere es, die Paralyse ihrer wissenschaftlichen Arbeit schon begonnen. Und selbst wenn nach zwei Menschenaltern ein Historiker schreiben wird: „Die Todesnot, welche der Friede von Versailles über Deutschland gebracht hat, hat doch auch zu einer Erhebung geführt", so darf er das Leichenfeld vergessen, welches den Hintergrund dieser Erhebung damals bildete. Wir aber wären heute pflichtvergessene Verräter unseres Vaterlandes, wenn wir nicht vor aller Welt laut bezeugen würden: Ihr tötet mit dem Leibe auch den Geist und die Seele Deutschlands, wenn ihr diesen „Frieden" weiter wüten laßt! Gewiß, der Mensch lebt nicht von Brot allein; aber noch hat niemand die Kunst erfunden, ohne Brot zu leben. Und wie kann auch die stärkste Leidenschaft für die Wissenschaft, die Sie uns so freundlich zubilligen, noch brennen, wenn alles Lebendige vom tödlichen Frost des Elends ergriffen wird! Sie verweisen sodann auf unsere noch immer so bedeutende wissenschaftliche und literarische Produktion und auf unsere gefüllten Buchhandlungen. Auch darin haben Sie zunächst recht; aber die Schlüsse, die Sie aus diesen Tatsachen ziehen, sind nicht richtig. Ich erlaube mir, Ihnen den wirklichen Tatbestand kurz darzulegen. Erstlich, unsere wissenschaftliche Produktion wird noch fortgesetzt, aber hier gilt wirklich das Sprichwort: „Wenn es geregnet hat, träufelt es von den Dächern". Aus besonderen Gründen kann diese oder jene große wissenschaftliche Arbeit noch gedruckt werden, hat dieser oder jener Verleger noch verhältnismäßig billiges Papier, wagt dieser oder jener Verleger auf einen bedeutenden Namen oder einen bedeutenden Inhalt hin ein umfangreicheres Werk noch zu drucken; aber eine sehr große Anzahl von wissenschaftlichen Zeitschriften ist schon eingegangen, die
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Doktorschriften der jungen Gelehrten — es handelt sich um Tausende — können nicht mehr gedruckt werden (sie lagern handschriftlich auf den Bibliotheken), und zahlreiche wissenschaftliche Werke können nur noch erscheinen, weil der Staat die Kosten trägt. Er trägt sie, weil er erkennt, daß die Wissenschaft für ihn selbst eine Lebensfrage bedeutet; aber er kann doch nur einem kleinen Teil der Not, die hier herrscht, abhelfen. Was aber die sogenannte kleine Literatur bei uns betrifft, so kommt das wenigste aus ihr für die Wissenschaft in Frage. Daß sie so zahlreich ist, rechne ich zur Pathologie unseres Zustandes. Sie bringt, von einigen besseren Stücken abgesehen, Projekte, Erregungsmittel und Narkotika, wie sie in Zeiten der Not begehrt werden; es wird aber nicht lange dauern, da wird auch sie zusammenschmelzen, denn es wird auch ihr Erwerb wegen der Höhe der Kosten unmöglich werden. Von den Luxusdruckwerken darf ich schweigen; mit wenigen Ausnahmen sind auch sie zur Pathologie unseres Körpers zu rechnen. Zweitens, noch sind unsere Buchläden gefüllt, aber heute fehlen die Käufer. Ein mir befreundeter Buchhändler sagte mir: Von sechs Besuchern, die in meinen Laden treten, kauft einer etwas, die anderen gehen fort, ohne zu kaufen, weil ihnen das Buch zu teuer ist. Das war noch vor drei Monaten anders. Die, welche bei uns heute kaufen, sind zum größten Teil Ausländer. Hier liegt es! Die deutschen Bücher, auch die wissenschaftlichen und gerade sie, werden heute für die Ausländer gedruckt. Wenn sie nicht wären, könnte nicht ein Viertel von ihnen erscheinen. Die Studenten jedenfalls können sie nicht erwerben. Es steht für alle deutschen Universitäten fest, daß die Mehrzahl der Studenten die Lehrbücher, die sie für ihre Wissenschaft notwendig brauchen, nicht mehr kaufen kann. Selbst griechische Neue Testamente und hebräische Bibeln müssen wir ihnen besorgen, weil sie für viele Theologen unerschwinglich sind. Und was werden Sie, hochverehrter Herr, als Kenner und Verehrer von Goethe und Schiller, dazu sagen, daß man in Deutschland keinen Goethe und keinen Schiller mehr kaufen kann, denn sie sind vergriffen und die we-*
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nigen Exemplare, die auf den Markt kommen, sind für den Mittelstand unbezahlbar. Die deutsche Jugend ohne Schiller und Goethe, ohne Kant und Herder und ohne Shakespeare! Billige Neudrucke sind unmöglich! Gern ließe ich mich von Ihnen überzeugen, daß ich die Not der Wissenschaft und die Not unserer studierenden Jugend übertrieben habe, aber die Tatsachen, die ich täglich vor Augen sehe, lassen es nicht zu, und vielleicht treten auch Sie nach erneuter Prüfung meiner Beurteilung bei. Auf alle Fälle aber begrüße ich dankbar den Appell, den Sie an Ihre Landsleute gerichtet haben: „Laßt uns unsere Aufmerksamkeit der wirklichen Gefahr in Deutschland zuwenden", denn ich bin gewiß, daß Sie, wenn Sie der wirklichen Gefahr abhelfen, damit auch der Not der Wissenschaft in Deutschland wirksam begegnen werden. In vorzüglicher Hochschätzung Ihr ergebenster Adolf v. Harnack. Anhang. Die Not der deutschen Wissenschaft ist nur ein Ausschnitt aus der Not der geistigen Arbeiter, und diese wiederum bezeichnet nichts anderes als die Katastrophe der Kultur und des geistigen Lebens — zunächst in Deutschland, dann aber auch in ganz Europa. Hier muß auf einen erweiterten Vortrag hingewiesen werden, den Alfred Weber, der Heidelberger Nationalökonom, jüngst veröffentlicht hat („Die Not der geistigen Arbeiter", München und Leipzig, 1923). Unwidersprechlich wird hier gezeigt, daß die Mittelschicht in Deutschland, in welchem das höhere Beamtentum und die Vertreter der geistigen Berufe (wissenschaftliche, künstlerische und journalistische inkl. der Ärzte, Rechtsanwälte und Pfarrer) stehen, bereits ruiniert ist, weil die kleinen festverzinslichen Kapitalien, die sie besaß, erschöpft oder nichts mehr wert sind, und weil ihr Einkommen kaum noch die Lebenshaltung eines gelernten Arbeiters zuläßt. Die Folge davon
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ist, daß sie das ökonomische Mindestmaß, welches die Freiheit geistiger Arbeit fordert, nicht mehr besitzt und daß sie ihren Kindern die Ausrüstung f ü r geistige Berufe nicht mehr zu geben vermag, sondern sie den wirtschaftlichen Berufen übergeben muß. Indem diese geistige Mittelschicht aber erlischt oder — was nicht weniger katastrophal ist — sich mehr und mehr in die volle Abhängigkeit von den Wirtschaftsmächten begeben muß, entsieht daraus der Tod der geistigen Kultur, sei es durch Erlöschen, sei es durch Versklavung. Die letztere scheint um so sicherer hereinbrechen zu müssen, als der Staat immer schwächer wird und der Sinn f ü r das Aequum et Justum noch schneller entflieht als das Bedürfnis nach einem höheren Leben. Gibt es noch einen Hoffnungsstrahl? Wir wissen, daß alle Hoffnung letztlich darauf beruht, daß die Menschen sich ändern, daß sie ihr Verhältnis zu Gott wieder finden und nach ihm ihr Leben einrichten. Werden wir das erleben oder müssen wir noch tiefer in den Abgrund hinunter und muß es uns gehen wie dem jüdischen Volke beim Zug durch die Wüste, in welcher eine ganze Generation unterging? Wer kann das sagen? Soziologisch aber kann man — doch ist die soziologische Umstellung ohne sittliche Erneuerung nicht möglich — nur auf eine Jugend hoffen, die es kraft ihrer Bedürfnislosigkeit und Gesundheit fertig bringt, mit werktätiger Arbeit in Berufen aller Art, freie und produktive geistige Arbeit ein Menschenalter hindurch zu verbinden. Ob sich neben ihr aus dem Boden heraus, den die neuen Reichen besitzen, ein Reis entwickeln wird, das der höheren Kultur Blüten und Früchte bringt wie einst die alte Mittelschicht, müssen wir abwarten.
Bericht über die Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte
(1916-1926). In der Festsitzung der Akademie vom 27. Januar 1916 habe ich über die akademische Kirchenväter-Ausgabe — sie ist im Jahre 1891 begonnen worden; der erste Band erschien 1896 — berichtet. Ein Jahrzehnt ist seitdem verflossen; ich setze heute diesen Bericht fort. Die griechische christliche Literatur stellt sich in drei aufeinanderfolgenden Schichten dar: die älteste umfaßt die im Neuen Testamente enthaltenen Schriften und die ihnen gleichzeitige oder auf dem Fuße folgende Literatur bis gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts. Die zweite, die apologetische und altkatholische, reicht von dieser Zeit bis auf Eusebius und Konstantin. Die dritte und mächtigste Schicht umfaßt die kirchliche Literatur bis zum Bilderstreit im 8. und 9. Jahrhundert. Die Akademie hat sich zunächst darauf beschränkt, die Literatur der beiden ersten Schichten vollständig, aber mit Ausschluß des Neuen Testaments, herauszugeben; doch ediert sie auch Werke des 4. und 5. Jahrhunderts, wenn solche wichtige literarische Fragmente aus der Geschichte der drei ersten Jahrhunderte enthalten. Erst in ihrer dritten Schicht, seit Eusebius und Athanasius, hat die patristische Literatur ihre weltgeschichtliche Bedeutung für die Verschmelzung des Christentums und
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der Antike, für alle Zweige der Wissenschaft und für die Entstehung der morgen- und abendländischen Nationalliteraturen erlangt; aber nur in der ersten Schicht ist das Eigentümliche, was die christliche Religion besitzt, zu einem deutlichen Ausdruck gelangt, und nur aus der zweiten kann man lernen, wie das große Gebilde, die katholische Kirche, in seiner Selbständigkeit und als Reichskirche, entstanden ist, welches die Literatur der Folgezeit geschaffen hat. Lediglich die beiden genannten Gesichtspunkte — die ältesten genuinen Quellen der christlichen Religion zusammenzustellen und das Werden der katholischen Kirche deutlich zu machen — geben das Recht, aber fordern es auch, die altchristliche Literatur aus der gleichzeitigen antiken auszugliedern; denn sie hängt fast von Anfang an in ihren Formen und in steigendem Maße auch durch ihren Inhalt mit ihr aufs innigste zusammen, und sie ist schon seit der Mitte des 2. Jahrhunderts als Literatur lediglich ein Teil von ihr. In gewisser Weise hat das schon der Vater der Kirchengeschichte, Eusebius von Cäsarea, eingesehen; denn es ist ihm nicht eingefallen, in seine Kirchengeschichte eine besondere christliche Literaturgeschichte aufzunehmen, vielmehr behandelt er die christlichen Schriften unter dem einzigen hier berechtigten Gesichtspunkt, nämlich als D o k u m e n t e . Die altchristliche Literaturgeschichte darf nur als Dokumentengeg e s c h i c h t e selbständig auftreten, wie die Literaturgeschichte des römischen Rechts oder die Literaturgeschichte der griechischen Philosophie. Erst der nicht vorbildliche Kirchenvater Hieronymus hat geglaubt, die christliche Religion dadurch dem großen gebildeten Publikum zu empfehlen, daß er ihr eine eigene Literaturgeschichte schuf, deren Form er dem Sueton, deren Inhalt er zum größten Teil durch flüchtige Scherenarbeit Eusebius' Kirchengeschichte entnahm. Was wir in der Ausgabe der griechischen Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte sammeln, wird also von uns
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als Dokumente gesammelt; denn im Inhalte, nicht in den Formen liegt hier der spezifische Wert. Die Ausgabe ist auf etwa 54 Bände berechnet; 27 sind in den ersten zwanzig Jahren (1896—1916) erschienen, im letzten Jahrzehnt 9 Bände. Wir haben also zwei Drittel der Arbeit erledigt, und zwar den wichtigeren Teil; denn manches Bedeutende, was noch aussteht, existiert bereits in nahezu ausreichenden Ausgaben anderer. Die Verzögerung in den letzten Jahren hat ihren Hauptgrund in den wirtschaftlichen Notständen, in denen wir noch immer stehen. Die deutsche Kaufkraft ist geschwächt, und unsere Nährmutter, die W e n t z e l - H e c k m a n n - S t i f t u n g , hat den größten Teil ihres Kapitals durch die Inflation eingebüßt und hat uns in den letzten Jahren nichts mehr geben können. Zwar trägt sich die Ausgabe fast selbst, aber eben nur „fast", d. h. für die handschriftlichen Vorarbeiten fehlen die Mittel und müssen jetzt, von Fall zu Fall und aufs Nötigste beschränkt, von der Akademie erbeten oder ihre Aufbringung muß den Mitarbeitern bzw. ihren Patronen überlassen werden. Doch steht zu hoffen, daß die W e n t z e l - H e c k m a n n - S t i f t u n g in nicht allzu ferner Zeit kleinere Bewilligungen wieder leisten wird. Von den neun im letzten Jahrzehnt erschienenen Bänden verdanken wir drei dem Fleiße Prof. B ä h r e n s ' in Göttingen. Er hat die Auslegung des Origenes zu Büchern des Alten Testaments herausgegeben — eine entsagungsvolle Arbeit, da Goldkörner in diesen Auslegungen selten sind, aber andererseits doch eine Aufgabe eigenen Reizes, weil überhaupt noch keine kritische Ausgabe vorhanden war, und weil Origenes die Gelehrten, die sich um ihn bemühen, zwar nicht mit geistreichen Gedanken, aber mit der Kenntnis seiner lauteren religiösen und wissenschaftlichen Persönlichkeit und mit der Einsicht in sein ungeheures Wissen und in seine exegetische Methode belohnt, durch die er der Vater der Bibelwissenschaft geworden ist.
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Vier Mitarbeitern des letzten Jahrzehnts können wir den Dank nur noch ins Grab nachrufen. W e n d l a n d hat für uns die Philosophumena Hippolyts, L ö s c h c k e die Kirchengeschichte des Gelasius, B o n w e t s c h die Werke des Methodius und H o l l die beiden ersten Bände der Werke des Epiphanius ediert. B o n w e t s c h ist uns im Greisenalter, W eηd1aηd und Holl im Mannesalter, L ö s c h c k e , ein Gelehrter großer Hoffnungen, im jugendlichen Alter genommen worden. Das, was sie in ihren Ausgaben der Wissenschaft geschenkt haben, stiftet ihnen allen ein bleibendes Andenken in unserer Akademie und in der gelehrten Welt. Aber ich darf noch besonders die Ausgaben von B o n w e t s c h und H o l l hier hervorheben. In B o n w e t s c h besaßen Göttingen und wir den Gelehrten, der die altslawische Sprache beherrschte und zugleich ein ausgezeichneter Kenner der alten Kirchengeschichte gewesen ist. Nicht nur durch die Ausgabe des Methodius, sondern auch durch zahlreiche andere Editionen, Katalogisierungen und Untersuchungen hat er das Abendland mit der slawischen patristischen Uberlieferung bekanntgemacht und ihre Schätze uns zugeführt wie kein anderer vor ihm; H o l l aber hat in seiner Epiphaniusausgabe, die er mit einem exquisiten Kommentar ausgestattet hat, ein Musterwerk geschaffen, das bei jeder näheren Prüfung die dankbare Bewunderung steigert. Neben diesen entschlafenen Gelehrten haben wir Herrn V i o l e t die Ausgabe der Apokalypse Esras, Herrn H e l m die der Chronik des Eusebius-Hieronymus zu danken. Die geschichtlich besonders wichtige Esra-Apokalypse, zeitlich der Apokalypse des Johannes nahestehend, liegt uns nur in SupraÜbersetzungen in verschiedenen Sprachen vor. Im ersten Bande seiner Ausgabe hat sie V i o l e t sämtlich kritisch rezensiert; im zweiten hat er auf dieser Grundlage die außerordentlich schwierige Aufgabe erfolgreich unternommen, dem Originaltext so nahe wie möglich zu kommen — in deutscher Sprache. Vielleicht ermutigt der
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Fortschritt, den seine Ausgabe bezeichnet, in Zukunft einen Gelehrten, eine Rückübersetzung ins Griechische zu versuchen; allerdings wäre mit einer solchen der Urtext noch immer nicht gewonnen. Die Chronik des Eusebius, die ebenfalls im Original verloren ist, liegt nun in der armenischen Übersetzung (deutsch wiedergegeben) und in der Bearbeitung des Hieronymus (2 Bände) vor. H e l m hat sich der großen Mühe unterzogen, beide Bände zu autographieren, und den höchsten Fleiß an die Ausgabe ge> setzt, auch ausführlich Rechenschaft von seinen überlieferungsgeschichtlichen Erkenntnissen gegeben. Unzweifelhaft sind wir durch ihn in der Hauptfrage, was dem Eusebius gebührt und was nicht, nach Beseitigung falscher Annahmen, ein bedeutendes Stück weitergekommen; in bezug auf die Anlage des Werks des Hieronymus schwebt noch eine Kontroverse. Dem „Archiv" für die von der Kirchenväter-Kommission unternommene Ausgabe sind im letzten Jahrzehnt vier umfangreiche Bände hinzugefügt worden. Zwei von ihnen umfassen je ein größeres Werk: der wissenschaftliche Beamte der Kommission, Prof. Dr. K a r l S c h m i d t , hat nach jahrelanger Vorarbeit das apokryphe, bisher unbekannte Buch aus dem zweiten Jahrhundert „Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung" herausgegeben und es aufs gründlichste nach allen Richtungen durchforscht; ich habe in der Monographie über den Reformer und Kirchenstifter Marcion Untersuchungen abgeschlossen, die mich seit meinem Eintritt in die Wissenschaft beschäftigt haben, um eine religiöse Persönlichkeit von unerhörter Eigenart — die selbständigste Erscheinung des 2. christlichen Jahrhunderts — ans Licht zu stellen. In der zweiten Auflage des Werks konnte ich die Arbeit bereichern. In den beiden anderen Bänden des Archivs hat Herr Β ä h r e η s die Uberlieferung bzw. die Textgeschichte der lateinisch erhaltenen Origeneshomilien zum Alten Testament, Herr Η e u s s i die
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Überlieferung über den Asketen Nilus behandelt, Herr B o n w e t s c h das slawische Henochbuch herausgegeben, Herr B a u e r n f e i n d den Römerbrieftext des Origenes untersucht, Herr L ο ο f s eine Monographie über Paul von Samosata vorgelegt, in welcher die Dogmengeschichte des 3. Jahrhunderts bedeutend gefördert worden ist. Ich selbst habe in zwei Heften den kirchengeschichtlichen Ertrag der exegetischen Arbeiten des Origenes extrahiert und beurteilt. Ich darf aber diesen Bericht nicht schließen, ohne eines unersetzlichen Verlustes zu gedenken, den die KirchenväterKommission und mit ihr die Wissenschaft infolge des Weltkrieges erlitten hat. In unseren Sitzungsberichten (4. März 1926) sind die Vorgänge, um die es sich handelt, eingehend geschildert worden; ich beschränke mich daher hier auf die Hauptsache: Im Frühling des Jahres 1914 gingen Geh.-Rat M o r i t z und der wissenschaftliche Beamte der Akademie, Prof. Dr. K a r l S c h m i d t , nach gründlichster Vorbereitung und mit der besten Ausrüstung auf den Sinai, um einen wissenschaftlichen Katalog sämtlicher Handschriften des Katharinenklosters, der griechischen und der orientalischen, teils herzustellen, teils zu revidieren, besonders das hagiographische, synodale und medizinische Material aufzunehmen, die Urkunden der politischen und inneren Geschichte des Klosters zu ermitteln und alle wichtigeren Handschriften und Bilder teils vollständig, teils in genügenden Proben (schwarzweiß, auch in Farben) zu photographieren. Die Expedition erfüllte ihre Aufgabe in fast viermonatlicher Arbeit restlos. In 30 Kisten gelangte das gesammelte Material samt dem Katalog und den Ausrüstungsgegenständen bis nach Suez — da brach der Weltkrieg aus. Mit Mühe konnten die Leiter der Expedition in die Heimat zurückkehren, aber die Früchte ihrer Arbeit wurden von den Engländern mit Beschlag belegt und — um gleich alles zu sagen — die Ausrüstungsgegenstände
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wurden verkauft, und die in Tausenden von Photographien, in den Katalogen und in den Beschreibungen niedergelegten Ergebnisse der Arbeit wurden eingezogen und einige Jahre später — der Krieg war schon beendigt! — so gut wie sämtlich vernichtet, sei es auf direkte Anordnung des englischen Generalstabs in Kairo, sei es unter seiner Zulassung. Nur ein ganz kleiner Teil hat sich durch Zufall oder in dem Handgepäck der Gelehrten erhalten. Ob sinnlose Spionagefurcht, ob grobe Unwissenheit hier die Triebfeder gewesen ist, wird wahrscheinlich niemals ermittelt werden können. Ob eine neue Expedition das Verlorene jemals wieder ersetzen wird, ist zweifelhaft; denn während die erste Expedition durch den damaligen Erzbischof-Abt des Sinai-Klosters veranlaßt worden war, der in einem Schreiben an mich um eine solche gebeten hatte, will die Klosterleitung jetzt, wie es scheint, keine Expedition mehr gestatten. Das ist die Kunde, die der wissenschaftliche Beamte der Kommission, Prof. Dr. S c h m i d t , aus Ägypten uns gebracht hat. Er ist vor kurzem von einem mehrmonatlichen Aufenthalt daselbst zurückgekehrt. Erfolgreich hat er unsere alten Verbindungen dort wieder aufgenommen, aber in bezug auf den Sinai konnte er leider nur Negatives berichten. Ich bin am Ende meines Rückblicks. Nach vorwärts schauend, kann ich mitteilen, daß ζ. Z. an η e u η Stellen die Fortsetzung der Kirchenväter-Ausgabe vorbereitet wird, an einigen schon seit langer Zeit, so daß unsere Geduld so stark in Anspruch genommen ist wie unsere hochgespannte Erwartung. Aber wir drängen keinen Mitarbeiter und sind noch niemals in unsern Hoffnungen getäuscht worden. Den Werken des Irenäus, dem Registerband zu Clemens Alexandrinus, der Chronik des Hippolyt, der Fortsetzung der Werke des Origenes, der „Praeparatio" des Eusebius, den Pseudoklementinen, der Ausgabe der Martyrien und der Hagiographika, endlich der Fortsetzung der Ausgabe des Epi-
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phanius, die Herr L i e t z m a n n übernommen hat, sehen wir entgegen. Die Vollendung der ganzen Ausgabe noch zu erleben darf ich nicht hoffen; aber gewiß wird sie kein Torso bleiben, obschon es bei der heutigen Richtung der Studien immer schwerer fällt, geeignete Mitarbeiter zu gewinnen.
Ansprache bei der Einweihung des Harnack*Hauses der Kaiser Wilhelm?Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. (1929)
Die Einweihung des vor allem zur Aufnahme wissenschaftlicher Gäste der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft bestimmten „Harnack-Hauses" in Berlin-Dahlem fand am 7. Mai 1929, Adolf v. Harnacks 78. Geburtstage, statt. Unter den Ehrengästen befand sich der Präsident des Senates der Stadt Danzig, S ahm. Der Vizepräsident der Gesellschaft, Herr Krupp von Bohlen und Η alb ach führte bei der Feier den Vorsitz und überreichte Adolf v. Harnack den Schlüssel des Hauses. Auf den Vortrag des Generaldirektors Glum, der Entstehung und Bedeutung des Hauses schilderte, folgten Begrüßungsansprachen des Reichsministers des Auswärtigen Stresemann, des amerikanischen Botschafters Schurman, des Rektors der Universität Berlin, Professor His und des Professors Haber, Direktor des Kaiser Wilhelm-Instituts für Chemie. Professor Haber sprach im Namen der wissenschaftlichen Mitglieder der Gesellschaft und bemerkte im Laufe seiner Rede, daß die Gesellschaft — wäre sie ein paar hundert Jahre früher ins Leben getreten — „so etwas wie eine gefürstete Abtei abgegeben hätte". Die folgende Ansprache Adolf v. Harnacks beschloß die Feier.
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Herr Senatspräsident, meine Herren Botschafter, Exzellenzen, hochansehnliche Versammlung! Auch wenn ich hier in diesem Saale noch eine unbegrenzte Zeit vor mir hätte, könnte ich heute nur sehr kurz sprechen; denn ich bin von dem, was ich hier in Ihrem Vereine erlebt habe, so überwältigt, daß ich nicht viel zu reden vermag. Ich könnte zunächst nur das eine Wort sagen, das mir zum deutlichen Bewußtsein gekommen ist: „Man lebt nur soviel, als man sich des Wohlwollens anderer freut", und wenn das in solchem Höhepunkt geschieht wie hier, so wird man so klein in bezug auf sich selbst und so groß in bezug darauf, Gegenstand der Liebe anderer geworden zu sein, daß der Mund verschlossen ist. — Darum nur den Herren Rednern jedem ein Wort, so gut ich's vermag! Der Herr Generaldirektor mit seinem Bericht! Ich muß hier diesen Bericht ergänzen. Ich habe mich um dies Haus die ganze Zeit hindurch natürlich gar nicht gekümmert. Alles, was Sie hier sehen, in Gedanke, Ausführung und Vollendung ist das gemeinsame Werk des Herrn Generaldirektors und des ausgezeichneten Baumeisters Prof. Sattler, und wir können da nur dankbar sein, — die ganze Gesellschaft mit mir. Herr von Krupp! — Sie haben gesagt, daß einer der wichtigsten Punkte der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft und ihrer Idee die Zusammenführung von Wissenschaft und Industrie ist — von Wissenschaft und Industrie und, wie ich hinzufügen kann, selbstverständlich auch von allen denjenigen, die nicht Vertreter der Wissenschaft sind, aber große Funktionen in unserem Staate vollziehen. Sie haben ganz recht getan, daß Sie den Wunsch der engsten Beziehungen mir aus der Seele gelesen haben; denn es ist mir ein tiefes Anliegen gewesen, überall, wo ich Klüfte sah, wo ich Spannungen sah, an dem Roman teilzunehmen, „ob sie sich kriegen werden", und ich habe das gewiß zu meiner Lebensaufgabe gemacht. Aber es liegt mir nicht nur daran, daß die D i n g e sich kriegen. Die
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kriegen sich gar nicht, wenn sich die Menschen nicht kriegen, und hier habe ich die herrliche Erfahrung gemacht, daß ich nicht nur mit der Industrie, sondern auch mit den Industriellen, nicht nur mit der Landwirtschaft, sondern auch mit den Landwirten, nicht nur mit den Banken, sondern auch mit den Bankiers, nicht nur mit den Gewerkschaften, sondern auch mit den Arbeitern — und so geht das fort — nicht nur mit den Städten, sondern auch mit ihren Bürgermeistern vielfach in eine herzliche, hin und wieder in eine innige Beziehung getreten bin. Vielleicht niemals hat da etwas versagt. Innerhalb des Kreises aber, aus welchem heraus Herr von Krupp am nächsten gesprochen hat, nicht nur Genossen, sondern Freunde gefunden zu haben, das gehört zu den tiefsten Erlebnissen meines Lebens, und dafür spreche ich meinen tiefsten Dank dem Senat und allen seinen Mitgliedern wie auch den Mitgliedern der Gesellschaft aus, ebenso wie ich nur wiederholen kann: mir ist nirgendwo eine sachliche Zusammenfassung begegnet, bei der ich nicht auch etwas für das Gemütsleben gewonnen hätte. Durch den Mund unseres verehrten Herrn Reichsaußenministers sind wir begrüßt worden von den Behörden, von dem uns teuren Reich und Ländern und von allem, was dazu gehört, und er hat mit dem tiefen Verständnis, das ihm gerade auf diesem Gebiete eigen ist, uns ausgeführt, welche Bedeutung das kulturpolitische Leben der Staaten hat. Wenn man mich fragt: Haben wir denn nicht genug an dem Gelehrtenaustausch usw.? so antworte ich: Nein, es sind zwei Dinge absolut nötig, und darum müssen die Gelehrten — und die besten — ausgetauscht werden. Wir wollen die Methoden der anderen kennenlernen, und wir wollen die Männer selbst kennenlernen. Die Methoden, weil das etwas ist, was man nicht in Büchern niederlegen kann. Was darüber in Büchern geschrieben wird, das kennen wir; aber außerdem gibt es doch etwas ganz Unvergleichliches, was man ken-
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nenlernen kann, weil die Methode keine Geheimwissenschaft ist, obwohl jeder die seine hat. Und die Menschen! Meine Damen und Herren, man rettet sich bedeutenden Menschen gegenüber nur durch die Liebe. Es gibt keinen andern Weg. Ich kann nichts anderes wünschen. Ich habe auch schon die Erfahrung gehabt, wieviel Verehrung, wieviel Liebe und wieviel inniger Zusammenhang durch den Austausch hier und dort entstanden ist. Methoden und Menschen, gilt es, kennen, ehren und lieben lernen. Die Reichsbehörden aber bitte ich — das gehört zu den Bitten, die, wie im Vaterunser, wenn man sie ausspricht, schon erfüllt sind und fort und fort erfüllt werden — ihr größtes, ungeteiltes Wohlwollen uns weiter zu schenken, überall, wo wir verankert sind: in den Provinzen, in den Städten und wo es immer sei. Noch niemals hat ein Ruf von uns kein Echo gefunden. Wir danken dafür aufs herzlichste. Uberall hat unser Ruf s t e t s ein Echo gefunden, wo es auch eine Schicht deutschen Lebens und besonders auch Organisationen gab. Also, bitte, Herr Reichsaußenminister, setzen Sie das fort in demselben Geiste, in dem wir die beiden unvergeßlichen Gespräche geführt haben, deren ich mich sehr gut erinnere. Und dem Herrn Rektor der Universität sage ich: wir sind felsenfest davon durchdrungen, daß die großen leitenden Stätten der Forschung die Universitäten und Hochschulen sind, daß Unterricht und Forschung nicht voneinander getrennt werden dürfen, und daß die Forschung gestärkt werden muß. Sie werden uns immer auf der Seite derer finden, die nicht etwa die Universitäten nur im jetzigen Zustande lassen wollen, sondern die jederzeit einsetzen, was sie haben, um die Universitäten, ihr Leben und ihre Aufgaben zu stützen. Herrn Haber kann ich zu meiner Freude antworten: Daß die Kirchengeschichte sich bereits unter den Direktoren der Kaiser Wilhelm-Institute verbreitet zu haben scheint, das ist ein Erfolg, von dem ich bisher gar nichts
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wußte und von dem ich zu meiner Freude diese Offenbarung sehe. Daß mir das nicht unangenehm ist, brauche ich nicht hervorzuheben. Aber daß Herr Haber so freundlich war, seine Worte in dies mein Metier zu kleiden, dafür sage ich ihm meinen besonderen anerkennenden Dank. Aber jetzt ohne Scherz! Wer stünde denn meinem Herzen in bezug auf das Leben der Gesellschaft näher als diejenigen, die wirklich daran arbeiten: die Direktoren, die Wissenschaftlichen Mitglieder und die Assistenten? Das versteht sich! Wir anderen alle sind Blätter; jene sind Blüten und Früchte. Zwei Reden haben geschlossen mit dem Hinblick darauf, daß alle zeitgeschichtliche Arbeit dem Ewigen dient. Gewiß, gegenüber der flüchtigen Zeit und den Erscheinungen der flüchtigen Zeit sucht der Naturforscher auch dort das Bleibende — das nicht an den Tag Gebundene, nicht das, was nur heute wichtig ist, sondern das, was wirklich i s t u n d b l e i b t —, und er weiß auch sehr wohl, daß man sich trotz allem Schlimmen, das mit bloßen Erscheinungen getrieben wird, nicht nur an die Erscheinungen halten darf, sondern hinter die Erscheinung — auf das Sein — kommen muß. Und unsere Zeit hat in der Naturwissenschaft wahrlich gelernt, welch ein ungeheures Gebiet, rätselhaft bis zum Paradoxen, hinter den Erscheinungen liegt. Umgekehrt ist aller Idealismus nichts wert, der nicht Idealismus des Wirklichen ist. Das soll unsere Losung sein. Hochverehrte Herrschaften! Sie sehen, was für ein lächerliches Gedächtnis ich habe: ich habe vergessen, des amerikanischen Botschafters zu gedenken. Ich möchte das mit folgenden Worten nachholen: Der Zusammenhang der amerikanischen und deutschen Wissenschaft ist fort und fort im Steigen, und wir haben nirgendwo soviel Entgegenkommen gefunden und lernen nirgendwo so viel wie bei Ihnen. Das wollte ich noch sagen, zugleich für alle Unterstützung dankend, die Amerika uns in der Wissenschaft
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hat zuteil werden lassen. Herüber und hinüber gilt, Herr Botschafter: fassen wir unsere Händel Jeder wird stärker werden, wenn der andere ihm behilflich ist. Ich habe noch mitzuteilen, daß wir zur Feier des Tages die Herren Reichsminister a. D. Dr. Köhler, Staatssekretär Prof. Dr. Popitz und Staatssekretär Zweigert und die Herren Dr. h. c. James Loeb und Botschafter Dr. h. c. Schurman zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft gewählt haben, indem wir ihnen unser Ehrenzeichen übergeben. Zu diesen Ehrenmitgliedern rechnen wir alle, die dies Abzeichen haben. Endlich muß ich dafür danken, daß dieses Haus meinen Namen erhalten hat. Ich kann fast sagen, daß mir das peinlich ist. Und doch eine Freude! Erlauben Sie aber, daß ich schließe mit einer kleinen Erinnerung! Es sind bald 80 Jahre her, da war mein Vater einer der Allerersten, die aus Dorpat nach Deutschland als Professoren berufen wurden — einige Jahre später als Ernst von Baer — und mein Vater hat somit begonnen den Austausch zwischen meinem Heimatlande und Deutschland hin und her, und seine Söhne haben ihn fortgesetzt nebst vielen anderen. Erlauben Sie, daß, wenn Sie die Güte hatten, dieses Haus Harnack-Haus zu nennen, ich an einen früheren Träger dieses Namens, an meinen Vater, erinnere Nochmals herzlichen Dank!
II. Bildungspolitik
DIE SITTLICHE UND SOZIALE BEDEUTUNG DES MODERNEN BILDUNGSSTREBENS
Vortrag gehalten am 22. Mai 1902 auf dem evang.-sozial. Kongreß au Dortmund. Erschienen in den „Verhandlungen des Ev.-soz. Kongresses" 1902 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen.
Der evangelisch-soziale Kongreß hat sich die Aufgabe gestellt, alle großen Erscheinungen der Gegenwart, welche fördernd oder hemmend, aufbauend oder umgestaltend in das sittlich-soziale Leben eingreifen, zu beurteilen. Wie sie beschaffen sind, was sie wert sind und in welchem Sinne sie geleitet werden sollen, will er untersuchen. Es bedarf nun wohl nicht vieler "Worte, um zu beweisen, daß das moderne Bildungsstreben eine der hervorragendsten sozialen Erscheinungen innerhalb unsrer Gegenwart ist. Zu keiner Zeit kann der, welcher das Ganze des Zustandes eines Volkes studieren will, an dem Stande der Bildung vorübergehen; er muß feststellen, wie hoch derselbe ist, wie stark die Interessen sind, die an der Bildung haften, und wie groß die Opfer, die für sie gebracht werden. Aber in unserer Zeit sind diese Fragen von doppelter Bedeutung; denn der flüchtigste Blick lehrt uns, in welchem Maße sich das Streben nach Bildung unter uns gesteigert hat. Der Abstand von früheren Zeiten, selbst wenn man nur um 30 Jahre zurückgeht, ist so groß, daß man gradezu behaupten kann, daß das Streben nach erweiterter und vertiefter Bildung ein wesentliches Merkmal unsrer gegenwärtigen Epoche ist. Wollte ich anfangen, Ihnen zu schildern, in welchen Hervorbringungen und Einrichtungen sich dieses Bildungsstreben überall zeigt, so würde ich in vielen Stunden nicht zu Ende kommen. Nur an einige Tatsachen, die Ihnen allen bekannt sind, will ich erinnern.
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II. Bildungspolitik
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I. Betrachten wir eine größere deutsche Stadt; wir finden zahlreich besuchte Volksbibliotheken; wir finden Fortbildungsschulen jeder Art, obligatorische und freie, sowie Fachschulen. Vorlesungen aus allen Gebieten der "Wissenschaft werden für weite Kreise gehalten; die Vorlesungen werden belebt und verdeutlicht durch Experimente und bildliche Darstellungen von hoher Vollendung, die das Schwierigste erläutern und das Fernste gegenständlich machen. Befindet sich an dem Ort eine Universität oder sonst ausreichende Lehrkräfte, so hören wir, daß Hochschulkurse abgehalten werden, in denen besondere Zweige oder die G-rundzüge der einzelnen Wissenschaften — nicht nur ihre Ergebnisse, sondern auch ihre Methoden — solchen zugänglich gemacht werden, welche der gymnasialen Vorbildung entbehren. Dieselben Universitäten richten Ferienund Fortbildungskurse ein; durch sie werden die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft denen zugetragen, die die Universität seit Jahr und Tag verlassen haben. Daneben stehen praktisch-wissenschaftliche Kurse, Samariterkurse, Unterweisungen für den Dienst bei plötzlichen Unfällen, Einführung in das neue bürgerliche G-esetzbuch, sozialpolitische und pädagogische Kurse, zusammenhängende Belehrungen oder Diskussionen über ethische und religiöse Grundfragen. Weiter aber: dort fordert ein Anschlag zum Besuch der Schauspiele auf, in denen zu billigen Preisen die Meisterwerke unsrer Dichter aufgeführt werden; hier wird zu Volkskonzerten eingeladen, sei es in die Kirche, um Bach und Händel, sei es in den Saal, um Beethoven und Wagner zu hören. Die Museen sind unentgeltlich geöffnet, und für sachverständige Erläuterung der Sammlungen und Kunstwerke daselbst wird gesorgt. Noch am späten Abend und bis in die Nacht hinein wird gearbeitet, um solche, denen es in der Jugend nicht vergönnt war, sich eine gründliche
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Bildung zu erwerben, nachträglich zu fördern oder den aufstrebenden Arbeiter mit den tieferen Grundlagen, den Zusammenhängen und den Fortschritten seines Arbeitsgebiets bekannt zu machen. Grundrisse, Lehrbücher und dazu die besten "Werke aus den Literaturen aller Kulturvölker werden zu den wohlfeilsten Preisen verkauft. Wer es versteht, kann sich bereits für zehn Mark eine wertvolle Bibliothek anschaffen, für die er noch vor einem Menschenalter das Zehnfache zu zahlen hatte. Auch auf das Land hinaus — wenn diese Arbeit auch erst begonnen hat — werden Fachmänner geschickt, welche in der Ackerwirtschaft, im Obstbau und anderen ländlichen Unternehmungen unterrichten. Überall sehen wir, daß leicht und systematisch heute zugänglich gemacht wird, was früher nur wie zufällig diesem oder jenem zuflog, oder was der Eifrige mühsam selbst aufsuchen und mit vielen Opfern sich erwerben mußte. Schließlich ist noch des ungeheuren Bildungsstoffs zu gedenken, den die Zeitungen fast in jedes Haus tragen, die politischen Zeitungen und die Fachzeitschriften. Ein jedes Handwerk, ein jedes G-ewerbe und jeder Fabrikzweig besitzt solche. Sie enthalten genaue Ausführungen über jeden Fortschritt auf dem betreffenden Gebiet und werden von Männern redigiert, die neben der genauesten Kenntnis des besonderen Zweiges auch die der wirtschaftlichen Zusammenhänge ihres Faches mit anderen Fächern, Produktions- und handels-statistisches "Wissen und allgemeine Kenntnisse der verschiedensten Art besitzen. Ein Blick ζ. B. in die Kellner-Zeitung, den ich jüngst getan, belehrte mich, mit welchem Ernst und welcher Umsicht ein solches Blatt geleitet wird, und wie viele Ratschläge und wieviel Einsicht es seinen Abonnenten übermittelt. Um aber den Kontrast des heutigen Zustandes zu dem, was vor einem Menschenalter war, vollständig zu machen, muß man auf die Träger blicken, die jetzt vornehmlich an dem Aufschwung beteiligt sind, während sie damals noch
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kaum, sich regten — ich. meine die Arbeiter und die Frauen. Das Bildungsstreben beider drückt unsrer Epoche recht eigentlich den Stempel auf. Was die Arbeiter betrifft, so beschämen große Gruppen unter ihnen alle anderen Stände. Noch jüngst ist es uns wiederum aus Hamburg bezeugt worden, daß die dortigen großartigen Veranstaltungen von Vorlesungs-Rursen hauptsächlich von den sogenannten „kleinen Leuten" besucht werden. Mit Anteil und Bewunderung sehen wir, welchen Eifer diese „kleinen Leute" und Arbeiter entwickeln und welche Opfer sie bringen, nicht nur um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern auch um intellektuell in die Höhe zu kommen und an den geistigen Errungenschaften teilzunehmen. Abgesehen ist es dabei keineswegs auf rasche Befriedigung eines vorübergehenden Bedürfnisses, sondern sie streben unzweifelhaft nach "Wissenschaft. Ein brennendes Verlangen, ein Hunger nach wirklichen Kenntnissen, nach einer wissenschaftlichen Weltanschauung ist vorhanden. Mag auch das Urteil darüber, was die Wissenschaft vermag, oftmals ein ausschweifendes, ja phantastisches sein, mögen die Schwierigkeiten des Wegs tausendmal unterschätzt werden — das feste Zutrauen zur Macht und freiheitstiftenden K r a f t der Wissenschaft hat etwas Imponierendes und die Freudigkeit zu der Reise in das unbekannte Paradies etwas Rührendes. Noch gewaltiger aber, fast möchte ich sagen elementarer und universeller ist das Bildungsstreben der Frauen. Die G-eschichte erzählt uns von großen Völkerschaften, über die plötzlich der Wandertrieb gekommen ist und die n u n ihre Wohnsitze verlassen, um auszuziehen in ein fernes Land, wo der Himmel blauer ist, die Erde fruchtbarer und das Leben lebendiger. Hieran fühlt man sich erinnert, wenn man die heutige Frauenbewegung betrachtet. Aber wie bei jenen Völkerwanderungen, sieht man näher zu,
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nicht ein unerklärliches Etwas zum Aufbrach getrieben hat, sondern die Not verbunden mit Tatenlust, so ist auch hier die Not das Treibende, verbunden mit dem Drang, sich aus der Enge zu befreien, und mit dem Gefühle der Kraft. Alle Schichten der Frauen hat dieser Trieb heute durchdrungen. Es sind keineswegs nur die wirtschaftlich Bedrohten, die sich in die Reihen der strebenden Frauen stellen, weil sie f ü r ihre Existenz kämpfen müssen; nein, auch diejenigen, deren materielle Lage gesichert ist, treten hinzu, und von J a h r zu J a h r — mit jeder neuen Mädchengeneration, die die Schule verläßt — wächst die Bewegung in geometrischer Progression. Sie wollen teilnehmen an allem, was die geistige Entwicklung der Gegenwart bietet; sie wollen ihren Greist schulen und befreien und nach Kenntnissen, Bildung und Selbständigkeit den Männern ebenbürtig sein. Es gilt dem Wissen und der Wissenschaft, und sie verlangen, daß man sie zulasse, wo nur immer Wissen gelehrt wird und Rechte auf Grrund desselben erworben werden. Der Spott über ein Korps von Blaustrümpfen oder von Amazonen ist längst nicht mehr am Platze, verstummt auch immer mehr; denn die Bewegung ist viel zu mächtig geworden und sie hat sich so tief auch mit dem inneren weiblichen Sinn verbunden, daß man mit Recht von der Frauenbewegung spricht. Lassen Sie mich, bevor ich diese kurze Übersicht schließe, nur noch einen flüchtigen Blick auf die Stellung des Staates zu dieser ganzen Bewegung werfen. Da bei uns in Deutschland der Staat, wenn auch nicht das Unterrichts- und Bildungsmonopol, so doch nahezu ein Monopol auf sie besitzt, so ist sein Verhalten hier von höchster Bedeutung. I m allgemeinen darf man urteilen, daß er mit Wohlwollen, Weisheit und tatkräftiger Hilfe dem modernen Bildungsstreben auf den meisten Linien entgegenkommt. Ein nicht geringer Teil der wissenschaftlichen Einrichtungen, von denen wir soeben gesprochen haben, ist auf ihn zurück-
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zuführen; andere hat er gerne und mit Anteil verwirklicht gesehen und leiht ihnen seine Unterstützung. Es ist nur zu billigen, wenn er sich bei der Initiative zurückhält und lieber freien Vereinen oder den Kommunen oder Privatpersonen die Anfänge und die Durchführung überläßt. Daß er raschem Drängen "Widerstand entgegenstellt und im allgemeinen nicht das Tempo beschleunigt, sondern zurückhält, ist so lange nicht gefährlich, als er gesunde Bewegungen nicht unterdrückt. Auf seinem eigensten Gebiete, dem des Volksschulunterrichts, hat er soeben einen bedeutenden und besonders dankenswerten Schritt vorwärts getan. Die neuen Regulative für den Unterricht auf den Lehrer-Seminarien sind vortrefflich und jeden Lobes wert. Zwei Bestimmungen sind es namentlich, die für sie nun maßgebend sind: erstlich, daß ein stufenmäßiger Gang von der untersten bis zur letzten Klasse eingehalten wird, so daß an die Stelle eines unermüdlichen und geistlosen Repetierens und Einpaukens desselben Pensums ein wirkliches Fortschreiten in der Ausbildung erzielt wird, zweitens daß auf den obersten Stufen sowohl ein Einblick in die Hauptresultate gewisser den Lehrern nahe liegender wissenschaftlicher Disziplinen als ein Sinn für die Methode und Arbeit der "Wissenschaft erweckt wird. Durch beides sind lang gehegte "Wünsche der Lehrerwelt selbst befriedigt worden, und es steht zu erwarten, daß mit dem abgeschafften Drill die Untugenden allmählich schwinden werden, die unzertrennlich von ihm sind, und daß dann auch der Volksschule die neue Ordnung der Dinge einen neuen Aufschwung bringen wird. Der Staat ist mit den Vertretern eines gesunden Fortschritts darin einig, daß Veraltetes und Falsches nicht gelehrt, Recht und Pflicht zu denken aber allen Bürgern eingeprägt werde. Die Volksschule soll und kann davon keine Ausnahme machen.
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II. In einer kurzen Überschau haben wir es gerechtfertigt, daß wir von einem modernen Bildungsstreben sprechen und in ihm ein wesentliches Merkmal unsres Zeitalters sehen. Unsere Frage gilt aber dem sittlichen und sozialen "Wert dieses Bildungsstrebens. Bevor wir ihn untersuchen, haben wir das Wesen der Bildung und das besondere Wesen der modernen Bildung ins Auge zu fassen. Nicht um das, was man Zivilisation nennt, handelt es sich hier. Freilich stehen Bildung und Zivilisation in einem sehr nahen Zusammenhang. Allein wir sind mit Recht gewöhnt, unter Zivilisation etwas Außeres zu verstehen, an welchem auch der teilnehmen kann, der von wirklicher Bildung wenig berührt ist. Uns ist es nur um die letztere zu tun. Wesensbestimmungen der Bildung gibt es zahlreiche, und ihre Mannigfaltigkeit beweist, wie verschiedene Seiten sie hat und wie verschieden sie betrachtet werden kann. Faßt man den Menschen seinen Anlagen nach, so wird Bildung die volle Ausgestaltung aller der Kräfte sein, die im Innern schlummern: man wird durch die Bildung, was man ist oder vielmehr was man sein kann; die volle Entfaltung der Individualität ist hier das höchste Ziel der Bildung, und mit dieser vollen Entfaltung auch die Freiheit gegenüber der Außenwelt, eine gleichsam wiedergewonnene Naivität. Sie ist das sicherste Zeichen der geschlossenen befreiten Persönlichkeit. „Doch er stehet männlich an dem Steuer, Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen."
Faßt man den Menschen innerhalb der Natur, so wird die Bildung eine doppelte Aufgabe haben: einerseits wird sie eine Waffe sein gegen die Natur, eine Schutzwehr gegen ihre alles zu verschlingen drohende Grewalt — Naturbeherrschung, soweit nur immer möglich — , ein Ablauschen und
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Abtrotzen der Geheimnisse der Natur, um sie zu zwingen und dienstbar zu machen. Andererseits soll sie durch Verständnis mit der Natur versöhnen, soll den Zusammenhang mit allem Lebendigen aufdecken und den Zusammenschluß, wo er heilsam, befördern. Auch hier ist Kraft und Freiheit das höchste Ziel, welches winkt. Faßt man den Menschen aber innerhalb der Geschichte und als Glied der Menschheit, so ist Bildung das Vermögen, alles Menschliche mit Verständnis und Teilnahme aufzunehmen und wieder zurückzustrahlen, die eigene Seele offen zu halten und die anderen Seelen zu öffnen, Verstand und Herz zu feinen Organen auszubilden, die dort sehen und hören, wohin die Sinne nicht mehr reichen, sich an vielen Orten heimisch zu machen und sich doch nirgends einzuschließen, innerhalb des "Wechsels der Dinge das Leben dauerhaft und würdig zu gestalten und inmitten des Einförmigen und Abstumpfenden ihm Gehalt zu geben, Selbstbeherrschung und Geduld zu gewinnen gegenüber dem Allzumenschlichen und Ehrfurcht zu behaupten vor dem Menschlichen und Göttlichen. Faßt man endlich die Bildung im engsten Sinne in bezug auf den besonderen Beruf jedes einzelnen, so ist sie die Summe der Kenntnisse und Fertigkeiten, die nötig sind, um diesen Beruf wirklich auszufüllen und sich frei in ihm zu bewegen. Auch hier ist Freiheit das letzte Ergebnis: gebildet ist in seinem Beruf und für denselben, wer durch ihn nicht niedergedrückt wird, sondern dessen Kennen und Können zur zweiten Natur geworden ist. Niemals darf diese Bildung im engeren Sinn, die Fachbildung, unterschätzt werden; denn der W e g zur allgemeinen Bildung führt regelmäßig durch die spezielle und ist anders schwer oder überhaupt nicht zu finden. Es ist ein hohes Lied von der Bildung, welches wir gesungen haben, und mancher hat vielleicht gelächelt oder ist gar unwillig geworden. Thm ist etwa der „Bildungs-
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philister" eingefallen und alles das, was man mit Grund von demselben gesagt hat. Allein wer die Bildung so faßt, wie ich sie zu bestimmen versucht habe, wird der entschiedenste Feind jener Spottgestalt sein. Der Bildungsphilister neben dem Gebildeten ist Wagner neben Faust, eine Gliederpuppe neben dem Lebendigen, lebendig nur durch ihre Selbstgefälligkeit. Der Bildungsphilister ist ohne Duldung und Geduld, ohne Freiheit und ohne Ehrfurcht, ohne Persönlichkeit und ohne Liebe; jede Frucht verschwindet in seiner Hand, und nur die Hülsen bleiben ihm übrig, die er f ü r den Kern der Dinge hält. Aber je und je sind auch ernste, wirkliche Gegner der Bildung aufgetreten, nicht Barbaren, sondern Feinde der Bildung unter den Gebildeten. Das ist freilich paradox genug, und eigentlich könnte man sie einfach ihrem Selbstwiderspruch überlassen. Es waren und sind hochgebildete Romantiker, die, nachdem sie einen reichen Bildungsstoff aufgenommen, aber nicht alle Früchte erhalten haben, die sie erwarteten, auf die Bildung schmähen und ihr gegenüber die Natur oder das Leben oder etwas Undefinierbares ausspielen. Das Altertum kannte solche, das 18. Jahrhundert hatte seinen Rousseau, und wir haben unsre kleinen, aber nicht einflußlosen Rousseaus. Soweit sie nicht die Bildung bekämpfen, um das Triebleben zu empfehlen, oder um sich von der Sorge für ihre Mitmenschen und von aller Verantwortung f ü r den Gang der Dinge zu befreien, befehden sie nicht eigentlich die Bildung überhaupt, sondern eine falsche, engherzige verrottete Bildung. Dies war in hohem Maße bei Rousseau der Fall, und daher sind wir ihm zu Dank verpflichtet und können eine weite Strecke Wegs mit ihm gehen. Nicht aber können wir mit ihm gehen, wenn er einfach die Natur gegen die Bildung ausspielt. Wird hier kein täuschendes Spiel mit Worten getrieben oder in den Begriff „Natur" etwas hineingelegt, was ihm gar nicht zukommt, so kann die Formel: „Rück-
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kehr zur Natur" nicht gebilligt werden. Grewiß, wahrhaftig sollen wir sein, nicht geziert und nicht heuchlerisch, auch sollen wir uns nichts aufreden lassen, was unserem innersten Wesen -widerspricht, aber die Natur kann nicht überall unsre Lehrmeisterin sein; denn ihr fehlen zwei Elemente, welche wir nicht entbehren können, das ist die geschlossene Persönlichkeit und die Grüte. Von der Natur können wir sie nicht lernen. Aus dem geschichtlichen Leben empfangen wir sie. Aber es gibt endlich noch Gregner, die mit Mißtrauen das unbedingte Lob der Bildung hören, und wir finden sie in den Reihen unsrer Freunde. Ernste Christen sind es, die nicht nur vor Überschätzung der Bildung warnen, sondern ihr überhaupt nur einen bedingten "Wert beilegen. Ihre Stellung ist wohlverständlich; denn erstlich ist in allen höheren Dingen die sichere Kenntnis des Ideals etwas so Bedeutendes, daß sie viele Mängel ersetzen kann, und so wird der wahrhaft religiöse Mensch immer auch ein gebildeter Mensch sein, so wenig Bildung im einzelnen er auch haben mag. Zweitens, alle tiefere Bildung wird nur aus einem schmerzlichen Widerstreit und hartem Kampf geboren; sie wird nicht mühelos erworben und auch nicht mühelos festgehalten. Sofern dieses Element aber von oberflächlichen Menschen oft übersehen und Bildung einfach mit Kenntnissen verwechselt wird, sofern weiter übersehen wird, daß Bildung nur langsam reift und eine Bildungsschicht und -Greschichte voraussetzt, ist das Mißtrauen der Ernsten gegen das Schlagwort „Bildung" wohl berechtigt. Allein die Bildung ist nicht daran schuld, daß sie auch oberflächlich aufgefaßt wird; darum ist jedes Wort, welches gegen sie gesprochen wird, bedenklich. Bedenklich ist es auch, von dem Standpunkt der Grüter, welche die Religion gewährt, abschätzig über die Bildung zu urteilen. Grewiß wird ihr Mangel dort am wenigsten empfunden, wo wahrh a f t religiöses Leben ist, und dieses kann in sich geschlos-
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sen sein und die ganze Persönlichkeit verklären. Aber ohne Bildung wird sie nur in ganz bestimmten Berufen nach außen wirksam sein können, die zahlreichen anderen werden ihr verschlossen sein, und diese Erde zu bebauen und zu bewahren, wird sie anderen überlassen müssen. So bleibt es dabei, daß gegen die Bildung feindselig ist nur wer sie nicht kennt oder verkennt, und der, welcher gegen sie eifert, befindet sich in der Regel in einer merkwürdigen Selbsttäuschung: er denkt mit ihren Gedanken und redet mit ihren "Worten. Mag auch, wo immer gegen die Bildung gesprochen wird, dies ein Zeichen sein, daß im herrschenden Bildungsbetriebe etwas Ungesundes oder Faules ist — der Bildung selbst den Krieg erklären oder sie f ü r etwas Unbedeutendes darstellen, ist ein wahnsinniges oder freches Unterfangen. Der verwirrt und schädigt alle gesunden Begriffe und ladet eine schwere Verantwortung auf sich, der, sei es in geistreicher, sei es in welcher Rede auch immer gegen die Bildung streitet und sie dem Volke verächtlich oder überflüssig zu machen sucht. In diesem Sinne muß ich auch die Wirkung, welche die Schriften T o l s t o i s ausüben, f ü r bedenklich halten und kann mich nur mit dem leidigen Tröste trösten, daß die meisten, die sie lesen, gar keine anderen Wirkungen aus ihnen empfangen als die einer vorübergehenden Emotion. I m großen und ganzen dürfen wir sagen, daß der mächtige Trieb und das Streben nach Bildung unter uns durch diese und andere Hemmungsversuche nicht aufgehalten werden. Sie sind kräftiger und lebendiger als zu irgend einer Zeit. Wer kann sich darüber wundern? Ist doch die Erde erst in unseren Tagen ein einziger Schauplatz geworden. Der moderne Verkehr hat alle Zäune niedergerissen. Tausend wechselnde Eindrücke treffen uns heute; alles steht im Lichte der Öffentlichkeit. Alles spielt sich auf dem Markte ab. Konkurrenz in jedem Sinn des Wortes beherrscht alles, und zugleich greift jede Frage in eine andere ein.
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Hilflos steht der Ungebildete diesem Zustand gegenüber. Einen stillen Winkel, in den er sich retten kann, gibt es bald nicht mehr. Nur durch Bildung vermag er sich zu wappnen. Hier liegt die letzte Ursache des modernen Bildungsstrebens. ΠΙ. Aber fragen wir uns nun, in welcher Richtung hauptsächlich das moderne Bildungsstreben sich bewegt; denn obgleich alle Bildung nur eine ist, so treten doch zu allen Zeiten verschiedene Momente in ihr hervor und gewinnen die Oberhand. Sehe ich recht, so lassen sich in unserem modernen Bildungsstreben folgende Hauptzüge erkennen. Erstlich, es zeigt eine energische Richtung auf die wirkliche Wissenschaft, zweitens, es zeigt die ernsteste Absicht, Unabhängigkeit und wirtschaftliche Selbständigkeit zu erringen, drittens, es zeigt den Trieb, das Lebensgefühl zu steigern und größeren Anteil am Leben, extensiv und intensiv, zu gewinnen. Das moderne Bildungsstreben zeigt eine energische Richtung auf die wirkliche Wissenschaft; ich könnte dafür auch sagen, auf die Erkenntnis des Wirklichen. Der größere Teil aller der Einrichtungen und Unternehmungen, von denen wir gesprochen haben, gilt diesem. Es ist für den Mann der Wissenschaft eine Freude, zu sehen, mit welchem inneren Drang und Eifer wissenschaftliche Erkenntnis heutzutage aufgesucht wird. Mit schönen Worten und unterhaltenden Erzählungen ist nicht mehr gedient; man will die Welt des Wirklichen erkennen und will die Fortschritte der Erkenntnis studieren. Darum tritt heutzutage der einzelne populär-wissenschaftliche Vortrag immer mehr zurück gegenüber der zusammenhängenden Unterweisung. Wie das Wirkliche gefunden und erkannt wird, dafür ist der Sinn aufgegangen oder wenigstens das Verlangen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und sich vor
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Schein und Täuschung zu hüten. Yor allem aber sind es die zwei leitenden Ideen der modernen Wissenschaft, die sich weiter Kreise bemächtigt haben und bereits Richtlinien f ü r sie geworden sind, die Erhaltung und Umformung der Kräfte und der Entwicklungsgedanke. Wir freuen uns, daß dem so ist, und diejenigen täuschen sich, welche meinen, daß dieser Schritt je wieder zurückgenommen werden könne. Die Einsicht, daß die einzelne K r a f t ein integrierender Bestandteil eines Kräftesystems ist und nur in ihm seine Stätte hat, und daß die einzelne Erscheinung nur als Grlied einer Entwicklungsreihe eine Tatsache ist, diese Einsicht wird, einmal gewonnen, nie wieder verschwinden; denn sie ist die Bedingung, soviel von der Welt um uns zu erkennen und zu durchschauen, als uns zu erkennen vergönnt ist. I n diesem Sinne ist das Urteil, daß der Zug der Zeit ein realistischer ist, vollberechtigt; aber wir fällen es nicht im Sinne einer Klage, sondern freudig. Wir freuen uns, in einer Zeit leben zu dürfen, in welcher — Stumpfsinn und Aberglaube gibt es freilich genug — der Zug zum Wirklichen so mächtig ist. Ehrlichkeit und Redlichkeit liegt darinnen, ehrliche Arbeit und redliches Bemühen, und ich stehe nicht an, diesem Zug eine hohe sittliche Bedeutung beizumessen. Von seiner Schranke werden wir noch hören; aber wer der Erkenntnis des Wirklichen unbestochen nachgeht, der steht dadurch in sittlicher Tätigkeit, und wer Opfer an K r a f t und Mitteln für sie bringt, bringt sie für eine sittliche Aufgabe. Zweitens zeigt das moderne Bildungsstreben die ernsteste Absicht, durch Bildung Unabhängigkeit und wirtschaftliche Selbständigkeit zu gewinnen. Was treibt die Scharen bildungseifriger Arbeiter dazu, ihre kärglichen Freistunden der Fachbildung zu widmen und ihre Kenntnisse zu vermehren? Nicht nur der Wissenstrieb als solcher, sondern auch das lebhafte Verlangen, ihre Lage zu verbessern und durch Kenntnisse und Fertigkeiten eine gesichertere Stellung
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auf dem Arbeitsmarkte zu gewinnen. Was ist eine der mächtigsten Triebfedern in der großen Frauenbewegung, von der wir gesprochen haben? Selbständig zu werden, auf eigenen Füßen zu stehen und durch einen festen Beruf eine gesicherte Stellung zu erhalten. Diese Tendenz ist in jeder Hinsicht beifallswert, ja auch sie ist als eine sittliche im strengen Sinne in Anspruch zu nehmen. Ohne Beruf und einen festen Kreis ist der Mensch, ob Mann oder Weib, ein unnützes Wesen; der Beruf ist der Halt und der Rückgrat des Lebens; nur in einem festen Pflichtenkreise und in dem G-efühl, an seiner Stelle notwendig zu sein, bleibt der Mensch gesund. Ist nun die Ehe unzähligen Mädchen verschlossen und ist die hauswirtschaftliche Arbeit, verglichen mit früheren Zeiten, außerordentlich reduziert, so müssen andere Berufe von den Frauen gesucht, und sie müssen ihnen eröffnet werden. Ja, man wird noch einen Schritt weiter gehen und denen beipflichten müssen, die da sagen, kein Mädchen soll nur für die Ehe und ausschließlich als zukünftige Gefährtin des Mannes erzogen werden, sondern sie soll so gebildet werden, daß sie einem tüchtigen Beruf vorstehen kann. Ganz mit Recht wird diese Forderung erhoben, nicht nur, weil eine zukünftige Eheschließung immer unsicher ist, nicht nur, weil es gilt, die bemitleidenswerte Lage unzähliger Witwen, die früher gleichsam wie eine unabänderliche Schickung betrachtet wurde, im voraus zu bessern, sondern weil es dem Gang, den unsere Entwicklung gewonnen hat, entspricht, daß jedes gesunde Wesen für sich selbst zu sorgen vermag und es als Pflicht und Recht empfindet, auf eigenen Füßen zu stehen. In anderen Zeiten sind die Anschauungen darüber andere gewesen — eine neue Zeit ist heraufgestiegen, und wir freuen uns, ihre Bürger zu sein. Wir erwarten auch von dieser Umgestaltung, in deren Anfängen wir stehen, eine Versittlichung des weiblichen Geschlechts, wo solche nötig, und eine Versittlichung des Verhältnisses der beiden
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Geschlechter zueinander. Eigentümliche neue Gefahren tauchen freilich auch hier auf — wir werden über sie sprechen; ohne Schatten ist nichts Menschliches —, aber daß dunkle Nachtseiten in der Lage und dem Zustande des weiblichen Geschlechts schwinden oder doch abnehmen können, wenn die wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit desselben gesteigert wird, kann schwerlich zweifelhaft sein. Es ist ζ. B. unmöglich, daß die Prostitution, die grobe und die feine, in dem Umfange fortdauert, wenn mit der Bildung die Ausbildung zu bestimmten Berufen in dem weiblichen Geschlecht gefördert wird. Auch auf die Männer muß notwendig diese Neuordnung der Verhältnisse einwirken. In dieser Betrachtung fühle ich mich eins mit einem der tüchtigsten Vertreter der Frauenbewegung, mit Herrn W y c h g r a m . Er schreibt in dem Vorwort zu seiner neuen Zeitschrift: „Frauenbildung" : „Die Förderung des weiblichen Unterrichtswesens wird, wenn sie unter den richtigen Gesichtspunkten und mit den rechten Mitteln vollzogen wird, sowohl der Frau als der Gesellschaft selbst Segen bringen. Denn das sind die beiden beherrschenden Rücksichten: indem wir die geistige Bildung der Frau heben, heben wir die Stellung der Frau selbst, und indem wir dieses tun, glauben wir unserem Kulturleben neue große und fruchtbare Werte zuzuführen. "Wir schaffen der Frau eine höhere und edlere Selbständigkeit. Dies aber kann und muß in doppeltem Sinn verstanden werden, im ethischen und im wirtschaftlichen. In jenem, weil die höchstmögliche Ausbildung der geistigen Kräfte dem modernen Menschen, was auch immer dagegen gesagt werden mag, die wirksamste Vorbedingung einer ernsten Erfassung des Lebens und seiner Aufgaben bietet, und weil solche Erfassung bei jeder tiefer angelegten Natur wiederum eine nicht versiegende Quelle des Glücks ist. I n dem andern, dem wirtschaftlichen Sinn aber bedeutet Selbstständigkeit die Erhebung über jenen traurigen Zustand, da
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wir von der Arbeit der anderen leben müssen und eigene von anderen bewertete Arbeit nicht leisten. Auch, dies berührt sich mit den ernstesten Fragen, nnd wenn für keinen Verständigen darüber Zweifel bestehen, daß Arbeit, recht geboten, recht erfaßt und recht belohnt, Glück ist, dann müssen wir die Frauen zu solcher Arbeit hinführen." Drittens zeigt das moderne Bildungsstreben den Trieb, das Lebensgefühl zu steigern und größeren Anteil am Leben, extensiv und intensiv, zu gewinnen. Damit ist eine Seite berührt, die nicht leicht zu fassen ist. Ich meine nicht das Streben nach mehr Genuß. Auch dieses enthält zwar etwas Gerechtfertigtes, und es ist sehr billig, es zu schmähen, während sich doch die Schmähenden leicht hunderte von Genüssen verschaffen, die der Geschmähte entbehrt. Ich meine auch nicht die allermodernste romantische Neigung, das Lebensgefühl durch exzentrische Phantasien zu steigern und zu berauschen. Diese Neigung ist rechter Bildung geradezu entgegengesetzt und feindlich. Das, was ich meine, ist das Bestreben, sich aus jenem abstumpfenden Einerlei des Lebens zu befreien, welches noch für Tausende das Leben selbst ist, um den Kreis des Daseins reich und kräftig zu gestalten. In vielen ist heute dieses Streben eine Macht: sie empfinden, daß der Mensch nicht nur des "Wechsels von Tag und Nacht bedarf, um gesund zu bleiben, sondern auch eines Wechsels am Tage, und daß er sich nur frisch erhalten kann, wenn er über seinen nächsten Beruf hinaus Anteil nimmt am allgemeinen Menschlichen. Soll dieser Anteil aber über rohe Genüsse hinausführen, so ist ein gewisses, ja ein fortschreitendes Maß von Bildung unerläßlich, dazu ein Zusammenschluß mit Gleichstrebenden, denn der isolierte Mensch gelangt hier niemals zum Ziele. Das wird auch von den Aufstrebenden empfunden; denn nicht als etwas Äußerliches oder Zufalliges tritt das soziale Element im Zusammenhang mit dem Bildungsstreben, das Leben reicher zu gestalten, auf.
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Vom sittlichen und vom christlichen Standpunkt aber kann gegen dieses Bemühen nichts eingewendet werden; denn der Zweck des Lebens ist — um des ewigen Inhalts willen, welchen jedes Leben haben soll, — das Leben selbst. Ich habe versucht, das moderne Bildungsstreben nach seinen wichtigsten Seiten zu charakterisieren. Der sittliche und soziale Wert desselben ist dabei überall hervorgetreten, ohne daß ich ihn aufdringlich vorgerückt oder Einzelwirkungen genannt hätte. I n der Tat liegt auch nicht in den Einzelwirkungen der Hauptwert, obgleich deren nicht wenige sind. Ich verweise ζ. B. darauf, wie durch die erhöhte Bildung die "Wohnungsfrage, dieses so wichtige Problem des sozialen Lebens, im günstigsten Sinne beeinflußt wird. Kann man doch geradezu die Wohnung als einen Gradmesser der Bildung in Anspruch nehmen, und überall beobachtet man, daß gesteigerte Bildung sich eine bessere Wohnung erzwingt: die wirtschaftlichen Verhältnisse müssen hier dem idealen Anstoße folgen, und folgen ihm nachweisbar. Ferner verweise ich auf die Tatsache, daß durch die erhöhte Bildung ein Ausgleich der Stände stattfindet und daß die einzelnen Schichten und Gruppen der Nation sich näher treten und innere Fühlung miteinander gewinnen. I n diesem Sinne sind namentlich auch die Hochschulkurse von großer Bedeutung; ja schon in diesen und ähnlichen Unternehmungen an sich liegt ein starkes soziales Element, ein Element der Anerkennung und des Zusammenschlusses. Endlich möchte ich darauf aufmerksam machen, daß der gebildete Mensch in der Regel der besonnene sein wird: extreme und exzentrische Standpunkte werden verlassen werden, und ein Sinn f ü r das Bedingte der Verhältnisse wird erwachen. Damit wird der soziale Friede näher gerückt. Aber, wie gesagt, die Einzelwirkungen dürfen hier nur als Teile der Gresamtwirkung ins Auge gefaßt werden. Diese besteht darin, daß die erhöhte Bildung das Individuum zur Persönlichkeit gestaltet und daß sie dasselbe eben da-
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durch auch sozial wertvoller macht. Das Ziel einer in friedlicher Arbeit und in gegenseitiger Anerkennung und Fürsorge geschlossenen Nation und das Ziel „eines allgemein sittlichen Weltbundes", in dem „die Menschen sich mit allen Kräften, mit Herz und Geist, Verstand und Liebe vereinigen", liegt, wie alle Ideale, hoch über uns. Aber es ist gewiß, daß wir uns von ihm nicht entfernen, sondern auf dem rechten Wege sind, wenn wir das Bildungsstreben überall fördern und neben der Sorge für die wirtschaftliche Hebung die ideale Seite, die doch in Wirklichkeit etwas höchst Reales ist, niemals aus dem Auge lassen. IV. Des Leichtsinns aber und einer gefährlichen Schnellfertigkeit würden wir uns schuldig machen, wollten wir uns einfach bei der These beruhigen, das moderne Bildungsstreben sei sittlich und sozial genommen höchst wertvoll und müsse daher in jedem Sinne gepflegt werden. Wir haben vielmehr die Pflicht, sowohl die Einwürfe ins Auge zu fassen, welche gegen dasselbe erhoben werden, als auch die besonderen G-efahren zu erkennen, die ihm anhaften. Eben dadurch werden wir seine sittlich-soziale Bedeutung tiefer erfassen. Als erste Gefahr, die uns hier entgegentritt, erscheint die Gefahr der Halbbildung. Es sind nicht nur „Reaktionäre", sondern auch sozial gesinnte und einen gesunden Fortschritt begünstigende Männer, die das moderne Bildungsstreben und die Einrichtungen, die für dasselbe geschaffen werden, mit Besorgnis betrachten. Wir kommen ihnen auch freiwillig mit dem Zugeständnis entgegen, daß die Gefahren der Halbbildung, nämlich Unklarheit, Verwirrung und wiederum törichter Hochmut und Unzufriedenheit, nicht beseitigt werden können, ja sich vielleicht in einigen Köpfen unter den gegebenen Verhältnissen noch steigern werden. Aber deshalb dem modernen Bildungs-
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streben entgegenzutreten nnd es niederzuhalten, wäre das Verkehrteste, was wir tun könnten. Niederzuhalten vermögen wir es überhaupt nicht; denn es ist viel zu mächtig; wir würden es nur auf schlechte Belehrung und schlechte Unterweisung zurückwerfen. Den G-efahren der Halbbildung kann man doch nicht durch die "Verdammung zur Unbildung entgegentreten, sondern nur durch „Ganzbildung". Die besten Männer müssen in dieses Werk eintreten, und die besten Bücher müssen für dasselbe geschrieben werden. Mit den wichtigsten Ergebnissen der "Wissenschaften muß der Sinn für ihre Methoden und für die unendlichen Schwierigkeiten einer gesicherten Erkenntnis auf allen Gebieten erweckt werden. Wo er erweckt ist, da ist schon die Hauptsache gewonnen, da ist die größte G-efahr der Halbbildung abgewehrt. Und er kann erweckt werden. Gewiß, die höchste Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis kann niemand erfliegen, und einen königlichen Weg zu ihr gibt es nicht; die großen Denker werden immer einsam sein, und es wird stets eine Wissenschaft geben, die nicht für die Massen ist. Aber wie die Bildung, so hat auch die Wissenschaft ihre Stufen, und es ist nicht wahr, daß die frischere Luft nur auf dem höchsten Gipfel des Gebirges weht. Der schlechte Klang, den das Wort „populäre Wissenschaft" hat — fast lautet es wie Pseudowissenschaft —, braucht ihm nicht immer anzuhaften; ich meine, er ist zum Teil schon verschwunden. Wo das Halbwahre und Triviale verbannt, wo die Ehrfurcht vor der Wahrheit und ihrer Erforschung erweckt, wo dem einzelnen der wissenschaftliche Stoff geboten wird, der ihn in seinem Kreise wirklich zu fördern vermag, da ist die populäre Wissenschaft eine gute und rechte Wissenschaft. Mit dem zuletzt Gesagten bin ich bereits einer zweiten Gefahr entgegengetreten, die dem modernen Bildungsstreben anhaftet, der Gefahr der Gleichmacherei. Sie erscheint mir besonders groß und verderblich; sie ist es auch vornehm-
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lieh, die zu der schlimmen Halbbildung führt, ja auf die Dauer die "Wissenschaft selbst zugrunde richten muß. Ihre Folgen sind in jeder Richtung verhängnisvolle. Sie wirkt antisozial, löst die gegebenen Grundelemente der Gesellschaft auf und hält die Entwicklung selbständiger und eigenartiger Individuen nieder. Unter Gleichmacherei verstehe ich das Bestreben, ohne Rücksicht auf die Unterschiede des Geschlechts, der Individualität und des Berufs ein und dieselbe Bildung und darum auch einen und denselben Bildungsgang möglichst vielen geben oder vorschreiben zu wollen. "Was dabei herauskommt, lehrt uns der Untergang der antiken "Wissenschaft; wir haben es aber selbst schon in schlimmen Erscheinungen gesehen und werden wohl noch mehr Lehrgeld zahlen müssen. Verständlich scheint es ja wohl, daß, nachdem viele äußere Schranken gefallen sind, nun kurzweg das scheinbar Einfachste versucht und wo möglich allen das Gleiche zuteil werden soll; aber die oberflächlichste und verderblichste Vorstellung von Bildung liegt diesen Bestrebungen zugrunde — als ob sie wie ein äußeres Ding übermittelt werden könnte, während sie doch überhaupt nur im Zusammenhang mit der Eigenart und dem Beruf des Individuums besteht. Von ihnen abgesehen ist sie nichts als ein Firnis, ein zäher Schleim, oder vielmehr, sie ist etwas viel Schlimmeres, ein Gift, welches die Frische und Gesundheit des Geistes und der Seele, ja oft auch des Körpers zu zerstören vermag. Hier kann ich auch die moderne Frauenbewegung in manchen Erscheinungen von schweren Vorwürfen nicht freisprechen. Entschuldigungen will ich gleich voranstellen: der harte Kampf um das tägliche Brot und um einen Platz an der Sonne, das rühmliche Streben nach wirtschaftlicher Selbständigkeit und wiederum das leidige Berechtigungswesen und die Konkurrenz mit der männlichen Arbeit, in welche die Frauen zurzeit oftmals treten müssen, das sind E n t schuldigungen genug. Aber wenn heute von verschiedenen
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Seiten die Parole ausgegeben wird, weil die Frau dem Manne gleichwertig sei, so müßten ihr auch durchweg dieselben Berufe und derselbe Bildungsgang eröffnet werden wie dem Manne, so kann ich darin nur eine Verirrung sehen, und wenn vollends hin und her die Miene angenommen wird, als sei die Frage „cuius generis" in Hinsicht auf Beruf und bürgerliche Stellung überhaupt eine veraltete, wenn in diesem Zusammenhange sogar an der Ehe gerüttelt wird, so droht uns die Auflösung. Ich nehme nichts von dem zurück, was ich in diesem Vortrage über das Recht der Frauenbewegung ausgesprochen habe; aber ich lehne die Konsequenz ab, daß die Frauenbildung einfach nach dem Schema der Bildung des Mannes einzurichten sei und daß es ein gesunder Zustand sei, wenn die F r a u überall mit dem Manne in Konkurrenz tritt. Gleichwertigkeit ist doch nicht Gleichartigkeit; jene bleibt bestehen, selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß die F r a u intellektuell dem Manne durchschnittlich nicht gewachsen ist. Was sich aber längst f ü r jeden, der sehen will, herausgestellt hat, ist in bezug auf viele Berufe die körperliche Minderwertigkeit der Frau. Die schwierige Aufgabe der Zukunft wird darin bestehen, den Frauen die rechten Berufe abzugrenzen und innerhalb derselben eine Ordnung der Dinge vorzunehmen, wie sie der geistigen und physischen Organisation der Frau angemessen ist. Hier sind wir erst in den Anfängen, und Opfer an gesunden Menschenleben wird es kosten, bis die Aufgabe gelöst ist. Unterdessen ist schon jetzt sorgfältig jede Gleichmacherei zu verbannen, wo die Schädlichkeit einer solchen offen am Tage liegt. Dazu: gewiß ist die F r a u nicht nur f ü r die Ehe und die Familie, aber sie ist in erster Linie f ü r sie zu erziehen. Der Einwurf, daß man den Mann doch nicht in erster Linie f ü r diese erziehe, stammt bereits aus einer verkehrten Betrachtung der Dinge. Diese erscheint gesteigert, wenn wir heutzutage wieder, wie einst im Mittelalter, die Frage erörtert sehen, ob denn über-
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haupt die Ehe ein einer freien Persönlichkeit würdiges Verhältnis sei. Es sind nicht nur frivole Weltmenschen, welche diese Frage aufwerfen — wenn sie auch von den Überzeugungen, die einst zum Mönchtum geführt haben, sehr weit entfernt sind. Dennoch vermag ich in diesen Erwägungen nur das Symptom einer ebenso unevangelischen wie antisozialen Stimmung zu erkennen, die höchst unerfreuliche Äußerung eines Egoismus, der dadurch nicht wertvoller wird, daß er auch mit dem Bildungsstreben sich verbindet. Die ruchlosen Versuche aber, die Grundfesten der Gesellschaft an diesem Punkte zu sprengen und offen die Ehe verächtlich zu machen — es gibt leider schon eine ganze Literatur darüber, eine „schöne" Literatur — , lasse ich grundsätzlich beiseite. Die gefährliche Gleichmacherei zeigt sich indessen nicht etwa nur in bestimmten Erscheinungen der Frauenbewegung und des sexuellen Problems; sie ist auch sonst zu bemerken. "Was man ihr entgegenzusetzen hat, das will ich an der Charakteristik dartun, die einst M o m m s e n in einer wundervollen Rede von Kaiser Wilhelm I. gegeben hat. Er sagt: „Kaiser "Wilhelm war, was der rechte Mann sein soll, ein Fachmann. Eine bestimmte Disziplin beherrschte er vollständig; seinem hohen Berufe entsprechend lebte und webte er in der Theorie wie der Praxis der Militärwissenschaft. Es werden nicht viele sein, die ihre Jünglings- und Mannesjahre mit solchem Ernst wie er ihrer Wissenschaft gewidmet haben. Also war er kein Dilettant. Er wußte sich am Schönen zu erfreuen und ist der Erörterung wissenschaftlicher Fragen oft und gern gefolgt." Hier ist das Element genannt, welches der Gleichmacherei entgegenzusetzen ist. Fachbildung muß zuerst geboten werden, und sie muß der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für alle fortschreitende Bildung sein; in konzentrischen, immer weiteren Kreisen hat sie sich an jene anzuschließen. So wird der Dilettantismus, der die Folge aller Gleichmacherei ist, abgewehrt
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und zugleich, jene Ehrfurcht vor der "Wissenschaft erzeugt, die aufgeschlossen und bescheiden zugleich macht. Aber noch eine dritte G-efahr ist ins Auge zu fassen, und sie entspringt aus dem besonderen Charakter des modernen Bildungsstrebens als eines Strebens nach Erkenntnis des Wirklichen. In diesem Streben liegt ein hohes Gut, aber wenn mit ihm nicht eine starke sittliche Bildung verbunden ist, so wird es schädlich. Groethe sagt einmal von einem seiner Freunde, daß er mehr Talent und Wissen habe, als er nach dem Maß seiner Charakterstärke ertragen könne, und an einer anderen Stelle spricht er das tiefe Wort aus: „Alles, was unseren Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich." Kurz und schlagend ist hier formuliert, worauf es ankommt; die Aufgabe aber, die damit unserem Bildungsbetriebe gestellt ist, ist die ernsteste. Wir sollen wissen, daß wir mit allen unseren vortrefflichen Einrichtungen zur Verbreitung der Kenntnisse und der Wissenschaft nur erst die Hälfte unserer Aufgabe, ja nicht einmal die Hälfte, geleistet haben. Wenn wir es nicht vermögen, auf den sittlichen Zustand derer, die wir unterrichten, einzuwirken, so betreiben wir eine gefährliche Sache. G-ewiß liegt in einem ernsten Wahrheitsstreben und in der Beschäftigung mit der Wissenschaft selbst schon ein hohes sittliches Element, aber es muß auch hervorgeholt und dem Hörenden zur Darstellung gebracht werden. Es ist vor allem die Persönlichkeit des Lehrenden selbst, die von der sittlichen Kraft der Wahrheit gestählt sein und einen Eindruck von ihr hervorrufen muß; denn auf jeder Stufe des Unterrichts, auch auf den höheren, ist die Persönlichkeit des Lehrers von entscheidender Bedeutung. Lernen können wir alles mögliche aus Büchern und aus unpersönlichen Überlieferungen, gebildet werden können wir nur durch Bildner, durch Persönlichkeiten, deren Kraft und Leben uns ergreift. Daß aber in dieser Hinsicht der gegenwärtige Betrieb der Bildung vieles zu wünschen übrig
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läßt, wer kann das leugnen? Zu dem heutigen Betriebe der "Wissenschaft muß die volle hoffende, liebende, sittlich starke, glaubende Persönlichkeit hinzutreten, reifer ausgebildet und lebendiger als je früher. An ihr muß es den Schülern deutlich werden, daß alle tiefere Bildung Umbildung ist, schmerzliche, aber befreiende Umbildung: es muß etwas Altes untergehen und etwas Neues wachsen und werden. Im engsten Zusammenhange damit steht noch ein anderes, und es ist die Hauptsache: alle wahre Bildung strömt aus der Quelle einer geschlossenen "Weltanschauung und hat schließlich nur soviel Wert als sie eine solche ausbaut. Eine geschlossene Weltanschauung kann aber nur eine idealistische sein, d. h. sie muß in der Uberzeugung wurzeln, daß der Wert des persönlichen Lebens und die sittliche Selbstgewißheit allem bloß Naturhaften übergeordnet ist und daß wir, wie wir in G-ott leben und weben, so auch ihm Rechenschaft schuldig sind. Aber durchdringt eine solche Weltanschauung d. h. ein seiner Sache gewisser Glaube heute die geistigen Führer unseres Volkes? Wer kann das behaupten? Seit dem Untergang der Aufklärung am Anfang des 19. Jahrhunderts haben wir keine einheitliche, uns hebende und erhebende Weltanschauung mehr. Weder die Restaurationen des kirchlichen Glaubens noch die großen idealistischen Systeme haben eine solche für unser Volk zu schaffen vermocht. Dieser Zustand, der schon lange anhält, die Glaubenslosigkeit sowohl wie die Griaubenszerrissenheit, ist der tiefste Schade in unsrem heutigen Dasein; er ist die Ursache unsrer Schwäche in jeder Hinsicht, unsrer Schwäche auch gegenüber dem politischen Religionssystem des Katholizismus. Den Materialismus haben wir als System so ziemlich überwunden; man kann sagen, die Zeit und der heilende Einfluß der Natur haben diese Krankheit geheilt; aber deshalb sind wir noch lange nicht gesund; denn eine
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solche Heilung schafft keine wirkliche Gesundheit. Es ist kein Theologe, sondern ein Gegner derselben, der Philosoph J o h n S t u a r t Mill, der in seiner Selbstbiographie folgende Worte geschrieben hat: „Wenn die philosophischen Geister der Welt nicht länger an ihre Religion glauben oder nur mit Modifikationen daran glauben können, welche den Charakter derselben wesentlich verändern, so beginnt eine Ubergangsperiode schwacher Überzeugungen, gelähmter Yerstandeskräfte, lauer Grundsätze, die kein Ende nimmt, bis eine Erneuerung bewirkt ist, welche zur Entwicklung eines religiösen oder rein menschlichen Glaubens führt. Solange dieser Zustand anhält, hat alles Denken und Schreiben, das nicht auf eine solche Erneuerung hinarbeitet, sehr wenig anderen als momentanen Wert." Lassen wir „einen rein menschlichen Glauben", unter welchem ich mir im Gegensatz zu einem religiösen nichts vorzustellen vermag, beiseite, so hat M i l l den gegenwärtigen Zustand und das, was zu geschehen hat, sehr richtig beschrieben. Man erwarte ja nicht, daß der bloße Betrieb der Einzelwissenschaften hier etwas ändern kann. Weder die Wissenschaften noch die Wissenschaft vermag hier etwas. Zur Einkehr in die eigene Seele muß man die Menschen aufrufen, damit sie neben den ungeheuren Wirklichkeiten, die durch die Kenntnis der Wissenschaften auf sie eindringen, die Wirklichkeit der Wirklichkeit nicht übersehen oder vergessen. Diese Wirklichkeit aber sind zunächst sie selbst, ihre Seele, ihr über die Natur erhöhtes Dasein. Das ist freilich kein Wissen, sondern ein Glauben, weil es nur als werdende und strebende Uberzeugung vorhanden ist; aber es ist die K r a f t alles geistigen und schließlich auch alles sozialen Seins. „Das Charakteristische des Glaubens ist der Antrieb zum Schaffen, das Charakteristische des Unglaubens ist die Zerstörung der Schaffensfreudigkeit, die Leugnung des schöpferischen Berufes, das Zurückwerfen der Menschheit auf das unmittelbare Sein und den un-
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mittelbaren Trieb, der Überdruß an der Vergeistigung des Daseins und endlich am Dasein selbst." Weil nun die heutige Wissenschaft — und sie kann nicht anders — überall auf die Anfänge zurückgeht und überall, der genetischen Methode folgend, die Dinge auf ihre primitivsten Elemente und auf den niederen Ort, wo sie entstanden zu sein scheinen, zurückführt, so vermag sie in der Tat schwache und haltlose Geister übel zu verwirren und scheint solchen, die an ihre eigene Wertlosigkeit schon so wie so glauben, eben diese noch zu bestätigen. Dieser Zustand ist gewiß nicht unüberwindlich — es wird die Zeit kommen, da man erkennen wird, daß die Entwicklungen in Wahrheit wie fortgesetzte Schöpfungen wirken, in denen neue Größen und Werte entstehen, — aber er ruft uns auf, alle unsre Kräfte anzuspannen, um ihm zu begegnen. Nirgendwo dürfen wir es geschehen lassen, soweit es in unsren Kräften steht, daß Wissenschaft gelehrt und Bildung verbreitet wird, ohne daß zugleich das sittliche Selbstbewußtsein gekräftigt, die innere Zusammenfassung der Persönlichkeit gestärkt und das Leben mit Ewigkeitsgehalt erfüllt wird. Nirgendwo dürfen wir dies geschehen lassen, am wenigsten aber dort, wo wir Kenntnisse über den sozialen Aufbau und das soziale Leben verbreiten. Unter allen Parolen, die ausgegeben worden sind, ist keine bedenklicher als die, man müsse das soziale Leben vorherrschend oder ganz ausschließlich als wirtschaftliches betrachten und man müsse das wirtschaftliche eben nur als wirtschaftliches ins Auge fassen. Diese Parole ist erstens bedenklich, weil sie falsch ist, und sie ist ferner verhängnisvoll, weil sie blinden und trivialen Vorurteilen entgegenkommt und den sittlichen Aufschwung lähmt. Die sie ausgeben in gutem Glauben, durch diese Betrachtung die Dinge zu vereinfachen und leichter G-ehör zu finden, wissen nicht, was sie tun; zum G-lück werden sie selbst durch ihr eigenes Verhalten widerlegt. In der
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Tiefe aller großen sozialen Fragen und aller Erkenntnisprobleme stößt man auf das sittliche Element und damit auf das religiöse. Vernachlässigt man sie, so schädigt man die Wirklichkeit der Dinge und die Menschen. Aber auch das hilft uns nichts, daß wir etwa das "Weltbild, welches uns die Kenntnis der äußeren Dinge bietet, durch allerlei ästhetische Gedanken aufzustutzen und zu idealisieren versuchen: bei schärfer Blickenden werden wir damit wenig gewinnen, und das, worauf es ankommt, wird doch nicht erreicht. Dem persönlichen Werte der Menschenseele und ihrem inneren Leben, aber auch jener brüderlichen Verbindung der Menschen, die als Ideal vor uns liegt, entspricht nur der christliche G-ottesgedanke: G-ott ist der Herr und Er ist die Liebe. Wie wir von ihm und zu ihm geschaffen sind, so soll auch unsre Erkenntnis und Bildung in ihm begründet bleiben. Diese G-esinnung erhebt uns aus dem Vergänglichen ins Dauerhafte und Ewige; sie adelt auch die geringste Arbeit und vernichtet jeden bloß scheinbaren Wert. In dieser Gesinnung sollen wir schaffen und bilden. Die sich in diesem Kongresse zusammengefunden haben, sind allesamt der Uberzeugung, daß dem so sein soll und daß wir in freiem Anschluß an die Überlieferungen unserer evangelischen Kirche, wie es Protestanten gebührt, diese Aufgabe zu erfüllen haben. Aber wie viel ist hier zu tun, und wie gering sind Sorge, Fleiß und Anstrengung! Das moderne Bildungsstreben hat uns das weiteste Feld geöffnet, und niemand kann sich damit entschuldigen, daß er nicht auf Fels oder unter die Dornen säen wolle. Bereitschaft zu hören, zu lernen, auszutauschen und zu erwägen ist vorhanden. Mit den sozialen Problemen ist auch der Sinn für die tiefsten Fragen des Menschenlebens lebendig; denn sie hängen aufs engste zusammen, ja sie sind eins. Unser ist die Schuld, wenn das moderne
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Bilchmgsstreben schließlich an sich selbst verzweifelt, weil es die Nahrung nicht erhält, welche es sucht, oder nur eine Nahrung, die nicht mehr nährt, wenn es in Überdruß und Skeptizismus ausmündet, wenn ihm die "Wirklichkeit schal und die "Wissenschaft fruchtlos erscheint. Dahin darf es nicht kommen. Möge auch der heutige Tag an seinem Teil dazu beitragen, das Gefühl der Verantwortung unserem Volke gegenüber zu erhöhen und unsre Kraft zu stärken! Alle Entdeckungen, alles Wissen, im Momente so berauschend, wird rasch trivial und wirkungslos; wenn es aber zugleich den inneren Sinn vertieft und belebt, ihn umbilden hilft zu einem höheren Sein, so hat es ewiges Leben in sich.
DIE NOTWENDIGKEIT DER ERHALTUNG DES ALTEN GYMNASIUMS IN DER MODERNEN ZEIT
Vortrag gehalten in der Versammlung der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg am 29. November 1904. Erschienen im Druck bei der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin; 1. Aufl. 1905, 2. Aufl. 1910.
Über die Notwendigkeit der Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit soll ich zu Ihnen sprechen, und Ihr Erscheinen zeigt, daß Sie die Erörterung der Frage nicht für überflüssig halten. Daß sie überhaupt aufgeworfen wird, scheint ihr bereits ein ungünstiges Prognostikon zu stellen: man fragt nicht nach dem Rechte einer Einrichtung, wenn sie sich der allgemeinen Anerkennung erfreut. Bereits die Frage zeigt, daß Bedenken, Zweifel oder Verstimmungen aufgetaucht sind. In der Tat — sie sind in reichem Maße vorhanden. Längst haben sie sich zu Angriffen auf das alte Gymnasium verdichtet, und auch das große Zugeständnis, das infolge der Schulkonferenz vom Jahre 1900 gemacht worden ist, hat sie keineswegs zum Verstummen gebracht. Ein unverbrüchlicher Königsfriede, so dachte man, werde nun eintreten; allein wir täuschten uns; die Angriffe begannen aufs neue, und die Presse, dieses Thermometer der öffentlichen Meinung, nimmt, wenige Ausnahmen abgerechnet, mit einer Einmütigkeit gegen das klassische Gymnasium Partei, die sonst in diesem Chor der Dissonanzen nicht häufig ist. Indessen, wir könnten uns dem gegenüber mit der Erwägung trösten, daß trotz allem die Fortexistenz des alten Gymnasiums nicht ernstlich bedroht erscheint. Wo sind denn die dunklen Wetterzeichen, die wirklich seinen Sturz befürchten lassen? Ich kenne sie nicht, aber etwas anderes kenne ich, und das sind die Bedenken, die in uns selber auftauchen, wenn wir über diese wichtige Frage nachdenken. Sind wir wirklich im Bunde mit dem Genius der Gegenwart und Zukunft, wenn wir das alte Gymnasium ver-
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teidigen ? Versuchen wir nicht die Zeit zurückzuhalten, indem wir eine Einrichtung der Vergangenheit verewigen wollen? Versperren wir nicht Notwendigerem und Besserem den Weg, wenn wir uns in unserer alten Festung verschanzen? "Wem diese Fragen nicht Herz und Sinn bewegt haben, der ist jedenfalls nicht berufen, das alte Gymnasium zu verteidigen. Nur wer es zu verteidigen vermag, obgleich er jene Stimmungen kennt und würdigt, wird Aussicht haben, etwas zu erreichen. Doch gehen wir zur Sache. Die Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit! Was heißt für unsere Frage „die moderne Zeit" ? Wir können die Antwort ganz streng in dem Rahmen der Schulverhältnisse geben. Die moderne Zeit bedeutet für uns die Tatsache, daß das Gymnasium sein Monopol verloren hat und daß zwei gleichberechtigte neunklassige Schulen neben dasselbe getreten sind. Was besagt diese Tatsache, und warum wurde sie perfekt? Sie besagt doch wohl erstens, daß, wer neun bzw. zwölf Jahre geistig gearbeitet hat, als so gereift und selbständig betrachtet wird, daß er zu jedem Beruf, den er sich nun erwählen will, zugelassen wird, daß ihm also von außen keine Schranke gezogen werden soll. Er selbst muß wissen, ob er für diesen oder jenen Beruf mehr veranlagt und ob er besser oder weniger gut für ihn vorbereitet ist. Die moderne Zeit also, die sich in dieser Zulassung ausspricht, ist dadurch charakterisiert, daß sie der Selbstbestimmung der Jünglinge, die zwölf Jahre hindurch eine höhere Schule mit Erfolg besucht haben, den weitesten Spielraum läßt. Ferner, die Gleichstellung dieser drei Schulen (klassisches Gymnasium, Real-Gymnasium, Ober-Realschule) ist unter dem Gesichtspunkte erfolgt, daß sie den Schülern wesentlich die gleiche Anstrengung, d. h. die gleiche Arbeitsleistung auferlegen und daß sie sie g e i s t i g arbeiten gelehrt haben. Das letztere erschien unzweifelhaft als die Hauptsache: in diesem „arbeiten lernen" erkannte man eine
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Gemeinsamkeit, hinter welcher die Verschiedenheiten zurücktreten mußten. Aber noch ein anderes ist in der Gleichstellung ausgeprägt — man hätte sie nicht vollziehen können und dürfen, wäre man nicht der Überzeugung, daß allen drei Schulen ein gewisses Maß von Bildung, inhaltlich angesehen, gemeinsam ist. Und ohne Zweifel ist dies der Fall: Deutsch, Geschichte, Religion, fremde Sprachen, Grundzüge der Mathematik, Grundzüge der Mechanik und Physik werden auf allen gelehrt. Die drei Schulen haben also ein großes Maß von Gemeinsamem, und zwar von Gemeinsamem in verschiedener Richtung, auch in der idealen. Es wäre anmaßend und lächerlich, zu meinen, daß der Idealismus an der klassischen Bildung in ausschließlicher, ja auch nur in ganz besonderer Weise hafte. Er kann überall entwickelt werden, und es gibt überhaupt keinen Lehrgegenstand, an dem er nicht aufleuchten könnte, wie es keinen gibt, an dem er nicht ruiniert werden kann. Aber noch etwas tritt uns schließlich an jenen drei Schulen und ihrer Gleichstellung entgegen. Eine jede von ihnen bietet in ihrer Weise eine zweckmäßige Vorbereitung für bestimmte größere Gruppen von Fächern und Berufszweigen. Indem wir sie als gleichwertig beurteilen und ihnen dieselben Rechte zusprechen, erkennen wir an, daß die höheren Aufgaben des modernen Lebens so kompliziert geworden sind, daß wir uns zu einer Teilung der Wege entschließen müssen. Was bedeutet diese Teilung? Sie besagt, daß es nicht mehr angeht, die Knaben und Jünglinge bis zu ihrem neunzehnten Jahr ohne jede Rücksicht auf spezielle Berufe auszubilden. Das Wichtigste bleibt gewiß, was man die formale und die allgemeine Bildung nennt — arbeiten lernen, Schulung des Geistes, Erweiterung und Belebung des höheren Sinns und eine Übersicht über die Hauptgebiete der menschlichen Erkenntnisse und Kräfte. Allein, da die Fachschulung heute viel komplizierter und
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schwieriger ist als früher, der junge Mann also Jahre bedarf, um sich in die Theorie und Praxis eines besonderen Berufs einzuleben, so muß er schon vor dem 19. Jahre, wenn auch nur anfangsweise, für diesen Beruf vorbereitet werden. Er kommt jetzt schon — und das ist eine schwere Kalamität! — in der Regel viel zu spät in einen verantwortungsvollen Beruf; er bleibt viel zu lange im Stande des Schülers und Aspiranten. Daher muß alles geschehen, um diese Zeit zu verkürzen. Die Eröffnung verschiedener Wege, auf deren jedem bereits im Rahmen der allgemeinen Bildung ein Stück Fachbildung vorweggenommen wird, ist daher eine Notwendigkeit, welche die moderne Zeit uns auferlegt. Wir müssen aber noch etwas tiefer graben in dieser Frage. Jede Schule hat ihr besonderes Ideal, ein bestimmtes Ziel, das sie mit ihren Mitteln erreichen will, vorausgesetzt, daß die Schule bis zum Ende durchlaufen wird. Sie wissen, die englische höhere Schule will den Knaben zum vollkommenen Gentleman machen. Was unser altes Gymnasium wollte und noch eben will, ist Ihnen allen auch bekannt. Ich darf versuchen, es zu formulieren: Das Ideal ist der an der Antike und der Geschichte gebildete, philologisch geschulte junge Humanist. Weil ihm nichts Menschliches fremd sein soll, muß er auch eine gewisse Kenntnis in der Mathematik und Physik haben; aber das Menschliche im engeren Sinn, der Mensch, ist sein eigentliches Gebiet, und sein großes Paradigma ist das klassische Altertum. Alle, welche bestimmt sind, in die leitenden oder ausführenden Stellungen in Staat, Kirche und Gesellschaft einzurücken, sollen eben diese Bildung besitzen — diese Uberzeugung lag dem Monopol des Gymnasiums zugrunde. Man glaubte nicht besser für jene großen Mächte sorgen zu können, als indem man ihre Leitung den „Humanisten", und den Humanisten ausschließlich anvertraute. Klar aber ist es nun, daß durch die Gleichstellung der drei Schulen jene Ordnung der Verhältnisse geändert ist:
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auch solchen sind nun die höheren Berufe geöffnet, die nicht „Humanisten" sind. Dann aber erhebt sich die Frage, welches denn das Bildungsideal und Bildungsziel sei, welches jetzt als die Voraussetzung für den Eintritt in die höheren Berufe verlangt wird? Wir müssen das Bildungsziel an den drei Schulen zugleich suchen und finden. So einfach wird es sich nicht ausdrücken lassen, wie das Bildungsziel des alten Gymnasiums. Wir werden etwa zu sagen haben: „Der junge Mann, der denken und geistig arbeiten gelernt hat, dem die Kräfte der Menschheit und der Wert der idealen Güter an der Geschichte und an fremden Sprachen aufgegangen ist, der die Grundzüge der Naturgesetze kennt und der für eines der großen Studiengebiete bereits eine gewisse Vorbereitung erlangt hat. Dies Ideal kann man augenscheinlich nicht mehr mit einer Sehlde erreichen. Warum nicht? Weil eine Schule nicht für alle Hauptfächer wirklich vorzubereiten vermag, da die Schule sonst zu vieles treiben müßte. Wir alle wissen, langsame Arbeit ist die Voraussetzung ruhiger Bildung, und auch eine gewisse Beschränkung in den Fächern ist die Voraussetzung ruhigen Bildungserwerbs. Es ist unmöglich, ein Vielerlei zugleich zu treiben; Halbwissen, Widerwille oder Dünkel sind die Folgen. Auch die Freude an der Arbeit entsteht nur bei einer beschränkten Auswahl von Fächern. Aber — die bange Frage erhebt sich dann — ist so überhaupt noch eine Einheitlichkeit vorhanden, und stellt das eben Zusammengefaßte wirklich noch ein einheitliches Ziel dar? Darauf muß ich antworten: nein und ja! In dem Sinne wie früher wird die akademische Jugend der Zukunft eine geistige Einheit nicht mehr bilden, und darum wird diese Einheit auch in den höheren Berufen fehlen. Aber ich darf Sie andrerseits an das erinnern, worauf ich bereits aufmerksam gemacht habe: der Bestand dessen, was den drei höheren Schulen gemeinsam ist, ist doch ein sehr er-
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lieblicher und großer. Es wird also alles darauf ankommen, diesen Bestand als einen gemeinsamen zu pflegen (Deutsch, Geschichte und die anderen gemeinsamen Fächer). Die Aufgabe der Zukunft wird sein, daß jede der drei höheren Schulen ihre Eigenart kräftig und mit einer gewissen Einseitigkeit ausbaut — nur dann hat sie ein Recht zu existieren und erleichtert ihren Zöglingen die Berufswahl und -Vorbereitung —, daß sie aber zugleich den geistigen Zusammenhang mit den beiden anderen Schulen und die allen gemeinsamen Güter bestimmt aufrechterhält. Ein Wetteifer sollte entstehen, in welchem jede der drei Schulen sich bemüht, das Gemeinsame besser zu entwickeln und zugleich die Eigenart sicherer zu entfalten als die andere! So haben es die Bestimmungen von 1900 und 1901 gemeint, und in diesem Sinne, ohne den sie alles "Wertes bar wären, stimmen wir ihnen freudig bei. Nicht „der Not gehorchend", sondern aus „eigenem Triebe" erkennen wir sie an, und so hat sich auch diese Versammlung zu ihnen bekannt. Sie sprechen aus, was notwendig ist, weil es sich aus dem Gange der Dinge, aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte mit Notwendigkeit ergeben hat. Aus dem bisher Ausgeführten folgt ohne weiteres, daß das alte Gymnasium, wenn es überhaupt erhalten werden darf und soll, jedenfalls in seiner Eigenart n i c h t zu s c h w ä c h e n , s o n d e r n zu s t ä r k e n ist. Aber darf es erhalten werden? Hat es eine Eigenart, die in der Gegenwart noch berechtigt ist? Was will das alte Gymnasium, unser Gymnasium, das wir lieben und für welches wir eintreten? Nun, das alte Gymnasium ist darauf gestellt, daß die beiden Sprachen Griechisch und Latein Hand in Hand und als die Hauptsache auf ihm getrieben werden. Es ist darauf gestellt, daß diese beiden Sprachen unter der Führung des Griechischen sich gegenseitig beleuchten, nicht nur als Sprachen, sondern auch als Literaturen und Kulturen. Dies ist sein Herzstück. Dabei kann die alte Frage, was
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wichtiger sei, Latein oder Griechisch, ruhig beiseite gelassen werden. Jedes von ihnen ist gleich wichtig, aber in anderer Richtung und Beziehung. Inhaltlich als höheres Bildungsmittel ist unstreitig das Griechische das Wichtigere; aber das Latein liegt uns unmittelbar näher als die Grundsprache der abendländischen Kulturentwicklung, als die nächste Voraussetzung unserer politischen und unserer Rechts- und Kirchengeschichte. Warum wünschen und fordern wir aber, daß in unserer modernen Zeit der Weg zu einer höheren Bildung offengehalten bleibt, der über die beiden alten Sprachen führt? Es scheinen mir hauptsächlich drei abgestufte Erwägungen zu sein, die hier in Betracht kommen. Wir wünschen es erstens, weil als Grammatik und Schule des Denkens keine moderne Sprache diesem Zweipaar gleichkommt. Sprachen sind nicht nur Scheiden, in denen das Messer des Geistes steckt, sondern die Sprache ist auch selbst der Geist. Aber Sprache und Sprache ist nicht dasselbe. Zwar verleiht jede Sprache, die wir lernen, unserem Geiste aufs neue Biegsamkeit und Schärfe, aber nicht jede in dem gleichen Maße. Wir sind der wohlerwogenen und bisher durch nichts widerlegten Uberzeugung, daß die Grammatik der alten Sprachen in ihrer Kraftwirkung und ihrem Bildungswerte durch keine moderne Sprache ersetzt oder erreicht wird, auch wenn man den modernen die lateinische oder griechische Grammatik künstlich aufpfropft. Diese Erfahrung bezeugen nicht nur Hunderte, ja Tausende von Schulmännern, sondern auch Männer, die schlechterdings nicht in den Verdacht der Voreingenommenheit kommen können. Unter den Schulmännern aber ist namentlich das Zeugnis solcher von höchstem Werte, die dieselben Schüler sowohl in den alten Sprachen als auch in den modernen unterrichten und dabei für die modernen Literaturen eine besondere Vorliebe haben. Auch sie haben öfter erklärt, daß die grammatische und logische Schulung des Geistes, welche eine Frucht der
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alten Sprachen ist, von den modernen nicht erreicht wird. Wer aber Griechisch wirklich kann — ich kann es nur teilweise —, dem geht der Mund über, wenn er für diese Sprache zeugen soll: sie ist ein Teil seines Geistes geworden, und er weiß, wieviel er dieser in jeder Hinsicht unendlich reichen Sprache als Sprache verdankt. Wort, Form und Gedanke lassen sich hier wahrlich nicht trennen! Zweitens kommt die einzigartige Bedeutung in Betracht, die den beiden alten Sprachen in Hinsicht auf die Geschichte und die Kultur zukommt. Hier liegen die Grundlagen unserer geistigen Entwicklung; an dieser Tatsache vermag niemand etwas zu ändern. Wer daher tiefer in die Geschichte unserer Bildung eindringen will, muß alte Geschichte, d. h. er muß Griechisch und Lateinisch studieren. Ferner aber, sie stellen einen abgeschlossenen Kreis dar, einen Kreis, dessen Anfang, man kann auch fast sagen Mitte und Ende, vor uns liegt und den wir leidenschaftslos betrachten können. Und in diesem Kreise zeigen sich die menschlichen Dinge in einfachen, schönen, durchsichtigen und großen Verhältnissen. Vergleichen wir sie mit den komplizierten Verhältnissen der modernen Zeit — das Mittelalter kommt in dieser Beziehung überhaupt kaum in Betracht —, so werden wir nicht durch eine unübersehbare Vielheit sich kreuzender Linien gestört. Wir sind auch nicht ratlos in bezug auf die Haupt- und die Nebensachen; alles stellt sich in festen Strukturen dar. Werden und Sichentfalten, Aufstieg und Niedergang, Spielraum der Kräfte, Ursache und Wirkung, Werte und Unwerte, Gemeinschaft und Persönlichkeit — das ganze Gewebe der Geschichte tritt uns nirgends so klar entgegen wie hier. Weiter aber, diese antike Welt mit ihrem Geist, ihrer Literatur und Kunst hat dreimal in die Geschichte unseres Vaterlandes und ganz Westeuropas entscheidend eingegriffen — bei der Ausbreitung des Christentums, im Zeitalter der
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Renaissance, und im Zeitalter Winckelmanns und Wilhelm von Humboldts beim Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert. Man kann einwenden: „Dieses war das letzte Mal." Möglich! — aber ebenso möglich ist, daß es das dritte Mal gewesen ist. Propheten sind wir alle nicht. Gewiß ist nur, was gewesen ist, und da steht es fest, daß wir bisher in unserer Geschichte noch keine Periode höheren Aufschwungs ohne die Griechen erlebt haben. Man muß aber endlich noch auf ein Drittes hinweisen. "Wo kann ein junger, heranwachsender Mann sicherer berührt werden von persönlichem Leben, von freier Individualität, von einer genialen Naivität, wo kann er besser einen Sinn für die Beweglichkeit und Freiheit des höheren Lebens und des persönlichen Lebens gewinnen als an diesen Gestalten der Antike! Wieviel schwerer wird ihm das überall dort gemacht, wo er in die eigene Zeit geführt wird. Patriotische Begeisterung wird er gewiß leichter an der vaterländischen Geschichte gewinnen können. Aber wenn Bildung in erster Linie Verständnis ist für alle Grundformen und Äußerungen des Menschlichen, wenn sie sich als Elastizität des Geistes, als gezügelte Phantasie und als wiedergewonnene Naivität darstellt, wenn sie Aufgeschlossenheit für das wahrhaft Große, Ehrfurcht und Selbstbehauptung zugleich bedeutet — wo kann man das besser lernen als bei den Griechen? Gewiß, die feine Psychologie moderner Historiker und Dichter leuchtet oft tiefer in die Menschen und ihre Geschichte hinein, als irgendein antiker Schriftsteller getan hat. Und doch hat man mit Recht von „der unerhörten Genialität der Griechen" gesprochen. Unerreicht sind sie in der Verbindung des Großen mit dem Einfachen, des Gedankens mit der Simplizität. Überall sind ihre Linien stark wie die der Natur, und ihre Hervorbringungen — auch die tiefsten — ungleich eindeutiger als die unsrigen. So sind sie die bleibenden Lehrmeister des Geistes. Dabei können wir den sozusagen häuslichen Streit zwischen den
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Gräzisten, die mehr das Klassische betonen, und denen, die mehr die Errungenschaften der alexandrinischen Zeit ins Auge fassen, ganz beiseite lassen. Es handelt sich hier nur um Akzente, die stärker dieser oder jener Epoche aufgesetzt werden sollen. Beide sind unentbehrlich, und in beiden stellen sich die erstaunlichen Errungenschaften der Griechen dar. Zu diesen will unser Gymnasium die Jugend führen: es ist eine erbärmliche Vorstellung, daß sie in Sekunda und Prima nur grammatisch gedrillt und formalistisch geschult werden soll! Das sind die Gründe, aus welchen wir wünschen und fordern, daß unserer Jugend das Griechische und Lateinische erhalten bleibt. Andere Gründe besitzen wir nicht. Weit weisen wir es von uns, daß wir etwa aus konservativreaktionären Interessen, oder weil wir kein Verständnis für die moderne Zeit haben, die Erhaltung des Gymnasiums wünschen. Noch weniger denken wir daran, das alte Gymnasium aufrechtzuerhalten, weil etwa die Religion auf dieser Schule besser konserviert werden kann als auf einer anderen. Die Halleschen Pietisten im Anfang des 18. Jahrhunderts glaubten vielmehr umgekehrt, das alte Gymnasium sei der Religion schädlich, dagegen werde das Realgymnasium die Religion fördern oder doch nicht stören. Sie hatten von ihrem Standpunkte aus wahrscheinlich recht. Doch die Fächer machen es hier nicht, sondern der Geist, in welchem sie betrieben werden. Auch nicht deshalb halten wir am alten Gymnasium fest, um unsere Jugend vor dem Banausentum, vor dem Handwerksmäßigen und bloß Zweckmäßigen in der Schule zu schützen. Diese Beleidigung aller anderen Schulen liegt uns ganz fern; wir wissen sehr wohl, daß jedes ernste Studium zur Hingebung an die Sache führt und alle idealen Kräfte des Menschen zu entwickeln und zu beflügeln vermag. Endlich, wir denken auch nicht deswegen daran, das Gymnasium zu erhalten, weil die gymnasiale Bildung un-
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bedingt die schwerste ist — sie ist gar nicht für jeden die schwerste — oder weil wir nur „das Höchste" haben wollen. Die Frage nach dem Höchsten lassen wir ganz dahingestellt. Sie ist individuell verschieden zu beantworten: unzweifelhaft gibt es Knaben mit sehr hohen Anlagen, die man nicht ins Gymnasium schicken sollte, sondern auf die OberRealschule. "Wir halten also an dem Gymnasium fest, erstlich weil in dem Gewebe unserer vaterländischen Kultur der Strang, der durch die gymnasiale Bildung bezeichnet ist, schlechthin unentbehrlich und notwendig ist, und zweitens, weil wir darin die beste Vorbereitung für ganz bestimmte Berufe sehen, nämlich für die der Philologen, der Theologen und auch für einen großen Teil der Staatsmänner und Juristen. Ich leugne nicht, daß es ganz zweckmäßig sein wird, wenn ein Teil der Juristen auch einen anderen Bildungsgang durchmacht und Mathematik und Technik studiert. Solange Juristen zu allem Möglichen herangezogen werden, ist es wünschenswert, daß einige von ihnen auch reale Kenntnisse in bezug auf die .Funktionen haben, die man ihnen anvertraut. Aber daß der größere Teil von ihnen diese Art Bildung auch ferner genießt, die nur das klassische Gymnasium geben kann, halte ich für dringend wünschenswert. Noch ist der Beweis nicht geliefert, daß die anderen Schulen für das "Wirken von Mensch zu Mensch so gut ausbilden wie das Gymnasium. Auch den Medizinern wünsche ich daher, wenigstens zu einem beträchtlichen Teil, die gymnasiale Vorbildung und befinde mich bei diesem Wunsche im Einvernehmen mit sehr vielen, wenn nicht mit der Mehrzahl der Ärzte. Umgekehrt wird es dem ganzen Stande aber auch gewiß nicht schaden, wenn ein Teil der Arzte die Vorbildung nicht auf dem Gymnasium erhält, dafür aber mit besseren naturwissenschaftlichen Kenntnissen die Universität bezieht. Mannigfaltigkeit, wenn Ernst und Tüchtigkeit regieren, ist kein Übel, sondern ein Vorteil.
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Innerhalb dieser Mannigfaltigkeit aber hat die auf dem Gymnasium zu erwerbende Bildung ihren unerschütterlichen Platz. Aber ich darf die Einwürfe nicht unberücksichtigt lassen, die man gegen die Fortexistenz des alten Gymnasiums geltend gemacht hat. Sind sie auch durch das, was wir bisher ausgeführt haben, bereits im voraus widerlegt, so dürfen wir sie doch nicht verschweigen. Sehe ich recht, so stehen fünf im Vordergrund. Der erste Einwurf lautet, das, was das eigentlich Bildende in der alten Kultur sei — und es sei nicht gering —, könne man auch aus Übersetzungen lernen. Immer wieder taucht dieser Einwurf auf, immer wieder wird er widerlegt. Er ist unbesieglich, einfach, weil er einen Teil Wahrheit in sich birgt, aber eben nur einen Teil. Die Arbeit, die man an einen Grundtext gesetzt hat, um ihn in die eigene Sprache überzuführen, kann samt ihrem Gewinn durch nichts ersetzt werden. Weiter aber, man bekommt im besten Falle doch nur drei Viertel des Originaltextes — wo es sich um eine schriftstellerische Individualität handelt — in die Übersetzung hinein. Wir haben virtuose Übersetzer des Horaz; fragen Sie sie, ob sie wirklich den ganzen Horaz übersetzt haben, oder ob er ihnen nicht zum Teil doch entschlüpft ist? Wenn sie ihn aber uns in unserer Sprache und in unseren Verhältnissen so vorstellen, wie die ersten lateinischen Leser ihn genossen haben mögen, geht nicht eben dadurch doch auch etwas verloren? Oder wie steht es mit Aristoteles' Politik oder mit dem Neuen Testament? Wörtlichkeit ist irreführend, aber virtuoses, modernes Deutsch führt vielleicht noch mehr in die Irre! Endlich, täuschen wir uns doch nicht! Übersetzungen sind solange leidlich belehrend, als es Leute genug gibt, die auch den Grundtext lesen und erklären können. Sobald die spärlicher werden oder wegfallen, werden auch die Übersetzungen immer weniger und zuletzt gar nicht mehr gelesen werden. Die Übersetzungen und ihre Kenntnis halten
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diejenigen aufrecht, die den Grundtext verstehen. Übersetzungen sind Zinsen: sie schwinden, sobald das Kapital zerstört ist. Natürlich kann man aus Ubersetzungen sehr viel lernen, und ich würde dafür stimmen, daß in OberRealschulen recht viele Ubersetzungen klassischer Schriften gelesen werden, würde auch auf den Gymnasien manches in Übersetzung lesen lassen. Allein das ist eine Sache für sich, und von hier aus kann kein Gegenbeweis gegen die These erhoben werden: wir brauchen eine große öffentliche Schule, die die Kenntnis des Latein und Griechisch bei uns lebendig erhält; wir brauchen sie um unserer Nation willen, und wir brauchen sie für bestimmte Berufsklassen. Ein zweiter Einwurf lautet: Lateinisch und Griechisch sind wichtig, aber es gibt sehr viel "Wichtigeres; wer bis zu seinem 19. Lebensjahre hauptsächlich jene beiden alten Sprachen getrieben hat, der ist für das Praktische und Aktuelle, für das moderne Leben nicht hinreichend vorgebildet; das Bessere ist notwendig Feind des Guten. Dagegen ist zu sagen, erstlich: unsere Naturforscher, Techniker und Mediziner, die zu einem großen Teile auf den alten Gymnasien gebildet sind, haben es mit denen anderer Nationen noch immer aufgenommen; zweitens: für bestimmte große Berufe — wir haben sie schon genannt — sind eben die alten Sprachen „das Praktische und Aktuelle"; drittens: für wie viele unserer jungen Leute, die Logarithmen und Kegelschnitte lernen, ja auch für wie viele, welche auf unseren Schulen die modernen Sprachen lernen, werden die hier erworbenen Kenntnisse im späteren Leben wirklich aktuell? Eine Statistik darüber, die freilich unmöglich ist, wäre interessant! Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich halte die Kenntnis der modernen Sprachen heute mehr denn je für unerläßlich; ich finde, daß auf den Schulen noch immer zu wenig für sie geschieht, und ich zweifle nicht, daß ein Teil der Jugend der Nation das Opfer der alten Sprachen bringen muß, um tüchtig Englisch und
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Französisch zu lernen; aber einseitig das Praktische und Aktuelle für die Schule geltend zu machen, scheint mir sekr bedenklich. Auch kann die Schule nicht allen alles leisten, sondern jedem etwas, aber alle soll sie arbeiten lehren und lehren, wie man eine Arbeit angreift. Dem Privatfleiße muß manches Wichtige überlassen werden, und der Gesichtspunkt der Vorbereitung für b e s t i m m t e Berufe darf auch in unserer modernen Zeit auf der Schule nicht übergreifen über den Gesichtspunkt einer f u n d a m e n talen Bildung. Ein dritter Einwurf wiegt wohl schwerer: Auf dem Gymnasium entstehe kein Können; auf anderen Schulen bringe man es leichter dazu, daß das „Kennen" sich in diesem oder jenem Fache in ein „Können" verwandele, und erst das Können gebe Freudigkeit. Das ist ein starker Einwurf. Es ist richtig, mit dem „Können" — was man gewöhnlich darunter versteht — ist es auf dem Gymnasium nicht weit her. Aber man muß doch fragen, was ist denn überhaupt das Können, welches von dem 18. oder 19. Lebensjahr in geistigen Dingen billig verlangt werden kann? Ist es der mündliche oder schriftliche Ausdruck in den fremden Sprachen? Nun, ich schätze diese Übungen sehr hoch, aber eine Sprache sprechen oder schreiben zu müssen, die die Umgebung nicht spricht oder schreibt, ist eine schwere Quälerei. Hier steht es in bezug auf die modernen Sprachen kaum anders als in bezug auf die antiken. Lernen wir aber Latein und Griechisch nicht nur um der Grammatik willen, sondern auch und hauptsächlich aus jenen Gründen, die ich vorhin genannt habe, so wird das „Können" hier darin bestehen, daß man sich mit einer gewissen Sicherheit, Freude und Nachempfindung in dieser Gedankenwelt bewegt, daß man in ihr orientiert ist, ungesucht die Parallelen zur Gegenwart zieht und komplizierte Verhältnisse unserer Zeit und wiederum Eigenheiten unserer Sprache und Denkweise mit einer gewissen Leichtigkeit von dort aus versteht
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und würdigt. Reichtum von Anschauungen, Lebendigkeit und Biegsamkeit des G-eistes, das bedeutet doch ein „Können"! So etwa wird man dem Einwürfe zu begegnen haben, der ja eine gewisse Wahrheit enthält, der aber weit über das Ziel schießen würde, wenn er jedes „Können" hier vermissen würde, weil eine sichtbare und meßbare Praxis fehlt. Es steht vielmehr umgekehrt: je mehr man in das Leben eindringt, desto sicherer erkennt man, daß alles wirkliche „Können" auf geistigem Gebiet von dem Reichtum, der Erfahrung und der Vielseitigkeit des G-eistes, sowie von der Kunst des Yerstehens abhängt. Die Praxis des Könnens stellt sich im gegebenen Fall schnell und sicher ein, wenn nur jene Bedingung des Könnens, die wahrhaft auch eine K u n s t ist, vorhanden ist. Viertens wird eingewendet, es möge mit dem Werte der alten Sprachen wie immer stehen, aber es sei unpädagogisch, mit ihnen, da sie so schwer seien, so früh zu beginnen und sie zur Hauptsache zu machen. Auf diesen Einwurf wird voraussichtlich der nächste Redner näher eingehen. Ich möchte ihm zunächst mit dem Hinweise begegnen, daß wir ja jetzt drei gleichgeordnete Schulen haben, und daß daher jeder einen anderen Weg wählen kann, dem dieser Weg zu schwierig scheint. Leider reicht meine Erfahrung nicht aus, um bestimmen zu können, ob dem Sextaner, Quintaner und Quartaner das Französische soviel leichter fällt als das Latein. Auf die Frage des sog. Reform-Gymnasiums einzugehen, versage ich mir. Ist es pädagogisch ein großer Fortschritt, so wird es sich selbst durchsetzen. Einstweilen glaube ich noch, daß unsere so verbesserten und immer mehr sich verbessernden didaktischen Methoden gewisse besondere Schwierigkeiten des Latein und Griechisch schon erleichtert haben und noch erleichtern werden. Übrigens — lernen ist überhaupt schwer, oder wo gibt es einen Lehrgegenstand, der leicht zu erlernen wäre ? Ich kenne keinen. Der Einwurf aber, der Sextaner wisse
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nicht, wozu er Latein lerne und das sei bedenklich, schreckt mich am wenigsten. Weiß er denn bei anderen Lehrgegenständen immer, wozu er sie lernt? Können wir im Unterricht den Weg überall so führen, daß unsere Jugend beim Wandern von Anfang an und stets das letzte Ziel sieht? Das wäre ein wahrhaft königlicher Weg, aber es gibt keinen solchen. Endlich sagt man, das G-ymnasium mache hochmütig; das dort G-elernte, eben die alten Sprachen, bilden eine Art von Geheimwissenschaft und Geheimkunst, und in diesem Besitze, der der großen Masse der Nation verschlossen sei, werde der Knabe und Jüngling aufgeblasen; ein Kastengeist sei unvermeidlich, er überdaure auch noch das Gymnasium und mache sich im Leben der Nation unliebsam geltend. Ich will das Recht dieses Einwurfs nicht in jedem Sinne bestreiten. Wo hat es je in der Geschichte Schulen gegeben, die ein Monopol besaßen und nicht mit dieser Gefahr zu kämpfen hatten? Aber man darf anderseits nicht vergessen, daß sich hinter den Kampf gegen den „Kastengeist" auch der Kampf der Unbildung und Halbbildung gegen die Bildung versteckt. Man sehe also zu! Zur Sache aber ist zu bemerken, daß, was an sich gut ist, nicht deshalb bekämpft werden darf, weil es auch Gefahren birgt. Zudem hoffen wir, daß die beiden anderen Schulen, die dem Gymnasium nun gleichgestellt sind, unsere Gymnasiasten in Zukunft immer mehr aus jener G-efahr herausführen werden. Die freieste Konkurrenz ist ja nun eröffnet. Ich bin am Ende; nichts Neues wollte ich Ihnen sagen, sondern Ihnen nur zusammenfassen und vor die Seele stellen, was wir an unserem Gymnasium besitzen und warum wir es zu erhalten wünschen. Wenn wir die drei Schulen als die drei Ringe betrachten, so sagen wir — und vielleicht war das auch Lessings geheime Meinung —, alle drei Ringe sind echt. Sie sind alle echt, aber der eine ist uns der liebste.
DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN UNIVERSITÄT UND SCHULE IN BEZUG AUF DEN UNTERRICHT IN GESCHICHTE UND RELIGION ANHANG: ZUR BEHANDLUNG DER RÖMISCHEN KAISERGESCHICHTE AUF DER SCHULE
Vortrag gehalten auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner am 25. September 1907 zu Basel. Im Druck erschienen in „Universität. und Schule", Leipzig und Berlin, B. G. Teubner, 1907. Der Anhang ist in der „Monatsschrift für höhere Schulen", 1. Jahrgang, 1902 erschienen.
Ich bin in den folgenden Darlegungen sofort in medias res gegangen und habe deshalb auch die a l l g e m e i n e n Forderungen beiseite gelassen, die sich auf die Verbesserung des Verhältnisses von Universität und Schule beziehen. Zu ihnen gehört vor allem eine freiere Bewegung des Unterrichts in den Primen und die Bezeichnung bestimmter Fächer als wahlfreier in diesen Klassen. Einige Ausführungen prinzipieller Art, die sich in der Bede finden und die den praktischen Vorschlägen zugrunde liegen, hätten wohl einer näheren Darlegung bedurft. Ich vermag sie auch hier nicht zu geben, ohne diese Blätter allzusehr zu beschweren; aber ein paar erläuternde Bemerkungen scheinen mir doch notwendig. In bezug auf die Lösung des Streits zwischen den drei Hauptbetrachtungen der geschichtlichen Entwicklung möchte ich mich eines Bildes bedienen. Wer eine Landschaft in e i n e r Farbe gedruckt sieht, kann, wenn das Bild sorgfältig ausgeführt ist, den Eindruck erhalten, daß hier nichts fehlt, die Wirklichkeit richtig wiedergegeben und die e i n e Farbe in ihren Abstufungen überall am Platze ist. Sieht er dasselbe Bild in einer anderen Farbe, so kann auch das ihn ähnlich befriedigen. Aber wenn er dann die Bilder übereinander gedruckt schaut, erkennt er zu seinem freudigen Erstaunen, daß nun erst die Wirklichkeit getroffen ist und daß die früheren Bilder nur ungenügende Skizzen waren. So verhält es sich mit den Darstellungen der Geschichte, die einseitig vom Standpunkt, sei es des Materialismus, der Rasse und der Wirtschaftsgeschichte, sei es der Tradition, des Staats und der höheren Kultur, sei es des Individuums und des Heroismus, entworfen sind. Eine jede dieser Darstellungen kann das Ganze erfassen und auch das Einzelne zum Ausdruck bringen; aber die Wirklichkeit wird doch erst erreicht, wenn in e i n e m Gemälde und an denselben Objekten alle drei Farben zu ihrem Rechte kommen, die Farbe aber der Tradition, des Staats und der höheren Kultur sich als die stärkste geltend macht. — Besonders bedaure ich, daß ich auf das letzte Geheimnis der „ Alten Geschichte" nur so kurz habe eingehen können. Das letzte Geheimnis dieser Geschichte ist, daß sie, sobald sie ihre ursprüng-
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liehen Ideale der Wissenschaft, der Kunst und des Staats in klassischer Weise ausgearbeitet hat, zur Entwicklung eines ganz neuen Ideals tibergeht — des supranaturalen, religiösen, asketischen und zugleich individualistisch-human-weltbürgerlichen —, dessen verborgene Keime allerdings schon von Anfang an vorhanden waren. Indem dieses Ideal entwickelt wird, geht das andere mehr und mehr verloren. Dieser Verfall — in der Regel nicht tragisch aufgefaßt, sondern mit erbitterter Geringschätzung begleitet — ist allen wohlbekannt; aber daß der Verlust der Kaufpreis war, für den man ein höheres und in der Entwicklung der Menschheit schlechthin notwendiges Ideal erworben hat, wird nur erst von wenigen erkannt. Man bringt sich aber um jede Möglichkeit, die alte Geschichte auch in ihrer Schlußentwicklung mit freudiger Teilnahme zu begleiten, wenn man sich dieser Erkenntnis verschließt und Umstände macht, in der Geschichte der alten Kirche, des konstantinischen Staats, des römischen Rechts und der neuplatonisch-augüstinischen Spekulation den auf ein höheres Niveau führenden Abschluß der Geschichte des Altertums zu erkennen. Aber ich darf auch hier diesem Gedanken nicht weiter nachgehen, obgleich es ganz unmöglich ist, die formale Frage, wie sich auf dem Gebiete des Geschichtsunterrichts Universität und Schule näher kommen können, ohne Eingehen auf diese und andere sachlichen Hauptfragen zu behandeln. — Aus den Zeitungen ersehe ich, daß Prof. L a m p r e c h t auf dem letzten Historiker-Kongreß von einzuführenden Vorlesungen über „Weltgeschichte" gesprochen hat. Ich habe bisher noch keine Gelegenheit gefunden, seine Vorschläge auch nur im Referate kennen zu lernen, freue mich aber, daß wir in der Forderung solcher Vorlesungen zusammenstimmen. In der Ausführung, über die ich mich bei der Kürze der vorgeschriebenen Zeit leider nicht aussprechen konnte, werden wir vielleicht nicht durchweg einer Meinung sein; aber das ist eine zweite Frage. Zunächst kommt es darauf an, die Forderung selbst kräftig zu erheben. I.
Die Beziehungen zwischen Universität und Schule in bezug auf den Unterricht in der Geschichte scheinen auf den ersten Blick normale und befriedigende zu sein. Allein bei näherer Betrachtung erkennt man doch, daß auch hier nicht alles in Ordnung ist, ja daß an einem sehr wichtigen Punkte sogar etwas relativ Neues geschaffen werden muß,
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damit der Geschichtsunterricht auf der Schule seinen Aufgaben ganz gerecht werde. Von der unvergleichlichen Bedeutung dieses Unterrichts durch Erweckung einer edlen Begeisterung, der Verehrung für große Männer und des Patriotismus brauche ich nicht zu reden. Ich halte mich an den eigentlich lehrhaften Zweck. Der Geschichtsunterricht auf der Schule soll in erster Linie die Haupttatsachen der "Welt- und insbesondere der vaterländischen Geschichte zur Kenntnis bringen, durch ihre sachgemäße Verknüpfung ein Bild der weltgeschichtlichen Entwicklung bieten und die treibenden Faktoren der Bewegung zugleich ans Licht stellen. Über diese Aufgabe ist kein Streit, wie die gebräuchlichen Lehrbücher zeigen, und auch über die Auswahl und Begrenzung des Stoffs — sie muß in der Neuzeit nach dem Lande, dem die Schule angehört, natürlich eine verschiedene sein — herrscht im ganzen ein Einvernehmen. Indessen machen sich auch schon hier einige Wünsche geltend. Ich sehe dabei von dem Streit ab, der sich unter der Devise „Mehr Wirtschafts- und Kulturgeschichte" erhoben hat. Darüber kann meines Erachtens kein Zweifel sein, daß der leitende Begriff der Staat und die Staaten bleiben muß — das gilt für alle Stufen geschichtlicher Betrachtung und gilt daher doppelt für den G-eschichtsunterricht auf der Schule; denn ohne diesen Begriff fällt die Geschichte entweder in Geschichten auseinander oder wird formlos und vorzeitig in den Dienst höchst allgemeiner, in der Regel naturwissenschaftlicher Spekulationen gestellt. Ist aber der Staat der zentrale Faktor der Geschichte, so wird es dabei bleiben, daß die politische und die Verfassungsgeschichte des Staats das Hauptstück der Betrachtung zu bilden hat, dem alles übrige einzuordnen ist. Wie sich aus der Verfassungsgeschichte und der äußeren Politik, d. h. aus der Selbsterhaltung des Staats, die innere ergibt und Wirtschafts- und Kulturgeschichte sich nun entfalten, das ist in Umrissen anzudeuten und an den wichtigsten Punkten auszuführen. In welcher
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"Weise das zu geschehen hat, dafür gibt es auch heute noch keine besseren Muster als die Geschichtswerke Rankes — ich denke dabei nicht in erster Linie an die „Weltgeschichte" — einerseits und Jakob Burckhardts andrerseits, aus denen auch für die Methodik des Geschichtsunterrichts auf der Schule das Beste zu lernen ist. Aber freilich — den Weg und Übergang aus der politischen Geschichte und ihren spröden Tatsachen, d. h. aus der Geschichte der Macht, zur allgemeinen Geschichte, d. h. zur Geschichte des Geistes, zu finden, ist eine Aufgabe, der nur der geschulte Historiker zu entsprechen vermag. Hier empfinde ich die erste Lücke in dem gegenwärtigen Betriebe des Geschichtsunterrichts. Soweit meine Kenntnis der Ergebnisse dieses Unterrichts auf den Lehranstalten reicht — ich schöpfe sie seit einem Menschenalter vornehmlich aus dem "Verkehr mit den Mitgliedern meines Seminars —, muß ich urteilen, daß die Uberlieferung noch zu sehr im politischen Tatsachenmaterial und überhaupt im einzelnen stecken bleibt. Bildend aber wird die Geschichte erst, wo die Entwicklung nachgewiesen und wo sie als Geschichte des Geistes erkannt wird; ja man darf unbedenklich sagen, daß selbst eine verzeichnete Entwicklung vorzuführen besser ist, als gar keine zu geben. Für ungebildet in der Gesellschaft gilt, wer die Haupttatsachen der Geschichte nicht kennt, und gewiß ist dies Urteil nicht unberechtigt; denn an der bloßen Haupttatsache hängt bereits viel unverkennbare geschichtliche Erkenntnis. Aber wie sich in der soliden Machtentwicklung der Geist ausspricht und wie er aus der Macht heraus die Fülle seiner Fähigkeiten entfaltet, wie er das Elementare — Boden, Klima und Rasse — in seinen Dienst nimmt, wie er aus der bisher erlebten Geschichte, der Tradition — dem stärksten Faktor — Kraft schöpft, sie weiterführt und umbildet, und wie endlich das einzelne Individuum Produkt und Neubildung, Geschaffenes und Schöpfer zugleich ist: dies zu erkennen ist erst ge-
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schichtliche Bildung. Erkannt aber kann dies nur an großen Massen und in steter Vergleichung, d. h. allein an der Weltgeschichte werden. Ich wünsche für die zukünftigen Lehrer daher, daß an allen Hochschulen ein Kolleg über Weltgeschichte in zwei oder drei Semestern gelesen wird. Eine solche Vorlesung in synthetischer Behandlung mit Hervorhebung der wirksamen Kräfte und der leitenden Ideen ist an sich notwendig und ist auch das notwendige Mittelglied zwischen den geschichtlichen Spezialkollegien und den Aufgaben der Schule. An und für sich verträgt, wie wir alle wissen, der geschichtliche Stoff keine Reduktionen; denn er büßt bei jeder Reduktion etwas von seiner Wirklichkeit ein. Aber vor die Notwendigkeit der Reduktion gestellt, vermeiden wir die schlimmsten Einbußen, wenn wir es vermögen, auf die letzten treibenden Kräfte zurückzugehen, die unter den verschiedenen Hüllen überall die gleichen waren und sind. Der zukünftige Lehrer, wenn er auf der Hochschule Spezialkollegien aus den verschiedenen Perioden der Geschichte gehört hat, sollte sein Studium mit der Vorlesung über Weltgeschichte abschließen, um durch sie ganz direkt für den Geschichtsunterricht vorbereitet zu werden. Eine solche Vorlesung, richtig entworfen, ist besser als alle geschichtliche Methodik und Didaktik, und auch besser als ein Kolleg über Geschichtsphilosophie, oder richtiger — sie wird die notwendige Geschichtsphilosophie bieten, ohne den wirklichen Boden der Geschichte zu verlassen. Man sage nicht, der junge Historiker und zukünftige Lehrer der Geschichte müsse sich die Weltgeschichte selber aufbauen. Das vermögen nur die Besten, wir aber haben die Einrichtungen so zu treffen, daß auch die Arbeit der Mittelmäßigen gute Arbeit wird. Für sie aber ist die Aufgabe, selbst den Entwicklungsgang zu entwerfen, zu schwer. Also — eine Vorlesung über Weltgeschichte, wie sie an einigen Universitäten schon gehalten wird: das ist mein erstes Desideratum.
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Wie eine solche Vorlesung sachlich zu gestalten ist, darüber kann ich mich natürlich hier nicht aussprechen; aber im Hinblick auf die Behandlung des Altertums und der Neuzeit möchte ich doch im Interesse der Schule zwei pia desideria geltend machen. Vorher noch ein kurzes Wort über die leidige Jahreszahlenfrage. Ich habe sie oft durchdacht und fasse mein Urteil so zusammen: bei dem Vortrag der einzelnen Greschichtsperioden in den verschiedenen Klassen muß natürlich eine größere Anzahl von Jahreszahlen vorübergehend und ä fond perdu memoriert werden; aber bei den Repetitionen, und zumal bei der abschließenden in der obersten Klasse, genügt es festzustellen, daß der Schüler weiß, ob etwas am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Jahrhunderts geschehen ist. Bestimmte Einzelzahlen sind — abgesehen von der Q-eschichte der letzten 150 Jahre — nur in bezug auf die allerwichtigsten Ereignisse zu verlangen und noch mehr zu reduzieren, als die jüngst erschienenen, bereits stark reduzierten Zahlenbüchlein es tun. G-ewöhnt man die Schüler daran, die Jahrhunderte zu dritteln und sich den Verlauf der G-eschichte in diesen Abschnitten vorzustellen, so gewöhnt man sie damit zugleich an Zusammenschau und innere Verbindung, während erfahrungsgemäß der Haufen von Einzelzahlen das Denken und Verbinden nicht nur nicht anregt, sondern niederhält. Vermag ζ. B. ein Schüler nach kurzem Besinnen Rechenschaft darüber zu geben, welche Hauptereignisse und die Wirksamkeit welcher Männer in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts oder in das erste Drittel des 5. Jahrhunderts vor Christus usw. fallen, so kann man ihm jede Einzelzahl schenken. Es ist nicht nötig, daß er weiß, in welchem Jahr Elisabeth von England gestorben ist, der 30 jährige Krieg begonnen hat, die Schlacht bei Marathon geschlagen ist usw. Was aber die Desideria zur Behandlung des Altertums und der Neuzeit betrifft, so sind sie folgende: Für die herkömmliche Behandlung des Altertums im Geschichtsunter-
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rieht bedeutet das Christentum und die Kaiserzeit, um es kurz zu sagen, eine Verlegenheit. Alle Ideale sind an Athen und am republikanischen Rom orientiert, und nun bricht das alles zusammen, daher eilt man schnell über die schlimme Kaiserzeit hinweg und erwähnt auch das Christentum möglichst wenig. Es wird erst in das Mittelalter als ein vollberechtigter Faktor eingestellt. Mit dieser aus der Renaissance und dem modernen Humanismus stammenden, bankbrüchigen Geschichtsbetrachtung — die dekadente Kaiserzeit! — ist zu brechen. Dem Schüler sind die hohen Ideale, die durch Athen und das republikanische Rom bezeichnet sind, nicht zu entwerten; aber auf die orientalisch-griechische Religionsgeschichte in ihrer Entfaltung einerseits, auf den sich entwickelnden Weltgedanken im Sinne des stoischen, humanen Kosmopolitismus und seine Aufnahme durch Rom andrerseits ist von Anfang an Gewicht zu legen, und somit ist die Kaiserzeit mit ihren religiösen und ethischen Hervorbringungen und gewaltigen Religionskämpfen, in denen zuletzt das Christentum siegt, als Abschluß und Höhepunkt des Altertums zu schildern. Es geht von hohen Idealen zu hohen Idealen. Sie sind disparat, und jene gehen zunächst größtenteils verloren; denn man erhält in der Geschichte nichts umsonst; aber sie sind nicht ganz verloren und sind später wieder zurückgekehrt, um sich neben den anderen zu behaupten. Eben dies zu erkennen, ist eine unvergleichliche Einsicht. Denn die Menschheit am Mittelmeer, d.h. wir, haben überhaupt nur e i n m a l Art und Natur unsrer letzten Ideale geändert, und eben das geschah in der römischen Kaiserzeit. Was dann folgte bis heute, ist eine großartige Geschichte der Kompromisse zwischen den disparaten Idealen der Wissenschaft, Kunst und des Patriotismus (des Staats) einerseits und der Religion andrerseits. Es ist die Geschichte unserer höheren Entwicklung. Der Knotenpunkt liegt in der Kaiserzeit, und sie so darzustellen, das kann und muß auch in der Schule gelingen, oder man
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lasse die ganze alte Geschichte in der Schule fahren und beschränke sich auf „die schönsten Sagen des klassischen Altertums" und die Kunst. Was mein Desideratum in bezug auf die Neuzeit anlangt, so ist es ein oft schon laut gewordenes, und ich kann mich daher kurz fassen: es ist ein unerträglicher Ubelstand, daß aus zahlreichen Gymnasien — soll ich sagen aus den meisten? — die Schüler nach langjährigem Geschichtsunterricht herauskommen und doch unser gegenwärtiges Verfassungsleben und unsre öffentlichen Rechtszustände auch nicht einmal in den Grundzügen kennen. Ich sage nicht zuviel, wenigstens nicht in bezug auf die deutschen Verhältnisse; denn ich habe mich immer wieder durch Nachforschen und Fragen von der bodenlosen Unwissenheit überzeugt,. Und diese Unwissenheit gilt nicht einmal als Unbildung, und doch ist sie die folgenschwerste Unbildung; denn ohne Kenntnis der öffentlichen Rechtsverhältnisse fällt die Jugend sofort der Macht des politischen Schlagworts anheim, wobei oft nur Zufall oder Familienprovenienz entscheiden, auf welche Seite sie gerät. In zweckmäßiger Weise kann meines Erachtens hier nur Abhilfe geschaffen werden, wenn auf den Universitäten für Zuhörer aller Fakultäten ein Kolleg über Bürgerkunde, d. h. über die Verfassung und die Grundzüge des öffentlichen Rechts, gelesen wird, und wenn gleichzeitig schon auf der Schule der Unterricht in der Geschichte des 19. Jahrhunderts diese Grundzüge zur Darstellung bringt und einprägt. Dem wahren Patriotismus wird dadurch mehr gedient werden als durch detaillierte Schilderung der Kriege und Schlachten, die erhebender wirken werden, wenn man sie der Privatlektüre überläßt. Alle diese Desiderata sind nicht neu; aber ich habe noch eines vorzutragen, das meines Wissens kaum je geltend gemacht worden ist, das mir aber besonders am Herzen liegt. Der ganze Geschichtsunterricht auf der Schule ist autoritativ, und das kann im großen und ganzen nicht anders sein.
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Aber damit geht ein sehr wichtiger Teil von dem verloren, was die G-eschichte zu leisten vermag. Sie deckt die zahllosen Quellen des Irrtums auf und lehrt, wie man das Wirkliche findet und wie man die Wahrheit erforscht. Wer sich als Historiker an dieser Arbeit beteiligt, weiß, wieviel er ihr verdankt. Kritik der Überlieferung ist die Kritik des Menschlichen, Allzumenschlichen; sie ist neben der direkten Erfahrung das souveräne Mittel der Menschenkenntnis; alle Irrtümer der Menschen und alle ihre Tendenzen spiegeln sich hier. Es ist unerträglich, daß auch die älteren Schüler im Unterricht davon fast nichts erfahren, und die bösen Folgen liegen auf der Hand. East alle die, welche das auf der Universität nicht nachzuholen vermögen, weil ihr Studium sie auf andere Objekte weist, bleiben in bezug auf geschichtliche Kritik auf einer kindlichen Stufe stehen und schwanken hilflos der Uberlieferung gegenüber zwischen einem naiven Aberglauben und wilder Hyperkritik, wenn sie auf geschichtliche Fragen geraten. Beispiele — auch in bezug auf berühmte und große Naturforscher — stehen in Fülle zu Gebot. Es ist nicht unmöglich, hier Abhilfe zu schaffen. In den beiden obersten Klassen der Gymnasien muß im Geschichtsunterricht — aber auch bei der Lektüre antiker Historiker, wo es zum Teil schon geschieht — Raum geschaffen werden, um einige überlieferungs-kritische Probleme zu besprechen und so in die historisch-kritische Methode einzuführen. Ein ganz besonderes Verdienst würde sich ein Lehrer erwerben, der aus der Geschichte des Altertums und Mittelalters das Zeugenmaterial, d. h. die Texte für solche historisch-kritische Probleme zusammenstellte, die in der Schule untersucht werden können. Ein Büchlein dieser Art täte die besten Dienste. Arbeiten der Philolog, der Historiker und der Lehrer des Deutschen in der Schule Hand in Hand, so können solche Untersuchungen, schriftlich geführt, zum Teil auch an die Stelle der deutschen Aufsätze treten. Nirgends läßt sich Klarheit des Gedankens
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und des Stils besser beurteilen als an einer historisch-kritischen Untersuchung, und der deutsche Aufsatz erhielte hier Notwendigkeit und Gehalt. Die so beliebten literaturgeschichtlichen Vergleiche will ich nicht abgeschafft wissen, aber sie sind nicht jedermanns Sache und verführen oft zum Geschwätz. Uberlieferungsgeschichtliche Vergleiche aber und Kritik der Tradition können jedem zugemutet werden, und achtzehnjährige Jünglinge sind nicht zu jung dafür, wenn man die Themata nur richtig auswählt. Daß der Erfolg ein ausgezeichneter sein wird, dafür kann man bürgen; denn wer auch nur eine kleine überlieferungsgeschichtliche Untersuchung geführt hat, ist in der Betrachtung der Dinge auf eine höhere Stufe getreten und kann diesen Boden nicht mehr verlieren. Das sind die wichtigsten Vorschläge, die ich für den Geschichtsunterricht in bezug auf die engere Verknüpfung von Schule und Universität zu machen habe. II. Ich gehe zum Religionsunterricht über. Religion an sich ist nicht lehrbar; also kommt hier alles auf die Person des Lehrers an. Das Wesen der Religion liegt in einer universalen Empfindung. Aber sie ist nicht nur Empfindung, sondern auch eine universale Betrachtung und eine Willensmotivation auf Grund der Empfindung. Die universale Betrachtung samt ihren geschichtlichen Darstellungen und Folgen ist lehrbar, und lehrbar sind auch alle die Verbindungen, in welche die Religion getreten ist. Es gibt zwei Arten, die Religion lehrend zu überliefern, die autoritative und die kritisch-geschichtliche. In beiden kommt es in erster Linie darauf an, die Universalität der Sache scharf zum Ausdruck zu bringen. Nur als universale Betrachtung kann die Religion bestehen, als partikulare kommt sie überall in Konflikte. In dieser Hinsicht hat die
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konfessionelle Religionslehre, welche von vornherein alles unter die göttliche Prädestination stellt, einen hohen Vorzug. Es gab und gibt fromme und einsichtige Denker und Pädagogen, welche von einem nur autoritativen Religionsunterricht überhaupt nichts wissen wollen und demgemäß den Unterricht erst spät zu beginnen raten. Es läßt sich viel für diese These anführen. Aber die Religion ist geschichtlich in so viele Verbindungen eingetreten, ist selbst ein so gewaltiges Stück Geschichte und hat als jüdischchristliche ein so außerordentliches und für alle Bildungsstufen bedeutsames Denkmal geschaffen wie die Bibel, daß meines Erachtens der Unterricht nicht ohne Einbußen verschoben werden kann. Aber ich muß den ganzen elementaren Unterricht mit seinen Problemen hier beiseite lassen. So gewiß er in erster Linie biblischer Q-eschichtsunterricht sein muß, so schwere Fragen stellt eben diese Aufgabe. Indem ich mich sofort dem Unterricht auf der höheren Stufe zuwende, möchte ich aber die Gelegenheit ergreifen, einen Wunsch zum Ausdruck zu bringen, der sich mir immer stärker aufgedrängt hat. Wenn es nur zwei Arten, die Religion zu lehren, geben kann, die autoritative und die kritisch-geschichtliche — die berühmten konzentrischen Vertiefungen sind in der Regel nichts als Schein und täuschende Wiederholung —, so folgt daraus meines Erachtens fast mit Notwendigkeit, daß innerhalb des zwölfjährigen Lehrgangs der Schüler der Religionsunterricht zeitweilig zu unterbrechen ist und aufzuhören hat. Man darf 12—14 jährigen Knaben den Religionsunterricht nicht mehr rein autoritativ geben, und man kann mit der neuen Methode noch nicht beginnen. Die Würde, der Ernst und das Interesse des Religionsunterrichts wird nur gewinnen, wenn man ihn nach dem 6. Schuljahr abbricht und erst im 9. wieder aufnimmt. Höchstens eine Wochenstunde könnte man ansetzen, um gewisseRepetitionen vorzunehmen; doch wäre auch diese solchen Schülern zu erlassen, welche
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die Konfirmandenstunden besuchen. "Welche Schwierigkeiten die Sache hat im Hinblick auf den leidigen Einschnitt nach Untersekunda mit dem Reifezeugnis für die EinjahrigFreiwilligen, weiß ich sehr wohl. Aber die neunkl assigen Schulen dürfen sich ihre Ziele und ihren Lehrgang nicht durch aufgezwungene Nebenzwecke verrücken lassen. Der Religionsunterricht auf der höheren Stufe — der protestantische, nur von ihm rede ich — bedarf vier Jahre, denen nichts abgezogen werden kann. Im ersten Jahre, d. h. in Untersekunda, ist die alttestamentliche Religion mit besonderer Betonung der Propheten zu behandeln, auf Grund der von der geschichtlichen Wissenschaft gewonnenen Ergebnisse und nach einer zuverlässigen Übersetzung. Im zweiten Jahre folgt die Q-eschichte Jesu und der Apostel auf dem Hintergrunde der jüdischen und hellenisch-römischen Zeitgeschichte. Ausgewählte Kapitel des Neuen Testaments müssen dabei gelesen werden; aber auf die Lektüre eines ganzen Evangeliums oder gar eines Briefs wie des Römerbriefs — zumal in der Ursprache — verzichte man. Es steht in ihnen viel zu viel, was nicht auf die Schule gehört, und der G-rundtext ist zu schwer, seine Lektüre doch nur ein bloßer Schein. Die Verkündigung Jesu und die Wirksamkeit und Predigt des Paulus sollen die Schüler kennen lernen. Das kann man in einem Jahr sehr wohl erreichen, wenn man sich an die Hauptpunkte hält. Das dritte Jahr sei der Kenntnis des Katholizismus und des alten Protestantismus gewidmet; denn so ist die Aufgabe, um die es sich hier handelt, zu bezeichnen. Kirchengeschichte als Kirchengeschichte auf der Schule zu betreiben, ist meines Erachtens nicht zweckmäßig oder vielmehr nur zweckmäßig, wenn man sich ganz klar macht, was man damit erreichen will. Es kann das doch nichts anderes sein, als ein wirkliches, fundamentiertes Verständnis des heutigen Katholizismus und des Protestantismus zu gewinnen und einige große Persönlichkeiten der Kir-
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changeschichte kennen zu lernen. Mit den Konfessionen wird es der Schüler im Leben zu tun haben. Sie soll er gründlich kennen und verstehen. Zurzeit aber steht es meist ganz anders. Die Schüler, welche die Gymnasien verlassen, kennen allerlei aus der Kirchengeschichte, meistens (wie ich mich oft überzeugt habe) recht unzusammenhängend und sinnlos — einige kennen sogar die gnostischen Systeme und allerlei krauses und für sie völlig wertloses Detail —, aber die katholische Kirche, die größte religiös-politische Schöpfung der G-eschichte, kennen sie absolut nicht und ergehen sich über sie in ganz dürftigen, vagen und oft geradezu unsinnigen Vorstellungen. Wie ihre großen Institutionen entstanden sind, was sie im Leben der Kirche bedeuten, wie leicht man sie mißdeuten kann, warum sie so sicher und eindrucksvoll fungieren — alles das ist nach meinen Erfahrungen, seltene Ausnahmen abgerechnet, eine terra incognita. Kaum steht es besser mit der Kenntnis des Protestantismus des 16. Jahrhunderts, der ja schlechterdings nicht zu verstehen ist, wenn man die katholische Kirche nicht kennt. Losgelöst von diesem Boden, schwebt er in der Luft, und sehr vieles in ihm erscheint nun als etwas ganz Barockes und Unbegreifliches, ja als eine willkürlich erzeugte unnütze Last. Der Lehrer muß sich demgegenüber in diesem Lehrjahre fest und unausgesetzt die eine Aufgabe vor Augen halten: wie schaffe ich meinen Schülern ein Verständnis der katholischen Kirche und des alten Protestantismus und belebe es durch die Vorführung einiger großer kirchlicher Persönlichkeiten. Die Entstehung und Bedeutung aller Hauptfunktionen der beiden Kirchen muß er schildern und dazu so vielen geschichtlichen Stoff herbeiziehen, als er für die Erfüllung dieser Aufgabe nötig hat, aber auch nicht mehr. Der Schüler braucht nichts aus der Kirchengeschichte zu kennen, was er nicht irgendwie in den heutigen Kirchen wiederfindet; aber er soll Rechenschaft geben können, warum die Kirche, welche die "Welt-
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herrschaft zu ihrem Ziele hat, auch das Mönchtum umschließt, warum sie einen Priesterstand nicht entbehren kann und was er ihr bedeutet, wie es zur Messe gekommen ist und wie zum Beichtstuhl, welche Rolle das Sakrament spielt und die Autorität, und welche Rolle neben ihnen die augustinische Frömmigkeit, und nun — wie sich dagegen der Protestantismus abhebt und an welchen Punkten er eine totale Revision bedeutet und an welchen nur eine partikulare. Dieses und Ahnliches zu wissen, ist ein Stück allgemeiner Bildung, und das Nichtwissen muß notwendig traurige Folgen im Kampf der Geister und im Kampf um die Macht nach sich ziehen und zur bösen Schwäche werden. Wie viele wissen denn heute unter uns, wo die starken und wo die verwundbaren Stellen der Kirchen liegen? Ein Jahr genügt auch hier, wenn es wirklich ausgenutzt wird und man sich auf die Hauptpunkte beschränkt. Freilich — die Augsburgische Konfession wird man nicht mehr in extenso in der Schule lesen können; aber man wird sie reichlich heranziehen, und das genügt. Wird die ganze Aufgabe — Kirchenkunde möchte ich sie nennen — richtig angefaßt, so stehe ich dafür, daß alle Schüler aufs eifrigste und dankbarste bei der Sache sein werden. Das vierte und letzte Jahr muß der Darlegung des Wesens der Religion und des Wesens des Christentums mit besonderer Rücksicht auf die Spannungen und Konflikte mit den modernen Weltanschauungen gewidmet sein. Nicht um Dogmatik handelt es sich, sondern unter Anknüpfung an den alten Protestantismus ist seine Fortentwicklung in den letzten drei Jahrhunderten einerseits und seine Selbstbehauptung gegenüber den modernen Erkenntnissen andrerseits zu schildern. Dabei werden sich die Grundfragen der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen ganz von selbst einstellen; auch wird immer wieder auf die Verkündigung Jesu und des Paulus zurückgegriffen werden müssen. Von besonderer Bedeutung wird es auch sein, in Verbindung
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mit dem deutschen Unterricht darzulegen, wie sich das Christentum bei einigen der großen Denker und Führer in den letzten 120 Jahren darstellt und wie die Probleme und Konflikte sich teils vereinfachen, teils verschwinden, wenn man auf den Kern der Religion zurückgeht. Es wird dieser Stufe — wir haben es mit 18- und 19 jährigen Jünglingen zu tun — angemessen sein, daß hier der Unterricht ganz wesentlich in Form von Vortragen gegeben wird, an die sich Besprechungen anschließen, in denen die Schüler mit ihren Erkenntnissen und Fragen zu Worte kommen. Systematische Apologetik ist durchaus zu vermeiden; auch hier sollen vor allem die Tatsachen sprechen, vornehmlich die, welche ich soeben kurz angedeutet habe — wie sich das Christentum bei großen Denkern und Führern darstellt. Dazu ist aber weiter noch ein Blick auf die Arbeit der Kirchen zu werfen; denn in dem "Werke stellt sich das Wesen einer Sache am sichersten dar. Was bedeuten Christentum und Kirche noch im Leben der Völker? Welchen Dienst leisten sie, wie würde es aussehen, wenn sie heute wegfielen, wie im Innern, wie im Äußern? Der einzelne Lehrer soll hier in dem, was er heranziehen will, den freiesten Spielraum haben. Nur die A u f g a b e soll die gleiche sein: der Schüler soll in dieser letzten Klasse zum Wesen der Religion einerseits und zu ihrer Bedeutung in der G-egenwart andrerseits geführt werden. Es soll hier im eminenten und idealen Sinn seine Religion und sein Christentum sein, mit dem er sich beschäftigt, oder doch mindestens die Ausprägung der Religion, die allein die seine werden kann und die dabei im tiefsten Wesen den Zusammenhang mit der Predigt und der Person Jesu nicht verleugnet. So gefaßt, wird hier wirklich ein Abschluß des Religionsunterrichts erreicht, sowohl in geschichtlicher, wie in sachlicher Hinsicht. Um den Aufgaben des Religionsunterrichts, wie ich sie in den vier Stufen zu zeichnen versucht habe, zu genügen,
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sind auf der Universität neue Vorlesungen einzuschalten; denn die Aufgaben sind viel zu schwer, als daß man ihre Lösung den tastenden Versuchen jedes einzelnen Lehrers überlassen könnte. Nur eine Vorlesung, wie wir sie wünschen müssen, ist bereits überall vorhanden — das ist die Vorlesung über Konfessionskunde oder Symbolik. Aber merkwürdig, gerade diese Disziplin, die ich für eine der bildendsten innerhalb des ganzen theologischen Betriebs auf der Universität halte, wird erfahrungsgemäß am schlechtesten besucht. Zwar ich persönlich kann mich nicht beklagen, aber aus vielen Zeugnissen weiß ich es, und ich weiß auch, daß in den theologischen Prüfungen — eine schlimme Kurzsichtigkeit — auf das Fach in der Regel nur geringes G-ewicht gelegt wird. Das muß anders werden, und die Konfessionskunde muß den ihr gebührenden Platz im theologischen Unterricht erhalten. Drei Vorlesungen aber sind dazu und unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schule neu zu schaffen — in erster Linie für die Lehramtskandidaten, die die Facultas für den Religionsunterricht erwerben wollen und doch nicht Theologen von Fach sind; aber auch für die Theologen werden sie sehr nützlich sein — nämlich: 1. eine zusammenfassende Vorlesung über die alttestamentliche Religion, das in den Grundzügen darbietend, was in der sog. Einleitung, in der biblischen Theologie und in der Geschichte des Volkes Israel vorgetragen wird; 2. eine Vorlesung über die Verkündigung Jesu und das apostolische Zeitalter (einschließlich der sog. Einleitung) auf dem Hintergrund der Zeitgeschichte; ich bemerke, daß mein Kollege Pfleiderer in Berlin eine solche Vorlesung schon seit längerer Zeit in den Kreis seiner Vorlesungen aufgenommen und vielen Erfolg mit ihr gewonnen hat, und 3. eine Vorlesung über das Wesen der Religion und des Christentums mit besonderer Beziehung auf die Lebensfragen der Gegenwart. Wenn wir erst Muster für diese Vorlesungen haben, und wir haben bedeutende und
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lebendige Gelehrte genug, die sie schaffen können, so werden sie sich schnell einbürgern und das Verhältnis von Universität und Schule fester und inniger gestalten. Das sind die wichtigsten Vorschläge, die ich Ihnen im Zusammenhang des gestellten Themas zu machen habe, und ich bitte um eine strenge und wohlwollende Prüfung. Ich schließe mit zwei Bitten — an meine Kollegen an den Universitäten: sie mögen in ihren Vorlesungen mehr der Schule und ihrer Bedürfnisse gedenken; es ist nicht so, daß die Wissenschaft verliert, was die Schule gewinnt, sondern es kann sehr wohl gelten: „Die "Wissenschaft gewinnt, was die Schule gewinnt"; — an die Lehrer: sie mögen laut und kräftig aussprechen, was die Schule von der Universität in bezug auf Vorlesungen und Übungen erwartet, und sie mögen, namentlich in den oberen Klassen mit dem nicht geizen, was sie auf der Universität gelernt haben, vielmehr die Kunst üben, die „pueri" durch große Gedanken und erweckende Arbeit zu „iuvenes" zu machen, damit der Mann ihnen danke.
Anhang.
Zur Behandlung der Römischen Kaisergeschichte auf der Schule. Der Aufsatz „Zur römischen Kaisergeschichte" des Herrn Johannes Kreutzer hat in einer, wie mir scheint, sowohl sachlich wie didaktisch ausgezeichneten Weise Grundsätze für die Behandlung der Kaisergeschichte auf der Schule skizziert. Die Gesichtspunkte, die er an die Hand gibt, sind so reichhaltig, daß sie nicht in jedem Lehrkurse gleichmäßig befolgt werden können; aber das ist meines Erachtens auch kein Unglück. Daß innerhalb der gegebenen Richtlinien der eine Lehrer dieses, der andere jenes ausführlicher entwickelt, ist sogar wünschenswert. Das aber, was stets zu eindrucksvoller Darstellung kommen muß, ist die Gruppe geschichtlicher Entwicklungen, die Kreutzer sub III zusammengestellt hat. Zu ihr möchte ich mir einige Bemerkungen gestatten und setze sie daher noch einmal hierher: III. Nationale und geistige Kultur: Fortschreitende Hellenisierung des Ostens, Bomanisierung des Westens; Mischung und Auflösung der Nationalitäten; Weltbürgertum und Humanität. — Wissenschaftliche und technische Betriebsamkeit, Abnahme der schöpferischen Kraft. — Die Landesreligionen; der Kaiserkultus; die Philosophie; das Christentum: Gründe seiner Ausbreitung, Gegensatz zum Imperium, Verfolgung und Sieg. — Ausblick auf die selbständige Entwicklung der abendländischen Kirche und auf das weltliche Ansehen des römischen Stuhls infolge der Verlegung der kaiserlichen Residenz.
Bevor ich auf die zusammengestellten Richtpunkte eingehe, bemerke ich folgendes. Die Schwierigkeit der hier zu behandelnden Aufgabe liegt in einem Doppelten. Die Schule kann und soll keine I d e e n g e s c h i c h t e geben,
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und sie h a t sich d a v o r zu h ü t e n , in M i l i e u - S c h i l d e r u n g e n zu g e r a t e n , o d e r g a r in i h n e n s t e c k e n zu bleiben. Sind schon auf der Stufe der Universität Ideengeschichte und Milieu Klippen, an denen Geschichtserzählung und Geschichtsschreibung leicht scheitern, ja sich selbst aufheben können, so sind sie vollends auf der Schule unstatthaft; denn der Schüler soll Geschichte lediglich an T a t s a c h e n und I n s t i t u t i o n e n kennen lernen, um Respekt vor der T a t zu gewinnen und mit der Notwendigkeit die Verantwortlichkeit der T a t einzusehen. Personen, Handlungen und geschichtliche Schöpfungen sollen ihm vorgeführt werden in einer Kette, die ihm darüber keinen Zweifel läßt, daß alles unwirksam ist, was nicht zur Tat kommt, und daß nichts wirksam geworden ist, was bloß gedacht war. Dieser für allen Schulunterricht fundamentale Grundsatz macht nun dort überall nicht geringe Schwierigkeiten, wo die Vorgeschichte einer neuen weltgeschichtlichen Stufe scheinbar von unverhältnismäßiger Länge ist und sich in ihr der Umschwung zunächst in den Stimmungen, Gefühlen und Ideen der Menschen, sowie in dem Milieu ihres Daseins vorbereitet. Dies aber trifft für die Kaisergeschichte der drei ersten Jahrhunderte zu; denn, so paradox es klingen mag, universalgeschichtlich betrachtet, sind jene drei Jahrhunderte V o r g e s c h i c h t e ; der Abschluß, auf den alles zielt und der ohne weiteres das Verständnis abgibt für das, was nun im Mittelalter folgt, sind die konstantinische Monarchie, die konstantinisch-athanasianische Kirche und die griechisch-christliche Bildung, wie sie die großen Kirchenväter des vierten Jahrhunderts als Schüler des Origenes geschaffen haben. Auch die Geschichte des Christentums ist, universalgeschichtlich betrachtet, bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts lediglich embryonale Geschichte. Bis dahin konnte der Staat die Kirche noch ignorieren, bzw. unter einer polizeilichen Koerzition halten, die grund-
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sätzlich die Ungefährlichkeit der Kirche zur Voraussetzung hatte. Da nun für die G-eschichtserzählung das, was schließlich geworden ist, über die Stoffauswahl zu entscheiden hat, so muß der Lehrer aus der langen G-eschichte der drei ersten Jahrhunderte solche T a t s a c h e n hervorheben, an denen er das Werden jener drei großen Schöpfungen — der konstantinischen Monarchie, der konstantinisch-athanasianischen Kirche und der griechisch-christlichen Bildung (patristische Literatur) — anschaulich machen kann. Nur so vermag er der Gefahr zu entgehen, bei der Schilderung der Kaisergeschichte bis auf Konstantin in einem Vielerlei stecken zu bleiben, oder sich in kirchengeschichtliche oder profangeschichtliche Einzelheiten zu verlieren. Fest und bestimmt muß er, bereits von Augustus an, seinen Blick auf die Schöpfung des monarchischen Weltstaats, der monarchischen Weltreligion (Kirche) und der in ihrer Weise reichen, aber exklusiven patristischen Kultur und Literatur richten. Daß diese drei Schöpfungen enge zusammengehören, ja blutsverwandt sind, muß sofort hervortreten, und so wird jede Aktion, die der einen zugut kam, direkt oder indirekt auch als eine Vorstufe für die andere erscheinen. Es muß daher mit dem oberflächlichen Vorurteil gebrochen werden, als sei die Entwicklung von Kirche und Staat lediglich eine antithetische gewesen, bis plötzlich Konstantin beide zusammengeschweißt habe. Gewiß ist eine Antithese vorhanden — sie soll kräftig betont werden —, aber ebenso wichtig ist es, auf die Synthese zu achten, deren Anfänge schon in der Apostelgeschichte wahrzunehmen sind und die sich an ganz deutlichen, aber landläufig ignorierten Tatsachen fortschreitend vollzogen hat. Auch die Religion selbst — das Christentum und der Komplex von Religionen, einschließlich des Kaiserkultus, mit dem es rivalisiert — erlebt, innerlich betrachtet, in den drei ersten Jahrhunderten nicht nur einen Kampf, sondern
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über den Kampf greift der Ausgleich hinaus: vincit victor, sed victus victori legem dat. Deutliche Tatsachen und greifbare Aktionen bezeichnen auch hier die fortschreitende Entwicklung bis zum vierten Jahrhundert. Nicht anders steht es mit der patristischen Kultur und Literatur. Unter der Hülle eines wütenden Widerspruchs oder einer stolzen Ablehnung von beiden Seiten bereitet sich in den ersten drei Jahrhunderten der ganze innere Ausgleich von Hellenismus und Christentum vor, der uns als fertiges Produkt in Basilius, den Gregoren und Chrysostomus, in Ambrosius und Hieronymus entgegentritt. Auch hier ist es nicht schwer, an einzelnen Tatsachen und Aktionen die Stadien des Fortschritts in großen Zügen klarzumachen. So muß in der Darstellung alles auf das vierte Jahrhundert bezogen werden, und ohne Schwierigkeit können auch die Momente, die K r e u t z e r im Eingang seiner Richtlinien sub I I I zusammengestellt hat, unter diesen Gesichtspunkt treten; sie gehören zum Aufbau des "Weltstaats. Verfährt man in der Geschichtserzählung auf diese Weise, indem man von Anfang an dem Schüler das Ziel der Entwicklung vor Augen stellt, so wird er vor der gewaltigen Arbeit der Epoche Respekt bekommen und wissen, was die Menschen von damals der Menschheit leisten sollten und geleistet haben. Der hier aufgestellten Forderung stehen freilich, wenn ich recht sehe, zwei nicht geringe Schwierigkeiten im Wege. Die erste liegt in der wohlverständlichen Versuchung, die Kaisergeschichte nicht unter eine progressive, sondern eine retrospektive Betrachtung zu stellen; die zweite ergibt sich aus der nicht zu leugnenden Tatsache, daß in weiten Kreisen die geschichtlichen Ergebnisse, wie sie sich im vierten Jahrhundert darstellen, nicht als Fortschritte und Güter, sondern als kümmerliche Restprodukte geschätzt werden. Beide Betrachtungen hängen enge zusammen, obschon sie nicht unzertrennlich sind; über sie noch ein kurzes Wort:
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"Was die erste betrifft, so sollte es unter den Historikern feststellen, daß die "Würdigung jeder geschichtlichen Epoche verfehlt ist, die sich darauf beschränkt, sie unter dem Gesichtspunkt der Vergangenheit, bzw. gar als Epoche des Verfalls zu betrachten. Gewiß, Vieles und Großes verfällt in der Geschichte, und der Historiker soll darauf aufmerksam machen; er soll bei der Kaisergeschichte des ersten Jahrhunderts mit Tacitus zeigen, was verloren gegangen ist; er soll bei der Kirchengeschichte darauf aufmerksam machen, wodurch die ältesten Generationen sich vor den späteren ausgezeichnet haben; er soll das "Werdende nicht nur vom Ziele aus beleuchten, sondern auch darauf achten, wieweit es sich von erhabenen Ursprüngen entfernt hat. Allein noch ist keine Epoche in der uns bekannten Geschichte nachgewiesen, der gegenüber der Historiker ein Recht hätte, sie lediglich oder auch nur in der Hauptsache als Epoche des Verfalls zu bezeichnen. Eindringende Forschung hat immer wieder gezeigt, daß solch ein Urteil vorschnell und ungehörig war, und daß großen Verlusten und Rückgängen in einer Epoche stets eine Summe neu erworbener Spannkraft und neuer erfolgreicher Anstrengung gegenübersteht. Ich weiß nicht, ob es auch nur ein Menschenalter in der Geschichte gegeben hat — es müßte denn etwa beim Übergang des neunten zum zehnten Jahrhundert liegen —, welches so gottverlassen und heillos war, daß es nur verbraucht und schlechterdings nichts gefördert hat. Von absolutem Verfall darf in der Geschichte nur der reden, der in bestimmten Ordnungen, Formen, politischen und intellektuellen Zuständen ein absolutes Ideal sieht; aber ein solcher täte überhaupt besser, die geschichtlichen Studien zu lassen; denn er ist fortwährend genötigt, die Geschichte vorwitzig und grämlich zu meistern. Nun liegt freilich, wenn in der Schule der Übergang von der griechischen und der älteren römischen Geschichte zur Kaisergeschichte gemacht wird,
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das schwere Problem vor, daß die Schüler von einem bisher verehrten Ideal geschichtlichen Werdens und Seins zu einem ganz anderen übergehen müssen, während ihre Lektüre sie doch bei dem alten klassischen festhält. Ich verkenne diese Schwierigkeit nicht, aber hier folgt doch nur dies, daß die Ideale der klassischen Zeit den Schülern nicht so vorgetragen werden dürfen, daß nicht auch ihre Grenzen und ihre Schatten empfunden werden. Geschieht das nicht, wird vielmehr bei dem Geschichtsunterricht in der vorchristlichen Zeit den Schülern die Schranke der damaligen Menschheit bei allem Herrlichen deutlich vor die Seele gestellt, so wird das allmähliche Aufsteigen eines neuen Ideals gesellschaftlicher und staatlicher Verbindung, religiöser und humaner Einheit, sowie sittlicher Kraft von den Schülern als eine Erhöhung und Befreiung empfunden werden. Dabei kann und soll aufs nachdrücklichste klargestellt werden, was dieses neue Ideal die Menschheit gekostet hat und wieviel Köstliches und Erhabenes zunächst verloren gegangen ist; denn es ist nur gut, wenn die jungen Gemüter sich von der Erkenntnis durchdringen lassen, daß man in der Geschichte nichts umsonst erhält, daß der Fortschritt auf Hauptlinien mit Rückschritten auf Nebenlinien — oft auch auf einer Hauptlinie — bezahlt werden muß und daß unsere Begeisterung überall nicht den Institutionen gilt, sondern den Personen. Man soll ihnen nicht verhehlen, welchen Verlust in bezug auf exakte Wissenschaft und Kunst, auf frischen Blick und Weltfreudigkeit, auf bürgerliche Freiheit und bürgerliche Rechte — um nur diese Güter zu nennen — die Schöpfung der neuen Ideale bedeutet hat. Aber man soll ihnen zugleich zeigen, daß das Gewonnene wertvoller war als der Verlust, und daß das Verlorene nicht unwiederbringlich verloren war. Aber war es wirklich wertvoller als der Verlust? Wer das nicht zu zeigen vermag, wer in den Schöpfungen des monarchischen Weltstaats, der monarchischen christlichen
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Weltreligion und der patristischen Kultur und Bildung nur die Schatten empfindet, der ist gewiß nicht imstande, Geschichtsunterricht über die Kaiserzeit zu erteilen und tut besser, über sie raschen Fußes hinwegzugehen und die Ausführung dem Religionslehrer und Kirchenhistoriker zu überlassen. Die Schatten sind freilich kräftig genug, aber das Licht ist größer; vieles ist verloren gegangen, aber Wertvolleres ist gewonnen worden. Die Bereicherung des Innenlebens, die Kenntnis und Verehrung des lebendigen Grottes, die Gewißheit eines ewigen Lebens, die nun erst wirksame Idee der Menschheit und das neue Pflichtgefühl, das Bild Jesu Christi als gemeinsamer Besitz — das alles sind GHiter, die in der Geschichte eine neue Stufe begründet haben. Doch kann es nicht meine Aufgabe sein, hierauf näher einzugehen. Mir lag es nur daran, mit einigen Strichen zu zeigen, wie ich mir die Behandlung der Kaisergeschichte in einer Hauptlinie denke; habe ich längst Bekanntes und Befolgtes zum Ausdruck gebracht, um so besser!
DIE NEUORDNUNG DES HÖHEREN MÄDCHENSCHULWESENS IN PREUSSEN NEBST EINEM ANHANG-
Erschienen in der „Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik", 14. November 1908. Der Anhang erschien in der Zeitschrift „Die Karpathen", 2. Jahrg., 15. Oktober 1908, Kronstadt.
Die Ausführungen von W. Lexis, Η. Lange und Β. Irmer in dieser Wochenschrift (12. September, 3. u. 10. Oktober) haben die G-rundzüge der Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens nach den Bestimmungen des Allerhöchsten Erlasses vom 15. August ausreichend geschildert. Ich darf sie daher als bekannt voraussetzen und sofort der mir freundlichst gestellten Aufgabe nähertreten, mich als Teilnehmer an der Konferenz vom Januar 1906 zu der Neuordnung zu äußern. Wie meine Vorgänger in dieser Zeitschrift begrüße ich sie als den Markstein auf einer aufsteigenden Linie der Entwicklung, die nun nicht mehr verlassen werden kann. Daß die Unterrichtsverwaltung sich entschlossen hat, in einem einheitlichen Entwurf die gesamte höhere Frauenbildung zu regeln, das — unter schwerem Druck und vielen Mühen — geschichtlich Gewordene zu einem bedeutenden Teile anzuerkennen und das ganze große Gebiet dem staatlichen Schulwesen anzugliedern, ist eine Tat, die die Dankbarkeit der Nation in vollstem Maße verdient. Diese Tat ist so grundlegend, daß ihre segensreichen Wirkungen nahezu unabhängig sind von den Mängeln, welche der Reform auf ihrer jetzigen Stufe noch anhaften. Sie können durch diese Mängel zwar in empfindlicher Weise verzögert, aber nicht dauernd niedergehalten werden, es sei denn, daß ein böser Wille die Absichten der Unterrichtsverwaltung durchkreuze. Ebendeshalb aber, weil man überzeugt sein darf, daß die Neuordnung einen großen Fortschritt bezeichnet und weitere Fortschritte ermöglicht, soll man sie freimütig kri-
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tisieren und braucht dabei nicht zu befürchten, den Eindruck ihrer Bedeutung abzuschwächen. Die Neuordnung hat es mit der höheren Mädchenschule, den Frauenschulkursen, dem Lehrerinnenseminar und der Studienanstalt zu tun. Indem ich die Schulen in dieser Reihenfolge aufführe, ist zugleich die Bedeutung angegeben, die sie für das Kulturleben der Nation besitzen. Voran steht die höhere Mädchenschule; denn sie ist die wichtigste Anstalt, weil gewiß noch auf lange hinaus oder für immer die große Mehrzahl der Mädchen, sofern sie nicht nur die Volksschule besuchen, sich mit der höheren Mädchenschule begnügen werden. Die „Neuordnung" bringt für diese Anstalt eine Reihe ausgezeichneter Bestimmungen: sie legt den zehnjährigen Besuch der Schule fest; sie erkennt an, daß für die „Verstandesbildung" besser gesorgt werden müsse, sowie für die „Erziehung zu selbsttätiger und selbständiger Beurteilung der Wirklichkeit"; sie schreibt in dieser Richtung eine Modifikation des fremdsprachlichen Unterrichts und die Einführung der Mathematik in den Lehrplan vor, sowie die Umgestaltung und Verstärkung des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Nun erwartet man das letzte Wort, nämlich daß die Lehrpläne dieser Anstalten so ausgestaltet werden sollen, daß ihre Absolvierung gleichwertig ist mit der Absolvierung der Knabenrealschule. Dies wäre um so leichter, als die Knaben bis dahin nur neun, die Mädchen aber zehn Schuljahre gehabt haben. Allein dieses letzte Wort wird nicht gesprochen. A n der Stelle aber, wo es stehen sollte, liest man die auffallenden Worte: „Doch soll durch diese Änderung (s. o.) die weibliche Eigenart in keiner Weise benachteiligt werden; vielmehr werden Religion und Deutsch nach wie vor im Mittelpunkt der Mädchen- und Frauenbildung stehen." Sofern die weibliche Eigenart eine besondere Affinität zur Religion und zur Muttersprache hat, ist sie unverlierbar und daher auf sich selbst gestellt; die Schule kann hier nur unterstützend eingreifen. Das soll
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sie tun, aber mangelnde Kenntnisse in Fächern, die nun einmal zur „selbsttätigen und selbständigen Beurteilung der "Wirklichkeit" notwendig sind, lassen sich durch Religion und Deutsch nicht kompensieren. Umgekehrt aber wird die „weibliche Eigenart" indirekt aufs schwerste geschädigt, wenn ihr eine zehnjährige Schulzeit nicht die Möglichkeit gewährt, den Zugang zu Berufen, die eine mittlere Bildung voraussetzen, zu gewinnen. Der Fehler, der hier gemacht ist — in einem Zeitalter, in welchem alles auf „Berechtigungen" ankommt, die höhere Mädchenschule ohne solche zu lassen — ist so offenkundig, daß man an die Nachwirkung eines sonst aufgegebenen Prinzips glauben muß. Ein solches ist nicht schwer zu finden. Die alte „höhere Töchterschule" war eine Standesschule, sonst nichts — es braucht das nicht näher ausgeführt zu werden—; die neuere höhere Mädchenschule aber ist eine Berufsschule (freilich im weitesten Sinne des Wortes). Oder soll sie das doch nicht sein? Soll sie nun etwas Standesschule und etwas Berufsschule werden? Fast muß man fürchten, daß die Urheber der „Neuordnung" sich darüber nicht klar gewesen sind bzw. widerstreitende Meinungen hier einen schlechten Kompromiß geschlossen haben. Man wird in diesem Verdacht bestärkt, wenn man sieht, wie reinlich die Studienanstalt von der höheren Mädchenschule getrennt worden ist. Aber „die ganze Arbeit", die an diesem Punkte getan ist, erweckt den Argwohn, man habe den Frauen, die durchaus studieren wollen, in G-ottes Namen ihren Willen getan, um die höhere Mädchenschule von ihnen zu befreien und diese wenigstens noch zur Hälfte im alten Gleise lassen zu können. Ich komme bei der „Studienanstalt" noch einmal auf diesen bösen Punkt zurück. Hier nur soviel: Alle Reformansätze für die höhere Mädchenschule werden vergeblich sein und in sich zusammenfallen, wenn sie nicht zu einem Abschlüsse führen, der dem Reifezeugnis für die Obersekunda gleichwertig ist und den Mädchen die Berechtigungen gewähren,
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die an dieses Zeugnis geknüpft sind (soweit sie für Frauen überhaupt in Betracht kommen). Das bloße Recht, in die Frauenschulkurse bzw. in das Lehrerinnenseminar eintreten zu können, genügt nicht. Anders ausgedrückt: Es muß mit dem G-rundsatz, die höhere Mädchenschule sei eine Standesschule, vollkommen gebrochen werden. Dann ergibt sich alles Weitere von selbst. Standesschulen, wenn sie nur dem Lehrplan der Volksschulen genügen, mögen neben ihnen unter irgendwelchen Namen noch immer konzessioniert werden; vielleicht ist ein solches Bedürfnis noch vorhanden. Aber die höhere Mädchenschule soll die Mädchen so weit führen wie die Realschule die Knaben, sonst ist das dringlichste Bedürfnis nicht erfüllt. Der jetzige Lehrplan kommt der Erfüllung dieser Aufgabe ganz nahe, weicht ihr aber zuletzt doch aus. Es bedarf nur weniger Änderungen, um ihr zu genügen; aber um diese Änderungen vorzunehmen, dazu bedarf es allerdings der geschlossenen und klaren Einsicht, daß es sich um nichts Geringeres als um die Erwerbsfähigkeit der Mädchen handelt, die die Schule nicht länger als bis zum vollendeten 16. Lebensjahre besuchen können. Diese Erwerbsfähigkeit ist für eine sehr große Anzahl derselben heute eine Notwendigkeit, und ihr Besitz schadet auch einem begüterten Mädchen nicht. Die weibliche Eigenart wird nur gewinnen, wenn ihre Ausbildung unter dies Ziel gestellt wird. Und mag man jene Notwendigkeit eine Not nennen — hier kann man wirklich aus der Not eine Tugend machen, ja einen ganzen Chorus von Tugenden entwickeln, denn es gibt weder eine männliche noch eine weibliche Eigenart, die nicht durch zielvolle Arbeit mit der Aussicht auf Selbständigkeit im Leben gestählt wird und nur so ihre besten Kräfte entfaltet. Man mag es auch beklagen, daß heute alles auf „Berechtigungen" gestellt ist, aber man vermag an dieser Tatsache nichts zu ändern, und man darf nicht versuchen, sie willkürlich für eine große Klasse von Arbeitenden außer Kraft zu setzen.
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Übrigens kann auch das Gesetz der Berechtigungen Freiheit erzeugen, wenn es gerecht und human gehandhabt wird. Die Frauenschulkurse (das „Lyzeum") sind als eine wertvolle Ergänzung der höheren Mädchenschule zu begrüßen, aber es ist schwer abzusehen, wie sie zu einer einheitlichen Form gelangen können, und eine solche ist nicht einmal wünschenswert, denn die Bedürfnisse nach Fortbildung sind so mannigfaltige, daß sie nur in Kursen ganz verschiedener Art befriedigt werden können. Auch wird die Zeit, welche die Mädchen nach Absolvierung der höheren Mädchenschule zu ihrer weiteren schulmäüigen Ausbildung übrig haben werden, sehr ungleich sein, so daß sich auch von hier aus Schwierigkeiten ergeben. Endlich verlangen Aufgaben wie Kindergartenunterweisung, Haushaltungskunde, einschließlich Übungen in Küche und Hauswirtschaft, und Q-esundheitslehre inkl. Kinderpflege meines Erachtens mindestens die halbe Arbeitskraft eines Semesters, wenn sie nützlich werden sollen. Mir scheint es daher richtig, diese Aufgaben als besondere auszuscheiden und die eigentliche Frauenschule obligatorisch auf 1. Pädagogik, 2. Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre, 3. hauswirtschaftliches Rechnen, 4. Gesundheitslehre (ohne Kinderpflege) und die Fortbildung in 5. Französisch und 6. Englisch zu stellen, daneben aber den Kommunen zu empfehlen, tüchtige Semesterschulen für jene obengenannten praktischen Aufgaben einzurichten. Der G-edanke ist dabei der, daß ein junges Mädchen, welches seine ganze Zeit zur weiteren Ausbildung noch übrig hat, jene Frauenschule und eine der praktischen Schulen besucht, während die, welche über die halbe Zeit verfügen, entweder nur die Frauenschule oder semesterlich je eine praktische Schule besuchen. Die Zahl der obligatorischen Stunden in der Frauenschule wäre auf elf zu bemessen (je zwei Stunden für jedes Fach mit Ausnahme des einstündigen hauswirtschaftlichen Rechnens), zu denen die nicht-
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obligatorische Fortbildung in Religion, deutscher Literatur, Geschichte, Kunstgeschichte, Zeichnen und Musik je nach Wunsch hinzutreten könnte. Daß für das Lehrerinnenseminar nunmehr eine vierjährige Ausbildungszeit festgestellt ist, ist sehr dankenswert. So wird die bisherige Preßarbeit aufhören; auch der größere Spielraum, welcher der praktischen Ausbildung gegeben ist, ist erfreulich. Die Forderung der preußischen Zweigvereine des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins, daß das Abiturium einer Oberrealschule oder eines Realgymnasiums ohne weiteres zum Eintritt in den letzten (praktischen) Jahreskurs des Lehrerinnenseminars berechtigen solle, halte ich nicht für unbedenklich. Die Art der Vorbildung dort und hier ist doch zu verschieden. Doch möchte ich meinerseits keine Vorschläge machen, da ich zu wenig Erfahrung hier besitze. Starke Bedenken aber habe ich mit dem Lehrerinnenverein gegen die Verbindung von Lyzeum (Frauenschule) und Lehrerinnenseminar, welche der Entwurf vorsieht. Ich fürchte, daß in dieser Verbindung der schwächere Teil, die Frauenschule, leiden wird, gerade wenn man ihr den Umfang gibt, welche die Neuordnung vorsieht. Der schulmäßige Drill, den die Lehrerinnen-Ausbildung notwendig bedarf, oder, freundlicher ausgedrückt, die exakte Schultechnik braucht der Frauenschule nicht aufgebürdet zu werden. Und wird der Lehrer, welcher gleichzeitig Lehrerinnen auszubilden und Frauen fortzubilden hat, nicht notwendig seine Hauptsorge jenen zuwenden? Und werden wir nicht noch mehr Mädchen in den Lehrerinnenberuf treiben, wenn die Frauenschule und das Lehrerinnenseminar so enge verbunden sind? In bezug auf die dreifaltige Studienanstalt sind die Wünsche der Frauen voll erfüllt und durch die Zulassung zur Immatrikulation gekrönt worden. Indessen hat die Neuordnung hier lediglich eine bereits reife Frucht gebrochen. Sie hat sich zugleich für die „Gabelung" erklärt und ist
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auch damit dem Wunsche des Lehrerinnenvereins entgegengekommen. Ich habe auf der Konferenz im Jahre 1906 mit der Majorität das Prinzip des „Aufbaues" vertreten und halte es auch jetzt noch fest, obgleich es jüngst noch von der größten Autorität, Fräulein Helene Lange, als „absurd" bezeichnet worden ist. Nun ist erreicht, was sie wollte, aber — „in der Erfüllung kennt man den Wunsch nicht mehr". Das, was ich befürchtet habe, ist eingetreten: eine höhere Mädchenschule ohne Berechtigungen und dazu eine G-abelung bereits nach sieben Schuljahren heißt die Mädchen einfach in die Studienanstalt treiben und die höhere Mädchenschule auf ihrer bisherigen Stufe festhalten. Daran vermögen alle Verbesserungen von Lehrplänen nichts zu ändern; denn die innere Logik der Tatsachen ist stärker. Daran vermag auch die seltsamste Bestimmung der Neuordnung nichts zu ändern, welche in der Regel eine Studienanstalt nur dort genehmigen will, wo Frauenschulklassen bestehen. Was hat das Bedürfnis nach Studienanstalten mit dem Bedürfnis, welches jene Klassen erfüllen, zu tun? Soll die Maßregel aber eine ungesunde Zunahme der Studienanstalten verhindern, so ist doch nicht an diesem Punkte einzusetzen, sondern an der Hebung der höheren Mädchenschule! Auf diese kommt zunächst alles an, und eben weil sie die Hauptsorge sein mußte, darum habe ich den „Aufbau" der Studienanstalt auf der Mädchenschule gefordert; denn es war mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß die Protektoren der Mädchenschulen, wie sie sind, die Gabelung freudig ergreifen werden, um die alte Mädchenschule möglichst zu konservieren. Das Opfer, die Zeit der Ausbildung der Frauen für die Universität zu verlängern, um allem zuvor die höhere Mädchenschule sicher und richtig zu gestalten, mußte gebracht werden. Doch das ist nun zu spät; um so dringender ist die Forderung zu wiederholen, daß die höhere Mädchenschule der Realschule gleichzusetzen ist; denn die Unter-
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richtsverwaltung kann weder zahlreiche und überfüllte Studienanstalten noch die Fortsetzung des alten Schlendrians in der höheren Mädchenschule wünschen. Sie vermag ihm aber nur kräftig zu steuern, wenn sie dieser Schule einen in Berechtigungen sich ausdrückenden festen Abschluß gibt. Kann von diesem Punkte aus, wenn er nicht erfüllt wird, die ganze Reform lahmgelegt werden, so gilt dies auch noch von einem andern Punkte. Zur Reform gehört auch, wie die „Neuordnung" anerkennt, die Lehrerinnenfrage, d. h. die sachgemäße Beteiligung weiblicher Lehrkräfte an den verschiedenen weiblichen Schulen und die richtige Ordnung ihrer Stellung, und gehört ferner die sachgemäße Eingliederung des ganzen Mädchenschulwesens in den staatlichen Unterrichtsorganismus. In letzterer Hinsicht bedeutet die Unterstellung unter die Provinzialschulkollegien einen großen Fortschritt, dem die Unterstellung unter das Ministerialressort für das höhere Schulwesen notwendig folgen muß. Doch ist das ein ministerielles Internum, dessen Bestimmung sich der öffentlichen Diskussion entzieht. "Wohl aber besteht ein lebhaftes Interesse daran, daß in den Provinzialschulkollegien und bis zur maßgebenden Stelle sachkundige Frauen als Ratgeberinnen regelmäßig gehört werden; man würde es daher freudig begrüßen, wenn dauernde Einrichtungen in dieser Hinsicht getroffen würden. Ob man es „allseitig" freudig begrüßen würde, das ist mir freilich fraglich; denn — darüber kann kein Zweifel sein — es besteht ein keineswegs latenter, sondern offenkundiger Gegensatz zwischen den Forderungen der Lehrerinnen und zahlreicher Lehrer an den höheren Mädchenschulen. Die letzteren sind zurzeit noch immer — von den Privatschulen abgesehen — die beati possidentes der höheren Mädchenschule; dieser Zustand drängt die Lehrerinnen naturgemäß in eine Kampfesstellung und nötigt sie, „Forderungen" aufzustellen. Der „Fordernde" hat niemals eine anmutige Position; um so mehr verlangt es die
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Gerechtigkeit, zu sagen, daß die Forderungen des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins kaum jemals über das hinausgegangen sind, was im Interesse der Sache nötig war und ist. So, wie diese Fordervingen heute ausgesprochen werden, bekenne ich mich rund zu ihnen und hoffe, daß sie sich durchsetzen werden. Grundsätzlich sind sie auch durch die Neuordnung nunmehr anerkannt; denn sie macht die Mitarbeit der akademisch gebildeten Lehrerin an der höheren Mädchenschule obligatorisch, eröffnet ihr jede Stellung an ihr, einschließlich der Oberleitung, und tritt für das Prinzip der Parität weiblicher und männlicher Kräfte an diesen Schulen ein. Allein an eben diesem Punkte entstehen doch große Bedenken. Das Prinzip der Parität genügt meines Erachtens für die höhere Mädchenschule nicht. Sie gehört in erster Linie den Frauen, wie die Knaben-Realschule den Männern. In erster Linie — d. h. die Mitarbeit der Männer soll keineswegs ausgeschlossen werden, obgleich in bezug auf die Realschule nicht Gegenseitigkeit existiert; aber der Grundsatz der „Neuordnung", daß der Lehrkörper zu mindestens einem Drittel aus männlichen Lehrkräften bestehen muß, ist völlig neu, und seine Berechtigung ist nicht erfindlich. Kombiniert man mit dieser neuen Bestimmung die andere, welche in bezug auf die Lehrkräfte die Mittel- und Oberstufe zusammenwirft, so kann, ohne daß es die Unterrichtsverwaltung zu hindern vermöchte, der Zustand entstehen, daß auf der oberen Stufe der höheren Mädchenschule Frauen überhaupt nicht unterrichten. Damit wäre eine der Hauptabsichten der Reform illusorisch gemacht. Man wende nicht ein, daß dies ein Schreckbild sei, eher könnte man fragen, ob hier nicht Absicht vorliegt oder ein schlechter Kompromiß mit heimlichen, aber wirksamen Gegnern der ganzen Sache. Wo überzeugte Gegner des Anteils der Frauen an der höheren Ausbildung der Mädchen das Heft in Händen haben und das Ohr der Magistrate besitzen, da können sie aus jenen
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beiden Bestimmungen in bester Meinung einen völligen Ausschluß der akademisch gebildeten Lehrerinnen von den oberen Klassen zuwege bringen. In bester Meinung —, aber es ist die Meinung, die nach offenkundigen Bekenntnissen der „Neuordnung" nicht die der Unterrichtsverwaltung sein kann. Also muß die Bestimmung fallen, daß der Lehrkörper der höheren Mädchenschule zu mindestens einem Drittel aus männlichen Lehrkräften bestehen muß, oder es müssen sonst Garantien geschaffen werden, welche den Grundsatz sichern, daß die höhere Mädchenschule bis zur höchsten Klasse hinauf in erster Linie mit weiblichen Lehrkräften zu besetzen ist. Solange es hier einen mächtigen Gegensatz gibt, so lange darf sich die Unterrichtsverwaltung nicht mit unbestimmten Maßregeln begnügen. Bis auf den letzten Rest muß erst das alte, mächtige Vorurteil ausgetilgt sein, daß die weiblichen Lehrkräfte an sich den männlichen gegenüber minderwertig seien. An den privaten höheren Töchterschulen hat man bekanntlich die entgegengesetzte Erfahrung gemacht, und daß an den städtischen höheren Mädchenschulen die Lehrer die gleichgebildeten Lehrerinnen an pädagogischer Kraft und an Erfolg übertreffen, habe ich nie gehört. Die Erziehung der unerwachsenen und noch nicht völlig erwachsenen Mädchen auf allen Stufen gehört den Frauen unter erwünschter Assistenz tüchtiger männlicher Lehrkräfte: das muß der leitende Grundsatz werden, und gewiß wird es in Bälde nicht an einer genügenden Zahl akademisch gebildeter Lehrerinnen fehlen, die die Durchführung dieses Grundsatzes ermöglichen. Man wird hoffen dürfen, daß dann auch die Spannung zwischen den Lehrerinnen und manchen Mädchenschullehrern aufhören wird; sie ist der Schatten einer vergangenen Zeit. Sollten aber die Lehrerinnen doch noch um ihr Recht in der Schule kämpfen müssen, so wird es ihnen an Männern nicht fehlen, die mit ihnen kämpfen, bis dies Recht wirklich erreicht ist, und
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die Unterrichtsverwaltung kann sie nicht mehr im Stiche lassen, ohne sich selbst untreu zu werden. Noch manche wichtige Punkte wären zu berühren; aber ich breche hier ab; denn die Hauptsachen — von den G-ehaltsverhältnissen abgesehen — sind gesagt. Die „Neuordnung" ist aus dem Vertrauen, der Unterrichtsverwaltung zu den Lehrerinnen und aus der Einsicht entstanden, daß der Weg, den die Entwicklung des Mädchenschulwesens genommen hat, gebilligt werden muß. Mag vielleicht das Vertrauen noch kein vollkommenes und die Einsicht noch keine vollständige sein — der Hauptschritt ist geschehen, und die Frauen selbst werden durch ihre Reife und ihre Leistungen das, was noch fehlt, herbeiführen.
Anhang.
Ein offener Brief an die „Karpathen". Berlin, den 30. Sept. 1908.
Hochgeehrter Herr Redakteur! Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Ihre Bitte, einen Beitrag für das nächste Heft der „Karpathen" zu liefern, abschlagen muß. Ich habe keine Zeit, einen Aufsatz zu schreiben, und der „Manuskriptenschatz", auf den Sie anspielen, existiert nicht oder nur in einem Haufen gelehrten Materials, dem ich nichts zu entnehmen vermag, was Ihre Leser interessieren könnte. Wenn ich für eine Zeitschrift wie die Ihrige etwas bringen soll, muß ich ein paar Tage Zeit haben, und die fehlen mir. Ich empfinde das schmerzlich gerade Ihrer Bitte gegenüber; denn ich fühle es wie eine Art von Pflicht, Ihrem Wunsche zu entsprechen. Vor nun neun Jahren war ich bei Ihnen in Ihrem Lande und habe nicht nur unvergeßliche Erinnerungen nach Hause gebracht, sondern auch das innere G-elöbnis, an meinem
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Teile dazu beizutragen, daß das Band stark bleibe, welches uns im Reiche mit den Deutschen in Siebenbürgen verbindet. Soviel wie ich wollte, habe ich nicht zu tun vermocht, aber doch einiges, und jedenfalls können Sie dessen gewiß sein, daß mein Herz warm für Ihr Land und Ihre Landsleute schlägt. „Mag der Erinnrung sonnenhaftes Walten Auch manchen Zug ätherischer gestalten, Just will dein Lichtbild ich mir stets erhalten!"
Ja, in einem Lichtbilde sehe ich Ihr Vaterland. Es ist mir nicht so gezeigt worden — wahrhaftig und schlicht trat mir alles entgegen —, aber es war von dem warmen Lichte evangelischer Gesinnung und deutscher Art durchflutet, und die edelste Gastfreundschaft brachte die Herzen von der ersten Stunde an zusammen. Seitdem ist in allen den Jahren kaum ein Monat verflossen, in welchem mich die Siebenbürger Freunde nicht an den Bund aufs freundlichste erinnert haben, der zwischen uns geschlossen worden ist. Ich besitze bereits durch ihre Grüte eine stattliche siebenbürgische Bibliothek, und was sich in dem Lande an Freud' und Leid, in Leiden und in Taten, seit dem Jahre 1899 abgespielt hat, das ist zu meiner Kenntnis gekommen. So habe ich mit Ihrem Vaterlande fortleben dürfen, bin Mitglied Ihres Vereins für siebenbürgische Landeskunde geworden — ich rechne das zu den höchsten Ehren, die mir widerfahren sind — und fühle mich heimisch bei Ihnen. Dafür aufs herzlichste zu danken ist mir ein tiefes Bedürfnis. „Und doch schreibt er nicht für die Karpathen", für diese Zeitschrift, die an sich schon ein Beweis ist, wieviel Sie und Ihre Landsleute zu leisten vermögen! "Wenn nur der Tag statt zwölf vielmehr vierundzwanzig Arbeitsstunden hätte! Denn aus den Ferien zurückgekehrt und zwar aus Schweden, wo ich mich an germanischem Greiste erfreuen durfte, finde ich doppelte Arbeit zu Hause vor. Es gilt
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4. Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen (1908)
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nicht nur die akademische Berufsarbeit wieder aufzunehmen und für die Königliche Bibliothek zu sorgen, die in den nächsten "Wochen in ein neues herrliches Gebäude überziehen soll, — es gilt auch die zahlreichen anderen Fäden wieder anzuknüpfen, die ich nicht aus der Hand lassen darf. Unter diesen ist namentlich einer, der seit Jahren mein besonderes Interesse in Anspruch nimmt, das ist die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens bei uns in Preußen. Wie Sie gewiß gehört haben, sind nach jahrelanger Vorbereitung im August dieses Jahres ganz neue Bestimmungen in bezug auf das Mädchenschulwesen erlassen worden, die eine vollkommene Reform desselben bezeichnen. Ich habe nach Kräften an jener Vorbereitung auch teilgenommen und bin nun glücklich, daß die wichtige Angelegenheit zum Ziele gekommen ist — und zu einem guten Ziele, das darf man sagen! Mit einem Schlage ist das ganze Mädchenschulwesen auf eine höhere Stufe erhoben und ist der rückständige Zustand beseitigt worden, in welchem wir uns befanden. Nicht nur ist den Frauen das akademische Studium nunmehr ohne Beschränkungen eröffnet, sondern es ist auch für die Mädchengymnasien gesorgt und — was noch mehr bedeutet — die Schulbildung auch der Mädchen wird bedeutend vertieft und verbessert werden, die nicht studieren wollen. Alle Mädchen der mittleren und höheren Stände sollen eine gediegene Bildung erhalten, damit sie einst als Frauen nicht nur die Mütter ihrer kleinen Kinder seien! Daß möglichst viele Mädchen studieren, wünscht niemand — indessen sei doch bemerkt, daß nach unsren Erfahrungen die Eheaussichten für studierte Mädchen keineswegs geringer sind als für unstudierte; aber daß unsre Mädchen mehr lernen und namentlich das, was sie lernen, schärfer und sicherer erfassen, das muß der "Wunsch jedes Einsichtigen sein. Und in dieser Hinsicht bringt die neue Reform Treffliches, mag sie auch im einzelnen noch manche "Wünsche unbefriedigt
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lassen und verbesserungsfähig sein. Freilich, mit den „Verordnungen" allein ist es nicht getan; es muß nunmehr die zweite Aufgabe in die Hand genommen werden, diese Verordnungen mit dem rechten Geiste zu erfüllen und ins Leben einzuführen. Bei dieser Arbeit müssen alle zusammenwirken, die Schulbehörden, die Lehrer und Lehrerinnen, die Frauenvereine und vor allem die Eltern. Auch für mich ist die Aufgabe noch nicht beendigt, aber freudig werde ich in ihr auf der neuen Grundlage weiterarbeiten. Die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens ist aber nur ein Teil des großen Umschwungs, der sich unter unsern Augen vollzieht und sich unter dem Namen „Frauenfrage" zusammenfaßt. Wir müssen den unverehelichten Frauen Berufe schaffen, in denen sie mit Freudigkeit stehen und einen Lebenswert gewinnen können, und wir müssen auf Mittel und Wege sinnen, um in den mittleren und höheren Ständen die sinkende Ehefrequenz, aber auch die sinkende Geburtsziffer wieder zu heben. Das ist in sozialer Hinsicht die Frage der Frage! Vor mir liegt eben die Schrift des schwedischen Professors F a h l b e c k , Mitglied der ersten Kammer, „La decadence et la chute des peuples" (1905). Er ist nicht der einzige, der in den letzten Jahren die warnende Stimme erhoben und den drohenden Niedergang enthüllt hat; aber er hat es mit besonderer Eindringlichkeit und Kraft getan. Unsre Kultur geht dem sicheren Untergang entgegen, und wir werden schließlich den mongolischen Rassen weichen müssen, wenn wir die abschüssige Bahn nicht verlassen, die durch das Sinken der Ehefrequenz und der Geburtenziffer bei den romanischen und nun auch bei den germanischen Völkern bezeichnet ist. Wie soll man Abhilfe schaffen? Gesetze sind machtlos. Ich vermag kein andres Mittel zu erblicken als dies, daß die Gesellschaft verlangt, die jungen Ehepaare, einerlei wie ihre Mittel beschaffen sind, sollen mit kleinem und bescheidenem Hausstand beginnen, während sie jetzt fordert, daß sie sich von vornherein wie
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4. Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen (1908)
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ihre Eltern einrichten. Wir müssen darauf hinarbeiten, daß es für unanständig gilt, wenn eine junge Frau sich schon bei Beginn ihrer Ehe als Dame einrichtet, statt ihr ganzes kleines Hauswesen zunächst wesentlich allein zu beschicken. Sie wird das — das ist wenigstens meine Uberzeugung — mit Freude tun; denn ich glaube nicht, daß unsre jungen Mädchen und Frauen daran schuld sind, daß unsre Zustände so geworden sind wie sie sind. Ich sehe die Schuld mehr bei den Männern, die es als Junggeselle bequemer haben und eine ernste Sorge nicht auf sich nehmen wollen, noch mehr aber bei der Q-esamtheit der Gesellschaft, die fort und fort ihre Bedürfnisse steigert und den gleichen Lebenszuschnitt von allen verlangt. Daher müssen sich die Eheschließungen verzögern, viele bleiben ganz ehelos, und in der Ehe wird die Kinderzahl beschränkt. Die Statistik zeigt, daß es kaum mehr ein Land gibt, in dem die höhere Schicht nicht abnimmt, und aus diesen Schichten dringt das Übel bereits in die unteren, und aus den Städten auf das Land. Frankreich nimmt, wenn man den Zuzug abrechnet, bereits ab; auch die deutschen großen Städte erhalten ihre Bevölkerungsziffer bald nur noch durch Zuzug vom Lande und in das Land dringen die Slaven bei uns ein! Wenn wir uns nicht aufraffen und den neuen Lebensbedingungen und -forderungen nicht durch eine Änderung unsrer gesellschaftlichen Sitten begegnen, muß man das Schlimmste voraussehen. Das alte Bibelwort: „Seid fruchtbar und mehret euch", in sittlich sozialem Geiste erfaßt, ist noch immer der Grundpfeiler der Gesundheit und der Kraft eines Volkes, der schönste Antrieb zu freudiger Arbeit und die Gewähr der Dauer eines Volkes. Vor acht Tagen las ich auf einem porzellanenen Teller im Nordischen Museum zu Stockholm aus der Mitte des 18. Jahrhunderts die Inschrift: „Glücklicher Erfolg den Schiffen Schwedens, Beständiger Gang den Wiegen Schwedens!"
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Das ist ein beherzigenswertes "Wort, und es ist in seiner zweiten Hälfte noch richtiger als in der ersten; denn der glückliche Erfolg der Arbeit eines "Volkes wird nicht ausbleiben, wenn es in gesundem Wachstum fortschreitet. Doch wohin bin ich von der Mädchenschule aus geraten! Verzeihen Sie die lange Epistel, die aus der kurzen Entschuldigung entstanden ist. Die "Wichtigkeit und der Emst der Sache hat die eilende Feder ergriffen und zum Dienste gezwungen. "Was ist hier zu tun, wo ist zu beginnen? Das ist die Frage der Fragen, damit es uns nicht ergeht, wie den großen Kulturreichen vor uns. Sie sind nicht den Barbaren erlegen, wie eine oberflächliche Geschichtsdarstellung behauptet; nein, sie haben sich selbst zum Aussterben verurteilt — erst in den oberen, dann in den unteren Schichten — und sind nun von den Barbaren tiberschwemmt worden. Auch die Kirchengeschichte weiß davon zu erzählen und von dem Niedergang, den diese „Entwicklung" zur Folge hatte. Die Kirchengeschichte — wenn ich Ihnen einmal nicht nur einen Brief, sondern einen Aufsatz schicke, soll es ein kirchengeschichtlicher sein. In vorzüglicher Hochschätzung Ihr ergebenster A. H a r n a c k .
WAS TORDANKT UNSERE KULTUR DEN KIRCHENVÄTERN?
Rede gehalten in der 4. ordentlichen Versammlung des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Wien am 5. April 1910. Der frei gehaltene Vortrag ist unter dem Titel: „Über eine der antiken Grundlagen der modernen Kultur" in den „Mitteilungen" dieses Vereins (Wien und Leipzig, 1910) erschienen, aber unter Verantwortung der Redaktion nach einem Stenogramm. Hier erscheint er neu durchgearbeitet.
Allem zuvor ist es mir eine teure Pflicht, Ihnen meinen herzlichsten Dank auszusprechen für die gütige Einladung — ich weiß diese Ehre wohl zu schätzen — und ferner für den warmen Empfang, den Sie in so freundlicher Weise mir bereitet haben. Gewiß, die Wissenschaft ist international, aber Jakob Grimm hat einmal gesagt, die Wissenschaft habe zwar keine Geheimnisse, wohl aber ihre Heimlichkeiten, und diese Heimlichkeiten der Wissenschaft hängen zum Teil von der Eigenart der Nationen ab, welche sie pflegen, und die Heimlichkeiten der Wissenschaft bei Ihnen und bei uns sind dieselben. Auch haben die wissenschaftlichen Arbeiter nicht nur einen Kopf, sondern auch ein Herz, und Ihr Herz und das unsrige schlagen nach demselben Rhythmus. Gehen wir zur Sache. Keine Rede kann man heute häufiger hören, wenn der Blick über das Ganze schweift, als daß wir in einer neuen Zeit leben, daß das Antlitz der Welt, das Antlitz der Gesellschaft sich verändert hat und fort und fort noch in Veränderung begriffen sei, daß sich die theoretische Weltanschauung auf das gründlichste teils schon geändert hat, teils sich noch ändern müsse, daß so unerhörte Neuigkeiten da sind, daß gegenüber den letzten zehn oder zwanzig Jahren die ganze frühere Zeit eigentlich nur Altertum oder Mittelalter ist. Es liegt nun manche Selbstbespiegelung und Eitelkeit in diesem allgemeinen Urteile, daß wir in einer ganz neuen Zeit leben. Aber wer wollte verkennen, ein wie großes Element der Wahrheit
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dieser Betrachtung zugrunde liegt? Denn gewiß, auch bei vorsichtiger Schätzung wird niemand leugnen können, daß sich dank zunächst der Technik und der Entwicklung des Verkehres, aber auch dank anderen Momenten wirklich außerordentliche Veränderungen unter uns vollzogen haben, und daß in der Tat eine Revision jeder auf das G-anze gehenden theoretischen "Weltanschauung notwendig ist. Aber es bedarf nur einer etwas ernsthaften Einkehr, um sich anderseits zu sagen, daß die praktischen Wertschätzungen, daß das praktische Leben, so wie es gelebt wird oder gelebt werden soll, daß die Formen des sittlichen Verkehres, daß die Pädagogik, wie wir unsere Kinder erziehen, um sie zu tüchtigen Menschen zu machen — daß das alles sich im Q-runde sehr wenig geändert hat. Die Tugenden, die unsere Großväter geschätzt haben, sind auch die, die wir schätzen. Die Ideale, zu denen wir uns selber aufschwingen sollen und zu denen wir die nächste Generation führen wollen, sind im wesentlichen unverändert geblieben; denn die Menschheit schreitet zwar immer fort; aber in ihrer Tiefe gibt es große Gebiete, von denen man sagen muß: der Mensch bleibt immer derselbe, wenigstens der Mensch, wie er sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat. Der Ausgleich zwischen der Anforderung neuer theoretischer "Weltbilder, neuer theoretischer "Weltanschauungen und dem Festhalten an jenen alten praktischen "Wertschätzungen, an jener Beurteilung des wirklichen Lebens, wie es gelebt werden soll, und der Güter und der Pflichten, die das Leben lebenswert machen — dieser Ausgleich stellt eine große Aufgabe und ist außerordentlich schwer, aber er kann nicht dadurch vollzogen werden, daß man den einen der beiden Faktoren einfach abtut. "Wir werden darüber wachen müssen, daß wir die Güter festhalten, die seit langer, langer Zeit eingesenkt sind in unser sittliches "Wesen und die ein Bestandteil unserer höheren Natur geworden sind, und wir werden darauf halten müssen, daß diejenigen, die nicht so empfinden wie wir,
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5. Was verdankt unsere Kultur den Kirchenvätern? (1910)
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Achtung haben vor diesen Idealen und die, welche sie zerstören wollen, Furcht empfinden. "Wenn wir nun fragen, wie weit haben wir zurückzuschreiten, wo liegen die Brunnenstuben für diese Ideale, für diese Güter und Pflichten, die uns das eigentliche Leben bedeuten, wie muß die Antwort lauten? Was sich messen und wägen läßt, bedeutet für uns nicht das Leben, auch das nicht, was sich überführen läßt aus einer Energie in die andere, so daß es restlos aufgeht. Unser Leben beginnt dort, wo die Dinge und die Personen in ihrer individuellen Eigenart erscheinen, wo das principium individuationis beginnt und wo es sich um "Werte handelt. "Wie weit haben wir nun zurückzugehen, um behaupten zu können, hier liegen die Brunnenstuben? Wir werden zunächst unzweifelhaft sagen: wir müssen zurückgehen in das Zeitalter der Renaissance und Reformation, der Reformation in weitestem Sinne, denn auch die andere, die sogenannte Gegenreformation, d. h. die Reformation des Katholizismus, hat ihr Gutes gehabt. Renaissance und Reformation! Aber in dem Moment, wo wir diese beiden Worte aussprechen, ist es uns deutlich: sie können nicht das Letzte sein, es muß hinter ihnen etwas liegen, was sie — weil es sich irgendwie um eine W i e d e r h e r s t e l l u n g gehandelt hat — in neuer Weise, aber doch als bereits Gegebenes zum Ausdruck bringen, etwas, das schon vorhanden war, was aber nun reiner gefaßt und zugleich höher bewertet werden soll. Worauf gehen nun Renaissance und dieses Zeitalter der Reformation zurück? Kein Zweifel kann darüber sein, wir müssen Jahrhunderte übersteigen: sie gehen zurück auf die Antike und das Christentum — oder ich könnte sagen, sie gehen zurück auf das Testament der A n t i k e und das Testament des Urchristentums, d. h. in bezug auf letzteres, auf das Alte und Neue Testament. Aber haben diese Testamente jemals unmittelbar so gewirkt in der Folgezeit, wie sie selbst waren? Hat je in der
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Geschichte die Bergpredigt, die große galiläische Botschaft Jesu, so gewirkt, daß nun alle, soweit sie die christliche Religion annahmen, nach der Bergpredigt gelebt haben und Schüler Jesu in diesem Sinne geworden sind? Kaum Einer. Oder hat jemals die Christenheit nach dem Evangelium des Paulus gelebt oder des Johannes? Wo wäre diese Epoche? Oder hat andrerseits das, was wir vom "Wesen der Antike wissen, so fortgelebt, daß wir sagen könnten, Plato setzt sich fort in direkter Wirksamkeit in der Geschichte oder gar Homer oder die Tragiker? Gewiß nicht. Wenn wir sagen, die Kultur, die im Zeitalter der Reformation wieder belebt worden ist, gehe zurück auf das klassische Altertum und das Christentum, so nennen wir damit nicht die direkten Quellen. Wohl steht hinter dem, was als Antike gewirkt hat, Plato, Homer, die Tragiker, aber in einer weiten Distanz, und ebenso stehen die galiläische Botschaft und Paulus hinter dem, was als Christentum gewirkt hat, aber dieses ist von ihnen sehr verschieden; nur in indirekten und vermittelten Wirkungen kommt das Urchristentum für die Folgezeit in Betracht. Wo liegt nun die Periode, wo liegt die Eigenart in der Verbindung der antiken und christlichen Kräfte, die u n m i t t e l b a r fortgewirkt hat, also daß alles in der geschichtlichen Abfolge sich als eine stetige Entwicklung darstellt bis zur Renaissance und Reformation? Begleiten Sie mich in eine größere Bibliothek, ζ. B. in Ihre Hofbibliothek; ich führe Sie an die Bücherbretter und zeige Ihnen dort eine einförmige Reihenfolge von etwa 400 Folianten. Diese Folianten sind die Kirchenväter. Mit dem Gedanken „Kirchenväter" und dem, was sie geschrieben haben, verbindet sich in der Regel die Vorstellung der extremsten Geistlosigkeit und Langeweile, und namentlich wenn man 400 Folianten stehen sieht, so kehrt man um. Was enthalten nun die Werke dieser Kirchenväter? Wenn man die Uberschriften der einzelnen Traktate nennt, so wird die Sache nicht erbaulicher, obwohl sehr viel Erbauliches
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in ihnen zu lesen ist. Es stehen darin Predigten, aber auch philosophische, theologische und antiquarische Abhandlungen, Dogmatiken und dogmatisch-ethische Untersuchungen und Anweisungen, Bischofs- und Mönchsgeschichten, Liturgien, Gebetsammlungen, Kommentare, fromme Historien, Briefe, Übersetzungen, hin und her auch romanartige Sachen, Gedichte — kurzum, es ist eine sehr große Mannigfaltigkeit von Literaturgattungen und Stoffen in ihnen vorhanden; aber sie erscheinen bei der ersten Begegnung fast durchweg höchst uninteressant, und dazu liegt es offen am Tage: einer schreibt den anderen ab; es ist eine Kette von Plagiaten, die sich durch diese 400 Bände zieht, und man muß schon der richtige Schatzgräber sein, um unter den Schichten dieser Plagiate auf die wirklichen Fundamente zu kommen. Aber, es ist genau so und nicht anders: in diesen 400 Folianten liegen die Brunnenstuben der Kultur, der wir direkt entstammen. Lassen Sie mich Ihnen das auf einigen Linien zeigen. Man hat jeden Menschen und jede Gruppe von Menschen danach zu würdigen, was sie gearbeitet haben. Alles übrige fällt in der Geschichte ab. "Was haben diese Kirchenväter gearbeitet? Ich könnte darauf mit einem einzigen Satz antworten: sie haben das Testament der Antike, welches aus Griechenland stammte, mit dem Testament des Judentums und mit dem Urchristentum zu einer Einheit verbunden — zu einer Einheit: wie sie es gemacht haben, darüber kann man die Nase rümpfen, aber es ist die einzige Einheit, welche dauernd vollzogen wurde, und daher die Einheit, welche das Mittelalter mit seiner Kultur begründet hat. Nun aber ist es nicht wohlgetan, weiser sein zu wollen als die Geschichte und zu meinen, wenn man selber dabei gewesen wäre, hätte man die Sache besser gemacht. Die Verbindung des Christentums und der Antike — das ist ihre Aufgabe und ihre Arbeit gewesen. Antike und
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II. Bildungspolitik
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Christentum, diese beiden größten Erscheinungen, die bisher die Geschichte kennt und von denen jede ihren eigenen "Weg gegangen war und ihre eigenen, von den anderen qualitativ verschiedenen Prämissen gehabt hat, also daß man nicht hätte glauben sollen, daß sie sich kriegen werden — und sie haben sich doch gekriegt — Antike und Christentum, diese beiden Erscheinungen sind zu einer Einheit verbunden worden. "Wer Sokrates zu Füßen gesessen und wer Plato gehört hatte, konnte nie daran denken, daß je eine Zeit kommen würde, in der die Nachfahren der Propheten und die Psalmisten mit ihnen zu einer Einheit zusammenschmelzen würden. Und doch ist das geschehen. Ereilich konnte es nur geschehen, weil, so verschieden die Ausgangspunkte dort und hier — Palästina und Hellas — gewesen sind, seit den Tagen Alexanders des Großen allmählich eine gemeinsame Zielstrebigkeit die Völker am Ostbecken des Mittelmeeres zu bewegen und zu beherrschen begonnen hatte. Nicht nur durch Austausch näherten sie sich, sondern auch und vor allem durch eine innere gleichartige Entwicklung. Erinnern Sie sich einerseits, um ein Beispiel anzuführen, wie sich im Judentum aus dem Nationalgott Jahve der Gedanke des wahrhaften, wirklichen Monotheismus bildet als Exponent der jüdischen Lebens- und Geschichtserfahrung, und erinnern Sie sich andrerseits, wie unter ganz anderen Voraussetzungen, von Plato, der Stoa, Poseidonios her, der Gedanke des Monotheismus in der griechischen Entwicklung immer souveräner, lebendiger wird und wie dann zuletzt der niemals hoch genug zu schätzende Jude Philo und seine alexandrinischen Glaubensgenossen die Verbindung vollzogen zwischen den Gottesgedanken, die in Hellas und in Palästina ausgebildet worden waren. Wie hoch oder wie niedrig man diesen Monotheismus einschätzen möge, eins ist gewiß: erst als er da war, hat die Menschheit den Gedanken der Einheit des Menschengeschlechtes und der Einheit der Natur gewonnen. Sie
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hatte schon vorher den Gedanken der Einheit der Natur, aber ohne das persönliche Element des Geistes hineinzubringen und auch ohne die Strenge der wirklichen Einheit. Uberall aber, wo der Monotheismus in jener Entwicklung zum Sieg gekommen ist, ist er der Ausdruck dafür, daß man zur vollen, Natur und Geist, Physik und Geschichte umspannenden Einheit der Betrachtung gekommen ist. Diese Einheit wurde nun eine Wirklichkeit für den menschlichen Geist und brachte mit einem Schlage eine neue "Weltanschauung, eine neue Frömmigkeit und eine neue Ethik! Und blicken wir noch etwas tiefer! Das Testament der Antike, wir mögen es wiederum beklagen oder uns darüber freuen, schließt in dem werdenden Neuplatonismus mit der Erkenntnis, daß die äußere "Welt etwas wesentlich Gleichgültiges ist, daß es auf das Innenleben ankommt, und daß gegenüber dem Innenleben, d. h. dem Geistigen und Seelischen, alles, was mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, unwert, ja unwirklich ist. In der jüdischen Entwicklung war man von ganz anderen Voraussetzungen ausgegangen — keineswegs von einer Theorie über das unzerstörbare "Wesen und die "Würde des Geistes wie in Hellas. Dennoch war man auch hier zu dem Gedanken gekommen, daß die Welt etwas nicht "Wesenhaftes und "Wertvolles ist, daß vielmehr das Innenleben — denken Sie an die jüngsten Psalmisten — in der Verbindung mit Gott das eigentliche Leben ist, und daß die Erkenntnis, die man da gewinnt, die eigentliche "Weisheit ist: „"Wenn ich nur dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde." Nun konnten die beiden Schätzungen, welche die Hellenen und die Juden gewonnen hatten, konflagrieren. Und nehmen Sie weiter, wie sich in den letzten Menschenaltern vor Christus auf beiden Seiten der Trieb ausgestaltete, an die Stelle nationaler und bürgerlicher überkommener Vereinigungen eine Gesinnungsgemeinschaft zu setzen! Dort und hier begann man die Menschen aus den alten Vereinigungen herauszu-
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ziehen, weil sie die Ideale nicht mehr erfüllten und weil sie das höhere innere Leben störten, und dort und hier sammelte man sie in neuen Verbindungen, die auf einer Gemeinsamkeit der Lebensziele und Lebensführung sich gründeten — Philosophenschule und religiöse Sekte! Wieder also auf beiden Seiten derselbe Zug, der zur Vereinigung führen mußte! Die Ideen vom höheren "Wesen der Menschheit und vom inneren Menschen lösten die nationalen und staatsbürgerlichen Ideen ab! So könnte ich fortfahren und zeigen, wie um den Anfang unseres Zeitalters, als sich die Religion wahrhaft wandelte, als überall der Rock der Volksreligion zu eng geworden war und der Rock der politischen Religion vom Innenleben abgeworfen wurde, wie da überall aus den Volksreligionen G-esinnungsgemein schaften und daher Ansätze zu Weltreligionen sich entwickelten. Aber an Jesus Christus knüpfte sich nun die entscheidende und dauernde Bewegung — das, was die tiefsten G-eister und die zartesten Seelen wollten und suchten, worauf der Zeiger der Zeit stand, was mit Notwendigkeit kommen mußte. Und so knüpfte es an ihn an, daß der volle Strom des Hellenismus, soweit er dem Transzendentalen zustrebte, mit aufgenommen wurde. Alle übrigen Ansätze, Weltreligionen zu begründen, verkümmerten oder wurden aus dem Felde geschlagen. Nur der Ansatz, der in Alexandrien durch den Ausgleich des Jüdischen· und Hellenischen sich gebildet hatte und dann auf dem Grunde des Evangeliums von den christlichen Apologeten fortgebildet wurde, behauptete sich. Ihn entw i c k e l t und a u s g e s t a l t e t zu haben, ist das Werk der Kirchenväter. Die Durchführung dieser Aufgabe verbindet sie zu einer festen Einheit; im einzelnen sind sie sehr verschieden, verschieden auch nach den Generationen bis zum fünften und sechsten Jahrhundert; denn jedes dieser Jahrhunderte hatte seine besondere Aufgabe, bis der Bund zwischen Jüdisch-Christlichem und Antikem perfekt
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war. In der Aufeinanderfolge liegt die Vollendung jener ungeheuren Aufgabe, begonnen — nach Philo — in gewissem Sinne schon von Paulus, sodann von den christlichen Apologeten, grundlegend gelöst von Clemens Alexandrinus und Origenes, in ihrem Geiste weitergeführt von Männern wie Eusebius, auch Hieronymus ist hier zu nennen, endlich relativ abgeschlossen vom unvergleichlichen Augustin. Die Vereinigung des Jüdisch-Christlichen mit dem Antiken zu einem Glauben, einer Weltanschauung, einer Ethik, einer sozialen und individuellen Lebensordnung — das ist die Aufgabe der Kirchenväter gewesen. Und man kann, wenn man erwägt, was sie geschaffen haben — die Vereinigung der beiden ungeheuren Ströme —, sich nicht beklagen, weder darüber, daß sie keine ordentliche Aufgabe gehabt haben, noch darüber, daß sie diese Aufgabe ganz unvollkommen vollzogen haben. Aber zweitens: sie haben nicht nur die Aufgabe vollzogen, in den Gemütern und den Köpfen eine einheitliche, auf Monotheismus gegründete Religion und Weltanschauung zu schaffen, sondern sie haben auch das umfassendste, kräftigste und dauerndste Institut begründet, welches wir kennen: sie haben die katholische Kirche gebaut. Damit haben sie neben dem Ausgleich der Ideen ein Gebilde geschaffen, durch welches sie die Menschheit umklammerten und umfaßten, und welches bald so stark wurde, daß es an die Stelle des Römischen Reiches trat. Oder man kann sich auch so ausdrücken: jeder Stein, welcher im Bau des Reichs niedergerissen wurde, wurde in den Bau der Kirche eingefügt. Das Reich verfiel, und die Reichskirche erhob sich! Niemals hat sich sonst in der Geschichte etwas zugetragen, was mit dieser Entwicklung zu vergleichen wäre! Wie wertvoll aber war und ist diese Schöpfung? Davon will ich heute schweigen; auch wird die Antwort unter uns je nach dem religiösen und philosophischen Standpunkt sehr verschieden ausfallen. Aber das kann niemand be-
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streiten, daß das universalste und bedeutendste Gebilde, in welchem jemals ein großer Teil der Menschheit sich selbst zusammengefaßt hat, in jenen Jahrhunderten geschaffen worden ist — geschaffen von den Kirchenvätern —, und daß sich dieses Gebilde, die katholische Kirche, noch immer mit Kraft unter uns behauptet. "Weiter aber: die Kirchenväter haben nicht nur einen Rest der Antike und des Verständnisses solcher Geister, wie Jesus und Paulus es waren, hinübergeführt in das Mittelalter — sie haben uns auch die Möglichkeit gegeben, wo sie selbst schwache, tendenziöse und kurzsichtige Vermittler waren, wo die Dürftigkeit der Zeit zu Entleerungen und Verdummungen zwang und wo sie selbst kein Verständnis mehr besessen haben, über sie hinweg direkt zu den Quellen zu schreiten — sie haben uns die klassischen Schriften durch Abschreiben erhalten. Wieviel sie davon absichtlich erhalten haben und wieviel unabsichtlich daneben erhalten geblieben ist, dies ist eine Frage, von der man denken sollte, daß die Theologen und Philologen sie einer besonderen Aufmerksamkeit würdig erachtet hätten; denn es ist eine Aufgabe ersten Ranges, festzustellen: was ist mit Bewußtsein und Absicht aus der griechischen und lateinischen Klassik, dem Spätjudentum und dem Urchristentum konserviert worden? Allein diese Frage ist bisher nur sehr unvollkommen beantwortet worden. Gewiß aber ist, daß sich ein sehr großer Bestand erhalten hat, darunter ein ungeheurer Bestand von solchen Schriften, für die jene Männer selbst kein Verständnis oder nur ein sehr unvollkommenes besessen haben. Hätten sie nicht gearbeitet und abgeschrieben — in jenen Zeiten, die wir die dunklen nennen —, wie arm wären wir! Aber weiter. Diese Kirchenväter haben, indem sie in ihren oft so „langweiligen" Schriften historische, erbauliche, heilige Geschichten, Märtyrergeschichten, Bibeltexte usw. geliefert haben, überall die Grundlagen f ü r die west-
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europäischen Nationalliteraturen gelegt. Diese haben sämtlich in der Arbeit der Kirchenväter ihre Wurzeln, also in jener Epoche, die den klassischen Philologen alten Schlags abscheulich dünkt. Sie mögen blicken, wohin Sie wollen: im Syrischen, Koptischen, Armenischen, Georgischen, Gotischen, Irischen, Angelsächsischen, Slavischen — überall ist die Literatur der Kirchenväter diejenige, mit welcher die nationalen Literaturen, indem man zu Ubersetzungen schritt, begonnen haben. Zum größeren Teil haben diese Nationen auch erst ihre Schrift von dort bekommen. Das geschah, weil jede andere Religion, außer der christlichen und jüdischen, sich so verbreitete, daß sich fast nur die Zeremonien verbreiteten, die christliche Religion aber von Anfang an ein, wenn auch nur bescheidenes Maß von geistiger Erkenntnis verlangte. Dieses bescheidene Maß nötigte aber bereits zu Ubersetzungen in die Landessprachen und schuf diesen Völkern Schrift und Literatur. Die griechischen und lateinischen Kirchenväter haben also überall die Fundamente zu den nationalen Literaturen gelegt, und sie selbst waren überall die ersten Übersetzer! "Welch ein Verdienst! Aber freilich anderseits, wohl haben sie getan, was sie konnten, aber das war in vieler Hinsicht sehr ungenügend. Man kriegt eben in der G-eschichte nichts umsonst, und auch das Herrlichste muß man bezahlen; denn jedes Licht hat, solange wir nicht in der Unendlichkeit leben, seinen Schatten und je universaler eine Institution ist, desto exklusiver und tyrannischer wirkt sie. Es ist nicht schwer, anzugeben, was uns die eigentümliche Art, wie wir die Grundlagen unserer Kultur erhalten haben, diese paradoxe, segensreiche und verhängnisvolle Verbindung von Antike und Christentum, gekostet hat. Sie hat uns zunächst für viele Jahrhunderte die Verdunkelung der Erkenntnis gekostet, was nun wirklich Antike und was wirkliches Christentum im Ursprung gewesen ist; denn, indem sie zusammenge-
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schlossen wurden, ist nur ein Teil der Gedanken, umgebogen, verdünnt und zum Teil entleert, verschmolzen worden.
Ein Spötter könnte sagen: Antike und Christentum
seien durch die Kirchenväter
so verbunden worden, daß
das Christentum sich eine Schutzimpfung von der Antike habe geben lassen, um nicht von ihr vernichtet zu werden, und umgekehrt
die Antike vom
Schutzimpfung gehabt habe.
aber
und
Christentum,
bleibendes Siechtum
daß diese zur
Folge
Indessen das wäre doch ein viel zu pessi-
mistisches Urteil! ben
ein
Die Kirchenväter haben in gutem Glau-
bester Absicht
gehandelt
ohne schlimme
Ten-
denzen, und was sie schufen, war zunächst gewiß heilsam. Yon beiden Seiten hat man das eigentlich Wertvolle, wie man es verstand, verbunden, das angeblich Gleichartige; nur dafür hatte man einen Sinn.
Den Gott Piatos verband
man mit dem Vater Jesu Christi, den Logos mit dem Messias und so fort.
Nicht anders geschah es in der Ethik.
Ambrosius verbindet die vier antiken Tugenden mit Glaube, Liebe und Hoffnung. Er hat nicht bemerkt, daß aus diesen drei Tugenden in Verbindung mit Weisheit, Tapferkeit usw. etwas anderes werden mußte.
So war die Verbindung eine
Verklitterung, in der vieles unterging oder einen ganz anderen Sinn erhielt.
Diese Verbindung verdeckte die Klassik
der Antike, der jüdischen Propheten und der Evangelisten. Aber noch mehr.
Indem sich auf christlichem Boden die
große Schöpfung einer Gesinnungsgemeinschaft zur Schöpfung der katholischen Kirche erweiterte, wurde, trotz der umsichtigen und liebevollen Seelsorge vieler Bischöfe, ein zwingendes und hartes Gebäude, ja in Wahrheit ein großes Gefängnis aufgerichtet.
Ein hoher Preis mußte hier be-
zahlt werden; denn selbst die Gedanken hörten nun auf, zollfrei zu sein.
Die Antike kennt Gedankenzensur
und
Seelenkontrolle nicht, nur die Handlungen und die Leiber waren dem Staat unterworfen.
Aber vom vierten Jahr-
hundert ab sind auch die Seelen dem „christlichen" Staat
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und der Kirche unterworfen; und der Zwang über die Leiber erstreckt sich bis auf den Zwang über den G-eist und über das innere Leben. Das ist der höchste Preis, der bezahlt worden ist. Man kann wieder sagen: so mußte es kommen. Aber bekanntlich mußte es immer so kommen, wie es gekommen ist. Das ist eine billige "Weisheit. "Wir sagen: so ist es gekommen, und wir möchten lieber, daß es anders gekommen wäre; aber wer vermag zu sagen, wie es hätte besser kommen sollen? In Vergessenheit geriet das wahre "Wesen der Klassik und des Urchristentums, nur weniges blieb übrig. Und eine Zensur über die Gedanken, über die inneren Empfindungen des Herzens begann, welche sich allmählich als eine immer drückendere Last auf die westeuropäische Menschheit legte. Betrachtet man diese damals wie eine große Kinderstube, so mag man sich das Zucht- und Erziehungshaus gefallen lassen. Aber erwachsene Menschen sind in keiner Periode einfach Kinder, und der üble Zwang blieb bestehen, nachdem das Kindesalter aufgehört hatte! Antike und Christentum! Sollen wir sagen, weil die Klassik der Antike durch die Arbeit der Kirchenväter verdeckt ist, und weil die Klassik des Christentums ebenfalls durch diese Arbeit unkenntlich geworden ist, uns ginge im 20. Jahrhundert das "Werk der Kirchenväter überhaupt nichts mehr an, und wir müßten über sie hinweg einfach zu den ursprünglichen Quellen zurückkehren? Als am Anfang des 19. Jahrhunderts die großen Philologen auftraten Wolf, Niebuhr, Lachmann, da ist in der Regel ihre Meinung und Stimmung die eben charakterisierte gewesen — und vielleicht hält sie bei manchen von Ihnen noch heute an. Sie lehrten, allerdings geleitet von theologischen Rationalisten, die Kirchenväter seien die traurigsten G-esellen, und man müsse alles beiseite schieben, was sie geschrieben haben, und deshalb über das Christentum hinweg zur „Klassik" zurückkehren, sie sei so groß, so
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schön, so erhaben, daß sich eine große Weltanschauung, ja eine Weltreligion für sublime G-eister aus ihr ergäbe. Das ist ein Irrtum! Eine bessere Religion kann für ein Kulturvolk immer nur aus der überlieferten und präsenten Religion entstehen, und Religion kann man durch nichts ersetzen. Man könnte sie ersetzen, wenn sie nichts anderes wäre als eine Lückenbüßerin, die dort eintritt, wo unser Wissen aufhört. Aber das ist eine niedrige und völlig unzutreffende Auffassung von Religion. Religion ist entweder eine Empfindung und Beurteilung des Ganzen, stark und selbständig neben der wissenschaftlichen und ästhetischen, oder sie ist nichts. Entweder ist sie ausgebreitet über das ganze Leben, über die ganze Welt der Gedanken und Erscheinungen und stellt sich im selben Sinne als ein Ganzes dar, wie die Weltanschauung, die auf unsere Sinne gestellt ist und die da zählt und wägt — oder sie ist nichts als ein überliefertes Vorurteil. Entweder sie ist eine der großen Hauptfunktionen unseres Innenlebens wie der wissenschaftliche Erkenntnissinn und der ästhetische Sinn, die auch geweckt und erzogen werden müssen und bei manchen trotzdem stets schwach bleiben — oder sie ist nichts. Aber gewiß ist sie etwas und ruht kraftvoll in sich selber. Der gesunde Mensch, wie er zwischen Tag und Nacht abwechseln muß, behauptet seine Gesundheit auch nur im Nebeneinander und im Wechsel der wissenschaftlichen, ästhetischen und religiösen Empfindungen und Betrachtungen. Man kann aus der Klassik, diesem herrlichen G-ebilde aus Erkenntnis und Kunst, keine Religion machen! Niemand sollte das besser wissen als die Philologen, wenn sie ernsthaft nachdenken und keine Seite ihres Wesens verkümmern lassen. Man kann aber auch umgekehrt aus der Religion allein, sei es auch der christlichen, weder die Welt erkennen noch zu wahrhafter Bildung gelangen.
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Also können wir nicht anders verfahren, als daß wir aus allen Quellen schöpfen und sie alle auf die Gefilde unseres Lebens leiten. In dem Momente aber, wo wir das einsehen, stehen wir dem nicht mehr fern, was die Kirchenväter gewollt haben, was Philo und die Apologeten begonnen haben, wenn wir auch die Aufgabe anders fassen müssen und das Wasser der Quellen nicht so vermengen dürfen wie sie. Klar und scharf In den Gedanken, Die Gefühle stark und warm, Zwischen beiden feste Schranken, Sonst bist krank du oder arm.
Uberall aber sollen wir wirklich aus den Quellen schöpfen, nicht aus dem Sumpfwasser oder -— anders ausgedrückt — wir sollen in jedem Gebiet auf die Höhe hinaufsteigen, wo die Quellen sprudeln. Wir sollen das Große, Bleibende und Schöne gewinnen von den Höhepunkten. Die Höhepunkte sind aber keineswegs stets im Fortschritte der Geschichte zu suchen, als müsse der bessere Künstler stets später gelebt haben als der schlechtere und der bessere Philosoph oder Prophet später als der geringere, so gewiß es ist, daß die Geschichte im ganzen fortschreitet. Wir haben in der Vergangenheit Höhepunkte in ihrer Art, wunderbare Erscheinungen voll Kraft und Fülle, die so nicht wiederkehren; sie sollen wir niemals vergessen; ihr Geist soll bei uns gegenwärtig und lebendig sein. Der Mensch kann, wenn er voll und ganz leben will, nur dann leben, wenn er aus den Händen der erhabensten Geister aller Zeiten sein Brot empfängt. So wird die Aufgabe, die hellenischen Höhepunkte aufzusuchen, ja nicht nur aufzusuchen, sondern sich auf ihnen zu verankern, fortbestehen. Aber fortbestehen wird auch die Aufgabe, den hohen Ertrag der griechischen Bildung zusammenzuhalten mit dem, was das Evangelium uns ge-
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bracht hat. Um das zu können und die wahre Humanität festzuhalten und zu fördern, muß man in der Q-eschichte dieser Verbindung heimisch sein; denn man überspringt niemals ungestraft auch nur ein Stadium geschichtlicher Entwicklung. Hier aber handelt es sich um die Epoche, in der der Grund zu der bleibenden Verbindung gelegt worden ist. — Nun bin ich aber meinen Kirchenvätern noch eine G-enugtuung schuldig. Ich habe sie eingeführt als langweilige Leute, trotz der großartigen Arbeit, die sie geleistet. Ich kann das im ganzen auch nicht zurücknehmen, aber im einzelnen außerordentlich limitieren. Es sind unter ihnen ausgezeichnete Männer und unter den Schriften, die sie verfaßten, finden sich solche, die sich dem Schönsten, Tiefsten und Anregendsten zur Seite stellen lassen, was die Weltliteratur jemals hervorgebracht hat. Nur erinnern will ich daran, daß Humboldt im „Kosmos" Naturschilderungen von Gregor von Nazianz aufgenommen hat, daß in den Briefen zahlreicher Kirchenväter außerordentlich interessante Lebens- und Sittenschilderungen gegeben werden, und daß Hymnen von hoher Kraft und Schönheit von ihnen gedichtet worden sind. Proben zu bieten, würde hier zu weit führen. Wohl aber möchte ich aus einem sehr alten kirchlichen Schriftsteller, der zwar als paradox und geistreich gilt, aber den man doch heute nur selten aufschlägt, aus Tertullian, zwei Stellen vorlesen, um Ihnen einen Begriff von seiner Eigenart zu geben — zunächst eine Stelle, wo er den Gedanken behandelt: Alles kehrt wieder und reicher wieder, alles stirbt, um reicher zu erstehen! Der große Trick der Natur ist, durch Tod Leben zu schaffen. Das drückt er so aus: „Zurück kehren Winter und Sommer, Frühling und Herbst mit ihren Triebkräften, ihrer Eigenart und ihren Produkten; denn auch die Erde erhält vom Himmel ihr
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Gesetz, daß die Bäume sich wieder bekleiden, die Blumen sich wieder färben, die Kräuter von neuem ansetzen, um dieselben Samenkörner hervorzubringen wie die, welche verbraucht wurden, und erst hervorbringen, nachdem sie verbraucht wurden. "Wunderbares G-esetz! Aus einer Verderberin wird die Natur eine Erhalterin; sie entwendet, um wiederzubringen; sie tötet, um zu bewahren; sie verdirbt, um wiederherzustellen, ja um reichlicher wiederzugeben, vernichtet sie zuvor. Voller und herrlicher bringt sie das zurück, was sie vernichtet hat, der Untergang wird in "Wahrheit zum Wucherzins, das Sterben zur Kapitalsanlage, der Verlust zum Gewinn. Um in einem alles zu sagen: W i e d e r k e h r i s t das W e s e n der S c h ö p f u n g . Alles, was dir begegnet, ist schon einmal dagewesen, alles, was du verloren hast, kommt wieder; nichts existiert nur das eine Mal. Alles kehrt, wenn es verschwunden, wieder zum Bestände zurück. Alles fängt dann an, wenn es aufgehört hat; es endet eben deshalb, um zu entstehen, der Zweck des Todes ist neues Leben." (De resurrectione, 12.) Das ist gewiß ein Gedanke, den Tertullian nicht zuerst gedacht hat. Aber die Ausdrucksweise ist originell und wundervoll. Oder er schildert, wie sich in Afrika unter der Pflege des Staates die allgemeinen Verhältnisse verbessert haben und ein großer Umschwung der Kultur unter Septimius Severus und seinen Vorgängern stattgefunden hat. „Zweifellos wird der Erdkreis von Tag zu Tag mehr angebaut und ist kultivierter als ehedem, alles ist bereits zugänglich, alles erforscht, alles für den Handel erschlossen; verrufene Einöden sind längst in die lieblichsten Triften verwandelt, Wälder zu Ackerfeld urbar gemacht, die wilden Tiere durch die zahmen vertrieben, Sandflächen besät, Felskuppen ausgeglichen, Sümpfe ausgetrocknet und die Zahl der Städte ist so groß, wie ehemals die der Hütten. Auch wüste Inseln schrecken nicht mehr, noch Klippen: überall
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sind Häuser, überall Bevölkerung, überall Staaten, überall Leben! Das bezeugt aufs sicherste die ungeheure Vermehrung des Menschengeschlechts! "Wir sind der Erde zur Last geworden; kaum reichen die Grundstoffe mehr für uns aus; das Notwendigste wird knapper und überall gibt's Klagen, da uns die Natur bereits nicht mehr erhalten will. Seuchen, Hunger, Kriege und Untergang von Städten sind schier für Heilmittel zu halten, für eine Art von Zurückschneidung des überwuchernden menschlichen Geschlechts." (De anima 30.) Diese "Worte haben außer ihrer Kraft noch etwas sehr Tröstliches. Die Erde hat noch 1600 Jahre nach Tertullian trotz des ungeheueren "Wachstums der Bevölkerung die Menschen ernährt; also werden die pessimistischen Ansichten der Malthusianer in das Nichts zu weisen sein. Dann möchte ich noch eine Stelle anführen vom größten Kirchenvater, den ich vorhin bereits flüchtig genannt habe. E s ist der Mann, der überhaupt in der Antike und in der Kirchengeschichte nicht seinesgleichen gehabt hat, der in der Kraft, inneres Leben auszusprechen, unerreichbar war, Augustinus. Ich will nur eine Stelle vorlesen, wo er schildert, wie er sich aus einem leichtfertigen Leben hat aufraffen wollen und schon die Abkehr von diesem Leben begonnen hat, aber noch nicht die Kraft besaß, es wirklich abzuschütteln. Das drückt er so aus: „ 0 Wahrheit, "Wahrheit, wie innig seufzt das Mark meiner Seele nach dir." „So lag die Last der "Welt sanft auf mir wie auf einem Träumenden, und die Gedanken, in denen sich mein Sinn dir, mein Gott, zuwandte, glichen dem Bemühen derer, die sich aus dem Schlafe erheben wollen, aber von der Tiefe des Schlummers überwältigt, immer wieder zurücksinken. Und wenn du mir zuriefst: „Stehe auf, der du schläfst", so wußte ich dir keine andere Antwort zu geben als die
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säumigen und träumenden "Worte: „G-leich, gleich, laß mich nur noch ein wenig träumen." Doch das „Gleich, Gleich" nahm kein Ende und das „Nur noch ein wenig" zog sich in die Länge." Wer hat so schildern können? "Wir aber sind so selbstgefällig, daß wir urteilen, diese Schilderung sei „ganz modern"! Nein — wir reden heute noch mit den Worten Augustins, denken mit seinen Gedanken und nennen das modern. Die tiefsten Seelenschilderungen in allen westeuropäischen Literaturen und die herrlichsten Gesänge, vor allem die Lieder Paul Gerhardts, sind von Augustin beeinflußt, ja auch zwischen ihm und Goethe gibt es eine Verbindungslinie. — „Ich wurde mir selbst eine Frage" — dieser hundertmal variierte Ausdruck, um nur ein Beispiel zu nennen, stammt von Augustin: „Et mihi ipsi factus sum quaestio magna." Wie gerne würde ich fortfahren, Ihnen zu zeigen, was Augustin bedeutet hat, und daß man auch neben ihm in bezug auf viele andere Kirchenväter Trauben von den Dornen und Feigen von den Disteln sammeln kann. Aber genugί An dieser Stelle, hier in diesem wissenschaftlichen Gemeinwesen, Universität und Akademie, brauchte ich eigentlich nicht die Kirchenväter zu empfehlen; denn diese Ihre Akademie hat einen großen Teil ihrer Kräfte seit Jahrzehnten der Ausgabe der Kirchenväter gewidmet. Es ist mir eine hohe Freude, auch an dieser Stelle für diese Bereicherung der Wissenschaft, der ich diene, meinen Dank auszusprechen. Aber es ist nicht damit getan, daß Berufstheologen und Philologen die Kirchenväter studieren oder daß nur die Theologen jenen humanen Geist pflegen, der aus der Verbindung des Christentums mit der Antike erwachsen ist. Keine Geschichtsschreibung kann gedeihen, wenn sie nicht getragen wird von warmer Sympathie, keine Arbeit auf dem Boden der Geisteswissenschaft kann sich kräftig und gesund entwickeln, wenn nicht die Besten der Nation
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— denn sie sind das wahre „Volk" — ihr zur Seite stehen. Darum bitte ich, daß Sie auch diesem Zweige geschichtlicher Forschung Ihre Sympathie widmen mögen und nicht bloß der Herausgabe der Quellen. Man mag über diese Geschichte urteilen, wie man will, man mag sie als abgeschlossen und in jedem Sinne als vergangen betrachten — aber sie ist unsere Mutter; aus diesem Mutterschoß sind wir mit all unserer Kultur hervorgegangen.
Die Bedeutung geistiger Werte für Arbeit und Wirtschaft. (1927)
Die Frage: „Haben geistige Werte für Arbeit und Wirtschaft eine Bedeutung?" ist stets eine zeitgemäße Frage, aber sie ist für uns und in unserer Zeit von besonderer Wichtigkeit; denn wir stehen noch immer im Kampf um unsre Selbsterhaltung. Noch immer sind wir nur Halbfreie, versklavt durch eine empörende Schuldanklage und durch eine furchtbare Schuldenlast, und brauchen alle Kräfte. Aber ist es nötig, über die Bedeutung geistiger Werte für unsre Arbeit und Wirtschaft ausdrücklich zu reden, ist diese Bedeutung nicht selbstverständlich? Wo und wann können geistige Werte jemals ausgeschaltet werden? Nun, wir werden sehen, daß wir leider in unserm Zeitalter vor der Gefahr stehen, daß im angeblichen Interesse der Arbeit und Wirtschaft geistige Werte beiseite gestellt und den „Ideologen" überlassen werden. Dieser Gefahr müssen wir begegnen; aber zuvor ein kurzes Wort — was sind geistige Werte? Die Antwort kann in Kürze gegeben werden. Erstlich muß schlechthin alles, was den Menschen über die Naturstufe erhebt, zu den geistigen Werten gerechnet werden; denn es wird nicht durch physische Kraft zwangsweise wirksam, sondern es bedarf des Entschlusses und der Zustimmung. Sodann und im besonderen ist alles, was den Egoismus bricht oder schwächt und den Menschen zu Opfern willig macht, ein geistiger Wert, und damit im Zu-
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sammenhang alles, was ihm eine innere höhere Befriedigung gibt, die ihn befähigt, sich über Unglück zu erheben. So betrachtet, dürfen wir von einem herrlichen Reichtum geistiger Werte sprechen, der uns geschenkt ist. Der Schöpfer hat mit ihnen nicht gekargt. Es sind die Kräfte der Kunst, der Erkenntnis und des Rechts, des Volkstums und des Staats, vor allem aber der Moral und der Religion, die als einzelne und noch mehr in ihrem Zusammenwirken eine zweite, geistige Welt darstellen, in der wir leben können und sollen. Wie aber vermögen sie in unsrer Arbeit und Wirtschaft wirksam zu werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst darüber Klarheit verschaffen: Wie vollzieht sich die Arbeit und die Wirtschaft heute unter uns? Wenn ich recht sehe, sind hier drei mächtige Tendenzen wirksam. Die erste Forderung ist die d e r s t r a m m e n A r b e i t . Lockere, halbe Arbeit, wie sie auch subjektiv unbefriedigend ist — halbe Arbeit wird zum Uberdruß und Ekel, nur volle Arbeit führt zur Arbeitsfreude — ist im Ganzen des Arbeitsprozesses heute unerträglich. Wer nur lockere Arbeit leisten will, wird herausgeschleudert und kommt unter die Räder; er kann nicht mehr bestehen. Von jedem Arbeiter verlangen wir die höchste Anspannung seiner Energie. Und wirklich — wir Deutsche arbeiten jetzt und schon seit längerer Zeit wie kein Volk in Europa vor uns und neben uns! Die zweite Forderung ist die der R a t i o n a l i s i e r u n g d e r A r b e i t . Wird von dem Arbeiter die h ö c h s t e Energie-Anspannung gefordert, so wird gleichzeitig gefordert, daß jede Arbeit mit dem k l e i n s t e n nötigen Kraftmaß bewältigt wird. Das heißt Rationalisierung der Arbeit. Alle unproduktive und alle Doppelarbeit ist auszuschalten; jeder Zeitverlust ist zu vermeiden; alle Spesen sind auf das Mindestmaß herabzusetzen; der Arbeitsprozeß selbst ist auf die einfachste Grundform zurückzuführen, das Arbeitsprodukt möglichst zu typisieren; durch geschickte Arbeitsteilung sind
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die Arbeitskräfte zu steigern. Durch diese Mittel hat bei uns — Amerika ist vorangegangen — die Arbeit eine neue Art und einen neuen Charakter gewonnen. Sparsamkeit im Arbeitsprozeß und Herausgestaltung des besten Typus des Arbeitsprodukts auf jedem Gebiet, um dann alle anderen Typen abtun zu können, das ist heute die Losung. Die dritte Forderung lautet: E i g e n g e s e t z l i c h k e i t d e r A r b e i t . Es war zuerst M a c c h i a v e l l i im Renaissance-Zeitalter, der in bezug auf die Leitung des Staats diese Forderung erhoben hat. Er erkannte in dem Staat ein Gebilde eigenen Lebens und verlangte, daß in bezug auf seine Leitung schlechterdings nichts maßgebend sein dürfe als das Wohl und die Größe des Staats selbst, daß also auch Rücksichten auf die Moral und Rücksichten auf andere sich niemals einmischen dürfen. Heute wird von vielen diese Forderung der Eigengesetzlichkeit in bezug auf viele Gebiete nachdrücklich erhoben: die Wirtschaft ist eigengesetzlich, also darf sie nur vom wirtschaftlichen Standpunkt geleitet werden, nichts darf sich hier einmengen, auch nicht der Staat; die Religion ist eigengesetzlich, also muß auf ihrem Gebiete den Kirchen alles überlassen werden; die Wissenschaft ist eigengesetzlich, also darf keine Rücksicht auf die Erziehung oder auf das Gesamtleben des Volkes hier walten; die Kunst ist eigengesetzlich, also hat sie jeden Einspruch der Moral abzulehnen; schließlich: jede Arbeit ist eigengesetzlich und empfängt daher ihr Gesetz allein von sich selbst. Durch das Zusammenwirken dieser drei Forderungen ist unser heutiges Leben in Arbeit und Wirtschaft charakterisiert, eine jede berechtigt und doch — wenn sie entschlossen und rücksichtslos als alleinberechtigt geltend gemacht werden, ist eine furchtbare Mechanisierung des gesamten Lebens, ist die Herrschaft des Materialismus, und zuletzt ein Zerfall des ganzen Gemeinwesens durch Verödung und zugleich durch einen tödlichen Kampf der verschiedenen Grup-
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pen untereinander die sichere Folge. Die Wirtschaft wird durch die Maschine zum Tyrannen werden, oder ein drakonischer, alle Freiheit vernichtender Staat; aber bevor diese beiden Mächte ihren Kampf ausgekämpft haben, werden ihre Sklaven, die Menschen, innerlich zugrunde gegangen sein. Um die Mittel für das Leben zu erwerben, werden sie dieses selbst verloren haben! Denn wenn der einzige Inhalt des Lebens die Arbeit sein soll, und nicht mehr die Entfaltung a l l e r Gaben, wie sie jeder nach seinem Maße erhalten hat, so e r s t i c k t d e r M e n s c h . Und wenn alle Arbeit rationalisiert und auf wenige Typen gebracht werden soll, so e r s t i c k t d i e A r b e i t a l s i n d i v i d u e l l e u n d g e i s t i g e . Und wenn jedes Lebensgebiet, und so auch die Wirtschaft, eigengesetzlich ist, und man bei seiner Förderung keine Rücksicht auf anderes nehmen darf, so löst sich der Organismus des Gemeinwesens auf. Also sind die geistigen Werte heranzuziehen — nicht, wie man wohl oberflächlich meint, um das Leben zu verschönen oder interessanter zu machen, oder über seine Härten zu täuschen, sondern um es zu e r h a l t e n . Nicht um eine Nebenrolle handelt es sich, die man ihnen gütigst zugesteht, sondern als lebensnotwendige Mächte müssen die geistigen Werte ihre Stellung mitten im Leben haben. Es kommen aber die geistigen Werte in doppelter Hinsicht in Betracht, erstlich bei der Arbeit selbst, sodann neben der Berufsarbeit und außerhalb derselben. Es sind erst wenige Monate her, da saß ich in München im Arbeitszimmer des berühmten Psychiaters Professor K r a e p e l i n , der uns zu unsrem tiefen Schmerze vor kurzem entrissen worden ist. Wir sprachen zuerst von dem großen neuen Gebäude für die psychiatrische Wissenschaft, dessen Errichtung nunmehr gesichert war, und an dessen Spitze er selbst treten sollte. Dann wandte sich das Gespräch dem Thema zu, welches den Gelehrten gerade vor allen andern fesselte — d i e P s y c h o l o g i e d e r A r b e i t
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u n d d e r A r b e i t e r . Mit leuchtenden Augen setzte er mir auseinander, wie notwendig diese Wissenschaft sei, um dem Arbeiter die Freudigkeit, ja die Seele zu erhalten und der Arbeit eine Seele zu geben. Die Arbeit und die Arbeiter müssen p s y c h o l o g i s c h rationalisiert werden, sagte er, das heißt, es müssen alle die Faktoren ermittelt werden, welche den Arbeitsprozeß durch innere Organisierung und Ermittelung der psychologischen Voraussetzungen jeder Arbeit erleichtern und den Arbeiter durch richtige psychologische Leitung zu größerer Arbeitsleistung befähigen, ohne ihn frühzeitig zu ermüden. Er erzählte mir von seinen Experimenten auf diesem Gebiete, ζ. B. ohne daß die Arbeiter es wußten, daß sie Gegenstand einer Untersuchung werden sollten, wurde ihnen beim Beginn der Arbeit eine freudige Nachricht mitgeteilt. Das Ergebnis: die Arbeitsleistung sämtlicher Arbeiter ging an diesem Tage bedeutend in die Höhe! Dies ist das einfachste Experiment; es lassen sich viele ähnliche anstellen. „Wenn man Freude und Gemütswerte in die Arbeit einführt, steigert sich der Ertrag, jeder Verdruß aber mindert ihn!" Doch auch die einfachste Arbeit selbst läßt sich vergeistigen und dadurch anmutiger machen, zunächst schon, indem man ihr einen Rhythmus gibt und sie dazu Tag für Tag statistisch ausmißt. Ich habe in einem langen Arbeitsleben sehr viele mechanische Arbeit in der Wissenschaft leisten müssen; denn ich bin stets mein eigener Kärrner gewesen. Ich habe wochenlang einfach Abschriften gemacht, Texte verglichen, Wörterstatistik getrieben, öde Tabellen zusammengestellt und dergleichen. Was mir dabei die Arbeitsfähigkeit und -freudigkeit erhielt, war neben der täglichen Berechnung des Fortschritts der organisierende Rhythmus, den ich ihr gab, und ferner kleine Veränderungen in der Arbeitsweise, die wie eine Abwechslung wirkten. Auf solche kleine Abwechslungen, Freude und Gemüts werte muß der Arbeitgeber bedacht sein — er, aber auch jeder einzelne Arbeiter, muß erfinderisch werden, um seine Arbeit zu beleben und zu vergeistigen. Indem ich dies niederschreibe,
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fällt mir die Philosophie eines alten Bauern in Tirol ein, der ein tiefgründiges Gespräch über das, was der Mensch außer Essen und Trinken bedarf, mit den Worten Schloß: „Was braucht der Mensch? a Freid', a G'miet und a Abwechslung!" Der Mann hat recht, und mit dieser Einsicht muß sich die Arbeitspsychologie durchdringen. Doch gewiß — die Möglichkeit, der Arbeit eine Seele zu geben und die Seele des Arbeiters innerhalb der Arbeit vor Verödung zu schützen, ist begrenzt. Also müssen neben und außerhalb der Arbeit die geistigen Werte ihr Werk tun. Hier ist es zunächst die K u n s t im weitesten Sinn des Wortes, die herbeizuziehen ist. Ich rede nicht davon, daß sie schon bei der Arbeit selbst eine Stelle finden kann, sei es auch nur durch gefällige Arbeitsräume, durch zweckmäßig ausgesuchte gute Bilder und durch die Anmut von Blumen. Was mir vorschwebt, ist die Erweckung des Sinns des Arbeiters — nicht nur des Fabrikarbeiters, sondern ebenso des Heeres von kleinen Beamten und Beamtinnen usw. — für die bildende Kunst, ist seine Erholung durch die Musik und nicht zuletzt seine Schulung durch Gymnastik und Sport, denn gerade diese haben durch ihre Vereinigung von Kunst, aktiver Übung und Geselligkeit eine eminente Bedeutung. Was die bildende Kunst betrifft, so ist sie vielleicht nicht jedermanns Sache — „Kunstwerke sind vornehme Herren; man muß warten, bis sie einen ansprechen" — aber dennoch beobachtet man, wie dankbar und freudig die Kunst in weitesten Kreisen erfaßt wird, wenn nur die richtige Anleitung und Führung geboten wird, auf die hier alles ankommt. Die Anschauung von Kunstwerken vermag eine seelische Ruhe und eine innere Erhebung zu bewirken, die das Graue und die Unbill des Tages vergessen läßt. Daher müssen Führungen in den Museen und, wo diese nicht möglich sind, kleine Kunstausstellungen mit Erläuterungen häufiger geboten werden, als das heute der Fall ist. Viel tiefer freilich noch als die bildende Kunst greift die Musik in das
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Seelenleben ein. Wie viele Menschen habe ich kennengelernt, die ihr ödes Arbeitsleben durch die Musik verschönern und erleichtern! Ich denke hier nicht in erster Linie an die eigene Musikausübung, sondern an gehaltvolle Musikaufführungen im Konzertsaal und in der Oper. Solche volkstümlich zu gestalten, das Beste zu gewähren und den Eintritt mit dem geringsten Entgelt zugänglich zu machen, ist eine Aufgabe, der wir zurzeit noch immer nur unvollkommen genügen. Kino und Radio, denen eine künstlerische Bedeutung — aber sie hemmen und schaden auch — nicht abzusprechen ist, können sie nicht ersetzen, auch nicht das Schauspiel; darüber bedarf es keiner Worte. Noch ein Wort über den Sport. Er ist nicht nur Leibes-, sondern auch Seelenübung in Entschlossenheit und Mut, Enthaltung und Ausdauer; er ist daher durch keine andere Kunst zu ersetzen, und der Aufschwung, den er bei uns genommen hat, ist aufs wärmste zu begrüßen. Aber der Sport wird leicht zu einem tyrannischen Herrn. Wir müssen daher gegen jede Ubertreibung ankämpfen, sonst schädigt er nicht nur die Gesundheit, sondern bewirkt auch das Gegenteil von dem, was er soll: er vertreibt alle anderen guten und notwendigen Geister und führt dadurch zu einer Verödung des geistigen und seelischen Lebens. Diese Gefahr ist bereits im Anzug! Begegnen wir ihr, damit nicht Schlimmes aus Gutem wird! Höher noch als die Kunst ist die Bedeutung der E r k e n n t n i s und des W i s s e n s für Arbeit und Wirtschaft einzuschätzen. Allen zuvor kommt hier die Kenntnis des eigenen Faches und Berufs in Betracht. Je größer die Arbeitsteilung wird, und je seltener sich der Arbeiter an seinem Werke als einem Ganzen, das er geleistet hat, freuen kann, um so kräftiger muß die Forderung erhoben werden, daß jeder Arbeiter wenigstens einen Uberblick über das. ganze Arbeitswerk, von dem er nur einen kleinen Teil selbst herstellt, zu gewinnen vermag. Man unterscheidet mit Recht „gelernte" Arbeiter; aber ein gelernter Arbeiter
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ist man erst, wenn man nicht nur die Handgriffe gründlich versteht, sondern auch das ganze Werk, dem man dient, kennt und etwas von der geschichtlichen Entwicklung dieses Werks und seinen Fortschritten weiß. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen dafür sorgen, daß dies ermöglicht wird. Freilich, nicht überall gibt es wie in München ein „Deutsches Museum", in welchem jeder Industriearbeiter durch Anschauung die Entwicklungsgeschichte seines Faches aufs beste lernen kann; aber auch aus guten Vorträgen, Büchern und Besichtigungen von Werken läßt sich lernen, und der Erfolg für den Arbeiter und seine Arbeit wird ausgezeichnet sein. Ebenso wichtig aber ist, was man a l l g e m e i n e B i l d u n g nennt in ihren beiden Zweigen: Naturwissenschaftliche Kenntnisse und Geschichte. Sie bieten die beste Bereicherung und Erholung des Geistes zugleich. Habe ich nötig dies auszuführen? Naturwissenschaftliche Kenntnisse sind neben und mit dem Naturgenuß eine nie versiegende Quelle der Belehrung, der Aufklärung, und sie führen aus dem dumpfen Zustande der Gebundenheit an die Natur heraus; Geschichtskenntnisse aber, auch wenn es bei den Anfängen bleibt, heben den Menschen aus seinem Eintagsleben heraus und erweitern sein Ich von Stufe zu Stufe. Gewähren uns die naturwissenschaftlichen Kenntnisse einen Einblick in das Weltgebäude vom Kleinsten bis zum Größten, wappnen sie uns gegen die Natur, wo es nötig ist, und erfüllen unsern Geist mit Staunen und Ehrfurcht, so sind geschichtliche Kenntnisse das einzige Mittel, um uns über das geistige Leben der Gegenwart zu orientieren, uns von der Vergangenheit, wo sie zum Hemmnis wird, zu befreien und uns in den Stand zu setzen, die Zukunft vorzubereiten. Jeder, auch wenn er nur anfängt, sich mit irgendeinem Zweige der Geschichte zu beschäftigen, erfährt das, ja man merkt es einem Menschen auch schon in einem kurzen Gespräch an, ob er nur im Tage lebt oder ob er etwas von Geschichte weiß — wieviel umsichtiger und besonnener sind
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seine Urteile! Und damit ist noch nicht das letzte gesagt in bezug auf das, was uns die Geschichte leistet. Von G o e t h e stammt das Wort: „Das Beste an der Geschichte ist der Enthusiasmus, den sie erregt." E r will damit sagen, daß uns die Geschichte mit großen und guten Menschen zusammenbringt, an denen wir uns aufrichten und erheben können, und ferner, daß sie uns gewaltige Ereignisse vorführt, die uns erschüttern, warnen oder begeistern. Nichts vermag diese Wirkungen der Geschichte zu ersetzen! Zu unsrer Freude sehen wir aber auch in unsern Tagen und schon seit Jahrzehnten in dem Arbeiterstande — stärker als im Mittelstande — das Hervorbrechen eines rühmlichen Bildungshungers. Tiefe Bedürfnisse nach naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Kenntnissen tun sich kund und verlangen Befriedigung. Man warnt ihnen gegenüber vor Halbbildung. Gewiß, Halbbildung ist schädlich; aber man vermag ihr nicht dadurch zu begegnen, daß man die Unbildung in Kraft erhält, sondern daß man ihr ganze Bildung entgegensetzt. Ganze Bildung aber gibt es nicht nur auf den höchsten Stufen, sondern sie ist schon dort vorhanden, wo man seine eigne Sache gründlich versteht, stets vorwärts strebt, um den Geist zu bereichern, und Respekt vor den höheren Stufen bewahrt. In diesem Sinne ist die Volksbildung mit allen Mitteln zu pflegen, für Volksbibliotheken zu sorgen und jedem Arbeitenden Gelegenheit zu geben, seinen Geist lebendig zu erhalten. Kunst und Wissenschaft, aber auch jegliche Arbeit, können nur in einem geordneten Staatswesen gedeihen. Also muß uns unser S t a a t , unser V a t e r l a n d , Gegenstand freudiger Wertschätzung und hingebender Mitarbeit sein! Aber wie selten überlegt man das und handelt danach! Trotz allem, was wir erlebt haben, steckt noch immer ein enger Parteigeist und zugleich die Vorstellung von dem Obrigkeitsstaat in uns, dem man mit Mißtrauen begegnen müsse. Wohl sagt man: „Das Vaterland über alles", und singt man:
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. Deutschland, Deutschland über alles", aber man bedenkt nicht, daß dies bloße Worte bleiben, wenn man nicht zugleich mit dem Vaterland den deutschen Staat hochhält und wertschätzt. Das schließt nicht aus, daß man Kritik an ihm übt und vieles ganz anders wünscht; aber auch dafür ist die erste Bedingung, daß man sich in seinen Dienst stellt. Ein jeder, der in der Arbeit und Wirtschaft steht, muß sich als verantwortlicher Staatsbürger fühlen und muß empfinden, daß die Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit und für die Gesundheit und Würde des Staats auf seinen Schultern ruht. Hier handelt es sich um einen geistigen Wert, den nationalen Staat, von dem nicht nur das Gesamtleben des Volks abhängig ist, sondern der auch als ein herrliches Gut jeder Arbeit und Wirtschaft seinen Stempel aufdrückt. Ein Arbeiter, der sich als verantwortlicher Staatsbürger fühlt und sich immer inniger mit seinem Vaterlande verbindet, kann nicht veröden! Möge er sich auch ernstlich darum kümmern, das Recht und die Einrichtungen des Staats immer besser kennen zu lernen. Arbeit und Wirtschaft können nur gedeihen, wenn seine Bürger wissen, wie das Gemeinwesen beschaffen ist, dessen Glieder sie sind. Dem Staate kommt ein m o r a l i s c h e r Wert zu. Damit sind wir zu den letzten und höchsten Werten gelangt, die für die Arbeit und Wirtschaft von Bedeutung sind. S c h o p e n h a u e r hat das tiefe Wort gesprochen: „Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der größte, der fundamentalste Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung." Ich füge diesem Ausspruch zwei Worte von G o e t h e hinzu: „Jedes Geschäft wird eigentlich durch ethische Hebel bewegt", und „Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt mehr". Dem Geschlecht von heute muß man diese Bekenntnisse mit allem Ernste vorhalten. Was ist Moral? Man kann sie sehr verschieden definieren; aber die Antwort ist doch im letzten Grunde eindeutig: „Erst an seine Pflichten denken, dann
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seine Rechte in Anspruch nehmen", „Den Nächsten lieben als sich selbst", „Das irdische Leben nicht als das höchste Gut schätzen, sondern höhere Güter anerkennen", usw. Am besten ist es, hier nicht viel zu philosophieren, sondern von etwas ganz Einfachem auszugehen und sich daran zu halten — an d i e T r e u e und d i e L i e b e . Wenn G o e t h e sagt: „Jedes Geschäft wird eigentlich durch ethische Hebel bewegt," so meint er die T r e u e . Treue als Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ist das Fundament alles Wirkens und Schaffens. Entfernt man die Treue aus der menschlichen Gesellschaft und ihrer Arbeit, so bricht alles zusammen. Umgekehrt erringt die Treue als Gewissenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit d e n h ö c h sten sittlichen und w i r t s c h a f t l i c h e n Wert z u g l e i c h . Jeder, der in der Arbeit und Wirtschaft steht — er mag sonst denken, wie er will — muß das bestätigen; nur die Treue bringt Sicherheit in alle menschlichen Beziehungen und Geschäfte. Die Treue ist eine herrliche Tugend, und niemand kann sich ihrer Anerkennung entziehen, ja sie kann selbst da noch ihre Stelle finden, wo andere Tugenden längst erloschen sind. Oder schätzen nicht selbst Verbrecher die Treue ihrer Kameraden hoch und rächen sich mit Recht an ihrer Untreue? Ich wundre mich, daß noch kein Dichter erstanden ist, der das hohe Lied von der Treue in einem großen Epos gesungen hat. Jesus Christus hat an den Menschen und an menschlichen Einrichtungen kaum etwas zu loben gefunden; aber doch sagt er: „Wie ein großes Ding ist es um einen treuen Haushalter", und der Apostel Paulus schreibt: „Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden." Treue im großen und kleinen; denn vor der Treue gibt es nichts Großes und nichts Kleines. Die Treue schließt aber auch das Sich-selbst-treubleiben ein, ja das ist gar nicht von ihr zu trennen. Sich selbst treu bleiben aber heißt nichts anderes als seinem besseren Ich, seiner höheren Bestimmung treu bleiben. Damit bekommt die Treue auch den hoch-
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sten Wert für die eigene Selbsterhaltung, so daß man nicht stückweise an seine Umgebung und an die Welt zerfällt, sondern sich ihr gegenüber als ein Ganzes in seiner Art behauptet. Welch unersetzliche Bedeutung hat also die Treue für Arbeit und Wirtschaft, wenn sie die Arbeit zuverlässig und zugleich den Arbeitenden zu einem geschlossenen und gefestigten Mann macht! Die Schwester der Treue ist die L i e b e — ist es nötig von der Bedeutung zu sprechen, die sie für das gemeinschaftliche und Berufsleben der Menschen hat? Ohne Liebe — Liebe sowohl zu dem Werk und der Arbeit, die man treibt, als auch zu den Menschen, denen man dienen soll — bleibt alles ungenügend und ein trauriges Stückwerk. Wie der Arbeiter ein Knecht seiner Arbeit bleibt, der sie nicht liebt, so bleibt der fürsorgende Hirte ein Mietling, der seine Schafe nicht liebt. Umgekehrt wird jede Arbeit und jede Person, die mit Liebe erfaßt wird, gleichsam geadelt und auf eine höhere Stufe gehoben, und nicht anders wiederum der Mensch selbst, der sein Werk und Amt mit Liebe treibt; auch er steht nun nicht mehr nur in einem „geschäftlichen" Beruf, sondern in einer seelischen Arbeit und verwirklicht die einzige wahrhaft wertvolle Demokratie, die Demokratie der Liebe. Selbst aus dem Elend der Not und des Todes kann die Liebe herausführen, wie ein tiefes Wort unserer Religion sagt: „Wir sind vom Tode zum Leben hindurchgedrungen; denn wir lieben die Brüder." Unserer Religion — im Mittelalter beherrscht eine gemeinsame, aus der Religion fließende Weltanschauung das ganze Volk und faßte es zu einer festen, geistigen Einheit zusammen. Leichtfertige und Widerspenstige gab es auch damals genug; aber die vom Gottesglauben getragene Weltanschauung bestimmte doch das ganze öffentliche Leben, griff in das Leben jedes einzelnen ein, richtete Ideale und Ziele auf und bot Kräfte dar, um ihnen nachzustreben. Diese einheitliche, auf dem christlichen Glauben ruhende Weltanschauung haben wir als die das öffentliche Leben
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6. Die Bedeutung geistiger Werte (1927)
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bestimmende Macht verloren, und das ist der größte Verlust, den uns die Neuzeit gebracht hat — der größte Verlust, weil sowohl die Gesundheit und Stärke des gemeinsamen Gebens als auch die Kraft des einzelnen, Not und Unglück zu überwinden und stark zu bleiben gegenüber einer See von Plagen, abhängig ist von dem Besitz eines festen Glaubens in bezug auf den Sinn des Lebens und der Welt. Der Besitz einer festen Weltanschauung ist so wichtig, daß es um den Menschen immer noch besser steht, der eine falsche Weltanschauung hat, als um den, der gar keine hat und sich wie ein Stück Holz auf der Oberfläche des Lebens von den Wellen treiben läßt. Denn wer eine Weltanschauung, einen Glauben hat, erkennt etwas Höheres über sich an, weiß sich ihm verpflichtet und bringt dafür Opfer; wer aber schlechterdings keine hat, der verfällt entweder dem Gesindel, das nur im Sinnlichen lebt, oder zehrt sich in einem trostlosen Pessimismus auf. Freilich — man hat eine Weltanschauung, man hat den Glauben an Gott, an eine höhere Bestimmung und ein ewiges Leben nicht so, wie man eine Uhr besitzt oder sonst einen irdischen Gegenstand; täglich will sie vielmehr aufs neue gewonnen sein; denn nur das, wonach wir mit Bewußtsein und mit allen Kräften streben, ist im höheren Leben unser Eigentum; was wir zu besitzen meinen, haben wir bald verloren. Umgekehrt gilt aber auch — mancher ist nicht ferne vom Reiche Gottes und weiß es selbst nicht: mit dem Kopf ist er ein Skeptiker, aber das Herz ist warm, die Hand ist offen, und er handelt aus der Tiefe sittlicher und religiöser Motive heraus, die er selbst nicht kennt; denn das ist gewiß: wir kennen uns selbst nicht, und nur Gott siehet das Herz. Aber wie ist zu antworten, wenn wir gefragt werden: Wie kommt man zu einer festen Weltanschauung, die fähig ist, sich die gesamte Lebensarbeit zu unterwerfen, sie zu durchdringen und den Arbeitenden mit Kraft und Zuversicht zu erfüllen? Eins ist gewiß: man kann sie sich
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II. Bildungspolitik
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nicht selbst durch den bloßen Willen schaffen; sie ist ein Geschenk, und so empfindet es jeder, der einen festen Glauben besitzt. Man muß also Geduld haben und warten, aber man darf dabei nicht müßig und stumpf sein. Es gibt einen innern Respekt, eine Ehrfurcht vor dem, was man nicht selbst besitzt, der ein Führer zu dem bisher Unerreichten werden kann, und dann: die T r e u e und die L i e b e haben auch hier ihre große Bedeutung: Wer sich geistig arm fühlt — arm, weil er keinen festen Glauben hat — möge mit um so größerer Gewissenhaftigkeit und Treue sein Werk tun, und möge sich immer hingebender in den Dienst seiner Brüder stellen. Er wird es erleben, daß sein Herz fest, und Unerreichtes erreicht wirdl — Von der Bedeutung geistiger Werte für Arbeit und Wirtschaft haben wir gesprochen. Von der Psychologie der Arbeit und der Arbeitenden sind wir aufgestiegen bis zu jenem höchsten Wert, der durch eine feste Weltanschauung gegeben ist. Wir haben gesehen, wie viele und wie große geistige Mächte bereit sind, unsrer Arbeit und Wirtschaft zu Hilfe zu kommen. Mögen wir sie herbeirufen, um uns vor Verödung zu schützen, das große Arbeitswerk, das unsrem Volk anvertraut ist, zu fördern und unsre Freiheit wiederzugewinnen!
III. Sozialengagement
DER EVANGELISCH-SOZIALE KONGRESS ZU BERLIN
Erschienen, in den Preußischen Jahrbüchern, Band 65 (1890) Heft 5.
F ü r den 28. und 29. Mai sind Einladungen zu einem Evangelisch.-sozialen Kongreß in Berlin ergangen. Die Tagesordnung des Kongresses lautet: Die Kirohengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung — Pfarrer Lie. Frh. v. Soden. Die Frage der Streiks — Prof. Dr. Adolf Wagner, Die Arbeiterscliutz - Gesetzgebung — Dr. Kropatschek, Die Arbeiterwohnungs-Frage — Pastor D. von Bodelschwingh, Die gemeinnützigen Bestrebungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik — Dr. Stegemann, Die evangelischen Arbeitervereine, ihre Bedeutung und weitere Ausgestaltung — Pfarrer Lie. Weber, Unsere Stellung zur Sozialdemokratie — Hofprediger Stöcker. Der Kongreß ist mit Bedacht als „evangelisch-sozial" bezeichnet worden, um ihn von den „christlich-sozialen" Unternehmungen zu unterscheiden, und die Namen der Einladenden, die den verschiedensten kirchlichen und theologischen Richtungen angehören, bürgen dafür, daß der Kongreß keine Parteiversammlung sein will. Trotzdem hat die Ankündigung Bedenken erregt, und zwar nicht nur bei solchen, die sofort unruhig werden, wenn die Religion irgendwo an das Tageslicht tritt, sondern auch in Kreisen, die ein. Verständnis f ü r die Pflichten und Rechte derselben besitzen. Diese Bedenken haben auch bei einigen von denen bestanden, welche sich entschlossen haben, die Einladung zu unterzeichnen, und sie werden
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III. Sozialengagement
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notwendig fortbestehen, bis der Kongreß sie tatsächlich widerlegt hat; denn große Massenversammlungen zu berufen ist immer ein Sprung ins Dunkle, doppelt gefährlich in Sachen der christlichen Religion. Hat man doch schon im zweiten Jahrhundert vor unheiliger Geschäftigkeit in Sachen des Glaubens warnen müssen, und neben dem „Christianos" kannte man schon damals den „Christemporos", den, welcher aus dem Christentum ein Metier macht. Ist der Kongreß nötig? Was kann er leisten? Wovor hat er sich zu hüten? Nur kurz sollen die Antworten auf diese Fragen angedeutet werden. Zunächst soll der Kongreß der Information dienen. Der sozialen Frage oder vielmehr dem ganzen Komplex von Leiden und Fragen, der durch diesen Titel bezeichnet wird, vermag sich niemand zu entziehen, und wer ein Herz hat für sein Volk, darf sich ihm nicht entziehen. Den Christen aber sind die Notleidenden, Schwachen und Verirrten auf die Seele gebunden durch die bestimmtesten und eindrucksvollsten Anweisungen Christi, durch sein Beispiel und durch die Stiftung der Kirche, die als ein Bruderbund gedacht ist und aufhört, sie selbst zu sein, wenn sie dieses Ideal preisgibt. Wo ist zu helfen und wie ist zu helfen, wie kann mitten in dem Kampf widerstreitender Interessen das Friedenszeichen einer geistigen und inneren Gemeinschaft aufgerichtet werden, die stärker ist als die Mächte der Zertrennung? — das sind Fragen, die keinem Christen aus dem Sinn kommen dürfen. Der christliche Glaube ist nichts mehr wert, der an ihrer Lösung verzweifelt. Aber um wirksam in ihnen zu arbeiten, muß man die Zustände und die Mittel kennen lernen. Hier geschieht bereits viel, aber es geschieht noch immer zu wenig. Information von sachkundiger Weise tut not. Daneben gibt es noch eine spezielle Frage von höchster Bedeutung, die einen evangelischen Kongreß wünschenswert macht. I n ihrer Jugendzeit stand die Kirche zwar vor einer un-
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geheuren sozialen Aufgabe, aber diese Aufgabe war nicht kompliziert, sondern eindeutig und daher gar nicht zu verkennen. Sie stand einer ihr fremden "Welt und einem ihr feindlichen Staate gegenüber und hatte — mit einem "Wort — alles selbst zu tun. So mußte sie notwendig ein Staat im Staate werden, und sie war das, bis sie der besorgte Staat zur Staatskirche machte. Seit Jahrhunderten und vor allem in unserem Jahrhundert liegen jedoch die Verhältnisse anders. Unser Staat ist nicht der Feind der christlichen Religion; er hat sich vielmehr selbst — mag man ihn nun einen christlichen und protestantischen nennen oder uicht — christliche Motive und Zwecke angeeignet. Vor dieser Tatsache verschließen sich zwar viele gern die Augen, sei es, weil sie nichts vom Christlichen, sei es weil sie nichts vom Staat wissen wollen; aber sie bleibt doch bestehen, und es ist auf christlichem Boden einfach eine Undankbarkeit gegenüber dem, was uns die Geschichte geschenkt hat, sie zu verkennen. Darüber kann gar kein Zweifel bestehen, daß es nie ein Jahrhundert gegeben hat, in welchem der Staat und die bürgerliche Gresellschaft soviel Sorge für die Notleidenden und Schwachen gezeigt haben, wie in unserem Jahrhundert. Allein eben deshalb erhebt sich die Frage, was kann die Kirche überhaupt tun, wie weit hat sie sich an der sozialen Frage als Kirche neben dem Staat und der Gresellschaft zu beteiligen? Innerhalb der evangelischen Kirche selbst herrschen hierüber sehr verschiedene Anschauungen. Auf dem einen Flügel stehen diejenigen, welche sich nach altlutherischer Überlieferung lediglich auf die Verkündigung des Evangeliums beschränken wollen. Sie sagen, die Kirche habe als Kirche kein anderes Mittel als das "Wort Grottes: es gibt keine spezifisch christliche soziale Politik, kein christliches sozialpolitisches Programm. Die Kirche hat keinen Beruf, irdischer Not zu steuern und irdische Verhältnisse zu verbessern; sie verfügt nur über Mittel, um die Not und das Elend des
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Lebens ertragen zu. lehren; im übrigen maß sie den Staat und die Gesellschaft gewähren lassen; diese allein haben aus ihrem Interesse heraus zu entscheiden, ob Bevormundung walten soll oder Freiheit, Sozialismus oder Individualismus, Arbeiterschutz oder Laisser aller. Auf dem anderen Flügel stehen jene, welche im Namen des evangelischen Christentums der „dämonischen" Sozialdemokratie die christliche Sozialreform entgegensetzen, die sich zu beweisen getrauen, ein wahrhaftiger Christ müsse in unserem Zeitalter Sozialist, aber christlicher Sozialist sein, die christliche Weltordnung, die es durchzusetzen gelte, sei die Sozialmonarchie, usw. Zwischen diesen Extremen von rechts und links gibt es mannigfache Abstufungen, und dort und hier stehen Männer mit ernstem Sinn und warmem Herzen. Eben deshalb ist es für die evangelischen Kirchen eine wahrhaft brennende Aufgabe, in ihrer eigenen Mitte hier Klarheit zu schaffen, und in diesem Sinne ist ein Kongreß wünschenswert. Damit ist bereits angedeutet, was der Kongreß leisten kann. Er wird seinen Zweck erfüllen, wenn er neben technischen Informationen die prinzipielle Frage klärt. Meines Erachtens kann diese Klärung nur in der Richtung erfolgen, daß allem zuvor zum deutlichsten Ausdruck kommt, daß die evangelische Kirche nichts anderes ist als die Hüterin des Evangeliums. Das Evangelium aber hat es nicht mit irdischen Dingen zu tun, richtet auch kein „weltlich Reich" auf, sondern treibt die Buße, den Glauben und die Liebe. Sehr beherzigenswerte Worte hat B e y s c h l a g jüngst in dem Deutschen Wochenblatt (No. 16) geschrieben: „Das politische Programm des Evangeliums lautet: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und G-ott, was Gottes ist — Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die über ihn Macht hat — Tut Ehre jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehret den König. Alles, was darüber hinaus als spezifisch christliches politisches Prinzip, als spezifisch christ-
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liches Parteiprogramm geltend gemacht wird, ist aus purer Begriffsverwirrung entstanden. Man kann ein christlicher Nationalliberaler sein und ein unchristlicher Konservativer, und umgekehrt; jede politische Partei hat irdische, weltliche Interessen und Ziele, die man christlich und unchristlich verfolgen kann; das Christentum für irgend ein politisches Parteiprogramm in Beschlag nehmen, heißt es mit der Selbstsucht und Sünde belasten, an der es bei keiner Partei fehlt. Ebensowenig hat das Christentum ein spezifisches Sozialprogramm. Es predigt die Achtung der Persönlichkeit, die brüderliche Liebe und Erbarmung, die Überwindung der Mammonsknechtschaft durch das Trachten nach Gottes Reich und Gerechtigkeit: eine Volkswirtschaftslehre, wie Pastor Todt vor zehn Jahren in einem wunderlichen Buch meinte, predigt es nicht. Dem Anspruch der besitzlosen Klassen auf eine gerechtere Verteilung des irdischen Gutes steht Christus noch heute gegenüber wie damals, da jener Mensch ihn anging, „Sage doch meinem Bruder, daß er das Erbe mit mir teile": „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbrichter über euch gesetzt?" "Was er beiden, den Enterbten wie den Besitzenden, Positives zu sagen hat, fügen die folgenden Worte hinzu: Hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat." In diesen Worten ist gewiß die Stellung des evangelischen Glaubens und darum auch der evangelischen Kirche richtig bezeichnet, und es scheint daher, als müsse man U h l h o r n beistimmen, wenn er (Katholizismus und Protestantismus gegenüber der sozialen Frage 1887 S. 58 f.) erklärt: „Es bedarf keiner neuen Mittel; unsere Kirche hat auch der sozialen Frage gegenüber nichts anderes zu tun als das Evangelium zu predigen, die im Evangelium liegenden, durch die Reformation uns erschlossenen sittlichen Kräfte wirksam zu machen und damit unserem Volke eben die Kräfte darzureichen, deren es zur Lösung der sozialen Frage bedarf."
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III. Sozialengagement
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Allein so einfach, wie es nach, den eben zitierten Worten erscheint, ist die soziale Frage f ü r die evangelische Kirche doch nicht. Die Kirche soll das Evangelium predigen —· aber wenn die, welchen es gepredigt werden soll, nicht zur Kirche kommen? Da wird man doch nach neuen Mitteln und Formen suchen müssen, um es ihnen nahe zu bringen. Ferner, f ü r die Ausübung der Liebe, zu welcher der evangelische Grlaube verpflichtet und fähig macht, gibt es gewiß kein Gesetz. Man kann nicht genau angeben — die katholischen Scholastiker haben es freilich versucht —, was man tun muß, opfern muß, leisten muß, um die Forderung: Liebe deinen Nächsten als dich selbst, zu erfüllen. Allein soll man deshalb darauf verzichten, den Leuten das Gewissen zu schärfen, damit sie erkennen, wer ihr Nächster ist? soll die Kirche allein organisierte Tätigkeit, gemeinsames Vorgehen, planvolle Arbeit verbannen, während wir sonst sehr wohl wissen, daß die Übung aller Tugenden durch Gemeinsamkeit, Ordnung und Organisation gefördert wird? Niemals wird man freilich diese oder jene bestimmte Ordnung und Tätigkeit auf diesem wie auf irgend einem anderen Gebiete als „die christliche" ausgeben dürfen — schon deshalb nicht, weil, sobald wir planen, wi# uns irren, und sobald wir handeln, wir uns in der Wahl der Mittel vergreifen. Aber deshalb dürfen wir uns doch nicht einreden, daß das evangelische Christentum es nicht verträgt, daß seine Bekenner sich darüber beraten, was sie als christliche und kirchliche Männer in der Not der Zeit tun können, um auch das organisierte Institut, welches sie in ihrer Mitte haben, die Kirche, zu einer wirksamen Macht wider die soziale Not auszugestalten! Ich sage absichtlich, das organisierte Institut, die Kirche. Diese Kirche ist ja nicht die Kirche, welche der Glaube bekennt, „der ganze Haufe der Kinder Gottes, die unter dem Himmel sind", sondern sie ist ein mehr oder weniger zweckmäßiges irdisches Institut, bestimmt den höchsten Zielen zu dienen,
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mangelhaft und schwerfällig, aber doch elastisch und einer besseren Ausgestaltung wohl fähig. Daß evangelische Grundsätze es verbieten sollten, diese Institute — die Landeskirchen —, welche bis zum Beginn der Neuzeit in wunderbarer Weise den geschichtlichen Verhältnissen entsprochen, sich ihnen angepaßt und der christlichen Kirche gedient haben, vollkommener auszugestalten, ist nicht abzusehen. Man wird vielmehr vom evangelischen Standpunkt nicht anders urteilen dürfen, daß, weil wir diese Kirchen besitzen, wir die Pflicht haben, sie auch in den Dienst aller der Aufgaben zu stellen, welche die christliche Liebe in der Gegenwart zu lösen hat. Nur rede man nicht, wie einige Christlich-Soziale in verhängnisvoller Begriifsverwirrung tun, von „der Kirche Christi", als handle es sich darum, nun erst das Reich Gottes durchzusetzen und eine Theokratie aufzurichten. Es handelt sich um etwas sehr viel Profaneres — vor jener „Theokratie" bewahre uns Gott —, aber sehr Nötiges und Segensreiches: um eine zweckmäßigere Ausgestaltung der Landeskirchen im Dienste der Liebe zu den Brüdern. Diese Landeskirchen sind aber um nichts heiliger als jeder Stand und jede Verbindung, die in Treue ihres Berufs warten. Sie können untergehen, wie diese, und die Bildungen, die an ihre Stelle treten, mögen sie auch den Idealen begeistertster Freikirchler entsprechen, werden nicht höheren "Wert besitzen, als ihre Vorgänger. Nur wer mit dieser Nüchternheit die Dinge betrachtet und zugleich die Gefahren erwägt, welche eine energischere Tätigkeit der Landeskirchen mit sich bringt — jede energischere Aktion der Kirche wird leicht die Aktion des Staats und der Kommunen in derselben Richtung lähmen; können wir aber so leichten Herzens auf diese Wirkungen verzichten? welch' eine Bedeutung hat ζ. B. die christliche Volksschule! — nur ein solcher hat ein Recht, in dieser schwierigen Frage mitzuraten. Schwierig ist sie; aber deshalb ist sie nicht zurückzuschieben. I n
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den angedeuteten Grenzen muß sie verhandelt und gelöst werden; denn der Zustand ist unerträglich, daß Tausende und aber Tausende heute sagen dürfen: was habe ich von der Kirche? sie kommt nicht zu mir und ich komme nicht zu ihr; sie vertröstet mich auf den Himmel und fordert mir Steuern ab. Wenn es gewiß ist, daß die soziale Frage nicht nur eine Magenfrage ist, sondern auch eine Gemütsund Herzensfrage, eine Frage aus Herzen, die sich nicht geachtet fühlen und nicht geliebt wissen, so erfüllt die Landeskirche, so erfüllt die einzelne christliche Gemeinde ihre Pflicht nicht, wenn sie hier nicht Abhilfe zu schaffen sucht. Sie muß, wie einst im zweiten Jahrhundert, wo man doch auch wußte, daß der christliche Glaube der Ewigkeit gilt und nicht der Zeit, wieder als ein Bund von Brüdern und Schwestern den Armen und Notleidenden entgegentreten, sie muß den Menschen im Menschen aufsuchen und es ihm wieder zu fühlen geben, daß er geliebt und geachtet ist; sie muß den Adel jedweder rechtschaffenen Arbeit nicht nur in "Worten predigen, sondern die Anerkennung dieses Adels im Leben des Tages zum Ausdruck bringen. Materiell geht es dem vierten Stande heutzutage wahrscheinlich besser als zu irgend einer Zeit; aber er fühlt sich unbefriedigter als je. Hier kann nur Liebe und Achtung helfen. Wo aber gibt es ein Institut, welches so umfassend und zugleich so sehr auf die Pflege dieser Tugenden angewiesen ist, wie die Kirche? Schwärmerei — r u f t man uns entgegen. Aber man wird den verkehrten und tauben Idealismus der Sozialisten nur zu überwinden vermögen durch den wahrhaftigen Idealismus. Wenn einen in der Gegenwart etwas mit bangen Ahnungen zu erfüllen vermag, so ist es nicht die K r a f t der Sozialdemokratie an sich, sondern die moralische Schwäche ihrer Gegner. Die Welt vegetiert ohne Ideale wohl weiter, aber regiert wird sie von den Idealen, und die Zukunft, wenn auch nicht die nächste, gehört immer
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der entschlossenen Überzeugung und der Opferwilligkeit. Weil man zu wenig moralische Kraft hat, darum wird man in Zukunft dem Sozialismus eine Abschlagszahlung nach der anderen bringen. Ich bin kein Nationalökonom; aber ich fürchte, daß man bereits im Begriff ist, zuviel zu zahlen. "Wir werden unseren Mangel an Wohlwollen, Achtung, tatkräftiger Liebe von Person zu Person mit der Bewilligung teuerer und verhängnisvoller „Zwänge" ersetzen müssen. Wie weit werden wir in solchen Zugeständnissen gehen? Welche Opfer wird die individuelle Freiheit bringen müssen? — Wenn es anerkannt wird, daß die evangelische Landeskirche hier neben dem Staat und der Kommune eine Aufgabe hat, und wenn diese Aufgabe richtig abgegrenzt wird, so fragt es sich, mit welchen Mitteln sie zu lösen ist. Es gibt deren zwei: das freie Yereinswesen auf dem Boden christlicher Gesinnung und die den Aufgaben der christlichen Liebe entsprechende Ausgestaltung der Einzelgemeinde zu einem lebendigen Körper. Wie viel wir dem Yereinswesen, namentlich seit Wiehorns und F l i e d n e r s Tätigkeit, zu danken haben, braucht nicht ausgeführt zu werden. Wir können es in der gegenwärtigen Zeit am wenigsten entbehren und müssen es noch immer zu stärken versuchen. Aber wir können uns nicht verhehlen, daß alles das, was wir Innere Mission nennen, vielfach ein Notbehelf ist. Wir sind von christlichen Vereinen überflutet, angespannt bis an die Grenzen des Erträglichen, und andererseits haben sich diese Vereine über bestimmte Kreise hinaus unbedingte Anerkennung selten zu verschaffen verstanden. Sie sind niemals „populär" geworden, nicht im unedlen Sinne des Wortes, aber leider auch nicht im edlen. Auch ist es nicht jedermanns Sache, Objekt eines Vereins zu werden; der Innern Mission entzieht sich vielfach nicht nur der Hochmut, der Leichtsinn und die Bosheit, sondern auch berechtigter Stolz und Selbstachtung. Dazu ist das
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Verhältnis dieser Art von Liebestätigkeit zu den Kirchen bis auf den heutigen Tag ein unsicheres und undurchsichtiges. Kein Wunder, daß die einen sie als „die Kirche", die anderen als eine Art von zweiter Kirche, die dritten als unberufene, mit allerlei Fremdem, Aufdringlichem und Zweideutigem behaftete Arbeiterin betrachten. Daß diese ganze Arbeit noch eine andere Gestalt gewinnen muß, ist das Urteil erfahrener und erprobter Sachverständiger. Aber wie das zu geschehen hat, ist eine höchst schwierige Frage. J ü n g s t sind zwei hervorragende Geistliche, Pastor S ü l z e in Dresden (in der Protest. Kirchenzeitung) und Prediger von S o d e n (in einer Broschüre: „Und was tut die evangelische Kirche"), in kräftigster Weise dafür eingetreten, daß der Hebel der kirchlichen Tätigkeit bei der Einzelgemeinde anzusetzen ist: wir müssen verhältnismäßig kleine, geschlossene Gemeinden bilden, die übersehbar sind und die in sich alle die Funktionen von Gemeinde wegen vollziehen, die jetzt in Dutzenden von Vereinen zersplittert sind. Gewiß die allein richtige Lösung — aber welch' ein Weg ist zurückzulegen, bis man sich ihr nähert, und wie wird man aus der Gemeinde, wie sie heute ist, die lebendig tätige Gemeinde schaffen? Dennoch ist diese Lösung auch für die großen Städte, und vor allem für sie, als das leitende Ziel festzuhalten. Möge der berufene Kongreß besonders in dieser Richtung Ratschläge geben und Beschlüsse fassen. Die evangelischen Landeskirchen werden sich entweder durch eine neue, reichere Ausgestaltung der Gemeindeorganisation auf der Basis kleiner, geschlossener Einzelgemeinden an der sozialen Arbeit beteiligen, oder sie werden sich überhaupt nicht beteiligen oder ihre besten Anstrengungen werden mit Schwäche behaftet bleiben und dem Mißtrauen verfallen. Solange das Vereinswesen nicht getragen ist von dem Ansehen und der Verantwortung der ganzen Gemeinde, die reich und arm, hoch und niedrig umschließt, und in der Bedürftige und Helfer einander
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gleich, stehen, solange ist auch in ihm nur ein Notstand ausgedrückt. Der Einzelne bedarf der Freiheit; aber jede gemeinsame Tätigkeit, jede Versammlung, jede Verbindung bedarf der Autorität und eines unzweifelhaften Mandats, wenn ihre Wirkungen nicht vom Zufall abhängen sollen. "Wovor hat der Kongreß sich zu hüten? Auch diese Frage ist im vorstehenden bereits beantwortet. Aber es gilt noch einiges mit voller Deutlichkeit hervorzuheben, anderes hinzuzufügen. Der Kongreß soll erstens nicht Beschlüsse fassen über Fragen, in denen nur Sachverständige und Beteiligte ihr Urteil abzugeben haben. Ein evangelischsozialer Kongreß wird sich gern informieren lassen über die Arbeiterschutz-Gesetzgebung, die Lohnfrage, die Arbeitszeit, die Wohnungsfrage usw.; aber er ist nicht berufen, hier als Kongreß Ratschläge zu erteilen und Forderungen zu stellen. Nur die Frage der Sonntagsrulie — aber auch nicht im Sinne eines göttlichen Gesetzes, sondern einer christlich-humanen Ordnung — gehört mit vor sein Forum. Selbst zu der in das Familienleben so tief einschneidenden Frage der Frauen- und Kinderarbeit darf er nur mit großer Behutsamkeit Stellung nehmen; denn diese Frage läßt sich schließlich so wenig durch gute Wünsche und humane Forderungen lösen, wie die Arbeiterfrage selbst. Zweitens soll der Kongreß sich nicht an dem Vorbilde der katholischen Kirche stärken und meinen, was diese Kirche in der sozialen Frage tut, müsse sofort auch die evangelische Kirche tun. Die katholische Kirche ist ein selbständiges Reich von dieser Welt neben den Staaten; unsere evangelischen Landeskirchen sind das nicht. Die katholische Kirche glaubt — vom Mittelalter her —, alle Heilmittel f ü r die Gesellschaft im Besitz zu haben; wir glauben das nicht. Die katholische Kirche steht dem Staat und dem modernen Leben mißtrauisch gegenüber; wir haben Grund, unserem Staate Vertrauen zu schenken. Damit komme ich auf das Dritte. Der evangelische Kongreß soll nicht über
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den Staat jammern. Eine Dosis Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen ist freilich für uns alle, die wir uns gern von dem Gesetz der Trägheit regieren lassen, eine gute Zugabe. Auch haben wir manche berechtigte Wünsche gegenüber dem Staat, die unerfüllt sind; wir haben ferner über manche Abhängigkeit zu klagen, wo eine größere Freiheit der Landeskirche zum Vorteil gereichen würde. Allein so, wie diese Landeskirchen nun einmal seit dem Zeitalter der Reformation sind, mit all dem öffentlichen Ansehen und den Rechten, die sie genießen, und dem Vertrauen, das ihnen und ihrer Geistlichkeit im Staatsleben geschenkt wird, können sie nicht verlangen, daß sie wesentlich selbständiger gestellt werden. Für die Kirchen, wie sie gegenwärtig sind, wäre dies auch kein Vorteil, sondern, wie manche Exempel gezeigt haben, ein Nachteil. Auch haben sie bis auf den heutigen Tag viel mehr G-rund, dem Staate zu danken als sich zu beklagen. Ob die Lage der Kirchen besser werden wird, wenn es einmal zu vollkommenen Freikirchen kommen sollte, das ist eine Frage, die kein Einsichtiger unbedingt bejahen wird. Jedenfalls hat sich dieser Kongreß nicht mit der „Selbständigkeitsbewegung" in der evangelischen Kirche zu befassen, die bisher einer Vergewaltigung der Volkskirche und einer künstlichen Reaktion ähnlicher sieht als einem gesunden Fortschritt, der mit allen guten Elementen und allen hellen Erkenntnissen des Jahrhunderts im Bunde steht. Endlich gilt es, noch einen Punkt ins Auge zu fassen und vor der Beschäftigung mit ihm zu warnen: das ist die Judenfrage. Es mag eine Judenfrage im nationalen und im wirtschaftlichen Sinn geben — ich weiß das nicht und bin darüber nicht kompetent —, das aber weiß ich, daß den Antisemitismus auf die Fahnen des evangelischen Christentums zu schreiben, ein trauriger Skandal ist. Die, welche das getan haben, haben freilich immer das nationale und wirtschaftliche Interesse mithinein ge-
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zogen, weil sie als Christen hätten schamrot werden müssen, wenn sie einfach im Namen des Christentums die Parole des Antisemitismus ausgegeben und das Evangelium in einen neuen Islam verwandelt hätten. Aber wer kann leugnen, daß auch das geschehen ist? Das heißt aber, die Macht, welche dazu in der Welt ist, die Gegensätze der Rassen und Nationen zu mildern und Menschenliebe selbst dem Feinde gegenüber zu erwecken, in entgegengesetzter Richtung mißbrauchen. Wir dürfen voraussetzen, daß auf dem Kongreß, der der Verbrüderung dienen soll und nicht der Vergiftung, kein Versuch gemacht werden wird, die „Judenfrage" hineinzuziehen. Sollte er gemacht werden, so wird eine kräftige Abwehr nicht fehlen.
Erwartungen, Wünsche und Bedenken sind hier zum Ausdruck gebracht. Wie können Bedenken fehlen angesichts der herrschenden Unklarheit in den evangelischen Landeskirchen und der Zerklüftung und Zersplitterung, die im voraus ein Urteil darüber nicht zulassen, welche Richtung man wählen und welchen Weg man einschlagen wird? Das schwerste Bedenken in bezug auf die Kraft solcher Unternehmungen, wie sie in dem geplanten Kongresse versucht werden, habe ich noch nicht einmal genannt. Es liegt in der Schwäche der evangelischen Kirchen an sich. Diese Schwäche aber hat ihren Grund nicht, wie einige sich selber täuschend meinen, in der Gebundenheit der Kirchen, sondern darin, daß die große Mehrzahl der Gebildeten und Ungebildeten dem Glauben, wie ihn die Kirchen offiziell bekennen, entwachsen ist. Daran hat nicht nur die „Sünde" ihren Anteil, wie man, wiederum sich selber täuschend, behauptet, sondern in höchstem Maße auch die Ehrlichkeit und der Wahrheitssinn. Die Aufgaben, welche die Landeskirchen auf dem sozialen Gebiete zu lösen
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haben, können, nur gelöst werden durch die Hervorbringung neuer Formen. Neue Formen erzeugt aber nur ein lebendiger und wahrhaftiger Q-eist, der sich seiner Kraft bewußt ist, im Evangelium wurzelt und zugleich mit allen Erkenntnissen und Kräften der Gegenwart im Bunde steht. So ist es zu allen produktiven Zeiten in der Geschichte des Christentums gewesen, im 2. Jahrhundert, im 12. und 13. Jahrhundert und im Dezennium der Reformation. "Wo aber ist dieser Geist heute? "Wie kann er vorhanden sein, wenn doch die Grundbedingung seiner Existenz nicht vorhanden ist, volle Zustimmung und darum volles Zutrauen zur eigenen Sache in dem ganzen Umfang ihres Bestandes? Man kann nicht etwas als Stütze und Träger empfehlen, was man selbst mit vieler Not, Anstrengungen und Beschwichtigungen tragen muß. Die oberste Aufgabe für die evangelischen Kirchen ist daher zurzeit nicht die, in immer neuer Geschäftigkeit auf Mittel und Mittelchen zu sinnen, sondern ein solches Verständnis des Evangeliums wiederherzustellen, daß es in keinem Sinn als Last, sondern als die Macht der Befreiung und Erlösung empfunden wird. Das ist die Frage der Fragen und die Aufgabe der Aufgaben, vor der alles andere zurücktreten muß. Bevor man sich ihr energisch zuwendet, ist wirkliche Besserung nicht zu erhoffen. Aber man predigt tauben Ohren, wenn man diese Aufgabe stellt. Die einen wollen sie nicht hören, weil sie überhaupt bereits an der Kirche verzweifelt haben und meinen, es bliebe nichts übrig, als sie schonend fortvegetieren zu lassen oder sie zu zerstören; die anderen wollen die bequemen Pfade, die sie bisher gewandelt sind, nicht lassen, sie wollen nichts lernen; und die dritten, die Vorsichtigen, meinen, daß man an dem, was man besitze, nicht rütteln dürfe, damit nicht alles einstürzt. Dennoch darf man nicht aufhören, die evangelischen Kirchen vor die Forderung zu stellen, ihr Bekenntnis, ihre Predigt und ihren Unterricht nicht nach den "Wünschen des Tages — daran denkt nie-
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mand —, wohl aber nach, den sicheren Erkenntnissen, die wir gewonnen haben, zu korrigieren, damit dem evangelischen Christen im 19. Jahrhundert die Kirche wiederum ein G-ut werde und er mit "Wahrheit und Ehrlichkeit an ihrem Leben Anteil zu nehmen vermag. Im anderen Fall ist alle Arbeit zwar nicht völlig umsonst, aber ein Notbehelf, nur vom Tage zum Tage reichend. Wem die Not der Zeit auf der Seele brennt, wird sich freilich auch an solcher Arbeit beteiligen, aber schweren Herzens und mit unfreudigem Mut.
DIE EVANGELISCH-SOZIALE AUFGABE IM LICHTE DER GESCHICHTE DER KIRCHE
V ortrag gehalten am 17. Mai 1894 auf dem evangelisch-sozialen Ivongreß zu Frankfurt a. M. Erschienen in: „Preuß. Jahrbücher, Bd. 76 (1894) Heft 3" u. in: „Evangelisch-Sozial von A. Harnack u. H. Delbrück" 1896 bei H. Walther, Berlin
I m Jahre 1694 fiel ein Wort des Apostels Paulus in die Seele Η. A. F r a n c k e s : „Gott kann machen, daß ihr in allen Dingen volle Genüge habt, und reich seid zu allerlei guten Werken." Es ließ ihn nicht mehr los und wurde die K r a f t seines Handelns. Sehr vieles, was seitdem an christlicher Liebestätigkeit in unserem Vaterland geleistet worden ist, hat damals seinen Ursprung genommen. Einiges, was unerreichbar, unmöglich erschien, ist doch erreicht worden in der kühnen Zuversicht, die jenes Wort des Apostels ausspricht. Heute, nach zwei Jahrhunderten, befinden wir uns wiederum an einem Punkte, wo wir jener Zuversicht in besonderer Weise bedürfen. Nicht weil wir, wie F r a n c k e , in einer Kirche stehen, die die Aufgabe christlicher Liebestätigkeit vernachlässigt, sondern weil sich die Aufgabe selbst vor unseren Augen verändert hat und so neu und gewaltig geworden ist, daß alle unsere bisherigen Mittel unzureichend scheinen. Was nötig ist, wird, so scheint es, kein Einzelner mehr tun. Was zu tun ist, das zu beraten ist die wichtigste Aufgabe unseres Kongresses. Wir beraten das Einzelne auf verschiedenen Linien; aber es ist unerläßlich, daß wir uns auch das Ganze klar machen, die Ziele fest ins Auge fassen und die Mittel prüfen, über die wir verfügen. Nicht um das handelt es sich aber, was in sozialer Hinsicht überhaupt geschehen soll, sondern um die Atifgabe der Kirche und der christlichen Gemeinschaft.
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Diese Aufgabe ergibt sich, aus der Anwendung des Evangeliums auf die gegenwärtige Lage, und ich kann den Radikalismus wohl verstehen, mit welchem Einige jede weitere Rücksicht abzuschneiden raten. G-ewiß — die Rücksicht auf die Geschichte ist nicht immer ungefährlich. Der richtige Steuermann muß vorwärts und nicht rückwärts blicken. Der Blick auf die G-eschichte vermag jedes mutige Handeln zu lähmen und Unmöglichkeiten vorzutäuschen, wo es sich nur um Schwierigkeiten handelt. Auch beleuchtet die G-eschichte niemals den Weg, der vor uns liegt. Dennoch wird in diesem Kreise kein Zweifel darüber herrschen, daß die heutige soziale Aufgabe der Kirche nur mit Hilfe der Geschichte bestimmt werden kann. Nicht nur, weil diese stets den Dienst leistet, die Untiefen und Klippen aufzuweisen, die man zu meiden hat, sondern vor allem, weil die Kirchen, auch sofern sie karitative Gemeinschaften sind, geschichtlich gewordene Gebilde sind. Wenn wir nicht alles gering schätzen wollen, was sie im Laufe ihrer Geschichte gelernt haben und bereits besitzen, werden wir uns entschließen müssen, an diesen Besitz anzuknüpfen. Aber bevor ich zur Behandlung der Aufgabe übergehe, möchte ich auf eine Tatsache hinweisen, die uns mit Hoffnung und Freudigkeit zu erfüllen vermag. "Wenn heute in der ganzen zivilisierten Welt die Frage, die sich um die Wirtschaftsordnung, um das Verhältnis von Kapital und Arbeit bewegt, verhandelt wird, so ist das doch auch ein Beweis, daß ein großes Stück sozialer Arbeit bereits geleistet ist. Wie lange ist es denn her, daß es eine Kultur, Recht und Menschenwürde nur für einige Tausende in Europa gab, während die große Masse unter einem furchtbaren Druck, in tyrannischem Zwang, Rechtlosigkeit und Unbildung dumpf dahinlebte und ihre ganze Existenz ein großes Elend war? Heute dagegen sind, wenigstens in unserem Vaterlande, aber auch bei vielen uns verwandten
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Völkern, die Bürger vor dem Gesetze gleich; alle genießen denselben Rechtsschutz; Sklaverei und Hörigkeit sind verschollene Dinge; ein respektables Maß von Kenntnissen und Bildung wird jedermann zugeführt; die Arbeit ist geachtet. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind in vieler Hinsicht nicht nur ein leerer Schall, sondern die wirklichen Formen unserer persönlichen und gesellschaftlichen Existenz und die Pfeiler des Gebäudes, das wir ausbauen. Das Alles ist in wenigen Menschenaltern geleistet worden. Es ist lächerlich, die Frage des Fortschritts aufzuwerfen, wo der Fortschritt so unsäglich groß ist! Aber ich höre schon die Gegenbemerkung: als was haben sich denn diese Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erwiesen? hat uns nicht die Geschichte mit ihnen genarrt? bedrohen sie uns nicht einerseits mit der Herrschaft des Unverstandes, und sind andererseits doch nur Attrappen, denen in Wirklichkeit jeder Inhalt fehlt, sobald die Arbeit von dem Kapital abhängig ist, das sie nicht selbst besitzt? In "Wahrheit, sagt man, herrschen die alten Gewaltzustände doch noch immer, wenn auch unter anderen Hüllen, aber in verschärfter Gestalt; die schlimmste Lohnsklaverei ist eingetreten; die Rechtsgleichheit, vom Kapital außerdem stets gefährdet, ist nur ein negatives Gut, die Bildung für die große Menge nur eine nicht benutzbare Möglichkeit! In „Formalien" sind wir gleich; aber wie früher lebt eine Minorität auf Kosten der ungeheuren, in Sorgen sich verzehrenden Majorität, und diese empfindet die Rechte, die sie errungen, teils wie eine kümmerliche Abschlagszahlung, teils wie einen Spott auf ihre hilflose Lage. Die so sprechen, haben nicht ganz Unrecht, aber sie haben nicht Recht. Alle jene genannten gemeinschaftlichen Güter können in der Tat bloße Attrappen sein und sind es zum Teil noch wirklich. Aber man versuche es nur, sie heute wegzunehmen oder auch nur wegzudenken! Es sind
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doch, große, bleibende Errungenschaften, die deshalb nichts an ihrem Werte verlieren, weil sie nicht ausreichen. J a sie bleiben Grüter, auch wenn ihre Folgen die Not der wirtschaftlichen Lage zur Zeit steigern. Rückwärts können wir nicht mehr, und Schande dem, der es wollte! So wollen wir uns dessen freuen, was gewonnen ist, was noch vor einigen Menschenaltern ein Traum war. Die Geschichte macht uns nicht mutlos, sondern stärkt unsere Zuversicht. Nach diesen Vorbemerkungen bitte ich Sie, mir auf einem geschichtlichen Grange zu folgen. Wir werden aber zuerst die prinzipiell-geschichtliche Frage aufwerfen müssen, wie sich das Evangelium zu sozialen Ordnungen überhaupt verhält. Dann wollen wir die Epochen der Kirchengeschichte betrachten und endlich die Frage nach der heutigen sozialen Aufgabe der Kirche zu beantworten versuchen. I. Das Evangelium ist die Botschaft von unvergänglichen Gütern. Es bringt die Kräfte des ewigen Lebens; von Buße und von Glauben, von Wiedergeburt und Erneuerung handelt es; es will nicht „verbessern", sondern erlösen. Darum will es den Einzelnen auf einen Standort führen, der über den Spannungen von irdischem Glück und irdischer Not, Reichtum und Armut, Herrschaft und Dienst liegt. So ist es auch von Anfang an und zu allen Zeiten von den ernsten Christen verstanden worden, und wer dies nicht zu würdigen vermag, würdigt das Evangelium überhaupt nicht. Diejenige Indifferenz gegenüber allem Irdischen, welche aus der Gewißheit des ewigen Lebens entspringt, ist dem Christentum wesentlich. Diese Indifferenz setzt sich aus einer doppelten Stimmung zusammen. Man kann sie in folgenden Worten bezeichnen: „Fürchtet euch nicht, sorget nicht; eure Haare auf dem Haupte sind gezählt"
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und „habt nicht lieb die "Welt noch was in der Welt ist". Dem entsprechend liegen zwei Elemente in ihr. Ich möchte das eine das ruhende, quietistisehe und das andere das radikale nennen: das eine leitet dazu an, sich in den Weltlauf, wie er auch sein mag und was auch kommen mag, im Glauben mit Ergebung zu schicken, das andere die Welt preiszugeben und einem Neuen zu leben. Schon hier erscheint also im Evangelium ein Problem gestellt; denn offenbar kann das ruhende und das radikale Element in eine Spannung geraten. J a das radikale Element selbst kann sich, wo es sich isoliert geltend macht, in einer doppelten Form äußern — entweder als entschlossene Weltflucht, oder als der Versuch, alle Weltordnungen, die ja sämtlich von der Sünde durchsetzt sind, zu verneinen und eine neue Weltordnung vorzubereiten. Die Geschichte wird uns zeigen, wie sich die Christenheit die Aufgabe verschoben hat, indem sie einseitig diesem oder jenem Elemente gefolgt ist, statt sie in sich auszugleichen. Aber eben dieses Evangelium, welches eine heilige Indifferenz gegenüber dem Irdischen verkündigt, schließt noch ein anderes Element ein. „Liebe deinen Nächsten als dich selbst." Auch das soll eine Grundstimmung sein, die das Evangelium schafft. Demgemäß war die ursprüngliche Gestalt der Christenheit die eines freien Bruderbundes, und diese Gestalt ist ihr auch wesentlich; denn die Liebe zu den Brüdern ist neben dem Vertrauen auf Gott die Religion selbst. Zu dem quietistischen und dem radikalen Element tritt das soziale, treibende. Ich nenne es das soziale, treibende Element; denn nirgend steht im Evangelium, daß unser Verhältnis zu den Brüdern durch die heilige Indifferenz bestimmt werden soll, die ich bezeichnet habe. Diese Indifferenz gilt vielmehr der einzelnen Seele in ihrem Verhältnis zur Welt, ihren Leiden und ihren Gütern. Aber wo nur immer der „Nächste" in Sicht kommt, da weiß das Evangelium nichts von jener Indifferenz, son-
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dern predigt nur Liebe und Barmherzigkeit. Auch bindet und flicht es die irdische und die Seelennot des Nächsten untrennbar zusammen. Es macht hier keine sublimen Unterschiede zwischen Seele und Leib, nein, Krankheit ist Krankheit und Elend Elend. „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeiset, ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränket." Wo die Kennzeichen angegeben werden sollen dafür, daß sich die Verheißungen Gottes jetzt verwirklicht haben, da heißt es: „Die Blinden sehen, die Lahmen gehen . . . und den Armen wird das Evangelium verkündigt", und im Hebräerevangelium lesen wir in der Geschichte vom reichen Jüngling: „Siehe so viele deiner Brüder, Söhne Abrahams, liegen im Schmutz und sterben vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen Gütern, und doch kommt nichts aus demselben zu ihnen heraus." Einfacher und nachdrücklicher kann es nicht gesagt werden, daß mit allen Kräften der Liebe dem Bedürftigen und Elenden geholfen werden soll. Dabei geht die ernsteste Mahnung an die Reichen. Indem vorausgesetzt wird, daß Reichtum in der Regel unbarmherzig und weltsüchtig macht, wird ihnen vorgehalten, daß der gefährliche Besitz ihnen die höchste Verantwortlichkeit auferlegt. Die Welt sah ein neues Schauspiel: während sich die Religion bisher entweder an das Irdische angeschmiegt und alle Zustände willig begleitet oder sich Allem entgegengesetzt und in die Wolken gebaut hatte, empfing sie nun eine neue Aufgabe: irdische Not und Elend ebenso wie irdisches Glück für etwas Geringes zu achten und doch jeglicher Not zu steuern, das Haupt im Glauben mutig zum Hiinmel zu erheben und doch mit Herz, Mund und Hand auf dieser Erde für die Brüder zu arbeiten. Die so gestellte Aufgabe ist in der Christenheit nie völlig untergegangen. Sie hat ihr die Überzeugung erhalten, daß keine Wirtschaftsordnung ihrer Arbeit ein schlechthin unübersteigliches Hindernis entgegenstellt, keine Wirt-
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schaftsordnung sie aber auch, von ihren Pflichten zu entlasten vermag. Aber enthält das Evangelium nicht noch vielmehr, enthält es nicht eine bestimmte Lehre vom irdischen Gut und ein bestimmtes sozial-wirtschaftliches Programm? Man hat das wohl gemeint, in der alten Zeit, im Mittelalter und auch heute wieder, und doch ist es falsch. Allerdings eine bestimmte Lehre vom irdischen Gut enthält das Evangelium, aber keine, die sich national-ökonomisch in Gesetze fassen ließe, und darum auch kein wirtschaftliches Programm. Nur wenn man das Evangelium oder das Neue Testament wie ein Gesetzbuch faßt, kann man in ihm sozial-politische Gesetze finden. Aber das ist ein unerlaubtes Unterfangen, und man wird zudem bald mit ihm scheitern. Unerlaubt ist es, weil unser Glaube die Religion der Freiheit ist, und die Aufgaben dir und mir und jeder Zeit besonders gestellt sind als ein individuelles Problem. Scheitern aber wird man, weil man nicht einstimmige wirtschaftliche Anweisungen aus dem Neuen Testament zu entwickeln vermag. Soll man nach der Geschichte vom reichen Jüngling alles verkaufen, was man besitzt, oder soll man sich wenigstens nicht Schätze sammeln? oder soll man mit dem Apostel Paulus jede Gabe, also auch den Besitz, pflegen, aber in eine Dienstleistung verwandeln? Soll ein Christ niemals Erbschlichter sein dürfen? hat er nur das Recht, für eine Salbung Aufwand zu machen, oder auch sonst? darf er eine Kasse haben oder nicht? „Arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes, auf daß Du habest zu geben dem Dürftigen", das ist doch wohl die Hauptsache, und mit allem Ernste ist der Versuchung zu widerstehen, dem Evangelium einen anderen sozialen Gedanken unterzuschieben als den: „Ihr seid Gott Rechenschaft schuldig für alle Gaben, die ihr empfangen habt und so auch für euren Besitz; ihr sollt sie im Dienste eures Nächsten gebrauchen." "Was in dem Evangelium in eine
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andere Richtung weist, ist teils scheinbar, teils gehört es dem individuellen Fall an, teils hängt es mit der unentwickelten wirtschaftlichen und der besonderen geschichtlichen Lage jener Zeit zusammen. Eine Zeit, in der das Kapital fast lediglich ein Aufgespeichertes, Totes war, läßt sich nicht vergleichen mit einer Zeit, in der es die größte wirtschaftliche K r a f t ist, und eine Zeit, die sich dem Ende nahe glaubt, läßt sich nicht vergleichen mit einer Zeit, die es als heilige Pflicht erkennt, für die Zukunft zu arbeiten. Aber umgekehrt — daraus, daß das Evangelium keine bestimmten wirtschaftlichen Anordnungen enthält, folgt ganz und gar nicht, daß dieses Gebiet f ü r den Christen indifferent ist. Vielmehr wo er klar erkennt, daß ein wirtschaftlicher Zustand zur Notlage f ü r den Nächsten geworden ist, da soll er nach Abhilfe suchen; denn er ist ein Jünger dessen, der ein Heiland war. Wer ins Wasser gefallen ist, dem hilft man freilich bereits, wenn man ihn herauszieht; aber wer in einem verschlossenen Hause sitzt, welches brennt, dem kann man nur dadurch helfen, daß man den Zustand ändert, indem man das Feuer löscht. Die Frage, ob das eine christlich -wirtschaftliche oder eine rein christliche oder eine humane Tat ist, mag der Disputant beantworten. Die Liebe weiß, daß sie überall so helfen soll, daß es wirklich hilft. Um dem Mitbruder zu helfen und der Not und dem Elend zu steuern, hat die Kirche von Anfang an von drei Mitteln Q-ebrauch gemacht, und es sind heute noch die drei, die ihr zu Gebote stehen: Erstlich die Schärfung der Gewissen der Einzelnen, die Erweckung wiedergeborener, kräftiger und aufopferungsvoller Persönlichkeiten. Das ist das Entscheidende. Der W e g dabei ist ein verschiedener: bald mag er von innen nach außen und bald von außen nach innen führen, wie wir's in der Pädagogik des Herrn sehen. Aber immer kommt es auf die heilige Persönlichkeit an, und immer darauf, daß in allem Tun die K r a f t
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der Liebe von Person zu Person wirkt und spürbar ist. Das Reich. Gottes wird nicht aus Institutionen gebaut, sondern aus einzelnen gottinnigen Menschen, die mit Freude f ü r andere leben. Das Zweite ist die Ausgestaltung der einzelnen Gemeinde zu einer tatkräftigen, durch Bruderliebe zusammengehaltenen Gemeinschaft; denn ohne solche Verbindung bleibt alles vereinzelt. Am Anfang der Geschichte ist diese Verbindung am stärksten gewesen. Das Bewußtsein, daß sie eine unumgängliche Form der Christenheit auf Erden ist, ist dieser nie ganz abhanden gekommen; aber wir werden sehen, wie es geschwächt worden ist. Nun aber kommt noch ein Drittes hinzu: die Religion wächst nicht frei; sie muß, selbst wenn sie in die Einsamkeit flüchtet, in ein Verhältnis treten zu den weltlichen Ordnungen, die sie vorfindet, und wie diese Ordnungen sind, ist nicht gleichgültig. Zwar haben die Apostel den Gläubigen das „Sorget nicht" zugerufen in einer Zeit, da Erpressung und Gewalttätigkeit an der Tagesordnung waren, als Sklaverei und tyrannischer Druck herrschten. Aber sie haben doch gleich damit angefangen, auf die irdischen Ordnungen, sofern sie Unordnung und Sünde waren, einzuwirken. Die Christen sollen durch ihren "Wandel ein Vorbild geben, das beschämt und zur Nachahmung reizt. Wenige Jahrzehnte später haben sich die christlichen Apologeten bereits mit Eingaben an die Kaiser und die Statthalter und mit Schriften an die Gesellschaft gewendet und die Abstellung grober öffentlicher Mißbräuche und Frevel verlangt. Aber sie haben, soviel ich sehe, eine scharfe Grenze gezogen: es kommt ihnen nicht in den Sinn, auf wirtschaftliche Verbesserungen anzutragen oder Institutionen wie die der Sklaverei anzutasten. Was sie verlangen, ist, daß die Sünden und Schanden aufhören, die auch ein griechisches und römisches Gewissen als Sünde und Schande beurteilen mußte. Sie sind davon überzeugt,
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daß das Ebenbild Gottes im Menschen auch unter Druck und IJbel aller Art nicht untergehen kann — nie ist ein Zeitalter weniger sentimental gegenüber Not und Elend gewesen, als das erste christliche —, daß es aber im Schmutz der Sinnlichkeit untergeht, daß daher öffentliche Zustände dieser Art — geduldete und privilegierte Unzucht, heimlicher Mord, Kinderaussetzung, Prostituierung ganzer Stände — unerträglich sind. Wir sind hier an einem sehr wichtigen Punkte. Man wirft es in der Neuzeit dem Christentum vor, daß es niemals in seiner G-eschichte mit wirtschaftlichen Reformen vorangegangen sei. Selbst wenn die Tatsache in dieser Allgemeinheit zutreffend wäre, wäre sie nach der Eigenart dieser Religion kein Vorwurf. Genug, wenn die Religion die Gemüter für große wirtschaftliche Veränderungen und Umwälzungen vorbereitet, genug, wenn sie die neuen sittlichen Aufgaben, die sie bringen, vorher empfindet, genug, wenn sie sich ihnen anzupassen weiß und den Punkt trifft, wo sie mit ihren Kräften einzusetzen und zu arbeiten vermag. Eine Religion, die das Heil der Seele und die Umbildung des innern Menschen zum Ziele hat und die der Macht des Bösen gegenüber die Umänderung äußerer Verhältnisse gering taxiert, eine solche Religion kann nur hinter dem Wechsel irdischer Verhältnisse einherschreiten und ist nicht geschickt, wirtschaftliche Entwicklungen zu dirigieren. Aber damit ist freilich nicht alles gesagt. Man kann es nicht leugnen, daß die größte Gefahr für die verfaßten Kirchen stets die gewesen ist, in schlechtem Sinne konservativ und träge zu werden und solche Trägheit mit den erhabensten Glaubensgedanken zu decken. Die „heilige Indifferenz", die den Einzelnen in bezug auf sein eigenes Los auf Erden bestimmen soll, wird dem armen Bruder gepredigt, statt daß man ihm hilft. Schon in den Tagen, da der Jakobusbrief geschrieben worden ist, haben Christen
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zu ihrem Mitbruder, der Mangel hatte, gesprochen: „Gott berate Dich", ihm aber nichts gegeben. Der Charakter der Religion, der auf das Jenseits weist, wurde so ausgebeutet, daß man die Liebe im Diesseits vergaß oder vielmehr das Diesseits doch nicht vergaß, wohl aber die Liebe. Ist es zufällig, daß dieser schlechte Quietismus von Anfang an als sein Gegenstück den Radikalismus hervorgerufen hat? Soll die Indifferenz gegen das Irdische und nicht die Liebe die Verhältnisse zum Nächsten regeln, so ist der Radikalismus mindestens ebenso berechtigt, wie der Quietismus. Also werfe man alles Irdische ab oder teile es gemeinsam und nivelliere alle GHiter. Wie ein Schatten, bald kräftiger, bald schwächer, hat die aus der Antike stammende phantastische Idee einer kommunistischen Gestaltung der Wirtschaftsordnung die Kirche begleitet. Mit dem Gedanken der Weltflucht oder mit sinnlich eschatologischen Hoffnungen verknüpft, galt sie als die beste Lösung der evangelisch-sozialen Aufgabe und erklärte der trägen Indifferenz den Krieg. Naiv vorgestellt, nie wirklich durchgeführt und undurchführbar, hat der Wert dieser Idee darin bestanden, die faule Christenheit aufzurütteln, auf die Fehler der herrschenden Wirtschaftsordnung aufmerksam zu machen und den starren Eigentumsbegriff zu erweichen. Aber ihre Nachteile waren größer. Wo sie einen Versuch machte, sich durchzusetzen oder sich auch nur zu Gehör zu bringen verstand, da hat sie den Sinn für die nächsten Aufgaben und für das Erreichbare geblendet, da hat sie das Werk schlichter, persönlicher Barmherzigkeit stets gering geschätzt gegenüber ihren vermeintlich alles Übel bezwingenden Institutionen, da ist sie schließlich in ihr Gegenteil umgeschlagen und hat die Religion profaniert durch ihren „Himmel auf Erden". Dazu — die Zeitalter der Kirche, in denen die Theorie dem Kommunismus am nächsten gekommen ist, waren in der Religion die selbstsüchtigsten. Denn fast niemals ist die
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Bruderliebe das stärkste zum Kommunismus treibende Motiv gewesen, sondern bald eine Weltflucht, die sich mit der Sorge für die Nächsten nicht verträgt, bald ein Verlangen nach irdischer "Wohlfahrt, das sich mit der Illusion selbst betrog, das Jenseits auf die Erde herab zu führen. — Ich habe versucht, in wenigen Strichen die prinzipielle Stellung der christlichen Religion zu sozialen Fragen anzugeben und zugleich auf die Punkte aufmerksam zu machen, wo durch eine Verschiebung verhängnisvolle Entwicklungen eintreten mußten. Blicken wir nun auf die G-eschichte. II. "Wer die Stellung der ältesten Christenheit in sozialer Hinsicht beschreiben will, muß vor allem zwischen den Predigten, Worten, Exklamationen, ja auch den Theorien einerseits und den Taten andererseits unterscheiden. Das geschieht nicht immer. I n der Theorie und der Anschauung ging Konservatives und Radikales durcheinander — gleichsam versuchte Ideen —, ja die radikale, von der heiligen Indifferenz und von der Aussicht auf das nahe "Weltende beherrschte Stimmung scheint alles zu durchdringen. Daher Aussagen oft gefunden werden wie „Niemand nenne etwas sein Eigentum", „Wir haben alles gemeinsam", „Gebt alle irdischen G-üter preis". I n Zeiten besonderer Not und akuter Verfolgung ist auch hin und her dem Worte die Tat gefolgt: eine einzelne Gemeinde, von einem fanatischen Manne geführt, verkaufte wirklich alles oder ging in die Wüste. J a in Kleinasien gelang es ein bis zwei Jahrzehnte hindurch erregten Propheten, Tausende und ganze Gemeinden aus der Welt herauszuziehen und die natürlichen Ordnungen zu sprengen. Auch finden sich in kleinen häretischen Gemeinschaften — von dem Versuche in Jerusalem schweige ich, da wir keinen klaren Bericht besitzen — Ansätze zu kommunistischen Organisationen, die
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deutlich nach Piatos Muster unternommen werden. Aber diese Erregungen sind nicht maßgebend. Im Hauptstrom der kirchlichen Entwicklung ist vielmehr alles ruhig, kräftig, zielbewußt, sogar nüchtern im besten Sinne. In den angesehensten und verbreitetsten Schriftstücken lesen wir Ausführungen, wie die folgende (Brief der römischen Gemeinde an die korinthische): „Heil möge finden unsere ganze Körperschaft in Christus Jesus, und jeder ordne sich seinem Nächsten unter, gemäß der G-nadengabe, mit der der Nächste betraut ist. Der Starke vernachlässige den Schwachen nicht, der Schwache achte den Starken. Der Reiche unterstütze den Armen; der Arme danke Gott, daß er ihm jemand gegeben, durch den seinem Mangel abgeholfen wird. Der Weise zeige seine Weisheit nicht in Worten, sondern in guten Werken. Der Demütige lobe sich nicht selbst, sondern lasse sich von anderen seine Demut bezeugen. Wer ehelos lebt, prahle nicht damit, sondern erkenne, daß ein anderer ihm die Enthaltsamkeit verliehen hat." Kann man nüchterner schreiben? Aber in einem Stücke allerdings waren alle Christen, die des Namens würdig waren, radikal — nämlich gegenüber der Welt des Götzendienstes, des Schmutzigen, des Obscönen, der gemeinen Vergnügungen, der Grausamkeit und des Unbarmherzigen, die sie umgab. „Sich enthalten und rein sein", das war die oberste Losung der ältesten Christen in der „sozialen Frage". Kämpfen gegen diese Welt der Sünde, leiden und sterben, um nicht in sie verflochten zu werden: das war der entscheidende Grundsatz. In diesem Kampfe sind sie hin und her bis zum Protest wider alles Sinnliche vorgeschritten. Nun, besser ist es, der Mensch verachtet sein irdisches Teil als daß er sich durch dasselbe schändet. Jene Asketen und Märtyrer haben einen stellvertretenden Kampf für uns alle gekämpft: sie starben, damit die unsittliche Welt untergehe oder sich doch wenigstens ins Dunkle zurückziehe, damit aus der
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Kultur, deren Erben wir noch eben sind, wenigstens das Schmutzigste und Niedrigste verschwinde. Von der "Würde des Menschen hatten treffliche Philosophen in trefflicher Weise geredet und geschrieben; aber blinzelnd schlichen sie am Götzendienst vorbei, und puritanische K r a f t besaßen sie nicht, weder gegenüber den Idolen noch gegenüber der öffentlichen Unsittlichkeit. Hier aber trat eine Genossenschaft auf, die das was sie kündete — die Würde der unsterblichen Seele, die Grotteskindschaft — in K r a f t und Tat umsetzte. Neben der sittlichen Reinheit aber war es die Bruderliebe, die sie bestimmte, und hier erscheint alles der Absicht untergeordnet, die einzelne Gemeinde und die ganze Christenheit zu einer Bruderschaft zu verbinden, die nach innen und nach außen wirksam sei. Die ganze Organisation der Greineinden, sofern sie Bischöfe und Diakonen umfaßte, ist zu diesem Zweck entstanden und entwickelte sich in wundervoller Geschlossenheit und Mannigfaltigkeit. Der Bruderbund sollte nicht nur die gemeinsame Gottesverehrung, sondern alle Lebensverhältnisse umspannen. Etwas Ahnliches kannte man bisher nicht; höchstens die im Reiche verstreuten Synagogen lassen sich vergleichen; aber sie waren national beschränkt und zugleich in ihrer Verbindung schwächer. Innerhalb der Gremeinde als religiöser waren die Nationen, Stände und Klassen wirklich ausgeglichen. Welche Gleichheit in dem gemeinsamen Besitz geistlicher, ewiger Güter liegt, kam hier wirklich zum Ausdruck. Sklaven wurden mit den einflußreichsten kirchlichen Amtern betraut. Auch die Ehre und Würde der Frauen wurde geschützt. Von welcher Zartheit gegenüber Sklavinnen zeugen einzelne Märtyrerakten! Keuschheit war der Hauptzug in der „Weltflucht". Aber über das alles — den Armen wurde wirklich das Evangelium gepredigt, d. h. zum ersten Male wurde eine geistige Religion allen, auch den untersten Ständen, zugänglich gemacht.
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Wenn man ermessen will, was das heißt, muß man die Streitschriften des Heiden Celsus und des Christen Origenes lesen. Celsus gesteht zu, findet es aber auch in der Ordnung, daß Plato nur f ü r die G-ebildeten und Reinen geschrieben hat: ein festes Verhältnis zu den höchsten Fragen können nur die Aristokraten gewinnen. Dem gegenüber sehen die Christen das Siegel der Überlegenheit und Wahrheit ihrer Religion darin, daß sie den Menschen auf allen Stufen gilt — sie ist nicht nur die Religion der Barmherzigkeit, sondern auch der Humanität. Das 18. Jahrhundert hat nur wieder entdeckt, was das zweite christliche Jahrhundert schon besessen hatte. Besonders beachtenswert ist es, daß die Leitung der Liebestätigkeit mit dem Kultus in die engste Verbindung gesetzt wurde. Dort, wo man himmlische Gaben empfing, empfing man auch die irdischen, und dort, wo man sich verpflichtete, Seele und Leib Gott zum lebendigen Opfer zu bringen, opferte man auch irdische Gaben f ü r die Brüder. Welch ein Antrieb zum Geben, und wer brauchte sich zu schämen, wenn er aus der Hand Gottes nahm! Ein Tisch verband als Altar den Ausdruck der Gottesund der Nächstenliebe. Das war die Seele des „Systems", welches die Heiden bewunderten und das zum starken Mittel der Propaganda neben der privaten Liebestätigkeit wurde. „In gemeinsamen Angelegenheiten setzen sie sich über alle Kosten hinweg", „Wenn einer von ihnen leidet, sehen sie es als gemeinsame Sache an", bezeugt der „Spötter" Lucian. Noch gab es nichts Anstaltliches; aber das Ganze, die Gemeinde, funktionierte als freie Anstalt der Bruderliebe und Hilfleistung. Dabei wurde die Arbeit eingeschärft. Nicht als ob man in der Arbeit einen besonderen Segen erkannt hätte, wohl aber eine selbstverständliche Pflicht. Eben deshalb soll dem unbeschäftigten armen Bruder von der Gemeinde Arbeit nachgewiesen werden. „Dem Kranken Unter-
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Stützung, dem Gesunden Arbeit", heißt es in einer alten Schrift. Nicht einen altchristlichen Rechtssatz kann man daraus ableiten, wohl aber eine brüderliche Verpflichtung. An allgemeine vorbeugende Maßregeln gegenüber der Armut dachte allerdings niemand. Die Armut ist ein Verhängnis, das durch Almosen gemildert werden soll. Andererseits führte das tiefe Mißtrauen gegen den ungerechten Mammon niemals oder fast niemals zu prinzipiellen Maßregeln. Auch der Reichtum ist ein Verhängnis, dessen schwere Folgen man durch Liebe zu beseitigen oder doch zu mildern hat. Die staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnungen wurden teils anerkannt, teils geduldet. Den Kaiser und die Obrigkeit soll der Untertan, den Herrn der Sklave respektieren; umgekehrt soll der Herr, der christliche, im Sklaven den christlichen Bruder sehen. Wie sich republikanische Neigungen in der ältesten Christenheit nicht finden, so auch keine Bestrebungen zur Sklavenemanzipation. Aber — ein Tertullian hält es noch nicht für möglich, daß ein Kaiser ein Christ sein könne, und auch die Sklaverei gehört zu den Einrichtungen, die mit der bösen Welt verschwinden werden. Der Christ soll das öffentliche und staatliche Leben möglichst auf sich beruhen lassen — wie weit er sich daran beteiligen und daran bessern dürfe, darüber gab es verschiedene Meinungen und eine verschiedene Praxis. Was man innerhalb der G-emeinde abmachen und entscheiden kann, soll nicht aufs Forum getragen werden, und von selbst verstand es sich, daß in Ehe- und Familiensachen die Kirche dem christlichen G-esetze folgte. Im Laufe des 2. Jahrhunderts vollzog sich langsam eine folgenreiche Entwicklung. Hatte es von Anfang an freie Missionare und Lehrer gegeben, die sich besondere Entsagungen um ihres Berufes willen aufzuerlegen hatten, aber auch besondere Rechte und Ehren genossen, so ver-
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schwinden diese, aber an ihre Stelle treten gewählte, amtsmäßige Vorsteher. Sie nehmen einen Teil der besonderen Verpflichtungen jener Lehrer auf sich, und man sieht in diesen eine höhere Sittlichkeit; aber sie erhalten auch die Rechte jener und werden in steigendem Maße die Leiter der Gemeinden. Die vergrößerten G-emeinden verlieren ihren alten Charakter, der auf dem freien Zusammenwirken der Gaben der Einzelnen beruhte, und wurden zu Gemeinschaften von Leitern und Geleiteten; an der Spitze der Bischof. Die Entwicklung war eine natürliche und notwendige; aber sie entfesselte doch zwei bisher gebundene Eigenschaften, die Trägheit der einen und die Herrschsucht der anderen, in deren Hände alle Gewalten und auch das Vermögen der Kirche kam. Sie richtete auch einen neuen spezifischen Unterschied in den Gemeinden auf, der ganz unabhängig war von religiösen und sittlichen Eigenschaften. Und noch auf etwas anderes ist hinzuweisen: Die Almosen wurden nicht nur aus Bruderliebe gegeben, sondern auch an sich galt es als etwas Gutes, sich seines Besitzes teilweise zu entäußern. Die Weltflucht begann in das "Werk der Nächstenliebe hineinzusprechen. Soll man sich auch hüten, darüber rigoristisch abzuurteilen — der lebendige Glaube an eine zukünftige "Welt und eine zukünftige Seligkeit, ist immer eine sittliche Tat, und dieser Glaube liegt hier zugrunde —, so ist doch nicht zu verkennen, daß egoistische Absichten und eine falsche Vorstellung von „Verdienstlichkeit" nicht fehlten. Gehen wir weiter — die Kirche, im Laufe des 3. Jahrhunderts zu einer großen vom Klerus beherrschten Anstalt entwickelt, tritt im 4. mit dem Staat in die engste Verbindung und erhält eine privilegierte Stellung in ihm. I n ihren Theorien über Eigentum und "Wirtschaftsordnung wurde die Kirche immer kommunistischer, ohne
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doch, den letzten Schritt, die Forderung allgemeiner Preisgabe der Grüter oder des wirklichen Gemeinbesitzes, vorzuschreiben. Fast alle großen Kirchenväter haben Äußerungen getan wie: „Aus dem Privateigentum entspringt aller Streit", „der G-emeinbesitz, resp. der gleiche Besitz ist die natürliche, ursprüngliche Ordnung", „Was Einer über das Notwendige besitzt, gehört den Armen", „Der Luxus der Reichen ist Raub an den Armen", „Die Armen erbitten nicht das deinige, sondern das ihrige". Aber letztlich will keiner von ihnen das Prinzip der Freiwilligkeit aufgegeben wissen. Einige, wie Lactantius, bezeichnen den Kommunismus Piatos ausdrücklich als einen Irrtum, und andere tragen kein Bedenken, den Reichtum, wenn er recht gebraucht wird, in Schutz zu nehmen. Indessen, die allgemeine Stimmung scheint doch zum bedürfnislosen Kommunismus zu streben. Wie ist das motiviert? Die Bruderliebe tritt als Motiv nicht deutlich hervor; andere Beweggründe schieben sich vor. Erstlich die antike Schätzung des beschaulichen, bedürfnislosen Lebens gegenüber dem tätigen, dazu das „Naturrecht" des Aristoteles und der „Staat" Piatos, wenn man ihn auch kritisierte. Sodann die Not der Zeit, die es wie eine Erlösung erscheinen ließ, von allem mit einem Schlage loszukommen. Selbst wer sein Vermögen lieb hatte, konnte schließlich, unter dem entsetzlichen Steuerdruck verzweifelnd, es wegzuwerfen vorziehen, als sich langsam ruinieren zu lassen. Dazu, die öffentlichen Zustände waren so tyrannisch und wiederum so unsicher; die neue Kaste von Reichen, die sich bildete, häufig so unmenschlich; die alte Erbsünde der Römer, der nährige Erwerbstrieb und der Greiz, so entwickelt, daß es einem nur einigermaßen geweckten Grefühl unerträglich wurde, in solch einer Welt zu leben. Bedenkt man nun dazu das alte christliche Mißtrauen gegen den ungerechten Mammon, die Schwierigkeit, die Frage zu beantworten, wieviel man geben soll, weiter die Uberzeugung,
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daß alles Weggeben verdienstlich ist und zum. Heile der eigenen Seele geschieht, endlich das vermeintliche Vorbild in der Bibel, der Kommunismus der Gemeinde von Jerusalem — so begreift man die kommunistisch-weltflüchtigen Neigungen. Aber, wie bemerkt, das Ergebnis war doch nur freiwilliges Geben, Schenken, Almosen, nicht der Kommunismus, dazu — vielleicht das Wichtigste — eine gewisse Erweichung des egoistischen römischen Eigentumsbegriffs. Eigentum ist Fideikommiß, das unter bestimmten sittlichen Bedingungen steht: diese Beurteilung bahnte sich an. Es ist in der Geschichte wie in der Natur: ein scheinbar ungeheurer Kraftaufwand ist nötig, um eine neue bescheidene Frucht hervorzubringen. Den kommunistischen Theorien entsprach das, was die Kirche selbst tat, durchaus nicht. Vielmehr erscheint sie als die große konservative Macht, die in ihrer Mitte alle alten Ordnungen und so auch die Wirtschaftsordnung schützte. Ja man kann noch mehr sagen: von allen Rechtsund Wirtschaftsordnungen des untergehenden römischen Reichs hat sie als festgefügte Anstalt zuletzt fast allein noch den Vorteil gehabt. Außer und neben ihr stürzte alles zusammen. So hat sie auch, als die Sklavenwirtschaft zu teuer wurde, als sich trotz der Bemühungen des Staates allmählich die Umsetzung von Sklaven in Hörige vollzog, vielleicht am längsten selbst Sklaven gehalten, obgleich sie ihre einzelnen Glieder zu dem guten Werk der Sklavenbefreiung anfeuerte. Sie war eben allmählich die größte Grundbesitzerin geworden, weil in den stürmischen Zeiten der Völkerwanderung aller Privatbesitz gefährdet war und sie große Privilegien genoß. Sie schützte bei dem allgemeinen Verfall („populus Romanus moritur et ridet") die alte Kultur, sie leitete als große Versicherungsanstalt geistlicher, geistiger und irdischer Güter, alles, was noch einer Dauer fähig war, ohne eigenmächtige Umgestaltung zu
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neuen yölkern über: das war — so dürfen wir heute sagen — damals ihre soziale Aufgabe. Sie reformierte nicht, sondern sie konservierte. Seit dieser Zeit hat die verfaßte Kirche bis heute ihren Beruf mehr darin erkannt, in dem Alten, Absterbenden die noch vorhandenen guten Kräfte nachzuweisen und zu bewahren, als darin, neue heilsame Kräfte zu entfesseln. An den großen wirtschaftlichen Umwälzungen jener Zeit hat sie einen bestimmenden Anteil nicht gehabt. Ihrem gewöhnlich nicht gehaltenen Zinsverbot kann man eine besondere Wirkung schwerlich zuschreiben. Wie glich sie nun ihre Theorie und Praxis aus? Erstlich durch eine halbe Fiktion, durch den G-edanken, sie selbst sei mit ihrem Vermögen nichts anderes als eine große Armen-Versorgungsanstalt, sodann aber auch durch eine großartige Liberalität gegenüber der wachsenden Armut und in dem 4.—6. Jahrhundert auch noch durch zahllose segensreiche Anstalten für Hilflose aller Art. Diese großen Anstalten, die selbst die Bewunderung des Kaisers Julian erweckt haben, lösten allmählich die Gremeindearmenpflege ab; aber die Gemeinden verschwanden überhaupt allmählich. An ihre Stelle traten die von den Bischöfen geleiteten Parochien. Auf deutschen Boden ζ. B. ist ein GremeindeChristentum überhaupt nicht gekommen. Jene Anstalten, so heilsam sie waren, nahmen einen aussichtslosen Kampf auf mit dem Massenelend; aber das G-efühl des einzelnen Christen, daß er für die Lage seines Mitbruders verantwortlich sei, wurde immer schwächer. Je stärker die Kirche den Laien religiös bevormundete, um so egoistischer wurde er im Religiösen. Eine Kirche, die nur Kirche und nicht G-emeinde ist, isoliert auch den Frömmsten und macht ihn selbstsüchtig. Aber man kann von der alten Reichskirche nicht sprechen, ohne den wichtigen Einfluß zu erwähnen, den sie auf die Gesetzgebung des römischen Reichs, bevor es
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unterging, ausgeübt hat. Hier lag ein großer sozialer Beruf, den sie erfüllt hat. Nicht nur in flagranti traten edle und mutige Bischöfe grausamen und ungerechten Kaisern und Staatsbeamten entgegen und schützten die Unschuld, die Schwachen und Hilflosen — auch auf die Gesetzgebung haben sie von den Tagen Konstantins an den heilsamsten Einfluß ausgeübt. Aus dem römischen G-esetzbuch Justinians könnte ich Ihnen eine lange Reihe von Gesetzen aufzählen, die sittliche Hebung ganzer mißachteter Stände, die Heiligkeit der Ehe, den Schutz der Schwachen, Kinderfürsorge, Gefangenenpflege, öffentliche Sittlichkeit, Sonntagsruhe, ja auch Eigentumsfragen betreffend, die unter der Einwirkung der Kirche entstanden sind. Aber trotz dieses Einflusses — die Verbindung von Barche und Welt wurde doch von den Frömmsten als ein Übel empfunden. Aus isolierten Asketen bildeten sich asketische Gemeinschaften. Das Mönchtum wächst seit dem Ende des 3. Jahrhunderts auf, der Stand des „apostolischen Lebens", der "Vollkommenen, zur sicheren Rettung der eigenen Seele, aber auch im Sinne christlicher Freiheit. Die Weltkirche erkennt sie an, und sie lassen die Weltkirche als ein christliches Gebilde zweiter Ordnung gelten. Damit ist besiegelt, was längst vorbereitet war, der Verzicht darauf, das höchste christliche Lebensideal, wie man es verstand, wirklich in das Leben der Nationen einzuführen. Dieses Mönchtum, aus der heiligen Indifferenz geboren, ist ursprünglich kein karitativer Faktor und ist auch lange Zeit hindurch kein solcher geworden; aber ein wirtschaftlicher wurde er bald, und zwar in einem ganz anderen Sinn als man es erwartet. Die Kirche kommt zu den Germanen, und an die Stelle der Römer treten die Romanen. Erst diese Völker sind die Kinder der katholischen Kirche. Darum kommt auch erst im Mittelalter die Theorie und die Praxis der Kirche
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zur "wirklichen Herrschaft: nicht mehr steht die antike Gesellschaft neben ihr. Ideen, sämtlich im Jenseits wurzelnd, bestimmen das geistliche und geistige Leben; die Furcht vor dem Jenseits und dem Fegfeuer und die Hoffnung regieren. Die heilige Indifferenz gegen die Welt und die Angst um das individuelle Seelenheil lassen den Gedanken des selbständigen Rechts des Diesseits nicht aufkommen. Man ist davon durchdrungen, daß das Irdische nur Mittel, Form, Hülle, wo nicht Schlimmeres ist. "Wer überhaupt sann und dachte, lebte im Jenseits — wie genau kannte man es! — daneben lebte man mit bösem Gewissen in naiver Sinnlichkeit. Alle irdischen Verhältnisse sind korporativ gestaltet; der einzelne ist fast nur Repräsentant des Standes, dem er angehört. Wehe dem fahrenden Volk! Geherrscht wurde mit Kraft, der Beherrschte ist in der Regel auch der Versorgte und hält seinen Dienst f ü r Naturbestimmung. Nur die Ungleichheit des Vermögens und die Willkür seiner Verwaltung bringt einen Zug der Freiheit und Mannigfaltigkeit in die eherne soziale Kastenordnung. Eben deshalb wird dieses unfügsame Element beargwöhnt, zumal der Handel. I n den langsamen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung von der primitiven Naturalwirtschaft bis zur Geldwirtschaft greift die Kirche nicht ein; vielmehr umgekehrt — sie wird als große Besitzerin durchgreifend von ihr bestimmt. Selbst vom Mönchtum gilt das. Man kann die großen Reformen des abendländischen Mönchtums, wie das U h l h o r n jüngst gezeigt hat, auch als die Exponenten der wirtschaftlichen Entwicklung auffassen. So bedeutet das Klosterwesen von Clugny eine große wirtschaftliche Reform in Frankreich, nachdem das Frankreich der Karolinger zerstört war. Nur große Mönchsunternehmungen konnten als Großgrundwirtschaften in vielen Teilen des Reichs der Bevölkerung eine neue Existenz bereiten. Die
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Formen, welche die Bettelorden annahmen, entsprachen dem aufstrebenden Städtewesen und der Geldwirtschaft. Die großen Klosterverbände sind f ü r manche Gegenden landwirtschaftliche Ringe gewesen mit patriarchalischer Fürsorge für die Eingeborenen. Und überall gehören bis zum 13. Jahrhundert die Kleriker und Mönche zum Herrenstand. Was sie an Kulturarbeit und Liebestätigkeit geleistet haben, entsprang in der Regel nicht dem Motiv der Bruderliebe, sondern der Absicht, sich auch wirtschaftlich als die Herren und Patrone zu behaupten. Die Kirche, nun vollständig zu der über allen stehenden hierarchischen Anstalt entwickelt, bleibt dabei, dem einzelnen ein ganz anderes Verhalten gegenüber dem Besitz vorzuschreiben, als sich selber, und sie deckt diesen Widerspruch noch immer durch die Fiktion, daß sie die Caritas selber sei. So lange sie in ihren großen Päpsten f ü r Recht und Gerechtigkeit eintrat und wirklich eine sittigende und erziehende, helfende und schützende Macht war, ertrug man den Widerspruch. Durch ihre Theologen läßt sie den Gemeinbesitz als die natürliche, paradiesische Ordnung verkündigen, leitet diesen Gedanken in der Regel zu dem anderen der Besitzund Bedürfnislosigkeit über, preist das in freiwilliger Armut beschauliche Leben und sieht in der Arbeit vor allem eine Sündenstrafe. Wie kann sie aber in der Praxis der unfreiwilligen Armut als einem Übel energisch begegnen, wenn sie die freiwillige für ein Gut erklärt, und wenn sie die unfreiwillige f ü r notwendig erachtet, damit das verdienstliche Almosen möglich sei! Wie kann sie Arbeit und Tätigkeit befördern, wenn sie dem Ideal der Beschaulichkeit noch immer nichts überzuordnen weiß! Nur das Almosen bleibt übrig; denn nur die Existenz des Elends in der Welt verschafft den Tätigen und Besitzenden die Möglichkeit, selig zu werden! Ein Fortschritt hier ist insofern versucht, als man sich bemüht, nun genau anzugeben, wie
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weit eine wirkliche Rechtspflicht des Gebens f ü r den Besitzenden reicht. Eine solche wird anerkannt, und das ist hochbedeutsam. Aber die Bestimmungen, die man traf, blieben auf dem Papier, führten in eine pharisäische Kasuistik und stumpften den sittlichen Nerv ab. Sie erzeugten die Illusion, als habe man genug getan, wenn man dem Nächsten in der äußersten Not einen kleinen Teil des Überflusses gebe. So hatten es jene Scholastiker nicht gemeint, die in kühnen Strichen das Bild eines christlich-sozialen Staates zeichneten; aber so wurde es von vielen verstanden. Wie lehrreich ist es, daß der einzige Versuch, den wir in der Kirchengeschichte kennen, den Umfang der Liebespflicht und Vermögensentäußerung als Rechtspflicht zu bestimmen, die Liebe beschränkt und gelähmt hat! "Was sich aus dem allen entwickelte, war eine fortschreitende Erweichung des Eigentumsbegriffes, dabei ein massenhaftes Almosengeben, eine unzweckmäßige Güterverschleuderung. Daß durch Almosen dem Pauperismus nicht abzuhelfen sei, dafür leistet das Mittelalter den Beweis. Doch hat die Caritas gerade damals häufig den Bann der heiligen Indifferenz und der „Verdienstlichkeit" durchbrochen. Immer wieder traten große geheiligte und opferfreudige Personen auf, die nicht nur Buße predigten, sondern auch Barmherzigkeit. Eine Kette von solchen läuft vom 11. Jahrhundert bis zum 15., bis zu Savonarola. Sie taten das, was heute unsere Opferfreudigen nur selten t u n : sie lebten selbst wie die Armen. Aber doch — die Frommen und Barmherzigen suchten Wunden zu heilen, die sie selbst absichtlich offen hielten, und die Hilfleistung von Person zu Person schob bald wieder einer auf den andern ab, bis sie bei den Niedersten hängen blieb. Der Umschwung beginnt im 14. Jahrhundert. Dem Ubergang zur Geldwirtschaft kommt die Kirche mit ihrer Naturalwirtschaft nicht nach. Die Klöster als große Gutswirtschaften verarmen. Die römische Kurie verwandelt
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sich allmählich in ein unzweckmäßig geleitetes Finanzinstitut. Hierher gehört der Aufschwung, den das Ablaßwesen nimmt. Die Völker und die Laien entdecken endlich den Widerspruch zwischen der Predigt der Kirche und ihrem wirklichen Verfahren. Als Finanzinstitut kommt die Kirche in Mißkredit. Gleichzeitig begannen sich die Anschauungen in bezug auf Arbeit, Besitz und Armut langsam zu ändern — nicht prinzipiell, sondern unter dem Druck geänderter Verhältnisse. Ein dunkles, aber gebieterisches Bewußtsein entsteht von einer notwendigen sittlichen Aufgabe, die nicht in der Zelle gelöst werden kann. Schon die Bettelmönche sind keine Mönche mehr. Sie stehen und arbeiten in der Welt. Der Antrieb wirkt weiter. Ein Halbes-, ja ein ViertelsMönchtum entsteht — freie fromme Genossenschaften, die einen Teil der mönchischen Regeln auf sich nehmen, aber f ü r andere in mannigfaltiger Weise arbeiten: einem Armen ein Süpplein geben ist besser als tatenlose Beschaulichkeit. Jetzt dämmern auch, indem sich die Staaten und Völker von der verweltlichten Theokratie Roms emanzipieren, die besonderen und selbständigen Pflichten auf, welche Staat und Stadt f ü r die irdische Wohlfahrt ihrer Bürger haben. Sogar ein Zweig der scholastischen Theologie geht auf diese Gredanken ein. Dazu arbeitet sich aus den Ständen und Kasten des Mittelalters die einzelne Persönlichkeit, ihr Recht und ihr Wert hervor. Man beginnt in den Städten unter dem Segen frischer Arbeit und unter dem Druck der Notwendigkeit einzusehen, daß die irdische Wohlfahrt ein G-ut ist, daß sie einen selbständigen Wert hat und doch auch mit dem Sittlichen und Ewigen in Verbindung steht. Damit bekommt die Hilfleistung wieder ein einfaches Ziel und fordert neue Methoden. So ist die Reformation auch auf dieser Linie vorbereitet. Aber alles ist doch noch niedergehalten durch die Furcht vor dem Jenseits und die Idee der Verdienstlich-
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keit, der man bei allem Suchen und Tasten nichts entgegenzustellen vermag. Einige Ansätze zur bürgerlichen Armenpflege abgerechnet, ist noch am Ende des 15. Jahrhunderts alles in bezug auf soziale Hilfleistung äußerlich so wie im 13. Jahrhundert. Noch immer ist das Betteln ein Stand, „Arbeit" und Kunst; noch immer ist die Arbeitsscheu, von den zahlreichen Feiertagen gleichsam legitimiert, das verbreitetste Laster. Das sittliche Bewußtsein hat noch keine neue Stellung zu Elend und Not gewonnen. Die großen Besitzverschiebungen beim Übergang zur Geldwirtschaft, das ungeheure Schwanken der Preise, der Verfall, in den ganze Klassen gerieten und wiederum ihr Aufstreben und Sich-selbst-fühlen ruft große Krisen hervor. Die Aufständischen ergehen sich in zornigen Flüchen über die Kirche und sehen in den herrschenden Zuständen in Staat und Kirche das Reich des Satans und des Antichrists. Aber das Ideal, das sie dem entgegensetzen, ist besten Falls das alte kommunistische Ideal, mit dem es die Kirche längst im Mönchtum versucht hatte, in der Regel aber ein naives seltsames Gemisch von franziskanischer Bedürfnislosigkeit und irdischer Begehrlichkeit, das mit Gewalt durchgesetzt werden soll, weil das Ende nahe ist. Erst am Schluß der Periode klärt sich einiges zu erfüllbaren, zukunftsreichen Forderungen ab. Die Reformation tritt ein. Im Politisch-Sozialen folgt sie ganz den Zuständen, wie sie sich im Lauf zweier Jahrhunderte gebildet hatten. Man kann die sozialwirtschaftlichen Anschauungen der Reformation fast von dorther konstruieren. Aber das Neue ist, daß sie aus dem Evangelium legitimiert werden und dadurch ein religiöses Fundament erhalten. Welches sind die Ideen, und wie gestaltete sich die Praxis? Die Theorie ist von Luther ausgesprochen in seinem Sermon von den guten Werken, in der Schrift an den christlichen Adel, in dem Büchlein von der christlichen Freiheit und sonst. Erstlich — auch er würdigt das Grund-
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element, was sich in der alten Kirche und im Mittelalter als „heilige Indifferenz" darstellte, aber er faßt es in der einfachsten, reinsten und kräftigsten Gestalt, nämlich als unerschütterliche Zuversicht zu Gott, als Gottvertrauen; eben darum erscheint es nicht nur als ein quietistisch.es, weltflüchtiges, sondern auch als ein aktives, überweltliches Element: ein Christenmensch ist im Glauben ein freier Herr über alle Dinge. Das ist das eine. Das andere aber ist die Rückkehr zur Nächstenliebe aus dem selbstsüchtigen Raffinement der Almosen. Der Begriff der Nächstenliebe wird wieder vereinfacht, aber eben dadurch vertieft: „ein freiwillig und fröhlich Leben dem Nächsten zu dienen umsonst". Der Verdienstlichkeit der guten Werke werden die Wurzeln abgeschnitten; denn Gott will mit uns nicht anders handeln, denn durch Gnade und Glauben. Damit wird die isolierte Schätzung der Almosen und guten Werke aufgehoben; sie empfangen ihre Stellung in dem stetigen, gemeinnützigen Wirken im Beruf, wenn der Mensch nicht sich selber, sondern Gott und seinem Nächsten lebt. Ein Christenmensch ist in der Liebe ein Knecht aller Dinge. Aber auch den untrennbaren Zusammenhang von Gottesund Nächstenliebe weiß Luther zu würdigen. E r faßt ihn nur inniger: jeder weltliche Beruf, im Glauben geübt und dem gemeinen Nutzen dienend, ist ein Gottesdienst. Alle Liebestätigkeit, alle soziale Fürsorge wird zum Spezialfall in einem Verhalten, das stetige Gesinnung sein soll und im Beruf seine Sphäre hat. Wie Luther sich über die Menge nutzloser Almosen ereifert, so ereifert er sich auch gegen die „Liebe", die die äußerste Not abwartet und sich auf die Erfüllung minimaler Rechtspflichten beschränkt. Dabei erkennt er irdische Güter als Güter an, wenn auch als geringe; auch würdigt er die Arbeit, wenn sie im rechten Sinne geschieht, höher als die mittelalterlichen Theologen. Sie ist nicht nur negotium, Mangel an otium, sondern ein fröhliches Tun.
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Aus solchen Überzeugungen mußten neue Grundsätze f ü r die soziale Aufgabe folgen. Ich nenne nur die wichtigsten: Erstlich, es soll wirklich geholfen werden, Hilfe ist das letzte und einzige Ziel; zweitens, es soll nur den Hilflosen, nicht den Arbeitsscheuen gegeben werden; drittens, es soll zweckmäßig und nicht in Überfluß geholfen werden; viertens, es soll geregelt geholfen werden; fünftens endlich, zu solcher Hilfleistung ist vor allem die bürgerliche Gemeinde, die Obrigkeit, kurzum die irdische Gewalt verpflichtet; denn sie ist von Gott mit der Sorge für die irdische Wohlfahrt betraut; aber sie selbst soll sich als ein christlicher Stand wissen und betätigen. Mit dem allen ist wirklich in der Reformationszeit ein gewisser Anfang gemacht worden. Hier und dort wurden die vorhandenen Mittel konzentriert, wurde ein „gemeiner Kasten" errichtet, wurden Armenpfleger eingesetzt, Armensteuern auferlegt. Aber — man kann es leider kurz sagen: es wurde schließlich nichts Erhebliches geschaffen; ja man muß noch mehr sagen: die Katholiken haben Recht, wenn sie behaupten, nicht wir, sondern sie hätten im 16. Jahrhundert einen Aufschwung des karitativen Lebens erfahren, und im Gebiete des Luthertums sei es mit der sozialen Fürsorge bald schlimmer bestellt gewesen, als es vorher war. "Woher diese niederschlagende Erscheinung? Wie ist es gekommen, daß die Bewegung, welche neue und bessere Grundsätze aufgestellt hat, faktisch zunächst gar nichts gebessert hat? Aus den Antworten auf diese traurige Frage können wir noch heute sehr viel lernen. Zunächst muß man sich erinnern, daß Luther bei aller hoher Schätzung, die er von Anfang an f ü r den Staat und die Obrigkeit gehabt hat, doch ursprünglich die erneuerte Kirche schlechthin auf der Gemeinde erbauen wollte. Gemeindebildung auf genossenschaftlicher Grundlage, auf den Prinzipien christlicher Freiheit, Brüderlichkeit und Gleich-
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heit schwebte ihm vor. Das nationale Element — aber die Nation war das römische Reich deutscher Nation — sollte dabei auch zum Ausdruck kommen, und eine Verbesserung der gesamten wirtschaftlichen und kulturellen Lage, eine Hebung der gedrückten Stände war ins Auge gefaßt. F ü r ihn waren das freilich keine selbständigen Ideale; vielmehr war es ihm gewiß, daß sie sich mit der "Wiederherstellung des Evangeliums wie von selbst verwirklichen würden. Er konnte sie daher auch zeitweilig preisgeben und sich gedulden, wenn's sein mußte: nur das Evangelium sollte freie Bahn erhalten. Aber er durfte nicht erwarten, so verstanden zu werden. Kam doch seine Botschaft großen Ständen entgegen, die unter Druck und Not seufzten, aber nicht mehr knechtisch genug waren, sie zu ertragen — der süd- und mitteldeutsche Bauernstand und der niedere Handwerkerstand. Und grade damals hatten sich die Ansprüche geklärt und schienen jene Stände würdig und stark zu sein, um von den bevorzugten Klassen der Gesellschaft etwas fordern zu dürfen — eine berechtigte Stellung unter ihnen. Damals schien das Ideal der Verwirklichung nahe, alle Stände zu einer großen brüderlichen Vereinigung zusammenzuschließen, die Privilegien der Geistlichkeit, des Adels, der Zünfte zu verkürzen und die Nation auf neuer sozialer Grundlage zu bauen. Wie mußten die Gedrückten den Schriften Luthers zujubeln, wie dem Manne, der der geplanten Befreiung die Bestätigung durch das Evangelium gab! „Gott will es", das lasen sie aus jenen Schriften heraus. Sie wissen, wie es endete. Die Schuld liegt bei allen; aber die größere Schuld liegt bei den Fürsten, Herrn und Städten, die die revolutionär gewordene Bewegung in Strömen von Blut untergehen ließen. Und auch Luther ist nicht schuldlos. Man mag eine feine Grenze ziehen und sagen: er hatte nicht Schuld, sondern er war schuld. Man mag die Gegenfrage aufwerfen, wie er hätte handeln
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sollen: Eines ist gewiß — der deutsche Staat, die deutschevangelische Kirche haben vom Bauernkrieg her noch eine Schuld einzulösen und eine Verpflichtung zu erfüllen. Ein großer Moment ist, wenn nicht alles täuscht, damals verabsäumt worden. Das Programm, auf der breiten Basis der G-emeinde die Kirche zu bauen und die gleichberechtigten Stände in ihr zu brüderlicher Einheit zu verbinden, fällt dahin: die weltliche Obrigkeit, die Fürsten, und — die Theologen sollen die neue Kirche, die man plötzlich hatte, einrichten und leiten. Aber wenn man die ursprünglichen Ideale auch preisgab, wie ist es gekommen, daß man im Sozialen so bitter wenig erreichte, ja sogar teilweise hinter der Vergangenheit zurückblieb? Warum haben jene oben bezeichneten Grundsätze nicht wenigstens eine spärliche Frucht gebracht? Eine Reihe von G-ründen hat hier zusammengewirkt. Erstlich waren die Theologen einseitig auf die reine Lehre bedacht, und ihr Grundsatz, daß alle Werke doch immer unvollkommen bleiben, stählte die K r a f t und Opferwilligkeit nicht. Der Gedanke der Verdienstlichkeit war mit Recht ausgeschlossen; aber zu einem höheren Gedanken mußte erst erzogen werden. Der Träge und Selbstsüchtige ließ es sich gern sagen, daß Gott sich aus guten Werken nichts mache. Sodann fehlte bald, weil die Gemeinde fehlte, auch die Genossenschaft; ohne Genossenschaft läßt sich aber im großen nichts erreichen. Man gewöhnte sich daran, daß die hohe Obrigkeit alles zu tun habe, und diese tat immer weniger. Weiter steigerte sich nach dem Bauernkrieg wieder die allgemeine Not. Die Masse der freiwilligen und unfreiwilligen Müßiggänger war ungeheuer, und in dem unfreien Volk ließ sich keine Freude an der Arbeit erwecken. Ferner war die finanzielle Lage der lutherischen Landeskirchen bald eine sehr kümmerliche. Ohne eigenes Vermögen, bald nur Dependenzen des Staates, mußten sie
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oft zufrieden sein, wenn nur Pfarrer und Schulen eine kümmerliche Dotation erhielten. Der „gemeine Kasten", wo er bestand, schrumpfte zusammen; die direkte Armenpflege, ohne Erfahrung und ohne geschulte Kräfte unternommen, wurde wieder von einem zum andern geschoben, bis sie erlosch. Weiter — mit dem neuen Fürstenrecht und der Rezeption des römischen Rechts dringt auch der römische Eigentumsbegriff wieder ein und verdrängt die ältere bessere Einsicht. Endlich — geistige Verarmung und Verkrüppelung ist überall die Signatur der Epigonen des Luthertums. Sie haben überall den engsten Horizont: wie konnte da in irgend welcher Richtung etwas Bedeutendes geschehen! Das war der Zustand, als der dreißigjährige Krieg ausbrach, der unsere Nation nahezu um ihre Existenz gebracht hat. Aber man darf bezeugen, daß es auf reformiertem Boden viel besser aussah als auf lutherischem. Die Reformierten hatten G-emeinden; sie waren im Handeln energischer, weil sie sich nicht ausschließlich auf die Predigt des reinen Worts beschränkten, und weil sie in der Regel nicht in der Lage waren, der weltlichen Obrigkeit zu vertrauen. Sie entnahmen dem Neuen Testament auch Gesichtspunkte und Einrichtungen für das kirchlich-soziale Handeln; sie erweckten das echte Diakoneninstitut wieder; sie suchten im Gegensatz zum Katholizismus wirklich eine neue christliche Gesellschaft zu erziehen und haben sie erzogen. Erscheinungen wie das Leben der reformierten Flüchtlingsgemeinden, wie die Presbyterianer in Schottland, die Hugenotten Frankreichs, hat der lutherische Protestantismus zunächst nicht hervorgebracht. Weit über bloße Armenpflege und Fürsorge hinaus ist dort ein evangelisches Volk erwachsen, in welchem die Religion die Stände zu einer brüderlichen Yereinigung zusammenband und wirklich eine neue gemeinsame soziale Lebensordnung ohne
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Kommunismus schuf. J a die Puritaner, die die Neu-EnglandStaaten gegründet haben, haben Generationen hindurcli den Beweis geliefert, daß ein Gemeinwesen auf Erden möglich ist, in welchem Religion und Sittlichkeit so mächtig sind wie das Recht. Bei uns in Deutschland war die nächste Folge des dreißigjährigen Krieges eine ungeheure Steigerung der Klassen- und Ständeunterschiede und die Durchführung des auf den Adel sich, stützenden Absolutismus. Vielleicht konnte nur so das Minimum von Kultur geschützt werden, welches man noch besaß. Dann aber zeigte sich, daß in der lutherischen Kirche doch noch Kräfte vorhanden waren, und daß sie gleichsam latente Schätze besaß, die nur gehoben zu werden brauchten. Damit sind wir bereits zu den Wurzeln unserer gegenwärtigen Zeit vorgeschritten; denn noch heute stehen wir in der Entwicklung, die mit dem Aufkommen des Pietismus einerseits, der Aufklärung andererseits begonnen hat. Der Pietismus hat das Bewußtsein und die Verpflichtung zur Liebestätigkeit im Protestantismus wachgerufen. Indem er die Religion ernst und persönlich nahm und sie erwärmte, kam auch sofort wieder der Nächste in Sicht. Die Väter des Pietismus haben den mächtigen Antrieb zur Liebestätigkeit und Armenfürsorge gegeben, sowohl zur bürgerlichen, wie zur privaten und genossenschaftlichen. Was bis heute an christlicher Liebestätigkeit von christlichen Vereinen geleistet worden ist und noch geleistet wird, hat zum größten Teil dort seine "Wurzeln. Aber seine Grenzen hat sich der Pietismus stets ziemlich enge gesteckt und auch die Mittel hat er einseitig ausgewählt. Mit dem Anstaltlichen wollte er es zwingen. Die Gemeindeorganisation, die allerdings nur in kümmerlichster Form bestand, ließ er beiseite. Daß man nicht Virtuosen, sondern geschulte Kräfte brauche, wurde ihm nicht klar,
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und daß es gelte, das Volk zu erziehen und zu heben — die Größe dieser Aufgabe kam selten in seinen Gesichtskreis (— freilich, wo war damals das deutsche Volk!). Es bedurfte einer anderen Kraft, um diese Aufgabe hervorzutreiben. "Vielleicht gibt es in der ganzen Geschichte keinen merkwürdigeren Prozeß als die Entstehung der Aufklärung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und die Geschichte ihrer Wandelungen bis zum Sozialismus der Gegenwart. Das, was man das Umschlagen der Entwicklung nennt, läßt sich hier mehr als einmal beobachten. Die Entwicklung setzt ein mit der Idee des absoluten Staates — zunächst im Sinne der absoluten Fürstengewalt — und mit dem Gedanken des souveränen Rechts und der Pflicht des Staates, für die "Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen. Unter dem Druck dieser Idee wird vollends zerrieben, was an ständischen Rechten, an geschichtlichen Gebilden und Formen noch vorhanden war — nur was zum Hof gehört, ist ausgenommen. Aber eben aus ihrem Untergang steigt, wie ein Phönix aus der Asche, die Idee des Menschen hervor. Das was schon antike Philosophen für das natürliche System gehalten, was im 15. und 16. Jahrhundert erobert zu werden schien, um unter den theologischen Kämpfen rasch wieder zu verschwinden, fand jetzt einen Boden, die Menschenrechte, und ein begeisterter Prophet verkündete sie und legte sie aus, Rousseau. Wie sie auch immer aufwuchs: die Idee war da, sie setzte sich durch und sie hob alle Ideale, die bisher in der Religion gegolten hatten, aus dem Medium der Weltflucht und des Pessimismus heraus, um sie mit dem Schimmer des freudigsten und zuversichtlichsten Optimismus zu bekleiden; sie hob sie aus der gewordenen Geschichte heraus, um sie in einer erst werdenden zu verwirklichen. Nur ein Schritt, und dann ist's geschehen! Wenn sich der einzelne, wenn sich die Völker nur auf sich selbst besinnen, wenn sie nur wollen, so können sie mit einem Schlage glückselig werden,
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kann jeder einzelne sich frei entfalten und die höchste Wohlfahrt erringen, um dann gern und freudig dem ebenso frei entwickelten Bruder die Hand zu reichen: Freiheit, Humanität, Glückseligkeit. Dieses Evangelium wurde verkündigt — und unser Vaterland war bettelarm, die unteren Stände rechtlos, geknechtet, ungebildet, immerfort dem Verhungern nahe! Zuerst spielte der Adel mit dem neuen Ideal; aber gleichzeitig griff es mächtig in die Literatur ein, und dann faßte es im Bürgertum "Wurzel, um in dem entwickeltsten Lande, in Frankreich, sich mit Gewalt durchzusetzen und alle Völker allmählich zu durchdringen. Man mag im übrigen urteilen wie man will, ein Doppeltes wird uns allen gewiß sein: erstlich, daß uns das 18. Jahrhundert unverlierbare Güter gebracht hat, das Recht und die Würde jedes einzelnen Menschen und die Humanität, Güter, die auch das Evangelium enthält und die Reformation wiedererweckt hat, ohne daß sie imstande gewesen ist, sie durchzusetzen; zweitens aber, daß die Begründung jener Güter, wie sie die Aufklärung gab, hinfällig ist, ferner daß sie niemals erworbene sind, sondern immer eine Aufgabe einschließen, und daß ihre Durchführung Opfer erheischt, materielle und persönliche Opfer, von denen sich die Aufklärung nicht hat träumen lassen. Sie verkannte, daß kein geringerer Widerstand dem „glückseligen Menschen" gegenüber steht, als der Mensch selbst, nämlich der natürliche, selbstsüchtige Mensch. Wir streiten mit der Aufklärung nicht um das Recht jener Güter — im Gegenteil, wir bezeugen dankbar, daß sie ihre Anerkennung durchgesetzt hat, und daß eine Fülle heute geltender, uns selbstverständlich dünkender sozialpolitischer Uberzeugungen, Gesetze und Institutionen auf sie zurückzuführen ist. Sie erst hat uns wirklich aus dem Mittelalter herausgeführt; sie hat das Aussehen der Gesellschaft geändert vom Palast bis zur Hütte. Beschämt gestehen wir, daß etwas Wahres an dem Paradoxon des
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Dichters ist, Rousseau habe aus Christen Menschen gemacht. Aber wir streiten mit dem Geist, in welchem die Aufklärung gearbeitet hat und noch arbeitet. "Wir bestreiten ihr Naturrecht als eine gefährliche Illusion — der hilflose Mensch wird mit keinem Rechte geboren, sondern seine Existenz hängt davon ab, daß er Liebe findet. Wir halten ihrem einseitigen Interesse an der irdischen Wohlfahrt höhere Interessen entgegen, die Gesundheit der Seele, den lebendigen Gott und die ewigen Güter. Wir bekämpfen endlich ihre Blindheit, die nicht sieht, daß alle ihre Ideale zu hohlen Schemen oder gradezu zu furchtbaren Mitteln einer allgemeinen Zersetzung werden müssen, wenn nicht die Selbstsucht im Menschen gebrochen wird und ihm gewaltige, freudige Kräfte des Guten zugeführt werden. J a wohl — sagt man — der Altruismus, und der stellt sich von selbst durch das wohl verstandene Interesse oder durch eine gewisse angeborene Gutmütigkeit oder durch den Geselligkeitstrieb ein, wenn nur die allgemeinen Existenzbedingungen besser werden. Das ist von allen Unwahrheiten die schlimmste und der ärgste Betrug. Noch warten wir auf den Entwurf einer Wirtschaftsordnung, bei dem nicht die Selbstsucht ihre Rechnung finden könnte oder die die Menschenliebe erzeugt wie ein Naturprodukt. Das predigt uns doch die französische Revolution und alles, was wir seitdem erlebt haben, daß die sich selbst überlassene Aufklärung kein dauerndes Gebilde schafft, und daß die schrankenlose Freiheit nicht baut, sondern zerstört. Erst als man den geschichtlichen Faden wieder aufnahm, an die Religion, das Recht, die Sitte wieder anknüpfte, konnte dem, was berechtigt und wertvoll an den Ideen der Aufklärung war, Gestalt und Dauer gegeben werden. Wie das in den ersten zwei Dritteln unseres Jahrhunderts geschah, war freilich nicht erhebend. Langsam unter unendlichen Erschwerungen mußte einer bösen Reaktion der Fortschritt abgerungen werden. Das Kirchentum stand
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dabei gewöhnlich auf der falschen Seite. Die Erinnerung daran ist in der Nation noch heute lebendig; sie spielt auch in die wirtschaftlichen Kämpfe der Gegenwart hinein. Es stünde heute vieles besser im Verkehr der Stände und mit den öffentlichen Zuständen, wenn dieser schwarze Schatten nicht auf der nächsten Vergangenheit läge. Selbst der große, herrliche Aufschwung, den die kirchliche Liebestätigkeit in unserem Jahrhundert extensiv und intensiv genommen hat, vermag ihn nicht zu bannen. Wie vor dem Bauernkriege ist nach den Freiheitskriegen ein großer Moment für unsere Nation verscherzt worden. Das hat eine ähnliche Stimmung erzeugt wie damals und auch der Kirche Tausende entfremdet. Unterdessen vollzog sich in einem Zweige der Aufklärung ein vollkommener Frontwechsel. Daß die schrankenlose Freiheit, solange die Menschen mit verschiedenen Kräften begabt oder ausgestattet sind, notwendig zur vollkommensten Unterdrückung des Schwächeren führen müsse — diese einfache Wahrheit war endlich erkannt worden. Gleichzeitig wurde unter dem Eindruck der Naturwissenschaft, die auch die einzige und wahre Menschenwissenschaft sei, von den Idealen R o u s s e a u s alles vollends abgestreift, was sich nicht auf die sinnliche Existenz bezieht. Der Kampf ums Dasein wurde das souveräne Schlagwort. Diese Entwicklung führte, indem wie am Anfang die Idee des absoluten Staates noch einmal Dienste tat, zu einem Umschlag: aus dem Individualismus heraus bildete sich die Forderung des Sozialismus als des einzig möglichen Mittels, die direkt auf dem Wege der schrankenlosen Freiheit d. h. des Anarchismus nicht zu erreichenden Ansprüche des Individuums zu befriedigen. Unsere heutige Sozialdemokratie ist — mindestens zu einem Teile — nichts anderes als eine ernüchterte und dropierte Form des Individualismus des 18. Jahrhunderts, die kein anderes höchstes Ideal kennt als die irdische Wohlfahrt
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des einzelnen und keine anderen Kräfte als den Selbsterhaltungstrieb und das allgemeine Stimmrecht. Das „Soziale" ist teils Maske, teils Hebel f ü r den schrankenlosen irdischen Glückseligkeitstrieb des einzelnen. Doch diese Schlußentwicklung, unter dem Zeichen der Maschine und des allgemeinen Weltverkehrs rapid verlaufend, ist uns allen bekannt. Was ist nun in der Gegenwart unsere Situation und Aufgabe? III. Man darf sagen, daß die soziale Aufgabe der Kirche in der Gegenwart neu ist und brennender als in der Vergangenheit: nicht weil Armut und Elend größer sind als früher — das ist mindestens nicht nachweisbar —; nicht weil die kirchliche Liebestätigkeit lässiger ist als früher — das Gregenteil ist der Fall —, auch nicht weil opferfreudige und geschulte Helfer minder zahlreich sind als früher — sie sind zahlreicher als je. Aber wie läßt sich dann noch behaupten, die Aufgabe der Gegenwart sei neu und brennender als in der Vergangenheit? Nun — neue brennende Aufgaben erscheinen in der Geschichte niemals auf den Tiefpunkten absteigender Entwicklungen. I n der Dumpfheit und dem Elend eines solchen Daseins muß vielmehr alle K r a f t angespannt werden, um wenigstens den Rest des alten Besitzes noch zu erhalten. Nur ein irgendwie fortschreitendes Zeitalter vermag die Verpflichtung eines höheren neuen Aufschwungs zu empfinden. So sind es auch in der Gegenwart die Fortschritte, die wir bereits gemacht haben, die uns neue Aufgaben aufdrängen. Ich will diese Fortschritte kurz bezeichnen und hoffe, dabei keinem Widerspruch zu begegnen: Erstlich, wir haben es nicht mehr mit bevormundeten, sondern mit gleichberechtigten — zum Teil freilich hilflosen — Ständen zu tun, und ein gewisses Maß von Bil-
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dung ist Gemeingut geworden. Dieser P u n k t bedarf keiner weiteren Ausführung. Es stellt sich in ihm der ungeheure Fortschritt des letzten Jahrhunderts dar. Hilfeleistung in Form patriarchalischer Fürsorge der oberen Stände f ü r die unteren ist nur noch in engen, abgelegenen Kreisen oder unter besonderen Bedingungen möglich. "Wie vor dem Gesetz die Stände auf dem Fuße der Gleichheit miteinander verkehren, so hat sich auch im Leben ein solcher Verkehr, sei es ein freundlicher, sei es ein feindlicher, immer mehr angebahnt. Die Gleichheit der politischen Rechte und die Verbreitung der Bildung leisten ihm fortwährend Vorschub. Um so einschneidender trennt die Verschiedenheit des Vermögens (Kapitalbesitzer und Arbeiter, die sich gleichsam unpersönlich gegenüberstehen), und um so unerträglicher wird der Zustand, daß ganze Klassen der Bevölkerung, die eine gute Schulbildung genossen und durch sie eine lebendige Empfindung f ü r die Segnungen der Kultur empfangen haben, wirtschaftlich so beengt sind, daß sie von jenen Segnungen nur weniges f ü r sich zu gewinnen vermögen und außerdem die kleinste Störung imstande ist, sie zu ruinieren. Zweitens, Pflicht und Gewissen in bezug auf die "Wohlfahrt aller Glieder der Gesellschaft sind geschärfter als früher — das ist ein unverkennbarer und gewaltiger Fortschritt, und wer ihn nicht innerlich mitmachen will, dem wird er aufgezwungen. Dazu kommt, daß wir Armut und Elend in einem anderen Sinne wie früher f ü r eine schwere sittliche Gefahr zu halten gelernt, zugleich aber erkannt haben, daß ohne vorbeugende Maßregeln nichts durchgreifend gebessert werden kann. Die Verpflichtung, die uns aus diesen Erkenntnissen erwächst, ist eine ganz neue. Kein vergangenes Zeitalter hat sie so empfunden. "Wie in der Heilkunde die Hygiene (die vorbeugenden Maßregeln) immer mehr in den Vordergrund tritt, so auch auf dem sozial-wirtschaftlichen Gebiete.
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Drittens, wir haben überall heute die große Macht der "Weltwirtschaft vor uns; sie zieht alles in sich hinein; sie macht sich in dem abgelegensten Weberdorf fühlbar; sie löst alle überkommenen Verhältnisse auf oder bildet sie um und bedroht die wirtschaftliche Existenz ganzer Berufsklassen mit Unsicherheit. Kein "Wunder, daß sie auch in die kirchlichen Organisationen hineingreift: die Freizügigkeit — um nur einen Punkt zu nennen —, die eine Folge des Weltverkehrs ist, droht auch die Gemeinden zu sprengen. Innerhalb und außerhalb der großen Städte haben wir eine nomadisierende Bevölkerung; wie schwierig es ist, unter einer solchen höhere Sittlichkeit und Religion aufrecht zu erhalten, lehrt jedes Blatt der Geschichte. Viertens, wir stehen nicht mehr bloß naiv-kommunistischen Ideen gegenüber, sondern wissenschaftlich entwickelten, auf der Grundlage materialistischer Weltanschauung beruhenden sozialistischen Systemen; diese suchen sich der Völker zu bemächtigen, und bereits lösen sich große Gruppen entschieden und prinzipiell nicht nur von den Kirchen, sondern auch von dem christlichen Glauben und der christlichen Sittlichkeit los: der theoretische und praktische Materialismus wird eine Macht im öffentlichen Leben. Auch diese Entwicklung ist keineswegs nur unter dem Gesichtspunkt des „Abfalls" und „Rückschritts" zu beurteilen. Wer von einem Abfall redet, muß nachweisen, daß vorher ein lebendiger Zusammenhang vorhanden gewesen ist. Aber weite Kreise, die heute als „abgefallene" gelten, haben nie einen solchen lebendigen Zusammenhang besessen. Der Gegensatz tritt heute nur drastischer und erschreckender hervor, während er früher verhüllt war. Allerdings ist eine Hülle unter Umständen eine fesselnde und sittigende Macht, und man kann deshalb ihren Untergang beklagen. Allein es ist doch ein Fortschritt, wenn Weltanschauung deutlich gegen Weltanschauung steht. Auch gibt es noch Schlimmeres als prinzipiellen Materialis-
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mus, nämlich die absolute Indifferenz oder den berechnenden Egoismus, der aus allen Weltanschauungen gleichzeitig f ü r sich Vorteile zu ziehen sucht und jede Überzeugung haßt, die das eigene "Wohlbehagen zu stören und Pflichten aufzuerlegen droht. Aus diesen Faktoren vornehmlich setzt sich unsere Lage zusammen, und sie hat man zunächst ins Auge zu fassen, wenn man die Frage nach der besonderen sozialen Aufgabe der Kirche in der Gegenwart beantworten will. Dem Mißverständnis aber brauche ich wohl nicht mehr zu begegnen, als hätte die Kirche die Aufgabe, diese Schwierigkeiten zu heben oder als besäße sie ein Univers almittel, welches alle Schäden heilt. Die römische Kirche t u t freilich manchmal so, als wäre sie im Besitz dieses Arcanums, und warte nur darauf, daß die Völker es einnehmen; allein sie meint es damit nicht ernsthaft. Als christliche Kirche kann sie auch schließlich nicht darüber hinweg kommen, daß der Friede, den das Evangelium verheißt, ein überweltlicher ist, und daß die Religion nicht die Aufgabe hat, wirtschaftliche Zustände zu verbessern. "Wenn wir daher von einer sozialen Aufgabe der Kirche, unserer evangelischen Kirche, sprechen, so kann das keinen anderen Sinn haben, als festzustellen, wie sich unter den heutigen Verhältnissen diese Aufgabe, die im G-runde dieselbe, in den Entscheidungsformen aber eine sehr verschiedene ist, zu gestalten hat. Und auch die Mittel, über welche die Kirche verfügt, sind im Grunde nicht wandelbar, wohl aber ist ihre Anwendung in den verschiedenen Zeiten eine verschiedene. Allem zuvor ist darauf hinzuweisen, daß die oberste Aufgabe der Kirche die Predigt des Evangeliums, d. h. die Botschaft von der Erlösung und vom ewigen Leben, bleibt. Es wäre um das Christentum als Religion geschehen, wenn dies verdunkelt würde und man etwa im Interesse der Popularität oder im Übereifer des Reformers das Evan-
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gelium in ein soziales Manifest umwandelte. J a man darf noch mehr sagen — niemand soll letztlich von der Verkündigung der Kirche etwas anderes f ü r sich erwarten als einen festen, tröstlichen Glauben, der die Not des Lebens überwindet. „"Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nehme doch Schaden an seiner Seele" — diese Überzeugung und die Botschaft von Jesus Christus dem Erlöser sind der Kern des Evangeliums, und aus ihm entwickelt sich die Weltanschauung, d. h. die Beurteilung von Seele und Leib, Leben und Tod, Glück und Unglück, Reichtum und Armut, welche die Wahrheit ist und deshalb befreit. Welch eine Macht aber in jeder gegeschlossenen Weltanschauung liegt, das zeigt uns in der Gegenwart die sozialistische Bewegung. I n beredten Worten ist uns auf einem der letzten Kongresse dargelegt worden, daß es eben die Weltanschauung ist, welche der Sozialdemokratie ihre Stärke gibt. Diese Tausende, die ihr anhängen, wollen nicht nur Brot; sie wissen es vielmehr, daß sie nicht von Brot allein leben: sie wollen eine Antwort auf alle Fragen der Welt und des Lebens, und sind bereit dafür — für ihren Glauben — Opfer zu bringen. Eben darum hat es die Kirche heutzutage leichter als in irgend einer der früheren Perioden. Nie hat es eine Zeit gegeben, in der so viele Menschen nach einer festen selbständigen Überzeugung streben, wie heute. Trotz aller Zersplitterung und scheinbaren Auflösung gibt es eine Kraft, die überall hindringt, zusammenbindet, feste geistige Gemeinschaft schafft, das ist der Gedanke und das Wort. Und das stärkere Wort wird siegen. F ü r eine Überzeugung, die wirklich Überzeugung ist, für einen Glauben, der wirklich geglaubt wird, ist unser Geschlecht noch eben bereit, das eigene Leben in die Schanze zu schlagen. So niedrig ist der Mensch nicht geartet, daß er Ruhe fände im Genuß und im Dienst seines eigenen Ichs. E r sucht nach einer Lebensüberzeugung. Aber der Glaube muß wirklich ge-
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glaubt werden. Hier liegt die Aufgabe der Kirche, die alte und die neue. Sie soll dem heutigen Geschlecht den lebendigen Gott und das ewige Leben verkündigen. Sie soll von dem Herrn und Erlöser zeugen, dessen Bild auch dem Entfremdetsten noch immer Ehrfurcht und Liebe abgewinnt. Sie soll mit allem Ernst predigen, daß die Sünde der Leute Verderben und die stärkste "Wurzel alles Elends ist, und sie soll das tun in rechter Freiheit, in verständlicher Form und mit verständlichen Ausdrucksmitteln. Tut sie das, so hat sie schon den Hauptteil ihrer „sozialen Aufgabe" erfüllt. Aber um das zu können, muß sie mit jeder wirklichen Erkenntnis, mit jeder Wahrheit im Bunde stehen, sonst diskreditiert sie ihre eigene Botschaft. Zwar genügt oft ein Strahl des Evangeliums, um ein Herz zu erhellen und zu befreien, und der niederste Diener Jesu Christi kann dem Nächsten ein rechter Heiland werden; aber im großen Kampf der Geister, wo Weltanschauung gegen Weltanschauung steht, kann sich nur durchsetzen, was ein Ganzes ist und sich in jeder Richtung als wahr und kräftig erweist. Ich habe gesagt, letztlich sollte niemand von der Verkündigung der Kirche etwas anderes für sich erwarten, als einen festen tröstlichen Glauben, der die Not des Lebens überwindet. Der Nachdruck liegt hier auf dem „für sich". F ü r andere ist es anders. Wir haben in dem geschichtlichen Bericht gesehen, daß die Ausgestaltung der Gemeinde zu einem tatkräftigen Bruderbunde und der Zusammenschluß solcher Gemeinden zu einem hilfreichen Verbände dem Christentum wesentlich ist, und daß die Verkümmerung der Gemeinden im Laufe der Geschichte einen schweren Schaden bedeutete. Die Liebestätigkeit war im Anfang ein überzeugendes Mittel der Propaganda, und Jesus Christus selbst hat das Evangelium gepredigt, indem er half. Ist die Sünde die starke Wurzel des Elends, so erzeugen Elend und Irrtum wieder Sünde und Schande.
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Darum gilt es, einen Kampf wider das Elend zu führen. Soll dieser Kampf aber recht geführt werden, so ist ein doppeltes nötig: erstlich die Wirksamkeit von Person zu Person, und zweitens eine wirkliche Gemeinbildung. Uber das erstere brauche ich nicht viel zu reden. Wir alle wissen es, daß letztlich nur die Liebe in Betracht kommt, die der Person nachgeht. Alle Anstalten und hilfreichen Veranstaltungen sind nur Formen; wirklichen Wert hat allein was vom Herzen kommt und zum Herzen spricht, und nur dies fällt auf der Wage der Ewigkeit ins Gewicht. Nicht über den Nächsten, dem man helfen will, soll man sich aber dabei stellen, auch nicht unter ihn, sondern neben ihn. Brüder sollen wir sein, nicht Patrone. Hier hat die christliche Liebe ihr Feld und ihre eigenste Aufgabe. Und je unpersönlicher sich durch die Entwicklung unserer Wirtschaftsordnung das Verhältnis der Klassen gestaltet, um so notwendiger ist diese Arbeit. Aber ohne den Zusammenschluß zu festen Gemeinden bleibt alles vereinzelt. Darum müssen wir den Freunden dankbar sein, die in unseren Tagen wieder daran erinnert haben, daß unsere Kirche von der Reformation her noch die Verpflichtung einzulösen hat, wirkliche Gremeinden zu bilden und ein kräftiges Gemeindeleben zu erwecken. Man wirft uns ein: „damit kommt ihr zu spät; eine solche Organisation ist heute nicht mehr möglich; weder läßt sie unsere bureaukratische Kirchenverfassung zu, noch kann man aus dem Massen- und Staatschristentum lebendige Gemeinden bilden." Gewiß schwer genug ist es, aber verzweifelt steht es um die Lösung der Aufgabe doch noch nicht. Müßten wir sie wirklich preisgeben, so wüßte ich nicht, wie uns geholfen werden könnte; denn das, was die Gemeinde zu leisten hat, kann doch niemals durch allgemeine soziale Institutionen und Zwangsmaßregeln ersetzt werden. Daß wir, wenn auch in kümmerlichen Formen, noch eben Gemeinden besitzen, ist ein hohes Gut, und es
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wäre verhängnisvoll, wollten wir es f ü r unwert erachten, Tim anderen organisatorischen Zielen nachzulaufen. Diese Gemeinden sind noch eben, wie jedermann weiß und empfindet, ihrer Grundform nach Genossenschaften, in denen die Unterschiede von vornehm und gering, reich und arm ausgeglichen sein sollen und in welche die Klassengegensätze nicht hineinreichen dürfen, d. h. es sind Gebilde, wie wir sie in der gegenwärtigen Zeit besonders nötig haben. Darum sollen wir sie mit allen Kräften ausbilden, beleben und dabei ruhig abwarten, ob die politische Form unseres Kirchentums durch sie allmählich umgebildet oder gesprengt werden wird. Neben der Predigt des Evangeliums ist der Ausbau der Gemeinde die oberste evangelisch-soziale Aufgabe. Dem Kleinmut aber, der an der Lösung dieser Aufgabe verzweifelt, weil die gegenwärtigen "Weltverhältnisse eine solche Organisation überhaupt nicht mehr zulassen, halten wir das Beispiel der Sozialdemokratie entgegen. Sie bringt es fertig, inmitten nomadisierender Scharen unter Hemmnissen aller Art eine straffe Organisation, städtisch, provinziell, national und international, zu schaffen und zu erhalten — sollten wir es nicht können? Man wendet ein, dort handele es sich wesentlich um einen Stand und um ein durchschlagendes Interesse, das alle verbinde. Aber haben nicht auch wir ein durchschlagendes Interesse und eine Botschaft, die die verschiedenen Stände zur geistigen Einheit führt? Nicht an den Verhältnissen liegt es, wenn unsere Gemeinden das nicht werden und sind, was sie sein sollten, sondern an dem Mangel an Glaube und Liebe. Das ist freilich gewiß, daß wir zu Gemeinden, die nichts anderes sind als gottesdienstliche Gemeinden, die Menschen nicht mehr zusammenführen werden, und daß solche Gemeinden unkräftig bleiben müssen. Aber hier gibt uns die älteste Kirche ein Vorbild, wie eine rechte Gemeinde beschaffen sein muß, und der Gang, den die Entwicklung der kirchlichen Liebestätigkeit in unserm Jahr-
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hundert genommen hat, weist uns eben dorthin. Es ist doch kein Traum, daß es einmal in der Christenheit Gemeinden gegeben hat, übersehbar, wohl geordnet und fest, in denen neben dem Gottesdienste die Liebestätigkeit den Mittelpunkt gebildet hat, ja in denen Gottesdienst und Liebestätigkeit zu einer Einheit verschmolzen waren. Dürfen wir sagen, daß das für uns unerreichbar ist? Gewiß nicht. Es muß vielmehr das fest ins Auge zu fassende Ziel sein, dem wir zustreben. Eben darum sollen alle die großen Arbeiten christlicher Liebestätigkeit nicht nur gepflegt und erweitert, sondern immer fester der Gemeinde eingegliedert werden. Wo eine einzelne Gemeinde zu klein ist, um die Aufgaben zu lösen, da sollen sich mehrere zusammentun, aufwärts steigend bis zu einem provinzialen Verbände. Die Kirche soll auch Gemeindehaus sein oder besser — neben der Kirche soll ein Gemeindehaus bestehen, tind nicht nur um eine Predigt anzuhören, soll man zusammenkommen, sondern auch um Hilfeleistungen aller Art zu beraten. Das rechte christliche Ehrgefühl soll erweckt werden, daß niemand ein Christ ist, der nicht bereit ist, persönlich als Pfleger und Helfer einzutreten, und außerdem sollen in jeder Gemeinde berufsmäßige, ausgebildete Diakonen und Diakonissen arbeiten. Kein Hilfloser soll sagen dürfen, daß sich niemand um ihn kümmere. Unsere Zeit ergötzt sich an Utopien und spielt mit diesem nicht ungefährlichen Spielzeug — das eben Gesagte ist keine Utopie, sondern kann eine Wirklichkeit werden. Davon daß es eine Wirklichkeit wird, daß Opferscheu, Geiz und Trägheit gebrochen werden, hängt zwar nicht die Existenz unseres Kirchentums ab — es kann sich vielleicht noch sehr lange erhalten; denn es hat viele Stützen—, wohl aber die Existenz eines wahrhaft evangelischen Christentums und das Recht unserer Kirche, um das Herz unseres Volkes zu werben. Aber Recht haben die Gegner, wenn sie sagen, daß die Bildung solcher Gemeinden eine lange Arbeit erheischt,
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und daß unsere heutigen Zustände des öffentlichen Lebens noch ein anderes Eingreifen erfordern. K a n n und soll die Kirche — ich meine hier die organisierte Kirche — noch etwas anderes tun als das Evangelium verkündigen und die Gemeinden ausbauen? "Wir stehen hier vor einer wichtigen Frage. Die einen beantworten sie mit einem entschiedenen „Nein"; sie sind in der Mehrzahl, und sie begründen dieses „Nein" sehr verschieden. Die anderen bejahen die Frage, aber in der Regel nicht unumwunden, oder sie entziehen sich ihr durch die Antwort, die Kirche möge tun oder lassen, was sie wolle, aber die Christen seien verpflichtet, mit dem Evangelium in die öffentlichen Zustände einzugreifen. "Was der einzelne zu tun hat, mag hier noch auf sich beruhen — aber unzweifelhaft scheint m i r : da unsere Kirche noch immer eine große einflußreiche Stellung im Staate und im Volksleben besitzt, so ist sie verpflichtet sie im evangelisch-sozialen Sinne zu gebrauchen und demgemäß solche Wege aufzusuchen, auf denen sie sich zu Gehör zu bringen vermag. Sie wird sonst immer mehr dem Verdachte, daß sie ein gefügiges Werkzeug des „Klassenstaats" sei, erliegen, und sie wird daran schuld sein, daß die sozialen Ordnungen des öffentlichen Lebens in eine immer größere Spannung mit den christlichen Gesinnungen geraten. Selbst die alte Kirche hat in einer Zeit, da sie noch numerisch schwach war, ihre Stimme gegenüber den Mißständen im Reiche erhoben. Die nachkonstantinische Reichskirche hat, wie wir gesehen haben, die Verpflichtung gefühlt, ihren Einfluß zur Abschaffung sittlicher Notstände geltend zu machen. Auch im Mittelalter sind die Päpste der Gewalt und Tyrannei sowie der öffentlichen Unsittlichkeit entgegengetreten und verzichten noch heute nicht darauf, ihr Urteil in großen sittlich-sozialen Fragen abzugeben. Allerdings besteht nun gerade in diesem Punkte ein tiefer Unterschied zwischen dem Katholizismus und
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Protestantismus. Jenem ist die „Kirche" nur das hierarchische Karcheninstitut, welches deshalb alles tun muß; dieser sieht den christlichen Geist nicht nur in die verfaßte Kirche gebannt, sondern vertraut darauf, daß er auch in den irdischen Berufen und Ordnungen der Christenheit zu finden ist. Eben deshalb vertraut er auch, daß Regierung und Obrigkeit, wenn sie recht ihres Amtes walten, sich mit den christlich-sittlichen Gesinnungen in Einklang befinden werden, und überläßt ihnen daher gerne die Ordnung der irdischen Dinge. Allein das schließt nicht aus, daß auch die Kirche gegenüber sittlich-sozialen Notständen ihre Stimme erhebt und auf die öffentliche Meinung und die Leitung des Staatslebens einwirkt. J a es wird das ihre Pflicht, wenn jene lässig oder stumpf sind. Unsere Kirchen sind jetzt mündiger, als sie es noch vor dreißig Jahren waren. Wozu haben sie ihren Mund, ihre GemeindeVertretungen, ihre Kreis-, Provincial- und Generalsynoden und wiederum ihren Oberkirchenrat und Konsistorien, als um in sittlich-sozialen Tragen auch öffentlich zu bezeugen in der Gemeinde, in der Stadt, in der Provinz, im ganzen Lande: „das soll sein und das soll nicht sein"? Sollen sie nur über Kirchensteuern, Kirchenformeln und Quisquilien verhandeln? Eine Zeit lang erträgt man das, aber auf die Dauer ist es unerträglich und würde bald Mitleid und Schlimmeres wider die ganze kirchliche Organisation erregen; denn dieser ungeheure Apparat hat nur ein Existenzrecht, wenn er dem Ganzen wirklich etwas leistet — nicht durch Deklamationen, sondern durch evangelisch-soziales "Wirken, eine jede Ordnung auf ihrer Stufe. Aber je bestimmter dies zu fordern ist, um so bestimmter ist auch das Gebiet abzugrenzen, auf das sich diese "Wirksamkeit der Kirche zu beschränken hat. "Wirtschaftliche Fragen gehören nicht in diesen Kreis. Mit all den sozial - wirtschaftlichen Bestrebungen wie Verstaatlichungen, Bodenbesitzreform, Arbeitstag, Preisregulierungen,
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Steuer- und Versicherungswesen u. dergl. hat sie gar nichts zu t u n ; denn die Entscheidung in diesen Fragen fordert eine Sachkenntnis, die außerhalb ihrer Grenzen liegt, und sie würde dazu in die schlimmste Verweltlichung geraten, wenn sie auf diese Fragen einginge. Aber wo sie in den öffentlichen Zuständen schwere sittliche Schäden als geduldete bemerkt, da soll sie eintreten. Ist es recht, daß die Kirche achselzuckend und schweigend an der Prostitution vorübergeht, wie der Priester an dem, der unter die Mörder gefallen war? Genügt es, daß man ihre Bekämpfung christlichen Vereinen überläßt und für Magdalenen-Asyle sammelt? Hat die Kirche nicht die Pflicht, dem Unwesen des Duells entgegenzutreten? ferner, darf sie schweigen, wenn sie Zustände sieht, welche die Ehe und Familie auflösen und die elementarsten Bedingungen f ü r ein sittliches Leben vermissen lassen? darf sie ruhig zusehen, wenn es dem Schwachen und Gefährdeten unmöglich gemacht wird, sich zu behaupten? darf sie es ohne zu rügen anhören, wenn im Namen des Christentums der Friede im Lande gestört und Haß und Verachtung ausgesät wird? Ist sie wirklich nur ein bureaukratisch.es Gehäuse oder hat sie nicht auch als verfaßte Kirche die Pflicht, den Frieden im eigenen Lande und unter den Völkern zu erhalten, die verschiedenen Klassen sich näher zu bringen und verderbliche Standesvorurteile brechen zu helfen? Man wendet wohl ein, es genüge, wenn die Kirche das Wort Gottes verkündige und die Sakramente verwalte. Allein denselben Einwand hat man auch gemacht, als man forderte, die Kirche solle äußere und innere Mission treiben. Auch damals verschloß sich die Kirche zunächst dieser Forderung und behauptete, das sei nicht ihres Amtes; aber sie hat dann einzusehen gelernt, daß sie ihren Beruf vernachlässigt, wenn sie jene Aufgaben dahingestellt sein läßt. Erheblicher erscheint der Einwand, daß die Organe der Kirche in Fragen wie die oben angedeuteten nicht die Macht
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haben, ihrem "Wort Nachdruck zu geben, und daß bei der eigentümlichen Zusammensetzung kirchlicher Körperschaften Vorschläge zu befürchten seien, die ohne Rücksicht auf die Durchführbarkeit gemacht werden, also ins Leere verlaufen würden, ferner daß Übergriffe und Einmischungen in fremde Angelegenheiten zu erwarten seien. Diese Befürchtungen sind gewiß nicht grundlos; allein voraussichtliche Mißgriffe können nicht wider eine an sich notwendige und gute Sache ins Feld geführt werden. Die kirchlichen Körperschaften werden das Maß ihrer Kräfte und das Gebiet ihrer Arbeit in der Arbeit selbst kennen lernen, und daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dafür ist durch das eigentümliche und wohlberechtigte Verhältnis, in welchem die deutschen evangelischen Kirchen Äum Staate stehen, gesorgt. Die soziale Aufgabe der Kirche habe ich bisher anzugeben versucht. Uber diese Aufgabe hinaus liegt eine Reihe von großen Aufgaben, deren Lösung nicht Sache der Kirche ist, die aber den Christen nicht gleichgültig sein können. Rein wirtschaftliche Fragen sollen allerdings nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt und entschieden werden; aber viele von ihnen greifen tief ein in die sittlichen Zustände des Volkes. Darum soll es die Kirche nicht hemmen, daß diese Fragen — wie wir es hier auf unseren Kongressen tun — auch in ihrer Mitte aufgenommen werden; denn es liegt in ihrem Interesse, daß sich Christen mit warmem Herzen und hellem Blick finden, welche zukunftsreiche Bestrebungen dieser Art von phantastischen zu unterscheiden lernen, ihren Zusammenhang mit den sittlichen Fragen, soweit er vorhanden ist, nachweisen und mit Opferfreudigkeit für gesunde soziale Fortschritte eintreten. Allerdings bezeugt die ganze Kirchengeschichte, daß warmherzige Christen, wenn sie wirtschaftliche Fragen aufgreifen, zu radikalen Vorschlägen
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geneigt sind. Sie stellen ihre nationalökonomischen Forderungen unter die Fahne des Evangeliums und versuchen diesem ein sozialistisches Programm abzugewinnen. Daß diese G-efahr auch unter uns heute vorhanden ist, kann nicht geleugnet werden. Auch der Protestantismus ist nicht dagegen geschützt, daß nicht eines Tages in ihm ein neuer Arnold von Brescia auftritt, daß eine Pataria sich bildet, daß nationalökonomische Kleriker versuchen, den anderen im Namen des Evangeliums als Gesetz vorzuschreiben, welche Stellung sie in wirtschaftlichen Fragen einzunehmen haben, um ferner noch Christen zu sein. Das Liebäugeln mit der Sozialdemokratie, das schon jetzt hin und her wahrzunehmen ist, ist wahrlich nicht ungefährlich. Solange ihre Führer und ihre Zeitungen ein Leben ohne Religion, ohne Pflichten, ohne Opfer, ohne Resignation lehren — was haben wir mit solch einer Lebensauffassung gemein? Mehr als bedenklich ist es auch, wenn man die „Reichen" und ganze Stände von vornherein preisgibt und davon träumt, man werde von unten herauf allmählich ein ganz neues christliches Gemeinwesen schaffen. Das alles wetterleuchtet ja heute nur erst oder wird in Bruchstücken produziert. Noch ist wohl niemand unter uns, der nicht daran festhält, daß im Namen des Evangeliums nur solche Ansprüche an den einzelnen gestellt werden dürfen, die sich an sein Gewissen, seine Freiheit und seine Liebe richten; noch weiß man, daß es sich im Evangelium um die Beseitigung einer anderen Not handelt als der irdischen; aber die Dinge haben ihre eigene Logik, und wer Wind sät, wird Sturm ernten. Aber diese "Warnung erhebe ich nicht, um abzumahnen, daß sich der evangelische Christ als Christ, ferner der Pfarrer und Theologe überhaupt mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen beschäftige und sich ein eigenes Urteil in ihnen bilde — ganz im Gegenteil. Das Christentum soll sich mit jeder erprobten Lebens- und Welterfahrung
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verbinden, und es soll gegenüber allen großen Fragen aufgeschlossen sein. Jahrhundertelang hat es in der engsten Verbindung mit der Philosophie, speziell der Metaphysik gestanden, in der sich alles geistige Leben zusammenfaßte. Niemand war ein gebildeter Christ, der nicht auch ein Philosoph war. Heute stehen im geistigen Leben die Geschichte und die sozialen Fragen im Vordergrund, und wer an diesem Leben überhaupt Anteil nehmen will, der kann sich ihnen gar nicht entziehen. Vor allem aber — die Not und das Elend der Mitbrüder in unserem Volke brennt auf unserer Seele und treibt dazu, zu untersuchen, zu forschen und zu lernen, wie der soziale Körper zusammengesetzt ist, welche Leiden unvermeidlich sind und welche durch Opfersinn und Tatkraft geheilt werden können. Gegenüber der Größe und dem Ernst dieser Aufgabe treten heute alle anderen Aufgaben, die wir auf dieser Erde und für diese Erde zu leisten haben, zurück — wie könnten wir als Christen an ihr vorübergehen, und wenn Selbstsucht, Trägheit und Indolenz immerfort unsere Lage erschweren und bedenklicher gestalten, wie dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir von der anderen Seite mit radikalen Vorschlägen überrascht werden? Gestatten Sie mir noch ein Schlußwort. Die Zeichen der Zeit scheinen darauf hinzuweisen, daß sich unsere öffentlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse immer mehr in der staatssozialistischen Richtung entwickeln werden. Viele begrüßen das mit ungeteilter Freude, ich vermag mich ihnen nicht rückhaltlos anzuschließen. Gewiß ist es eine Freude, wenn Quellen der Armut und Not verstopft werden, wenn dem Elend vorgebeugt wird. Aber man soll nicht vergessen — jede Neuordnung dieser Art wirkt auch als ein Zwang, der die freie Entwicklung niederhält, eine jede nötigt uns daher, auf Mittel und Wege zu sinnen,
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um die Bedingungen für die Erziehung freier selbständiger Persönlichkeiten aufrecht zu erhalten. "Wenn wir bei einer gesetzmäßigen Sklaverei endigen würden, wenn wir, von Jugend auf eingeschnürt in Zwangsmaßregeln, alle eigentümliche Bildung verlören — welch ein Ende wäre dies! Drei große Aufgaben sind uns anvertraut, für uns selbst und für die kommenden Geschlechter: den evangelischen G-lauben zu bewahren, der Not unserer Mitbrüder nach Kräften zu steuern und unsere Bildung und Kultur zu beschützen. Letzteres wird in den heißen wirtschaftlichen Kämpfen und in den Vorschlägen zu ihrer Milderung nur zu leicht vergessen, und doch würde der sittliche und wirtschaftliche Ruin dem Verfall der Kultur auf dem Fuße folgen. Die Pflege der Bildung aber steht unter eigentümlichen, festen Bedingungen, die nicht willkürlich geändert werden können, und sie begrenzen zum Teil die sozialwirtschaftliche Arbeit. Die Bildung läßt sich nicht schematisieren, so wenig, wie die Wahrheit, aus der sie stammt, sich nivellieren läßt. Die evangelische Kirche aber würde von sich selbst abfallen, wenn sie ihren Bund mit der Wahrheit und der Bildung aufgebe und wenn sie das Ziel preisgebe, freie, selbständige Christen zu erziehen. Hier liegt auch eine evangelischsoziale Aufgabe vor, und wir haben allen Grund, um sie besorgt zu sein, da wir starken bildungsfeindlichen Mächten gegenüberstehen. Evangelischer Glaube, ein warmes Herz für die Not des Nächsten und ein aufgeschlossener Sinn für die Wahrheit und die geistigen Güter — das sind die Mächte, die unsere Kirche und unser Volk bauen und erhalten. Bleiben wir ihnen treu, dann wird sich immer mehr verwirklichen, was das mutige Glaubenslied als Verheißung ausspricht: „Nun ist groß Fried ohn Unterlaß; all Fehd hat nun ein Ende.«
Carnegies Schrift über die Pflicht der Eeichen. Herr Andrew Carnegie, der vom einfachen Arbeiter zum Besitzer vieler Millionen Dollars aufgestiegen ist, hat, wie bekannt, damit begonnen, einen großen Teil seines Vermögens zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden. Das ist ein schönes, jedoch nicht beispielloses Tun. Auch bei uns in Deutschland haben in neuerer Zeit reiche Privatleute noch bei Lebzeiten bedeutende Stiftungen gemacht. Erinnert sei namentlich an die Stadt Frankfurt, in der neuerdings verschiedene Stiftungen, denen u. a. die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften und die Akademie für praktische Medizin ihre Entstehung verdanken, begründet sind; an die bekannten beträchtlichen Stiftungen in Köln und Leipzig; ferner an jene bedeutenden Summen,
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3. Carnegies Schriften über die Pflicht der Reichen. (1903)
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die Frau Wentzel-Heckmann für wissenschaftliche Arbeiten und Untersuchungen zur Verfügung gestellt hat; an die rasche Beschaffung der Mittel für das Kaiser FriedrichKrankenhaus in Berlin; an die reichen, freigebigen Zuwendungen für das Langenbeck-Haus, das Hofmann-Haus, für die Bekämpfung der Tuberkulose usw. Aber Herr Carnegie hat doch noch Größeres getan, ja etwas Einzigartiges: er hat erklärt, er wolle in dieser "Weise sein erworbenes Vermögen ü b e r h a u p t , und zwar noch bei Lebzeiten, verwenden, und er hat ein Büchlein geschrieben, in welchem er solche V e r w e n d u n g als P f l i c h t der Reichen zu erweisen sucht. Wer diese Ausführungen liest und dabei erwägt, daß der Verfasser dem Wort die Tat hat folgen lassen, dem leuchtet hier ein helles, strahlendes Licht auf. Er erkennt, daß ein Fackelträger zukünftiger G-estaltung der menschlichen Solidarität und Gesittung vor ihm steht. "Was die Darlegungen des Herrn Carnegie auszeichnet^ ist, daß er nichts von einer, sei es plötzlichen, sei es allmählichen, Umwandlung der Erwerbsverhältnisse erwartet, aber alles von der Hebung des sozialen Bewußtseins und von der fortschreitenden Erkenntnis sittlicher Pflichten. Herr Carnegie ist der wohlerwogenen Meinung, daß bei der bestehenden Gesellschaftsordnung und unter dem in ihr geltenden Gesetze des Wettbewerbes nur eine kleine Minderheit, diese aber durch ihre eigene Tüchtigkeit, zu Reichtum gelangt, zugleich aber durch die gesteigerte Produktivität ihrer großen Unternehmungen die Güterversorgung der Gesamtheit vermehrt und verbessert. Wenn sich daraus auch Härten für das Individuum ergeben, so sieht er in diesem System doch einen Gewinn für die Menschheit im ganzen, weil es das Überleben des Tüchtigsten in jedem Arbeitszweige verbürge. Carnegie ist also durchaus ein Vertreter der privatwirtschaftlichen Grundsätze in bezug auf den Erwerb — er ist es, nicht nur, weil er keine Möglich-
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keit sieht, es anders zu machen, sondern auch, -weil er diese Erwerbsform für zweckmäßiger hält als andere. Die sozialistische Theorie hat also an ihm keinen Vertreter. Aber während nach fast allen anderen Theorien das einmal erworbene Vermögen dem Besitzer zu unbeschränkter Verfügung steht und höchstens an eine Erbschaftssteuer gedacht wird, ist Herr Carnegie anderer Meinung. Die großen sozialen Pflichten beginnen, so verkündigt er, nicht bei dem Erwerb des Reichtums — die Weise des Erwerbs ist an feste Bedingungen gebunden —, sondern beim Besitz, d. h. bei der Verwendung. Große Erbschaften, das ist seine Meinung, sind viel häufiger ein Nachteil als ein Vorteil Wenn für Frau und Töchter ausreichend gesorgt ist, so sollen den Söhnen, wenn überhaupt, so nur ganz mäßige Summen vermacht werden. Der gesammelte Reichtum wird also frei. Uber ihn aber ist, das ist seine weitere Folgerung, nicht erst testamentarisch zu verfügen: der wirkliche Zweck des Erblassers werde häufig nicht erreicht; oft hätten die Stiftungsgelder eine Verwendung gefunden, durch die sie zu einem Denkmal der Beschränktheit der Stifter geworden wären. Auch sei das Gemeinwesen einem Schenkgeber nicht zu Dank verpflichtet, der ihm nur das überlassen hätte, was er doch nicht hätte mitnehmen können. Vor allem aber, der Besitzer soll die volle Verantwortung für die Verwendung seines Reichtums tragen und die Freude genießen, seine Mitmenschen fördern zu können. „Unwürdig ist es, dies anderen zu überlassen. Durch testamentarische S t i f tungen entzieht man sich der Opfer- und P f l i c h t willigkeit. Daraus folgt, daß der Reiche bei seinen Lebzeiten seinen Reichtum f ü r andere zu verwenden hat. Als eine sittliche P f l i c h t soll er das erkennen und danach handeln. Die letzte Frage aber, wie diese Verwendung geschehen soll, ist dahin zu beantworten, daß Wohltätigkeit Einzelnen gegenüber zurückzutreten hat
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3. Carnegies Schriften über die Pflicht der Reichen. (1903)
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gegenüber der Förderung des Ganzen: Gründung, bzw. großartige Unterstützung gemeinnütziger Anstalten, die dem ganzen Volke zugute kommen, ist die zweckmäßigste Verwendung. Also der Reiche soll die in Wissenschaft und Kunst vertretenen allgemeinen Kulturinteressen fördern; er soll namentlich der Masse der Bevölkerung durch frei zugängliche Anstalten und Einrichtungen Anteil an den Gütern der Kultur geben; er soll zugleich jedem nach seiner Begabung die Möglichkeit weiterer Fortbildung verschaffen." In erster Linie faßt Carnegie freie Volksbibliotheken ins Auge als das beste Geschenk, daß man einem Gemeinwesen machen kann; aber auch an die Universitäten, sei es an die Gründung neuer, sei es an die Unterstützung vorhandener, denkt er, ferner an Spitäler, ärztliche Unterrichtsanstalten, medizinische Laboratorien, Anstalten zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen, Museen, Volksbadeanstalten, aber auch an Park- und Gartenanlagen. Kirchenbau erwähnt er absichtlich nur an letzter Stelle, weil dieser — wenigstens nach amerikanischen Verhältnissen — nicht dem Bedürfnis eines ganzen Gemeinwesens, sondern nur dem einzelner Teile entspreche. Das Entscheidende aber ist die Energie, mit der Carnegie seine Meinung als Forderung ausdrückt. In dieser Hinsicht scheut er sich nicht, auf das Wort Jesu zurückzugreifen: „Leichter wird ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen als ein Reicher ins Himmelreich." „Heutzutage", schreibt er, „ist der beunruhigende Ausspruch in den Hintergrund gedrängt; man kann ihn aber nicht wohl im „liberalen" Sinn auffassen. Ist es so sehr unwahrscheinlich, daß die künftige Anschauungsweise jenen Ausspruch in all seiner früheren Klarheit und Kraft wiederherstellen wird, da er in vollkommenem Einklänge steht mit den gesunden Ansichten in bezug auf Reichtum und Armut? Christus fordert den Millionär auf, alles zu verkaufen, was er besitzt, und in der höchsten und besten Form den Armen zu geben, indem
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er selber sein G-ut zum Besten seiner Mitmenschen verwaltet, bevor er abberufen wird, ,sich niederzulegen und auszuruhen am Busen der Mutter Erde'." Eines Propheten Stimme vernimmt man hier, eine jener seltenen Stimmen, die eine neue Stufe der inneren Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auf dem alten Grunde ankündigen! Nicht Sturm und Umsturz predigt sie, nicht die gewaltsame „Expropriation der Expropriateure", sondern eine Vertiefung des sozialen Pflichtbewußtseins in der F o r m der Freiheit. Von dieser Vertiefung allein erwartet sie die Besserung, aber sie sieht sie auch kommen. Diese Schrift Carnegies ist ebenso eine Tat wie die gemeinnützige Verwendung seines Vermögens, oder vielmehr beides zusammen ist seine Tat. Sollen wir ihren Eindruck schwächen, indem wir darauf hinweisen, was der Durchführung dieser „Pflichten des Reichtums", wie im allgemeinen, so speziell in unserem Vaterland, entgegensteht, wie vieles in den Gesinnungen der Menschen noch fehlt, welches Recht unter bestimmten Umständen und in bestimmten Grenzen auch die Vermögensvererbung hat, welche gesetzlichen Bestimmungen zurzeit die unbeschränkte Vermögensverschenkung verbieten? Nicht nur wäre es kleinlich, dies zu tun; es enthielte auch eine Belehrung, die der Verfasser nicht braucht. Er weiß, daß das, was er ausgesprochen hat, den Weg zeigt, den die menschliche Gesellschaft gehen wird, weil sie ihn gehen muß. "Wann sie das Ziel erreichen wird, das kümmert ihn nicht. Er hat getan, was er konnte: er hat den "Weg gewiesen und ist ihn selbst gegangen.
DAS URCHRISTENTUM UND DIE SOZIALEN FRAGEN ANHANG: THESEN ÜBER DEN WERT DER ARBEIT NACH URCHRISTLICHER ANSCHAUUNG
Die Abhandlung ist in den „Preußischen Jahrbüchern", Band 131 Heft 3, 1908 erschienen, die Thesen in der Zeitschrift „EvangelischSozial", März 1905.
Troeltsch hat mit seinem Aufsatz1) eine Reihe zusammenfassender Untersuchungen eröffnet, die nach dieser Probe das Beste versprechen. Der Fortschritt geschichtlicher Erkenntnis wird durch die Reduktion versuchter Ideen auf eine einfache und deutliche Einsicht, durch Sammlung verstreuter, bisher unsicher erfaßter Wahrheiten in einen Brennpunkt und durch kräftige Widerlegung schleichender, zäher Irrtümer und Halbwahrheiten ebenso befördert wie durch eine neue siegreiche geschichtliche Kombination. Eine solche findet man in der vorstehenden Untersuchung nicht, aber durch Reduktion, Sammlung und Widerlegung wirkt sie wie eine originale Konzeption, und ich zweifle nicht, daß sie für die theologische und nationalökonomische Forschung von großer Bedeutung werden wird. Im folgenden versuche ich es, die Hauptpunkte und Hauptvorzüge der Abhandlung zur Darstellung zu bringen. Zugleich werde ich die verhältnismäßig untergeordneten, aber doch nicht gleichgültigen Ausführungen berichtigen, die mir einer Korrektur zu bedürfen scheinen. Mit besonderer Freude darf ich dabei konstatieren, daß die Darlegungen des Verfassers in allen Hauptsachen mit den Erkenntnissen zusammenstimmen, die ich in meinen Vorlesungen über „das Wesen des Christentums" ausgesprochen habe. Diese Übereinstimmung ist um so wichtiger, als Troeltsch diese Vorlesungen nicht berücksichtigt hat, sondern neben meiner „Missions') Troeltsch, Emst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen I. (Aus dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik", Bd. 26, Heft 1 [1908], S. 1—55.)
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und Ausbreitungsgeschichte des Christentums" nur die im Jahre 1894 erschienene Abhandlung „die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der G-eschichte der Kirche" (Reden und Aufsätze, II. Bd., S. 23—76). I. In methodischer Hinsicht ist zunächst die scharfe Unterscheidung zu begrüßen, die der Verfasser zwischen der inneren soziologischen Auswirkung des Christentums als religiösen Phänomens und seinen sozialen "Wirkungen nach außen macht. Beides wird bisher fast konstant durcheinandergeworfen, und dadurch ist eine große Unklarheit entstanden; denn die innere soziologische Auswirkung des Christentums ist fast vollständig von seiner Eigenart abhängig, die sozialen Wirkungen aber auch von den Zuständen, auf die es eingewirkt hat, und von den Reflexen, die es selbst betroffen haben. Indem Troeltsch diese und jene sauber scheidet, gewinnt er die prinzipielle Klarheit, die ζ. B. das bekannte "Werk von N a t h u s i u s : „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage" gänzlich vermissen läßt. Hier wird das Christentum im Handumdrehen ein Prinzip des sozialen Lebens überhaupt, weil es bestimmte Beziehungen zwischen den Gläubigen und eine bestimmte Art sozialer Betätigung von ihnen fordert und erscheint nun von Anfang an als energischer sozialer Faktor in allen denkbaren gesellschaftlichen Verhältnissen. Nun aber läßt sich Nathusius aus seiner Dogmatik noch daran erinnern, daß das, was das Christentum enthält, absolute und normative Bedeutung haben müsse. Damit ist dann sofort die Gegenüberstellung des Christlich - Sozialen und alles übrigen Sozialen gegeben und so ein Abgrund geschaffen, in welchem alle wirkliche Geschichte zu verschwinden droht. Auf der Gegenseite entwickelte sich freilich auch nichts Besseres; denn indem hier das Christentum als religiöser Faktor entmannt und in bequemster Verallgemeine-
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rung sofort und ausschließlich, als ökonomisches Phänomen betrachtet wird, wird es als eine der in jener Zeit mit Notwendigkeit entstandenen kommunistischen Klassenbewegungen angeblich enthüllt, damit aber seiner Eigenart in kläglichster "Weise beraubt. "Wer mit gründlichen Kenntnissen der Geschichte des alten Christentums an das Bild tritt, welches die sozialistischen Dogmatiker von ihm zeichnen, erkennt es überhaupt nicht mehr wieder. Ein Wechselbalg ist an seine Stelle getreten, aber nicht einmal ein interessanter, vielmehr jener bekannte blutlose Schatten, der trotz seines großen Magens in keiner Periode Leben besessen hat, weil ihm Kopf und Herz fehlen, von dem uns aber eingeredet wird, er sei das einzig Lebendige in der Geschichte! Die Dogmatiker von beiden Seiten unterscheiden eben nicht die Sache in ihrer Eigenart und an sich von den Verknüpfungen, in die sie, sei es auch sofort, eingetreten ist. Sie stellen sich gar nicht die Frage, ob das Christentum an sich, so starke soziologische Momente es von Haus aus umfaßt hat, sich nicht ganz inkommensurabel und disparat zu allem Sozialen, das es vorfand, verhielt, so daß jede Verknüpfung, in die es eintrat, notwendig bereits eine Modifikation bringen mußte. Die rationalistisch-kindliche Vorstellung, daß nur das Kommensurable wirksam werden könne, bezeichnet den Tiefpunkt geschichtlicher Betrachtung, weil es sich genau umgekehrt verhält, d. h. die großen "Wirkungen sind stets die Folge paradoxer Ziele und Anforderungen, und der träge Fluß des „"Weltlichen" ändert seine Richtung nur unter dem "Wehen eines Geistes, der mit diesem „Weltlichen" nichts gemein hat. Der zweite Vers der Bibel: „Es war finster auf der Tiefe, und der Geist schwebte auf dem Wasser, und es ward Licht" — enthält mehr geschichtsphilosophische Weisheit als alle strebsamen Versuche, den Fortschritt der Dinge aus den rhythmischen Bewegungen des Chaos abzuleiten. Das Denken über Welt und Geschichte nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, d. h. nach einem und
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demselben monistischen Schema, soll gewiß so lange geübt werden als es ausreicht; aber es in gewaltsamer und darum falscher Analogiebildung über alle Phänomene auszudehnen, heißt die eigene innere Verarmung zum Prinzip zu erheben und den Geist aus den Erscheinungen auszutreiben. Man erhält durch dieses Verfahren eine ebenso unwahre G-eschichte wie durch die Einführung dogmatisch-theologischer Vorurteile. Hier ist es nun von höchstem Belang, daß Troeltsch rund und zuversichtlich den Satz an die Spitze gestellt hat, daß die P r e d i g t J e s u und die B i l d u n g der neuen R e l i g i o n s g e m e i n d e keine S c h ö p f u n g einer sozialen B e w e g u n g ist, das heißt, nicht aus irgendeinem Klassenkampf hervorgegangen oder auf ihn zugeschnitten ist und überhaupt nirgends direkt an die sozialen Umwälzungen der antiken Gesellschaft anknüpft. Mit vollem Recht erklärt Troeltsch, „daß die gesamte urchristliche Missionsund Erbauungsliteratur innerhalb und außerhalb des Neuen Testaments von einer prinzipiellen sozialen Fragestellung nichts weiß, daß im Mittelpunkt überall rein die Fragen des Seelenheils, des Monotheismus, des Lebens nach dem Tode, des reinen Kultus, der richtigen Gemeindeorganisation, der praktischen Bewährung, der strengen Heiligkeitsgrundsätze stehen, daß von Anfang an keine Klassenunterschiede gemacht, sondern diese vielmehr in der großen Frage nach dem ewigen Heil und den inneren Gütern ausgelöscht worden sind." Der sicherste Beweis, daß dem so ist, liegt darin, daß nicht einmal die Askese anfangs an und für sich ein Ideal war. Troeltsch stimmt also der Formulierung vollkommen zu, die ich an mehreren Orten, zuletzt in meinem Grundriß der Dogmengeschichte (4. Aufl. S. 15) gegeben habe: „Angesichts der sichersten Sprüche Jesu kann ein Zweifel darüber nicht walten, daß das einzige Ziel der Religion, wie Jesus sie gelehrt, darin besteht, daß der Mensch seinen Gott finde, erkenne, ihm sich ergebe und seinen Willen tue. Die Koeffizienten, ob jüdische Religion oder
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nicht, ob Askese oder Weintrinken, ob Weltflucht oder Weltherrschaft, sind letztlich gleichgültig: die Religion Jesu duldet diese Gegensätze, indem sie sie umklammert." Das, was Jesus -wirklich bekämpft, ist der Mammonsdienst, das gottlose Sorgen und die unbarmherzige Selbstsucht, nicht aber vorhandene soziale Zustände, und das, was er durchsetzen will, ist die G-ottesherrschaft in den Herzen, nicht aber ein neues soziales Programm; ja man kann geradezu sagen, daß das Evangelium einen Verzicht bedeutet auf jedes innerirdische Sozialideal, auf die politischen und ökonomischen Werte überhaupt (Troeltsch S. 30). Es stellt sich demgemäß als eine wirkliche Umwertung der Werte dar, d. h. es wird falsch beurteilt, wenn man annimmt, es weise die für den Menschen nicht erreichbare und doch so wünschenswerte Organisation innerweltlicher Werte an die Kraft der Gottheit, die sie nun wunderbar durchführen werde, nein — diese Werte selbst werden in ihrem Werte beanstandet und an ihre Stelle sollen die aus dem Gehorsam gegen Gott fließende Zuversicht zu Gott, der Seelenfriede und die Bruderliebe treten. In der ältesten Spruchsammlung, der gemeinsamen Quelle für Matthäus und Lukas, tritt das besonders deutlich hervor. Ebenso deutlich spricht aber dafür auch die wichtige Tatsache, die so oft übersehen wird, die aber Troeltsch richtig hervorhebt, daß Jesus keineswegs alle zu seinen „Jüngern" im Sinne der zwölf Jünger gemacht hat und machen wollte. Zur Nachfolge im engeren Sinn beruft er nur einige, andere läßt er an ihrer Stelle in Haus und Beruf und erkennt an, daß sie in eben dieser Stellung ihren Gott finden können oder schon gefunden haben. Der heilige Franziskus hat ihn also ganz richtig verstanden, wenn er es zuließ, daß neben den Kreis der predigend-reisenden armen Brüder ein weiterer Kreis von „Tertiariern" trat, die in ihrem Stande blieben. Durch diese Zulassung dort wie hier ist aufs stärkste ausgedrückt, daß die Veränderung in den Werten, die Jesus verlangt, eine
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bestimmte soziale Neuordnung und Lage nicht fordert, um sich, in den einzelnen durchzusetzen. Nur „leichter" — was freilich nicht gleichgültig ist — wird die Durchführung des göttlichen Willens in der Regel denen, die alles verlassen haben, als denen, die diesen Verzicht nicht geleistet haben. Auf ein Doppeltes meint aber Troeltsch hierbei hinweisen zu müssen, nicht sowohl zur Einschränkung des Gesagten, als vielmehr um die konkrete Situation richtig zu fassen. Erstlich hebt er hervor, daß ein so geartetes Ideal, wie Jesus es vorgestellt hat, in seinem Ursprung und Fortschritt doch unter einer starken indirekten Wirkung der sozialen Lage stehen mußte, und ferner, daß es sich naturgemäß hauptsächlich an die Gedrückten und Kleinen wendete und daher zunächst eine an die Gedankenwelt und den Gefühlskreis der unteren Klassen sich richtende Volksbewegung hervorrufen mußte. Was das Erste betrifft, so hat Troeltsch vollkommen recht: gewiß hat der Druck der Mächtigen und Reichen, der Stolz und die Hoffahrt der Pharisäer und Priester usw. die Predigt Jesu gegensätzlich bestimmt, aber der eigentliche Feind, den er auch an ihnen bekämpft, ist doch die blinde Selbstgerechtigkeit, die innere Verwahrlosung bei allem äußern Tun und die Unbarmherzigkeit. Und selbst bei der Unbarmherzigkeit denkt Jesus nicht ausschließlich an die Armen, welche durch sie geschädigt werden, sondern auch an die Reichen selbst, die in ihrer Untugend zur Hölle fahren. „Alles Eigentliche und Wesentliche" — um mit Troeltsch (S. 29) zu reden — ergibt sich auch hier aus der eigenenDialektik der religiösen Ideen; denn demDruck der Reichen und Mächtigen wird ja nicht als Ideal die Verheißung einer Welt der Gleichheit, Freiheit, Schmerzlosigkeit und die irdische Lebensbefriedigung durch göttlichen Wundereingriff entgegengestellt, sondern ein neues Ideal wird aufgerichtet: „Wer unter euch groß sein will, sei euer aller Diener," und „wer reich sein will, sei reich in Gott." Wenn es an einigen Stellen
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anders erscheint, so darf man unbedenklich annehmen, daß die Aussicht auf Wohlleben, auf „Essen und Trinken im Reiche Gottes", wie sie übrigens auch in die Zukunft geworfen wird, als B i l d dienen soll für die Freude, die aus dem Seelenfrieden quillt. Und selbst wenn man bei einem oder dem anderen "Wort zweifeln müßte, ob diese Interpretation erlaubt sei, so wäre dasselbe als ein unüberwundener Rest zu beurteilen, und das Erz wäre hier noch „in den Gruben". Eine große neue Bewegung ist doch nicht nach dem zu beurteilen, was sie noch stehen gelassen hat, sondern ausschließlich nach dem, was sie an Gewaltigem zum Ausdruck bringt! Eben darum ist die Beurteilung, die jüngst noch K a u t s k y und K a l t h o f f dem "Wesen der evangelischen "Verkündigung und ihrem Ursprung haben zuteil werden lassen, eine so miserable, weil sie, unbekümmert um den wirklichen Befund in den Quellen und ohne Verständnis für die Selbständigkeit und Kraft religiöser und sittlicher Gedanken, das Evangelium, weil es soziale Not und Druck zu einer seiner Voraussetzungen hat, nur als eine proletarischsozialistische Bewegung zu verstehen vermögen und nach Schema Κ als eine der ewig-gestrigen ökonomischen Erscheinungen behandeln. "Was das Zweite betrifft, so vermag ich Troeltsch nicht vollkommen recht zu geben, obgleich er auch hier die gemeine Meinung ausgezeichnet korrigiert hat. Man muß aber noch einen Schritt weiter gehen. Die Behauptung, daß das Christentum zunächst die Religion der Gedrückten und Kleinen gewesen sei und daß in seiner ältesten Literatur die Gedankenwelt und der Gesichtskreis der untern Klassen zum Ausdruck käme, bedarf der Einschränkung. Richtig ist, daß sowohl in Palästina als anfangs auch im Reiche sich die Kirchen vornehmlich aus den unteren Ständen rekrutierten, aber man darf — wenigstens für das Reich, in Palästina mag es anders gewesen sein — daraus doch nicht zuviel schließen. Gewiß — die Sprüche und Reden Jesu
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setzen für ihr Verständnis neben einer gewissen Kenntnis des Alten Testaments, die bei den Juden sicher weit verbreitet war, lediglich ein bestimmtes Maß von „Herzensbildung" voraus; aber fast alles, was wir sonst an urchristlichen Aufzeichnungen besitzen, zeigt eine unverächtliche mittlere Bildung. Diese Literatur läßt nirgendwo erkennen, daß sie aus einer proletarischen Bewegung entstanden ist oder daß sie sich an Leute richtet, die man einfach als ganz ungebildet bezeichnen dürfte. "Was Paulus seinen Adressaten zumutet — selbst wenn man ihn als Briefschreiber für einen pädagogisch - unbekümmerten Mann hält, wozu aber kein Grund vorliegt —, übersteigt nicht nur weit den kindlichen Standpunkt Ungebildeter, sondern setzt Gemeinden voraus, deren Mitglieder in der überwiegenden Mehrzahl ein respektables Verständnis besessen haben müssen. Der Brief der Gemeinde von Rom an die von Korinth, der noch dem ersten Jahrhundert angehört, ist wahrlich kein proletarisches Schreiben, sondern ein Schriftstück voll Würde und Kraft, und was Ignatius und „Barnabas" den Gemeinden auftischen, gibt von ihrer Bildung einen respektablen Eindruck. Nun weiß man ja, in welch hohem Maße eine wirkliche religiöse Bildung und sittlicher Zartsinn Bildungsmängel in anderer Hinsicht zu ersetzen vermögen. Aber auch wenn man das in Anschlag bringt, darf man doch mit großer Wahrscheinlichkeit angesichts der urchristlichen Literatur behaupten, daß man sich die urchristlichen Gemeinden niemals als fast ausschließlich aus armseligen Proletariern zusammengesetzt denken darf. Wüßten wir nicht aus bestimmten Angaben, daß sie sehr viele Proletarier gezählt haben, aus der Art und Höhenlage der Literatur könnten wir es nicht ersehen. Selbst eine solche Schrift, wie die des Hirten des Hermas, die literarisch die tiefste Stelle in der altchristlichen Literatur einnimmt, ist — abgesehen davon, daß sie eine Zusammensetzung der römischen Gemeinde zeigt, die bereits in alle Schichten eingreift —
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immer noch eine Urkunde für eine gewisse Bildung·. Aber wie es auch, mit der wirklichen Zusammensetzung der Gemeinden sich verhalten haben mag — eines zeigt die altchristliche Literatur aufs deutlichste: wenn es überwiegend Proletarier waren, so haben sie als Christen ihr proletarisches Klasseninteresse vollkommen eingebüßt und mit einem religiösen vertauscht, welches an dem „Klassenkampf" direkt gar kein Interesse mehr nahm. "Weder Miserabilismus und Bettelei, noch andrerseits die Stimmung von Sklaven, die ihre Ketten brechen wollen, tritt uns entgegen, noch auch die dumpfe Unbildung kleiner Leute. Die „Dämonen" wollen diese Bataillone von Christen bekämpfen; ihr Klassenbewußtsein erschöpft sich in dem Bewußtsein, Bürger in der Gottesstadt und eines zukünftigen Aeons zu sein, und die reiche Bibelkenntnis, die mit höchstem Eifer auch bei Sklaven, Handwerkern und dienenden Frauen verbreitet wird, hebt auch diese Schicht aus dem Proletariat heraus. Sehr richtig macht übrigens Troeltsch (S. 19 ff.) darauf aufmerksam, daß der Zeiger der Zeit damals überhaupt nicht mehr bei sozialen Klassenkämpfen stand. In dieser Hinsicht war die Monarchie wirklich der Friede; das Kaiserreich hat der fiebernden Zeit dieser Kämpfe ein Ende gemacht und damit für die Interessen der Seelenentwicklung Raum geschaffen. In einer Anmerkung (S. 21 f.) vermutet übrigens Troeltsch selbst, daß im Orient die Hauptmasse der Christen — von Anfang an — in den Kreisen des kleinen Mittelstands zu suchen sein dürfte, und im Texte (S. 23) heißt es rund, daß die Gemeinden dort mehr mittelständische als eigentlich proletarische Züge tragen. Hiernach sind einige vorher und nachher von ihm ausgesprochene Sätze etwas zu berichtigen. Man braucht also unter dem Titel „Urchristentum und Proletariat" der falschen sozialistischen Geschichtsschreibung in keinem Punkte etwas nachzugeben: das eigentliche Proletariat hat niemals die Signatur der Gemeinden abgegeben, und wer als Proletarier ihnen beitrat, wurde eben damit
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in eine höhere Schicht gehoben, ohne daß sich an seinem Stande etwas veränderte, vielmehr hob er min selbst unabsichtlich diesen Stand. Ich vermute, daß dies überall auch bei denen der Fall gewesen ist, welche schon früher oder gleichzeitig den Synagogen im Reiche beitraten. Das Alte Testament und die jüdische Moral haben hier eine ausgezeichnete Rolle gespielt. Sofern sie nicht bei Leuten aus dem Mittelstande Jünger fanden, adelten sie sofort den Proletarier, der sich unter ihren Einfluß begab. Aber die Synagogen vermochten den Prozeß nicht zu Ende zu führen, weil sie national zu stark gebunden waren. Das Aufkommen des Christentums ist also so wenig wie die starke jüdische Propaganda im Reiche direkt aus der Sozialgeschichte zu verstehen, sondern aus der Relig i o n s g e s c h i c h t e und — was man sehr stark betonen muß — aus dem R i n g e n nach einer höheren S i t t l i c h keit: der sittliche Mensch arbeitet sich in der Kaiserzeit als das Ideal f ü r Jedermann empor; daran nimmt die christliche Bewegung den entschiedensten Anteil. Μ. E. wird das in unserer Kirchengeschichtsschreibung, aber auch in der Dogmengeschichte — denn auch dort gehört das hin — noch immer zu wenig betont, um von den Profanhistorikern ganz zu schweigen. Das Mittel- und Herzstück der christlichen Bewegung ist die Erhebung zu einer, natürlich ganz in das Religiöse eingebetteten, weil einem außerweltlichen Ziele zustrebenden, Moralität. Es ist es schon deshalb, weil darüber unter allen christlichen Parteien kein Streit gewesen ist und weil von Jesus bis Origenes dies in der Verkündigung im Vordergründe steht. Das Christentum ist auf dem Grunde der Sündenvergebung die Botschaft von der Enthaltung und der Auferstehung, d. h. von der Enthüllung des Kerns des Menschen (er ist „besser als viele Sperlinge") oder von seiner Umschöpfung zu einem heiligen und darum dauernden Dasein. Troeltsch kehrt nun in seiner Darstellung noch einmal zu
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den unteren Klassen zurück. E r meint, religiöse — wir fügen hinzu „und sittliche" — Neubildungen vollzögen sich in doppelter "Weise, teils nämlich gingen sie aus von den Höhen der Bildung und Reflexion und greifen um sich als Kritik und Spekulation (Stoizismus usw.), teils seien sie als eigentlich schöpferische, gemeindebildende religiöse Grundlegungen das "Werk der unteren Schichten; hier sei allein die Ungebrochenheit der Phantasie, die Einfachheit des Gremütslebens, die Unreflektiertheit des Gedankens, die Urwüchsigkeit der Kraft und die Echtheit des Bedürfnisses vereinigt, aus denen heraus sich der unbedingte Autoritätsglaube an eine göttliche Offenbarung, die Naivität der Hingabe und die Intransigenz der Grewißheit bilden könne; dies gelte nun auch von der christlichen Religion. Ich vermag ihm nicht ganz recht zu geben. Für sich steht Jesus, und auf die Judenchristen wird die Erwägung von Troeltsch zutreffen; auch hebt er richtig hervor, wie im 2. Jahrhundert sich die Reflexionskultur mit dem Christentum verbindet und dieses stark genug ist, unter diesem Bündnis nicht zusammenzubrechen. Aber damit ist noch zu wenig gesagt. Auf die „Heiden" konnte die christliche Predigt n i e m a l s den Eindruck einer naiven Religion machen, die sich an die naive Religiosität richte — trotz des geschichtlich-mythologischen Stoffs, den sie mitbrachte. Sie konnte das nicht, weil sie als M o n o t h e i s m u s u n d s p i r i t u e l l e M o r a l an sich u n d z u m a l f ü r die „Heiden" in der S p h ä r e der P h i l o s o p h i e l a g (wie schon das Judentum) u n d diesen C h a r a k t e r nie v e r l i e r e n k o n n t e , mochte ihr mythologischer, pneumatischer, sakramentaler und autoritativer Apparat noch so groß sein. Diese Religion richtete sich keineswegs an das naive religiöse Bewußtsein allein, sondern immer an ein reflektiertes zugleich. "Wo jenes allein vorhanden war, konnte sie bei den Völkern keinen Eingang finden. "Wir verdecken uns leicht diese Tatsache, weil wir für das, was Monotheismus und individualistische
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hohe Moral damals bedeuteten, kein unmittelbares Verständnis mehr besitzen — uns sind sie nicht mehr „Philosophie"! —, und weil wir die pneumatischen und mythologischen Bestandteile sämtlich zum „Naiven" rechnen. Aber diese Naivität war damals auch in den höheren Schichten so weit verbreitet, daß sie kein Merkmal für die unteren Klassen ist, und die Annahme der monotheistischen Moral setzte damals eine solche Emanzipation von dem Landläufigen und Inferioren voraus, daß die untere Schicht eben durch sie bereits durchbrochen wurde. Auch darauf darf man sich nicht berufen, daß „die ganze altchristliche Literatur eine unterirdische, von der Bildungswelt lange nicht beachtete und nicht beeinflußte Volksliteratur war mit allen Eigentümlichkeiten der Volksüberlieferung, in der Sprache des Volkes und auf Bedürfnisse und Phantasie des Volkes überall bezogen"; denn diese Charakteristik ist nicht richtig. Richtig ist, daß die älteste Evangelienaufzeichnung — mit ihr sind wir wieder in Palästina — so beschaffen war, aber von welchen urchristlichen Schriftstücken diese Beschreibung sonst gilt, weiß ich nicht. Für sie alle oder fast alle gilt vielmehr, daß sie ursprünglich überhaupt nicht „Literatur" waren, sondern sehr gewichtige Q-elegenheitsschriften, die später zu „Literatur" gestempelt worden sind, weil sie autoritativen Charakter erhielten. Aber weder die Paulusbriefe, noch die katholischen Briefe noch die Schriften der apostolischen Väter und was wir sonst besitzen, können irgendwie als „Volksliteratur mit allen Eigentümlichkeiten der Volksüberlieferung" bezeichnet werden. Sie gehören durchaus zur „Reflexionskultur" und bezeugen an ihrem Teile, daß die Heidenkirchen ein rein „naives" Stadium in ihrer Geschichte gerade am Anfang nicht besessen haben. Das Naiv-Pneumatische ist vielmehr in die religiöse Reflexion vollständig eingebettet. Erst als in der Mitte des 2. Jahrhunderts die schulmäßig-antike Reflexion hinzutritt, beginnt, als ihr Schatten und Widerspiel zugleich, die antike
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religiöse Naivität in den Kirchen selbständig Raum zu gewinnen. Yorker ist nur ihre Kraft in Anspruch genommen; ihr Inhalt mußte es sich gefallen lassen, mit Feuer und Schwert als „dämonisch" von der reflektierten Religion ausgetrieben zu werden. Nicht erst die Apologeten also bringen die Reflexions-Religion und -Kultur hinzu — ihr Werk ist die wichtige Verbindung des Christlichen mit der griechischen philosophischen S c h u l w i s s e n s c h a f t —, sondern schon Paulus und alle die namenlosen ältesten Missionare erschienen den Griechen als Verkündiger einer — freilich mit Torheiten vermischten — „vernünftigen Grottesverehrung", waren es auch wirklich, begannen sofort damit, auch den christlichen „Mythos" dem Gedanken zu unterwerfen und zerstörten die heidnische religiöse Naivität. Die Momente in der christlichen Verkündigung, an welche diese Naivität sich noch immer anzuheften vermochte, sind am A n f a n g wenig zahlreich gewesen, und sie fand sie kaum noch heraus. Selbst die Hoffnung auf die Auferstehung des Fleisches war so eng mit Geistigem verknüpft, daß sie Vielen nicht wie ein Mythologumenon, sondern wie die Potenzierung eines Philosophumenon erschien und auch so wirkte, und die Hoffnung auf zukünftige Freuden war an so ernste Bedingungen innerer Umwandlung und Heiligung gebunden, daß ihr irdischer Glanz notwendig verblassen mußte. Mit Staunen sieht man, daß die griechisch-römische Welt in dem Jahrhundert zwischen den Jahren 50 und 150 von einer religiösen Botschaft erfaßt wird, die ihrer Naivität die größten Opfer aufnötigt und die zunächst wirklich nichts anderes ist als eine spirituelle, s i t t l i c h e und r e l i g i ö s e Botschaft im schärfsten Gegensatz zur „Welt". Man wird mit T r o e l t s ch immer wieder darüber nachsinnen müssen, inwiefern das, was der griechische Mittelstand in den vorhergehenden drei Jahrhunderten äußerlich und innerlich erlebt hatte, ihn durch die Auflösung der alten innerweltlichen Ideale für die Aufnahme der christlichen Verkündigung disponierte,
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aber man wird auch mit ihm sagen müssen, daß die Disposition und ihre Erfüllung direkt nicht kommensurabel gewesen sind. Die Disposition ist durch eine Reihe zusammenwirkender Momente herbeigeführt worden, in denen neben den religionsgeschichtlichen und politischen auch soziale eine große Rolle gespielt haben — die Erfüllung wurde in einer Verkündigung geboten, die prinzipiell .alle nicht-religiösen Interessen, also auch die sozialen, negierte und abschnitt und die dabei keineswegs nur einen alten Mythos durch einen neuen ersetzte, sondern peremptorisch verlangte, alle geistigen und sittlichen Kräfte anzustrengen oder erst zu gewinnen und sich mit ihren Mitteln der Religion zu bemächtigen. II. „Es ist demnach ein MißVerständnis, an die Predigt Jesu, die dem allen zugrunde liegt, in erster Linie „soziale" Fragestellungen heranzubringen", und es ist nicht weniger ein MißVerständnis, die älteste Verkündigung, wie sie zu den Griechen gekommen ist, prinzipiell unter sozialen Gesichtspunkten zu betrachten. Und dennoch haben sich aus der Predigt Jesu und aus der ältesten Verkündigung sofort höchst eigentümliche und wichtige soziale Erscheinungen entwickelt, ja sind ihr offenbar irgendwie wesentlich. Wie ist das zustande gekommen? Jesus predigte die Nähe des Gottesreichs d. h. des Inbegriffs der vollendeten Gottesherrschaft und lehrte die Menschen, in seinem Tun bereits den Anbruch dieser Herrschaft zu erkennen. Diese Erkenntnis, vor allem aber die innere Bereitschaft in Demut, Sündenerkenntnis, Gottvertrauen und ungeteiltem Herzen bezeichnen die Anforderungen, die er stellt. Er sammelt aber auch die Menschen für dieses Reich und sieht in der sich vermehrenden Gemeinde schon die Vorausnahme desselben. Die Grundforderung, die als das Tun des Willens Gottes bezeichnet wird, ist eine einheitliche und richtet sich ganz
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an die tiefste Gesinnung des Menschen; aber dabei ist dieses rein ethische Ideal „absolut durchdrungenen dem religiösen Gedanken der den Menschen innerlich durchschauenden und im Gewissensgebot an sich heranziehenden Gottesgegenwart und von dem Gedanken eines in der Selbstopferung für Gott zu gewinnenden unendlichen und ewigen "Wertes der Seele". Der Unterschied einer heteronomen und autonomen Moral ist hier wirklich aufgehoben. In der Demut fallen sie zusammen und in dem Charakter des Hungerns und Dürstens, den diese Moral hat. Eben darum schicken sich die Armen und Gedrückten leichter zu ihr als die anderen. Troeltsch zeigt nun in ausgezeichneter Weise, wie sich aus dieser Wurzel einerseits ein unbegrenzter und unbedingter Individualismus entwickelt — der allem übergeordnete Wert der einzelnen Seele, wie sie diesen Wert aus der Verbindung mit Gott erhält und wie sie keine höhere, ja, so scheint es, keine andere Aufgabe hat als diese Verbindung zu bewahren—, aber andererseits auch ein starker Gemeins c h a f t s g e d a n k e , nicht nur weil zu den in der Selbstheiligung für Gott befolgten Geboten auch die altruistischen Gebote überhaupt gehören, da auch in ihnen die Selbstverleugnung zum Ausdruck kommt, sondern auch weil die für Gott sich Heiligenden im gemeinsamen Ziel, in Gott, sich treffen. Troeltsch stimmt also dem Satze, wie ich ihn formuliert habe, daß die Verkündigung Jesu im Tiefsten individualistisch und im Tiefsten sozialistisch sei, durchaus zu, und er verwirft zugleich mit mir die Schopenhauersche Meinung, im Evangelium sei es doch letztlich auf Askese abgesehen; denn hierbei wird die Strenge einer positiven Forderung ganz unstatthaft mit einer fremden negativen (Selbstmortifikation) gleichgesetzt. Und auch darin sind wir gegenüber weit verbreiteten Irrtümern zu meiner Freude einig, daß man das ethische Ideal nicht aus der Eschatologie abl e i t e n darf, so sehr man anerkennen muß, daß der Radikalismus dieses Ideals und die Unbekümmertheit Jesu um Mög-
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lichkeit und Durchführbarkeit ohne die Eschatologie nicht leicht zu verstehen ist: „der Boden, auf dem die ethischen Forderungen durchgeführt werden sollen, wird nicht lange dauern und hat keinen Wert in sich selbst." Endlich stimmen wir auch darin zusammen, daß man „das Evangelium" im einzelnen nicht systematisieren darf — so gewiß es sich auch auf einzelne sachliche Forderungen bezieht —, weil es sich schließlich in ihm doch nur um etwas Einfaches handelt, nämlich um das ungeteilte Herz und die unbedingte Unterwerfung unter den schaffenden und leitenden heiligen Liebeswillen G-ottes. Allein in der Durchführung dieses Gedankens scheint mir Troeltsch doch zu weit gegangen zu sein und — im Interesse, die Einheit und "Wucht der evangelischen Verkündigung ans Licht zu stellen — ihren Absichten nicht ganz gerecht zu werden. Obgleich er sich gegen das Systematisieren verwahrt, treibt er es doch so weit, daß die Forderung der Nächstenliebe und der Hilfsbereitschaft im Sinne Jesu in seiner Darstellung Schaden leidet. Q-ewiß kann man nachweisen, daß auch die Nächstenliebe als Exponent der Gottesliebe bei Jesus gedacht ist, und daß auch der Gedanke der Liebesgemeinschaft der Menschen untereinander von ihr abgeleitet wird. Welche trefflichen, aber auch welche verwüstenden Folgen in der Kirche diese Betrachtung gehabt hat, ist hinreichend bekannt. („Wenn wir anderen etwas Gutes tun, tun wir es zu unsrem Vorteil", sagt schon Tertullian!) Aber Jesus ist an den schlimmen Folgen nicht schuld. In seiner Predigt tritt die Nächstenliebe und die Pflicht der Hilfe schlicht und einfach auch als eine Pflicht auf, die ganz auf sich selbst beruht und nur ihr Vorbild an dem barmherzigen Wirken Gottes hat. Ja noch mehr — kann die Nächstenliebe als der Exponent der Gottesliebe aufgefaßt werden, so gilt auch das Umgekehrte: wo jene ist, ist alles, was nötig ist, vorhanden: ohne es zu wissen und zu wollen, haben die, welche
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Hungrige speisen und Nackte kleiden, dem Messias, d. h. Gott selbst gedient! T r o e l t s c h aber polemisiert dagegen, daß ich. im Sinne Jesu die Nächstenliebe a u c h selbständig neben die Gottesliebe gestellt habe, meint, daß ausschließlich ihre Unterordnung unter die letztere gelte, sucht die Forderungen der Hilfeleistung gegenüber den Bedürftigen und Elenden aus dem religiösen Grundgedanken ausschließlich abzuleiten und stellt es in Abrede, daß die Liebesgesinnung im Evangelium auch an dem Gedanken der Hilfe und Förderung um ihrer selbst willen h a f t a „Sonst", fährt er fort, „wäre die Beschränkung auf reine Liebeserweisung und der Verzicht auf alle politisch-sozialen Reformf orderungen gar nicht zu erklären. Die Liebe, wie sie Jesus vorstellt, hat immer einigermaßen den Charakter der Selbstüberwindung . . . sie ist um Gottes willen gefordert und nicht um des Menschen willen. Das gilt f ü r Jesus und f ü r die nächste Folgezeit." Man muß zahlreiche Gleichnisse, Sprüche und Taten Jesu auf das Prokrustesbett spannen und sie ihres schlichten Sinns berauben, wenn man diese Worte gutheißen soll, und man muß noch viel zahlreichere Betätigungen der ältesten Christenheit ausstreichen oder umdeuten, wenn man dieser Behauptung beistimmen will. Troeltsch geht aber sogar so weit zu erklären, „der Satz H a r n a c k s : ,Wo der Christ klar erkennt, daß ein wirtschaftlicher Zustand der Notlage f ü r die Menschen (d. h. zunächst f ü r die Brüder) geworden ist, da soll er nach Abhilfe suchen; denn er ist ein Jünger dessen, der ein Heiland war', hat f ü r die alte Kirche nicht gegolten." E r hat f ü r Jesus und f ü r die alte Christenheit in vollstem Umfange gegolten! Man soll die Nächsten nicht in Armut und im Schmutze liegen lassen, heißt es nicht nur im Hebräerevangelium, sondern auch die synoptischen Evangelien, vor allem das Lukasevangelium, bieten ähnliche Mahnungen genug, und bis zu jenem Briefe Cyprians hin, der f ü r einen als Christ aus seinem Stande ausgetretenen
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Schauspieler sorgt, ferner bis zu jenen Briefen aus dem 3. Jahrhundert hin, mit welchen zugleich reiche Unterstützungsgaben f ü r Überfallene und ruinierte Gemeinden mitgesandt wurden, will ich ihm Belege die Fülle f ü r den inkriminierten Satz beibringen. Diesen Satz glaubt Troeltsch schon durch den Hinweis widerlegen zu können, daß, wenn er richtig wäre, die Kirche sich gegen die Sklaverei hätte wenden und überhaupt zu politisch-sozialen Reformforderungen (s. o.) hätte übergehen müssen. Hier hat den umsichtigen Gelehrten die Umsicht verlassen, und er ist in einen landläufigen Irrtum gestürzt. Daraus, daß die werktätige Nächstenliebe, welche schwere Notlagen neben sich nicht duldet, eine selbständige Forderung des Evangeliums ist, folgt noch keineswegs die Notwendigkeit, zu politischsozialen Reformen, am wenigsten zur Reform der Sklaverei vorzuschreiten. Das wäre ein Verbesserungsversuch an der „großen Welt", die f ü r den Christen nur als Stätte des Teufels existiert und dem Verderben geweiht ist, unter deren Pudenda übrigens die Sklaverei von den Christen höchstens an letzter Stelle genannt worden wäre. Das Auge des Christen sieht immer nur P e r s o n e n , die unter wirtschaftlichen Zuständen leiden; ihnen aber soll geholfen werden. Es bleibt also dabei, daß der Notlage der Nebenmenschen, in erster Linie der Brüder, durch Nächstenliebe zu steuern eine primäre Forderung des Evangeliums ist — unbeschadet dessen, daß sie a u c h aus der Grottesliebe im Sinne Jesu abgeleitet werden kann. Deshalb muß ich auch den andern Satz, den T r o e l t s c h angreift, verteidigen: „Die Aufgabe war, irdische Not und Elend ebenso wie irdisches Glück f ü r etwas Geringes zu achten u n d d o c h jeglicher Not zu steuern, das Haupt im Glauben mutig zum Himmel zu erheben u n d d o c h mit Herz und Mund und Hand auf dieser Erde f ü r den Bruder zu arbeiten." T r o e l t s c h bestreitet das „und doch"; teils läßt er das zweite Glied überhaupt nicht gelten, teils sucht er es dem ersten zu unter-
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werfen. Letzteres ist nicht unrichtig, wie wir gesehen haben, aber es genügt nicht; die Selbständigkeit der Forderung der Nächstenliebe ist daneben anzuerkennen. Bemerkt man aber, daß dadurch doch eine gewisse Duplizität in die Verkündigung Jesu komme, so will ich diese nicht ganz ausschließen; die Lehre ist ja nicht „systematisch". Indessen ist die Duplizität gewiß nicht so stark, wie ζ. B. die in Luthers großer Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen", in der es ihm nicht gelungen ist, „den Knecht aller Dinge in der Liebe" und „den Herrn aller Dinge im Glauben" befriedigend miteinander zu verbinden oder jenen aus diesem wirklich abzuleiten. Aber man hat sich doch klar zu machen, daß wir hier vor den Pforten der letzten Dinge stehen, die in einer unergründlichen Tiefe ruhen — die Gottesliebe in ihrem Verhältnis zur Nächstenliebe! Wer das Problem durchlebt und durchgedacht hat, kommt nicht dazu, es zu lösen, sondern zu der Stückwerk-Erkenntnis, daß sie zusammenfallen und doch nicht zusammenfallen. Man verwundet aber den tatsächlichen Befund, wenn man für Jesus und die älteste Christenheit behauptet, daß sie für sie so zusammengefallen seien, daß die Nächstenliebe um ihrer selbst willen keinen Spielraum besessen habe und nicht auch eine selbständige Forderung gewesen sei. Hiermit ist bereits ausgesprochen, daß man die werktätige, jeder Not entgegentretende Nächstenliebe nicht nur als eine abgeleitete „soziale Anwendung" des Evangeliums betrachten darf, sondern daß sie als soziologisches Prinzip, welches teils aus der Gottesliebe folgt, teils auch sein eigenes Recht besitzt, in das "Wesen des Christentums einzurechnen ist. So bildet sie einen wesentlichen Faktor zur Erzeugung des Universalismus des Evangeliums, der freilich primär eine Folge der Unterordnung unter Gott ist, vor dem alle in gleicher Bedürftigkeit stehen und dessen Vatergüte und Kraft sie in gleicher "Weise erbitten. Troeltsch geht nun weiter auf die Folgen ein, die
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sich aus der sozialen Anwendung des Evangeliums mit Notwendigkeit ergaben. Mit der eben dargelegten Einschränkung wird man ihm dabei gern folgen. Ich schließe mit einigen kurzen Ausführungen: Einerseits schwebt eine Art von „Liebeskommunismus" über der sich ausgestaltenden Entwicklung der christlichen Gemeinde, der sich aus dem Radikalismus der Gottes- und Nächstenliebe von selbst ergab, andrerseits konnte nicht leicht daran gedacht werden, diesen Liebeskommunismus tatsächlich zu verwirklichen, oder es mußte doch die Verwirklichung sofort wieder aufgehoben werden. Denn sobald man hier energischer wurde, stieß man erst recht auf die Welt und mußte sich — um es anders zu machen als die „Welt" — mit tausend Dingen befassen, mit denen man eben nichts zu tun haben wollte. Dazu kam, daß das als ganz nahe erwartete Weltende größere Reformbestrebungen überhaupt niederhielt. Betete man täglich: „Kommen möge die Gnade und verschwinden möge die AVeit; der Herr ist nahe", so war man nicht dafür disponiert, an den Zuständen überhaupt zu ändern. Die Folge war, daß das geschah, was in der stumpfen Welt doch das einzig Fördernde ist — man schickte sich, ohne es zu wissen und zu wollen, zu einer langsamen Umbildung im Rahmen des Gegebenen an, oder vielmehr zu einer allmählichen Versittlichung der Verhältnisse. Naturgemäß kam das zuerst der Familie zugut, dann dem Verkehr in Handel, Wandel und Geselligkeit, in Treu und Glauben, in Reinheit und Friedfertigkeit, in Unterstützung und Hilfe. Am Ende des 2. Jahrhunderts haben das unbefangen Griechen und Römer anerkannt: „Sehet wie sie sich lieb haben und wie sie sich als Brüder betrachten", so sprach man in Karthago nach dem Zeugnis Tertullians von den Christen. „In gemeinschaftlichen Angelegenheiten setzen sie sich über alle Kosten hinweg und sind wie Brüder zusammengeschlossen", sagt Lucian. Alles ist freilich auf die Gemeinden in ihrem inneren Verhältnis unter sich beschränkt, aber diese Gemeinden
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wurden immer größer, und daneben fehlen doch auch Beispiele der Fürsorge für Andersgläubige nicht. Der gewonnene Zustand war in sozialer Hinsicht — auf die Aktionsfähigkeit gesehen — der denkbar günstigste: über den G-emeinden als Ideal der Liebeskommunismus schwebend, stark genug, um sie nicht einschlafen zu lassen, aber viel zu hoch, um — unbedeutende Ausnahmen abgerechnet — zur Verwirklichung zu verführen; in den Gemeinden selbst kräftige sittliche Forderungen zur Heiligung des privaten Lebens, der Ehe, der Familie und des gesamten Verkehrs, aber angeschlossen an die wirklichen Zustände. Die neue Religion war von Anfang an oder wurde sehr bald in der Heidenkirche eine in bezug auf die sozialen Zustände k o n s e r v a t i v e Macht, nicht nur in dem Sinne, in welchem jede sittliche Bewegung eine solche ist, sondern konservativ auch in bezug auf j e d e erprobte gute Sitte und Ordnung. Sie hatte und brachte neben der Ideologie ihres schwebenden Liebeskommunismus überhaupt kein ihr eigentümliches soziales Programm — ein solches erhielt sie erst ganz allmählich und schwerlich zu ihrem Vorteil aus der Berührung mit dem antiken Sozialismus und aus der Entwicklung der Askese —, sondern nur eine in ihren Wirkungen zweischneidige absolute Autorität, ferner Verbesserungen, Versittlichungen, Verinnerlichungen und eine tatsächliche Hilfeleistung, die wahrscheinlich alles hinter sich ließ, was ähnliches im Reiche vorhanden war. Man kann über die Größe und den Wert der sittlich-sozialen Fortschritte, die unter solchen Umständen gemacht worden sind, verschieden denken; aber man soll den Tatbestand nicht verwirren, der hier vorliegt. Ihn in den Hauptpunkten richtig wiedergegeben zu haben, ist ein hohes Verdienst der an Umfang geringen, an Inhalt überaus reichen Abhandlung von Troeltsch.
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Anhang:
Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung. Die ältesten Christen haben der täglichen Arbeit kein Loblied gesungen, und wenn sie von den sittlichen Pflichten sprachen, zogen sie den Kreis derselben nicht so, daß „die Arbeit" hervortrat. Die Hochschätzung der Arbeit innerhalb der Ethik ist keine unmittelbare Folge des Christentums; wie weit sie eine mittelbare ist, dies festzustellen verlangt eine sehr verwickelte Untersuchung. Aber man würde irren, wollte man sich die ältesten Christen als eine Gesellschaft arbeitsscheuer Schwärmer vorstellen. Da man sowohl dieser verkehrten Vorstellung als der entgegengesetzten, sie hätten die Arbeit „geadelt", noch immer begegnet, so wird es nicht überflüssig sein, aus sicheren Quellen das zusammenzustellen, was f ü r die ältesten Christen in bezug auf die Arbeit wirklich charakteristisch gewesen ist. Das direkte Material, welches uns zur Verf ü g u n g steht, ist nicht groß; aus dem indirekten läßt sich ziemlich viel gewinnen, aber ich lasse es hier beiseite. 1. Paulus hat in den Thessalonicherbriefen die Notwendigkeit der Arbeit betont, und zwar aus dem doppelten Gesichtspunkt, weil sie zum Leben überhaupt und weil sie zu einem anständigen Leben (im Gegensatz zum Bettel) notwendig sei. E r hat darum die alte jüdische Mahnung aufgenommen: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen", und er hat ferner die Arbeit eingeschärft, weil die Gemeinde sonst — sie bestand mindestens zum größten Teil aus Handwerkern — den öffentlichen Anstand nicht mehr wahren könne inmitten der heidnischen Bevölkerung, in der sie stand (l.Thess. 4, 11. 12). Irgendwelche spezifisch christliche Motive hat er dabei nicht geltend gemacht; von der „christlich-sittlichen Persönlichkeit, die sich in der Arbeit bewährt", weiß er nichts. Die Arbeit gehört zur „Welt",
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aber zu dem Teil der Welt, in dem man bleiben muß, bis der Herr einen abruft. 2. Da die Arbeit zum Leben und zum anständigen Leben notwendig ist, so verlangt die Solidarität der Gemeinde, daß man sich von arbeitsscheuen, unordentlichen Brüdern zurückzieht, wenn sie auf Ermahnungen nicht hören (2. Thess. 3, 6 ff.). Aber diese Solidarität verlangt auch anderseits, daß man dem arbeitswilligen Bruder Arbeit gewährt, und zwar nicht nur dem Gemeinde-Mitgliede, sondern auch dem Zugereisten. Das letztere ist in der „Apostellehre" (Kap. 12) ausdrücklich gefordert: „Ist der Zugereiste «in Handwerker, so arbeite er (bei euch) und habe seine Nahrung. Versteht er kein Handwerk, so sorgt dafür, daß er nicht als Arbeitsloser unter euch lebt; denn das soll der Christ nicht. Will er aber nicht arbeiten, so ist er einer, der aus seinem Christentum materiellen Gewinn ziehen will. Yon solchen haltet euch fern!" 3. Den Arbeitern ihren Lohn vorenthalten, ist eine himmelschreiende Sünde, die das Strafgericht Gottes nach sich zieht (Jakob. 5, 4). 4. Aber die Arbeit ist doch nicht nur das Mittel, um mi leben und anständig zu leben, sondern auch das Mittel, um anderen h e l f e n zu können. Hier — und nur in dieser Form — tritt ein s i t t l i c h e s Motiv zur Arbeit auf. Wir begegnen demselben zum erstenmal im Epheserbrief (Kap. 4, 28): man soll mit aller Anstrengung arbeiten, um imstande zu sein, dem Bedürftigen etwas zu geben. Das Geben ist von Anfang an als eine der wichtigsten Christenpflichten angesehen worden: in den Dienst dieser Pflicht wird die Arbeit gestellt; als Mittel für ein sittliches Tun ist sie w i c h t i g (sie ist nicht selbst etwas Sittliches im Sinne der ältesten Christen). 5. Doch schon im Barnabasbrief (Kap. 19, 10) — geschrieben wahrscheinlich um das Jahr 130 — nimmt diese Ermahnung die Wendung, daß man dem Nächsten mit dem
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Ertrage seiner Arbeit helfen soll, um durch solches Tun (Almosen) seine eigene Seele zu retten. Ob schon im Epheserbrief daran mit gedacht ist, ist mindestens fraglich. Jedenfalls ist im 2. und 3. Jahrhundert dieser Gesichtspunkt der wichtigste geworden. Man arbeitet also, sofern man durch Arbeit befähigt wird, Almosen zu geben, im Grunde für sich selbst und nur für sich selbst. Die Arbeit wird zu dem sittlich-religiösen Tun in Beziehung gesetzt, aber in einer höchst bedenklichen Weise. Die Praxis ist gewiß häufig besser gewesen als die Theorie; denn das natürliche Mitleid und zahlreiche evangelische Sprüche wiesen in eine andere Richtung. Doch dies kann nur aus dem indirekten Material nachgewiesen werden. Hier sollte nur festgestellt werden, wie sich die ältesten Christen über die Arbeit ausgesprochen haben.
Die Naclilaßsteuer vom sozialethischen Gesichtspunkt. „Wenn es ein Naturrecht gibt, gibt es auch ein natürliches Erbrecht, und wer dasselbe antastet, rüttelt an den Grundsäulen der Gesellschaft", hörte ich jüngst sagen. Die Frage des Naturrechts braucht man nicht aufzurollen; sie ist eine „akademische" Frage, und zwei Menschen, die sie entgegengesetzt beantworten, können doch in allen praktischen Fragen des Rechts derselben Meinung sein. Ob ich gewisse Grundsätze für „natürlich" oder für einen Erwerb der geschichtlichen Entwicklung halte, ist gleichgültig, wenn ich nur von ihrer Notwendigkeit und damit von ihrem Rechte überzeugt bin. In der Tat muß man das Erbrecht in das „Naturrecht", wenn es ein solches gibt, einrechnen, weil man sich nicht vorzustellen vermag, wie ohne dasselbe der Schatz von Tradition, den wir nötig haben, bewahrt und die Kontinuität der Zustände inmitten der Mächte der Veränderung und Auflösung geschützt werden kann. Dächten wir uns, es gäbe überhaupt kein Erbrecht, so würde, da gleichzeitig auch das Schenkungsrecht beschränkt oder aufgehoben werden müßte, jeder sozusagen von der Pike auf dienen müssen. Das ergäbe einen sehr unökonomischen und deshalb sehr kostspieligen Zustand! Indessen bedarf es nur einer kurzen Erwägung, um einzusehen, daß sich eine völlige Aufhebung des Erbrechts ohne Aufhebung des Privateigentums schwerlich durchführen läßt, und selbst wenn das möglich wäre, würde der Trieb zur Kapitalbildung so stark gelähmt werden, daß auch von hier aus eine Kraftvergeudung die nicht leicht zu vermeidende Folge wäre. Die Bevorzugung derer, die etwas erben, vor denen, die leer ausgehen, liegt freilich auf der Hand. Aber es gibt auch eine Gegenrechnung, die häufig bereits in der dritten und vierten
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Generation sehr zuungunsten der „lachenden" Erben ausschlägt; denn sie erben mit dem Kapital auch andres, was sie im Kampfe des Lebens hemmt oder die Entfaltung ihrer Kräfte hindert. Überall ist dafür gesorgt, daß die wachsenden Ungleichheiten schließlich wieder zur Rückbildung kommen und daß des „Sprungquells flüssige Säule" zuletzt herabfallen oder sich in einen befruchtenden Nebel auflösen muß. Das Erbrecht gehört zum „Naturrecht" — aber das bedeutet nicht, daß es absolut ist; denn es ist nicht d a s Naturrecht, sondern ein Teil desselben und längst nicht der wichtigste. Alles aber, was man unter dem Namen „Naturrecht" begreift, ist dadurch ausgezeichnet, daß es neben der wirtschaftlichen Seite auch eine ethische hat, die mindestens ebenso wichtig ist; denn die „Natur" des Menschen umfaßt vor allem seine sittliche Anlage. Gehört das Erbrecht also zum Naturrecht, so steht es unzweifelhaft unter sittlichen Pflichten, und damit ist schon ausgesprochen, daß es etwas Höheres über sich hat, dem es dienen muß. Das Höhere ist das Wohl der Gesellschaft und des Staates einerseits — denn in ihnen allein vermag sich das Sittliche zu entwickeln — und die Pflicht des Einzelnen anderseits, das Materielle, soweit immer möglich, in sittliche Kräfte umzuwandeln oder ihnen zu unterwerfen. Eine lange Vorrede zur Beantwortung einer praktischen Frage! Wir stehen zurzeit in unserm Vaterlande vor dem schweren Problem, 500 Millionen neuer Steuern aufbringen zu müssen. Jeder Kundige weiß, daß wir reich genug sind, um sie beschaffen zu können, aber er weiß auch, daß jedes Steuerprojekt eine große Gruppe von Interessenten gegen sich hat, die alles aufbieten, um es zu hintertreiben. Ich werde mich hüten, in diese Fragen, soweit sie wirtschaftlicher Natur sind, auch nur mit einem Worte einzugreifen. Hier darf nur der Fachmann sprechen, der die ökonomischen und politischen Konsequenzen jeder einzelnen Steuer zu überschauen und abzuschätzen vermag. Auch das Pro-
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blem, in welchem Umfange indirekte und direkte Steuern zu erheben sind, fällt ganz außerhalb meiner Kompetenz; denn diese Frage ist höchst kompliziert, sobald man sie nicht abstrakt, sondern auf dem Boden der realen Verhältnisse behandelt. In abstracto wird man stets die direkte Steuer bevorzugen, aber psychologisch belastet sie ungleich mehr als die indirekte und ist dazu sehr viel schwerer durchzuführen. Umgekehrt sind auch der indirekten ganz bestimmte G-renzen gezogen; hält man sie nicht ein, so tötet man die Henne, welche die goldenen Eier legen soll, ganz abgesehen davon, daß eine gerechte Verteilung bei den indirekten Steuern auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, die man schweren Herzens in den Kauf nehmen muß. Das mögen also die Fachleute entscheiden. Aber unter den Steuerprojekten steht bekanntlich auch die Nachlaßsteuer zur Frage und wird zurzeit aufs lebhafteste umstritten. Bei dem Kampfe um sie werden von den Gegnern auch sozialethische Argumente neben den wirtschaftlichen geltend gemacht. Man darf sich lebhaft freuen, daß dies geschieht; denn damit ist von ihnen anerkannt, daß die Steuer auch unter diesen Gesichtspunkt zu stellen, also nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht zu würdigen ist. Es fragt sich nur, welche sozialethischen Gesichtspunkte die stärkeren sind, ob diejenigen, welche gegen die Steuer sprechen, oder die, welche sie empfehlen. Zu dieser Frage möchte ich das "Wort ergreifen, denn sie liegt auf einem Gebiete, das mir veutraut ist. Die Gegner der Nachlaßsteuer machen geltend, daß sie geeignet sei, den Familiensinn und den Zusammenhalt der Familie zu erschüttern, indem sie sie in dem Momente trifft^ wo die Familie besonderer Stärkung bedarf, ferner, daß das Verfügungsrecht beschränkt und damit das Eigentumsrecht angetastet wird. Auf letzteres einzugehen, muß ich mir versagen; denn für ein ernsthaftes Argument vermag ich das nicht zu halten, weil es gegen jede direkte Steuer
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geltend gemacht werden kann, eben dadurch aber ad absurdum geführt wird. Das Eigentumsrecht ist gewiß ein Recht, das, wie alle andern, des Schutzes bedarf, aber es bliebe nichts übrig, als seine Abschaffung in Erwägung zu ziehen, wenn es direkte Steuern überhaupt nicht vertrüge. Es muß daher bei der Erörterung der Nachlaßsteuer alles ausscheiden, was ebenso gegen die Einkommen- und die Vermögenssteuer eingewendet werden könnte. Noch haben wir in guter Erinnerung, wie man sich bei uns, besonders aber in England, gegen diese Steuern gewehrt hat. Man erklärte, daß nach ihrer Einführung der ganze Bau der G-esellschaft zusammenstürzen werde, weil die Erhebung eine unerträgliche Einmischung in die Privatverhältnisse und eine unsittliche Entblößung der häuslichen Zustände bedeute. Allein bei uns sowohl wie in England ist nichts von diesen düsteren Prophezeiungen eingetroffen, vielmehr beneiden uns heute einsichtige Volksfreunde in Frankreich und Amerika um diese Steuer, die bei ihnen der „republikanische" Plutokratismus leider nicht zuläßt. Ernsthafter ist das Argument, welches von dem Zustande der Familie in dem Momente des Todes des Erblassers hergenommen wird. Soll die Familie geschützt werden — und wer wollte sie nicht schützen? —, so soll man ihre Fortexistenz nicht in dem Momente erschweren, in welchem sie ihren bisherigen Ernährer verloren hat. Allein so schlagend dieses sozialethische Argument in der Theorie erscheint, so schwach ist es, wenn man die wirklichen Verhältnisse ins Auge fast. Erstlich nämlich ist der Besitz keineswegs die vornehmste, geschweige denn die einzige Voraussetzung der Erhaltung der Familieneinheit und -Überlieferung, ja er ist eine solche überhaupt nur, wenn die Kräfte und Tugenden vorhanden sind, die ihn erst mit zu einer Voraussetzung des Familiengeistes machen. Fehlen diese, fehlt die Erziehung, die Kraft, der Fleiß und das brüderliche Verhalten, so ist das aus dem Nachlaß fließende
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Kapital allein schlechterdings nicht imstande, einen volkswirtschaftlich und ethisch wertvollen Zustand zu garantieren. Die Ausstattung mit geerbtem Kapital ist dann nur ein „Zufall", an welchem die Allgemeinheit nicht das geringste Interesse haben kann. Sodann ist daran zu erinnern, daß für die große Masse der Staatsbürger die ganze Frage überhaupt nicht existiert, sobald man, wie geplant ist, das kleine Kapital steuerfrei läßt. Daß aber ein Kapital von 20000 Mark keine Nachlaßsteuer von 100 Mark und ein solches von 200000 Mark keine Nachlaßsteuer von 4000 Mark verträgt, ohne die Familie und den Familiensinn zu schädigen, wird man uns vergeblich einzureden versuchen. In dem ersteren Fall gehen 4 Mark, im letzteren 160 Mark jährliches Einkommen verloren. Empfindlich mag das in einigen Fällen sein — nichts hindert indes, für besondere Fälle (Kinderreichtum, Erhaltung des immobilen Besitzes usw.) besondere Maßnahmen zu treffen; in der großen Mehrzahl der Fälle aber kann die Steuer wirklich bedenkliche Störungen oder Schädigungen schlechterdings nicht hervorrufen, weil sie zu geringfügig ist. Schwankt doch, wie man es auch anlegen möge, der Wert eines Kapitals von 20 000 Mark an sich schon in der Regel mindestens um 100 Mark und der eines solchen von 200000 um ein paar Tausend. Dieses Schwanken bleibt freilich bestehen, und die Steuer tritt noch hinzu; aber es ist doch wichtig, darauf hinzuweisen, in welchen Grenzen sich die Steuerbelastung hält, die man in leidenschaftlichem Unmute den Anfang der „Konfiskation des Besitzes" genannt hat. Das sozialethische Argument, das gegen die Nachlaßsteuer geltend gemacht wird, ist also von sehr geringem, ja verschwindendem Gewicht. Sofern die Steuer Härten zur Folge hat, läßt sich in vielen Fällen durch spezielle Bestimmungen helfen; was übrigbleibt, muß ertragen werden. Der Nachweis, daß die Familie leiden müsse, kann jedenfalls im voraus nicht erbracht werden, und man wird ohne
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Prophetengabe sagen dürfen, daß sich, ein Nachteil hier so wenig einstellen wird wie bei der Einkommensteuer. Aber — so wenden die Gegner ein — die Nachlaßsteuer mag passieren, wo es sich nicht um die Kinder als Erben handelt; in diesem Falle aber sei sie unstatthaft, weil sie in ein Verhältnis eindringe, w e l c h e s als ein I d e n t i t ä t s v e r h ä l t n i s b e t r a c h t e t und r e s p e k t i e r t w e r d e n müsse; hier gelte es: „principiis obsta"; nicht auf die Höhe der Steuer komme es an, sondern der Gedanke selbst sei in seiner Wurzel als ein radikaler und auflösender zu bekämpfen. Obgleich die oben gegebenen Ausführungen durchweg die Nachlaßsteuer in bezug auf die Kinder im Auge hatten, so muß doch noch auf das scharf gefaßte Argument eingegangen werden, und dies um so mehr, als sich gerade ihm gegenüber die sozialethischen Gesichtspunkte am besten entwickeln lassen, die f ü r die Steuer sprechen. Ich stelle sie sofort hierher: Erstlich, jeder, der etwas erbt — auch der Sohn und die Tochter — , soll daran erinnert werden, daß es etwas andres ist, ein Kapital zu erwerben, und etwas andres, ein Kapital zu erben. Sodann, jeder, der etwas erbt — auch der Sohn und die Tochter — , soll daran erinnert werden, daß sie überhaupt nur erben können, weil sie unter dem Schutze des Rechtsstaats stehen, der den ruhigen und sicheren Ubergang des Vermögens aus einer Hand in die andre allein ermöglicht; sie sollen es daher für billig erachten, daß sich der Staat für diesen Dienst in angemessener Weise entschädigt. Anders ausgedrückt: die Nachlaßsteuer erinnert an die besondere Art und damit auch an die besonderen Pflichten des nicht selbst erworbenen Kapitals, und sie bringt an dem richtigen Punkte das hohe Gut, welches die Gesellschaft an dem Rechtsstaate besitzt, zum Ausdruck. In dieser wie in jener Hinsicht kommt somit der Nachlaßsteuer ein bedeutender sozialethischer Wert zu, ja man darf sagen, daß unsre sittliche Kulturentwicklung in der Gegenwart geradezu auf diese Steuer hinweist.
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Die Familie soll keineswegs erschüttert werden, aber die Vorstellung, daß gleichsam ein IdentitätsVerhältnis zwischen Eltern und Kindern besteht und in diesen jene sich einfach fortsetzen, ist nicht mehr die unsrige. Unsre ganze Erziehung weist längst in eine andre Richtung. Es wird der Individualität und Selbständigkeit der Kinder ein viel größerer Spielraum gewährt als früher: die Eltern bestimmen nicht einfach mehr, welchen Beruf der Sohn ergreifen, und welchen Mann die Tochter heiraten soll. Die erwachsene junge Generation steht den Eltern viel freier gegenüber als vor zwei Menschenaltern. Die finanziellen Konsequenzen dieses allmählichen Umschwungs sind freilich in den „höheren" Schichten bei uns noch nicht gezogen — aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde; aber in den mittleren und unteren fehlen sie nicht, und in dem Lande, welches in dieser Hinsicht fortgeschrittener ist als wir, in Amerika, sind sie schon deutlich ausgeprägt. Viele der Harvard-Studenten verdienen sich ihren Unterhalt durch Dienstleistungen, denen sich bei uns kein Student unterziehen würde, und der jugendliche Sohn des Präsidenten der großen Republik verdient sich, wie berichtet wird, einen Teil seines Unterhalts in einem Teppichgeschäft. Die „Konsequenz" dieser sich entwickelnden Zustände hat in kühnster Weise A n d r e w C a r n e g i e in seinem Büchlein über die Pflichten des Reichtums gezogen. Er ist mit der bestehenden Gesellschaftsordnung in bezug auf die freieste Gestaltung des wirtschaftlichen Wettbewerbs ganz einverstanden; er befürwortet die Anhäufung des arbeitenden Kapitals in wenigen Händen, und er ist ein überzeugter Vertreter der privatwirtschaftlichen Grundsätze in bezug auf den Erwerb, weil er diese Erwerbsform für zweckmäßiger in bezug auf die Güterversorgung der Gesamtheit hält als alle andern. Der E r w e r b soll nach ihm unbeschränkt bleiben; aber an den B e s i t z knüpft er große soziale Pflichten. Vor allem wünscht er, daß der Besitz nicht mehr in toto vererbt
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werden möge, sondern daß die Kinder höchstens das Existenzminimum von dem Vater erhalten, um sich ihre volle Selbständigkeit und Tatkraft zu bewahren. Über das angesammelte Kapital soll der Besitzer noch bei Lebzeiten durch gemeinnützige Stiftungen im größten Stil verfügen. Ich besitze kein Urteil darüber, ob auch nur in Amerika dieser großartige G-edanke Aussicht hat, ernsthaft erwogen zu werden — Carnegie selbst führt ihn entschlossen durch —, wir in Deutschland sind jedenfalls weit davon entfernt, an so etwas zu denken, und werden sogar mit G-rund fragen, ob eine solche Maßregel auch nur als fernes Ideal erwünscht sei. Aber der Gedanke enthält doch mindestens einen wertvollen Kern. Je selbständiger wir die heranwachsende Generation werden lassen, um so nötiger ist es, daß wir sie erinnern, daß das Vermögen ihrer Eltern nicht einfach ihr Vermögen sei. Wir besitzen bereits mehrere Mittel, um sie das zu lehren: die Eltern haben ein umfassendes Verfügungsund Schenkungsrecht, sie können die Kinder auf das Pflichtteil setzen usw. Aber fast alle diese Mittel haben etwas Odiöses und werden verhältnismäßig nur selten angewandt. Eine Steuer beim Übergang des Vermögens der Eltern auf die Kinder, die von einer gewissen Höhe des Kapitals an ausnahmslos in Kraft tritt, wird daher besser als irgendein andres Mittel die Kinder lehren, daß der Übergang des Vermögens der Eltern auf sie nicht ein Naturprozeß ist, sondern ihnen Pflichten auferlegt, und daß sie ein Gut empfangen, das sie als würdige und treue Haushalter verwalten sollen. Und selbst wenn sie zunächst keine andre Konsequenz aus der „lästigen" Steuer ziehen als die, den durch sie erlittenen Verlust möglichst schnell wieder zu ersetzen, so ist auch das unter Umständen schon ein Vorteil. Man wende nicht ein, daß die Steuer zu geringfügig sei, um sozialethische Tugenden zu erzeugen. Das, was materiell geringfügig ist, kann und wird psychologisch ein sehr bedeutender Faktor sein, und man braucht nicht daran zu zweifeln, daß die
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psychologische Wirkung der Steuer eine erwünschte und heilsame sein wird. Sie wird den starren Eigentumsbegriff erweichen, ohne den Eigentumsbegriff zu schädigen, der sich seiner Pflichten bewußt ist. "Welch ein Vorteil in sozialethischer Hinsicht wird sich ergeben, wenn sich allmählich im Volksbewußtsein der Unterschied von selbsterworbenem und von geerbtem Besitz feststellt, und wenn die besonderen Pflichten, die an diesem hängen, anerkannt werden! Es kann nicht ausbleiben, daß von hier aus der gesamte Eigentumsbegriff stärker mit sozialethischen Beziehungen erfüllt werden wird. Möglichste Freiheit für jeden ehrlichen Erwerb, angemessene Beschränkungen bei Schenkungen und Erbschaften, strenge soziale Pflichten für jeden Besitz — das sind die Forderungen, die sich durchsetzen müssen, damit wir das Privateigentum, diesen rocher de bronze unsrer Kultur, mit gutem Gewissen aufrechterhalten können. Aber mindestens ebenso wichtig wie die Wirkung der Steuer in Hinsicht auf die richtige Würdigung ererbten Besitzes ist die Wirkung in Rücksicht auf die Bedeutung des Staats und seiner Rechtsordnung. Zunächst mag es freilich scheinen, als müsse die freudige Wertschätzung des Staats leiden, wenn er sich in schweren Tagen als Fordernder einstellt; allein eben diese oberflächliche und irrtümliche Auffassung gilt es zu bekämpfen, und sie wird schwinden. Wohl fordert der Staat, aber er fordert nur, weil er, und nur er, durch seinen Rechtsschutz und seine Rechtsgewalt den sicheren und ruhigen Ubergang des Besitzes ermöglicht. Das scheinbar Selbstverständliche, dieser sichere Ubergang, ist eben keineswegs selbstverständlich, sondern das Produkt einer langen Kulturentwicklung, und es sind Jahr um Jahr große Mittel nötig, damit der Staat seinen Rechtsschutz und seine Rechtsgewalt aufrechterhalten kann. Diese Mittel werden durch die allgemeinen Steuern aufgebracht; aber es ist nicht mehr als billig und entspricht auch andern gleichartigen Fällen, daß die, welche den Rechts-
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schütz in besonderer Weise in Anspruch nehmen, dafür eine Gebühr erlegen. In der Tat — die Nachlaßsteuer erscheint als eine Gebühr, in welcher der besondere Rechtsschutz, den der Staat den Erbenden angedeihen läßt, zum Ausdruck kommt und entsprechend honoriert wird. Die sozialethische Wirkung dieser Belastung kann nicht hoch genug geschätzt werden; denn sie erinnert in kräftigster Weise und am richtigen Punkte daran, was die Rechtsordnung des Staats dem Einzelnen bedeutet, und wie unsicher seine Lage ohne dieselbe wäre. In rechtlosen „Staaten" ist der Tod des Besitzers das Zeichen, daß sich jedermann auf den freigewordenen Besitz stürzt und der Stärkere die Beute nimmt. Dieser Zustand würde sich noch heute wiederholen, hielte nicht der Staat seinen starken Arm über jede Hinterlassenschaft und sorgte er nicht dafür, daß jeder das Seine bekommt. In allen Schulen, in denen vom Staate gesprochen wird — es wird leider viel zu wenig über ihn gelehrt —, sollte dargelegt werden, was man ihm verdankt, und an keinem ändern Punkte kann das auch den älteren Kindern so deutlich gemacht werden wie bei der Vererbung. Werden sie über den Unterschied von erworbenem und vererbtem Vermögen belehrt und über die Bedeutung, welche dem Rechtsschutz des Staates bei der Vererbung zukommt, so werden sie sowohl einen Begriff von den Pflichten bekommen, die an ererbtem Kapital in besonderer Weise haften, als auch lernen, daß der Staat mit seinen Ordnungen ein Gegenstand freudiger Wertschätzung für sie sein muß, daher aber auch zu seiner Erhaltung der notwendigen Mittel bedarf. Somit ist die Nachlaßsteuer vom sozialethischen Gesichtspunkt eine besonders empfehlenswerte Steuer, und die Bedenken, die gegen sie ins Feld geführt werden, vermögen gegenüber den Vorteilen, die sie bietet, nicht aufzukommen. Daß sie gerade auch als Reichssteuer zweckmäßig ist, dies darzulegen fällt außerhalb meiner Kompetenz, aber der
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6. Eröffnungsrede beim 21. Evangelisch-Sozialen Kongreß (1910)
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Beweis hierfür ist nicht schwierig. Jedenfalls ist es aufs dringendste zu wünschen, daß neben den Steuern auf den Massenkonsum, denen niemand eine ethische Bedeutung anzudichten vermag, auch eine Steuer großen Stils allgemein eingeführt wird, die vom sozialethischen Standpunkt nicht nur einwurfsfrei, sondern auch heilsam ist, weil sie das „Suum cuiqueu so zum Ausdruck bringt, wie es der Geist unsers Jahrhunderts verstehen und fassen muß.
Eröffnungsrede beim 21. Evangelisch-Sozialen Kongreß zu Chemnitz am 18. Mai 1910. Ich eröffne die 21. Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses, begrüße alle, die hier zusammengekommen sind, die alten und die neuen Freunde, aufs wärmste und bitte um ihre lebendige und wirksame Teilnahme. Zum zweiten Male tagt der Evangelisch-Soziale Kongreß im Königreich Sachsen, in dem Lande, dessen gewaltige industrielle Entwicklung uns sowohl die Arbeitskraft und Tüchtigkeit unseres Vaterlandes als auch die Fülle der sozialen Aufgaben besonders deutlich vor Augen führt. Und in der Stadt Chemnitz tagen wir, der Stadt, die sich alle zwanzig Jahre verdoppelt, und dabei jedesmal an innerer Kraft, an Tüchtigkeit und Schönheit gewinnt. Vieles hat sich geändert und ist fortgeschritten, seit wir vor dreizehn Jahren in Leipzig getagt haben. Ich darf hoffen und es aussprechen, daß wir selbst auch fortgeschritten sind, während wir zugleich fest an den Prinzipien halten, die den Kongreß einst begründet haben. Ich brauche sie nicht zu wiederholen, der gestrige Abend hat sie Ihnen auf das deutlichste in das Gedächtnis gerufen. Blicken wir aber auf das Reich: welche Veränderungen! Das große Werk der Reichsversicherung, ein Werk, welches die Kraft einer Nation zu übersteigen scheint, ist dem Ab-
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schlusse nahe, wenn auch noch mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden sind. Die Ideen, die einst aus den Studierstuben und von den Kathedern sozial gerichteter Professoren in die Öffentlichkeit hinausdrangen und als gefährliche Utopien aufs heftigste bekämpft wurden, und die Gedanken, die einst von brüderlich gesinnten, warmherzigen Christen in kleinen Kreisen verwirklicht wurden — sie haben sich durchgesetzt. "Was einst als eine unmögliche oder verderbliche Forderung erschien, das ist von der ganzen Nation aufgenommen und längst zur Sache des Reichs geworden. Die Schlachten sind geschlagen, der Sieg ist gewonnen. Der sich steigernde Wohlstand, die verhältnismäßig nicht allzu schwere Überwindung der letzten wirtschaftlichen Krise, die Abnahme der Sterblichkeitsziffer und manche andere günstige Symptome zeigen, daß wir im ganzen auf dem richtigen Wege sind. Mit wahrer Genugtuung darf unser Ehrenpräsident, Exzellenz Wagner, der stets an der Spitze der Bewegung gestanden hat, auf sein mit Erfolg gekröntes Lebenswerk zurückblicken; mit Freude wird unser anderer Ehrenpräsident, Herr Nobbe, heute feststellen, daß er seine langjährige Arbeit der wertvollsten Aufgabe zugewandt hat, und den Streit, den einst Schmoller gegen den großen Historiker Treitschke geführt hat, hat die Geschichte mit unmißverständlicher Deutlichkeit zugunsten Schmollers entschieden. Aber, meine Damen und Herren, vergessen wir nicht, daß im geistigen Leben jeder Sieg neue Aufgaben und neue Probleme stellt, und vergessen wir vor allen Dingen nicht, daß alle Institutionen, welche der Staat und die Gesellschaft zwangsweise schaffen, seien es auch die segensreichsten, der Freiheit schwere Lasten auferlegen und den Spielraum und die Tatkraft des Einzelnen hemmen. Es gibt aber neben der werktätigen Liebe kein gewaltigeres und wichtigeres Element in der menschlichen Gesellschaft als die freie Tatkraft des Einzelnen, ja die hilfreiche Liebe
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selbst hat hier ihre stärkste "Wurzel. Wenn diese Kraft unterbunden wird — und sie kann durch soziale Zwänge ohne Gegengewicht ebenso unterbunden werden wie durch ein energieloses Rentnertum —, so geht ein Volk langsam an seinem wohlgepflegten und stabilen Besitze zugrunde, weil es nicht mehr die Kraft des Fortschritts, Mut und Unternehmung hat. Der Hebel des Fortschritts ist der Einzelbesitz. Darum bedeutet „Sozial" — vollständig und richtig verstanden — nicht nur die kollektive Sorge für die wirtschaftlich Schwachen durch entsprechende Institutionen, sondern auch die Beseitigung der Schwächen, die durch eben diese Institutionen entstehen oder vergrößert werden. Hier nun kommt in erster Linie alles auf die rechte Erziehung der Jugend an, und in diesem Sinne gibt es zurzeit keine größere Aufgabe als die Jugendpflege auf dem Grunde des Erbes der Yäter, aber in dem freien Geiste, der allein der Gegenwart entspricht, und mit dem Hauptzweck, der Jugend innere Freiheit, Selbstverantwortlichkeit und Tatkraft als die höchsten Güter vorzustellen. Die Jugend darf nicht sagen: „Ich verlasse mich auf andere", sondern muß so geführt werden, daß sie sagt: „Ich verlasse mich auf die Kraft eines guten und rechten "Willens, ich will etwas schaffen, damit andere sich einst auf mich verlassen, und ich will mich auf mich selber verlassen." Diese Erziehung ist das Gegengewicht, das notwendig ist, je mehr unsere Nation in die sozialen Stufen und die sozialen Formen ihrer Organisation übergeht, und unser Kongreß wird diese beiden Punkte wie schon bisher immer stärker, immer deutlicher im Auge behalten und ihre Notwendigkeit im einzelnen herausarbeiten. Leider vermögen wir bei dieser Arbeit kaum je gemeinsame Sache mit den auf die Jugendpflege gerichteten eifrigen Bestrebungen der Sozialdemokratie zu machen, sondern müssen vielmehr durchaus mit allen Guten und Einsichtigen unseres Landes unsern eignen "Weg gehen;
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denn die Sozialdemokratie will bei ihren weitgehenden Erziehungsplänen von dem Grunde nichts wissen, vielleicht noch nichts wissen, der uns das Fundament ist, nämlich der sittliche Geist im Sinne des Evangeliums, und sie will den Staat nicht gelten lassen, wie er geschichtlich geworden ist und uns das Vaterland selbst bedeutet. Hier kann es keine Kompromisse geben. Man kann Kompromisse in allen übrigen Punkten schließen; man soll zugeben, was wir auch von ihr gelernt haben und was sie der Nation selbst an Antrieben gegeben hat, aber an jenem Punkte gibt es keine Zugeständnisse. Infolgedessen können wir, von wenigen Fällen und Aufgaben vielleicht abgesehen, mit ihr in der Frage, wie wir die nächsten Generationen zu tatkräftigen, selbstbewußt unternehmenden, stolzen und bescheidenen Menschen machen, nicht zusammengehen. Aber andererseits soll der Kampf mit reinen geistigen Waffen geführt werden; denn nur dann ist uns der Sieg gewiß. Das wenigstens ist auf der Kulturstufe, auf der wir in unserem Vaterlande stehen, erreicht, daß wir zwar noch auf große Kämpfe hinausschauen müssen, daß aber der Respekt vor Ordnung und Gesetz und der Abscheu, den inneren Frieden zu brechen, als ein selbstgewollter eherner Reif die Nation beschirmt. Dunkle, auf brutale Zerstörung gerichtete Elemente werden niemals völlig verschwinden, und der Kampf zwischen Kapitalismus und Arbeitern birgt auf beiden Seiten stets die latente Tendenz, Gewalt zu brauchen, aber diese Tendenzen stehen heute bei uns in Deutschland nicht nur unter der gepanzerten Faust des Militärs, sondern auch unter der unbezwinglichen Hand eines erzogenen und friedlich gesinnten Volkes. — Ich habe von dem sittlichen Geist im Sinne des Evangeliums gesprochen, der Fundament und Richtlinie unserer Entwicklung bleiben soll, den wir nötig haben, auch wenn wir erzogene Menschen sind. Diese Notwendigkeit scheint mir in der Gegenwart an keinem anderen Punkte so deut-
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lieh hervorgetreten zu sein, als in den sexuellen und Ehefragen. Sie haben sich in den letzten drei Jahren in einer bisher unerhörten, für die Gesundheit der Nation wahrlich nicht unbedenklichen Weise in den Vordergrund gedrängt, und erscheinen fast wie ein Charakteristikum unserer Epoche. Sie haben zunächst in der Aussprache schon viele Schranken niedergerissen, die bisher respektiert worden waren. Ich will nicht leugnen, daß wirklich drückende Zustände vorhanden sind, deren Beseitigung wünschenswert ist, und daß es gewisse Einzelprobleme an der Peripherie dieser Fragen gibt, die wohl anders behandelt und anders gelöst werden können als bisher. Aber wenn man schließlich das Fazit zieht, so hat sich etwas höchst Einfaches ergeben, nämlich, daß niemand einen Mittelweg zwischen Ehe und freier Liebe hat aufweisen können, daß man also lediglich vor der Frage steht, ob man die eine will oder die andere. Tertium non datur. Jeder andere Weg ist unter Schwulst und Rosen verborgen. Weil dem aber so ist und kein, sei es auch noch so humaner, Konfusionsrat und keine liebenswürdige Konfusionsrätin daran etwas zu ändern vermag, bleibt nichts übrig, als in den Nöten an die Kräfte zu appellieren, die hier allein helfen können und neben denen es keine anderen gibt, nämlich an den sittlichen Geist und an die Erziehung zur sittlichen Selbstgesetzgebung wie für die Frauen, so für die Männer. Wer da behauptet — von untergeordneten Punkten abgesehen —, daß es hier noch andere Mittel gebe, der verführt das Volk zu dem schlimmsten Rückschritt und stellt zugleich den Grundpfeiler unserer Gesittung in Frage. Die Losung muß lauten: Durchführung der Monogamie (sie ist noch nicht durchgeführt) und Durchsetzung dieses fundamentalen Gutes in möglichst weiten Kreisen. Somit sind alle Anstrengungen zu machen, um dieses Gut, statt es immer mehr aus der Gesellschaft zurückzuziehen, immer tiefer und häufiger in sie hineinzubauen.
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Aber es sei an diesem Beispiel genug, um zu beweisen, daß das Christlich-Sittliche, wie es uns überliefert ist, und wie wir es nach unserem Verständnis auffassen müssen, noch immer im G-runde aller großen sozialen Fragen liegt. Auf diesem Fundament sollen alle zusammenstehen, denen das wahre Wohl des Vaterlandes am Herzen liegt, welcher Konfession oder Richtung sie auch angehören mögen. Wenn wir aber vom Vaterland sprechen, gedenken wir stets in Ehrfurcht und Treue auch derer, die an seiner Spitze stehen. Denn, wie uns die Geschichte das gelehrt hat, ist unser Deutsches Reich, sind unsere deutschen Staaten für immer aufs festeste mit ihren Herrschern, mit der Monarchie verknüpft. Wir gedenken des erhabenen königlichen Herrn, unter dessen Schutze wir hier tagen, und Sr. Majestät des Deutschen Kaisers, dessen starke Hand über dem ganzen Reiche waltet. Wir widmen den Herrschern beim Beginn unserer Tagung unseren ehrfurchtsvollen Gruß.
Der proletarische Charakter des Urchristentums. Offenes Antwortschreiben an Herrn Dr. Max Maurenbrecher. Sehr geehrter Herr Doktor! In Ihrem offenen Brief an mich („Hilfe" No. 25) knüpfen Sie an Referate an, die in den Tageszeitungen über zwei von mir in Posen gehaltene Vorlesungen erschienen sind. Erst durch Ihre Zeilen bin ich darauf aufmerksam geworden, daß diese Vorlesungen in der Presse Beachtung gefunden haben, doch tut das nichts zur Sache. Sie haben aus den Referaten entnommen, daß ich Ihren Versuch, die ältesten christlichen G-emeinden als eine Bewegung der Proletarier zu begreifen, „gänzlich mißlungen" genannt habe, und
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wehren sich nun gegen dieses Urteil, indem Sie Ihre Ansicht aufs neue zu begründen versuchen. Q-erne komme ich Ihrer Aufforderung entgegen, auch die meinige in Kürze Ihnen gegenüber zu rechtfertigen, sind wir doch durch langjährige Bemühungen um denselben hohen Gegenstand und durch alte gute Beziehungen miteinander verbunden. Die Frage, um die es sich handelt, zerfällt in "Wahrheit in drei Fragen, und es ist nötig, sie auseinanderzuhalten: 1. Waren die ältesten christlichen Gemeinden ganz wesentlich aus Proletariern zusammengesetzt? 2. Beabsichtigten die, welche sie ins Leben gerufen haben, eine proletarische Bewegung zu entzünden? 3. Entwickelten sich die christlichen Gemeinden — welches auch immer die Absichten ihrer Stifter gewesen sein mögen — als proletarische Gemeinwesen und Bewegungen? Beschränken möchte ich mich bei der Beantwortung dieser Fragen auf die heidenchristlichen Gemeinden, weil wir von den judenchristlichen zu wenig wissen. Die Berufung auf den Jakobusbrief muß ich an dieser Stelle ablehnen, da mir trotz aller Bereitschaft, der Tradition soweit möglich zu folgen, die Beziehung dieses Schreibens auf Palästina und auf die apostolische Zeit höchst zweifelhaft ist. Nicht unwahrscheinlich ist mir (mit Ihnen), daß der Name „Ebioniten" ursprünglich Gesamtbezeichnung für die palästinensischen Judenchristen gewesen ist; aber ich vermag aus dieser Tatsache nicht sofort den Schluß auf eine proletarische Bewegung zu ziehen; denn nicht alles, was sich unter den Armen abspielt, darf schon deshalb als proletarische Bewegung bezeichnet werden. Die Christen Palästinas können samt und sonders Arme gewesen sein, sie können die Gewißheit gehabt haben, daß alle Reichen zur Hölle fahren, und dennoch braucht ihr Christentum nicht die Züge einer proletarischen Bewegung getragen zu haben. Unleugbar ist endlich (nach Matthäus und namentlich nach Lukas) der starke Widerspruch zum Reichtum und gegen
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die Reichen als ein Charakteristikum der ältesten evangelischen Verkündigung. Er reicht auch bis in die Verkündigung Jesu selbst hinein und darf nicht aus ihr herausgebrochen werden; aber wenn ich von diesen Stellen aus Schlüsse ziehen soll auf die konkreten Verhältnisse in den judenchristlichen G-emeinden, auf wirklich soziale Tendenzen und auf die Stärke der Verbindung von Christentum und Armut innerhalb des religiösen Glaubens und der Ethik, so sehe ich mich von allen hier notwendigen geschichtlichen Zeugnissen verlassen. Bleiben wir also bei den heidenchristlichen G-emeinden, aus denen die große Kirche entstanden ist. Da lautet die erste Frage: "Waren die ältesten Gemeinden ganz wesentlich aus Proletariern zusammengesetzt? Direktes oder gar statistisches Material besitzen wir nicht; aber folgende beide Erwägungen sind meines Erachtens wohl geeignet, das Fehlende zu ersetzen: 1. In den Urkunden, die uns für die Charakteristik der Gemeinden zu Gebote stehen, spielen Hunger, Kummer, schwerer Lebensdruck und wirtschaftliche Not — abgesehen vom Jakobusbrief — keine Rolle. Man kann einwenden, der religiöse Idealismus des Apostels Paulus und der anderen Autoren überfliege die irdische Not; aber dieser Einwand ist hinfällig. Irdische Not, Hunger und Kummer greifen an die Seele und beeinflussen die Fähigkeit zu innerer Erhebung aufs stärkste. Es ist undenkbar, daß der Seelsorger Paulus sie unbeachtet gelassen haben soll, wenn sie die Signatur seiner Gemeinden bildeten. "Wir erfahren von Eltern und Kindern, Gatten, Herren und Sldaven, vom Putz der Frauen, vom Streben, reich werden zu wollen, vom Trachten nach "Weisheit, von gefährlichen Einflüssen der Philosophie, von ungeordnetem Wesen und Müßiggang, von Gastmahlen, von Prozessieren, von Verfolgungen durch die Landsleute usw., aber wir erfahren nichts oder fast nichts von jenem Elend, das für viele Menschen damals wie heute die Summe des Lebens, ja das Leben
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selbst war und ist! "Wie wäre das möglich, wenn diese Gemeinden fast ausschließlich aus den Allerärmsten zusammengesetzt waren? Und waren sie wirklich die Allerärmsten damals, so können sie nicht Axme in unsrem Sinne gewesen sein, weil es für sie nicht charakteristisch gewesen sein kann, daß die wirtschaftliche Not sie bis zur inneren und äußeren Vernichtung niedergedrückt hat. „Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, so lasset uns genügen"; diese müssen die meisten besessen haben, und sie zu erhalten, kann ihnen keine außergewöhnliche Mühe gemacht haben. 2. Die neutestamentlichen, an die G-emeinde gerichteten Briefe setzen, um sie zu verstehen, ein nicht geringes Maß von Bildung voraus. Waren die Gemeinden fast ausschließlich aus den Ärmsten, also auch Ungebildetsten zusammengesetzt, so ist ganz unerfindlich, wie sie solche Briefe haben fassen können. Ein so schlechter Pädagoge aber kann doch Paulus nicht gewesen sein, daß er an seine Gemeinden Schreiben gerichtet hat, die weit über das Maß ihres Verständnisses hinausgingen! Aus der Kombination der beiden Tatsachen, daß wirtschaftliche Not und Druck keine Rolle in den Briefen spielen, und daß diese Briefe ein beträchtliches Maß von Bildung (wenn auch keine gelehrte) voraussetzen, glaube ich schließen zu müssen, daß der kleine Mittelstand und die obere Schicht der Arbeiter und Sklaven — daß auch die Sklaven in sehr verschiedene Schichten zerfielen, steht fest — die Majorität in den Gemeinden gebildet haben. Die anderen tiefer Stehenden wurden mitgezogen und eben durch die christliche Bewegung aus der unteren Schicht nach oben gebracht. Die religiöse Bildung und der brüderliche Sinn waren hier die Hebel. Wer der christlichen Gemeinde beitrat, war damit dem Proletariat — das Wort im strengen Sinne genommen — entrückt. Das ist meines Erachtens der Sachverhalt. Von hier aus gesehen, ist es nicht von wesentlicher Bedeutung, festzustellen — selbst wenn wir es könnten! —, wieviel Freie und
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•wieviel Unfreie, wie viele Handwerker und wieviel ganz Arme in den Gemeinden waren. Die Signatur dieser Gemeinden war auch, schon in den Anfängen nicht die einer Genossenschaft von Miserablen, so gewiß die Zahl wohlsituierter Christen am Anfang eine geringe gewesen ist. Gewiß haben sie sich gegenüber den Mächtigen und Reichen in der Welt als die Armen gefühlt, und ich kann die "Worte, die Sie, hochgeehrter Herr Doktor, gebraucht haben, unterschreiben: „daß sie gerade aus ihrer Niedrigkeit in der "Welt die Hoffnung geschöpft haben, daß sie, mit ihren Augen betrachtet, die einzig wertvollen Bestandteile der gegenwärtigen Welt seien." Allein ich muß doch eine Einschränkung hinzufügen: diese Umbiegung der Stimmung in die entgegengesetzte Richtung, darf nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie an der „Armut" konstatiert werden. Kreuz, Leiden, Angst und Not hier auf Erden sind die Unterpfänder der zukünftigen Herrlichkeit. Zu ihnen gehört auch die Armut, in der sie indes nicht nur auf den zukünftigen Reichtum hofften, sondern in der sie auch schon jetzt das Bewußtsein hatten, viele reich zu machen. Die zweite Frage lautet: „Beabsichtigten die, welche die Gemeinden ins Leben gerufen haben, eine proletarische Bewegung zu entzünden?" Unter einer proletarischen Bewegung hat man eine solche zu verstehen, deren Ziel die Verbesserung der ökonomischen Lage ist, und die deshalb in einen Klassenkampf eintritt. Daß nun die Apostel und die urchristlichen Missionare eine solche beabsichtigt haben, ist ein schweres Mißverständnis. Sie selbst, hochgeehrter Herr, teilen dasselbe nicht, streifen es höchstens. Sie wissen ganz gut, daß alles lediglich der Rettung der Seelen galt und dem Anteile an dem himmlischen Reich, welches demnächst sich offenbaren sollte. Außerordentliche und höchst segensreiche soziale Folgen ergaben sich aus diesem Wirken, obgleich es nur das Jenseitige und Ewige wollte, und ein Hegelianer könnte von „der List der Idee" sprechen, die
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auf dem Umwege des Jenseitsgedankens die Klassenunterschiede zu zerbrechen beginnt, einen Bruderbund stiftet, die Idee der Menschheit in kräftiger Form zu verwirklichen unternimmt, die Nationen neutralisiert, den Götzen „Staat" stürzt und eine neue soziale Sittlichkeit begründet. Aber das alles stellte sich — soweit es überhaupt zu verspüren ist — als eine selbstverständliche Konsequenz ein, nicht als ein selbständiges Ideal. Für die Verbesserung der sozialen Lage an sich hat kein Apostel, auch kein Missionar auch nur einen Finger gerührt; aber sie verbesserten sie in den kleinen Kreisen, die sie schufen, f a k t i s c h , weil sie in der Beziehung auf die Gottheit und das Ewige die Liebe als die stärkste Kraft und als das Band der Vollkommenheit schätzten und sie entzündeten. Die Ratschläge und Mahnungen, die sie dann im einzelnen gaben, sind nichts weniger als enthusiastisch und aufregend. Sie halten sich auf der Linie der Pflege der gegebenen Verhältnisse, ja man könnte sie geradezu „bürgerliche" nennen, stünde hinter ihnen nicht jener Ernst und jene Unabdinglichkeit der sittlichen Forderung, d. h. die Gottesfurcht, die sie auf die höchste Stufe erhebt. Daß das Evangelium über allen irdischen Gegensätzen und Nöten steht, also auch nicht dazu da ist, sie zu heben, haben die ältesten Missionare noch so gut gewußt wie Jesus Christus selbst, freilich — so wie er, verstanden sie es nicht, Gottes- und Nächstenliebe in eins zu flechten. Die d r i t t e Frage endlich lautete: „Entwickelten sich die christlichen Gemeinden — welches auch immer die Absichten ihrer Stifter gewesen sein mögen — als proletarische Gemeinwesen und Bewegungen?" Auch diese Frage ist rund zu verneinen, da selbst die kleinen kommunistischen Seitenerscheinungen in der Geschichte der ältesten Kirche keine proletarischen Züge tragen (soweit wir sie kennen), und da die wenigen Fälle von Vermögensverschleuderung und freiwilliger Armut ganzer Gemeinden, von denen wir hören, ihren Grund in vorübergehenden, ganz besonderen
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Verhältnissen hatten und mit proletarisch-sozialen Entschließungen nichts zu tun haben. Wie eine Gemeinde sich im Laufe der ersten 80 Jahre innerlich entwickelt hat, das können wir an der römischen studieren, weil wir für sie den Brief des Paulus, des Clemens, des Ignatius und das apokalyptische Moralbuch des Hermas besitzen. Hier findet sich nun in der Entwicklung schlechterdings kein einziger Zug, der als proletarisch bezeichnet werden könnte. Die Armut und der aus Armen sich zusammensetzende Teil der Gemeinde ist noch immer unverkennbar, aber die Gemeinde als Gemeinde erweckt nach Clemens und Ignatius den Eindruck einer Genossenschaft, die nicht unzutreffender bezeichnet werden kann als mit dem Ausdruck: „Proletarierverein". Ja das Schriftwerk des Hermas — vielleicht das, auf die Bildung seines Verfassers gesehen, einfältigste Buch, welches wir aus der ältesten Kirche besitzen — lehrt uns, daß bereits schon die Kleinbürgerei, der Hermas angehört, nur noch durch das Mittel der Prophetie sich als maßgebender Faktor zu halten vermag gegenüber den aufstrebenden Mächten einer kirchlichen Beamtenaristokratie, die die Gemeinden leitet und bestimmt. Ebenderselbe Hermas aber, der in bezug auf die Verwerflichkeit des Besitzes auf Erden noch die strengsten Töne anschlägt, gibt sich doch anderseits mit dem Nebeneinander von Reichtum und Armut in den Gemeinden völlig zufrieden, so daß sich jene strengen Töne, wenn man näher zusieht, in eine Admonition an die Reichen, möglichst mildtätig zu sein, auflösen. Aber ist es in der Heidenkirche je anders gewesen? Ich vermag nach dem hier kurz Ausgeführten den proletarischen Charakter des Urchristentums nicht zuzugeben, wenn diese Bezeichnung mehr besagen will, als daß am Anfang die christlichen Gemeinden größtenteils aus armen bzw. wenig bemittelten Leuten bestanden haben, und wenn man von den judenchristlichen Gemeinden absieht, über die ein Urteil zu gewinnen ebenso schwierig ist wie über die
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Trage, welche Schlüsse wir aus Matthäus und Lukas hier ziehen dürfen. Der Gegensatz zwischen uns ist übrigens an diesem Punkte kein radikaler, und Sie selbst schränken ihn dadurch bedeutend ein, daß Sie den religiösen Charakter des Urchristentums, wie er sich über die irdischen Gegensätze erhebt, nicht unbeachtet gelassen haben. Viel größer ist der Gegensatz dort, wo Sie den Anfängen des Christuskultus nachgehen und den sterbenden und auferstehenden Gott der Antike in die Geschichte der christlichen Religion bereits an einem Punkte einführen, wo er schlechterdings noch nicht hingehört. Hier aber gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Ihre fortgesetzten eindringenden Studien, durch die Sie sich bereits von vielen Vorurteilen der herrschenden Kritik aufs glücklichste befreit haben, Sie auch zu der Erkenntnis führen werden, daß die u r s p r ü n g l i c h e Schätzung Jesu als des Messias und der Glaube, daß er auch nach dem Tode Herr und Regierer sei, mit Adonis, Osiris usw. gar nichts zu tun hat, sondern allein auf dem Eindrucke steht, den er bei seinen persönlichen Jüngern erweckt hat. Mit bestem Gruß Ihr ergebener Berlin. Adolf Harnack.
Kann das deutsche Volk gerettet werden ? Die Erneuerung der Arbeitsfähigkeit und öffentlichen Sittlichkeit. (1925)
Das Osterfest mit seiner Botschaft vom Sterben und Auferstehen fordert nicht nur den Einzelnen, sondern auch das ganze Volk auf, in sich zu gehen und sich zu fragen, ob es sich auf dem Wege zum Tode oder zur Auferstehung und zum Leben bewegt. Wer diese Frage heute in bezug auf das deutsche Volk stellt und sorgfältig Umschau hält, dessen Herz muß sich mit Sorgen füllen; denn unverkennbar — fast jedes Zeitungsblatt lehrt es ihn — ist das Bild der öffentlichen Sittlichkeit durch schwerste Schatten belastet und getrübt. Die Kriminalität, und zwar die der schlimmsten Fälle, hat sich in erschreckender Weise gesteigert; Vergehen und Verbrechen unter den Jugendlichen haben um sich gegriffen; in Handel und Wandel haben sich Zustände offenbart, die eine tiefe Erschütterung von Treu und Glauben erkennen lassen — selbst der mit Recht so hoch geschätzte deutsche Beamtenstand ist von dieser Erschütterung nicht freigeblieben — und das skrupellose Jagen nach Gewinn scheint das öffentliche Leben zu beherrschen. Dazu kommt eine Laxheit auf dem geschlechtlichen Gebiet, die in früheren Zeiten in Deutschland unerhört gewesen ist; sie dringt bereits in Kreise ein, die bisher durch die Autorität der bürgerlichen Sitte vor ihr geschützt waren, und hat alle Schichten der Bevölkerung infiziert. Genährt
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wird sie durch die öffentlichen Lustbarkeiten verschiedenster Art, von gewissen Theatern angefangen, die durch ihre Darbietungen darauf bedacht sind, den Eros niedrigster Art zu steigern. An dem offenkundigen und immer noch zunehmenden Geburtenrückgang, vor allem in den Großstädten, läßt sich, wie an einem Thermometer, der Tiefstand der sexuellen Sittlichkeit ablesen. Hier gilt es, nicht zu beschönigen, ja, jeder versündigt sich am Volke und an der Heilung seiner Schäden, der diesen traurigen Tatbestand vertuschen oder verkleinern wollte. Wohl aber darf und muß die Frage aufgeworfen werden, ob die Ursachen hier chronischer und daher unheilbarer Natur sind, oder ob sie eine akute und heilbare Krankheit bedeuten; und auch die andere Frage muß gestellt werden, ob sich nicht bereits Kräfte im Volke regen, die einen sittlichen Aufstieg und eine Auferstehung doch erhoffen lassen. Wenn die Pessimisten unter uns recht behalten, so ist freilich nichts zu hoffen. Gestützt auf ein Werk wie das von S p e n g l e r , „Der Untergang des Abendlandes", dessen Ausführungen sie teils vergröbern, teils mißverstehen, behaupten sie, die Auflösung der Sittlichkeit sei eine Teilerscheinung innerhalb des unaufhaltsamen Zerfalles der abendländischen Kultur, die, nachdem sie ihre Kräfte, Autoritäten und Ziele verloren habe, notwendig dem Untergang entgegeneile. Demgegenüber muß aber mit aller Entschiedenheit behauptet werden, daß die geschichtliche Forschung und der Überblick über die Zustände der Gegenwart niemals imstande waren und auch heute nicht imstande sind, die zukünftige Entwicklung auch nur mit Wahrscheinlichkeit, geschweige mit Sicherheit vorauszusagen. Wer hätte nicht nach Cäsars Tod prophezeit, daß nunmehr das Römerreich dem Chaos verfallen müsse, und doch erlebte es nicht nur die Regierung des Augustus, sondern auch noch weiter Zeiten unter Trajan und seinen Nachfolgern, die M o m m s e n zu den glücklichsten der
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Geschichte rechnet! Wer hat den Aufschwung voraussagen können, den Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg, sei es auch in langsamem Aufstieg, erlebt hat? Wer konnte prophezeien, daß aus dem lichten Nebel der deutschen Aufklärung die großen Sterne des deutschen Idealismus hervorgehen würden? Wer konnte beim Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ahnen, daß der abendländisch-katholischen Kirche im kommenden Jahrhundert eine Stärkung und ein Aufschwung beschieden sein werde, wie sie ihn seit den Tagen Gregors und Innocenz' nicht erlebt hat? Wer endlich — wenn Kultur das Leben und entwurzelte Zivilisation den Tod bedeuten soll — vermag denn wirklich zwischen beiden scharf zu scheiden, und wer kann leugnen, daß auch die Zivilisation sich wieder vertiefen und neue Wurzeln treiben kann? Also soll man die Propheten verabschieden, dafür aber ernstlich untersuchen, welche Ursachen den Krankheitserscheinungen des deutschen Volkes zugrunde liegen. Hier aber kann meines Erachtens kein Zweifel bestehen, daß die drei gewaltigen und niederschmetternden Schicksalsschläge, die das deutsche Volk in kürzester Aufeinanderfolge betroffen haben, die Hauptschuld an seinen gegenwärtigen Zuständen tragen: der lange, mit der Niederlage endende Krieg, der plötzliche Zusammenbruch des alten Staates und seiner Autoritäten und die Epoche der Inflation. Jede dieser Ursachen allein und für sich mußte bereits die Seele des Volkes und seine sittliche und wirtschaftliche Zuständlichkeit aufs tiefste erschüttern; zusammenwirkend aber bedeuten sie eine bisher in der Geschichte noch niemals erlebte Lähmung aller inneren und äußeren Kräfte. Der Krieg — ein kurzer Krieg, für das ganze Volk geführt und zum Siege gebracht, hat in einzelnen Fällen das Volk erhoben und mit neuen Kräften erfüllt; aber ein Krieg der Weltvölker, wie wir ihn erlebt haben, jahrelang fortgesetzt, kann weder dem Besiegten noch auch dem Sieger Gutes bringen; er ist und bleibt vielmehr ein furchtbares,
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alle Verhältnisse zersetzendes Unglück, und seine Folgen sind ebenso verheerend für den wirtschaftlichen Körper der Nation, wie für ihre Seele. W e r heute noch von den erhebenden Folgen der Kriege zu reden wagt, ist entweder ein Verbrecher oder ein Narr. Der Zusammenbruch des Staates und seiner Autoritäten — man mag sich zur Monarchie oder zur Republik bekennen, so bedeuteten die Tatsachen des plötzlichen Zusammensturzes des Staates und der aus ihm folgenden Nötigung, in kürzester Frist ein ganz neues Staatswesen aufzubauen, die schwerste Schädigung der konservativen Kräfte, welche Kultur und öffentliche Sittlichkeit schützen. Ein großer Teil der Ideale des Volkes liegt in seiner Geschichte und in seinem Staatswesen verankert; daher müssen sie notwendig bei einem plötzlichen Umsturz Schaden erleiden, selbst wenn ein tragfähiger Neubau begonnen wird. Wieviel Treu und Glauben wird zerstört, wieviel patriotische Begeisterung entweiht, wieviel freudige Unterordnung und Dienstleistung wird sozusagen herrenlos und schlägt in Verbitterung und Unbotmäßigkeit uml Kultur und Zivilisation sind überall und zu allen Zeiten mit den knappsten Mitteln gebaut und vertragen daher keine gewaltsame Änderung ihrer staatlichen Grundlagen. Eine anarchische Stimmung droht sich der Gemüter zu bemächtigen, und nicht nur bei den Anarchisten! Die Epoche der Inflation — sie verschärfte die Krisis bis fast zum Bankerott, und nicht nur zum wirtschaftlichen Bankerott, brachte Hunderttausende von solchen Bürgern, auf deren Existenz vornehmlich die Ordnung des Staates beruht, an den Bettelstab, zerstörte alle wirtschaftliche Disposition und jede Voraussicht, und verschob das reduzierte Volksvermögen aufs ungerechteste. Wahrlich, faßt man diese drei ungeheuren Kalamitäten, den langen, verlorenen Krieg, die plötzliche Staatsumwälzung und die Inflation, zusammen, so kann man sich nicht wundern, daß Leib und Seele des Volkes von schweren Fieberschauern ergriffen worden sind, die sich in einem wilden Egoismus,
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in schlimmer Gewinnsucht und in Unbotmäßigkeit gegenüber der Majestät des Gesetzes und der guten Sitten äußern. Den Fieberschauern folgt aber zwangsläufig der Taumel: die Menschen stürzen sich in Betäubungen aller Art und in wilde Vergnügungen, um über Enttäuschungen und Leiden hinwegzukommen. Sind diese Beobachtungen zutreffend, dann ist der Krankheitszustand, so schlimm er ist, nicht hoffnungslos; denn es ist zu erwarten, daß er sich bessern wird, wenn die schweren akuten Ursachen ihre Kraft vermindert oder verloren haben, und wenn neue Motive des Guten hervortreten. Daß dem aber wirklich so ist, und daß wir Grund haben, trotz der bestehenden Ubelstände auf einen Aufstieg zu hoffen, ja, daß er schon begonnen hat, werden die folgenden Tatsachen lehren: Erstlich, das deutsche Volk, dieses fleißigste Volk der Welt, hat niemals aufgehört, zu arbeiten; es arbeitet in der Gegenwart aber mit doppelter Anstrengung und würde seine Arbeitsleistung noch steigern, wenn seine körperliche Gesundheit besser wäre, und wenn es reichlichere und offenere Absatzgebiete fände. Für die geistigen Arbeiter, die Studenten, vermag ich den gesteigerten Fleiß aus eigener Erfahrung zu bezeugen, und für die Handarbeiter wird es mir von vielen Seiten versichert. Hingebende Arbeit aber ist die Brunnenstube aller bürgerlichen Tugenden, schafft einen Chor von solchen und überwindet die Anläufe der schlimmen Mächte. Auch heute darf man wieder sagen: Kommt und beobachtet das deutsche Volk bei seiner Arbeit und bildet euch dann ein Urteil über seine Gesundung und über das, was es vermagI Zweitens, in den schlimmsten Zeiten, die über uns gekommen sind, haben wir doch zwei Tatsachen von größter sozialer und innerpolitischer Bedeutung erlebt — die positive Mitarbeit der sozialdemokratischen Partei am Wiederaufbau des Staates und die Wiederherstellung unserer Währung. Das Gewicht dieser beiden Tatsachen kann nicht
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leicht überschätzt werden 1 Die Arbeiterpartei, die Jahrzehnte hindurch eine Partei radikaler Negation gewesen ist, hat ihren linken Flügel energisch abgestoßen, sich in den Dienst der vaterländischen Aufgaben gestellt und arbeitet mit bürgerlichen Parteien zusammen. Das ist ein Ereignis ersten Ranges in der inneren deutschen Geschichte, und von den bürgerlichen Parteien hängt es nun ganz wesentlich ab, ob sie seine Bedeutung anerkennen und dauernd danach handeln oder ob sie in Verblendung die ausgestreckte Hand nachträglich doch zurückweisen wollen, was notwendig zur Katastrophe führen müßte. Aber auch die Wiederherstellung unserer Währung war ein Ereignis der Kraft und die gewaltigste Opferleistung im Dienst des Vaterlandes; denn daß die materiell aufs tiefste geschädigten Bürger den Verlust ihres Vermögens ruhig hingenommen haben, damit der Staat wieder gesunde, ist ein leuchtendes Zeugnis für ihre Einsicht und ihren Patriotismus. Hier wie dort haben sich also aus der Tiefe des Volkes Kräfte geoffenbart, die da zeigen, daß dieses Volk stärker ist als sein Schicksal und noch die Fähigkeit besitzt, aus dem Dunkel ins Helle zu schreiten und aus dem Tode zum Leben. Aber, wendet man ein, das hat sich zwangsläufig so gestaltet und ist kein Verdienst und kein Symptom einer Genesung. Ich bestreite das durchaus. Solche Umschwünge sind ohne sittliche und patriotische Anspannung weder zu leisten noch in Kraft zu erhalten. Dieses Urteil wird aber noch bekräftigt und unterstützt durch einen Blick auf die Symptome eines Wandels der Weltanschauung, der sich unverkennbar zurzeit im deutschen Volke vollzieht. Schon vor dem Weltkriege ließ sich eine Abkehr von der materialistischen Weltanschauung bemerken. Die Wissenschaft selbst war es, die sich ihrer Grenzen bewußt wurde. Nicht als ob sie die Prinzipien und Methoden ihrer Forschung geändert hätte — man kann exakte Wissenschaft nur auf e i n e Weise treiben, und die im Laufe des neun-
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8. Kann das deutsche Volk gerettet werden? (1925)
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zehnten Jahrhunderts errungene wird niemals wieder aufgegeben und immer energischer an jedes Objekt herangebracht werden; wohl aber erkannte sie in steigendem Maße, daß man mit der exakten Wissenschaft, das heißt mit Zahl, Maß und Gewicht sowie mit dem kausalen Entwicklungsschema nur e i n e Seite des Wirklichen zu erfassen vermöge. Gilt das schon von dem naturhaft Wirklichen — Pferd ist nicht gleich Pferdekraft, und mit dem Schema einer stetigen Entwicklung kommt man nicht mehr aus — so gilt das erst recht von dem human Wirklichen, das heißt von der Geschichte. Die Welt der Werte, um die es sich hier handelt, ist die eigentliche Umwelt des Menschen, und wenn ihr gegenüber die exakte Wissenschaft versagt, so stellt sich hier die nicht minder bedeutende Aufgabe ein, diese Welt der Werte zu erfassen, abzustufen und vor Verkennung und Mißachtung zu schützen, um sich an ihr zu erheben. Diese Entwicklung der Weltanschauung, vor dem Weltkrieg begonnen, hat in Deutschland in den letzten Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen, ja das Streben, dem „Leben" näher zu kommen und zu einer erhebenden Zusammenschau alles Wirklichen zu gelangen, ist so mächtig geworden, daß zurzeit der Drang nach „Leben" den Drang nach „Wahrheit" zurückzudrängen droht. Unterstützt aber wird dieses Streben durch den neuen starken Zug zur Religion. Mitten in all den Gebrechen und Kalamitäten des sittlichen Lebens ist er aufgetaucht. Er erscheint in den verschiedensten Vermummungen als Theosophie, Anthroposophie, „christliche Wissenschaft", Astrologie usw.; aber er erscheint auch als schlichte Rückkehr zur überlieferten Religion, als ein ehrfürchtiges Wiederherantreten zu dem Erbgut der Kirchen, als eine neue Bereitschaft, es mit ihm zu versuchen, und als eine ernste, zu Opfern bereite Gesinnung. Wer die heute in Deutschland erscheinende Literatur in ihrer ganzen Breite überschaut, der muß erkennen, wie viel ernstes Streben und
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wie viel redliches und nicht erfolgloses Suchen nach hohen Dingen sich in ihr ausspricht. Es werden wirklich neue Tiefen entdeckt, in denen man Wurzeln schlagen will, und die alten Ziele erscheinen in neuer Offenbarung. Wer aber die große und mannigfaltige Erscheinung der deutschen Jugendbewegung würdigt, dem muß es bei allen Enttäuschungen, die hier und dort erlebt worden sind, aufgehen, daß hier ein neuer Geist waltet, und daß das „Sich-ausleben-Wollen" zurückgedrängt wird durch ein ernstes neues Lebensgefühl, durch Ehrfurcht vor den Mächten, die dem Leben Halt und Kraft geben, und durch das Ringen um eine Weltanschauung des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Deshalb vermag ich den Pessimisten nicht recht zu geben, schaue vielmehr hinaus auf eine Zeit, in der die Krankheit, die das deutsche Volk befallen hat, in ihren schwersten Folgen überwunden, und in Weltanschauung und Leben eine neue und höhere Form des Daseins gewonnen sein wird. Aber der stärksten Anspannung bedarf es, sonst ist alles verloren. Möge unsere Jugend auf dem rechten Wege bleiben und die Kraft im Guten bei sich stärken, und mögen die Alten, statt zu schelten und zu klagen, ihr beistehen, so gut sie es vermögen 1
Rückblick auf den EvangelischiSozialen Kongreß. (1927) Ich gehöre zu den ganz wenigen Stiftern des EvangelischSozialen Kongresses, die noch leben. Einer Mahnung des Apostel Paulus folgend, möchte ich an mich selbst und an Sie die Aufforderung richten: Beginnen wir bei der Rückschau damit, daß wir d a n k e n . In der Tat, wenn ich die 37 Jahre zurückschaue, wie es 1890 war, und wie es heute ist, so haben wir durchaus, sowohl als Kongreß wie als Deutsche, Grund zu danken. Wenn ich Ihnen die Anfänge erzählen wollte, wie die geistige Situation von 1874 bis und über 1890 hinaus gewesen ist, so könnte ich nicht aufhören, Ihnen charakteristische Züge zu nennen. Als ich einmal von Lübeck nach Berlin zurückfuhr, saß ich, es war 1877, mit einem recht netten Herrn in einem Abteil. Wir unterhielten uns ausgezeichnet. Zuletzt stellte ich mich vor: Ich bin Professor der Theologie in Leipzig. Sofort fuhren ihm die Worte heraus: Was, Sie gehören zu dieser Unglücksbande? Das war damals die Schätzung der Theologie. Als der Kongreß gestiftet wurde, nahmen hervorragende Kollegen meiner Fakultät mich beiseite und sagten: Hören Sie, bleiben Sie da nicht dabei, das ist Sozialdemokratie. Sozialdemokratie war damals ungefähr so viel wie: das ist der Teufel. Ich denke ferner daran, wie das Schlagwort ausgegeben wurde: „Christlich-Sozial ist Unsinn", und wie die Kirche, die Regierungen und der Staat sich zu ihm stellten. Das waren Zustände, die nicht nur die jüngere,
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sondern zum Teil auch die mittlere Generation nicht kennt, weil sie sie nicht erlebt hat. Wir haben in der großen Aufgabe, der wir dienen, in den 37 Jahren einen bedeutenden Fortschritt gemacht, und wir wären undankbare Leute, wenn wir das nicht anerkennen wollten. Selbstverständlicherweise fühlen wir uns trotzdem heute durch die herrschenden Zustände noch mehr bedrückt als im Jahre 1890, aber dies deshalb, weil mit der wachsenden Befriedigung von Nöten und Bedürfnissen die Bedürfnisse sich steigern und von Rechts wegen sich steigern sollen. Das wissen wir in der Wissenschaft auch: Wenn man ein Problem gelöst hat, kommen dafür drei andere Probleme, und für jede Lösung bekommt man neue Aufgaben, und für jede Gewissensbefriedigung bekommt man eine neue Verfeinerung, d. h. Anklage des Gewissens. Die dankbare Anerkennung also der Fortschritte auf dem sozialen Gebiete steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß wir die sozialen Notstände noch tiefer empfinden als vor dreißig bis vierzig Jahren. Ich will noch von einer anderen Seite her anerkennen, was wir erreicht haben. Ein Hauptpunkt der ganzen sozialen Frage, darin sind wir alle einig, ist die richtig verstandene G l e i c h h e i t . Richtig verstanden heißt hier: Nimm jeden Menschen als Menschen, als deinen Nächsten. Was es hier zu überwinden gilt, ist der K a s t e n g e i s t , der stärkste Feind der Volksgemeinschaft, der Kastengeist im Verkehr von Mensch zu Mensch, der kein Vertrauen aufkommen läßt. In dieser Hinsicht haben wir aber in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Es gibt eine Reihe von Verbänden — ich brauche sie nicht zu nennen — und von Tagungen, in denen die Vertreter der verschiedenen Klassen zusammenstehen und zusammenwirken, und überhaupt ist Art und Ton des Verkehrs menschlicher geworden. Freilich fehlt noch viel, um den Kastengeist völlig auszutreiben — andere Kulturnationen sind in dieser Hinsicht fortgeschrittener als wir — aber wir wären doch undankbar,
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8. Rückblick auf den Evangelisch-Sozialen Kongreß (1927)
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wenn wir nicht anerkennen wollten, daß es besser bei uns geworden ist. Und weiter: man spricht von d e m großen Zusammenbruch, den wir erlebt haben. Das ist nicht wahr. Wir haben Zusammenbrüche schwerster Art erlebt, aber unser deutsches Volk ist n i c h t zusammengebrochen. Ich kann auch nicht zugeben, obwohl ich hier nur beschränkte Kenntnisse habe, daß die Verzweiflung bei denen, die da auf der Schattenseite des Lebens stehen, heute größer ist als im Jahre 1890. Je weniger sich bei dem großen Umschwung der Dinge die wirtschaftliche Lage der besitzlosen Klassen geändert (ζ. T. sogar verschlimmert) hat, und je bitterer ihre Hoffnungen enttäuscht worden sind, um so mehr bewundere ich ihre ausharrende Geduld, die nicht zusammengebrochen, und ihre Arbeitskraft, die nicht geschwunden ist. Gott und unserem Volke sollen wir dafür Dank sagen. Noch eine Frage, die hierher gehört: Sind die Gegensätze unter den verschiedenen Menschen so groß? Ein vertrauter Freund von mir, der alte Kirchenvater Augustin, hat einmal gesagt: „Was wollt ihr denn? Die Menschen wollen ja alle dasselbe, sie wollen das G u t e . Jeder Mensch, zu welcher Klasse er gehört, oder was er sein mag, will eine gute Frau, und die Frau einen guten Mann, und sie wollen gute, gehorsame Kinder, gute Obrigkeit, gute Wirtschaft, gutes Recht, gute Freunde; alle Menschen wollen überall das Gute. Sie scheiden sich nur an einem einzigen Punkte: Die einen wollen auch selbst gut sein und halten das für eine Verpflichtung, und die anderen halten das für unnötig." Augustin hat recht. Wir sind alle eingestellt auf das Gute. Nur an e i n e m Punkte ist der große Sündenfall geschehen, nämlich an dem Punkte, o b w i r a u c h s e l b s t g u t s e i n w o l l e n . Alles Unheil in der Welt, aller Streit, alle Ungerechtigkeit, alle Sünde und das ganze Problem dessen, was wir Gemeinschaft, Friede und Erziehung nennen, hängt lediglich an dem einen Punkt. Wird es hier immer schlim-
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mer? Wer nur die Zeitungen liest mit ihren Mitteilungen der täglichen Verbrechen, muß zu dieser Meinung kommen, und viele andere Beobachtungen müssen ihn in ihr bestärken; aber wer tiefer in die Erscheinungen des uns umgebenden Lebens blickt, sieht Gutes und Hoffnungsvolles an Stellen aufwachsen, die früher unfruchtbar waren. Aber was soll man den Menschen sagen, wenn sie sprechen: Ja, ich empfinde auch, ich sollte gut sein, ich sollte an allem Guten teilnehmen, aber ich finde keine Kraft in mir, und ich sehe nicht, wo für mich der Weg dahin beginnt. Darüber hat der Apostel Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes geschrieben und hat auf die Liebe gedeutet. Aber kann man sich die Liebe selbst kommandieren? Das ist es ja gerade, daß wir uns als liebeleer empfinden. Was soll man also einem Menschen sagen, der bekennt: „Ich erkenne den Wert der christlichen Forderung, frei zu werden vom Dienst des vergänglichen Wesens und Liebe zu üben, an, aber ich kann nicht"? Man hat in diesem Fall ein einziges Wort zu sagen: Nun, dann sei deinem Nächsten und deiner Arbeit gegenüber ein t r e u e r Mensch. Wenn sonst alles in dir versagt, so halte die Treue gegenüber den Menschen, in deren Mitte du stehst, und die Treue in deinem Beruf. Ich weiß nicht, warum wir noch nicht in unsrer Literatur ein hohes Lied von der Treue haben. Denn es gibt keine Tugend, mit der man einen so guten Anfang machen kann wie mit dieser, und es gibt keine Tugend, die so weit reicht wie sie. Selbst die Verbrecher schätzen die Treue in ihrer Mitte. Und es gibt keine andere Tugend, die so bescheiden mit dem Einfachsten beginnt, mit der gemeinen Pflicht des Tages, und allmählich so weit und hoch hinaufsteigt, hinaufsteigt bis zur Liebe, ja aus der Zeit bis zur Ewigkeit. Denn wer treu ist, er mag es wissen oder nicht, erkennt etwas über sich an und ist gebunden an etwas, dem er dient. Dies aber ist etwas ganz Entscheidendes; denn an ihm wird diejenige Erfahrung gemacht, die die Erfahrung aller Erfahrungen ist, daß man nämlich nicht mehr für sich selbst der Mittel-
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8. Rückblick auf den Evangelisch-Sozialen Kongreß (1927)
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punkt ist, um den man ausschließlich kreist. Und auch alle soziale Arbeit hat letztlich ihren Ausgangspunkt, ihren herrlichen, weil so einfachen Ausgangspunkt, und ihre große, weil über das eigene kleine Leben und den eigenen kleinen Berufskreis hinüber in das Dauernde und Ewige greifende Kraft an der Treue. Und aus dieser Treue am Werk und Beruf, aus dieser Treue in den einfachen täglichen Beziehungen des Lebens erwächst ganz sicherlich die abschließende Treue gegen sich selbst, auf daß wir nicht mehr stückweise der Welt verfallen, sondern den Gottesgedanken in uns verwirklicht sehen. Wir wissen es alle, jeder von uns schwankt zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild. Der Weg, der uns sicherlich zu unserem Urbild führt, wie uns der Schöpfer wollte, beginnt mit der Treue. Mögen wir es erleben, daß die Treue hinüberführt zur Liebe; denn sie adelt jedes Ding und jede Person, der man treu ist, und adelt uns selbst.
IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
Deutschland und England. Europa hat in Frieden Ostern gefeiert — das war nach langer Spannung die erfreulichste Tatsache der Gegenwart. Keine Großmacht hat den Krieg gewollt; aber f ü r jede konnte die Situation stärker weiden als ihr guter Wille, wenn sie nicht eben diesen guten Willen energisch anspannte. Das haben die beiden Westmächte ebenso getan, wie Österreich und Deutschland. Man sagt, die letzteren beiden hätten einen großen unblutigen Sieg errungen; allein in Wahrheit gibt es hier weder Sieger noch Besiegte; denn die schwierigen und dornenvollen Aufgaben Österreichs gegenüber Serbien einerseits und Bosnien andererseits, ja
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auch gegenüber Europa beginnen nun erst, während England und Frankreich in der Stunde der Versuchung schließlich einen so deutlichen Beweis ihrer ehrlichen Friedensliebe gegeben haben, daß die Zuversicht Europas zu ihrer moralischen Kraft außerordentlich gewachsen ist. Das muß fortwirken und wird die Beziehungen dieser Großmächte zu Deutschland und Osterreich aufs günstigste beeinflussen, auch wenn neue Situationen eintreten. Den Angelpunkt für die zukünftige Gestaltung der Dinge bildet fort und fort das Verhältnis von Deutschland und England. "Was sich da entwickelt und gestaltet hat, mußte so kommen, und auch der größte Staatsmann konnte und kann daran nichts ändern. Aber es ist nicht wahr, daß die Rivalität der beiden Völker schließlich notwendig zum Kriege führen müsse. Es gibt noch einen anderen Ausweg, und beide Nationen befinden sich bereits auf diesem "Wege: die eigene Kraft auf jedem Gebiete zu stärken und sich dadurch dem Rivalen einerseits stets gewachsen zu zeigen und sich andererseits ihm unentbehrlich zu machen. Das letztere ist das wahre Geheimnis des Friedens, und es wird über alle konträren Mächte triumphieren. Freilich gehört dazu Geduld, Umsicht und Reife; denn es wird in dem Leben der Nationen nicht anders sein als im Leben des Einzelnen. Kommt man erst über die Stürme und Krisen der Entwicklungsjähre glücklich hinweg, so reichen sich die Männer, die Rivalitäten ihrer Jugendzeit vergessend, die Hand und arbeiten zusammen. Jung aber sind alle Nationen gegenüber den ungeheuren neuen Aufgaben, die sie zu lösen haben, und sie verfügen auch, wenn sie nur wollen, hinreichend über frische Kräfte; denn das Gerede von alternden Völkern ist eitel Täuscherei. Gewisse Volksschichten altern, aber frisches Blut strömt immer nach. Sich dem Rivalen unentbehrlich zu machen, wirtschaftlich und kulturell — darin besteht das Geheimnis des Friedens unter zivilisierten Nationen, und ich denke, daß es nicht
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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zwei Völker in Europa gibt, die es so leicht haben, dieses Programm zu erfüllen, als Deutschland und England. Durch Bande des Blutes und durch ihren geistigen Besitz stehen sie sich so nahe wie möglich, und es ist die dankbarste Aufgabe, daran zu erinnern, was sie einander geleistet haben. Aber es wäre überflüssig und unmöglich zugleich, ein collegium historicum zu lesen und alle die großen Männer dort und hier aufzuzählen, die seit den Jahren, da der Angelsachse den Boden Britanniens betrat, und seit den Tagen der iroschottischen Missionäre und des Bonifazius unsere gemeinsame Kultur begründet und ausgestaltet haben. Es ist fast wie in einer Ehe; es ist nicht auszurechnen, was wir einander auf dem geistigen Gebiet und in steigendem Maße auf dem wirtschaftlichen schuldig sind; jede Aufzählung würde den Tatbestand nur verkleinern! Und dieses Verhältnis ist im letzten Jahrhundert wahrlich nicht lockerer geworden, sondern unsere gegenseitigen Verpflichtungen auf dem Grunde gegenseitiger Leistungen sind gewachsen. Das gilt für nahezu alle Zweige des Lebens, aber besonders für die Literatur, für die Wissenschaft und auch für die Technik. Literatur und Wissenschaft haben diesen beiden Völkern im Geben und Nehmen ein gemeinsames geistiges Dasein geschaffen, und die Wissenschaft ist ein Band des Friedens — wer wollte an diesen beiden Tatsachen zweifeln? Allein es wäre doch sehr gefährlich, wenn wir uns dabei beruhigten und nun die Hände in den Schoß legten. Wie in den Einzelnen, so sind auch in den Völkern unbändige Gewalten; sie werden nur durch die Anspannung sittlicher Kräfte überwunden. Und darüber hinaus — jede Eigenart, die sich schrankenlos geltend macht und ihre Ansprüche nicht durch gemeinnützige Leistungen und durch innere Reife erträglich macht, wird eine schwere Gefahr für das Zusammenleben. Das gilt für alle Epochen; es gilt aber besonders für unsere Zeit, in der sich durch den erleichterten
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1. Deutschland und England. (1909)
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und gesteigerten Verkehr alle Nationen räumlich soviel näher gekommen sind. Eine neue Art des geistigen Verkehrs auf allen Linien, ja ich möchte sagen, eine neue politische Ethik ist uns nötig. Sie gestaltet sich jetzt, sie ringt sich heraus — auch die Friedensgesellschaften haben hier eine hohe Bedeutung und kommen mit ihrer vorgreifenden Arbeit gewiß nicht zu früh, mögen auch alle Diplomaten sie als Ideologen belächeln. An einer neuen politischen Ethik haben wir zu arbeiten, denn die Nervosität und Furcht vor „Überfällen", die noch herrscht und die Spannungen und Krisen, in denen wir stehen, sind ein Beweis, daß wir sie noch nicht gefunden haben. Der täuscht sich, der hier nur böswillige Verleumdungen und journalistische Verhetzungen sieht und mit kleinen Beschwichtigungen kommt. Noch glauben viele von den Besten diesseits und jenseits des Kanals nicht an die Aufrichtigkeit der Friedensversicherungen, oder wenn sie auch daran glauben, verzweifeln sie doch an der Möglichkeit ihrer Verwirklichung und sprechen trotzig oder seufzend von einer Logik der Realitäten, die schließlich zu einem Zusammenstoß treiben müsse. Aber weder jenes Mißtrauen noch dieser Zweifel darf das letzte Wort behalten. Haben wir denn bereits alle Möglichkeiten des Zusammenlebens schon erprobt, hat sich nicht vielmehr die Aufrichtigkeit der Friedensversicherungen zu unserer Beschämung bereits öfters erwiesen, und sind nicht schon schwierige Situationen glücklich überwunden worden? Es ist ruchlos, von einer ehernen Notwendigkeit, die zum Kriege treibe, zu sprechen, während wir doch erst anfangen, uns in neue Verhältnisse einzuleben, und schlechterdings noch nicht wissen, ob nicht die zuversichtliche Hoffnung: „Raum für alle hat die Erde", durch Wissenschaft und Technik neue, erweiterte Grundlagen erhalten wird. Daher darf es im internationalen Leben der Völker jetzt nur die beiden Hauptfragen geben: Wie können wir den nationalen Widerstreit der Interessen in einen
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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edlen Wetteifer verwandeln, und welche Gesinnung müssen wir dazu in uns ausbilden, welche neuen Formen schaffen? An England und Deutschland stellt die Weltgeschichte heute diese Fragen in nachdrücklicher Weise, und wenn sie sie lösen, sind sie überhaupt gelöst! Hier steht der Zeiger der Zeit, und das ist der Ernst der Situation; aber es ist zugleich eine herrliche Aufgabe, die vor uns liegt! Man fühlt den Pulsschlag des vorwärtsrückenden Lebens der Menschheit, des Fortschrittes über das G-ewordene hinaus! Alle Stände in beiden Völkern sind berufen, daran mitzuarbeiten, daß kein böser Zwischenfall eintritt und daß wir nicht unsere Aufgabe auf die Schultern später Enkel legen. Was kann die Wissenschaft tun? Direkt vielleicht nicht viel — indirekt ist ihre Arbeit stets von höchster Bedeutung gewesen —, aber doch Erhebliches. Erstlich, sie soll mit dazu helfen, daß man sich gegenseitig besser kennt und versteht. Als der Weltverkehr noch ein geringer war, da genügte eine oberflächliche Bekanntschaft; aber mit ihr kommen wir nicht mehr aus, denn wir sind uns zu nahe gerückt. Viel Unkenntnis, die zu bösen Mißverständnissen führt, liegt noch zwischen den Völkern. Unwillkürlich messen sie sich gegenseitig noch mit dem eigenen Maßstab, statt die fremde Eigenart mit ihrem Maßstab zu messen; denn England und Deutschland sind zwar gleichartige, aber durch die Geschichte ganz verschieden erzogene Schwestern. Die isolierte Lage und die trotz aller Gewaltsamkeiten im ganzen stetig sich entwickelnde Geschichte Englands hat dieser Schwester eine beneidenswerte Einheit, Form und Reife geschaffen, die wir zu würdigen haben; wir dagegen, im Herzen Europas gelegen, haben auf sich kreuzenden Linien gehen müssen, haben unsere Straße erst seit einem Menschenalter gefunden und marschieren noch immer nicht in geschlossener Kolonne. Englands Zivilisation ist als ganze der unsrigen noch immer überlegen, so groß
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1. Deutschland und England. (1909)
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der Vorsprung sein mag, den wir auf wichtigen Gebieten gewonnen haben. Streng wissenschaftliche Betrachtung, liebevolles Eingehen auf die fremde Eigenart und ein reger Verkehr der geistigen Führer der Völker können uns näher und immer näher rücken. Mit letzterem ist bereits begonnen, und jeder Besuch dort und hier hat wertvolle Früchte getragen. Auch jetzt sehen wir wiederum einem Besuch (seitens der Repräsentanten der englischen Kirchen) in Deutschland entgegen und freuen uns auf den freundschaftlichen Verkehr und die Anregungen, die er bringen wird. Zweitens, die Wissenschaft vermag viel, um jenes Unkraut auszurotten, das den friedlichen Verkehr von Nation zu Nation besonders gefährdet, den Chauvinismus. G-ewiß, wir können einander nur etwas leisten, wenn wir selbst etwas sind, und man wird auch den Völkern eine starke Aussprache ihres Selbstbewußtseins verstatten dürfen; denn jedes Volk, wenn es spricht, hat dieses Vorrecht der Jugend. Allein der Chauvinismus, der das eigene Volk für das auserwählte hält und sich eine übermütige und verletzende Sprache gestattet, ist ein gefährlicher, ja furchtbarer Feind des Friedens. Möge das vor allem auch die Presse beider Länder bedenken, deren Verantwortung eine stetig wachsende ist. Je mehr sich ihre Vertreter von der geschichtlichen Wissenschaft belehren lassen, um so sicherer werden sie zuverlässige Führer sein und sich um das Vaterland wahrhaft verdient machen. Die geschichtliche Erkenntnis macht stark und bescheiden zugleich, und eine in ihrem Geist geleitete Zeitung kann für die Erziehung der Nationen und für den Weltfrieden das Größte leisten. Denn die Wissenschaft ist darin der echten Religion verwandt, daß sie in ihren letzten Zielen stets die ganze Menschheit im Auge hat. Ein jeder Arbeiter in der Wissenschaft, wenn er kein bloßer Kärrner ist, ist von dem Hochgefühl durchdrungen, daß er für das Ganze wirkt, und er sieht in jedem Mitarbeiter, welcher Nation er auch angehört, einen Bundes-
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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genossen, und Freund. Mit Stolz können wir es sagen: •wir dürfen heute laut an die Wissenschaft, Zivilisation und Brüderlichkeit appellieren, wenn wir den Weltfrieden wollen, und wir dürfen es in besonderer Weise, wenn wir dabei von England und Deutschland sprechen. Dieser Appell findet heute bereits bei Millionen einen starken Widerhall! Was einst die Sehnsucht und der Traum einzelner progressiver und hochgemuteter G-eister war, das beginnt sich zu verwirklichen, und an unserer Schlaffheit liegt es allein, wenn es nicht kräftiger in die Erscheinung tritt. An einen allgemeinen Weltstaat, ein Platonopolis, denkt kein Verständiger; aber die Verheißung: „Friede auf Erden, bei den Menschen, die guten Willens sind", ist schon die Losung der Geförderten und Einsichtigen geworden. Deutschland und England — stark soll sich jede Nation machen und in der Fülle ihrer friedlichen Kraft der anderen unentbehrlich werden! Und sie sollen die materialistischen Geschichtsphilosophen als Vaterlandsfeinde bei sich zum Schweigen bringen, die die schließliche Notwendigkeit eines kriegerischen Zusammenstoßes behaupten, weil sie die wirtschaftlichen Möglichkeiten sämtlich zu übersehen wähnen und an die Kraft idealer Mächte nicht glauben. In einer Hinsicht hat es England leichter als Deutschland: die Religion spielt in dem öffentlichen Leben der Nation eine größere Rolle als bei uns, und auch sie wird seit Jahrzehnten in den Dienst der Friedensbestrebungen und der Brüderlichkeit gestellt. Geht es dabei auch hin und her nicht ohne politische Heuchelei ab und findet auch der englische Chauvinismus hier seine Rechnung, so wäre es doch ein großer Irrtum, den guten Willen und die Kraft zu verkennen, die sich hier zum Ausdruck bringen. Die englische innere und äußere Politik ist in den letzten zwei Menschenaltern mehr als einmal von religiösen Beweggründen mitbestimmt worden. Wir haben dem nichts an die Seite zu stellen und mögen auch Bedenken tragen, das nachzumachen;
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2. Der Friede die Frucht des Geistes. (1911)
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denn der deutsche Protestantismus ist individualistisch. Aber um so größer ist unsere Pflicht, den Einzelnen und das ganze Yolk so zu erziehen, daß wahrhafte Liberalität und politische Sittlichkeit und Reife uns zum unentbehrlichen Lebenselement werden.
Der Friede die Frucht des Geistes. Es ist mir eine hohe Ehre und Freude, im Namen des deutschen Komitees zu Ihnen zu sprechen. Ich tue es in deutscher Sprache, weil ich die englische Sprache nicht so beherrsche, um frei aus dem Herzen zu Ihnen zu reden. Aber aus dem Herzen zu reden, ist mir ein Bedürfnis. "Was ich Ihnen sagen werde, dafür trage ich allein die Verantwortung, aber seien Sie versichert, daß der Geist der Achtung und Bewunderung, der Freundschaft und des Friedens, der mich gegenüber Ihrem Volke beseelt, auch das deutsche Volle durchwaltet. Und so begrüße ich Sie warm und herzlich und danke Ihnen, daß ich diesen Tag mit Ihnen feiern darf. Sie sind hier versammelt als ein Regiment des Friedens; hinter Ihnen stehen noch zahlreiche große Regimenter der friedlichen Arbeit, deren Repräsentanten Sie sind, hinter Ihnen steht das englische Volk, das den Frieden will wie das deutsche. Wir alle wollen den Frieden — aber der "Wille allein schafft nicht dieses köstliche Gut, und der "Wille allein vermag es nicht zu erhalten. Der Friede ist eine Frucht, und Früchte erntet man nur, wenn man guten Samen sät and wenn man die junge Pflanze pflegt, bis sie Frucht bringt. Mit gutem Grunde haben daher auch die vereinigten Komitees der Kirchen Britanniens und Deutschlands sich nicht Komitees zur Förderung des Friedens ge-
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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nannt, sondern Komitees zur Förderung freundlicher B e z i e h u n g e n zwischen den beiden Völkern. Das, was ich Ihnen heute sagen möchte, will ich aus einem Spruch des Apostels Paulus schöpfen. Er schreibt im Briefe an die Galater: „Die Frucht des G-eistes ist Liebe, Freude, Friede." In diesem kurzen "Wort liegen drei wichtige Gedanken: 1. der Friede ist eine Frucht, 2. der Friede ist eine Frucht des Geistes, 3. Liebe und Freude müssen dem Frieden vorhergehen. 1. Der Friede ist eine Frucht. Er fällt nicht wie Manna vom Himmel; er kommt nicht von selbst; er will erworben sein. Mögen andere versuchen, den Frieden direkt zu pflegen; wir können das nicht, denn wir wissen, daß er nur dann die Gewähr der Dauer hat, wenn Kräfte da sind, die ihn hervorbringen, und wenn diese treibenden Kräfte nie aufhören und stets stärker werden. Nur der wachsende Friede ist ein dauernder Friede. Der Friede ist kein totes Gut, welches einfach überliefert werden kann. Der Friede ist eine reifende Frucht, nie fertig und daher stets der Aufmerksamkeit und Pflege bedürftig. 2. Und zweitens: der Friede ist eine Frucht des Geistes. Das ist ein großes Wort! Der Friede ist nicht die Frucht des wohlverstandenen Interesses und des umsichtigen Egoismus. Die, welche ihn aus diesen Kräften erzeugen wollen, irren sich; eine Zeitlang kann es scheinen, als hätten sie recht, aber plötzlich zeigt es sich, daß das wohlverstandene Interesse nicht ausreicht, weil immer ein Moment eintreten wird, in dem der brutale Egoismus den sanfteren Bruder wegschicken und sich an seine Stelle setzen wird. Der Friede ist auch nicht die Frucht einer klugen Politik. Wohl kann eine kluge Politik vieles Gute tun und Streit und Krieg lange Zeit hindurch aufhalten, aber den Frieden zu garantieren, vermag sie nicht; denn sie ist immer nur formend und niemals schöpferisch. Die Politik vermag nur soviel, als die Kräfte wollen und ver-
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2. Der Friede die Frucht des Geistes. (1911)
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mögen, die in dem Volke vorhanden sind. Die Politik ist Exponent, nicht Basis! Der Friede ist die Frucht des G-eistes, das heißt jenes Geistes, der nicht einfach aus unserer Natur und den Naturbedingungen fließt, sondern der uns über die Natur erhebt. Wir Menschen haben es mit einer doppelten Natur zu tun — mit der Natur, die wir mit allen Lebendigen teilen, und mit der neuen Natur, die wir gewinnen sollen, deren Erwerb eine unendliche, nie aufhörende Aufgabe darstellt. Wie sich diese beiden Naturen zu einander verhalten, das mögen die Philosophen entscheiden; aber die Unterscheidung ist ganz klar und jeder Seele eingepflanzt. Die Kraft aber, die uns zur höheren Natur führt, die nennen wir Geist Gottes. Die niedere Natur lehrt die Völker, einfach dem materiellen Selbsterhaltungstriebe zu folgen und den Kampf ums Dasein auszufechten, jenen Kampf um die Futtermenge und den Futterplatz. Der Geist Gottes aber lehrt uns, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, und daß seine oberste Aufgabe ist, ein festes Verhältnis zum Ewigen zu gewinnen. Mißverstehen wir diesen Geist nicht! Er sagt uns nicht: „Höre auf zu kämpfen"; nein, auch er bezeugt, daß der Kampf die Form des Lebens, ja das Leben selber ist, aber er ruft uns zu: kämpfe um die höchsten Güter, kämpfe mit heiligen Waffen, kämpfe in edlem Wetteifer und reiße deine Genossen mit dir empor, zwinge ihnen bessere Waffen in die Hand als das Schwert und den Säbel, nämlich die Waffen friedlicher Arbeit und geistiger Kräfte! Dauernde Siege, die zugleich friedliche sind, können nur so errungen werden; denn die Zeiten sind vorbei, in denen rohe Gewalt allein entschied! Der Friede ist die Frucht des Q-eistes — nicht nur des heiligen G-eistes, sondern auch des Geistes der wahren Bildung; denn dieser Geist steht mit dem heiligen Q-eist in engster Verbindung. Je besser erzogen ein Volk ist, desto eifriger wird es über den Frieden wachen. Wir be-
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wundern an dem englischen Volke, daß es ein erzogenes Volk ist. Wir erkennen diese seine Erziehung an der Art, wie es seine inneren Verhältnisse ordnet, wir erkennen sie an seiner Hochschätzung von Tradition und Sitte, wir erkennen sie an dem Ideal von Selbständigkeit und edler Freiheit des Einzelnen, welches in diesem Lande entstanden ist. Dieser Geist gereifter Bildung gibt uns die Gewähr, daß seine Frucht, der Friede, bei Ihnen in Kraft bleiben wird. 3. Aber der Spruch, den ich an den Anfang meiner Rede gestellt habe, sagt uns noch etwas; er sagt, daß L i e b e und F r e u d e dem Frieden vorangehen müssen, daß also ein dauernder Friede Liebe und Freude zu seiner Voraussetzung hat. Die Bildung allein macht es nicht; es muß noch etwas hinzukommen; wir müssen uns als B r ü d e r erkennen, und wir müssen gegenseitig Freude empfinden über das, was der andere kann und leistet. Wir müssen uns als B r ü d e r erkennen: es war ein großer Fortschritt in der Entwicklung der europäischen Menschheit, als die stoische Philosophenschule die Brüderschaft aller Menschen erkannt hatte und lehrte. Aber es war noch ein viel größerer Fortschritt, als Jesus Christus verkündigte, daß wir alle Kinder eines Vaters sind und daß wir als Brüder uns lieben sollen; denn von da an nahm die große Bewegung ihren Anfang, die natürliche und gespaltene Menschheit in einen Bruderbund zusammenzuführen, in einen Bruderbund, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. Gewiß — nur kümmerlich ist bisher dieses Ideal durchgeführt worden, obgleich schon 2000 Jahre an ihm gearbeitet wird; aber es ist doch da; es ist mitten unter uns, und wir fühlen seine verpflichtende Kraft und seinen Segen. Meine verehrten Herren und Brüder! wir dürfen dieses Ideal auch in der Politik nicht ausschalten, sondern wir sind verpflichtet, es auch dort geltend zu machen. Wir
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2. Der Friede die Frucht des Geistes. (1911)
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dürfen nicht so tun, als seien wir Christen n u r in unserem Hause und in der Kirche, darüber hinaus aber gelte das Christentum nicht und behalte das Schwert des Barbaren unter uns sein Recht. Wohl besitzt jeder Mensch und jedes Volk hohe Q-üter, die es verteidigen und f ü r die es sein Leben lassen muß; aber nur der kleinste Teil der Kriege, die auf Erden geführt worden sind, haben diesen heiligen Q-ütern gegolten. "Wenn einmal die Kriege aufhören werden, die aus Habsucht und Neid, aus Ehrgeiz und Ubermut unternommen worden sind, dann wollen wir sehen, wieviel Anlaß und Stoff zu Krieg und Blutvergießen noch übriggeblieben sein wird! Wenn die Uberzeugung, daß wir Brüder sind, die Völker wirklich durchdrungen haben wird, und wenn sie in brüderlichem Wetteifer arbeiten, dann wollen wir abwarten, ob der natürliche und ruhige G-ang der Dinge wirklich ein Volk so übel treffen wird, daß es zum Schwert greifen muß. Ich will Ihnen das Geheimnis verraten — der Fall, daß ein Volk in die Enge gerät, wird nur eintreten, wenn es nicht mehr arbeitet; wenn es aber nicht mehr arbeitet, wird es auch das Schwert nicht mehr ziehen können! Hat dies Volk nicht mitgearbeitet mit Anspannung aller seiner Kräfte und in brüderlichem Wettstreit an dem Aufbau seiner eigenen und der gemeinsamen Kultur, so wird es sich als selbständige Größe selbst allmählich ausstreichen aus dem Bunde der Völker. Kein Schwertstreich wird nötig sein, und kein Tropfen Blut wird fließen! Aber wer unter uns wollte einen solchen Ausgang irgendeinem der europäischen Völker wünschen! Nein, als Brüder wollen wir sie neben uns sehen, uns freuen an ihrer Eigenart und ihrer Arbeit und mit ihnen als Brüder wetteifern und streben. Unter all diesen Brüdern aber steht uns Deutschen keines in Europa näher als das englische Volk. Blutsverwandtschaft verbindet uns mit ihm, ferner eine bei aller Verschiedenheit doch gleichartige Kultur und endlich seit Jahrhunderten
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ein herrlicher Austausch der Gedanken und Kräfte. Wie aus einem Füllhorn ist hier die Freude ausgeschüttet, die Freude und Förderung, die wir uns gegenseitig bereitet haben! Sie haben uns, als Christentum und Kultur bei Ihnen noch selbst im Werden waren, die iroschottischen Missionare und den Bonifazius gesandt; ihr Shakespeare ist unser Shakespeare geworden und eine der stärksten Wurzeln unserer geistigen Bildung; Ihre Philosophie des 17. Jahrhunderts und Ihr Newton und Ihr Darwin haben unsere Philosophie und unsere Naturwissenschaft begründen helfen; Ihr Staatswesen und Ihre Staatslehre haben uns politisch erzogen und — last not least — Ihre schöne Literatur, aus klaren und reichen Quellen fließend, ist für uns seit mehr als zwei Jahrhunderten ein wesentlicher Teil unserer geistigen Nahrung und ein Schatz der Freude und Erhebung, uns so wichtig wie unsere eigene. Soll ich nun die Gegenrechnung machen und erzählen, was wir Ihnen gebracht haben seit den Tagen der Reformation. Davon will ich schweigen; Sie wissen es selbst! Wer kann ausrechnen, was wir einander schuldig sind! Lieber will ich noch hinzufügen, was wir als evangelische Christen und Theologen Ihrem Lande verdanken — dem Lande Miltons und der Puritaner, dem Lande Wesleys, Carlyles, K i n g s l e y s und Ruskins, dem Lande, das uns in unseren Tagen Theologen wie L i g h t f o o t , W e s t c o t t und Hort geschenkt hat! Jeder dieser Namen bedeutet uns soviel wie Ihnen! Wahrlich, wir sind fest miteinander verbunden! Was uns trennt, ist wechselnd und vergänglich; was uns zusammenschließt, sind reine, ewige G-üter, ist Bruderschaft, ist der Besitz gemeinsamer Väter, Helden und Führer und die gemeinsame Freude am Guten, Wahren und Schönen nach germanischer Art. Derselbe Mann aber, der die Worte geschrieben hat: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede", hat auch das befreiende Wort hinzugefügt: „Wider solche ist das Gesetz nicht." Er denkt zunächst an das
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2. Der Friede die Frucht des Geistes. (1911)
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Gesetz des Moses, aber wir haben ihn nicht gegen uns, sondern für uns, wenn wir dabei auch an sogenannte politische Naturgesetze denken. Alle diese Gesetze gelten nur solange, als die Völker sich nicht aus der materiellen Natur herausheben. Sobald sie aber dies tun, stehen sie nicht mehr hilflos unter ehernen politischen Gesetzen, sondern machen selbst Gesetze. Hier ist ein unendlicher Spielraum gegeben und die edelste Freiheit der Entwicklung. Und so blicken wir auf eine Zeit aus, in der das Naturgesetz angeblich notwendiger Kriege überwunden sein wird. Bis dahin ist freilich noch ein langer Weg, aber wie wir ihn zu gehen haben, das sagt uns wieder das Bibelwort: „Lasset uns im Geiste wandeln; lasset uns nicht eitler Ehre geizig sein, uns untereinander zu entrüsten und zu beneiden." Wir können nicht sofort am Ziele sein, aber das ferne Ziel soll uns beseelen und uns die nächsten Schritte lehren. Der nächste Schritt aber ist, daß wir den Neid in unserer Mitte nicht dulden und daß wir den Provokateuren den Mund stopfen. An die Marmorwände Ihres Hauses und unseres Hauses soll keine Spinne des Neids ihr schmutziges Gewebe hängen, und keinem Buben soll es erlaubt sein, den Wetteifer edler Arbeit durch aufreizende Worte zu stören. Dergleichen zu unterdrücken, das soll die wichtigste Arbeit Ihres Komitees und des unsrigen im eigenen Lande sein. Positiv aber wollen wir dadurch wirken, daß wir unsere geistigen Güter immer lebendiger austauschen, daß wir uns einander besser kennen lernen, daß wir in der brüderlichen Gesinnung immer wärmer werden, und daß das Kapital unserer gemeinsamen Freude stets wachse. „Die Frucht des G-eistes ist Liebe, Freude, Friede" — das sei unser Losungswort!
OFFNER BRIEF AN HERRN PASTOR LIC. SIEGMUND-SCHULTZE VOM 17. JANUAR 1912 Berlin, den 17. Januar 1912. Hochgeehrter Herr Pastor! Sie sind soeben von einer Reise nach England zurückgekehrt, haben mir von ihren Eindrücken erzählt und mir den Wunsch der englischen Freunde vermittelt, ich möge mich zu der ernsten Lage äußern, in der wir uns befinden. Derselbe Wunsch ist mir auch brieflich von hochgeschätzten englischen Männern ausgedrückt worden. Ich werde mich kurz fassen. Unser Vertrauen zu den englischen Freunden, die uns so freundlich in England aufgenommen und in Deutschland besucht haben, ist unerschüttert. Wir sind von der Aufrichtigkeit ihrer freundschaftlichen und friedlichen Gesinnungen überzeugt, wir sind ebenso überzeugt, daß sie alles getan haben und tun, was der Erhaltung guter Beziehungen förderlich ist, und daß sie die Störung dieser Beziehungen so schmerzlich empfinden wie wir. Wir wissen, daß es ein großer Kreis der besten Mitglieder der Kirchen Englands ist, der so denkt. Wir haben ihnen gegenüber keine Klagen und keine Wünsche — außer dem e i n e n Wunsch, daß es ihnen gelingen möge, die Politik ihrer Regierung Deutschland gegenüber stärker zu beeinflussen als bisher. Gegen diese Politik richten sich unsere Beschwerden. Sie ist — das ist die fast einstimmige Meinung in Deutschland — schon seit Jahren keine freundliche, und sie ist im letzten Jahr eine feindselige geworden.
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3. Offener Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze. (1912)
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Unsere Nation — ich. soll und muß mich offen aussprechen — glaubt zu bemerken, daß die englische Regierung unsere politische Existenz so beurteilt, wie sie nach dem Jahre 1866 von Frankreich beurteilt worden ist. Wie es den Franzosen unerträglich schien, daß im Herzen Europas ein einheitlicher deutscher Staat entstand, der ihnen gewachsen war, so scheint es England unerträglich zu sein, daß sich dieser Staat entsprechend seinen geistigen und materiellen Kräften entwickelt. Den Beweis dafür sehen wir darin, daß England uns auch, in solchen Fragen, die wir mit andern Ländern zu verhandeln haben, Schwierigkeiten zu machen sucht und jedem anderen Staat, mit dem wir es zu tun haben, den Rücken stärkt. Wo immer unsere Politik in Spannungen und Konflikte gerät, wie sie im Gange der Dinge unvermeidlich sind und sich durch weise und friedliche Verhandlungen mehr oder weniger leicht lösen lassen, da erblicken wir England hinter unserm Gegner und sind gezwungen, die Partie mit zwei Gegenspielern zu spielen. Daraus müssen wir schließen, daß England unsere Entwicklung überhaupt mit scheelen Augen betrachtet und daß es uns unsere Fortschritte nicht gönnt — Fortschritte, die wir lediglich mit der K r a f t unserer Industrie und unseres Handels gemacht haben und machen wollen. Wir müssen aber ferner konstatieren, daß sich England eine Art von Superiorität über alle Küsten, die es auf dem Erdball gibt, beilegen zu dürfen glaubt, und daß sich daher die Schwierigkeiten, die es uns macht, verdoppeln, sobald irgendeine Küste auch nur von ferne f ü r uns in Sicht kommt. Selbst gestattet es sich jedes Küstenland und jede Insel, sei es Ägypten, sei es Cypern, sei es einen außereuropäischen Strich, sich einzuverleiben, die es nötig zu haben glaubt; aber schon in den friedlichen Eroberungen unseres Landes sieht es etwas Ungehöriges. Bis zum vorigen Jahr konnte es indes scheinen, als sei diese Beurteilung der englischen Politik doch eine über-
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triebene und nicht gerechte; allein die Vorgänge der letzten Monate haben ihr leider recht gegeben. In einer Verhandlung, die wir mit Frankreich zu führen hatten — und es lag im Interesse des Friedens Europas, daß wir sie mit Frankreich allein führten —, tauchte England hinter Frankreich auf und nahm eine Haltung uns gegenüber ein, die man nur als feindselig bezeichnen kann. Es sammelte seine Schiffe gegen uns, und es inspizierte die französische Armee an unserer Grenze, ob sie kriegsbereit sei. Man beruhigt uns heute und sagt uns, England sei trotzdem noch viele Schritte von Überfall und Krieg entfernt gewesen. Das mag sein; aber seine Politik marschierte bereits auf dieser Linie, und die nachträgliche Rede, die der englische Minister des Auswärtigen gehalten hat, hat nichts verbessert. Wir können sie bis auf weiteres ebenso wenig vergessen wie die Worte, welche der englische Botschafter am Wiener Hofe ,,nicht" gesprochen hat, und wie die Sommerrede des Schatzkanzlers. Die Situation ist klar: Wenn England den Frieden wollte, so hat seine Regierung im Sommer und Herbst einen schweren Fehler gemacht, während wir uns von jeder Provokation und unfreundlichen Gesinnung frei wissen und viel Mäßigung bewiesen haben. Auch bei uns gibt es freilich schlimme Journalisten und unbesonnene Leute; aber unsere Regierung ist England gegenüber, soviel wir zu urteilen vermögen, korrekt verfahren, und der Gedanke, daß wir England überfallen wollen, ist und bleibt so absurd, daß er einer Widerlegung nicht bedarf. Hielt aber England in seinem eigenen Interesse ein solches Verhalten f ü r nötig, wie es im vorigen Jahr hervorgetreten ist, und hält es an dieser Meinung noch jetzt fest, so zwingt es uns, auf der H u t zu sein und den Gedanken an eine „Detente" aufzugeben. Vereinigungen zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen haben dann auch keinen Sinn mehr; denn auf einer Eisscholle, die nach Osten getrieben wird, nach Westen zu marschieren, ist eine unnütze Anstrengung. Die Freunde dort und hier
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3. Offener Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze. (1912)
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müssen sich die Hand drücken und auseinandergellen, im Herzen die alten Gesinnungen bewahrend, deren Betätigung aber nun zwecklos geworden ist. Ist es wirklich so weit gekommen? Einstweilen scheint es leider so. Es ist Englands Sache, uns durch Taten davon zu überzeugen, daß das, was wir im vorigen Jahre erlebt haben, eine wider bessere Absicht entstandene Episode war, aber kein Symptom, oder daß es willens sei, sein Verhältnis zu uns zu revidieren. Durch welche Mittel das geschehen kann, darüber vermag ich nichts zu sagen und kann daher auch nicht einmal Wünsche aussprechen. Das muß England selbst wissen. — Der Gang der weltgeschichtlichen Entwicklung hat die drei germanischen Reiche England, Nordamerika und Deutschland auf großen Linien der Kultur an die Spitze der Menschheit gestellt. Diese drei Staaten haben außer ihrer Blutsverwandtschaft auch ein großes Erbe gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit steckt ihnen die höchsten Ziele, aber verpflichtet sie auch vor dem Richterstuhl der Geschichte zu gemeinsamem und friedlichem Wirken. Mit den andern großen Staaten vermögen sie Frieden zu halten, ohne innere Freundschaft, nämlich jenen Frieden, den das wohlverstandene eigne Interesse zu schaffen vermag. Dieser Friede reicht aber unter ihnen selbst n i c h t aus; denn sie stehen sich zu nahe; sie sind Schwestern. Unter Schwestern aber gibt es nur den Frieden, der auf herzlicher Anerkennung, auf Freundschaft und auf edlem Wettstreit beruht; außerhalb desselben droht ihnen bittere Feindschaft und der Krieg. Somit ist jede dieser drei Nationen darauf angewiesen, der andern innerlich nahe zu treten und mit ihr friedlich zu wetteifern. Ist eine fleißiger als die andern, so müssen diese ihren Fleiß verdoppeln; ist eine erfinderischer als die andern, so müssen diese ihre Erfindungsgabe steigern; ist eine sittlich stärker und geförderter als die andern, so müssen diese ihre sittlichen Kräfte anspannen. Die Gaben sind gleich verteilt,
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und andere Mittel, um nebeneinander zu bestehen, gibt es in ihrem Verhältnisse nicht. Wenn sie aber vereint und ohne Neid zusammen arbeiten, so wird jede von ihnen sich selbst aufs sicherste erhalten; sie werden das Wohl der ganzen Menschheit fördern, und niemand wird ihnen das Zepter aus der Hand nehmen! Über solche Erwägungen mögen die Klugen lächeln; aber ich bin gewiß, daß sie kein Traum sind, sondern die beste Realpolitik, und ich habe noch immer die Hoffnung — besonders auch im Hinblick auf die ausgezeichneten Gesinnungsgenossen in England —, daß diese Politik sich verwirklichen wird. I n vorzüglicher Hochschätzung Ihr ergebenster D. A d o l f H a r n a c k .
Eede zur „Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung" (11. August 1914 im Berliner Rathaus). Bürger und Bürgerinnen der Vereinigten Staaten, meine Damen und H e r r e n ! Es ist mir eine Freude und Ehre zugleich, an dem heutigen Tage nach der Rede unseres hochverehrten Herrn Oberbürgermeisters auch noch einige Worte an Sie richten zu dürfen. Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erinnerung beginnen : Vor gerade zehn Jahren war ich in den Vereinigten Staaten und habe unvergeßliche Erinnerungen dort aufgenommen. Welcher Eindruck war nun der stärkste? — Nicht der brausende Fall des Niagara, nicht die wunderbare Einfahrt in den Hafen von New York mit seinen Kiesenbauten, nicht die ungeheure Weltausstellung von St. Louis in ihrer stolzen Größe, nicht die herrlichen Universitäten von Har-
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vard und Columbia oder die Kongreßbibliothek in Washington — das alles sind Werke entweder der Technik oder der Natur, und die können nicht unsere tiefste Bewunderung und den tiefsten Eindruck erregen. Was war der tiefste Eindruck? Es war ein doppelter: Erstlich das große W e r k der amerikanischen Nation und sodann die amerikanische G a s t freundschaft. Das große Werk der amerikanischen Nation, das ist sie selbst! Aus den kleinsten Anfängen hat sich die amerikanische Nation seit 200 Jahren zu einer Weltnation von mehr als 100 Millionen Seelen entwickelt und einen ganzen Weltteil vom Atlantischen Ozean bis zum Stillen und von den großen Seen bis Westindien nicht nur besetzt, sondern auch zivilisiert; aber nicht nur zivilisiert — alles, was eingewandert ist, hat diese Nation mit unbeschreiblicher K r a f t zusammengeschmolzen, zusammengeschmolzen zur Einheit einer großen, edlen Nation von „educated men". Das ist in der Geschichte überhaupt noch nicht vorgekommen: Schon nach zwei oder höchstens nach drei Generationen — wer auch immer kommen mag — sind alle eingeschmolzen in den amerikanischen Körper und in den amerikanischen Geist, und dies geschieht ohne kleinliche Maßregeln, ohne Polizeigewalt: in den festen Rahmen dieses "Volkes f ü g t sich ohne Zwang jede Eigenart willig ein, wird amerikanisch und behält doch eben ihr Eigenes. Die Welt hat solch ein Schauspiel noch nicht gesehen, aber sie sieht es immer noch fort und fort. Sie hört und sieht die Tatsache — daß jeder Einwanderer nach kurzer Zeit freudig einerseits bekennt: „Amerika ist jetzt mein Vaterland !" und andererseits sein altes Mutterland nicht nur nicht vergißt, sondern ungestört das Band mit ihm aufrechterhält. Ja, das ist eine nationale K r a f t und Freiheit zugleich, die Ihnen nicht so leicht jemand nachmacht! Aber weiter: zu diesen, die zu Ihnen gewandert sind, gehören Millionen von Deutschen, ein paar Millionen! Seit mehr als 100 Jahren — wo soll ich anfangen von ihnen zu erzählen —
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seit den Tagen von Steuben und von Karl Schurz — aber, wie soll ich Namen nennen ? — sie wurden alle aufgenommen als Brüder, haben ihr Bestes gebracht und haben ihr Bestes nicht verloren. Mehr kann ich nicht sagen. Und weiter, was ist denn das f ü r ein Geist, der sie erfaßt hat? Jedem einzelnen hat er äußerlich und innerlich seinen Stempel aufgedrückt. Nun, über diesen Geist werde ich nachher noch ein paar Worte reden. Jetzt will ich nur sagen: es ist d e r G e i s t des b ü r g e r l i c h e n M u t e s u n d d e r b ü r g e r l i c h e n F r e i h e i t ! Und aus dieser Einheit nun trat mir bei meiner Anwesenheit eine einheitliche ungeheure Arbeitsleistung entgegen als das Werk dieser Nation. Bei dieser Leistung ist jeder einzelne beteiligt; es ist eine Arbeitsleistung in Landwirtschaft, in Technik und — wir wissen es an den deutschen Universitäten seit mehreren Jahrzehnten — eine außerordentliche Leistung auch in der Wissenchaft. Und diese Arbeitsleistung wird geübt in einer Mischung, wie wir sie in Europa auch nicht haben, nämlich in einer Mischung von guter alter Erbweisheit, die aus der Geschichte Europas mitgebracht worden ist, und einem jugendlichen Mute, fast möchte ich sagen: einem kindlichen Sinn. Dieses beides verbunden, diese Umsicht und zugleich dieser Jugendmut, der mir überall entgegengetreten ist und der dem amerikanischen Werk den Stempel aufgedrückt hat, ist, was ich bewundert habe. Und das zweite war die amerikanische Gastfreundschaft — „hospitality"! Wie ein warmer Luftstrom umgab mich und meine Freunde überall diese Gastfreundschaft. Wo wir standen und gingen, da atmeten wir die L u f t dieser Freundschaft. Ja, fast machte sie uns willenlos, weil sie uns jeden Plan und jede Sorge von vornherein wegnahm. Wie Postpakete der Freundschaft wurden wir von Ort zu Ort, von einem Ort zum andern geschickt, wie gute Freunde, als hätten wir uns stets gekannt. Nun, das war ein Erlebnis, f ü r welches alle — und wer hätte es nicht erlebt von uns Deut-
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sehen, der herübergekommen ist — stets dankbar sein werden. Das ist unvergessen! Aber so schön und groß das war, Ihre Nation hat der unserigen noch etwas Unvergeßlicheres geleistet. In jenen schrecklichen Tagen des Jahres 1870, als soundso viele Deutsche in dem unglücklichen Paris eingeschlossen waren, da hat der amerikanische Botschafter die Sorge f ü r dieselben übernommen. Und was Amerika damals getan hat, das tut es heute wieder an allen unseren Mitbürgern, die, leider in Feindesland vom Kriege überrascht, dort abgeschlossen sind. Sie sind der Sorge des amerikanischen Botschafters übergeben, und wir wissen ganz genau, wie wenn es schon geschehen wäre, diese Sorge wird die treueste und beste sein. Das, meine Freunde, heißt ein Freundschaftsdienst, der nicht konventionell ist, sondern das sind Freundschaftsdienste, wie es im Katechismus heißt: „Gib uns unser täglich Brot und gute Freunde." Die gehören zusammen. Nun aber die Frage zu beantworten, w a r u m Sie unsere guten Freunde sind, da müssen wir etwas nachdenken, denn die Antwort, die wir vielleicht noch vor wenigen Tagen gegeben hätten: Sie sind unsere guten Freunde als unsere Blutsverwandten — die Antwort zieht leider nicht mehr. Das ist vorbei! Gebe Gott, daß man das in späteren Tagen einmal wieder wird sagen können, aber in einem Falle, der unsere Herzen soeben aufgerissen hat, hat es sich bewiesen, daß B l u t n i c h t d i c k e r i s t a l s W a s s e r . Aber, wo ist denn der tiefe Grund dieser Freundschaft? Liegt er in dem, was ich angedeutet habe, daß wir so viele Landsleute drüben haben, daß sie so freundlich aufgenommen worden sind, daß sie f ü r den Aufbau des Körpers und des Geistes Amerikas viel getan haben, oder daß wir hier so viele Amerikaner als Freunde sehen? Das ist gewiß auch eine wichtige Sache, aber nicht der letzte Grund. Meine Damen und H e r r e n ! Wo es sich um ein starkes, felsenfestes Verhältnis handelt, da ist immer das Tiefste im
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Spiel. Und was hier im Spiel ist, nun, das zeigt uns in diesem Augenblicke die Geschichte und schreibt es mit ehernen Griffeln vor unsere Augen: weil wir einen g e m e i n samen Geist haben, der bis in die Tiefe unseres Herzens dringt. Ja, weil wir einen gemeinsamen Geist haben, der bis in die Tiefe unseres Herzens dringt, darum sind wir Freunde! Und was ist das für ein Geist ? Nun das ist der Geist der tiefen religiösen und sittlichen Kultur, die wir in einer Reihe von Jahrhunderten erlebt haben und von der aus dieser amerikanische kräftige Schößling aufgeblüht ist. Zu dieser Kultur gehören drei Dinge, oder besser, sie beruht auf drei Pfeilern. Der eine Pfeiler ist die Anerkennung des unendlichen Wertes jeder Menschenseele, daher die Anerkennung der Persönlichkeit und der Individualität. Diese sind geachtet, gepflegt und gewollt. Das ist der eine Punkt unserer Kultur. Und der zweite Punkt ist die Anerkennung der Pflicht, dieses eben genannte teure Leben für jedes große Ideal: „Gott, Freiheit, Vaterland" stets aufs Spiel zu setzen. So teuer das Leben von uns, Amerikanern und Deutschen, geschätzt wird, das Leben, das Menschenleben, so sicher geben wir es willig und freudig hin, sobald eine hohe Sache es verlangt. Und der dritte Pfeiler ist der Respekt vor dem Recht und dazu die Fähigkeit zu kraftvoller Organisation auf allen Linien und in allen Gemeinschaften. Aber nun steigt gegenüber der Kultur auf diesen drei Pfeilern: Persönlichkeit, Pflicht alles zu opfern für Ideale, Recht und Organisation — nun steigt neben dieser Kultur eine andere Kultur vor meinem Blicke auf, eine Kultur der Horde, die patriarchalisch regiert wird, des Haufens, der von Despoten zusammengescharrt und zusammengehalten wird, die byzantinische — ich muß weit ausholen — mongolisch-moskowitische Kultur. Das war auch einmal eine Kultur; aber es ist schon lange her. Diese Kultur hat schon das Licht des 18. Jahrhunderts nicht vertragen können, noch weniger das Licht des 19. Jahr-
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hunderte, und nun bricht sie im 20. Jahrhundert aus und bedroht uns — diese unorganisierte Masse, diese Masse Asiens —, wie die Wüste mit ihrem Sande will sie unsere Saatflächen überschütten. Das wissen wir. Wir erfahren es eben. Das wissen auch die Amerikaner, denn es muß jeder wissen, der auf dem Boden unserer Kultur steht und mit scharfem Blick die Gegenwart betrachtet, auch sie wissen, daß es gilt: „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter!" Diese unsere Kultur, der Hauptschatz der Menschheit, war vornehmlich drei Völkern, ja, ihnen fast allein, anvertraut : Uns, den Amerikanern und — den Engländern! Weiter sage ich nichts. Ich verhülle mein H a u p t ! Zwei sind noch da, um so fester müssen sie zusammenstehen, wo es sich um die Fahne dieser Kultur handelt. Es geht ums Ganze, um unsere geistige Existenz, und die Amerikaner werden wissen, daß dies auch ihre Existenz ist. Wir haben eine gemeinsame Kultur und eine gemeinsame Pflicht, sie zu verteidigen! Euch aber, amerikanische Bürger und Bürgerinnen, geben wir das heilige Gelöbnis, daß wir unser Gut und Blut bis zum letzten Tropfen f ü r diese Kultur einsetzen werden. Soll ich euch noch sagen, indem ich dieses Gelöbnis abgelegt habe, daß wir euch, wie es der Oberbürgermeister in so treuen Worten versichert hat, hier auf unserem Boden selbstverständlich schützen und fördern und f ü r euch alles tun werden? Wenn wir das Größere versprochen haben, werdet ihr sicher sein, daß wir diese Lappalien besorgen werden. Aber ihr, meine lieben Landsleute, Männer und Frauen, wir alle erinnern uns täglich und so auch jetzt in dieser Stunde daran, was uns jetzt umgibt! Es ist eine tiefernste, aber eine herrliche Zeit. Was durften wir in den letzten Tagen erleben: keiner unter uns steht mehr als blasierter oder kritischer Zuschauer neben dem wirklichen Leben, sondern ein jeder steht in dem Leben, und zwar in dem höheren Leben. Mitten drin! Gott hat uns mit einem Male aus der Misere
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des Tages heraufgebracht auf eine Höhe, auf der wir noch nie innerlich gestanden haben. Aber überall, wo Leben ausbricht, höheres oder überhaupt Leben, wo es eine Lust wird zu leben, da ist das Leben vom Tode rings umgeben, wie bei jeder Geburt, wenn etwas Neues zutage tritt, und ebenso, wenn das Teuerste behauptet werden soll — da steht der Tod dicht beim Leben. Aber wir wissen auch: wenn in dieser Weise Leben und Tod sich miteinander verschlingen, das höchste Leben und der leibliche Tod, da hört jede Todesfurcht auf. In dieser Verschlingung gibt es nur Leben, und lebendig geht man in den Tod und durch den Tod. Da fällt mir ein altes Lied ein, es ist das gewaltige Siegeslied unserer Väter; es handelt von unserem H e r r n ; aber wir sterben mit ihm und wiederum, wir leben mit ihm: „Es war ein wunderbarer Krieg, Da Tod und Leben rungen, Das Leben, das behielt den Sieg, Es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, Wie ein Tod da den andern fraß, Ein Spott aus dem Tod ist worden!"
Der Tod, der freiwillig dargebracht wird, er tötet den großen Tod und sichert das höhere Leben. Er macht f r e i : so spricht Luther! Lassen Sie mich zum Schluß hier noch eines sagen: Vor uns allen steht in ernsten Stunden ein Bild, und darunter stehen die schlichten Worte: „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz!" Nun, das große Gehorchen hat auch f ü r uns erst recht begonnen, das große Gehorchen, um deswillen uns so oft in früheren Tagen unsere Nachbarnationen verspottet haben: „sehet! das sind die gehorsamen Deutschen, die Männer, die alles auf Kommando und so gehorsam genau machen!" Nun werden sie sehen, daß dieses große Gehorchen nicht nur Zucht war und ist, sondern auch Wille! Sie werden sehen, daß dieses große Gehorchen nicht Kleinlichkeit und Tod ist, sondern K r a f t und Leben.
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Vom Osten — ich sage es noch einmal — zieht der Sand der Wüste an uns heran, von Westen werden wir von alten Feinden und ungetreuen Freunden bekämpft. Wann wird einmal der Deutsche wieder beten und bekennen können: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände."
Wir wollen hoffen, daß Gott uns die Kraft gibt, daß wir dieses Wort nicht nur für uns, sondern für ganz Europa wieder wahr machen können. Bis dahin aber, da wir jetzt alle Brunnen unseres höheren Lebens und unserer Existenz bedroht sehen, rufen wir: „Vater schütze alle Brunnen Und bewahr' uns vor den Hunnen!"
Ein Schreiben von elf englischen Theologen. London, 27. 8.14. Professor Harnack. Honoured Sir, We, the undersigned, a group of theologians who owe more than we can express to you personally and to the great host of German teachers and leaders of thought, have noticed with pain a report of a speech recently delivered by you, in which you are said to have described the conduct of Great Britain in the present war as that of a traitor to civilisation. We are quite sure that you could never have been betrayed into euch a statement if you had been acquainted with the real motives which actuate the British nation in the present crisis. Permit us, in the interests of a better understanding now and subsequently, to state to you the grounds on which we, whose obligations to Germany, personal and professional, are simply incalculable, have felt
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it our duty to support the British Government in its declaration of war against the land and people we love so well. We are not actuated by any preference for France over Germany: still less by any preference for Russia over Germany. The preference lies entirely the other way. Next to the peoples that speak the English tongue, there is no people in the world that stands so high in our affection and admiration as the people of Germany. Several of us have studied in German universities. Many of us have enjoyed warm personal friendship with your fellow-countrymen. All of us owe an immeasurable debt to German theology, philosophy and literature. Our sympathies are in matters of the spirit so largely German that nothing but the very strongest reasons could ever lead us to contemplate the possibility of hostile relations between Great Britain and Germany. Nor have we the remotest sympathy with any desire to isolate Germany, or to restrict her legitimate expansion, commercial and colonial. We have borne resolute witness against the endeavour made by foes of Germany to foment anti-German suspicion and illwill in the minds of our fellow-countrymen. But we recognise that all hopes of settled peace between the nations and indeed of any civilised relations between the nations, rest on the maintenance inviolate of the sanctity of treaty obligations. We can never hope to put law for war if solemn international compacts can be torn up at the will of any Power involved. These obligations are felt by us to be the more stringently binding in the case of guaranteed neutrality. For the steady extension of neutralisation appears to us to be one of the surest ways of the progressive elimination of war from the face of the earth. All these considerations take on a more imperative cogency when the treaty rights of a small people are threatened by a great World-Power. We therefore believe that when Germany refused to respect the neutrality of Belgium, which she herself had guaranteed, Great Britain had no option, either in international law or in Christian ethics, but to defend the people of Belgium. The Imperial Chancellor of Germany has himself admitted, on August 4 th, that the protest of the Luxembourg and Belgian Governments was "just", and that Germany was doing "wrong" and acting "contrary to the dictates of international law". His only excuse was "necessity", — which recalls our Milton's phrase, "necessity, the tyrant's plea". I t has cost us all the deepest pain to find the Germany which we love so intensely committing this act of lawless aggression on a weak people, and a Christian nation becoming a mere army with army ethics. We loathe war of any kind. A war with Germany cuts us to the very quick. But we sincerely be-
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lieve that Great Britain in this conflict is fighting for conscience, justice, Europe, Humanity and lasting peace. This conviction is deepened by the antecedents of the present unhappy war. In allowing her ally Austria to dictate terms to Servia which were quite incompatible with the independence of that little State, Germany gave proof of her disregard for the rights of smaller States. A similar disregard for the sovereign rights of greater States was shown in the demand that Russia should demobilize her forces. I t was quite open to Germany to have answered Russia's mobilization with a counter-mobilization without resorting to war. Many other nations have mobilized to defend their frontiers without declaring war. Alike indirectly in regard to Servia and directly in regard to Russia, Germany was indisputably the aggressor. And this policy of lawless aggression became more nakedly manifest in the invasion of Belgium. Great Britain is not bound by any treaty rights to defend either Servia or Russia. But she is bound by the most sacred obligations to defend Belgium, obligations which France undertook to observe. W e have been grieved to the heart to see in the successive acts of German policy a disregard of the liberties of States, small or great, which is the very negation of civilisation. It is not our country that has incurred the odium of being a traitor to civilisation or to the conscience of Humanity. Doubtless y o u read the facts of the situation quite differently. You may think us entirely mistaken. But we desire to assure you, as fellow-Christians and fellow-theologians, that our motives are not open to the charge which has been made. W e have been moved to approach you on this matter by our deep reverence for you and our high appreciation of the great services you have rendered to Christendom in general. W e trust that you will receive what w e have said in the spirit which it was sent. W e have the honour to be, Yours very sincerely, P. J.
Forsyth.
Μ. Α . , D. D., Aberdeen University. Principal of Hackney College (Divinity School: University of London).
H e r b e r t T. A n d r e w s . B. A. Oxon.
Professor of New Testament, Exegesis, Introduction and Criticism. College, London (Divinity School: University of London).
J. H e r b e r t M. A. Cambridge.
New
D a r i o w.
Literary Superintendent of the British and Foreign Bible Society.
J a m e s R. G i l l i e s . M. A. Edinburgh.
Moderator of the Presbyterian Church of England. Presbyterian Church, London.
Pastor of Hampstead
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R. Μ a c 1 e ο d. Pastor of Frognal Presbyterian Church, London.
W. Μ. Μ a c ρ h a i 1. Μ. A. Glasgow.
General Secretary of the Presbyterian Church of England.
Richard
Roberts.
Pastor of Crouch Hill Presbyterian Church, London.
Η. H. S c u l l a r d . M. A. Cambridge, Μ. Α., D. D., London. Professor of Ecclesiastical History, Christian Ethics, and the History of Religions in New College (Divinity School: University of London).
Alex Μ. Α., Β. D.
Ramsay.
Pastor of the Highgate Presbyterian Church, London.
W. B. S e l b i e . Μ. Α., D. D. Principal of Mansfield College, Oxford. Chairman of the Congregational Union of England and Wales.
J. H e r b e r t M. A. Glasgow.
Stead.
Warden of the Robert Browning Sett'ement, London.
Meine Antwort auf den vorstehenden Brief. B e r l i n , den 10. September 1914. Sehr geehrte Herren! Die Worte: „Das Verhalten Großbritanniens ist das eines Verräters an der Zivilisation" habe ich nicht gebraucht, aber sie geben mein Urteil über dieses Verhalten richtig wieder. Der betreffende Satz in meiner Rede lautet: „Unsere Kultur, der Hauptschatz der Menschheit, war vornehmlich drei Völkern, ja ihnen fast allein, anvertraut: Uns, den Amerikanern und — den Engländern. Weiter sage ich nichts. Ich verhülle mein Haupt." Zu meinem tiefen Schmerze muß ich auch nach Ihrem Schreiben dieses Urteil aufrechterhalten. Sie behaupten, England habe lediglich zur Verteidigung der kleinen Nationen Serbien und Belgien und zum Schutze eines internationalen Vertrages das Schwert gezogen und ziehen müssen. Ich sehe in dieser Behauptung zum mindesten eine furchtbare Selbsttäuschung. Was Serbien anlangt, so steht es fest, daß seine Regierung an dem fluchwürdigen Verbrechen von Serajewo
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Meine Antwort auf den vorstehenden Brief. (1914)
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nicht unbeteiligt war, und es steht ferner fest, daß es seit Jahren mit Unterstützung Eußlands die österreichischen Südslawen mit den verwerflichsten Mitteln zu revolutionieren versucht hat. Wenn ihm endlich Österreich ein hartes Ultimatum stellte, ohne doch seinen territorialen Bestand anzugreifen, so war es Pflicht jeder zivilisierten Nation, also auch Englands, dies geschehen zu lassen; denn Österreichs Kaiserhaus, Österreichs Ehre und Österreichs Existenz waren angegriffen. Ließ es Serbien gewähren, so bedeutete das die Herrschaft Eußlands in der östlichen H ä l f t e des Balkans; denn Serbien ist nichts anderes als eine russische Satrapie, und der von Eußland betriebene Balkanbund richtete sich ausschließlich gegen Österreich. In England ist das genau so bekannt wie bei uns in Deutschland. Wenn Sie, sehr geehrte Herren, trotzdem zu urteilen wagen, es handle sich in diesem Falle lediglich darum, daß man die Selbständigkeit eines kleinen Staates gegen einen großen schützen müsse, so fällt es mir schwer, an Ihre bona fides zu glauben. Nicht um das kleine Serbien handelt es sich, sondern um den Lebenskampf Österreichs und der westlichen Kultur gegen den Panslawismus. Serbien ist doch nur ein vorgeschobener Posten Eußlands, und diesem Staat gegenüber ist Serbiens „Souveränität" weniger als ein Schatten; sie kann also von England nicht verteidigt werden, da sie in Wahrheit gar nicht mehr vorhanden ist. Dazu hat sich Serbien durch den feigsten Mord, den die Weltgeschichte kennt, aus der Eeihe der Staaten ausgestrichen, mit denen man auf dem Euße der Gleichheit verkehrt. Was würde England getan haben, wenn der Prinz von Wales von Emissären eines feindlichen Kleinstaats, der fort und fort die Iren revolutioniert hätte, meuchlings erschossen worden wäre? Würde es ein milderes Ultimatum gestellt haben als Österreich? Aber von dem allen sagen Sie in Ihrem Schreiben nichts, sondern wollen statt der furchtbaren Situation, in die Serbien und Eußland Österreich gebracht haben, nur die Nöte eines bedrängten Klein-
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staates sehen, dem man zu Hilfe kommen müsse! So zu urteilen, ist nicht mehr Blindheit, ja es wäre ein himmelschreiendes Verbrechen, wüßte man nicht, daß f ü r Großbritannien Lebensfragen anderer Großmächte überhaupt nicht existeren, weil es nur seine eigenen Lebensfragen und die solcher Kleinstaaten gelten läßt, deren Bestand f ü r Großbritannien wertvoll ist. Im Grunde ist Ihnen natürlich Serbien ganz so gleichgültig wie uns, ja auch Österreich ist Ihnen gleichgültig, und Sie sehen ein, daß Österreich ein Hecht dazu hatte, Serbien zu strafen. Aber weil Deutschland getroffen werden sollte, das hinter Österreich steht, darum ist Serbien der schuldlose Kleinstaat, der geschont werden muß! Was ist nun die Folge? Großbritannien geht mit Eußland gegen Deutschland! Was bedeutet das? Das bedeutet: Großbritannien reißt den Damm ein, der Westeuropa und seine Kultur vor dem Wüstensande der asiatischen Unkultur Eußlands und des Panslawismus geschützt hat. Nun müssen wir Deutsche ihn mit unsern Leibern ersetzen. Wir werden es unter Strömen von Blut tun und durchhalten. Wir müssen durchhalten ; denn wir verteidigen die Arbeit von anderthalb Jahrtausenden f ü r ganz Europa und auch f ü r Großbritannien! Aber der Tag, da Großbritannien den Damm zerriß, kann niemals in der Weltgeschichte vergessen werden. Und ihr Urteil wird lauten: An dem Tage, da sich die russisch-asiatische Macht auf die Kultur Westeuropas stürzte, erklärte Großbritannien, es müsse mit Eußland gehen, weil — „die Souveränität des Mörderstaates Serbien verletzt sei"! Doch nein — die Verteidigung der Souveränität Serbiens ist nach Ihrem Schreiben nicht der erste, sondern nur der zweite Grund der Kriegserklärung Großbritanniens gegen uns. Der erste Grund ist die Verletzung der Neutralität Belgiens durch uns: „Deutschland hat einen durch ihn selbst garantierten Vertrag gebrochen." Soll ich Sie erinnern, wie Großbritannien mit Verträgen und feierlichen
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Versprechungen umgesprungen ist ? Wie steht es ζ. B. mit Ägypten ? Aber davon abgesehen — Sie haben in Ihrem Schreiben wiederum die Hauptsache unterschlagen. Wir haben Belgien nicht den Krieg angekündigt, sondern wir haben erklärt : Da uns Rußland und Frankreich zwingen, einen Krieg mit zwei Fronten zu führen (190 Millionen gegen 68 Millionen), so müssen wir zusammenbrechen, wenn wir unseren Aufmarsch nicht durch Belgien nehmen können; wir werden das tun, aber wir werden uns vor jeder Schädigung Belgiens sorgfältig hüten und jeden Schaden ersetzen. Hand aufs Herz! Hätte Großbritannien, wenn es in unserer Lage gewesen wäre, auch nur einen Augenblick gezögert, es anders zu machen? Und — hätte Großbritannien das Schwert f ü r u n s gezogen, wenn F r a n k r e i c h die Neutralität Belgiens durch einen Durchmarsch verletzt hätte? Sie wissen ganz genau, daß Sie beide Fragen verneinen müssen! Unser Reichskanzler hat mit der ihm eigenen skrupulösen Gewissenhaftigkeit erklärt, ein gewisses Unrecht unsrerseits liege hier vor. Ich vermag ihm in diesem Urteil nicht zu folgen und kann auch nicht einmal ein formelles Unrecht anerkennen; denn wir waren in einer Lage, in der es überhaupt Formalien nicht mehr gibt, sondern nur noch sittliche Pflichten. Als David in höchster Not die Schaubrote vom Tische des Herrn nahm, war er ganz und gar im Rechte; denn der Buchstabe des Gesetzes existierte in diesem Moment nicht mehr. Das ist Ihnen so gut bekannt wie mir: Es gibt ein Notrecht, das Eisen bricht, wieviel mehr einen Vertrag! Würdigen Sie unsere Lage! Weisen Sie mir nach, daß Deutschland sich frivol ein Notrecht konstruiert hat, weisen Sie es mir nach in der Stunde, da Ihr Land noch zu unseren Feinden hinzugetreten ist und wir gegen die halbe Welt zu kämpfen haben! Sie können das nicht; Sie konnten das auch am 4. August nicht, und dennoch haben Sie diesen elendesten aller Vorwände sich ge-
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nommen — w e i l S i e u n s v e r n i c h t e n w o l l t e n . Nach Ihrem Briefe, meine Herren, muß ich annehmen, daß Sie zwar persönlich diese Absicht weit von sich weisen; aber glauben Sie selbst und wollen Sie mir wirklich einbilden, Ihre Staatsmänner hätten uns den Krieg erklärt, nur weil wir durch Belgien durchzumarschieren entschlossen waren? Für so töricht und frivol können Sie Ihre Staatsmänner nicht halten! Aber ich bin noch nicht am Ende. Nicht wir sind es gewesen, die die Neutralität Belgiens zuerst verletzt haben. Belgien, wie wir befürchten mußten und wie wir jetzt, durch Tatsachen belehrt, immer deutlicher sehen, war schon längst mit Frankreich im Bunde und — mit Ihnen. Frankreichs Flieger schwebten über Belgien, bevor wir einmarschierten, Abmachungen mit Frankreich haben stattgefunden. Verabredungen auch mit Ihnen liegen heute aller Welt vor; denn der Kreis der Beweise ist geschlossen und das betrügerische Spiel Großbritanniens ist aufgedeckt. Sie haben Belgien zum Kriege gegen uns ermutigt und verpflichtet, und daher fällt auf Ihr Haupt die furchtbare Verantwortung f ü r all das Elend, das dieses arme Land getroffen hat. Wäre es nach uns gegangen, so wäre keinem Belgier auch nur ein Haar gekrümmt worden! Wenn nun sowohl Serbien als Belgien nur nichtige Vorwände sind f ü r die Kriegserklärung Großbritanniens gegen uns, so bleibt schlechterdings kein anderer Grund f ü r diese Kriegserklärung übrig als die Absicht Ihrer Staatsmänner, uns zu vernichten oder doch so zu schwächen, daß Großbritannien allein auf der See und in allen fernen Weltteilen regiert. Diese Absicht leugnen Sie f ü r Ihre Person und ich muß Ihren Worten Glauben schenken. Aber leugnen Sie sie auch f ü r Ihre Regierung ? Das können Sie nicht; denn offen liegt zutage — wenn Großbritannien sich entschlossen hat, der großen Koalition Rußlands und des von Rußland regierten Frankreichs beizutreten, wenn es alle Gegensätze, die
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zwischen ihm und Rußland bestehen, beiseite setzt, wenn es nicht nur die Horden der Russen auf uns hetzt, sondern auch skrupellos die Japaner, „die gelbe Gefahr" über uns und Europa heraufbeschwört, wenn es also seine Pflichten gegen die europäische Kultur ins Meer versenkt — so gibt es dafür nur e i n e Erklärung und e i n Motiv: England glaubt, die Stunde sei gekommen, uns zu vernichten ? Warum will es uns vernichten? Weil es unsere Kraft, unseren Fleiß, unsere Blüte nicht dulden will! Eine andere Erklärung gibt es nicht 1 Wir und Großbritannien im Bunde mit Amerika konnten die Geschichte der Menschheit in friedlichem Verein auf eine höhere Stufe heben und in Frieden die Welt leiten, jedem das Seine lassend. Wir Deutschen kannten und kennen kein höheres Ideal als dieses. Um es durchzuführen, haben unser Kaiser und unser Volk während 43 Jahren viele Opfer gebracht. Entsprechend der Entwicklung unserer K r a f t konnten wir mehr beanspruchen, als was wir in der Welt an Land besitzen. Wir haben niemals daran gedacht, diese Ansprüche mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Die K r a f t unseres Volkes sollte sich in seinem Fleiße bewähren und in den friedlichen Früchten dieses Fleißes. Selbst das hat uns Großbritannien nicht gegönnt; es war neidisch auf unsere Kräfte, neidisch auf unsere Flotte, neidisch auf unsere Industrie und unsern Handel, und der Neid ist die Wurzel alles Übels. Er hat Großbritannien in diesen furchtbarsten Krieg, den die Weltgeschichte kennt, getrieben, dessen Ende unabsehbar ist. Was sollen Sie nun tun, meine Herren, wenn Ihnen die Augen aufgegangen sind über die Politik Ihres Vaterlandes? Ich vermag Ihnen im Namen unserer christlichen Kultur, die Ihre Regierung freventlich aufs Spiel gesetzt hat, nur den e i n e n Rat zu erteilen, Ihr Gewissen ferner nicht mit Serbien und Belgien, die Sie schützen müßten, zu beschwichtigen, sondern umzukehren und Ihrer Regierung in die Zügel zu fallen. Vielleicht ist es noch
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nicht zu spät. Was uns Deutsche aber betrifft, so ist uns unser Weg sicher vorgezeichnet, nicht aber unser Geschick. Fallen wir, was Gott und unser starker Arm verhüten mögen, so sinkt mit uns alle höhere Kultur in unserem Weltteil ins Grab, zu deren Wächter wir berufen waren; denn weder mit Rußland noch gegen Rußland wird Großbritannien sie in Europa mehr aufrecht erhalten können. Siegen wir — und der Sieg ist uns mehr als eine bloße Hoffnung —, so werden wir uns ebenso wie bisher f ü r die höhere Kultur, f ü r die Wissenschaft und f ü r den Frieden Europas verantwortlich fühlen und den Gedanken weit von uns weisen, eine Hegemonie in Europa aufrichten zu wollen. Wir werden zu jedem stehen, der mit uns in brüderlichem Verein ein friedliches Europa schaffen und erhalten will. Für die Fortsetzung Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich bin ich Ihnen persönlich dankbar. Ich werde auch ohne Not kein Band zerreißen, das mich mit den aufrichtigen Christen und mit der Wissenschaft Ihres Landes verbindet. Aber zurzeit hat diese Verbindung f ü r mich gar keinen Wert. Prof. v o n H a r n a c k . P o s t s k r i p t u m : E i n e n Kampf, der Ihnen Ehre macht, können Sie schon jetzt führen. Als vierte Großmacht hat sich gegen Deutschland die internationale Lügenpresse erhoben, überschüttet die Welt mit Lügen gegen unser herrliches und sittenstrenges Heer und verleumdet alles, was deutsch ist. Man hat uns fast alle Möglichkeiten abgeschnitten, uns gegen dieses „Tier aus dem Abgrund" zu verteidigen. Glauben Sie seinen Lügen nicht und verbreiten Sie die Wahrheit über uns! Wir sind auch heute nicht anders, als C a r l y l e uns Ihnen geschildert hat. Harnack.
WAS WIR SCHON GEWONNEN HABEN UND WAS WIR NOCH GEWINNEN MÜSSEN REDE AM 29. SEPTEMBER 1914 IN BERLIN GEHALTEN
Erschienen in den „Deutschen Reden in schwerer Zeit", Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1914.
Hochgeehrte Versammlung! Deutsche Brüder und Schwestern! Es war im Jahre 1859, da hat ein deutscher Prophet, E m a n u e l G e i b e l , folgende Verse gedichtet: Einst geschieht's, da wird die Schmach Seines Volks der Herr zerbrechen, Der auf Leipzigs Feldern sprach, Wird im Donner wieder sprechen. Dann, ο Deutschland, sei getrost, Dieses ist das erste Zeichen, Wenn verbündet West und Ost Wider dich die Hand sich reichen, Wenn verbündet Ost und West Wider dich zum Schwerte fassen, Wisse, daß dich Gott nicht läßt, Wenn du dich nicht selbst verlassen!
So ist es gekommen, so haben wir es erlebt. Ost und West haben sich gegen uns verbündet. Aber noch mehr ist geschehen, als der Sänger vor 55 Jahren ahnen konnte. Auch das sogenannte stammverwandte England hat sich ohne Scham zu unsern Feinden gesellt, ja es leitet den Weltkampf, und es leitet den ungeheuren Weltkampf aus gemeinem Konkurrenzneid und es f ü h r t ihn als Pirat. Und f ü r schnödes Bestechungsgeld hat sich noch eine vierte Großmacht wider uns mit den andern zusammengefunden: die Großmacht der internationalen Lügenpresse. Mit ihrem Kabel hat sie wie mit einer Riesenschlange, einer giftigen, den Erdball umzogen, und zugleich hat sie ver-
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sucht, uns selbst, unser Vaterland, mit einem Stacheldraht zu umziehen. Sie hat, wie jüngst B a l l i n - H a m b u r g so treffend gesagt hat, das Moratorium der Wahrheit in der Welt veranlaßt. Sie führt die Wahrheit gefangen, und die dümmsten und unsinnigsten Verleumdungen und Lügen über uns werden geglaubt. Aber, siehe da! Das Zweite, was der Dichter prophezeit hat, hat sich auch schon zu erfüllen begonnen. „Der auf Leipzigs Feldern sprach, wird im Donner wieder sprechen/' Er hat in den zwei Monaten, die hinter uns liegen, schon gesprochen. Festen Fußes stehen wir in den Ländern unserer Feinde nach großen Siegen und stoßen ihre Lügen in ihren Hals zurück. Der Wahrheit wollten sie nicht glauben, nun müssen sie unsern Waffen glauben! Ich schlage vor, daß beim Friedensschluß noch eine besondere Milliarde wegen Lügen eingesetzt wird. Aber zu stark, zu fürchterlich ist die europäische Verschwörung gegen uns, als daß wir sie in wenigen Monaten niederzwingen könnten. Wenn es in einem niederländischen Liede heißt: „Da war kaum begonnen, die Schlacht schon gewonnen", so konnte niemand von uns erwarten, daß wir solchen drei gewaltigen Feinden gegenüber im Sturm den Sieg erobern würden, so gewiß kein Deutscher zweifelt, daß wir ihn erobern werden, und so gewiß wir voll Spannung jetzt in den Tagen stehen, in welchen die Entscheidung, jedenfalls eine Hauptentscheidung, fallen muß. Dieser Krieg hat schon viel Blut und Tränen gekostet und wird noch mehr Blut und Tränen kosten als irgendein früherer, den unser Vaterland erlebt hat. Das wußten wir, und so erleben wir es. Wo ist denn noch ein Haus, eine Familie oder ein Verwandten- und Freundeskreis, der nicht schon tief betroffen wäre? Gatten, Söhne, Brüder, einzige, viele, alle; „hier fanden sie Gesellschaft fein, fiel'n wie die Kräuter im Maien".
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Blut und Tränen! Aber wie ? Sucht nach den Weinenden ; findet ihr sie von trostlosem Schmerz verzehrt ? Nein! Wohl sah ich schon viele liebe Augen tränenvoll; aber es waren Tränen, wie ich sie noch nie in meinem Leben geschaut habe, Tränen, auf denen der Glanz eines freudigen Stolzes lag, Tränen, die in fester Zuversicht schimmerten, ja sogar in Dankbarkeit: „Ich durfte ein Opfer bringen; ich habe ein Opfer gebracht." Wer solche Tränen geschaut und in solche Augen geblickt hat, der hat den Eindruck des Ewigen und Seligen mitten in dem Leid! Und nicht traurig nur, nein fromm und feierlich zugleich wird uns zumute, wenn wir wieder von einem Todesopfer hören. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Die Gefühle des Triumphes im Auf blick zu unserem Vaterland eind stärker als die Gefühle der N a t u r ! Damit bin ich schon mitten in die Beantwortung der Fragen eingetreten, die uns beschäftigen sollen in dieser Stunde: W a s h a b e n w i r s c h o n g e w o n n e n u n d w a s m ü s s e n w i r n o c h g e w i n n e n ? In kurzen und schlichten Worten will ich diese beiden Fragen zu beantworten versuchen. Erstens also: W a s h a b e n w i r s c h o n g e w o n n e n ? Nur flüchtig will ich auf das Äußere blicken. Auf dem Westschauplatz haben wir einen großen Teil von Nordfrankreich besetzt. Da haben wir im August in vielen Kämpfen — es war ja eine einzige marschierende Schlacht — Sieg auf Sieg erfochten bis an die Grenzen der feindlichen Hauptstadt. Dann haben wir im September ohne Niederlagen teilweise die Truppen zurückgenommen, um in einer ehernen Schlachtlinie von Arras und Noyon bis Verdun alles zusammenzufassen zu einem Hauptschlage. Zu diesem vernichtenden Schlage haben wir nunmehr ausgeholt. Weiter, in unserem teuren Ostpreußen ist es den deutschen Waffen gelungen, nicht nur einen viel zahlreicheren Feind aufs Haupt zu schlagen und aus dem Lande zu werfen, sondern
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so zu schlagen, wie die Weltgeschichte einen solchen Sieg seit dem Tage von Cannä nicht gesehen hat. Fortab wird in ihren Annalen der Name H i n d e n b u r g zugleich mit dem Namen der ostpreußischen Ausdauer und Geduld unvergänglich sein! Und auf dem dritten Schauplatz, Polen und Galizien, ist nach großen Siegen und ruhmvollen Taten unserer treuen Bundesgenossen, der Österreicher, trotz eines zeitweiligen strategischen Rückzugs nicht nur nichts verloren, sondern wir dürfen auch hier getrost einer nahen Entscheidungsschlacht entgegensehen; denn wir stehen mit den Österreichern geeint in Galizien und in dem Lande des Feindes und wir haben allen Grund, auf die beste Führung der Armeen auch hier rechnen zu dürfen. Unsere Flotte — man sagt wohl, sie habe im großen noch nichts getan. Nun, sie hat so viel im großen getan, daß sich die größte Flotte der Welt, „die Beherrscherin der Meere", bisher nichts zu tun getraut hat. Wäre unsere Flotte weniger bedeutend und weniger zu fürchten, wie anders wäre es gekommen! Abgesehen davon aber, daß wir die Engländer in gehörigem Respekt halten, ist erstens noch nicht aller Tage Abend und zweitens: U 9! — mehr sage ich nicht! Endlich müssen wir, was den bereits erreichten Gewinn betrifft, den Erfolg auf das Höchste schätzen, daß sich Österreich-Ungarn, welches in Nationalitäten zerklüftet und durch böses Parteiwesen geschwächt erschien, wie ein Mann zusammengeschlossen hat, und zwar in dem Geiste seines einigen und starken Heeres, in welchem deutsche Art und deutsches Wort regieren, und in welchem alle Nationalitäten nunmehr von dem österreichisch-ungarischen Staatsgedanken einmütig beherrscht sind. Das ist eine Errungenschaft von ganz unsäglicher Bedeutung, die, das wissen wir, fortwirken wird auf Generationen hinaus. Wie Österreich an uns, so haben wir an Österreich den treuesten und starken Bundesgenossen. Aber ich wollte auf das Äußere nur hindeuten. Woran
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mir in dieser Stunde vor allem liegt, ist die Beantwortung der Frage: W a s h a b e n w i r i m I n n e r n b e r e i t s g e w o n n e n , das uns u n v e r l i e r b a r u n d u n e n t r e i ß b a r i s t ? Da sage ich. erstens: Wir haben ganz neu gewonnen unser liebes, teures, herrliches V a t e r l a n d . Sehen Sie, meine Damen und Herren, im Frieden — wie leicht wird „Vaterland" ein bloßes Wort und eine blasse Idee, um nicht davon zu sprechen, daß es hin und her schien, als wollten manche gar kein Vaterland mehr haben oder als gebe es Ideen und Güter, die an die Stelle dieser Idee und dieses Gutes treten könnten. Es war auch zuviel des Haders und Streites, der Parteikämpfe und der Selbstsucht unter uns und auch zuviel Kleinlichkeit und alles mögliche, was nicht sein sollte. Wohl sang man in den Schulen: Treue Liebe bis zum Grabe Schwör' ich dir mit Herz und Hand, Was ich bin und was ich habe, Dank ich dir, mein Vaterland!
Aber hatten wir alle das wirklich so recht bedacht? Da kam der Krieg, da kam die Erklärung unseres teuren Kaisers: „Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur Deutsche." Da kam die herrliche Reichstagssitzung vom 4. August — sie mitgemacht zu haben, wird mir eine leuchtende Erinnerung sein, solange ich lebe —, jene Sitzung, in der man nun wirklich sah: es gab keine Parteien mehr, es gab keine Nationalliberalen und kein Zentrum und keine Sozialdemokraten; sie wollten alle nichts als Deutsche sein und dem Vaterlande jedes Opfer bringen. In dieser feurigen Bereitschaft: Für das Vaterland jeden Mann und jeden Groschen, zerschmolz alles Eigensüchtige und Parteimäßige, und als eine große Realität stand einzig da: das Vaterland! Jeder Deutsche ist Deutschland, Deutschland ist in jedem Deutschen! Meine Brüder und Schwestern! Das wollen wir festhalten in unverbrüchlicher Erinnerung bis zum Ende unseres Lebens!
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Weiter aber: Es gilt vom Vaterlande wie von. jedem großen geistigen Gut, nämlich nur solange wir mit Bewußtsein nach ihm streben, besitzen wir es. Dagegen, sobald wir es f ü r einen sicheren Besitz halten, haben wir es schon verloren. Geistige, ideale Güter sind immer nur als Ziele unser Eigentum; denn sie müssen immer neu verwirklicht werden. Ruhender Besitz ist hier toter Besitz. Man trägt das Ideal nicht in der Tasche mit sich herum, und jedem ruhenden Ideal gegenüber werden alsbald Stimmen laut, die es f ü r mehr oder weniger veraltet und wertlos erklären. Sie verkündigten auch hier, es gebe höhere Ideale, Kosmopolitismus, Internationale usw. Da ist der Krieg zur rechten Zeit gekommen und hat alle diese Irrlichter ausgelöscht und die heilige Flamme des Vaterlandes wieder entfacht. Erst wo sie glüht, können wir die große Mission später wieder aufnehmen, die dem deutschen Volke eigentümlich ist, nämlich das Beste, was andere Völker hervorgebracht haben, dankbar zu würdigen und sich anzueignen und sodann diesen andern Völkern die tiefe, gesättigte Kultur mit dem deutschen Stempel zuzuführen. Aber wir können immer nur wir selber sein, wenn wir etwas Tüchtiges sein wollen. Wenn ich ein profanes, ein äußeres Gleichnis brauchen darf — es gibt kein Obst, es gibt nur Äpfel, Birnen usw. Wenn wir ein gutes Obst sein wollen, müssen wir ein guter Apfel sein. In anderer Weise können wir der Menschheit nichts nützen. Eine Kultur ohne nationalen Charakter ist charakterlos, dünn und schal. Aber jetzt haben wir unser Vaterland; in jedem einzelnen lebt es; es ist auf einmal die große Wirklichkeit geworden. Wie ist das herrlich, daß diese — ich will nicht sagen, Idee — ich will sagen, daß diese K r a f t uns alle jetzt eint! Das ist das Erste, was uns der Krieg gebracht hat und noch weiter bringen wird. — Ferner aber, seit etwa zwei Jahrhunderten und etwas mehr schweben drei große Worte
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als Ziele politisch-sozialen Lebens über der westeuropäischen Menschheit, nämlich die Worte: F r e i h e i t , G l e i c h h e i t , B r ü d e r l i c h k e i t . Es ist ein Irrtum zu meinen, daß die französische Revolution diese drei großen Töne zuerst angeschlagen hätte. Sie sind auf dem harten Boden der Kirchen Calvins zuerst laut geworden. Die frommen Puritaner, Cromwells Scharen, haben diese Ideen als die hohen Ziele und Kräfte eines Volkes herausgearbeitet, und von ihnen über Amerika sind sie dann nach Frankreich und weiter gekommen. Wir wissen: diese drei Worte sind entweder gar nichts, ein oberflächliches Gerede, ein leerer Schall und eine schwere Irreführung, oder aber, wenn sie im tiefsten Sinn erfaßt und auf ihre wahren Wurzeln zurückgeführt werden, sind sie in der Tat die großen Ziele, zu denen sich zu entwickeln eines Volks und der Menschheit würdig ist. Wie steht es heute unter uns mit ihnen? F r e i h e i t ! Meine Freunde und Freundinnen, braust nicht in uns allen von dem Tage ab, da der Krieg begann, ein Freiheitsgefühl? Mitten in Druck und Not ist gerade dieses Gefühl um so stärker geworden. Woher kommt das? Nun, wenn's um die Freiheit geht — und es geht um unsere Freiheit und um unsere Existenz —, dann erwacht und leuchtet eben der Freiheitswille am stärksten. Was heißt denn Freiheit? Das mit Freude und ganzer Hingebung und unbehindert tun, was man tun soll, das tun w o l l e n , was man tun muß. Die große Selbstverständlichkeit der höchsten Pflicht, in den Willen aufgenommen und zu kräftiger Tat gebracht: das ist wahre Freiheit. Wer in ihr steht, der ist in sich geschlossen, bebt nicht und sorgt nicht und kann nicht zerfallen. Nicht Willkür, ungebundene Zügellosigkeit und Sinnenfreiheit ist Freiheit. Sie bringen schließlich nur Überdruß und Ekel und innerliche Selbstauflösung. Dagegen wo die wahre Freiheit braust, in der Sollen und Wollen unter einem großen Gedanken eins sind, da blüht und glüht das Leben, und je größere Gefahren einen solchen Mann umstürmen, um
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so sicherer gilt von ihm: ,,Recht wie ein Palmenbaum über sich steigt, je mehr ihn Regen und Wetter anfeucht'." Diese Freiheit hat in einem kräftigen Strahl unsere Herzen wieder berührt. Wir haben sie gewonnen, und deswegen haben wir auch ein neues Verständnis f ü r die kräftigen alten Freiheitslieder gewonnen, wie sie vor hundert Jahren gedichtet worden sind. Ich hebe nur eines hervor in seinen ersten Zeilen: Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Der wollte keine Knechte!
Weder Knechte des Auslandes, noch Knechte im Innern wollen wir sein; alles Knechtische liegt unter unserem Fuße! Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte freie Leute. Der Krieg hat sie erweckt! Aber wir müssen durchhalten und wir werden durchhalten! Glauben Sie mir — „allein schon durch den Willen sind wir von den Banden frei". Dieser Wille, unsere Freiheit zu halten, hat sich schon als unwiderstehlich gezeigt und wird sich nicht niederwerfen lassen. Zweitens, G l e i c h h e i t ! Wir haben einen großen Gleichmacher, das ist der Tod. Traurig aber ist es, wenn es in der Gesellschaft, im Volke keinen anderen Gleichmacher gibt als den Tod. Aber jetzt ist ein anderer Gleichmacher aufgestanden: der Krieg. Ja auch der Krieg ist ein großer Gleichmacher. Warum ist er es? Weil es in dem Kriege hervortritt f ü r alle gleich: du mußt unverbrüchlich gehorchen und du bist berufen — heute, morgen, in den nächsten Stunden kann's geschehen — zu befehlen. Unser herrliches Heer, welches das Ausland nicht versteht — in blöden Worten spricht es von militärischem Despotismus und sieht nicht, daß die Tugenden, die es selbst an uns schätzt, eben im Heere ihre kräftigste Ausgestaltung haben — unser herrliches Heer wird ebenso zu gehorchen wie zu befehlen gelehrt. Noch vor wenigen Tagen bekam
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ich eine Postkarte, in der stand: „Niedergeschossen sind die Hauptleute, unsere Leutnants sind alle gefallen, der Feldwebel f ü h r t die Kompagnie." Dieses Ineinander von Gehorsam und Befehlen, die Verantwortung, die ein jeder Krieger trägt, auf welcher Rangstufe er auch steht, der Geist der Kameradschaftlichkeit, in welchem die Offiziere zuerst f ü r die Mannschaften und die Kompagnie zuerst f ü r ihren Hauptmann sorgt — das ist der wahre, herzbewegende Geist der Gleichheit, der immer im Heere war, aber im Kriege mit doppelter Stärke hervorbricht. Aber, meine Brüder und Schwestern, wenn ich von Gleichheit spreche, die wir durch den Krieg gewonnen haben, meine ich noch etwas Höheres. Lassen Sie mich etwas ausholen: Wir alle, wer wir auch nein mögen, stehen in einem doppelten Beruf. Ein jeder von uns hat einen äußeren Beruf und durch diesen sind wir mehr oder weniger voneinander geschieden und getrennt. Aber ein jeder und eine jede unter uns hat noch einen zweiten verborgenen Beruf: Wir sollen, welche Uniform im Leben wir auch tragen, M e n s c h e n sein, an unserem Teile die Idee des Menschen, des Gottesmenschen, verwirklichen, alles Kleinliche und Selbstische unter unsere Füße treten und soviel Gutes und Edles um uns wirken, wie wir können. In diesem zweiten Berufe sind wir alle gleich, was wir auch sonst sein mögen. Aber Sie wissen es — in den matten Zeiten des Friedens werden wir in diesem zweiten Beruf selbst leicht matt und schlaff. Er wird gleichsam unterirdisch f ü r uns, er wird latent und lebt oft nur noch im stillen Kämmerlein oder in den Herzen einiger Edlen. Aber jetzt ist es anders! Jetzt ist er hervorgebrochen und hat uns alle erfaßt, geeinigt und gleichgemacht! Weil es ums Ganze geht, nicht um Wissenschaft oder um Handel oder um Ackerbau, sondern ums Ganze, um unser politisches Dasein und unsere höhere Kultur — darum fühlen wir nun alle in uns diesen unsern
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zweiten Beruf, diesen Beruf, der uns alle gleichmacht! Ein erhebendes Gefühl — gewiß haben auch Sie es empfunden! — wir sind uns alle viel nähergekommen, wir stehen alle zusammen auf e i n e r Stufe. Da gibt's keine trennenden Unterschiede mehr. I n dem Beruf, nun fürs Vaterland und f ü r jeden Mitbruder das Beste zu tun, sind wir alle gleich. Und damit bin ich schon zum Dritten gekommen: B r ü d e r l i c h k e i t u n d E i n h e i t ! Mit wie anderen Augen sieht jetzt jeder seinen Landsmann a n ! Zieht einer hinaus-—· es wird vielleicht bald von ihm gelten: Er starb f ü r dich, und mit Ehrfurcht sieht man ihn hinausziehen. Dort sieht man eine Mutter •— vielleicht wird schon morgen von ihr gelten: Sie hat das Opfer ihres Sohnes dem Yaterlande gebracht, und so geht es fort, Hunderte, Tausende! Das große Opfer schafft die große Brüderlichkeit, und wir verstehen wieder etwas von den hohen Ideen, die in matten Zeiten unverstanden und kraftlos am Boden liegen, ja wohl sogar verspottet werden: O p f e r , G e n u g t u u n g , S t e l l v e r t r e t u n g . Sie treten jetzt wieder hervor, werden jedem von uns vor die Augen gerückt und begründen unter uns eine neue Blutsverwandtschaft und Brüderlichkeit. Und daneben hat bei denen, die zu Hause bleiben mußten, d a s g r o ß e b r ü d e r l i c h e G e b e n begonnen. Wie selbstverständlich ist uns das; denn wenn draußen Blut und Leben eingesetzt wird, wie sollten wir da nicht alles geben, was wir können? So sehen wir es denn auch jetzt in unserem Yaterlande ! Das ist noch ein anderes Geben als zu Weihnachten, das ist ein Strom von Gaben — von den größten Geldsummen bis zum Scherflein der Witwe. Dieses Geben, dieses Opfern, diese Stellvertretung wird uns in neuer Weise zu Brüdern und Schwestern machen und in unserem Vaterlande eine Gemeinschaft stiften, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not. Weiter aber: ich finde auch — und ich hoffe, ich habe diese Erfahrung nicht allein gemacht —, man kommt sich
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überall mit mehr Zuvorkommenheit, mit größerer, wie ich sagen darf, Ehrerbietung, mit Liebe und Hilfeleistung entgegen. Es ist anders, als es noch vor wenigen Monaten war. „Niemand hat größere Liebe, denn daß er sein Leben läßt f ü r seine Brüder." Weil dieses Wort unter uns wirklich geworden ist, quillt auch aus ihm im kleineren ein Strom von Herzlichkeit und Güte! Aber das große Todesopfer bringt nicht nur der Gefallene. Gattinnen, Mütter, Brüder, Schwestern und Freunde bringen es mit, und es trifft sie gewiß oft härter als den Toten selbst. Es geht ein Schwert durch die Seele, wie bei jeder großen Erlösungstat. Aber ihr Herz bricht nicht und stirbt nicht; denn in dem großen: „Für euch", trägt und stützt einer den andern, und der gemeinsame Schmerz eint uns alle. In ihm sind wir alle Brüder und Schwestern. So, darf ich sagen, haben wir im tiefsten jene herrlichen Güter gewonnen, F r e i h e i t , G l e i c h h e i t , B r ü d e r l i c h k e i t , und in ihnen lebt und strahlt nun unser teures Vaterland. Und nun lassen Sie mich noch eines hier sagen: Als der Krieg begann, füllten sich die Kirchen. Gewiß kam das aus einem tiefen Drang. Da war nichts Konventionelles und Gemachtes. Wer kann in ernstester Stunde anders scheinen, als er ist ? Aber das Kirchengehen, so schön das war, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß wir tiefe Frömmigkeit wiedergewinnen. Was ist Frömmigkeit? Höheres, inneres Leben über der Zeit. Was heißt, einen Gott haben? Zuversicht haben, ob auch alle Teufel hie wollten widerstehen und ob auch das irdische Leben zerbricht. Frömmigkeit ist Gesinnung und Tat, Ergebung und Selbstlosigkeit, lautere Demut und Mut. Frömmigkeit ist die Gewißheit eines Ewigen inmitten und über der Zeit. Frömmigkeit ist nicht Grübeln und theologisches Geschwätz, nicht Kirchlichkeit und Fanatismus, sondern Frömmigkeit lebt nur in der Gesinnung und in edler
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selbstloser Tat. Man hat seinen Gott nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen, und ich sage es kühnlich: es gibt manche — ich habe selber solche kennen gelernt —, die mit dem Munde Atheisten sind und doch ihres Gottes innerlich gewiß sind, wie es umgekehrt gottlose Kopf- und Mundchristen gibt. Also, wenn wir die Religion wiedergewinnen, die Gesinnung und Tat ist — und ich glaube, ich habe es an vielen Augen und Herzen schon gesehen, wir gewinnen sie —, dann haben wir das Größte gewonnen — jene Religion, die den Menschen ergeben und dabei doch nicht resigniert und stumpf macht, jene, die sich jedes Leid zum Kreuz umbiegt, jene, aus der die große K r a f t quillt: Unverzagt und ohne Grauen Soll ein Christ, wo er ist, Stets sich lassen schauen, Wollt' ihn auch der Tod aufreiben, Soll der Mut dennoch gut Und fein stille bleiben.
Das ist Christentum, dieser große Mut in der Gewißheit, daß unser ewiges Teil nicht fällt und nicht stirbt. Wer könnte denn auch seinen Sohn oder seinen Gatten oder seinen Bruder freudig hingeben, wenn er nicht im Herzen wüßte, daß der Tod nicht der Übel größtes ist, und wenn er nicht ausschaute auf ein ewiges Reich, dessen Bürger wir sind, wenn wir auch nicht ahnen, wie es dort zugeht. D i e W i r k l i c h k e i t a l l e r h o h e n D i n g e — sie hat uns der Krieg nähergebracht und unsere Seele ist erfüllt von ihnen. Also — ist es nicht ein ganzer Chor von Kräften und Tugenden, die wir gewonnen haben, so daß wir uns aus diesem reichfließenden Born schöpfen können? Das große Geben, das große Opfer, das große Glauben, das große Vertrauen, die große Liebe!
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Blicken wir demgegenüber auf das bisherige gewöhnliche Leben, wie es sich im Frieden abspielt. I m Frieden, da stehen wir unter dem Bürgerlichen Gesetzbuch und unter dem Strafgesetzbuch, und beide Gesetzbücher erlauben einem, soweit eigensüchtig und sittlich unanständig zu sein, wie man mit ihnen nicht in Konflikt kommt. Man darf lügen, man darf stets nur auf seinen Vorteil bedacht sein, man darf, wenn man ζ. B. an eine gefahrvolle Stelle geschickt wird, kommen und sagen: Ich bin gar nicht hingegangen; ich hätte ja vielleicht dabei etwas riskiert. Es ist uns gestattet, den Nächsten zu schädigen und auszubeuten, wie es uns beliebt, wenn wir nur dabei an den „Paragraphen" vorbeikommen. Das alles erlaubt das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch. Beide gehen davon aus, daß jeder sich selbst der Nächste ist, und sie schützen einen großen Teil Eigennutz und Selbstsucht als etwas Selbstverständliches. So ist's, es kann wohl nicht anders sein. Jetzt aber, unter dem Zeichen des großen Krieges, denken die draußen nicht mehr daran, ihr Leben nach dem, was die Gesetzbücher erlauben, selbstisch einzurichten, und wir im Lande wollen auch mehr und Besseres tun, als uns nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch allein richten. Weil wir alles verlieren können, setzen wir füreinander auch alles ein. Auf diese Höhe hat uns der Krieg gehoben! Wie wunderbar ist das! Wieviel Kleinsinn und Niedriges ist weggeechmolzen, wie viele Stricke, die unsere wahre Freiheit zum Guten fesselten, sind gelöst! J a wir dürfen ausrufen: „Der Strick ist zerrissen, und wir sind f r e i ! " Das ist, was wir gewonnen haben. W a s h a b e n w i r n o c h zu g e w i n n e n ? Nun erstlich, wir haben das zu gewinnen, d a ß w i r d a s , w a s w i r j e t z t i n d i e s e n M o n a t e n e r l e b e n , n i e w i e d e r zu e r l e b e n b r a u c h e n , das heißt: der Friede muß so geschlossen werden, daß wir und unsere Kinder und Kindeskinder — soviel sage
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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ich, einen ewigen Frieden gibt es wohl niemals auf Erden — im Schatten dieses Friedens ruhig arbeiten und schaffen können. Das s i n d w i r u n s e r n Toten s c h u l d i g . Wie der Friede im einzelnen zu schließen ist, lasse ich ganz dahingestellt. Wer weiß das heute! Aber unsere Losung muß ganz einfach lauten: Wir wollen und dürfen das nicht wieder erleben! Es sagt wohl mancher, wir hätten es gar nicht zu erleben brauchen, wenn wir eine bessere Diplomatie gehabt hätten. Ich bin, Gott sei Dank, kein Diplomat und auch nicht eingeweiht in die Geheimnisse der Diplomatie. Es mag sein, daß sie nicht sehr gut war. Eins ist mir aber ganz gewiß: Der Krieg wäre auch bei einer besseren, ja sogar bei der besten Diplomatie ausgebrochen; denn es gibt zwar sehr vieles, was man friedlich bezwingen kann, aber kaufmännischen Konkurrenzneid eines ganzen Volkes kann man friedlich nicht bezwingen. Zweitens, was wir gewinnen müssen, das ist: Aush a r r e n . Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Es ist aber viel leichter die zwei ersten Monate zu durchleben als die zwei folgenden und dann noch zwei. Ich bin kein Prophet; ich weiß nicht, wieviel Monate es sein werden; ich weiß aber wohl, daß noch manche kommen werden. Da müssen wir nun durchhalten und uns immer wieder sagen, wenn wir matt oder stumpf werden oder träge oder kleinmütig: Wa3 fällt dir ein ! Die draußen müssen im fremden Land in nassen Gräben in Frost und Kälte tagelang zubringen, und du willst hier im Vaterland nicht ausharren ? Du Schalksknecht! Du Memme! Wir müssen uns Mann für Mann selbst in die Schule des Ausharrens und der Geduld nehmen, und einer muß für den andern, wenn er ungeduldig oder schlapp wird, eintreten und ihm freudigen Mut und Stärke bringen. Trotz allem, was auch kommen mag, müssen wir jeden Morgen mit der zuversichtlichen Bitte aufstehen:
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Er gebe uns ein fröhlich Herz, Erquicke Geist und Sinn, Und werf' all' Angst, Not, Sorg5 und Schmerz Ins Meeres Tiefe hin.
Das also ist das zweite: Ausdauer müssen wir gewinnen und freudige Zuversicht bis zuletzt. Das dritte aber, was wir noch gewinnen müssen, zumal wenn der Frieden kommt, ist mehr V e r t r ä g l i c h k e i t und mehr D u l d u n g und V e r s ö h n l i c h k e i t untereinander. Meine Damen und Herren, oder besser: Brüder und Schwestern! Wir Deutsche, sagt Martin Luther, sind ein toll und tobend Volk, das nicht einig wird, es treibe denn die höchste Not. Rottereien zu machen, das können wir nicht lassen; wir bekämpfen uns aufs bitterste und versteifen uns ein jeder auf seine Rotte, als ob sie das Vaterland wäre und als ob die Wahrheit, das Recht und alle Güter nur bei dieser Partei wären. Ich mache dabei unter den Parteien keinen Unterschied. Das dürfen wir nicht fortsetzen; das muß der große Krieg uns abgewöhnen. Der Herr Jesus hat gesagt: „Arme habt ihr alle Zeit bei euch." Gewiß! Aber man kann fortfahren: „Auch Parteien werdet ihr alle Zeit bei euch haben." Das ist sicher: die Parteien werden wiederkommen; sie alle kommen wieder zurück. Darum muß man sich schon jetzt auf diese Rückkehr richtig vorbereiten mit dem kräftigen Entschluß: Wir wollen alles tun, was wir können, um das Gift, die Lüge, die Verleumdung aus dem Parteiwesen zu entfernen. Es muß möglich sein! Halten wir im Kriege jetzt so einmütig zusammen, wissen wir, daß die höchsten Güter uns allen gemeinsam sind und turmhoch über den Parteien stehen, so müßte schon die leise Erinnerung daran im Frieden das Parteigift austreiben. Hoffentlich hilft uns dann auch die Presse dazu. Wir haben in Deutschland die beste Presse und sind darin jedem andern Lande über-
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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legen; dennoch trug auch sie Schuld an der Parteivergiftung. Auch sie muß aus dem Kriege lernen! Weiter: wie wir immer Parteien haben werden, so werden wir immer verschiedene Stände haben. Alles wird wiederkommen: Rangordnungen und Stufen, Kammerherren und Diener. Aber eins braucht nicht wiederzukommen, was ich immer mit tiefem Unwillen und mit Beschämung als einen schweren Rückstand bei uns empfunden habe, der Kastengeist. Sehen Sie, meine Brüder und Schwestern, da können wir Norddeutsche von den Süddeutschen noch viel lernen; die sind schon weiter in dieser Hinsicht als wir und wissen wenig mehr von dem schlimmen Kastengeist. Er hat ja bei uns im ostelbischen Deutschland alle möglichen geschichtlichen Gründe. Wir haben später mit der Kultur angefangen, und die Kultur beginnt immer mit solchen Kastenordnungen und solchen Zuständen, wie wir sie nicht wünschen und wie sie unsrer nicht mehr würdig sind. Von ihnen ist noch ein bedeutender Rest unter uns da — keineswegs nur bei den sogenannten oberen Ständen. Auch der kleine Mann hat seine Rang- und Kastenstufung. Dieser Kastengeist, diese, wie soll ich sagen, patriarchalische Begönnerung, aber auch jener unhumane Geist, der zuerst auf den Stand und dann erst auf den Menschen sieht, er muß aufhören. Wir haben zusammen gestritten und gekämpft auf e i n e r Stufe. Also müssen wir endlich jetzt so weit kommen wie ζ. B. die Amerikaner, daß nämlich ein jeder in dem andern, weß Standes er auch sei und was sein Beruf sein mag, den gleichwertigen Mitbürger sieht — bis er sich unzweideutig vom Gegenteil überzeugt. Auch soll nur e i n V e r k e h r s t o n herrschen, nicht aber eine ganze Klaviatur, je nach Rang und Stand. Ich bin überzeugt, daß ein großer Teil des Unfriedens in unserm Vaterland in dem Momente wegfällt, wo das abscheuliche Kastenwesen und die verschiedenen „Verkehrstöne" aufhören. Also mehr Verträglichkeit, An-
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erkennung und Toleranz untereinander — auch in konfessioneller Hinsicht sei das gesagt; hier hat noch sehr viel zu geschehen, damit wir wirklich ein einig Volk von Brüdern werden. Und nun habe ich nur noch eins auf dem Herzen, was ich in dieser feierlichen Stunde nicht ungesagt lassen darf, aber doch nur kurz berühren will. Wir müssen gewinnen, daß wir nicht so —• ich will mich möglichst zurückhaltend ausdrücken — leichtmütig und unbesorgt auf allerlei Pikanterien usw. im Leben, in der Schaustellung und Lektüre und in der Mode eingehen; denn ehe wir uns versehen, kommen wir dadurch in den Schmutz, den wir doch nicht wollen. Blicken Sie auf unsre Soldaten! Sie wissen ganz genau, sie dürfen schon in die Vorpostenkette keinen Feind hineinlassen; denn sind einmal die Vorposten gefallen, so fängt schon die Niederlage an. Ebenso müssen wir diese Dinge, auf die ich nicht näher eingehen will — Sie wissen alle, um was es sich handelt —, behandeln wie einen Feind, den wir auch nicht in die Außenlinie hineinlassen. Wenn er auch zunächst schwach und unbedeutend scheint — stärkere Truppen rücken ihm nach, und hat er erst Eingang gewonnen, so nimmt er bald völlig Besitz. Wenn unser Deutschland von diesen schlimmen Dingen erst wieder befreit wird und wenn wir einen stillen Bund schließen — Vereine braucht man nicht zu gründen —, einen stillen Bund, vor allem die Mütter und die Väter, die doch auf die Entwicklung ihrer Kinder in der Gegenwart mit Sorge sehen müssen, wenn wir uns geloben, wir wollen das Gemeine nicht mehr haben, wir wollen aus guten und reinen Quellen Anregung, K r a f t und Freude schöpfen — wenn wir das gewinnen, dann wäre es eine Lust zu leben! Nun zum Schluß: dieser Krieg hat gezeigt und wird noch zeigen — das dürfen "wir ohne Überhebung sagen — daß die Nation, welche die größte sittliche K r a f t entwickelt und die strengste Disziplin ausgebildet hat, den Sieg behält.
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Gewiß, niemand wird die elementare K r a f t Kruppscher 42 - cm - Geschütze, niemand wird die ungeheure Stoßkraft unsres Heeres, vor allem unsrer Infanterie, unterschätzen — „jeder Infanterist ist ein Held", ist mir jüngst geschrieben worden. Aber die Truppen selbst werden bekennen: Was wir leisten und sind, verdanken wir unsrer Schulung im Frieden, verdanken wir der sittlichen Zucht, in die wir genommen waren, verdanken wir dem Geiste, den unsre Führer in uns entzündet haben und der unser großes Vaterland zusammenhält. Heer und Volk sind eins, und der Krieg ist die Probe des Friedens. Hier liegt das Entscheidende. Gott gebe, daß uns dieser Geist erhalten bleibt und wir ihn immer sicherer gewinnen. Dann werden wir es gewiß erleben — sei es über kurz oder lang, wie Gott will —, daß wir zusammentreten und den großen Sieg feiern mit den Worten: Nun töne laut: der Herr ist da, Von Sternen glänzt die Nacht, Er hat, damit uns Heil geschah, Gestritten und gewacht. Für alle, die ihm angestammt, Für uns war es getan, Und wie's von Berg zu Bergen flammt, Entzücken flamm' hinan!
Unser herrliches Heer und sein großer Heerführer, unser teurer Kaiser, sie leben hoch!
Der Abschied γοη der weifsen Weste." In einem Artikel des „Tags" (13. April) hat Freiherr v. Zedlitz und Neukirch unter der obenstehenden Aufschrift Ausführungen veröffentlicht, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen; denn entweder werden sie schwere Verwirrungen hervorrufen oder, im schlimmeren Fall, uns nötigen, mit der weißen Weste auch dem guten Gewissen den Abschied zu geben. Die „weiße Weste" nennt Freiherr v. Zedlitz die Rücksicht auf die zukünftige P r ü f u n g der Geschichte bei unseren politischen und militärischen Entschließungen. Solche Rücksicht sei eine „deutsche Spezialität", wie die Sentimentalität, und dazu noch eine „Erfindung der neueren Zeit". England habe sich niemals um die „weiße Weste" gekümmert, aber auch Friedrich der Große und Bismarck hätten sich jeden Ratgeber verbeten, der, von des Gedankens Blässe angekränkelt, sie auf die zukünftige Zensur der Geschichte hingewiesen hätte und ihnen damit in den Arm gefallen wäre; besonders lehrreich sei in dieser Hinsicht Bismarcks Forderung der Beschießung von Paris. In der Gegenwart aber rege sich bei der „Gewalttätigkeit" des Weltkrieges die Rücksicht auf die „weiße Weste" in unserm Vaterlande — bei unseren Feinden sei nichts davon zu spüren — stärker als jemals; Männer, die von aller Sentimentalität frei sind, werden von der Sorge ergriffen, ob sich die starken Waffen, die wir führen und mit denen wir Frauen und Kinder in das Verderben hineinziehen, vor dem Richterspruch der Geschichte rechtfertigen lassen. Eben diese Sorge aber r u f e umgekehrt in solchen Kreisen, „bei denen der vaterländische Sinn besonders stark ausgeprägt ist", schwere Bedenken hervor; denn sie müssen mit Recht befürchten, daß die siegreiche Durchführung des Krieges bei solcher Stimmung
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Schaden leiden könne. Nun aber sei durch den Haushaltausschuß des Reichstags am 30. März und durch die Reichstagssitzungen, die da folgten, das erlösende Wort gesprochen worden; die große Rede des Reichskanzlers habe Klarheit geschafft, und von Westarp bis Scheidemann sei jetzt alles einig; „der Sentimentalität ist die weiße Weste vor der Geschichte in die Versenkung gefolgt. Freund und Feind haben damit zu rechnen, daß, wie von den Unterseebooten, von allen unsern Machtmitteln restlos der Gebrauch gemacht wird, der die Erringung eines die Zukunft Deutschlands sichernden Friedens verbürgt". Mit diesem Satze schließt der Artikel. „Die Wahrheit entbindet sich leichter aus dem Irrtum als aus der Konfusion" — der alte Satz kam mir unwillkürlich ins Gedächtnis, als ich diese Ausführungen las; denn der Hauptbegriff, den der Verfasser hier anwendet, bleibt in einer schweren Unklarheit stecken, und die Stimmung und Meinung derer, die der Artikel bekämpft, ist unrichtig wiedergegeben. Die Rücksicht auf die zukünftige P r ü f u n g der Geschichte hat gewiß gar nicht mitzureden, wenn es sich nur darum handelt, was zukünftig dieser oder jener oder viele Historiker sagen werden; aber wenn sie gleichbedeutend sein soll mit dem „Richterspruch der Geschichte" — und der Verfasser braucht auch diesen Ausdruck —, so kann sie bei keiner Entschließung entbehrt werden; weil sie gleichbedeutend ist mit dem sittlichen Bewußtsein. Denn in welch anderem Sinn kann man auf die zukünftige P r ü f u n g der Geschichte, die ja ganz dunkel vor uns liegt, Rücksicht nehmen, als indem man sein Gewissen befragt? Die Rücksicht auf die zukünftige P r ü f u n g der Geschichte bedeutet also nichts anderes, als daß man die Entschließung der sittlichen Betrachtung unterwirft. Will der Verfasser diese ausschließen? Dann möge er sich des Goetheschen Wortes erinnern: „Wenn ich nicht mehr sittlich handeln kann, höre
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7. „Der Abschied von der weißen Weste." (1916)
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ich auf Mensch zu sein." Das gilt auch f ü r den Staatsmann. Aber der Verfasser selbst sagt ja in diesem Artikel, Bismarck habe die Mittel „nach seiner pflichtmäßigen Überzeugung" ausgewählt. I n dem „Pflichtmäßigen" liegt eben das beschlossen, was der Verfasser glaubt ausschließen zu sollen! Aus dem sittlichen Bewußtsein, welches uns mit dem Richterspruch der Geschichte verbindet, können und dürfen wir nicht heraus; aber die eigentliche Schwierigkeit, die hier f ü r den Staatsmann liegt, hat der Verfasser nicht herausgearbeitet, wohl aber empfunden: So gewiß es nur ein einheitliches sittliches Bewußtsein geben kann, so gewiß wachsen aus ihm, je nach den Gütern, die es zu erwerben und festzuhalten gilt, und je nach der Natur des sittlichen Subjekts, endlich auch nach der Situation verschiedene sittliche Sphären und Ordnungen heraus. Es gibt eine Privatethik und eine Sozialethik und eine politische Ethik. Es gibt eine Ethik im Friedensstande und im Stande der Notwehr und so fort. Man kann nicht einfach Übertragungen aus dem einen Gebiet in das andere vornehmen, ja man würde unsittlich handeln, wenn man es täte; aber überall waltet ein und dasselbe sittliche Bewußtsein — nicht als eine unveränderliche Größe, aber in jedem gegebenen Moment eine absolute. Das ist die Majestät und das Geheimnis des Sittlichen ! Die politische Ethik wurzelt genau so im sittlichen Bewußtsein wie die Privatethik; sie darf so wenig — im eigenen Hause wie auf fremde Rechnung — mit Menschenleben und Gütern spielen wie diese, und sie ist ebenso an die Reinheit ihrer Zwecke gebunden wie sie, ja sie hat sogar ihr Wahrhaftigkeitsgebot wie die Privatethik; nur liegt das alles in anderen Grenzen als bei der Privatethik, und sie verfügt über andere Mittel als diese. Daß der Staat Subjekt und Objekt dieser Ethik ist, gibt der politischen Ethik die Eigenart, und die Spannung zwischen dem Staat und der die
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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Menschheit umfassenden Humanität gibt ihr das Problem. Das ist die Kulturstufe, die wir Deutschen errungen haben, und es ist hier ganz einerlei, auf welcher Stufe andere Staaten stehen; denn diese Stellung ist die Voraussetzung unserer Kraft und nicht unserer Schwäche. Vor allem unserer Kraft im Innern; denn — was hat uns die beispiellose Einmütigkeit und Opferfreudigkeit in diesem Kriege gegeben, wenn nicht die freudige Überzeugung, daß wir in einem Staate stehen, zu dem wir Vertrauen haben können? Vertrauen aber vermag man nur zur sittlichen Macht zu haben; denn alles andere im Leben ist unberechenbar. Nachdem das unschöne, ja fast frivol klingende Bild einmal gewählt ist, mag es bleiben: wir vertrauen unserer Regierung, weil sie „die weiße Weste" trägt, und wir würden automatisch dieses Vertrauen einbüßen, wenn sie ihr den Abschied gäbe. „Von Westarp bis Scheidemann" ist es nicht anders, und alle Nörgeleien ändern daran nichts. Solange unsere Regierung sich von der politischen Ethik leiten läßt, werden alle inneren Angriffe auf unseren Staat das Geschick des Mückenschwarms teilen, der gegen ein Glasfenster stürmt. Ist das die Anschauung eines politischen Ideologen, der von der Blässe der Moral angekränkelt ist? Nun — wenn sie es wäre, auch dann noch käme sehr ernsthaft die Erwägung in Betracht, daß es auf alle Fälle gut ist, in einer weißen Weste aufzutreten. Ich will mich hier auf die politischen Gegenbeispiele nicht einlassen, die Freiherr v. Zedlitz angeführt hat — ich halte sie alle, das englische nicht minder, für grundfalsch. Aber wenn es sicher ist, daß der Staatsmann und der Historiker bei jeder großen Entschließung neben Ursache, Anlaß und elementaren Folgen die „gedanklichen" Folgen, d. h. die Urteile, ins Auge fassen muß, die die Entschließung hervorrufen wird, wenn jede Tat zwei Wirkungen hat, die natürlichen und die ideellen, und wenn die Urteile über die Dinge unzählige Male viel wirksamer sind als die Dinge selbst — dann ist es doch wohl ein
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7. „Der Abschied von der weißen Weste." (1916)
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gutes Ding um „die weiße Weste", ja sie kann zum kugelsicheren Panzer werden! Der alte Epiktet hat gesagt: „Die Menschen werden nicht durch die Tatsachen erregt — an diese gewöhnen sie sich schnell —, sondern durch die Urteile über die Tatsachen." Augenscheinlich wehrt er also dringend ab, von der „weißen Weste" Abschied zu nehmen! Er weiß sehr wohl, daß sie kein bloßer Schmuck ist, sondern ein Kapital, und daß der die Menschen beherrscht, der ihre Urteile wie immer zu bestimmen vermag. Aber wir dürfen es nicht wie England, von dessen gleißnerischer Weste die Kreide jetzt abfällt, mit dem Schein halten, der schließlich doch zerfließt, sondern mit der Sache selbst. Wie bisher wollen wir Deutschen in der politischen Ethik vor unserem Gewissen und deshalb vor dem Richterstuhl der Geschichte bestehen können, und wir danken es unserer Regierung, daß sie uns das Vertrauen gibt, es werde so bleiben. Aber da ist in dem Zedlitzschen Aufsatz noch ein zweiter Punkt, der der Klarstellung bedarf. Nach dem Schlußsatz scheint es so — und das ist wohl wirklich des Verfassers Meinung —, daß es bei uns eine Partei gäbe, die nicht „restlos von allen unsern Machtmitteln den Gebrauch machen wolle, der die Erringung eines die Zukunft Deutschlands sichernden Friedens verbürgt"; das seien eben die Leute, die sich von der weißen Weste nicht trennen wollen. Auch hier liegt eine schlimme Verwechslung vor. Außer ganz wenigen, wie auch der Beschluß „von Westarp bis Scheidemann" bewiesen hat, sind alle im Reichstag und im Reiche in dem Entschlüsse, wie ihn der Verfasser formuliert hat, einig. Die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich lediglich auf einen zweiten Punkt, der tiefer liegt und mit dem ersten schlechterdings nicht verwechselt werden darf, ob, sei es überhaupt, sei es in einem gegebenen Moment die restlose Anwendung aller elementaren Machtmittel im Interesse der Kraft, Sicherheit und Zukunft des Vaterlandes ratsam ist. Hier hätte der Verfasser des Artikels, der doch selbst
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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ein Staatsmann ist, eine schöne Aufgabe gehabt. Ihm mußte bekannt sein, daß es zurzeit ein ebenso schlimmes wie lächerliches Vorurteil bei uns gibt, als sei es ein Zeichen von „Schlappheit" und „Flaumacherei", die lediglich aus der sträflichen Kücksicht auf unsere Feinde fließe, wenn jemand neben den elementaren Machtmitteln, die der Staat besitzt, sich im Kriege auch noch auf die anderen Machtmittel besinnt, über die er verfügt. Ja, dieses Vorurteil nimmt sogar die seltsame Gestalt an, daß die gedankenlosen Draufgänger Leute seien, „bei denen der vaterländische Sinn besonders stark ausgeprägt ist". Aber der Krieg ist die Fortsetzung der Politik, daher kann diese auch im Kriege nicht verabschiedet werden. Welche Verdienste hätte sich nun der Verfasser erwerben können, wenn er die Leser, die es nötig haben, darüber aufgeklärt hätte, daß eben die Kraft, Sicherheit und Zukunft unseres Vaterlandes bzw. die Erringung eines die Zukunft Deutschlands sichernden Friedens es verlangen, daß wir a l l e unsere Machtmittel einsetzen, wenn er ihnen gesagt hätte, daß der Feind keineswegs nur durch restlose Einsetzung aller elementaren Machtmittel, sondern auch durch die Einsetzung moralischer und ideologischer geschwächt und vernichtet wird, und daß es eben die Aufgabe des Staatsmannes sei, diese untereinander abzuwägen! Wendet er aber ein, der Hinweis darauf könne die rücksichtslose Energie schwächen, die für die siegreiche Durchführung des Krieges entscheidend ist, so gebe ich ihm im allgemeinen recht: es soll darüber nicht viel geredet werden. Aber andererseits — er unterschätzt unser Volk, wenn er glaubt, man dürfe ihm, auch wo es nötig geworden ist, mit solchen tieferen Erwägungen nicht kommen. Das deutsche Volk ist keine urteilslose Masse; man kann ihm vielmehr alles sagen, und es wird seine Energie und Begeisterung nicht verlieren, wenn man ihm nachweist, daß die restlose Anwendung aller unserer Machtmittel nicht ausschließlich in der rücksichtslosen Einsetzung aller unserer Kanonen be-
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7. „Der Abschied von der weißen Weste." (1916)
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steht. Nicht nur „die weiße Weste" kommt hier in Betracht, sondern noch vieles andere. Und dasselbe gilt in bezug auf das Ziel dieses ganzen Krieges. Jeder gute Deutsche wird den Satz unterschreiben, daß wir ausschließlich unseren eigenen Staat ins Auge zu fassen haben, seine Stärke und seine zukünftige Sicherheit. Aber dürfen wir, nur um die TJrteilslosen nicht kopfscheu zu machen, deshalb verschweigen, daß Deutschland niemals „ein geschlossener Handelsstaat" und niemals ein unabhängiger Staat in dem Sinne sein wird, daß der Gedanke der Humanität für ihn nicht mehr existiert oder daß alle anderen Reiche zu seinen Füßen liegen ? Für die Stärke und Sicherheit u n s e r e s Staats sorgen also unsere Staatsmänner, wenn sie bei ihren Erwägungen über die Friedensziele ihn nicht als isolierten, sondern in der Verknüpfung mit anderen Staaten vor sich stellen. Die Abwägungen hier verlangen ein besonderes Maß von Kühnheit und Feinheit, Initiative und Geduld; aber daß sie nötig sind, kann man dem starken und ruhig denkenden deutschen Volke klarmachen, ja es gäbe hier überhaupt keine Schwierigkeiten, wenn es nicht kurzsichtige Irreführer gäbe. Mit einem Wort zum inneren Frieden, den wir mit jedem Monate nötiger haben, möchte ich schließen. Wenn es nach dem Zedlitzschen Aufsatz sicher ist, daß „von Westarp bis Scheidemann" alle einig sind, wenn es also gewiß ist, daß wir alle dasselbe wollen, so darf die Verschiedenheit in der Auswahl und Kombination der Mittel uns nicht trennen. Also sind solche Bezeichnungen wie „Flaumacher", „Schlappheit" endgültig zu verabschieden. Patriotismus, Mut und Energie sind nicht nach den Quadratmeilen zu berechnen, die man verlangt, auch nicht nach den elementaren Machtmitteln, die man einsetzt. Der Unterschied zwischen Unternehmungsfreudigeren und Umsichtigeren wird nicht aufhören, ja er muß bestehen bleiben; denn aus diesen Spannungen entwickelt sich die richtige Linie. Wir brauchen sie
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beide, und sie sollen sich mit guten Gründen kräftig auseinandersetzen. Aber wie es auf der einen Seite ein Verbrechen an unserem Staate wäre, wollte jemand ihm in dem Aushungerungskriege in den Arm fallen, wenn er nach pflichtmäßigem Ermessen alle elementaren Machtmittel restlos zur Geltung bringt, so bedeutet es andererseits eine tiefe Schädigung unserer Macht, wenn die Parole ausgegeben wird, um politische Ethik brauche man sich nicht zu kümmern, und die weiße Weste habe in der Versenkung zu verschwinden. Justitia fundamentum regnorum im Frieden und auch im Kriege!
AN DER SCHWELLE DES DRITTEN KRIEGSJAHRS REDE AM 1. AUGUST 1916 IN BERLIN GEHALTEN
Erschienen in der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin, 1916. *— Unter den zahlreichen Kritiken, welche diese Rede erfahren hat, befanden sich auch solche, die mir auf Grund eines entstellten Zeitungsreferats einen schweren Angriff auf die Privatindustrie überhaupt und besonders die Großindustrie unterschoben. Aber ich habe lediglich von jener „Privatwirtschaft in w e i t e n K r e i s e n " gesprochen, die sich im Kriege nicht gescheut hat, Wucherei und Hamsterei zu treiben, der gegenüber man zu neuen gesetzgeberischen Bestimmungen schreiten muß, da die vorhandenen nicht ausreichen. Wieviel wir im Kriege den überraschenden Leistungen der Großindustrie und namentlich ihrem Zusammenwirken mit der Wissenschaft zu verdanken haben, dessen bin ich mir dankbar bewußt, und ich durfte annehmen, daß auch die Hörer meiner Rede dies wußten.
Hochansehnliche Versammlung! Deutsche Männer und Frauen! Der Kaiser hat zum heutigen Tage das deutsche Volk mit einer Ansprache begrüßt voll Zuversicht und voll Kraft. Wir danken ihm von Herzen und wollen versuchen, in dem Geiste, in welchem er zu uns geredet hat, uns zu sammeln, zu einigen und zu stärken. Heute vor zwei Jahren, an einem Sonnabende, rief unser Kaiser das deutsche Volk zu den Waffen. Am folgenden Sonntag stand vor dem Reichstagsgebäude eine unabsehbare Menge zum Gottesdienst vereinigt, und ähnlich in unserm ganzen Vaterland. Ein Wille, eine Kraft, ein heiliger Ernst beseelte sie. Mochten die einen an das harte „Muß", an das Furchtbare des Kriegs und an die Zerstörung der edelsten Güter denken, mochten andere jubeln: „Endlich" — endlich ist der stille unerträgliche Druck der heimlichen Feinde von uns genommen und wir werden L u f t und Licht erhalten: gewollt hat den Krieg niemand, und wiederum alle Unterschiede der Empfindungen verschwanden nun in dem einen Bewußtsein: Es geht ums Ganze, es geht um Sein oder Nichtsein unseres Vaterlands, und wir werden kämpfen und ausharren bis zum letzten Blutstropfen! Und als nun unser Kaiser das Wort sprach: „Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche" — jenes Wort, welches der Kern- und Leitspruch der Nation im Krieg geworden ist —, da erloschen die Feuer der politischen Parteien, und die heilige Flamme des Vaterlandes verzehrte alles Selbstsüch-
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tige, Kleinliche und Gemeine. In dieser heiligen Begeisterung zogen unsere Soldaten, siegesgewiß und todesbereit, in den Krieg. In dieser heiligen Begeisterung nahmen wir zu Hause die Kriegsarbeit a u f ! Gott will es! Gewiß, es war kein Kreuzzug; aber es war etwas noch Heiligeres: in unsere Hände wurde das Schicksal Deutschlands f ü r eine unabsehbare Zukunft gelegt. Ob wohl jemand unter uns damals gedacht hat, daß der Krieg zwei Jahre dauern würde und daß er noch jetzt unabsehbar ist? Ich glaube es nicht. Nicht getäuscht haben wir uns in der Zuversicht auf die siegreiche K r a f t unseres Volkes; aber getäuscht haben wir uns in bezug auf die Dauer des Krieges und wir haben wohl auch die K r a f t der Feinde nicht genügend geschätzt. Ihre K r a f t nicht richtig geschätzt — aber vor allem ihre Gesinnung gegen uns! Wir dachten sie uns feindselig genug, aber was mußten wir erleben und erleben es noch, erlebten es heute in der schamlosesten Rede, die Asquith je im TJnterhause gehalten hat. So ist niemals noch ein Krieg eingeleitet und mit solchen Kundgebungen ist er nie begleitet worden. Es war und ist vielmehr wie bei einem Sklavenaufstand wider uns, wie wenn eine unanständige, blöde und geknechtete Masse sich erhöbe, um allen denkbaren Schimpf, Unglimpf, Schmach, Schande und Verleumdung aus dunkler Rachsucht wider ihre Herren auszuspeien. Bereits zwei Wochen nach Ausbruch des Kriegs war diese Lügenflut zu einem in allen Weltteilen fließenden Strome geworden, um von dort aus unsere deutsche Gegenwart, unsere Vergangenheit, unsern Charakter, ja unser ganzes Sein zu beschmutzen und zu vernichten. Und führende Männer aller feindlichen Nationen beteiligten sich an diesem Teufelswerk, wenn auch edle Ausnahmen nicht fehlten! Vergessen können wir das niemals ! Lernen können wir von dieser Kritik der Lüge nichts. Jedes Wort dagegen ist zu viel. Was wir uns zu
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8. A n der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. (1916)
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sagen haben, sagen wir uns selbst. Den Feinden gegenüber gilt aber nur die eine Rede: Wir werden bleiben, was wir sind, und wir werden euch auch ferner noch nötigen, das zu lernen, was wir können. Aber wir sind hier nicht zusammengekommen, um dieses vergiftende Unheil, diesen frivolen Bruch mit aller Kultur und Völkergemeinschaft zu bedenken. Nein, dazu ist diese Stunde wahrlich zu teuer! Wir stehen hier, um im Geiste des Augusts 1914 miteinander rückwärts zu schauen und zu danken und vorwärts zu blicken und zu bedenken, was uns frommt, unsere Einheit zu stärken und das heilige Gelöbnis des Ausdauerns, es komme, was da wolle, zu wiederholen. So sollen es drei Fragen sein, deren Beantwortung uns vereinigen möge: Worauf vertrauen wir? Welche Ziele stecken wir uns? Was verlangt die gegenwärtige Stunde? Was ich über diese Fragen zu sagen habe, werde ich rückhaltlos und lediglich auf meine Verantwortung Ihnen vorlegen. I. Worauf vertrauen wir? Nun und vor allem: wir vertrauen auf Gott. Auch weiter wollen wir auf ihn trauen, „und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen". Was heißt auf Gott vertrauen? Jeder vertraut auf Gott, ob er es weiß oder nicht weiß, der sein Leben willig in den Tod gibt um der Brüder willen, der den Verlust des Teuersten tapfer erträgt, der die Zeit still an dem Ewigen mißt, ihre Leiden auf sich nimmt, gewappnet im Herzen gegen eine See von Plagen. Seht ihr diese Mütter und Väter, diese Witwen, Waisen und Bräute, die in Seelenschmerz und doch in Seelenfrieden ihr Leid tragen! Sie sprechen nicht von Trost und sie sprechen nicht von Gott; aber in ihrem Herzen
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wohnt eine unaussprechliche K r a f t und breitet sich über ihr ganzes Wesen aus: Das ist Gott! In der Stille des gemeinsamen Leides und in der Stille der gemeinsamen K r a f t reichen wir uns die Hände und danken Gott, daß er uns gelehrt hat unser Leid zu tragen. Ihm vertrauen wir auch ferner, der uns bis hierher geholfen hat — geholfen nicht nur im Äußern, sondern auch im Innern. Und wir wollen geloben, noch ernster und freudiger die Zeit unter die Ewigkeit zu stellen. Gar manches fehlt uns noch; Leichtsinn und Selbstsucht sind längst noch nicht überall ausgetilgt. Möge uns das Leid nicht zum Strafgericht werden müssen, möge es nur Erneuerung und Vertiefung und Zuversicht schaffen! Zuversicht — denn Gottvertrauen heißt gewiß sein, daß nichts uns schaden kann, und gewiß sein, daß die Geschichte des Menschengeschlechts, die Er leitet, fortschreitet und aufwärts geht trotz aller Rückschläge, trotz aller Torheit und Bosheit. I n Gott muß alles getan sein; denn wie schnell schwanken unter plötzlichen neuen Ereignissen selbst unsere stärksten Grundsätze in Trotz und Verzagtheit, werden hinweggeschwemmt wie Triebsand! Darum muß unser Auge unerschütterlich und fest, wie das des Steuermanns, auf das Höchste und Letzte gerichtet sein! Blicke nicht auf die vorübergleitenden Ufer, blicke nicht auf die wilden Wellen, blicke auf das Ziel! „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat." Und weiter, meine Freunde, wir vertrauen auf unser unvergleichliches herrliches Heer, auf seine Heerführer, voran unsern teuren Kaiser. Das ist noch eine andere Zuversicht als vor zwei Jahren. Damals war es die Zuversicht der Hoffnung, heute ist es die Zuversicht der Gewißheit. Blicken wir nur auf das letzte J a h r : Polen und Litauen, der Weg nach Konstantinopel, die Schlacht am Skagerrak und nicht zuletzt Verdun und die Somme! Kein Wort reicht an die übermenschlichen Taten heran, die unsere Soldaten
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getan, und an die Leiden, die sie ausgehalten und überwunden haben. Tausende fielen: Seele, vergiß sie nicht, Seele, vergiß nicht die Toten, Sieh', sie umschweben dich!
Gegangen, nicht vergangen; gestorben und nicht tot. Gestorben, damit wir leben können! Und die, welche das unerhörte und unvorstellbare Feuer der Granaten nicht traf, sie hielten stand und in einer eisernen Mauer schützen sie an der Somme und in den litauischen Sümpfen den Rhein und die Weichsel. Dem einfachen deutschen Musketier gebührt der Ehrenkranz, und das große Denkmal des Kriegs — immer wieder haben wir wohl alle dieses Zeugnis von denen gehört, die aus den Schlachten in die Heimat kamen. Aber Heer und Heerführer sind eins. Wie sie zusammengewachsen sind, so ist es auch ein und dasselbe Vertrauen, mit dem wir sie umfassen. Mit unsrem Kaiser — Er trägt hier die letzte Verantwortung und wie trägt er sie! — werden die Namen Hindenburg, Mackensen, Linsingen, Falkenhayn und so viele andere herrliche Namen zu Wasser und zu Land solange strahlen, wie es eine deutsche Geschichte gibt. Mag der Krieg dauern, solange unsere Feinde können und wollen — in unerschütterlicher Zuversicht vertrauen wir auf unser Heer und auf die Fortsetzung des Sieges bis zum Ende. Aber wir vertrauen auch mit Zuversicht auf die Leitung des Staates und unsere Regierung. Dürfen wir das im Namen des ganzen deutschen Volkes sagen? Das hieße zuviel gesagt. Aber doch spreche ich es zuversichtlich aus: Wenn wir die berechtigten und unberechtigten Klagen, die Dinge zweiten Ranges betreffen, abziehen und auf die Hauptsachen allein sehen, so blicken Parlament und Volk in größter Mehrzahl mit Vertrauen und Dankbarkeit auf unsere Regierung in diesen zwei Jahren. Zensur, Nahrungsversorgung und anderes hat zur Kritik reichlich Veranlassung geboten; aber dankbar ziehen wir in Betracht, was auf der
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anderen Seite steht: Erstens, wir wissen, daß unsere Regierung den Krieg vermieden hat, solange sie es noch in den letzten Julitagen irgend vermochte; die Schuld unserer Feinde, Rußlands und Englands, liegt hier klar zutage. Daher zogen alle freudig in den Krieg! Weiter, wir hatten im Innern schwere Zerklüftungen, vor allem ging ein Riß zwischen den sogenannten bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie. Aber die Regierung unseres Reichskanzlers und seines hochverdienten Staatssekretärs Delbrück hatte es verstanden, sich durch Gerechtigkeit Vertrauen zu erwerben. Daher, als die Stunde schlug, fand sie ein einiges Volk, das alle Gegensätze begrub. Das soll unvergessen bleiben. Ferner, es war f ü r uns am Anfang des Krieges und weiter die höchste Gefahr, daß auch Neutrale sich zu unseren Feinden schlugen. Die Zufuhr, die wir doch absolut nötig hatten, stand auf dem Spiel und damit nicht weniger ale nahezu der Ausgang des Krieges. Aber der Politik unserer Regierung gelang es, Bulgarien und die Türkei als Bundesgenossen zu erwerben und Amerika, Holland, Dänemark usw. bei ihrer Neutralität zu erhalten. Das war und ist ein gewaltiger E r f o l g ! Zwar hätten manche Kreise unseres Volkes einen Bruch mit einem neutralen Staat riskiert, als dieser unfreundlich gegen uns a u f t r a t ; aber ich zweifle nicht, daß die Geschichte einst unserer auswärtigen Politik, wie sie geführt wurde, recht geben wird, wenn die Akten offen vorliegen werden. Aber auch unserer inneren Politik; denn in den entscheidenden Momenten hat der Reichskanzler jedesmal das Wort gesprochen, das uns nottat und Unsicherheiten und drohenden Spaltungen vorbeugte. Ich will nur das Wichtigste hervorheben: Als wir so weit waren und es möglich war, den heißen Wünschen Ziele der äußeren Politik in großen Umrissen zu zeigen, da hat der Reichskanzler dies getan, und wie er es tat, war gut. Sodann: Neuorientierung nach dem Kriege hat er verheißen. I n dieser Zusage liegt die Anerkennung, welche
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tiefen Veränderungen der Krieg in dem ganzen Dasein des Volkes hervorgerufen hat und wie notwendig es ist, dem in einer freien und großzügigen Politik nach dem Kriege entgegenzukommen. Alle Freiheit im Staatsleben entspringt aus dem Vertrauen, und wiederum die Freiheit begründet Vertrauen. Eine neue Zeit wird nach dem Kriege für Deutschland heraufsteigen: wir sind gewiß, daß man sie nicht mit „Karlsbader Beschlüssen" unterdrücken, sondern dem neuen Geist Luft und Licht geben wird. Aber welche Ziele soll sich dieser neue Geist stecken? Damit sind wir bereits zu unserer zweiten Frage übergegangen. II. Welche Ziele stecken wir uns? Zunächst im Innern. Ich will nur von solchen Zielen sprechen, die wir schon jetzt im Kriege einigermaßen vorbereiten können. Und da nenne ich zwei: Die Erhaltung und Steigerung unserer Volkskraft und die Herstellung einer deutschen Gemeinwirtschaft, d. h. einer nationalen Arbeitsgemeinschaft. Die Erhaltung unserer Volkskraft. Ersetzen können wir das teure Blut nicht, das so reichlich geflossen ist, und die schweren Verluste, die unser Volkskörper erlitten hat; aber ergänzen können wir die furchtbaren Lücken und eine noch stärkere Zukunft vorbereiten. Wie geschieht das? Durch Pflege und Ertüchtigung auf allen Linien. Beginnen müssen wir mit der Pflege unsres kostbarsten Gutes, des Nachwuchses. Also müssen wir — glauben Sie nicht, das sei eine Kleinigkeit und gehöre nicht hierher — bei der Säuglingspflege einsetzen und nun fortschreitend die Pflege der Kleinen und der Schulkinder, wo sie gefährdet sind, in Kinderhorten daran reihen. Wir müssen ferner unsre Fortbildungsschulen noch ganz anders ausbilden als bisher, sowohl zur körperlichen Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit der Jugend als zur moralischen Stärkung und zur fachlichen Vorbereitung, damit wir auch ferner in edler Qualitätsarbeit
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allen Völkern vorangehen. Das sind Aufgaben, die weder der Staat allein, noch einzelne allein übernehmen können — nein, in zweckmäßiger Verteilung müssen Staat, Landschaft, Stadt und private Kräfte zusammenwirken. Mit reichlichen Mitteln müssen sie das Vorhandene heute schon auszubauen beginnen, um die Volkskraft zu erhalten und zu steigern. Aber noch vieles andere gehört dazu. Ich nenne nur drei große Stücke: die Sorge für das Wohnungswesen, das Volksbildungswesen und die Abwehr der Volkskrankheiten. Der schwierigste Punkt ist das Wohnungswesen, und denkt man es durch, so möchte man fast ob der Abhilfe verzweifeln. Aber Ehre den Männern und Genossenschaften unter uns, die nicht verzweifeln und überzeugt sind: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!" Wir müssen hier Besserung schaffen, es koste, was es wolle, sonst geraten wir in die schwersten Gefahren; denn in der Wohnungsfrage steckt Gesundheit, Moral, Freudigkeit oder Trübsal und Unglück. Also hindurch! Langsam, Schritt vor Schritt, anders geht es nicht, abei mit festem Willen! Leichter ist das Bildungswesen. Einen neuen politischen, geographischen und intellektuellen Horizont hat unser Volk durch den Krieg erhalten, und sein edler Bildungshunger einen neuen mächtigen Antrieb. Dem müssen wir entgegenkommen, nicht durch die Einheitsschule, auf die man ungerechtfertigte Hoffnungen setzt, sondern auf vielen und verschiedenen Wegen — durch die Fortbildungsschulen, von denen ich schon sprach, durch die Einrichtung von ernsthaften Volkshochschulen in Stadt und Land — Dänemark ist uns mit diesem Beispiel vorangegangen —, durch Volksbibliotbeken, in denen wir gegen andere Länder noch zurückstehen, und durch Erleichterungen aller A r t für die wirklichen Talente, wenn sie aus dem Dunkeln ins Helle streben und aufwärts wollen. Aber an den Universitäten und technischen Hochschulen, bei der Pflege der Wissenschaft ist nichts zu erleichtern; sonst gehen wir rückwärts.
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Über die Abwehr der Volkskrankheiten endlich brauche ich hier nicht weiter zu sprechen; denn ich bin gewiß, daß wir auf diesem Gebiete kräftig fortschreiten und unnachsichtlich auch in private Verhältnisse eingreifen werden, wenn das zum Schutz des Ganzen notwendig ist. Wenn in einmütiger Arbeit dieses alles in Gang und Schwung gebracht wird, so werden wir unsre Volkskraft trotz aller Verluste nicht nur erhalten, sondern auch steigern. Damit werden wir auch das einzige Mittel gewinnen, um den bösen Geburtenrückgang zu hemmen. Denn in dieser Sache ist alles ein nutzloses Gerede, was sonst gesagt wird. Es gibt hier nur ein Mittel: Die Freude an gesunden Kindern und die Erleichterung ihrer Aufzucht und Zukunft. Beides gehört eng zusammen und daran müssen wir arbeiten! Das zweite große Ziel hier aber ist die Herstellung einer deutschen Gemeinwirtschaft, d. h. einer wirklichen nationalen Arbeitsgemeinschaft. Meine Damen und Herren! Das Wahlrecht in allen Ehren — ich wünsche, daß sich die weitestgehenden Hoffnungen erfüllen lassen — ; die religiöse Freiheit in allen Ehren — ich wünsche, daß der Staat nicht mehr nach der Religion forscht, sondern überall und ausschließlich nach der Befähigung und der hingebenden Pflichttreue — ; aber viel wichtiger noch als diese beiden großen Stücke scheint mir, daß in unserm nationalen Wirtschaftsleben eine entscheidende Änderung eintritt. Der Krieg hat den unerträglichen Mißstand aufgedeckt, unter dem wir hier leiden: Was haben wir vor dem Kriege besessen? Eine internationale Privatwirtschaft und neben ihr auf einigen Gebieten eine gut arbeitende fiskalische und militärische Staatswirtschaft. Was haben wir im Kriege erlebt? Die fiskalische und militärische Staatswirtschaft erweiterte sich und arbeitete in umfassendster Weise, geleitet von genialen Männern, bald ausgezeichnet. Aber dagegen: Die internationale Privatwirtschaft brach zusammen, die ausländische Konkurrenz fiel fort und eine unbekümmerte, lediglich auf
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den Profit gestimmte, heimische Privatwirtschaft trat in weiten Kreisen an ihre Stelle. Wucherei und Hamsterei wuchsen auf, und vom Geiste des August 1914 war hier wenig mehr zu spüren. Meine Damen und Herren! Ich klage nicht einzelne an, obwohl einzelne es verdienten; ich klage das ganze System an, dem sie unterlagen, das System, welches den vollen Handelsegoismus und das rücksichtslose Verdienen auch im Kriege erlaubt, weil man eben überhaupt Grenzen hier nicht gekannt hat und kennt. Wenn es nun gewiß ist, daß wir das in einem Kriege nicht wieder erleben dürfen, so muß man schon im Frieden eine große Änderung· ins Auge fassen. Diese kann sich nur auf der Linie bewegen, auf der einige bedeutende Betriebe unsrer nationalen Wirtschaft schon stehen. Ich denke an die Bergwerke, die Kohlen, den Forstbetrieb. Gemischte Unternehmungen brauchen wir in großer Zahl, an denen der Staat oder die Kommunen beteiligt sind. Nirgendwo soll der frische IJnternehmersinn und die private Verantwortlichkeit ausgeschaltet werden; aber an den Bedürfnissen und dem Wohle des Ganzen sollen sie ihre Grenzen finden. Diese kann nur die Gemeinschaft, repräsentiert durch den Staat, bestimmen. Ein engeres Zusammenwirken mit ihm ist auf allen Hauptgebieten der Volkswirtschaft notwendig, also auch auf dem Gebiete des Handels, und die Verhältnisse sind so zu ordnen, daß sie im Frieden einen begrenzten, aber weiten Spielraum gewähren, der sich jedoch im Moment des Kriegs ohne Schwierigkeit verengt, weil die Grenzen nach allen Seiteu dann schon vorgesehen sind. Dann wird allmählich der Gedanke, daß alle Wirtschaft Teil einer deutschen Gemeinwirtschaft ist, im Frieden und erst recht im Kriege, das Volk durchdringen und vor Beutelust bewahren. Schwierig ist diese Aufgabe, ich weiß es wohl — der Staat kann hier auch leicht hemmen und schaden —; aber ändern müssen wir; denn wir müssen viel mehr nationalen Gemeingeist in unser Wirtschaftsleben bekommen.
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Aber welche Ziele stecken wir uns nach Außen? Sinnlos und gefährlich kann es leicht sein, jetzt im Kriege von den äußeren Friedenszielen zu sprechen, jetzt, da wir noch mitten im heißesten Eingen stehen, jetzt, da uns nichts von der einen Aufgabe ablenken darf, nämlich von dem Kriege selbst. Aber es ist doch für ein mündiges und denkendes Volk unmöglich zu kämpfen, ohne zu wissen, wofür man kämpft. Dazu: der auf bestimmte Ziele gerichtete Wille ist, wenn es der rechte ist, kein Hindernis des heldenhaften Kampfes, sondern Antrieb und Ansporn. Nur um große Eichtungen kann es sich dabei handeln; Friedensziele genauerer Art dürfen und können wir nicht geben. Wie steht es nun unter uns damit? Nun, ich sehe bei uns in dieser Frage allmählich eine große Einheit werden; aber ich sehe zurzeit doch noch nicht geringe Verschiedenheiten unter den besten Patrioten. Die einen sagen: Man hat uns überfallen; wir haben zu den Waffen gegriffen, weil man unsre Arbeit zerstören, unser Land zerstückeln, unsre Zukunft als selbstmächtiger Staat vernichten will. Haben wir diese Angriffe siegreich abgewehrt, so ist unser Werk getan, und wahrlich ein großes Werk! Mehr brauchen und wollen wir überhaupt nicht. Die anderen aber sprechen: Man hat uns schon vor dem Kriege eingeengt und eingeschnürt; man hat uns nicht gegönnt, was wir haben, und nicht gegönnt, was wir brauchen. Somit, wenn wir nur den früheren Zustand wiederherstellen wollten, hätten wir in Wahrheit nichts erreicht. Die Lage bliebe für uns so gefährlich wie zuvor, und der schmachvolle Überfall bliebe ungesühnt. Also muß es von Grund aus anders werden durch den Krieg. Daher müssen wir alles festhalten, was wir in unsern Händen haben von der Somme bis über die Beresina, und dürfen nur einen Frieden echließen, der automatisch für alle Zukunft Sicherheit und Freiheit zu Wasser und zu Lande gewährt. Meine Damen und Herren!
Der politisch Denkende
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hört aus beiden Reden Notwendiges heraus, und er hört Bedenkliches heraus. Zunächst: daß wir uns gegen eine Welt von Feinden wirklich behaupten, unser heimisches Land siegreich verteidigen und alle Stürme abschlagen, das ist wahrlich eine große Tat, und sie allein schon würde in der Geschichte der Welt fortwirkend ein mächtiger Faktor zu unsern Gunsten sein. Aber es wäre doch sehr ungenügend und es wäre bitter, wenn uns der Friede nichts anderes brächte. Aber nicht nur ungenügend und bitter — denn wofür hätten wir die ungeheuren Opfer gebracht? Ist ihr Preis nur die Wiederherstellung dessen, was früher war? — es ist auch, geschichtlich angesehen, nahezu unmöglich, daß ein solcher Krieg mit dem status quo ante endet. Nein, wir dürfen und müssen mit unseren Zielen vorwärts! Hier aber gilt allein ruhiges Abwägen. Da wollen wir erstlich nicht vergessen, daß wir unsre Kolonien fast vollständig verloren haben. Wir müssen ein Kolonialreich zurückgewinnen; die stärkste Stellung in Mitteleuropa kann das nicht ersetzen. Aber automatisch erhalten wir die Kolonien nicht zurück. Wir müssen Opfer für sie bringen in Europa. Zweitens, wir schließen den Frieden nicht allein, sondern mit unsern Bundesgenossen Österreich-Ungarn, Bulgarien, der Türkei. Auch das zieht erwünschten Möglichkeiten bestimmte Grenzen. Drittens — und das scheint mir die Hauptsache — wir brauchen einen Frieden, der uns vor solchen Überfällen schützt, wie wir sie erlebt haben, wie das unser Kaiser in seiner Botschaft soeben wieder in den Vordergrund gerückt hat, einen Frieden also, der unsere vaterländische Kraft steigert, unserer Arbeit die Freiheit in der Welt gewährt und Dauer in sich schließt. Wie geschieht das? Nun, das kann nach diesem ungewöhnlichen und unerhörten Kriege kein gewöhnlicher Friede sein. Gewiß, nach einem Frieden, der uns automatisch Ruhe und Sicherheit für alle Zukunft garantiert, nach dem dürfen wir nicht ausschauen; denn
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das wäre gleichbedeutend mit dem Traum und der Utopie einer Weltherrschaft, die anzustreben uns unsere Feinde lügnerisch vorwerfen. Wohl aber soll der Friede den Feind im Osten definitiv auf seine natürlichen Grenzen zurückdrängen. I m Osten hat er eine Mission in der Weltgeschichte; er muß sich wieder auf sie besinnen. Aber nach Geist, Art und Kultur gehört Rußland nicht nach Westeuropa; hier wirkt es nur zerstörend auf die abendländische Kultur, die ihm fremd ist und fremd bleiben muß. Wir müssen die abendländische Grenze im Osten mit fester Hand ziehen f ü r uns und f ü r die ganze abendländische Kultur. Im Westen aber soll uns der Friede dagegen sicher stellen, daß England allein auf dem Meere herrscht und daß Belgien seine Satrapie bleibt. Meine Damen und Herren! Das sind große Ziele, und der Friede muß sie uns bringen, so bringen, daß unser Nationalstaat ungefährdet bleibt und daß nirgendwo ein neues Irland geschaffen wird. Ein solcher Friede muß uns werden; aber ungewöhnlich ist ein solcher Friede noch nicht; jeder gute Deutsche muß ihn anstreben. Ungewöhnlich ist es auch nicht, wenn wir dabei darauf ausgehen, daß der Friede die feindliche Staaten- und Völkerkoalition gegen uns sprengt; denn der politische Zustand Europas, in welchem uns der Krieg getroffen hat, darf sich nicht wiederholen. Aber ein ungewöhnlicher Friede soll uns und Europa werden, weil er ein besseres und heiligeres Völkerrecht anbahnen muß als bisher. Tut er es nicht, so wird er wenig taugen, ja wir werden ihn gar nicht erlangen. Dieser Weltkrieg ist ein so ungeheurer, hat so Furchtbares aufgewühlt und bringt die Zivilisation, ja die Weltgeschichte der Götterdämmerung so nahe, daß nur eine Umkehr helfen kann. Ich bin kein Utopist und ferne davon, von einem Friedensschluß den ewigen Frieden zu erwarten. Ich glaube auch nicht, daß sich hier zunächst mehr erreichen läßt als ein ganz
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kleiner Fortschritt in den politischen Verhältnissen der Staaten, aber doch nicht nur ein Wink, sondern eine Eichtling. Auf den einen Schritt, auf den nächsten guten Schritt hier, kommt alles an nach dem tiefen Spruch: Ich habe stets den nächsten Schritt erwählt, Ein fernes Ziel hat mich dabei beseelt.
Einst hat es so etwas wie eine christliche europäische Völkerfamilie gegeben. Durch unsere Religion ist sie uns vorgezeichnet, und im Charakter, in der Geschichte und in der Weltstellung gerade unseres Volks sind heilige Pflichten in dieser Richtung begründet. Wir dürfen sie nicht fahren lassen. Ich möchte nicht in einer Welt leben, die den deutschen Idealismus nicht mehr kennt und in welcher Humanität, edles Menschentum und christliche Liebe zum alten Eisen geworfen sind. Daher: selbst in dieser heißesten Zeit, mitten im Kampf um Sein oder Nichtsein, wo nichts als der Siegeswille angespannt sein darf, — soll uns doch aus weiter Ferne das höchste Kriegsziel leuchten: Deutschland, sein selbst mächtig in ungehemmter, edler Arbeit; aber neben ihm und mit ihm friedliche Völker! Regnum dei in terris; Gottes Reich auf Erden! III. Was verlangt die gegenwärtige Stunde — nun, meine Freunde, wenn wir das Ergebnis aus dem Gesagten ziehen, so wissen wir die Hauptsache bereits. Aber noch einiges Wichtige kommt in Betracht. Da die Zeit drängt, so gestatten Sie, daß ich in ein paar kurzen Geboten das zusammenfasse, was die gegenwärtige Stunde verlangt: Zum Ersten r u f t sie: Deutsches Volk, harre aus, stärke deine Arme, wenn sie müde, und deine Knie, wenn sie matt werden! Denke an die im Granatfeuer! Sie leisten bis aufs Blut Widerstand. Du hast noch lange nicht ihr Vorbild erreicht ! Schäme dich, aus kleinen Nöten große zu machen, schäme dich, über gestörte Gewohnheiten zu klagen! Die
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deutsche Geduld muß vielmehr so freudig und erfinderisch bleiben wie der deutsche Kopf! Sei männlich und sei stark! Zum Zweiten r u f t die Stunde: Sei kein Parteimann, sondern sei nur ein Deutscher! Bedenke vor jedem politischen Streit, ob er nötig sei, ob ihm nicht durch Zwiesprache vorgebeugt werden k a n n ! Bildet, wenn's frommt, Seniorenkonvente in Stadt und Land unter den Parteien ohne Ausnahme, damit das Einigende zur Macht komme! Es ist vorhanden ! Kolportiert keine nichtigen, gefährlichen oder gar bösen Gerüchte und halben Verleumdungen! Beutet Ungeschicklichkeiten und Versehen nicht aus! Hört nicht auf unbestimmtes Murmeln und Murren ! J a g t keiner Sensation nach auf Kosten des Friedens und der Wahrheit! Zum Dritten r u f t die Stunde: Zertritt den schlimmen Kastengeist, wo er sich noch findet, unser bösestes Erbteil! Bruderliebe und Ehrerbietung in edler Freiheit sollen herrschen ! Kastendünkel, bureaukratische Eifersucht — sie wohnt nicht nur bei Beamten — und hochmütiger Kaltsinn sollen verschwinden! O, daß wir Deutsche doch endlich den Ton träfen, der eine freie und freundliche Sphäre in jeglichem Verkehr schafft! Zum Vierten endlich r u f t die Stunde: Seid eingedenk: unser Hauptfriedensinstrument ist zurzeit immer noch das Heer! Vertraut ihm die Zukunft an ! Aber eben deshalb: Blast nicht wilde Schlachtgesänge hinter der F r o n t ; aber lähmt das Heer auch nicht durch unnützes Klagen, durch Kleinmut und Friedensgerede. Wenn etwas sicher steht, so steht das sicher, daß sich niemand unter uns ein Urteil darüber anmaßen kann und darf, wie lange wir zu kämpfen haben. Wer von uns überschaut denn die Lage der Dinge? Daher ist Zurückhaltung in bezug auf die Frage des Friedensschlusses und jenes Vertrauen, welches nicht blind ist, aber zuversichtlich, der wahre Patriotismus. Und — aufs neue ist es uns heute von unserem Kaiser mitgeteilt worden —
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nicht wir setzen das Blutvergießen fort, sondern unsere Feinde und laden damit nur neue Schuld auf sich. Deutsche Männer und Frauen! Wir sind jetzt in einer harten Zeit des Krieges, unsere Truppen leisten Übermenschliches. Endlich, nach zwei Jahren haben unsere Feinde eine Art von einheitlicher Kriegsfront gebildet. Aber auch dieser furchtbare Druck und Ansturm, den sie noch versuchen, weil wir in der Oberhand sind, war bisher vergeblich und wird zerschellen. jNun denn, wie die dort draußen todesmutig im eroberten Lande stehen, so soll auch die Geschichte einst von uns in der Heimat künden: das ganze Land hat bis zuletzt — geschlossen, entschlossen — die Einheit gehalten, die Geduld bewährt, den Siegeswillen durchgesetzt; das ganze Volk war von einem Geist beseelt und sein Leitspruch lautete: „Feiger Gedanken bängliches Schwanken, Weibisches Zagen, ängstliches Klagen Wendet kein Mend, macht dich nicht frei! Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten, Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen Rufet die Arme der Götter herbei!"
Niemand unter uns steht am Steuer, aber jeder von uns steht am E u d e r ! Bedenkt es wohl und handelt im kleinen wie im großen danach. Handelt danach auch im dritten Kriegsjahr, so wie das deutsche Volk nun diese zwei Jahre herrlich ausgehalten hat. Denen aber, die am Steuer stehen und denen, die da kämpfen, und denen, die f ü r uns gekämpft haben — dieser Schar von Helden — weihen wir unseren heißen Dank. I n diesem unauslöschlichen Dank — er wird uns eine Quelle der Erhebung und K r a f t bis zu fernen Zeiten bleiben — scharen wir uns in Ehrfurcht und Treue um den obersten Kriegsherrn, unsern teuren Kaiser. Deutsche Männer und Frauen! Wir erheben uns und rufen einmütig: Unser ganzes Heer, das Vaterland, der Vater des Vaterlandes, Se. Majestät unser Kaiser Wilhelm II., Er lebe hoch ! hoch! hoch !
Friedensaufgaben und Friedensarbeit Eiiie Denkschrift im Sommer 1916 dem auf Ersuchen eingereicht.
Reichskanzler
Die Erhebung des deutschen Volkes im August 1914 ist in ihrer Einmütigkeit und geschlossenen Kraft nicht nur das größte Ereignis in der neueren deutschen Geschichte, sondern diese Erhebung hat sich auch als fortwirkend bewährt bis heute. Unsere Fronten, die Haltung des ganzen Volkes im Lande und die Parlamente beweisen es. Daneben können die vereinzelten konträren Eindrücke nicht aufkommen. Daraus folgt aber: es ist ein neuer Geist, der Geist von 1914 unter uns wirksam, oder vielmehr: es hat sich offenbart, daß in der Tiefe des deutschen Volkes ein mündiger und starker positiver Geist schlummerte, der die widrigen Fesseln, die ihn niederhielten, wie Spinnwebe zerriß, als die große Stunde schlug. Der Geist von 1914. Läßt sich Art und Wesen dieses Geistes in Worte fassen? Gewiß! Negativ ist er bezeichnet durch die Erhebung über den gemeinen Egoismus, über den Egoismus der Partei und über alle Scheingüter und Pseudo-Ideale sinnlicher, ästhetischer und intellektueller Art. Positiv ist er bezeichnet durch den festen zielstrebigen Willen, alle Kräfte, Leib und Seele dem Ganzen, dem Vaterlande, zu weihen und freudig dafür jedes Opfer zu bringen. Dabei schwebt hier nicht das Ideal der Macht als letztes Ziel vor und entflammt die zum Dienen bereite Freiheit —, nur kurzsichtige Materialisten urteilen so — sondern leitend
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ist vielmehr das sichere Bewußtsein, daß die Größe und die Stellung des deutschen Vaterlands innerhalb der Kulturmenschheit auf seinem inneren Werte beruht und daß es diesen Wert zu schützen und zu verstärken gilt. Das deutsche Volk ist keine eroberungssüchtige Nation, und die Ideale der Konquistadoren haben hier keine Stätte; es weiß sich vielmehr stark genug, um in friedlicher Arbeit das zu behaupten und zu vermehren, was es braucht. Dieses stolze Bewußtsein ist dem deutschen Volke auch trotz des Krieges und in dem Kriege nicht verloren gegangen; es ist die Ergänzung zu der freudigen Bereitschaft, allzeit in Waffen für das bedrohte Eigene zu stehen und dieses auch durch Eroberungen zu sichern, wenn solche Sicherung gefordert ist.1 Der innere Wert und die Eigenart des deutschen Geistes. Wodurch aber ist der innere Wert des deutschen Volkes im Vergleich mit den anderen großen Kulturnationen bezeichnet? Man kann es kurz sagen: Nur in diesem Volk hat sich der Staat zu einer brüderlichen sozialen Arbeitsgemeinschaft entwickelt und dabei doch die Eigenart und innere Freiheit, die Schaffenskraft und Verantwortung des Einzelnen nicht unterdrückt. Ist auch in dieser Formulierung das erstrebte Ziel der Entwickelung bereits als erreicht vorweggenommen, so bewegt sich doch die deutsche Entwickelung unzweifelhaft auf dieser Linie, und eben deshalb ist es gestattet, hier nicht nur von einer Aufgabe zu sprechen; denn alles Hohe, wonach wir mit Beloußtsein streben, ist bereits unser Eigentum! Sozial und Sozialdemokratisch als Gegensatz.2 „Brüderliche soziale Arbeitsgemeinschaft": man schrecke nicht vor dem Wort „sozial" zurück; denn es ist nicht gleichbedeutend mit „sozialdemokratisch", sondern der Gegensatz zu ihm. Dem Sozialdemokratischen liegt die Vorstellung einer Masse gleichartiger selbständiger Atome 1 Weder an Belgien noch an Polen ist dabei gedacht — gegen jede Annexion im Westen hatte ich mich schon im Sommer 1915 ausgesprochen —, sondern an Sicherungen f ü r Ostpreußen. — 2 Die Sozialdemokratie ist hier als Marxismus vorausgesetzt.
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zu Grunde, die sich in einem entschlossenen Kommunismus verbinden; es ist das Extrem der individualistischen Theorie, korrigiert durch einen phantasievollen Kontrakt, zu dessen Verwirklichung doch jedes zureichende Motiv fehlt und immer fehlen wird. Das Soziale aber — ein eminent konservatives und progressives Prinzip zugleich — baut sich auf der Überzeugung auf, daß das Ganze vor den Teilen da ist und daß die sehr verschiedenen Einzelnen ihr Existenzrecht und den Spielraum ihrer Kräfte (Freiheit) nur durch organische Einordnung in das Ganze zu gewinnen vermögen. Das Ganze aber ist der Staat; er kann daher, wenn er nicht eine bloße Scheinexistenz fähren oder der willenlose Diener der „Gesellschaft" und ihrer wechselnden Parteien sein will, gar nicht anders wirksam sein, als in sozialer Betätigung. Die Aufgabe des Staats in der neuen Zeit nach dem Frieden. Die Notwendigkeit eingreifender Reformen. Ist aber der deutsche Staat, indem er mit der herbeigerufenen Freiheit und Kraft der Einzelnen zusammenwirkt, der verantwortliche Träger der Entwickelung des deutschen Volkes, so zieht f ü r ihn in dem Momente, in welchem der Friede nach diesem unerhörten Weltkriege geschlossen wird, ja schon in dem Momente, in welchem der Friede in sicherer Aussicht ist, die größte Stunde herauf, die er jemals in seiner neueren Geschichte erlebt hat. Denn so ungeheuer sind die Spannungen, die sich gesammelt haben, so neu sind die Bedingungen, unter denen das Leben des Friedens begonnen werden muß, so gewaltig sind die Anforderungen, die die Steuerlast und der innere Aufbau des Vaterlandes stellen, so groß sind endlich die Erwartungen in bezug auf den Preis, f ü r welchen die Blut- und Gutopfer gebracht worden sind, daß nur die bedeutendsten Entschlüsse zureichen werden, damit die freudige Willigkeit des ganzen Volkes auch der neuen schweren Friedensarbeit erhalten bleibt. Eins ist dabei gewiß: mit Halbheiten ist es nicht getan; sie würden nur aufreizend wirken und nichts anderes bedeuten, als daß man sich „auf die Grundlagen unseres Staates, die
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sich ja gerade im Kriege aufs beste bewährt haben", zurückzieht. Aber man soll sich dann auch sagen, daß unter den neuen Verhältnissen diese „bewährten Grundlagen" in kürzester Frist wie „Karlsbader Beschlüsse" wirken werden. Gewiß sind die Grundlagen unseres Staates wirklich bewährte und gewiß sollen sie in Kraft erhalten bleiben, aber, wenn sie nicht die Fortentwickelung erfahren, deren sie fähig sind und die die Stunde fordert, so werden sie die schlimmste Reaktion hervorrufen, und vor dem, was dann unweigerlich kommen wird, bewahre uns Gott! Gewiß werden ausschweifende und gefährliche Hoffnungen und Forderungen in Fülle abzuweisen sein; um so mehr aber muß daher alles vorgesehen und gewährt werden, was berechtigt und notwendig ist. Gegenüber dem seltsamen Einwurf aber, was denn eigentlich neu geworden sei und warum man denn irgend etwas im Innern ändern solle, da doch eben jeder nur seine Pflicht getan habe, — dieser weniger heroische als blinde Einwurf, dem man selbst an Stellen begegnet, wo man es nicht erwartet —, genügt in Kürze der Hinweis, daß Millionen Männer aus den Schützengräben zurückkehren, die die größte Verantwortung und die größten Opfer geleistet haben, daß selbst das Offizierkorps in vollständig anderer Zusammensetzung und Schichtung aus dem Kriege zurückkehrt, und daß das ganze Volk einen neuen politischen Horizont erhalten hat und ein loeltpolitischesVolk geworden ist. Notwendigkeit einer Kaiserlichen Kundgebung in dem Momente, in dem die Zensur fällt. Die heraufziehende Stunde des Friedens ist so gewaltig und die Gefahren, die sie in sich birgt, sind so groß, daß der Staat ihr nur durch eine Kundgebung würdig entgegenkommen kann, die nach Form und Inhalt gleich bedeutend und zielsetzend ist. Die Form anlangend, so kann nur eine kaiserliche Botschaft an das ganze Volk in Betracht kommen. Wie der Kaiser am Anfang des Krieges durch das eine Wort: „Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche", dem wahren Geiste
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der Nation zum Durchbruch verholfen und alles Schlimme der jüngsten Geschichte niedergezwungen hat, so kommt es auch Ihm zu, den Weg zu weisen, den das Volk nun gehen soll, und die einmütigen Kräfte zu entfesseln, die das schwere Werk des Friedens im Innern verlangt. Und in dem Augenblicke, in welchem die Schranken der Zensur fallen, muß diese kaiserliche Botschaft erscheinen, damit sie das Bett bilde, in welchem sich der brandende Strom der Meinungen, Hoffnungen und Forderungen stürze, um feste Ufer zu gewinnen. Im Unterschiede von dem kurzen erlösenden Wort am Anfang des Krieges kann die Botschaft nicht knapp sein; sie wird vielmehr in einer gewissen Vollständigkeit die Hauptpunkte enthalten müssen, auf die es ankommt, wenn sie auch in bezug auf die Ausführung kaum Andeutungen geben kann. Als Richtlinien in bezug auf die Hauptpunkte ergeben sich folgende Erwägungen: I. Die größte Verpflichtung des Volkes ist, für die Hinterbliebenen der Gefallenen und für die durch den Krieg dauernd in ihrer Arbeitskraft Geschädigten ausreichend zu sorgen. II. Der größte Schatz des Volkes — zumal nach seiner Dezimierung — ist die Volkskraft und zwar numerisch und iri gesundheitlicher Beziehung, die also mit allen Mitteln zu erhalten und zu steigern ist, ΠΙ. die größte Aufgabe des Volkes ist einerseits die brüderliche soziale Arbeitsgemeinschaft im Sinne der gesteigerten Wohlfahrt der unteren Klassen im ganzen Vaterlande auszubauen und andererseits jedem Einzelnen die größtmögliche verantwortliche Selbständigkeit und den größtmöglichen Spielraum zu gewähren, um seine Kräfte zu entwickeln, zu steigern und mit Freiheit in den Dienst des Ganzen zu stellen, IV. der größte Wunsch des Volkes, den es brennend fühlt, ist, seine Bildung zu vermehren, seine Ausrüstung für die Arbeit des Lebens zu verstärken und aus dem Dunkel immer mehr ins Helle zu gelangen. Eine nach diesen Richtlinien gestaltete Botschaft wird die segensreichsten Wirkungen haben. Ihr auf dem Fuße
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folgen muß eine Darlegung des Preußischen Staatsministeriums, welches die großen Linien der Botschaft sofort ausbaut und in dieser Gestalt den Parlamenten vorlegt. Wie viel in der Botschaft selbst schon gesagt wird, wie viel in der Darlegung des Staatsministeriums, was endlich den Parlamenten an Initiative überlassen werden kann, ist Sache der politischen Erwägungen im Einzelnen. Im Folgenden versuche ich es, die Hauptgebiete namhaft zu machen und die Maßregeln kurz zu skizzieren, die nötig erscheinen. Zu I. „Hinterbliebenen-Fürsorge". Zu diesem Punkte sind Ausführungen in diesem Zusammenhange nicht nötig. Denn alle sind in der Anerkennung dieser Verpflichtung einig. Die möglichst reichliche Befriedigung aber ist Sache der technischen Durcharbeitung, die schon jetzt nach allen Seiten erfolgen muß. Zu II. „Erhaltung der Volkskraft". Zur Erhaltung der physischen und moralischen Volkskraft ist nötig: 1. eine über das ganze Reich sich erstreckende Säuglings- und Kleinkinderpflege, 2. eine durchgeführte Überwachung der schulpflichtigen Jugend in allen den Fällen, wo die häusliche Fürsorge nicht ausreicht (weil die Mutter auf Arbeit geht, usw.), also die Einrichtung von Kinderhorten, 3. eine Fortbildung und Überwachung
der jugendlichen
Arbeiter
nach der
Schul-
entlassung (zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr), 4. eine durchgreifende Revision des Wohnungsgesetzes in der Richtung auf die Herstellung menschenwürdiger Wohnungen für alle Klassen der Bevölkerung, 5. die Förderung des Heilstättenwesens zur Einschränkung der Völkskrankheiten und Seuchen. In bezug auf Punkt 1 und 5 ist die Arbeit bereits im vollen Gange und es bedarf nur der Schärfung des bereits erwachten Volksgewissens und der Stärkung der vorhandenen Einsicht, um die günstige Entwickelung zu fördern. Die Säuglings- und Kleinkinderpflege kann der Staat dem Zusammenwirken der Kommunen und der privaten Fürsorge überlassen, muß aber ein scharfes Auge für sie haben. Dasselbe gilt von dem Heilstättenwesen; doch wird
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er hier gegebenenfalls auch mit seinen Mitteln eintreten müssen. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aber, die an dem Marke des Volkes zehren, muß vom Staat und viel durchgreifender in Angriff genommen werden als bisher. Nur radikale Maßregeln können hier helfen; die wohl verständliche, aber heillose Prüderie muß überwunden werden; denn es steht zu viel auf dem Spiele. Die Mädchen sind vor Eheschließungen mit geschlechtskranken Männern amtlicherseits zu schützen, und deshalb ist die Anzeigepflicht jeder Geschlechtskrankheit wie jedes Typhus- oder Cholerafalles zu fordern und die ärztliche Behandlung obligatorisch zu machen. Was den Punkt 2 betrifft, so sind die Kommunen bzw. die Schulgemeinden anzuhalten, Kinderhorte zu errichten. Es ist dies eine Sache von höchster Bedeutung. Tausende von zukünftigen Verbrechern werden dem Staate erspart bleiben, wenn für das psychische und moralische Wohl der schulpflichtigen Kinder gesorgt wird, die zu Hause nicht die nötige Überwachung finden. Die auf zuwendenden Summen stehen in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, den die Einrichtung birgt, die zum größten Teil durch unbezahlte weibliche Kräfte zu leisten ist. Den Punkt 3 anlangend, so sind ja neben den bestehenden obligatorischen Fortbildungsschulen bereits allerlei Versuche und Unternehmungen wirksam, die die Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit der Jugend im Übergangsalter bezwecken, bzw. ihr eine gute und edle Erholung schaffen wollen. Ich besitze auf diesem schwierigen Gebiete zu wenige Erfahrungen, um Vorschläge machen zu dürfen; aber sicher ist mir, daß hier eine große und notwendige Aufgabe vorliegt — die heranwachsende Jugend der besser situierten Stände ist geschützt, die der Arbeiter ist es nicht —, und daß die bisherigen Bestrebungen die weibliche Jugend viel zu sehr außer Acht lassen. Die Maßnahmen, die hier zu treffen sind, sind viel umfangreicher und schwieriger als die, welche der noch schulpflichtigen Jugend gelten; aber diese Einsicht darf nicht abschrecken, dieses Problem positiv zu bezwingen; denn ist die Jugend bis zum 18. Lebensjahr in den richtigen
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Bahnen gehalten, so sind die schlimmsten Quellen der Haltlosigkeit und Verbrechen verstopft. Den Punkt 4 endlich anlangend, so ist kaum eine andere Forderung in diesen zwei Kriegs jähren in Hinsicht auf den Friedenszustand deutlicher und bestimmter laut geworden, als die nach einer Verbesserung des Wohnungswesens. Daß es sich hier um eine der größten sozialen und sozialpolitischen Aufgaben handelt, die dem Staate und der Gesellschaft gestellte sind, kann niemand verkennen. Der gegenwärtige Zustand, eine Folge des Kapitalismus und der rapiden Städteentwickelung bei uns, läßt sich m. E. durchgreifend in absehbarer Zeit überhaupt nicht beseitigen; aber große Verbesserungen lassen sich doch schrittweise erzielen, wenn mit der Beseitigung der absolut schlechten Wohnungen durch Steigerung der Verkehrsmöglichkeiten die Wohnstätten-Flächen der Städte vergrößert werden. Durch besondere Wohnungsfürsorge für kinderreiche Familien — Staat und Kommunen müssen an diese Fürsorge durch Erleichterungen verschiedener Art herantreten — kann im Einzelnen viel genützt werden, und durch Erbauung besonderer Häuser für einzelstehende Arbeiter und Arbeiterinnen und gesetzliche Einschränkung des After-Miete-Wesens kann der sozial-moralische Zustand durchgreifend gehoben werden. Eng mit dem Wohnungswesen hängt das Siedelungswesen zusammen, das aber gegenüber der allgemeinen Aufgabe der Ver besserung der Wohnungen nur eine partikulare Bedeutung innerhalb der heutigen Grenzen Deutschlands hat. Anders wird es stehen, wenn wir im Osten Erwerbungen machen 1 ; doch sind auch dort, außer in Kurland, nicht so bedeutende Siedelungsflächen vorhanden, als manche Enthusiasten sich vorstellen. Wird auf allen diesen hier genannten Linien vom Staate ein kräftiger Fortschritt eingeleitet, so ist damit auch das geschehen, was seitens des Staats gegen den verhängnisvollen Geburtenrückgang geschehen kann. Direkt ist der Staat hier machtlos. 1 Gemeint war ein Protektorat über die ehemals deutschen Ostseeprovinzen.
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Zu III. und IV. (Soziale Arbeitsgemeinschaft. Bildungspolitik) . Als Voraussetzungen dessen, was hier zu gewähren ist, sind zunächst gewisse formelle Bedingungen in unserem Vaterlande herzustellen, in bezug auf welche wir unstreitig rückständig geblieben sind. Die Eigenart unseres Staates, wie sie sich aus der Eigenart unseres Volkes richtig erfaßt, gebildet hat, hat zu dem eigentümlichen Ergebnis geführt, daß wir das Größere, nämlich eine vertiefte Kultur, höhere Ideale und eine kraftvolle innere Organisation gewonnen haben, daß wir aber in bezug auf die Oberflächen-Kultur — und ich rechne zu ihr die Formen der Gesellschaft, des Staats und der Kirche — hinter Westeuropa zurückgeblieben sind. Scharf unterscheidet sich unser Freiheits-, Staats- und Kulturbegriff von dem Westeuropas; er ist durchweg tiefer, sachlicher, produktiver, und ihm gegenüber erscheinen die westeuropäischen Ideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Zivilisation in vieler Hinsicht als trügerisch und hohl. Aber andererseits enthalten diese doch, richtig erfaßt, gewisse Elemente, die wir bisher zu Unrecht bei Seite gesetzt haben und die wir ohne Schaden nicht länger mehr missen können. Gerade in der Verbindung mit den tieferen und höheren Idealen erhalten jene einen Wert und eine Bedeutung, die sich sonst auf keinem Wege gewinnen lassen. Nicht nur kann nur so die nötige Einheit der Lebensformen, soweit sie wünschenswert ist, gewonnen werden, an der es uns noch sehr feht, sondern sie schaffen auch ein notwendiges gemeinsames Medium der gesellschaftlichen Sitte, der gleichartigen Umgangsformen, des gesellschaftlichen Tones und zahlreicher anderer Imponderabilien. Sie zerbrechen endlich den Kastengeist, einen unserer größten inneren Feinde, und stabilieren in einem mündigen Volke in und neben aller organisatorischen Unterordnung das notwendige Recht und die Würde des Individuums. Jetzt ist die Stunde da, in der wir den großen Schritt machen können und müssen, unter Behauptung unserer Eigenart diese vernachlässigte Entwickelung nachzuholen. Das kann freilich nicht auf Kommando geschehen, sondern muß aus der Gesellschaft
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selbst hervorquellen. Aber wer Ohren hat zu hören, der muß merken, daß heute das bewußte und unbewußte Streben des Volkes sehnsüchtig hierhin zielt und daß der Zeiger der Zeit, zumal unter den Eindrücken des Krieges und seiner volkverbindenden Kraft, auf diesem Punkte steht. Dem Staate fällt hier nicht die Hauptaufgabe zu; aber er kann durch Hemmungen außerordentlich viel schaden und er kann durch umsichtige Förderung außerordentlich viel nützen. Wenn er der Minorität, die sich wider dieses Streben setzt, seinen Arm leiht, so werden die schwersten Kämpfe entstehen; wenn er ihn ihr entzieht, wird diese Minorität kraftlos sein. Gewiß hat der Staat hier viel zu bedenken — nicht nur den Unterschied der Verhältnisse von Stadt und Land, sondern auch den größeren Unterschied zwischen West und Ost; aber zu lange schon ist eine zeitgemäße Fortentwickelung des Ganzen niedergehalten worden durch die einseitige Rücksicht auf den Osten. Aber auch hier hat der Krieg vieles verändert und ausgeglichen, und selbst wenn es nicht der Fall wäre — die Forderungen eines mündigen Volks lassen sich nicht länger überhören! Gewiß muß die Staatsverwaltung konservativ bleiben; aber „gesunder Fortschritt" und „konservativ" sind nicht nur keine Gegensätze, sondern sie gehören untrennbar zusammen. Das zeigen uns Männer wie: Stein, Rodbertus, Carlyle. Ein dreifaches ist es, was der Staat jetzt gewähren muß und womit er seinen Beitrag zum notwendigen Fortschritt leistet: 1. ein neues Wahlrecht, 2. die volle religiöse Freiheit, 3. die volle Freiheit und aufrichtige Anerkennung des Koalitionsrechts und der Gewerkschaften. Zv 1 „Das Wahlrecht": Die Notwendigkeit der Änderung des preußischen Wahlrechts ist — man darf sagen „allerseits" — anerkannt. Nach meiner politischen Überzeugung würde dem Preußischen Staate die Einführung des Reichstagswahlrechts nicht schädlich sein; aber wenn berechtigte Bedenken hiergegen geltend gemacht werden
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können, so muß man sich doch darüber klar sein, daß ohne die Gewährung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts jede Änderung nicht nur ein Schlag ins Wasser ist, sondern auch die schlimmsten Kämpfe entfesseln wird. Nur das gleiche Wahlrecht kann durch ein Pluralwahlrecht ersetzt und auch das wahlfähige Alter kann heraufgesetzt werden, obgleich die zurückkehrenden Krieger das mit Recht schwer empfinden werden. Allgemein aber muß ein Wahlrecht sein, welches nach dem Kriege, der alle Klassen vereinigt hat, gegeben wird, und geheim muß es sein, weil in diesem Falle die Forderung der Öffentlichkeit Mißtrauen und Unaufrichtigkeit bedeutet. Entscheidet man sich aber, wie notwendig, f ü r das allgemeine und geheime Wahlrecht, so ist die Frage sehr berechtigt, ob der Nutzen des Pluralwahlrechts wirklich so bedeutend ist. Eine starke und verständige Regierung wird in Preußen m. E. bei jedem Wahlrecht die Majorität finden, die sie bedarf, und der Wahlrechtsfrage kommt überhaupt mehr eine moralische Bedeutung zu als eine politische. Zu 2 „Die Herstellung der vollen religiösen Freiheit": Fast die drückendste Rückständigkeit in Preußen ist die Behandlung der Religionsfrage; daher ist, wenn irgendwo, so hier eine gründliche Änderung dringend notwendig. Wie von einem Alp erlöst und zur Freiheit geführt werden sich die weitesten Kreise des Volks empfinden, wenn hier endlich Wandel geschaffen wird. Es ist eines großen und mündigen Volks einfach unwürdig, auf dem innerlichsten Gebiete, dem der Religion, bevormundet und gebunden zu werden. Und doch kommt es lediglich darauf an, mit der Bestimmung der Preußischen Verfassung endlich wirklichen Ernst zu machen! Es handelt sich vornehmlich um zwei Punkte: a) darum, daß die Erklärung der Religionslosigkeit, wenn Tüchtigkeit und sittlicher Charakter einer Persönlichkeit feststeht, kein Hindernis mehr ist, um im Zivildienst oder im Heere angestellt zu werden, b) daß die Kinder von Dissidenten, Freireligiösen und Atheisten nicht zu dem staatlichen Religionsunterricht gepreßt werden. Was den ersten Punkt betrifft, so sind Königstreue, Pflichtgefühl, sittlicher Ernst und Opferfreudigkeit nicht
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von dem theoretischen Bekenntnis zum Gottesglauben abhängig — einfach deshalb nicht, weil bei der Zartheit und Innerlichkeit der wirklichen Religion das theoretisch Bewußte hier überhaupt nicht entscheidet und weil jeden erzogenen Menschen unter uns die sittliche, auf religiöser Grundlage erwachsene Kultur, in der er steht, trägt und bindet. Was der Staat bei seinen Beamten nicht dulden kann, ist Frivolität und mangelnde Ehrfurcht vor dem Ehrwürdigen; aber dieses sind keineswegs die notwendigen Folgen des theoretischen Bekenntnisses zur Religionslosigkeit, die bei ernsten Naturen häufig nur ein theoretischer Irrtum ist; denn letztlich besteht die Religion in einer tiefen Gesinnung des Herzens, die, wie das Auge, alles sieht, nur sich selber nicht. Nicht einmal das ist zuzugeben, daß die Zahl minder tüchtiger und minder zuverlässiger Beamten und Offiziere größer werden wird, wenn hier Freiheit herrscht, denn wahrlich nicht gering ist unter der Herrschaft des Zwanges heute die Zahl derjenigen, die deshalb flügellahm sind, weil sie durch Unaufrichtigkeit innerlich zerbrochen sind. Was aber den zweiten Punkt betrifft, so hat schon ein alter Kirchenvater gesagt: „Religionis non est, cogere religionem". Gewiß wird es eine empfindliche Einbuße sein, daß Kinder ohne Religionsunterricht unter uns aufwachsen, aber gegenüber den verwüstenden Folgen eines erzwungenen Religionsunterrichts ist diese Einbuße das geringere Übel. Auch darf man bestimmt erwarten, daß der Gesinnungsunterricht in anderen Lehrgegenständen hier vikarierend eintreten wird, ja auch die Hoffnung erscheint nicht übertrieben, daß verhältnismäßig nur wenige Eltern von der Freiheit f ü r ihre Kinder Gebrauch machen werden, wenn der Zwang weggefallen ist. Wie es nachgerade unerträglich geworden ist, daß auf den Gottesglauben eine Prämie f ü r die Anstellung im Staate steht, so entspricht es auch einem mündigen Volke nicht mehr, es durch den Staat bei den „anerkannten" Konfessionen zwangsweise zu halten. Daß die Anziehungskraft und Würde der Religion nur gewinnen wird, wenn hier aller Zwang wegfällt, ist mir nicht zweifelhaft. Zu 3 „Das Koalitionsrecht und die volle Anerkennung
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der Gewerkschaften": Das Koalitionsrecht, wie es namentlich in den Gewerkschaften zum Ausdruck gekommen ist, hat bei Kriegsbeginn und im Kriege eine glänzende Probe bestanden. Durch die Gewerkschaften sind die Massen der Arbeiter geeinigt, gehoben und, wie die Probe lehrte, zu guten deutschen Bürgern erzogen worden. Es läßt sich nicht ausdenken, was gekommen wäre, wenn der Krieg uns im Zustande eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie und in heftigem Kampf um verweigerte Koalitionsrechte getroffen hätte. Die befriedigende und hocherfreuliche Haltung der Arbeiterschaft ist auch staatlicherseits bereits zur Anerkennung gekommen und es sind schon entsprechende Maßregeln erfolgt. Daher bedarf es keiner Worte mehr, um die Notwendigkeit zu begründen, daß der Koalitionsfreiheit und besonders den Gewerkschaften aller Schatz verheißen wird und alle Förderung, wo noch Rückständigkeiten übrig geblieben sind. Die Ausnahmefälle — die großen Staatsbetriebe, welche der Sicherheit des Vaterlandes dienen — sind mit peinlicher Gewissenhaftigkeit zu umgrenzen, und es ist auch hier so viel Freiheit zu gewähren, als die Sache erträgt. Am besten wäre es, daß den hier Beteiligten in weitest-möglichem Umfang Beamtencharakter verliehen wird. Aufs nächste hängt mit dieser Frage die Frage der Behandlung der Sozialdemokraten zusammen. Der Krieg hat — von einer kleinen Gruppe abgesehen — ihren Patriotismus bewiesen. Sie sind Deutsche, haben ein Vaterland, haben es hoch gehalten und sind freudig dem Rufe des Königs gefolgt. Ergreifende Zeugnisse tiefer Vaterlandsliebe sind in Poesie und Prosa aus ihrer Mitte laut geworden und haben uns alle erbaut. Also ist diese Partei als eine radikale Reformpartei zu behandeln unter der Voraussetzung, daß sie auch weiter noch bereit ist, mitzubauen am Reich. Vertrauen wird auch fernerhin Vertrauen erwecken, und die republikanischen Träume kann man so lange staatlicherseits unberücksichtigt lassen, als sie ideologische Zukunftsträume bleiben. Übrigens ist auch vielen und hervorragenden Sozialdemokraten im Kriege die Bedeutung und Notwendigkeit der Macht der Monarchie aufgegangen. Diese
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Macht aber ist nicht unvereinbar mit einer weichen Hand; Großmut ist die schönste Tugend der Stärke, und je mehr man tüchtige Sozialdemokraten zu verantwortungsvollen Kommunalstellungen zulassen wird, je sicherer wird man sie f ü r die Aufgaben des Staates gewinnen. Gewiß ist es freilich nicht, ob die heutigen Führer nicht bald nach dem Kriege von skrupellosen Agitatoren und dem blinden Hödur der Masse gestürzt, nur noch ein kleines Häuflein bilden werden; aber das muß man abwarten, bzw. mit Weisheit aufzuhalten suchen. Brüderliche soziale Arbeitsgemeinschaft und leichter zugängliche und verstärkte Fachbildung für jeden Tüchtigen; zu diesem positiven Ziele muß sich die Entwickelung des neuen Deutschlands bewegen. Auf einer Linie haben die Männer aller Klassen lange Monate hindurch gestanden und das Vaterland verteidigt — dieses Erlebnis und diesen Segen müssen wir dem Vaterlande erhalten. Die aus den Schützengräben Zurückkehrenden begehren diesen Lohn und sehnen sich zugleich nach gehaltvoller und befriedigender Friedensarbeit. Dazu: sie haben, ein jeder Eihzelne, Verantwortung getragen; sie können niemals mehr bloße „Masse" werden. Durch den Krieg können wir daher auf eine höhere Stufe gehoben werden. Was sonst nur großen führenden Persönlichkeiten gelingt, das ganze Volk auf eine höhere Stufe zu heben, das kann der Krieg uns leisten. Es gilt, das Volk im Frieden auf einer höheren Stufe zu befestigen. Was kann hier geschehen? Mit Wahlrecht, Koalitionsfreiheit usw. allein ist es nicht getan. Positiv muß gebaut werden. Das ist aber auch deshalb nötig, weil es nach dem Kriege ein schweres Stück Arbeit kosten wird, Deutschlands Stellung im Wettbewerb der Völker wiederherzustellen und auszubauen. Wir werden Wissenschaft und Technik, Erziehung und Unterricht, was wir haben und können, in den Dienst der nationalen Selbsterhaltung stellen müssen. Wir haben unsere Weltstellung durch unsere qualifizierte Arbeit und unseren Fleiß, durch die Macht unserer Organisation und unsere Schaffenskraft gewonnen; also gilt es, das Gewonnene wiederzuerringen und durch einen organischen
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Zusammenschluß der Arbeitenden aller Klassen zu steigern. Was dazu nötig ist, ist so Vieles, daß ich mich beschränken muß. Auch steht es mir nicht zu, über Gebiete zu sprechen, auf denen ich eigene Kenntnisse und Erfahrungen nicht besitze. Wie Gewerbe und Industrie, Verkehr und Handel zweckmäßig zu fördern, wie gefährliche Konkurrenzen im Innern nach Kräften zu unterdrücken, der freie Wettbewerb aber nicht zu unterbinden ist, darüber vermag ich Ratschläge nicht zu erteilen. Was ich klar zu sehen glaube, ist folgendes: 1. Es muß auf eine bescheidenere Lebenshaltung der jungen Leute der oberen Stände, namentlich auch der jungen Eheleute, hingewirkt werden. Ein schweres Hemmnis des sozialen Ausgleichs würde damit weggeräumt werden, um von anderen segensreichen Folgen (Erleichterung der Eheschließungen usw.) zu schweigen. Wenn das Offizierskorps in seiner jüngeren Hälfte mit dem guten Beispiel hier vorangehen würde, wäre Großes gewonnen; denn bei seinem Ansehen richten sich nach ihm automatisch Viele. 2. Wie die oberen Stände überhaupt die Führung der Reform übernehmen müssen, so ist es insbesondere die akademische Jugend, die in Zukunft eine große Verantwortung haben wird und ausgezeichnetes leisten kann. Wie es immer mit dem alten akademischen Verbindungswesen sich nach dem Kriege gestalten wird — daß es bleiben wird ist mir nicht zweifelhaft — neben ihm muß die allgemeine Organisation, die sich f ü r den Krieg meines Wissens an allen Universitäten gebildet hat, bleiben, und zu Friedensarbeit verwertet werden. Es sind daher die Rektoren der Hochschulen von dem Herrn Unterrichtsminister zusammenzurufen, bezw. zu hören, um festzustellen, was hier geschehen muß und kann, und es sind vor allem die Studenten-Ausschüsse selbst zu hören. Bevorzugt durch ihre höhere Bildung und gesellschaftliche Stellung, muß die Studentenschaft als ganze soziale Aufgaben übernehmen: a) In der Richtung auf die Ertüchtigung, Veredlung und Versittlichung in ihrer eigenen Mitte, b) In der Richtung auf die Hilfeleistunng in bezug auf die
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Emporführung der Jugend der minder bevorzugten Klassen in intellektueller Hinsicht (Übernahme von Fortbildungskursen) und in Ertüchtigung aller Art. So erhalten die Studierenden Verantwortlichkeit f ü r die Jugend der anderen Klassen, durch die sie selbst erstarken werden, und zugleich wird ein Band sozialer Gemeinschaft im ganzen Volke entstehen. Auf der Universität muß der Student Verständnis und Fähigkeit f ü r soziale Aufgaben gewonnen haben, um soziale verantwortliche Tätigkeit — sei es auch in bescheidenem Maße — fortzusetzen, bis er in eine Staatsstellung einrückt. Gerade weil das bei uns (leider) verhältnismäßig so spät geschieht, muß er an anderer Stelle bereits f ü r Andere sorgen lernen und Verantwortung tragen. 3. Eine Erweiterung der Zulaßbedingungen zum Universitätsstudium vermag ich nicht zu empfehlen; wir müssen vielmehr eifersüchtig (es wird schwer genug sein) darüber wachen,daß dem Ansturm, der kommen wird, nicht nachgegeben und das strenge Studium der reinen Wissenschaft nicht im Interesse einer schnellen Ausbildung f ü r die Praxis erleichtert wird; sonst zerstören wir die Grundbedingungen unserer Kraft und Überlegenheit und geraten in einen wurzellosen wissenschaftlichen Modernismus. Aber stabile oder „fliegende" Volkshochschulen — oder wie man sie nennen mag — nach dem dänischen Muster zur Förderung der allgemeinen Bildung und doch differenziert nach bestimmten Zwecken sind einzurichten. Das ist die richtige Antwort, auf das dringende und ergreifende Verlangen der min'derbevorzugten Klassen nach Bildung und Emporsteigen. Schaffen wir hier nicht Organisationen, so werden sie Sozialdemokratie und Gewerkschaften ohne den Staat schaffen, wie sie schon begonnen haben, und das wird sich ζ. T. gegen die Überlieferungen des Staates richten. Hier ist auch das Feld, f ü r welches (s. o.) die Studentenschaft anzuspornen ist. Ob der Staat direkt solche Organisationen zu begründen hat, ob er ihre Einrichtung den Kreisen und Kommunen überlassen soll und wie weit, ist Sache technischer Überlegung. Mit diesen Organisationen ist aber die allgemeine Einrichtung von
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gehaltvollen Volksbibliotheken aufs engste zu verbinden. Wir sind hier rückständig geblieben; doch ist gerade in letzter Zeit ein bedeutender Aufschwung zu verzeichnen. Es gilt, diesen großzügig zu fördern, dann wird sich von hier aus ein Strom von Segen ergießen und zugleich wird ein Damm aufgerichtet gegen wilde Wasser. Wie das Studium der reinen Wissenschaft auf den Universitäten nicht erleichtert werden darf, so sind auch die Anforderungen an die Schüler auf den Gymnasien nicht herabzusetzen, sondern — in den oberen Klassen durch Anleitung zum Selbststudium — zu steigern. Den entgegenstehenden Bestrebungen und Überbürdungsklagen ist kräftig zu begegnen. Wer körperlich und geistig nicht fähig ist, soll nicht aufs Gymnasium. Dieses ist in seiner dreifältigen Gestalt, die sich bewährt hat, beizubehalten. In seinen drei Formen (klassisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) soll es in erster Linie Gesinnung·, Fleiß und Grundbildung erwecken, in zweiter Linie fähig machen, das Studium bestimmter Wissenschaften zu ergreifen. Den drei Formen einen gemeinsamen dreijährigen Unterbau zu geben, halte ich f ü r sehr wohl möglich, so daß erst nach dem 6. Schuljahr entschieden zu werden braucht, in welche Art von Gymnasium der Schüler einzutreten hat. Diesen 6 jährigen Unterbau aber einfach mit der Volksschule zu identifizieren („Einheitsschule"), wäre ein schwerer Fehler. Nur der Weg, der bereits eingeschlagen worden ist, ist hier der richtige, talentvollen Volksschülern den Übergang ins Gymnasium zu erleichtern. 5. Wer es nicht schon vorher gewußt hat, dem mußte es der Krieg gezeigt haben, daß wir die anderen Kulturvölker nach ihrer Eigenart und Kraft, Ihrer Lebensbewegung und Zielen schlecht gekannt haben. Ihre „schöne Literatur" kannten wir, ζ. T. auch ihre „alte Geschichte"; sonst war all unser Wissen oberflächlich. Diesem großen und folgenschweren Mangel müssen wir mit allen Kräften begegnen, sowohl um uns gegen neue schwere Überraschungen zu sichern und Einfluß auf die anderen Völker zu gewinnen, als auch um nicht einem engen geistigen Chauvinismus zu verfallen, der uns schließlich gegen uns
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selbst blind macht. Gediegene Kenntnis der anderen Völker in ihrem gegenwärtigen Bestand nach allen Seiten ihrer Lebensbewegung: Das ist eine große Aufgabe, die ganz anders als bisher in Angriff genommen werden muß. Ein „orientalisches Seminar" allein, so ersprießliches es in seinen Grenzen gewirkt hat, tut es nicht, und aufhören muß der Zustand, daß an deutschen Universitäten die Professuren f ü r neuere Geschichte fast samt und sonders Professuren f ü r deutsche bezw. preußische Geschichte sind. Mit der Kenntnis der Geschichte, Verfassung, politischen Ökonomie usw. der anderen Völker — und nicht nur Europas — muß es so ernst genommen werden wie mit der eigenen Geschichte. Wir haben in Deutschland keinen Gelehrten, der Frankreich so kennt, wie Lavisse Preußen kennt, und Universalhistoriker der neueren Geschichte werden bei uns von vornherein als Dilettanten angesehen, während wir von den Universalhistorikern anderer Völker lernen. Die hohe Aufgabe der Zukunft, deren Lösung sofort nach dem Kriege in Angriff genommen werden muß, ist daher die, die deutsche Gründlichkeit zu bewahren und dabei den Horizont zu erweitern und mit voller Kraft in das Studium der anderen Völker der Gegenwart einzutreten. Das Größte steht auf dem Spiel, unsere ganze Weltstellung, wenn wir hier nicht reformierend eingreifen. Die wesenlosen und frivolen Träume politisch blinder Alldeutscher lediglich durch die Faust den Erdball zu bezwingen, müssen verscheucht werden durch die Anspannung des alle Probleme bezwingenden deutschen Geistes und der deutschen Arbeit. Nur durch sie vermögen wir durchzudringen und den Kranz zu gewinnen, der uns beschieden ist. Ich weiß, daß ich „hoch gesungen" und manches verlangt habe, was Vielen unerreichbar, ja gefährlich erscheinen wird; aber unser durch die Macht der Krone gesichertes Vaterland verlangt die volle Durchführung seiner geistigen Einheit und kann nur fortschreiten auf dem Boden der Humanität und der Freiheit. Wer auf die Zuverlässigkeit des Deutschen und auf seinen freudigen
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Willen 2ur Arbeit rechnet, der gewinnt Vertrauen und kann vertrauensvoll dem mündigen Volke mit der Freiheit die höchsten Ziele setzen. Und auch zu dem Letzten und Höchsten, dem in Gott gegründeten Idealismus, wird das Deutsche Volk immer sicherer den W e g finden, je edler und größer die Aufgaben sind, die seiner Selbstverantwortlichkeit gestellt werden. Der Anfang des Krieges hat dem Deutschen Volk einen hohen moralischen Aufschwung gebracht; die lange Dauer des Krieges bedroht es mit langsam einbrechender D e m o ralisierung; denn das ist die furchtbare Folge eines langen Krieges, auch dann, wenn er verhältnismäßig glücklich geführt wird. Mögen die heißen Wünsche nach einem edlen und werten Frieden bald ihre E r f ü l l u n g finden, damit der Geist noch k r ä f t i g bleibe, den der Krieg erweckt hat und damit dieser Geist die hohen Aufgaben erfüllen könne, die seiner warten!
Das Gebot der Stunde. Eine Denkschrift
im Juni 1917 dem Reichskanzler gereicht.
ein-
Das gütige Vertrauen, welches Ew. Exzellenz mir geschenkt haben, und die ernste Lage unsres Vaterlands ermutigen mich, nachstehendes gehorsamst Ew. Exzellenz zu unterbreiten: Ich habe bis vor wenigen Wochen der Politik innerlich zugestimmt, die mit dem Ziele, wie es Ew. Exzellenz vorschwebt, die Taktik verbindet, schweren Rissen im Innern durch Zusammenhalten der Parteien und durch Verschieben wichtiger Entscheidungen vorzubeugen. Aber die Zeichen der Zeit und die Stimmung in weitesten Kreisen des Volks — ungesucht ist sie mir von zahlreichen und maßgebenden Seiten entgegengetreten — haben mir die Überzeugung aufgedrängt, daß die Zeit des Lavirens beendigt werden maß, soll unser Vaterland nicht der schwersten Krisis entgegengehen. Aus dem bedrängten Gewissen und der tiefsten Sorge heraus schreibe ich diese Zeilen, und diese Sorge möge die Rückhaitlosigkeit meiner Darlegungen entschuldigen : Wir sind uberall auf den toten Punkt gekommen und müssen, koste es, was es wolle, über ihn hinauskommen. Auf dem toten Punkt stehen wir seit langem an den Hauptfronten, auf dem toten Punkt in bezug auf unsre Friedensangebote, auf dem toten Punkt vor allem auch im Innern. Eine dumpfe, unfreudige Stimmung greift um sich, nicht nur in dieser oder jener Schicht der Bevölkerung, sondern
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überall und auch bei den Besten. Das beobachte ich täglich. Geht es so fort, so droht das Kapital zur Neige zu gehen — das moralische —, mit dem allein man Krieg zu führen und einen erträglichen Frieden zu schließen vermag. Und wo diese dumpfe Stimmung noch nicht die Oberhand gewonnen hat, da wiegt man sich in geradezu schrecklichen Illusionen über die Kriegs- und die allgemeine Lage, als stünden wir noch im August 1914 und eine besiegte Welt läge demnächst zu unsern Füßen. Das Erwachen aus dieser Stimmung kann noch gefährlicher werden als die resignierte oder der Verzweiflung nahe Dumpfheit. Wie ist zu helfen? Wie kommen wir über den toten Punkt, und welchen toten Punkt können wir direkt in Angriff nehmen? Nur den im Innern; aber dieser muß auch mit allen Kräften beseitigt werden. Das, was bisher hier geschehen ist, hat sich als ganz ungenügend erwiesen. Es fehlte immer, so zu sagen, der I-punkt auf dem I, der den Buchstaben erst zum Buchstaben macht, und es fehlte die Tat. Die Versprechungen, die gegeben, und die Hoffnungen, die erregt wurden, waren an sich schon unvollkommen — es fehlte ihnen die rückhaltlose Vollständigkeit —, aber sie litten auch noch darunter, daß nichts greifbares, woran man sich halten konnte, geschah. So erlosch die aufflackernde Flamme des Dankes und des Vertrauens sehr rasch und die Begeisterung wich der herben Enttäuschung. Noch ist die letzte Stunde: es muß jetzt mit dem Gedanken des sozialen Kaiser- und Königtums voller und praktischer Ernst gemacht werden. In ihm steckt das Maß von Demokratie, welches wir bedürfen, und in ihm steckt zugleich die Abwehr einer solchen Demokratie, die der Eigenart und dem Geist unsres Staats und Volks nicht entspricht. Die Wahlrechtsfrage muß im Sinne des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts von Seiten der Regierung schon jetzt gelöst werden, so daß ihr auf diesem Boden nichts mehr zu tun übrig bleibt. Mögen dann die Parteien zusehen — der Ausgang ist mir nicht zweifelhaft! Aber die Wahlrechtsfrage ist keineswegs die einzige. In jedem Ministerium müssen Vorlagen
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gemacht werden, welche dem Verlrauen zu dem Volke entsprechen, wie es durch seine Haltung im Kriege gerechtfertigt ist. Geschieht das, so muß und wird es wie beim Wahlrecht gehen — es gibt Kämpfe; aber die Ausgänge sind sicher und das Vertrauen des Volks und der Mut, sich in jede Lage zu schicken, wird freudig zurückkehren! Ich habe ein starkes Gefühl dafür, daß hier zum Teil Wagnisse nötig sind, ja auch Sprünge ins dunkle, und ich habe ein starkes Verständnis für das, was uns unsre alte Volksschichtung und unsre alten Ordnungen geleistet haben. Aber noch deutlicher ist mir, daß, wenn jetzt nichts geschieht, das Ganze nicht mehr aufrecht erhalten werden kann; also muß das Wagnis gewagt werden, auch wenns ζ. T. ins dunkle geht, auch wenn Mißgriffe nicht ausbleiben werden. Nach einem solchen dreijährigen Krieg kann auch der weiseste und umsichtigste Staatsmann das Volk nur zusammenhalten, wenn er durch deutliche Förderung seiner Pflichten und Rechte eine neue Stufe seiner Entwicklung schafft. Sonst muß nicht nur er die Zügel aus der Hand verlieren, sondern das Volk selbst verfällt dem Kleinmut und innerer Auflösung. Die „Revolution" haben wir — Gott sei Dank! — nicht zu fürchten; nichtig und frivol sind die Drohungen mit ihr; aber es gibt etwas, was so schlimm ist wie die Revolution, das ist die dumpfe Resignation und der innere Verfall! Sie höhlen das Mark der Knochen aus und ersticken Seele und Geist eines Volks. Aber noch eine außerordentliche, ja ganz unübersehbare Folge kann und wird die offenkundige Tatsache der inneren Reformen haben. Sie entwindet unser η Feinden ihre kräftigste ideelle W a f f e ! Gewiß nicht um der Feinde willen betreten wir kräftig die Rahnen des sozialen Königtums und freiheitlicher Fortschritte; aber auch auf sie wifd solches Retreten den stärksten Eindruck machen. W i r sind ja wirklich neben großen Vorzügen politischer Art ihnen gegenüber auf einigen Linien rückständig, und sie sehen und empfinden nur diese Rückständigkeit. Sofern die Rückständigkeit eine Folge unsrer gesellschaftlichen Schichtung und unsrer jüngeren Kultur ist, kann sie direkt durch Gesetze nicht geändert werden; aber indirekt ver-
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10. Das Gebot der Stunde. (1917/1923)
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mögen Reformeil doch auch hier sehr viel zu erwirken. Und — wird es unsern Feinden deutlich, daß wir entschlossen und aufrichtig die Bahn innern politischen Forlschritts betreten, so wird das zahlreichen Parteien unter ihnen zum wirksamen Anstoß des Nachdenkens darüber werden, ob sie den Krieg noch fortsetzen sollen. Meines Erachtens ist es eine schwere Irreführung seitens unserer Zeitungen — von den Alldeutschen zu schweigen —, daß sie es f ü r bloßen ,,cant"'und Heuchelei erklären, wenn England, Frankreich und Amerika sich die Freiheit Und uns die Autokratie und Knechtschaft zuschreiben. Sehr viele, die im Ausland so sprechen, meinen es dabei subjektiv ehrlich und wollen wirklich uns und die Welt befreien. Wir können und dürfen gewiß von unserer Grundart nicht lassen; aber den Luxus dürfen wir uns auch nicht weiter gestatten, als der unverstandene Sonderling dazustehen. Das ist zu teuer! Wo wir uns ihnen verständlich machen können, müssen wir es tun: der kleine Erdball verträgt die Extrafarbe nicht; wohl aber wird er es ertragen, wenn wir einen Schimmer seiner Farbe zur unsrigen hinzunehmen. Und wenn das f ü r uns kein wirkliches Opfer bedeutet, da auch unsere inneren Verhältnisse es verlangen — warum greift man nicht zu und tut, was die Stunde gebietet? Es ist mir ganz gewiß, daß der Krieg bis zum schrecklichen Ausbluten einer Partei dauern wird, wenn wir nicht innere Reformen freiheitlicher Art jetzt bringen. Ohne sie erhalten wir keinen Frieden; mit ihnen und durch sie rückt er nahe. Darum sind die inneren Reformen wichtiger als der ganze U-Bootkrieg. Friede — in bezug auf die Friedensangebote und den Krieg an den Fronten sind wir an dem toten Punkt. Die erste Tat, um über ihn hinauszukommen, sind die inneren Reformen. Aber sie allein genügen noch nicht. Wollen wir nach diesem entsetzlichen Blutvergießen wirklich den Frieden der Menschheit, so können wir das auf keinem anderen Wege glaubhaft machen, als indem wir bereit sind, Opfer zu bringen. Auf diesen Boden hat sich das Friedensangebot im vorigen Jahre gestellt; aber es war in der Stilisierung nicht friedlich und universal genug,
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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hatte einen unharmonischen Unterton oder es konnte wenigstens ein solcher herausgehört werden. Aber es war doch eine große, eine herrliche Entschließung, an die wieder angeknüpft werden kann. Wenn unsere inneren Reformen als grundlegende und fortwirkende in Kraft gesetzt sind — mit dem „Γ'-Punkt und nicht als abgenötigte, sondern als freudig gewollte erscheinend — dann müssen wir in einem Manifeste aufs neue erklären, daß wir zur Beendigung dieses Krieges, den wir als Verteidigungskrieg geführt haben, zu jedem Opfer bereit sind, das unser status quo ante erträgt und ferner daß uns als christlicher Nation die Menschheit so nah angeht wie unser Vaterland, weil wir mit unserm Vaterland einen Beruf f ü r diese haben. Wir dürfen das nicht so erklären, als stellten wir uns an die Spitze der Menschheit, sondern wir müssen dasselbe Recht und dieselbe Pflicht, f ü r das ganze zu sorgen, den Feinden ins Gewissen schieben und damit einen Appell an alle die richten, di£, sei es als Christen, sei es als Humanisten, wissen, daß der Menschheit Bestand und Würde in ihre Hand gegeben ist. Erst wenn wir das getan haben, können wir ein gutes Gewissen haben, und hilft auch dieses Mittel nichts, dann komme, was da mag! Zu den Opfern aber, um keine Zweideutigkeit zuzulassen, rechne ich Belgien, Polen, ja selbst Verhandlungen über elsaß-lothringische Grenzregulierungen. Nehmen Sie, ich bitte Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, diese Darlegung freundlich auf. Ich mußte sie schreiben. In hoher Verehrung Ε. E. gehorsamster Α. υ. H.
Offener Brief an Herrn Clemenceau. Herr Minister! In einer im Oktober gehaltenen Rede im Senat haben Sie das zum Anfang des Krieges veröffentlichte „Manifest der sogenannten 93 Deutschen Intellektuellen" verlesen und es „ein schlimmeres Verbrechen" genannt, „als alle anderen Taten, von denen wir wissen". Sie bezeichneten auch das Manifest als „schamlos" und die, welche es unterzeichnet haben, als „dreiste Lügner". Es ist ungewöhnlich, auf solche Beleidigungen und Verleumdungen zu antworten; aber da es sich hier um die wichtigste Frage der Gegenwart handelt, nämlich um die Schuld am Kriege, darf ich nicht schweigen. Ich ergreife das Wort, obgleich ich das Manifest nicht verfaßt und es im Wortlaut, wie so viele der Unterzeichner, erst nach seinem Erscheinen kennengelernt habe. Sie selbst heben als den schlimmsten Satz in dem Manifest die Worte hervor: „Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat; weder das Volk hat ihn gewollt, noch die Regierung, noch der Kaiser." In der Tat — auf diesen Satz kommt alles an. Die übrigen Sätze stehen in zweiter Linie und erklären sich aus dem geschichtlichen und psychologischen Moment, in welchem das Manifest verfaßt worden ist. Ich kann einige dieser Sätze im Unterschied von dem ersten heute nach besserer Kenntnis in ihrem vollen Wortlaut nicht mehr anerkennen, und so urteilen zahlreiche Unterzeichner mit mir. Die Verletzung der Neutralität Belgiens bedaure ich jetzt, da
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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mir die Entschuldigung, an die ich einst auf Grund falscher Berichte geglaubt habe, nicht mehr genügt. Nach wie vor trete ich für unser tapferes und diszipliniertes Heer ein gegenüber der Verleumdung, daß es ein Heer von Barbaren sei, und gegenüber den tückischen Versuchen, einen Keil zwischen das Heer und das deutsche Volk samt seinen Gelehrten und Künstlern zu treiben; aber ich gestehe zu meinem tiefen Bedauern zu, daß ein Salz wie der, daß keines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten angetastet worden ist, ohne daß die bitterste Not es gebot — nicht haltbar ist. Als dieser Satz niedergeschrieben wurde, hatte schon der systematische Lügenfeldzug der feindlichen Presse gegen uns begonnen; er stürzte die Wahrheit in ein Chaos und raubte uns den Glauben an alle Nachrichten, die aus dem Lager der Gegner kamen. Es wurden alle unsere geistigen Güter als Plagiate und Täuschungen in den Staub gezogen; es wurde schlechthin alles, was wir im Felde und zu Hause taten, als ein gemeines und verbrecherisches Treiben verleumdet, und es wurden uns fast alle Wege der Verteidigung vor der Welt abgeschnitten. In gerechter Empörung darüber und in der Zuversicht, daß unsere Oberste Heeresleitung jede militärische Ausschreitung einzelner bestrafe, sind die obigen Worte im guten Glauben geschrieben worden. Sind Verbrechen im Kriege geschehen, so sollen die Schuldigen auf beiden Seiten bestraft werden ohne Ansehen der Person; aber wie verschwindend klein ist selbst die große Summe der schrecklichen Verbrechen im Kriege gegenüber dem Kapitalverbrechen, diesen Krieg entzündet zu haben. Die Schuld am Kriege — das ist die entscheidende Frage! Wir Deutsche haben alles getan, um die Erkenntnis der Wahrheit zu ermöglichen. Wir haben unsere Archive geöffnet; wir haben eine Staatskommission niedergesetzt; wir haben Gelehrte mit der Untersuchung betraut, die mit Mißtrauen unserer früheren Regierung gegenüberstehen. Bisher hat sich mit steigender Klarheit ergeben, daß die russische Regierung die Schuld am Aus-
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11. Offener Brief an Herrn Clemenceau. (1919)
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bruche des Weltkrieges trägt, und daß ihn weder der Deutsche Kaiser, noch die Regierung, noch das deutsche Volk provoziert hat. Wenn Sie, Herr Minister, das bestreiten, warum widerlegen Sie diese Erkenntnis nicht? Warum öffnen Sie die französischen Archive nicht? Warum hat Herr Lavisse die Herausforderung Delbrücks zu einer historisch-wissenschaftlichen Diskussion über die Schuldfrage abgelehnt? Warum schweigen Sie hartnackig gegenüber der Versailler Denkschrift über den Ausbruch des Krieges? Warum haben Sie sich nicht zu den Veröffentlichungen aus den russischen Geheimarchiven geäußert? Warum ist das russische Orangebuch und das französische Gelbbuch über die Reihenfolge und den Umfang der Mobilmachungen in Österreich und Rußland gefälscht worden? Warum ist der Antrag auf Untersuchung der Schuldfrage durch eine neutrale Kommission abgelehnt worden? Und noch eine Frage — hat die französische Regierung wirklich sämtliche Instruktionen veröffentlicht, die sie in den letzten Julitagen 1914 ihrem Botschafter in Petersburg gegeben hat? Solange Sie diese Fragen nicht beantwortet haben, sind Ihre Äußerungen über den Ursprung des Krieges und die Schuld an ihm nur parteiische Deklamationen. Wir aber werden nicht aufhören, diese Fragen zu stellen, bis unsere Gegner sich endlich entschließen, ihre Karten aufzudecken und sie einer unparteiischen Untersuchung zu übergeben. Berlin, den 6. November 1919.
A. v. H.
Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet. Wir sind in ein neues Zeitalter seit dem Weltkriege und der Revolution eingetreten, oder die Geschichte hat überhaupt keinen Sinn. Denjenigen, die die Parole ausgeben, wir Deutschen dürften und könnten nichts anderes tun, als uns auf das Zeitalter Bismarcks besinnen und es zurückführen, sage ich: Diese Parole ist falsch. Dieses Zeitalter ist unwiederbringlich dahin; der Zeiger der Zeit steht nicht mehr hier und kehrt niemals wieder dorthin zurück. Vor uns liegt, das ist unzweifelhaft, ob es gleich in mancher Hinsicht nicht so scheint, das Zeitalter der Demokratie und des Sozialismus, wobei Sozialismus nicht mit Sozialdemokratie zu verwechseln ist. Zwar haben in dem Frieden, den man uns auferlegt hat, der Imperialismus und Kapitalismus einen Teufelssieg errungen; aber sie werden den Charakter des Zeitalters nicht dauernd bestimmen. Daß wir zur Republik geworden sind, wäre vielleicht zu vermeiden gewesen; unvermeidlich aber war, daß, nachdem es geschehen, wir unter allen Völkern der Demokratie und der sozialen Orientierung den breitesten Spielraum geben mußten. Mit einem Unmaß von Ungerechtigkeit und Untreue wurde uns die Republik beschert — aber wann ist es in der Geschichte anders gewesen? — und Mut und Aufopferung haben andrerseits bei ihrer Begründung nicht gefehlt. Doch dem sei, wie ihm wolle, wir haben die Republik, und wir müssen alles tun, um sie auf den gegebenen Grundlagen zu festigen. Sie wird
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12. Politische Maximen (1919)
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noch durch schwere Prüfungen gehen müssen, um sich zu läutern; wir sind bereits mitten in ihnen. Welche Richtlinien müssen wir ernst und entschlossen befolgen? 1. Ohne nationales Bewußtsein kein Volk, ohne Humanität keine wahre Größe. Seitdem die Kultur von christlichen Völkern getragen wird, ist jede Fragestellung, welche die Begriffe Volkstum (Vaterland) und Menschheit (Humanes Ideal) als Rivalen ansieht, unrichtig, so oft diese Begriffe auch noch in christlicher Zeit, und erst recht heute wieder, als Rivalen aufgetreten sind. Das Christentum sowohl als unsre deutschen großen Führer der klassischen Zeit lehren uns, daß wir unsre Ideale und auch unsre Arbeit auf die Menschheit einstellen sollen; aber andrerseits lehrt uns die Geschichte, daß — einzelne große Geister ausgenommen, die der ganzen Menschheit geschenkt sind — Niemand zu gedeihen und fruchtbare Arbeit zu leisten vermag ohne Volk und Vaterland. Man dient daher der Menschheit, indem man bewußt und mit allen Kräften die besonderen Gaben ausbildet und pflegt, welche dem eigenen Volk geschenkt sind. Ein wirklicher Menschheitsbund aller guten, edlen und starken Geister, der Gottesstaat auf Erden, ist das höchste Ideal, das uns immer vorschweben muß. Ein Ansatz zu seiner Verwirklichung in der römisch - katholischen Kirche, f ü r freie Geister unannehmbar, ist doch eine Weissagung auf die Zukunft und unterdrückt nicht notwendig die Güter, Volk und Vaterland. Dagegen haben sich die Ansätze, welche in den Versuchen eines Volks gegeben sind, als Weltmonarchie die ganze Menschheit von sich abhängig zu machen, niemals ohne die schwersten Vergewaltigungen zu entwickeln vermocht. Das Schwert eines jeden Volks muß daher aufblitzen, um seine Güter gegen den WeltCäsarismus eines Volks zu verteidigen. Kein Chauvinismus und kein wurzelloser Kosmopolitismus, sondern deutscher Geist und Menschheitshorizont. 2. Ohne Autorität keine Organisation. Gesunde Verhältnisse, auch in der Demokratie, vermögen sich nur zu entwickeln, wenn der Unterschied von Führern und Geführten, von Führenden und Ausführenden gewahrt wird,
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wenn die Autorität der Erfahrung und der Leistung in Kraft bleibt, und wenn die Ehrfurcht vor sittlicher Größe alle Glieder des Gemeinwesens beherrscht. 3. Ohne Persönlichkeit kein lebenstüchtiges und lebenswertes Leben. Die Demokratie steht stets unter den Gefahren der Gleichmacherei und der umgekehrten Auslese. Es dürfen daher keine Einrichtungen geschaffen werden, die lediglich zur Erziehung von Dutzendmenschen führen und das Aufkommen selbständiger Persönlichkeiten hemmen. „Den Geist dämpfet nicht", und gebt jeder persönlichen Kraft ihren freien Spielraum! 4. Ohne Bekämpfung der Klassengegensätze kein innerer Friede. Der innere Krebsschaden Deutschlands ist der Klassen-Egoismus und der Klassen-Argwohn. Die Akademiker müssen hier im Kampfe vorangehen; es darf niemals wieder heißen: Hier Bürger, hier Arbeiter! 5. Ohne Kapital keine Kultur. Kultur gibt es nur, wenn es hier und dort, im Geistigen und Materiellen, tiefe Brunnen gibt; sie gedeiht nicht, wenn sie von Regentropfen leben soll, die gleichmäßig und spärlich auf das Land fallen. 6. Ohne Macht kein Staat. Gesellschaft und Wirtschaft allein vermögen ein Gemeinwesen nicht zu bauen und nicht zu erhalten; auch ist unter ihrer Herrschaft das Aequum und Justum immer in Gefahr, und die Plutokratie ist das Ende. Die Demokratie braucht daher einen Staat und zwar einen machtvollen Staat; denn ein Staat ohne Macht ist ein Spott. Es ist unsre größte und schwerste innerpolitische Aufgabe, über dem Volk, über der Gesellschaft und über der Wirtschaft den Staat als Gegenstand freudiger Wertschätzung in Kraft zu erhalten und ihn so auszubauen, daß er dieser Wertschätzung wert ist. Keine Sorge ist heute größer als die, ob das gelingen wird! 7. Ohne Selbstlosigkeit und Gottesfurcht keine Zukunft. Sozialismus heißt nicht: alle f ü r einen, sondern jeder f ü r alle. Der Sozialismus legt — und das gilt auch von der Demokratie — die größten sittlichen Verpflichtungen auf, weil viele äußere Bindungen in ihm aufgehoben sind. Er
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12. Politische Maximen (1919)
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wird lediglich eine transitorische Bedeutung haben, j a er wird den letzten Rest von Sittlichem im Volke verderben, wenn er seinen Bürgern nicht predigt: Erst Pflichten, dann Rechte. Der Idealismus war oft schwach, löchrig und heuchlerisch; da versteht man es zur Not, daß die Sozialdemokratie überall mit materialistischen Motiven gearbeitet hat. Aber diese Zeit ist vorüber und muß ausgelöscht sein. Die soziale Republik wird auf eine höhere sittliche Stufe treten müssen oder sie wircl bald ausgespielt haben.
Deutschland und der Friede Europas. Berlin, Dezember 1921. Der große Weltkrieg ist vor drei Jahren beendigt worden; aber der „Friede" wütet noch immer und sein Wüten ist so schlimm wie der Krieg, ja er ist noch schlimmer; denn hier gibt es keine Sieger, sondern nur Besiegte; hier gibt es keine Neutralen, sondern nur geschlagene Nationen ; hier gibt es kein Ende, sei es auch ein Ende mit Schrecken, sondern nur einen Schrecken ohne Ende — f ü r ganz Europa! Die Sinnlosigkeit des Weltkrieges offenbart sich in dem noch viel sinnloseren „Frieden", er ist seit drei Jahren die Geißel, mit welcher die Völker Europas zu Tode gepeitscht werden, die besiegten, die siegreichen und die neutralen. Aber darf man sich wundern, daß Europa einen solchen Frieden erhalten hat? Ist er doch geboren aus dem Materialismus, aus der Rachsucht und aus der Furcht, den drei schlimmsten Mächten, welche das Handeln der Menschen bestimmen. Jede einzelne dieser Mächte genügt schon, um die Völker langsam zu zerstören; vereinigt aber werden sie die Zerstörung aufs schnellste besorgen; denn der Materialismus lähmt alles Gute und Edle, die Rachsucht vergiftet es, und die Furcht erstickt die Keime eines neuen Lebens. Ich will im folgenden nicht vom Materialismus sprechen, auch nicht von der Rachsucht, sondern von der Furcht. Die Furcht, die diesen „Frieden" geschaffen hat und noch
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13. Deutschland und der Friede Europas. (1922)
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in Kraft erhält, ist die Furcht Frankreichs, Deutschland könne wieder stark werden, ja sei noch immer stark, und es könne sich eines Tages wieder erheben und einen Revanchekrieg unternehmen, darum müsse man es fort und fort noch schwächen und peinigen und müsse dazu noch „Garantien" haben, indem man lebensnotwendige Teile des Landes dauernd besetzt. So denkt, so handelt das offizielle Frankreich — es gibt auch Franzosen, die anders denken, aber sie leiten nicht die Politik des Landes. Jüngst hat Herr Briand gesagt, Deutschland zerfalle in zwei Parteien, eine Partei des alten kriegerischen Geistes und eine Partei, die zurzeit die Regierung führt und friedfertig ist; aber jene Partei sei noch immer so mächtig, daß man nicht wissen könne, was die Zukunft bringen wird. Der ehemalige französische Kriegsminister hat dazu noch behauptet, Deutschland sei noch jetzt so stark, daß es in kurzer Zeit ein großes bewaffnetes Heer aufstellen und es gegen Frankreich ins Feld führen könne. Es gibt nichts Unrichtigeres und Unsinnigeres als diese Behauptung, und man darf hoffen, daß die anderen Mächte Europas gut genug unterrichtet sind, um ihre Politik nicht auf diese Basis zu stellen. Aber auch das Wort Briands bedarf einer Korrektur; Herr Briand hat etwas übersehen; er hat übersehen, daß die stärkste Macht in Deutschland seine Arbeit ist mitsamt den Arbeitern — den Kopfarbeitern und den Handarbeitern — und daß diese Macht den Frieden braucht, den Frieden will und den dauernden Frieden vorbereitet. Die Arbeit Deutschlands — ein mittelalterlicher Schriftsteller hat einst gesagt, Gott habe seine großen Gaben auf die Völker verteilt, den Italienern habe er das Papsttum (sacerdotium) gegeben, den Deutschen das Kaisertum (imperium) und den Franzosen die Wissenschaft und die Arbeit (studium). Das war damals in der Tat richtig: die Führer der Wissenschaft und Arbeit waren die Franzosen, und sie haben sich die größten Verdienste um die Kultur erworben. Sie haben diese Verdienste euch in der Neuzeit vermehrt; aber die Verhältnisse haben sich
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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geändert: das „Studium" ist auf alle Kulturvölker verteilt, und es gibt hier auch keine führende Nation mehr. Aber darüber kann kein Zweifel sein, daß Deutschland in extensiver und intensiver Arbeit an der Spitze der Völker steht. Das haben selbst die Feinde Deutschlands, als sie während des Krieges den großen Verleumdungsfeldzug führten, widerwillig anerkannt. Sie haben erklärt, wir hätten niemals etwas entdeckt und nichts erfunden, seien überhaupt eine ganz geistlose Nation und nur als „Holzhacker und Wasserträger" der Arbeit und Wissenschaft brauchbar, aber sie haben zugestanden, daß das ganze Volk bei uns auf allen Gebieten, auf denen gearbeitet werden kann, arbeitet und mit seiner Arbeit die Erde erfüllt. So war es vor dem Krieg, so war es im Krieg und so wird es nach dem Krieg bleiben; denn das deutsche Volk hat nur eine große Leidenschaft, die niemand auslöschen oder zermalmen kann, das ist die Arbeit. Ich rühme das nicht: denn ich weiß sehr wohl, daß dies auch die Schranke Deutschlands ist — der Mensch soll nicht nur Arbeiter sein —, sondern ich stelle einen Tatbestand fest. Hätte Deutschland den furchtbaren Krieg mit fast allen Völkern der Welt auch nur ein halbes Jahr aushalten können, wenn nicht hinter der Front seine Gelehrten, seine Techniker, seine Greise und Frauen in Stadt und Land mit einer beispiellosen Kraftanstrengung gearbeitet hätten? Und was geschah nach dem Krieg und mitten in der größten innerpolitischen Umwälzung, die Deutschland erlebt hat? Die Arbeit begann sofort wieder auf allen Linien. Unter den Stürmen der Revolution, unter dem Druck des Hungers, in den Fieberschauern leiblicher und seelischer Krankheiten, unter der Sichel des Todes, der die Säuglinge und Kinder mähte, und unter dem furchtbaren Versailler „Frieden" griff das deutsche Volk zu seiner Arbeit — in den Hörsälen und Laboratorien der Universitäten, in den Schulen, in allen Fabriken, in den Werkstätten der Handwerker, in Feld und Wald. Bald rauchten alle Fabriksschlote wieder, und nirgendwo blieb ein Arbeitsplatz unbesetzt.
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Alle diese Arbeiter aber sind absolut friedlich; sie müßten wahnsinnig sein, wenn sie den Frieden nicht selbst wollten, den sie für ihre Arbeit brauchen — einen dauernden Frieden. Und sie wollen diesen Frieden nicht nur für sich, sondern auch für alle andern Völker und für die ganze Welt. Sie sind von ihrem großen politischen Lehrmeister Fichte belehrt worden, daß jedes Kulturvolk an seinem Teil für die ganze Menschheit einzustehen hat, der Menschheit verantwortlich ist und sich nicht nationalistisch einspinnen darf. Will man uns aber diese unsre Gesinnung nicht glauben, weil auch wir, wie jedes Volk, unsre „Chauvinisten" haben, so möge man an die innere Logik der Sache denken; wer die Leidenschaft der Arbeit hat, wie Deutschland sie hat, muß den Frieden wollen; denn der Krieg zerstört mit den Früchten der Arbeit auch die Arbeit selbst. Darum ist es auch ganz gewiß, daß Deutschland
den Krieg nicht gewollt hat: weder der Kaiser
noch der Industrielle noch der Mann der Wissenschaft noch der Arbeiter oder Bauer hat ihn gewollt. Ob Deutschland ihn mitverschuldet hat, das ist eine ganz andre Frage — Ungeschick, Dummheit und Leichtsinn können das größte Unglück in der Welt herbeiführen, und sie haben im Jahre 1914 in keinem Lande gefehlt —; aber es ist müßig, diese Frage aufzuwerfen, bevor alle Archive geöffnet sind; sicher ist, daß das deutsche Volk friedliebend war und ist und wie die andern Völker vom Kriege vollkommen überrascht wurde. Deutschland arbeitet, wie jedes Volk, nicht nur für sich, sondern auch für alle andern Völker; aber von Deutschland gilt das in besonderem Maße, weil es eine große Nation ist und intensiv arbeitet. Wie will man Europa wieder aufbauen ohne die deutsche Arbeit? Es ist ganz unmöglich! Wiederum sage ich das nicht zum Ruhme Deutschlands, sondern als offenkundige Tatsache. Es steckt in Deutschland eine so große und reiche Erfahrung in der Wissenschaft, im Unterricht und in der Industrie und dazu so viel Arbeitskraft, daß das verarmte Europa dieses Kapital nicht ungenützt
liegen lassen darf; es wird
sonst, Volk für Volk, langsam am Hunger sterben. Wer
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IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
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den Frieden Europas und der ganzen Welt will, der muß dafür sorgen, daß Deutschland wieder mit allen Kräften arbeiten kann, denn das durch Arbeit erstarkte Deutschland wird und kann niemandes Feind sein. Was es erstrebt, will es nur als Frucht seiner Arbeit erstreben, denn es ist gewiß, daß es nur auf friedlichem Wege seinen Platz unter den Völkern und an der Sonne wieder erhalten kann, und es wird jede andre Gesinnung in seiner Mitte, wenn sie sich erheben sollte, unterdrücken, um einen dauernden Frieden zu schaffen. Deutschland arbeitet und will arbeiten; aber der schreckliche „Friede" erlaubt ihm nur, halbe Arbeit zu tun; denn infolge der jämmerlichen Valuta können nicht genügend Rohstoffe bezogen und können die Arbeitenden und ihre Kinder nicht genügend ernährt werden. Der Mittelstand, auf welchem die geistige Arbeit beruht, wird immer ärmer und schwächer. Die 23 deutschen Universitäten und die zehn technischen Hochschulen arbeiten zwar mit aller Kraft wieder; aber es fehlt an Geld, um die Kohlen, das Gas, die Bücher und die Apparate zu beschaffen. Die Hörsäle und Laboratorien sind von eifrigen Studenten erfüllt, aber viele sind bleich und schwach, weil sie zu wenig zu essen haben, und sie können sich die Hilfsmittel f ü r ihre Studien nicht beschaffen. Sie werden die Universitäten verlassen müssen und in die Fabriken gehen. Wer daher Deutschland, wer Europa helfen und den dauernden Frieden vorbereiten will, der muß der deutschen Wissenschaft und ihren Schülern helfen, damit sie wieder mit vollen Kräften arbeiten können. Wenn heute die deutsche Wissenschaft eine Anleihe von ein paar Millionen Dollar erhalten könnte, um sich ihre Hilfsmittel zu beschaffen und ihre Studenten zu unterstützen, so wäre das das bestangelegte Kapital der Welt und zugleich die sicherste Garantie des Friedens! Doch das ist eine Utopie, die sich nicht verwirklichen läßt; aber es gibt hier noch andre Mittel, die dasselbe erreichen werden: Erstens, man vermindere die Schulden und Reparationen, die Deutschland auferlegt sind; denn ihre Last ist so groß, daß sie das wirtschaftliche Leben in Deutsch-
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land notwendig vernichten muß. Unter diesem Druck auf die Dauer zu arbeiten, ist unmöglich; Verzweiflung und Hungertod müssen die Folgen sein. Zweitens, man ziehe die fremden Besatzungen aus dem deutschen Gebiete zurück; sie vermehren die deutschen Schulden ins Unermeßliche, sie sind schmachvoll, sie nähren die feindseligen Gesinnungen und sind daher keine Garantien des Friedens, sondern Auf Stachelungen zum Haß, ja sie sind vollkommen sinnlos, da sie das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen. Es hat auch kein Volk auf der Erde an ihnen ein Interesse außer Frankreich — doch nicht das erleuchtete Frankreich, sondern nur das verblendete, das noch immer nicht den wahren Geist Deutschlands sehen will, der ein Geist friedlicher Arbeit ist und den dauernden Frieden will. Die Not, in der sich die europäischen Völker befinden, ist so groß, und die wirtschaftlichen Katastrophen sind so nah, daß nur große Entschlüsse, wie ich sie eben genannt habe, helfen können. Um sie aber in Kraft zu setzen und anzuwenden, ist vor allem Vertrauen nötig, das heißt eine gründliche Abkehr von der Stimmung, die heute herrschend ist, dem Mißtrauen und der Furcht. Deutschland hat bisher die schrecklichen „Friedensbedingungen" loyal erfüllt — einiges war zu beanstanden, aber ich möchte das Land sehen, das es besser gemacht hätte. Jetzt aber ist Deutschland, wie der Sturz seiner Valuta zeigt, an der Grenze seiner Kraft angelangt. So kann es nicht weitergehen! Was Europa jetzt zu tun hat, muß es nicht f ü r Deutschland allein tun, sondern f ü r sich selbst, damit es nicht zu Grunde gehe.
V. Weg- und Zeitgenossen
Theodor Mommsen. Der Friede Gottes sei mit uns allen. Herr Gott, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge worden, und die Erde und die "Welt geschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lassest sterben, und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder. Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Amen. Andächtig Leidtragende! In tiefer Trauer und voll Schmerz haben wir uns um den Sarg T h e o d o r M o m m s e n s versammelt. Dieses Auge ist gebrochen, in welchem sich die Welt und ihre Geschichte
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1. Theodor Mommsen. (1903)
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so leuchtend spiegelte, und der Geist, der das Geschaut© ordnete und bezwang, ist zu seinem Schöpfer zurückgekehrt. "Weder Krankheit noch Schwachheit, weder Mühsal noch Sorge noch Leid vermochten in die ehernen Speichen dieses Lebens einzugreifen. Das Rad stand erst still, als die Grenze erreicht war, die dem menschlichen Leben gesetzt ist, als das "Werk vollendet war, das er ausrichten sollte. Wir trauern um ihn in heißem Schmerz. Mit uns trauert diese ganze Stadt, deren Ehrenbürger er gewesen ist, die Universität und die Akademie, deren Stolz und Freude er war. Mit uns trauert der König und das Vaterland, und darüber hinaus die Welt, soweit sie Geistiges erkennt und schätzt, vor allem Italien und jene Stadt, die ewige Roma, deren Geschichte die Arbeit seines Lebens gewidmet war. Sie alle haben ihn verloren. Hoch und gering, alt und jung wissen es, daß ein Stern verblichen und eine Krone gefallen ist. Sie trauern, aber sie klagen nicht um ihn; denn sein Lauf war vollendet, und auch bei denen, die ihm nahe standen, deren Gatte, Vater und Freund er gewesen ist, soll der Dank gegen Gott, daß sie ihn besessen und so lange besessen, das Klagen verschlingen. Nicht um ihn klagen wir, wohl aber um uns; denn in Theodor Mommsen ist uns nicht nur der anerkannte Meister, nein, es ist uns ein Stück unsres eigenen Lebens und unsrer Geschichte genommen. Wir sind ärmer geworden, und wer kann uns diesen Verlust ersetzen? Durch ihn standen wir noch immer in einem lebendigen Zusammenhang mit den Tagen unsrer Väter, mit herrlichen Tagen unsrer äußeren und inneren Geschichte, mit hohen, führenden Geistern. Aber nicht bloß wie ein Bote, sondern wie ein Zeuge dieser Zeit stand er unter uns, in sich selbst ein Leben tragend, wie es keiner von uns mehr nachzuleben und keiner ganz nachzuempfinden vermag. Wie werden wir ihn vermissen! Aber in dieser Stunde ziemt es uns, Herr zu werden
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V. Weg- und Zeitgenossen
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über die Gefühle der Natur und des Herzens und dem großen Toten die letzte Ehre dadurch zu erweisen, daß wir uns sein Bild und seine Arbeit vergegenwärtigen, soweit wir es vermögen. "Wir rücken dieses Bild in das Licht des Ewigen, in das Licht des Herrn der Geschichte, indem wir über dasselbe das biblische Wort schreiben: „Ich habe euch erwählt und g e s e t z t , daß ihr h i n g e h t und Frucht bringt und eure F r u c h t bleibe." Daß ihr h i n g e h t und Frucht bringt: wo hat sich je reicher dieser Spruch erfüllt? Sechzig Jahre hindurch hat dieser Baum Früchte getragen. Das Gesetz von Sommer und Winter schien für ihn nicht zu existieren. Er war wie jene Bäume des Südens, an denen die reife Frucht neben der Blüte steht. Und Alles, was er uns geschenkt, trägt von Anfang an den Stempel eines und desselben Geistes, oder besser einer ungeheuren Willenskraft, gepaart mit einem Feuergeist, der ihn nicht ruhen ließ. Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse, Flamme bin ich sicherlich.
Und doch war es ein bauender, positiver Geist. Die kannten ihn schlecht, die ihn lediglich nach der Kraft und Strenge beurteilten, mit der er die Hacke in die Hand nahm, das Gestrüpp aus dem Wege räumte und sich die Bahn frei machte. Und auch die verkannten seinen Genius, die in der scharfen Kritik, der herben Ironie und dem Sarkasmus, die ihm reichlich zu Gebote standen, sein ganzes Wesen ausgeprägt fanden. Das alles waren nur die stets bereiten Waffen, mit denen seine auf jeden Eindruck doppelt reagierende Natur Fremdes von sich fern hielt und Unwahres oder Widriges niederschlug. Dahinter aber lebte ein großer, fester und zugleich leidenschaftlicher Wille, der auf die positive Erkenntnis der Dinge gerichtet war. Wir haben keinen Geschichtsschreiber besessen, der mit solcher Anspannung und solcher Kraft das Große und
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1. Theodor Mommsen. (1903)
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das Kleine in der Geschichte bezwungen hat, damit es ihm Rede und Antwort stehe, der auch dem unbeachteten härtesten Kiesel Funken entlockt hat, und der nicht ruhte und rastete, bis sich Alles zu einem festen Kreise der Anschauung und Erkenntnis rundete. Denn was war das Geheimnis seiner wissenschaftlichen Eigenart? Daß er die Aufgaben und Geschäfte der Historie, die sonst verteilt zu sein pflegen, ja die sich auszuschließen scheinen, sämtlich und auf einmal in die Hand nahm und sie nun als der Meister festhielt. In solchem universalen Tun hat er in vollem Sinn überhaupt keinen Vorgänger gehabt, und hat uns ein Vorbild vorgestellt, aber ein unerreichbares. Denn erstlich — er war von einem heroischen Fleiß in der Aufspürung, Sammlung und intensiven Durcharbeitung des Stoffs: nicht nur unendlich vermehrt hat er ihn, sondern er hat auch ganz neue Gebiete ihm zugeführt. Wo er nur ahnte, daß etwas für seinen großen Gegenstand zu finden sei, da drang er ein, da warf er die Zäune und Schlagbäume nieder und eroberte sich das Land. „Kärrner-Arbeit" sagt man wohl; aber die so sprechen, kennen diese Arbeit nicht. Gewiß, es muß hier viel im Staube geschafft werden; es gehört viel Unverdrossenheit und Selbstverleugnung zu ihr, aber noch viel mehr Scharfsinn, noch viel mehr Umsicht und Besonnenheit und wiederum unerbittlicher Wahrheitssinn und eine gezügelte Phantasie. Wo diese Tugenden aber vorhanden sind, da wird die Kärrner-Arbeit ein k ö n i g l i c h e s Werk; er hat sie dazu gemacht. Sie war die Geliebte seiner Jugend, diese heiße Arbeit, und er ist ihr bis zuletzt treu geblieben. Ja als er sich im Alter für die höchsten Aufgaben selbst nicht mehr genügte, da wurde er nur um so fleißiger in jenem Tun, gleich als müßte er jeden Baustein selbst behauen. Halbe Arbeit hat er nie getan und nie geduldet. „Seine durchgewachten Nächte haben unsern Tag gehellt!"
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V. Weg- und Zeitgenossen
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Aber dieses Alles war doch nur Vorarbeit. Elf Jahre nachdem er als junger Doktor der Jurisprudenz seine Erstlingsschrift veröffentlicht hatte, nachdem er in Italien gewesen, dort das große Inschriften-Werk begonnen und in drei Jahren neunzig Abhandlungen verfaßt hatte, erschien seine „Römische Geschichte". Mit einem Schlage erhielten wir Deutsche ein Geschichtswerk, wie wir es so noch nicht besessen hatten. Derselbe Mann, der sich in peinlichster Akribie nicht genug tun konnte, hatte ein "Werk hervorgebracht, das ganz der gestaltenden Anschauung entsprungen ist, eine aus den Quellen nachgeschaffene G-eschichte, wiedergeboren im Geiste ihres Schöpfers, voll Farbe und Leben, weil überall nacherlebt, ja miterlebt. Neben die ruhigen, innerlich bewegten Darstellungen Rankes trat diese sprühende, leidenschaftlich erfaßte und leidenschaftlich urteilende „Römische Geschichte". Die beiden allein möglichen Arten geschichtlicher Darstellung — die, welche uns zum Stoffe führt, Ranke, und die, welche den Stoff zu uns führt, Mommsen — waren nun in höchsten Leistungen der Nation geschenkt. "Wie das eingewirkt hat auf unsre Geschichtsschreibung, auf unsre Kultur diese fünfzig Jahre hindurch — wer kann das aussagen! Was Niebuhr begonnen, war zu herrlicher Entfaltung gekommen! Alles, was in Theodor Mommsen neben dem Historiker lebte, war an diesem Werke beteiligt — der Philologe, der Jurist, der Politiker und nicht zum mindesten der Poet. Hier hatte ein Künstler einen großen Stoff erfaßt und ihm Maß und Ordnung, Schwungkraft und Schönheit verliehen. Ein klassisches, und darum ein dauerndes Werk ist diese „Römische Geschichte", weil sie den Stempel des Künstlers trägt, und weil ihr Autor nichts von dem zurückgehalten hat, was in seinem Innern lebte. Ein Künstler, ein Dichter ist er gewesen und geblieben bis in das Alter. Darum ist ihm die Jugend nie entflohen. Exakte Wissenschaft und poetischer Geist und Anmut haben hier den seltensten Bund
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1. Theodor Momrasen. (1903)
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geschlossen, und man kann wohl sagen, dieser Bund war das Eigentümlichste seiner Erscheinung. Noch eine ganze Reihe gewaltiger, zusammenfassender Darstellungen hat uns T h e o d o r M o m m s e n geschenkt, unter ihnen das wissenschaftliche Hauptwerk, das „Römische Staatsrecht". Die Energie kühner Kombination und organischer Gestaltung ist in ihnen vielleicht noch größer als in der „Römischen Geschichte"; aber dem Künstler ließen die Stoffe weniger Spielraum. Doch im Einzelnen — wieviel Intuition auch hier, und wieviel unnachahmliche Kraft und Grazie! Von dem schaffenden Gelehrten führt der Blick hinüber zum L e h r e r . "Wer heute Alte Geschichte studiert oder lehrt, der ist sein Schüler. Darüber bedarf es keiner Worte. Aber wie er gelehrt hat, das bezeugen uns am besten die, welche zu seinen Füßen gesessen haben. „Was wir in seinem Seminar", schreibt Einer im Namen Aller, „nicht nur an Wissen und Methodik, was wir an Charakter und Ehrfurcht vor Wahrheit und Wahrhaftigkeit gewonnen haben, das werden wir lebenden Schüler M o m m s e n s dankbar im Herzen bewahren bis zu unsrem letzten Hauche." Aber noch in einem anderen Sinne ist T h e o d o r M o m m s e n ein Lehrer geworden. Als er seine Laufbahn begann, war auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften kaum erst ein Anfang zu gemeinschaftlicher Arbeit und zu solchen Unternehmungen gemacht, die die Kräfte der Einzelnen übersteigen. Er ist der Organisator der großen wissenschaftlichen Arbeiten in unserem Vaterlande geworden, und er hat in der Preußischen Unterrichts-Verwaltung, die ihm mit nie versagenden Verständnis entgegenkam, die Stütze gefunden, die solche Arbeit bedarf. Durch sie hat er die Unternehmungen der Akademie der Wissenschaften auf eine neue Stufe gehoben, nach L e i b n i t z und den Brüdern H u m b o l d t unstreitig ihr tätigstes und einflußreichstes Mitglied, auch darin ihnen ähnlich, daß er
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die einzelnen Wissenschaften zusammengeführt und zu einem Austausch gezwungen und, daß er die Gelehrten Europas, ja darüber hinaus, zu einem Bunde vereinigt hat. Seine Erfahrung, Rat und Energie hat er, mit seiner Zeit niemals geizend, in den Dienst jedes tüchtigen Unternehmens gestellt. Und nicht anders war es an der Universität. Seit Jahrzehnten ist keine Frage von Wichtigkeit in ihrer Mitte aufgetaucht, in der man nicht vor allem ihn anging und sein Urteil befragte. Daran änderte sich auch nichts, als er seine Vorlesungen eingestellt hatte. Er stand noch immer mitten unter uns, und je schwieriger eine Frage war, desto sicherer konnte man auf ihn zählen. Er war seit langer Zeit unstreitig der Führer der Universität, nicht nur um des Glanzes seines Namens, sondern um dessen willen, was er ihr leistete. Für sich selbst hat er nie etwas begehrt; aber keine Mühe scheute er für andre und für die Sache. Und welch ein sprechendes, predigendes Vorbild ist dieser eiserne Arbeiter im weißen Haar für jeden Kollegen gewesen! Ich habe euch gesetzt, daß ihr h i n g e h t und F r u c h t b r i n g t und eure F r u c h t bleibe. Wahrlich, er hat geleistet, wozu er berufen war. Einen Kranz nie verwelkenden Dankes legen wir an seinem Sarge nieder. Die Universität ist in sich geschlossen, aber sie ist doch mit dem öffentlichen Leben verknüpft, und auch in ihm hat Theodor Mommsen eine weithin sichtbare Stellungeingenommen. Hier aber trat er auch in Kämpfe, und es erfüllte sich der Spruch an ihm: „Viel Feind', viel Ehr'.'· Um ihn in diesen Kämpfen, die er mit seinem Herzblut geführt hat, zu verstehen, darf man nicht vergessen, daß er im Q-runde doch eine weltabgezogene, eine Gelehrtennatur war, welche die Dinge besser kannte als die Menschen, daß er es aber dann immer wieder gleichsam stoßweise als die heiligste Pflicht empfand, seinem Vaterland auch in den öffentlichen Angelegenheiten zu dienen, es zu beraten und zu warnen und in den Gang der Entwicklung einzugreifen.
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Von den Jugendtagen her, dem Freiheitskampf seiner schleswigschen Heimat, lebte dies fordernde Bewußtsein in ihm. Feste unerschütterliche Uberzeugungen leiteten ihn dabei: die Überzeugung von dem Segen der M o n a r c h i e ; die Überzeugung, daß die F r e i h e i t die sicherste Grundlage ist für den Bestand und den Fortschritt eines Volkes, und die Überzeugung, daß der Bürger selbst sich aufraffen, Hand anlegen u n d sich z u r F r e i h e i t e r z i e h e n m ü s s e , wenn es besser werden soll. Und was er seinem Vaterlande predigte, das wollte er auch in dem Verhältnis der Völker zueinander verwirklicht sehen. Und so schaute er aus nach friedlicher Gemeinschaft, nach einem Völkerbunde auf dem Boden fortschreitender Gesittung und Kultur — ein Patriot und ein "Weltbürger zugleich, dem das Vaterland über Konfession, Partei und Rasse stand, dessen Herz und Sinn aber die Menschheit umspannte. "Wieviel herrliche "Worte hat er auch hier gesprochen! Wie hat er aufgerüttelt und geweckt! "Wie hat er die Bürger einer zukünftigen Zeit zu erziehen versucht! Aber seine leidenschaftliche Natur hat sich wohl manchmal in den Mitteln vergriffen, und sein "Wort prallte öfters an der harten "Wirklichkeit der Dinge ab. "Wie sehr er darunter gelitten, das wissen nur seine vertrauten Freunde. Aber das Leiden lag noch tiefer. Es war die Unruhe und der Schmerz des Genius, der unter dem Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit sich verzehrt, und der unter dem Druck der Kontraste seiner eigenen Natur steht. Hier eine feurige Leidenschaftlichkeit, die jede Nuance überspringt und nur helles Licht oder tiefen Schatten zu sehen vermag, und dort eine unvergleichliche, durch strenge Selbstzucht erzogene, ruhige Intelligenz. Hier die Flamme jugendlich drängender Ungeduld, und dort eine zäh und stetig schaffende, jede Schwierigkeit mit Weisheit und Geduld bezwingende Kraft. Hier das herbe Wort und das hart hervorgestoßene Urteil, und dort das tiefste Bedürfnis nach Frieden, gepaart mit warmher-
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zigev und weitherziger Toleranz, für alles Menschliche aufgeschlossen. Das aber darf ich sagen — je genauer man ihn kannte, um so sicherer traten die edelsten Züge dieser großen und reichen Natur hervor, auch manches von dem, was uns heute noch als herbe Frucht erscheint, wird einst reif und erquickend werden. Lag doch — das ist uns die Gewähr — im Grunde seiner Seele der lauterste Wahrheitssinn, der Abscheu vor allem Hohlen und Unreinen, und — ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, wie ich es so tief, so weich und so stark niemals geschaut habe. Die unter dieser warmen Sonne gestanden haben, wissen es, mit welcher Kraft und mit welchem Zartsinn er ein Freund war. Hier erst war dieser lebendigste Geist ganz er selbst. Dieser Verkehr von Herz zu Herz und von Mund zu Mund, er war das Element seines Lebens. Die Treue der Freundschaft, sie war das Herrlichste an ihm. Liebe und unauslöschlichen Dank hat er geerntet. Und darf ich das Letzte, Verborgenste sagen: Nie hat er groß von sich gedacht. Hoch standen seine Aufgaben über ihm, er hat sich selbst nie genug getan; er glaubte nicht einmal an wirkliche Früchte, die er geschaffen. Aber gerade in dieser Gesinnung erfüllt sich das "Wort: I c h h a b e e u c h g e s e t z t , daß ihr hingeht und F r u c h t b r i n g t und eureFruchtbleibe. Es kamen die letzten Wochen und Tage. Rastlos arbeitete er noch, soweit das dunkler werdende Auge und der müde Körper es erlaubten. Er hatte das Gefühl, daß der Tag sich neige, und er wünschte nicht länger zu leben. Das Haupt, die Füß' und Hände Sind froh, daß nun zum Ende Die Arbeit kommen sei.
Das alte Kirchenlied: „0 Ewigkeit, du Donnerwort", zog, wie ich weiß, durch seine Seele. Er war bereit. Ruhig war sein Tod. Mit sanfter Hand und still hat ihn Gott der Herr aus dem Leben genommen. Er ist ein Gott der
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Lebendigen und nicht der Toten, und wir wissen es, daß die Toten vor ihm leben. Wir vertrauen seiner "Weisheit, die höher ist als unsre Vernunft, und seiner Güte, die unaussprechlich ist. Von diesem Sarge, der unter dem Kreuze Jesu Christi steht, blicken wir auf uns und bitten Gott, daß Er unsre Arbeit als die der Nachfahren segnen möge. Der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördre das "Werk unsrer Hände, ja das "Werk unsrer Hände wolle er fördern. Amen.
Friedrich Paulsen. Zum sechzigsten Geburtstag (16. Juli 1906).
In der Philosophie wird der ganze Umfang der Einzelwissenschaften noch einmal gesetzt, aber keine steht mehr für sich. Deshalb soll der Philosoph das Einzelne kennen, aber an keinem Punkte sich in ihm verstricken. Er soll in jede Tür eintreten, aber hinter keiner sich einschließen. Die Philosophie hält die Enden der Erkenntnisse in der Hand; sie steht vor ihren Anfängen (Psychologie, Erkenntnistheorie und Logik) und vor ihren Ausgängen (Metaphysik und Theorie der Zukunft). Deshalb soll der Philosoph kritisch und spekulativ zugleich sein. Er soll das Denken um des Denkens willen lieben, und er soll Gedachtes bis zur höchsten Stufe ausgestalten. Die Philosophie ist die eigentliche Wissenschaft vom Menschen. Deshalb soll der Philosoph der Gelehrte sein, der durch reines Denken allem Menschlichen gerecht wird, der Wissenschaft sowohl wie der Kunst, der Ethik und der Religion. Er soll der g e r e c h t e Mann sein — in dem höchsten Sinn, der dem Worte „Gerechtigkeit" zukommt, der Bringer des Friedens. Die Philosophie ist endlich die Lehrerin der Menschheit: sie will nicht nur wissen, sondern auch erziehen. Deshalb muß der Philosoph der Pädagog der Wahrheit sein; er soll die Wahrheit suchen, um sie leuchten zu lassen; er soll Schüler gewinnen, um sie auf beleuchteten Pfaden zu führen. Diese Aufgaben habe ich abgelesen aus dem Lebens-
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werk des Mannes, den diese Zeitung an seinem sechzigsten Geburtstag mit feiern will. Ich habe sie aber auch abgelesen aus langjähriger Beobachtung seines Wirkens und aus dem persönlichen Verkehr. Mäg jede einzelne dieser Aufgaben von anderen Philosophen der Gegenwart tiefer oder virtuoser erfüllt werden — wie Friedrich P a u l s e n ihnen in ihrer Einheit gerecht wird, darin kommt ihm heute keiner gleich. Einem Bauerngeschlecht und altfriesischem Stamme entsprossen, hat er Kraft, Reinheit und Zähigkeit wie ein altes Erbe überkommen; hinzugefügt hat er ihnen eine Aufgeschlossenheit und Biegsamkeit des Geistes und eine Fähigkeit des Nachempfindens, Nachdenkens und Zusammenschließens, die stets aufs neue in Erstaunen setzt. Denn mit der leichten Kunst des Anempfinders und Vermittlers hat diese Fähigkeit nichts zu tun. Sie wurzelt bei Paulsen letztlich in dem Respekt vor dem Lebendigen und dem Gegebenen, in der durch heiße Arbeit gewonnenen sicheren Überzeugung, daß alles, wofür je im Denken und in der Geschichte das Leben eingesetzt worden ist, auch einen gesunden Kern hat, und vor allem in seiner rechtschaffenen Humanität. Das eigentliche Problem der Philosophie, nichts zuzulassen als den Gedanken und doch kein Seiendes zu zerstören, ist Paulsen in Fleisch und Blut übergegangen. Und was ist seine Philosophie? Man kann seine Philosophie des Idealismus, der Kraft und des Zwecks in festen Zügen nachzeichnen, aber man kann sie auch in Paradoxien charakterisieren — Schopenhauer ohne Schopenhauer, Spinoza ohne Spinoza, Kant ohne Kant — und doch ist sie in "Wahrheit gar nicht paradox und noch weniger absolut. In gewissem Sinn ist sie durchweg „Einleitung in die Philosophie". Aber eben das will Paulsen, wie dasselbe der Größere wollte, von dem alle Philosophen herstammen. Den Vorwürfen, die nicht ausgeblieben sind, stellt er die Ruhe eines aufrechten Mannes gegenüber, der da weiß,
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warum er den Weg geht, den er wandelt. Und seine Schüler danken es ihm, die ans Deutschland und aus allen "Weltgegenden kommen, sowohl die, welche die Schulbank soeben verlassen haben, als auch die, welche längst schon die Gedanken üben. Sie alle verehren ihn als ihren Pädagogen der "Wahrheitserkenntnis, und sie freuen sich des gesprochenen "Wortes nicht minder als die Tausende nah und fern sich des gedruckten freuen in seiner Frische und Klarheit. Aber Friedrich Paulsen, dem Philosophen, ist die ganze Nation zu Dank verpflichtet, auch die, welche weder philosophieren können noch wollen. In den großen Fragen der Volkserziehung und des deutschen G-eistes, der Religion, des Staatslebens und der Politik, insonderheit aber in den hohen Fragen der Bildung überhaupt hat Paulsen seit dreißig Jahren Stellung genommen, und so oft eine solche Frage aktuell wurde, sich direkt an die Nation gewendet. "Wie er das getan hat, das ist stets vorbildlich gewesen und hat seinem "Wort einen steigenden Einfluß gegeben. Immer klar und scharf, aber nie bitter, immer aus einer reichen geschichtlichen Anschauung heraus, aber nie rückständig, mit dem sichersten Gefühl für das, was der Gegenwart nottut und was die Zukunft verlangt. Den einen schien er oft reaktionär und den andern als ein tollkühner Fortschrittsmann, der hohe Güter preisgibt. Aber nach zehn Jahren schon — länger dauerte es gewöhnlich nicht — mußten die „Liberalen" einsehen, daß er nur "Wertvolles geschützt hat, und die „Konservativen" merken, daß er sich nur früher als sie auf das eingerichtet hat, was doch kommen mußte. So ist es in der Schulreform gegangen und in Universitätsfragen und in vielen anderen Entwicklungen. Eines aber konnte auch der böswilligste Gegner, der sich diesen Philosophen als schlimmen Opportunisten malte, niemals verkennen — daß hier ein Mann das "Wort ergriffen hat, der von dem reinsten Streben, Einsicht zu schaffen und Gerechtigkeit aufzurichten, beseelt ist und dem der Mut,
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der dazu gehört, etwas Selbstverständliches ist. „Zivilcourage", wie sie Bismarck genannt hat, ist eine seltene Tugend, und noch seltener ist es, daß sie in den Dienst des Friedens gestellt wird. Bei Paulsen trifft beides zu. "Wir sehen hier den mutigsten Mann sich der friedlichsten Aufgabe widmen. In besonderer "Weise ist dies auch den konfessionellen Gegensätzen zugute gekommen. Der Einsichtige weiß, daß die konfessionelle Frage die schwerste Frage in Deutschland ist, noch schwerer als die soziale. "Wie sie von Paulsen, dem friesischen Protestanten, behandelt worden ist, als der „Kulturkampf" kaum noch beendet war, das ist noch heute nicht vergessen, und manche Protestanten denken daran noch immer mit Zorn. Aber die Zeit hat Paulsen recht gegeben, vielleicht nicht in allem, aber doch in der Hauptsache, in der Art, wie er Stellung nahm, wie er zeigte, daß auch hier der Friede nur aus Verständnis, Gerechtigkeit und Geduld zu erwachsen vermag, und daß es daran noch fehlt. Plato hat verlangt, daß die Philosophen die Leitenden im Staatsleben sein sollen. Das wäre in vielen Fällen ein Unglück; aber diesem Philosophen darf man die Leitung wohl überlassen oder vielmehr: er nimmt bereits an ihr teil und hat sie mit in seiner Hand. Möge er noch lange dem Vaterlande und vor allem der akademischen Jugend ein Führer bleiben.
Oskar von Gebhardt. Oskar von Gebhardt, der teure Freund und der Mitherausgeber der „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur", ist am 9. Mai d. Js. entschlafen. Unsere Zeitschrift verdankt ihm weit mehr als die ausgezeichneten Editionen und Abhandlungen, die seinen Namen tragen. Jede Seite dieser Bände hat er mit nie versagender Sachkunde und nie ermüdender Sorgfalt studiert und korrigiert, bevor er sie dem Drucker überließ. "Wenn diese Texte und Untersuchungen eine Sammlung darstellen, welche nicht nur die patristische Wissenschaft wahrhaft gefördert hat, sondern auch für manche verwandte Publikationen vorbildlich geworden ist, so gebührt ihm vor allem die Ehre. Während eines vollen Menschenalters haben wir gemeinsam gearbeitet, und ich rechne die Fügung, die mich zu ihm geführt hat, zu den segensreichsten und größten Erfahrungen meines Lebens. Im Jahre 1872 trafen wir, Söhne eines Landes, in Leipzig zusammen. Bald darauf faßten wir den Plan, gemeinsam die Schriften der apostolischen Väter herauszugeben, und seitdem sind wir nicht nur als Freunde, sondern auch als Mitarbeiter verbunden geblieben. Wir sind zweimal zusammen in Unteritalien, einmal in Paris gewesen, haben zusammen den Codex Rossanensis herausgegeben (1880), dreißig Bände Texte und Untersuchungen besorgt und gemeinsam eine Ausgabe J u s t i n s vorbereitet. In diesen dreiunddreißig Jahren ist niemals auch nur der Schatten eines Mißverständnisses oder Streites zwischen uns getreten. Wir waren nicht immer einer Meinung, aber die Möglichkeit eines Zerwürfnisses war zwischen uns völlig ausgeschlossen. Als ich ihn kennen lernte, war er achtundzwanzig Jahre und ich zählte einundzwanzig; er war mir also an Kenntnissen und Erfahrung weit überlegen, überlegen vor allem
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in der Einsicht, daß halbe oder unvollständige Arbeit tun schlimmer ist als Faulheit. Ich schickte mich eben damals an, meine Segel zu stellen, um eine freudige Fahrt in die "Wissenschaft zu tun, die wie ein sonnenbeglänzter Ozean vor mir lag. Er verschmähte es nicht, sein Schiff, das schon mit "Wind und Wetter gekämpft hatte, neben dem meinen zu halten. Gesprochen hat er nie viel, wo es ernste Arbeit galt. Ich erinnere mich kaum eines direkten Tadels oder einer Berichtigung. Aber beschämt, ohne es zu wissen, hat er mich oft, und ohne Worte hat er mir an der Art seiner Arbeit gezeigt, wie man es machen muß. Sein wissenschaftlicher Charakter war das Spiegelbild seines männlichen Geistes und seines zarten Gewissens. Theologe von Fach und von einer nie erschütterten Pietät gegenüber der Kirche, in die er hineingeboren, urteilte er, sobald er zur Selbständigkeit gekommen war, daß er der Theologie nur außerhalb ihrer zünftigen Grenzen zu dienen vermöge. Es traf hier vieles zusammen: ein sehr ausgeprägtes Freiheitsbedürfnis, eine unerbittliche Selbstkritik und die höchste Vorstellung von den Aufgaben des Historikers und Theologen. So entschloß er sich, bei der Textkritik stehen zu bleiben — kaum daß er je einmal zur literarischen übergegangen ist — und seinen mühsamen Lebensweg als Bibliothekar zu machen. Wie er diesen Beruf ausgefüllt hat, das wissen die Bibliotheken von Straßburg, Leipzig, Halle, Göttingen, Berlin und wiederum Leipzig, das wissen seine engeren Fachgenossen überall. Für unseren Verkehr bedeutete der von ihm gewählte Beruf ein neues Medium. Die Kirchengeschichte des Altertums, besonders die Patristik, und das Interesse an dem Bibliothekswesen hielten uns zusammen; aber wir sind auch ohne diese guten Geister nahe Freunde gewesen und hatten ihre Hilfe nicht nötig. Erwäge ich, wie schwer es meinem Freunde wurde etwas zu publizieren, und wie oft ich ihm gute Worte
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geben, mußte, damit er mit seinem Manuskripte endlich herausrückte, so staune ich, wie viel er sich doch abgewonnen hat. Es ist eine große Reihe von Editionen und Abhandlungen, die er uns hinterlassen hat, und so manches liegt noch in seinem Pulte. Die ihn nicht näher gekannt haben, mögen ihn sich als einen trocknen und nüchternen Gelehrten vorgestellt haben. Das war er nicht. Er war voll von Phantasie, von glücklichem Humor und im letzten Grunde eine künstlerische Natur. Seine wissenschaftliche Eigenart, die die Phantasie und die Hypothese fast ganz ausschloß, war ein stetig festgehaltener Willensentschluß. Er war dem geringsten geschichtlichen Stoffe gegenüber eben so treu und zart, liebevoll und aufmerksam wie gegen seine Freunde, wie gegen jedermann. Wenn er sich die Menschen nicht zu nahe kommen ließ, so entschädigte er sie durch die Art, wie er in der Distanz Freundlichkeit zu spenden wußte. Etwas Ritterliches im schönsten Sinn des Wortes gab seiner Art des Umganges das Gepräge und eine still leuchtende Wahrhaftigkeit. Ich habe nie gehört, daß irgend jemand sich über ihn je beklagt hat; aber ich habe oft erfahren, daß die, welche ihn gemessen und kühl nannten, am nächsten Tage schon einsahen, daß hinter dieser Gemessenheit eine intensive Lebendigkeit und hohe Tugenden lagen. Er ist uns genommen, und ich kann in diesen Zeilen nur noch einen bescheidenen Kranz herzlichen Dankes zu seinem Gedächtnis stiften. Mit mir und dem uns nahe verbundenen Verleger, Herrn A. Rost, werden die Fachgenossen, die Leser dieser Texte und Untersuchungen, ihn immer wieder schmerzlich vermissen.
Bismarck. Zum Gedächtnis seines Todestages.
Gerade zehn Jahre sind es, daß der große Kanzler uns entrissen worden ist — da hat die Dankbarkeit ein Recht, allein zu sprechen. "Was sie zu sagen hat, wissen wir alle; aber wir wären undankbar, wollten wir es uns nicht aufs neue sagen. Er hat aus einem zerrissenen und politisch kraftlosen Deutschland ein einheitliches und starkes gemacht. Er hat sich dabei auf den Teil Deutschlands beschränken müssen, der allein unter die preußische Führung gestellt werden konnte; aber er hat durch den engen Bund mit Österreich die größere Einheit in der Form begründet, in der sie allein möglich war. Er hat dem Deutschen Reiche in dem Bundesrat einerseits, in dem Reichstag andrerseits die besten Mittel und G-arantien gesunder Entwicklung gegeben — unter Wiederherstellung des Kaisertums, das ohne die trügerische Romantik des heiligen römischen Reiches deutscher Nation die höchsten politischen Ideale der Nation verwirklicht. Er hat, indem er die Grundlagen für einen dauernden Frieden legte, auch die Grundlagen für einen beispiellosen Aufschwung der deutschen Arbeit und des Erwerbslebens geschaffen. "Wenn der "Weltfriede heute bedroht erscheint, so ist er es lediglich deshalb, weil die Rivalen voll Furcht, Sorge und Neid auf die imponierende Entwicklung Deutschlands sehen, obgleich dasselbe auf der "Weltbühne nichts
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verlangt als den gerechten "Wettbewerb seiner G-üter. In zwanzigjähriger Arbeit des Friedens hat Kaiser Wilhelm II. bewährt, daß auch sein Streben in der Weltpolitik über dies Ziel nicht hinausführt, und daß er — unter neuen, größeren und komplizierteren Verhältnissen — die Friedenspolitik fortzuführen gesonnen ist, wie sie Bismarck in den Jahren 1871 bis 1890 geleitet hat. Das sind die wahren und unvergänglichen Verdienste Bismarcks um Deutschland. Aber wie er in prächtiger mythologischer Gestalt am Ufer der Elbe steht, dort, wo der Strom dem Weltmeere zuströmt, beginnt er bereits im Volksbewußtsein zur mythologischen Figur zu werden, zu dem Seher, der die Zukunft Deutschlands erschaut hat bis ins einzelne, zu dem Propheten, der jeder Zeit kündet, was sie zu tun hat, und zu dem verklärten Heros, der sein Volk fort und fort leitet. Wer sich auf Bismarck berufen kann, findet in der Nation heute überall G-ehör; ja selbst die Parteien, die einst seine ärgsten Feinde waren, verschmähen es heute nicht, seine Autorität auszuspielen, wenn sie sie auf ihrer Seite zu haben glauben. Ein wundersamer Bismarck ist bereits aus diesem Wettbewerb entstanden und wächst noch immer mehr! Man hat ihn in einer Rede rühmen hören als das große Beispiel der Pietät, ja dieser Nachweis bildete den Kern der Rede! Andere preisen ihn als den Begründer einer neuen Politik, nämlich der Politik der absoluten Wahrhaftigkeit! Anderen ist es nicht genug, daß er der politische Erzieher der Deutschen gewesen ist — alle Tugenden soll er neu gepflanzt haben und jedes geistigen und sittlichen Fortschritts Patron gewesen sein. Es gibt Bismarck-G-läubige, wie es Messias-Gläubige gibt; aber auch die „Ungläubigen" fruktifizieren bereits den BismarckG-lauben, wenn es ihnen in ihre Politik paßt. Woher diese steigende Verehrung und dieser G-laube an die Postexistenz des Heros? Lediglich deshalb, weil er, wie Scipio das Größte geleistet und den Hannibal besiegt
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hat? Oder lediglich deshalb, weil die Menge die Gräber der Propheten, denen sie übel mitgespielt, nachträglich zu schmücken pflegt? Gewiß nicht! Der Grund liegt tiefer. Er ist in der persönlichen Größe, in der Geschlossenheit des Charakters des Helden, in der Einheit seines Willens und in dem Reichtum seines auf ein Ziel gerichteten Geistes zu suchen. Die Nation empfindet aus seinen Taten, aus seinen Reden und nicht zum mindesten auch aus seinen Briefen, daß vor ihr ein Mann steht, der — so gewiß er mit seinem Werke identifiziert ist und so gewiß er eine Einheit ist — einen unerschöpflichen Reichtum des Innenlebens und eine originale Kraft der Anschauung und des Wortes besessen hat. Ein Mann des Willens und der Tat, der sich aber dabei auf allen Höhenlagen des Lebens mit derselben Sicherheit der Empfindung und des Urteils bewegte, und der, ohne ein Dichter zu sein, ein Dichter war, weil er jede Tatsache, die er wiedergab, körnig, treffend und zugleich mit der persönlichen Note seines Geistes zur Anschauung zu bringen vermochte. Aber die Nation sah noch mehr an ihm; sie empfand, daß er in seiner Eigenart, nicht nur der Größten einer, sondern auch eine besondere Offenbarung ihres eigenen Geistes war. Nur als Deutscher, ja nur als Preuße ist Bismarck denkbar. Man müßte diesen Wurzelstock bis aufs Mark entblättern und schälen, um auf den Bismarck zu kommen, der kein Preuße, kein Deutscher, sondern nur noch ein großer Mann gewesen ist. Das fühlen alle Deutschen instinktiv oder bewußt, und darum verehren sie ihn, und auch die, die ihn hassen, ja einen Verstörer schelten, müssen widerwillig anerkennen, daß er ein großer Exponent der deutschen Geschichte ist — der deutschen Geschichte; denn von deutscher Rasse wollen wir lieber nicht reden. Gerade an Bismarck ließe sich leicht zeigen, daß seine Eigenart, sofern sie ein Gemeinschaftliches zum Ausdruck bringt, aus der deutschen Geschichte, der politischen und der kulturellen,
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herausgewachsen ist. Wer hier an die Rasse appelliert, appelliert an ein Dunkles und Unfaßbares. Etwas für den deutschen Geist, wie ihn die Geschichte geformt hat, Urbildliches liegt in Bismarck, und dieses Urteil kann nicht durch den Hinweis geschwächt werden, daß er unter den Deutschen so viele Gegner gefunden hat. Die, welche sich wider ihn auflehnten, haben ihn nie als einen Fremden, sondern als einen feindlichen Bruder empfunden, und die oberflächlichen Behauptungen, er habe seine Staatskunst von den Staatskünsten des dritten Napoleon gelernt, sind verschollen. Dem deutschen Volke sind in der Epoche seiner neueren Geschichte seit dem Zeitalter der Renaissance fünf Männer ersten Ranges geschenkt worden: Luther und Bismarck, zwischen ihnen Leibniz, Kant und Goethe. Trügen die Zeichen der Zeit nicht, so ist etwa mit dem Todesjahr Bismarcks ein großer Zeitraum wirklich abgeschlossen, der mit der Reformation begonnen hat und der in der Weltgeschichte einst ebenso als Hauptepoche hervortreten wird wie das Mittelalter. Vielleicht wird man diese Epoche nach mehreren Jahrhunderten das zweite Mittelalter nennen. Für Deutschland ist ihr Anfang durch Luther bezeichnet, den religiösen Reformator, der die Befreiung von Rom begonnen und ein Zeitalter freier und tiefer Geister seinem Vaterland erst wieder ermöglicht hat. Und sie kamen zahlreicher, beglückender und fördernder als in irgend einem andern Lande! Wer darf sich an alles umspannendem Wissen und an freudigem Optimismus Leibniz an die Seite stellen? Wer kann an kritischer Wissenschaft und sittlichem Ernst mit Kant rivalisieren? Wer in bezug auf die Kraft der Auflösung einer zur Unwahrheit gewordenen Weltanschauung mit beiden? Und wer darf schließlich neben G-oethe genannt werden, der alles, was Kultur heißt, auf eine höhere Stufe gehoben und in unablässiger Arbeit an sich selber zu persönlicher Darstellung gebracht hat? Das alles haben
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4. Bismarck. (1908)
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wir Deutsche in unserer Gresch.ich.te erleben dürfen, und dann kam der große Staatsmann und Held, mit seinen Wurzeln eingesenkt in die protestantische und klassischdeutsche Kultur und gab dem zerklüfteten Volke die noch fehlende gesicherte und große politische Existenz. Aber mit allen diesen Graben, welche Aufgaben! Welche Verantwortung trägt eine Nation, die solchen Reichtum im Laufe weniger Jahrhunderte empfangen hat! Ist sie sich der Größe dieser Verantwortung bewußt, und wie entspricht sie ihr? Zu Betrachtungen dieser Art ist der heutige Tag nicht der geeignete, aber wer kann sie, angesichts unserer inneren Lage auch nur einen Tag vergessen? Der Ausgang der Lebensgeschichte Bismarcks scheint ein tragischer gewesen zu sein, und er selbst hat ihn so empfunden. Das Steuer, so urteilte er, wurde ihm genommen, während er noch die Kraft fühlte, es zu führen. In der Tat — die Tragik ist nicht nur Schein: die letzten acht Jahre seines Lebens haben ihm und uns manches Bittere und Schwere gebracht. Und doch ist es nicht Vertuschung oder jenes eitle Bemühen, das „Versöhnliche" um jeden Preis herauszufinden, wenn man urteilt, daß, so wie dieses Drama verlaufen ist, es für das Gedächtnis und den Ruhm des Helden nicht zum Nachteil endete. Bei aller Bewunderung seiner Größe darf man doch fragen, ob er wirklich gewillt war, die Konsequenzen der Verhältnisse selbst noch zu ziehen, die er geschaffen hat. Sie forderten Maßnahmen, namentlich auf dem sozialen Gebiet, die er scheute, weil sie ihn gezwungen hätten, einen Teil seiner Eigenart aufzugeben. Es ist ihm erspart geblieben, hinter der Entwicklung seines eigenen Werkes zurückzubleiben; nun ist ihm der Ruhm der Grundlegung ungebrochen gesichert. Und noch ein anderes kommt in Betracht. Solange er im Amte war, stand er in dem ganzen Netzwerk der Tagesforderungen und der kleinen Dinge, stand unter den zahllosen Reibungen und Streitigkeiten des Tages, unter
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dem Neid und der Eifersucht der Parteien und des Heeres der Gekränkten. Nach seinem Abgang fiel das alles oder doch zum größten Teile fort. Zugleich gewann er die Distanz, die zur Verehrung notwendig scheint, und erlebte es noch selbst, wie sehr man ihn verehrte und liebte. Im Sachsenwalde hausend, begann er bereits der Nation mythisch zu werden, obgleich er selbst kräftig daran erinnerte, daß er noch Fleisch und Blut habe. Sein achtzigster Geburtstag war ein nationaler Festtag; schwerlich hätte er ihn so gefeiert, wenn er noch im Amte geblieben wäre. Aber wie dem auch sein mag und ob wir um des Ausgangs willen klagen wollen oder nicht — seine Größe hat durch den Ausgang so wenig gelitten wie sein Andenken. Luthers Gedächtnis lebt in jedem protestantischen Gotteshause sichtbar fort, Bismarcks Andenken bezeugen die immer zahlreicheren trotzigen Türme, die sich in allen deutschen Gauen erheben. Möge nie eine Zeit über Deutschland heraufsteigen, in der es vergißt, was es diesen beiden Männern schuldet, und welches Erbe sie ihm hinterlassen haben!
Albrecht Ritschi. Rede zum hundertsten Geburtstag am 30. April 1922 in Bonn gehalten. Führende und ausführende Gelehrte bestimmen und fördern den Gang der Wissenschaften, und in den Buchern der Geschichte jeder einzelnen wissenschaftlichen Disziplin ist die Arbeit dieser wie jener verzeichnet. Allein, neben diesen Büchern — sie sind nur den Fachgenossen bekannt — führt die Geschichte der Wissenschaften noch ein Hauptbuch, welches ausschließlich das Gedächtnis der führenden Geister in Kraft erhalten soll, und welches bestimmt ist, von allen gelesen zu werden. Nicht nur dem Danke und dem Ruhme soll es dienen, sondern es soll auch die Einheit der wissenschaftlichen Bildung in Kraft erhalten. Rektor und Senat dieser Universität haben beschlossen, die hundertste Wiederkehr des Geburtstags Albrecht Ritschis, der achtzehn Jahre lang als akademischer Lehrer hier gewirkt hat, festlich zu begehen. Sie haben durch diesen Beschluß zum Ausdruck gebracht, daß sie ihn zu den Meistern der Wissenschaft zählen, und es ist mir eine hohe Ehre, diese Erkenntnis und Schätzung an dieser Stelle begründen zu dürfen. Ich bin mir dabei bewußt, nicht vor Fachgenossen zu sprechen, sondern vor den Vertretern der universitas litterarum. Die „Heimlichkeiten" der Fachwissenschaft müssen daher bei Seite bleiben. Albrecht Ritsehl, geboren am 25. März 1822, war seiner Familie nach Thüringer, seinem Geburtsort nach Berliner, seiner Erziehung nach Pommer, wo der Vater seit dem
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Jahre 1827 als evangelischer Bischof und Generalsuperintendent wirkte. Aber man wird in der Eigenart seiner Persönlichkeit schwerlich Züge finden, die auf jene Landschaften zurückführen, es sei denn, daß man sein tiefes Verständnis für die Musik und seine Betätigung in ihr als thüringisches Erbe, seine ungewöhnliche Schlagfertigkeil als Berlinisches in Anspruch nehmen wollte. Allein, die Musik ist ihm immer nur ein willkommener Schmuck des Lebens gewesen, und seine Schlagfertigkeit war ein Ausdruck seines gesammelten und präzisen Denkens. Auch wenn sie die Waffen des Witzes brauchte, die ihr reichlich zu Gebote standen, war sie niemals bloß scherzhaft, sondern wirkte beleuchtend und befreiend. Eigentümlich verband sich mit dieser Gabe ein altpreußischer Sinn für Ordnung, Haltung und Würde. Das Wechselspiel zwischen beiden gab seiner Persönlichkeit einen besonderen Reiz. Ritsehl erwählte das Studium der Theologie, weil er, wie er selbst erklärt hat, sich vor allem durch einen „spekulativen Drang, das Höchste zu begreifen", angetrieben fühlte. Er hat seinen theologischen Entwicklungsgang im Privatgespräch wiederholt als einen umständlichen und unerquicklichen bezeichnet; allein ich glaube nicht, daß er, was die Umständlichkeit anbelangt, Recht hat. Gewiß, die Lehrzeit im höheren Sinn des Wortes dauerte lange — man darf zwölf, ja man darf siebzehn Jahre rechnen (1839 bis 1851 bezw. 1856) —, blickt man aber auf das gewonnene Ergebnis in seiner ungewöhnlichen Selbständigkeit und Kraft, so schmelzen nicht nur die Jahre zusammen, sondern es erscheinen auch die Stadien der Entwicklung durchaus als notwendig. E s kommt hinzu, daß Ritsehl in seinem Denken und in seiner Frömmigkeit eine ausgeprägt männliche Natur gewesen ist. Alles bloß Gefühlsmäßige im Denken, alles ungewiß Schwebende, alles Fragmentarische und jedes unreine Gemisch war ihm antipathisch. Klar und scharf in den Gedanken, Die Gefühle stark und warm, Zwischen beiden feste Schranken, Sonst bist krank du oder arm.
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Dieser Vers eines mir unbekannten Dichters charakterisiert die geistige und seelische Natur Ritschis vortrefflich. Solche Naturen aber haben ein langsames Wachstum, bis sie zur Reife gelangen. Aus dem Vaterhause brachte Ritsehl neben der Fülle geistiger Interessen eine von Schleiermacher berührte, aufrichtige evangelische Gläubigkeit mit, die sich streng an die Bibel hielt, dabei aber jedes Extrem vermied, auch die Pflicht selbständiger Erkenntnis empfand, jedoch im Interesse des Seelen- und Kirchenfriedens leicht geneigt war, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Diese Richtung wurde von der theologischen Fakultät hier in Bonn, wo Ritsehl seine drei ersten Studiensemester verlebt hat, nicht geklärt. Der jugendliche Student empfand daher, er müsse sich auf eine Universität begeben, an der die Geister damals aufeinander platzten. Er wählte Halle (Ostern 1841), wo der Rationalismus des 18. Jahrhunderts noch durch einflußreiche Lehrer vertreten war, wo aber auch die neue Gläubigkeit durch Tholuck und Julius Müller blühte und endlich Schaller und Schwarz die Hegeische Philosophie des absoluten Denkens verkündigten. Ritsehl hoffte auf Tholuck; aber so freundlich dieser faszinierende Studentenprofessor ihm entgegenkam und so groß die persönliche Hochachtung war und blieb, die Ritsehl ihm gegenüber empfand — zu überzeugen vermochte er ihn so wenig wie der Rationalismus eines Wegscheider und Gesenius. Dagegen zog ihn die Hegeische Spekulation mächtig an. Daß sie die Philosophie mit der Geschichte verband und aus der Geschichte Wesen und Entwicklung des Geistes zu erkennen versuchte, das machte auf den wissensdurstigen Studenten den tiefsten Eindruck. Die damals gewonnene Überzeugung, daß sich alles systematische Denken in der Kultur- und Geisteswissenschaft, also auch in der Theologie, an der Geschichte orientieren müsse, hat Ritsehl niemals wieder aufgegeben. Dazu kam noch ein Zweites, was ihm die Hegeische Philosophie so wertvoll machte: überall ließ sie das Kleine und Unbedeutende bei Seite, verstrickte sich nicht in Vorfragen, sondern wandte sich entschlossen sofort den Haupt- und
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Kernfragen zu. Dies aber entsprach der Richtung seines eigenen Geistes, der in höchster Positivität stets sofort zu den Hauptsachen vordrang, und dem es im Drama jeglicher Geschichte immer nur auf das Stück selbst ankam, nicht aber auf die Kulissen und das Beiwerk. Daher wurde ihm auch in der Theologie sehr bald die Frage zum Hauptproblem, inwiefern die christliche Religion Erlösungsreligion sei, die Versöhnung bedeute und von der „Welt" befreie. Über dieses Thema hatte Tholuck selbst vor Jahren ein Buch geschrieben und empfahl es dem Studenten; aber er machte ihn zugleich auf ein jüngst erschienenes Werk aufmerksam, welches dasselbe Thema behandelte. Sein Verfasser war Ferdinand Christian Baur, der große Lehrer in Tübingen, der selbständigste und bedeutendste theologische Schüler Hegels. Baur stand damals auf der Höhe seines Wirkens und führte einen Neubau auf dem Boden des Urchristentums und der christlichen Dogmengeschichte auf. Das Werk machte auf Ritsehl nach Gehalt und Methode den tiefsten Eindruck und ließ das Tholucksche Buch als ein erbauliches Feuilleton erscheinen. Ritschis Verlangen, nach Tübingen zu gehen und den Meister seiner Wissenschaft persönlich kennen zu lernen, war daher begreiflich. Aber vorher promovierte er noch in Halle, absolvierte das theologische Examen und bereitete sich in stiller und intensiver Arbeit in Berlin, Stettin und Heidelberg auf die akademische Lehrtätigkeit vor. Nun erst begab er sich, mit biblischen, patristischen und systematischen Kenntnissen aufs beste ausgerüstet, im Herbst 1845 auf ein Semester nach Tübingen zu dem gefeierten Lehrer, um sozusagen die letzte Weihe zu empfangen. Der Meister gewann ihn in Tübingen vollends für sich. Bereits im folgenden Jahre veröffentlichte Ritsehl eine umfangreiche Untersuchung über das Lukasevangelium, durch die er, weil sie geschichtliche Konsequenzen zog, die der Meister selbst noch nicht gezogen hatte, mit einem Schlage den besten Schülern Baur's ebenbürtig wurde. Auf Grund dieser Arbeit hat ihn die Bonner Fakultät in die Zahl ihrer Privatdozenten aufgenommen. Es war ein
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Akt hoher wissenschaftlicher Unparteilichkeit; denn die Ergebnisse der Ritschlschen Untersuchung konnten die Billigung der Fakultät nicht finden. Mit dem Antritt des akademischen Lehramts in Bonn begann für Ritsehl die zweite Epoche seiner wissenschaftlichen Entwicklung. Sie Schloß im Jahre 1857 mit einer Leistung ersten Rangs ab, mit dem Werk: „Die Entstehung der altkatholischen Kirche" in zweiter Auflage — in zweiter Auflage, in der ersten (1850) ging Ritsehl wesentlich noch in den Bahnen seines Lehrer Baur; in der zweiten neugearbeiteten aber gab er einen ganz selbständigen Entwurf der großen geschichtlichen Entwicklung in umfassender und sorgfältiger Ausführung. Dieses Werk, obgleich es sich jeglicher direkten Polemik enthielt, bedeutete den Bruch mit Baur und seiner Schule. Niemand hat das lebhafter bedauert als Ritsehl selbst; denn niemals hat er vergessen, was die Wissenschaft vom Urchristentum Baur verdankt. War es aber einst ein Zeichen wissenschaftlicher Selbständigkeit und wissenschaftlichen Mutes, als der Jüngling aus seiner theologischen preußischen Umgebung heraustrat und sich der Tübinger Schule anschloß, so war es, obschon es Baur anders deutete, jetzt nicht weniger selbständig und mutig, mit dieser Schule zu brechen, die den Abtrünnigen alsbald verfemte. Lassen Sie mich die geschichtliche Stellung des genannten Werkes kurz charakterisieren; was Baur hier bedeutet und was Ritsehl wird dabei zu seinem Rechte kommen. Der kritische Rationalismus hatte das traditionelle Bild vom Urchristentum zerstört, aber war über Ansätze zu einer geschichtlichen Betrachtung nicht hinausgekommen. Der vulgäre Rationalismus glaubte wissenschaftlich zu verfahren, wenn er eine einzigartige Geschichte auf das Niveau des Alltäglichen und einer platten Verständlichkeit projizierte. Die Arbeiten der romantischen theologischen Schule, von Schleiermacher bestimmt, entbehrten des sicheren Blicks für die Entwicklung der Dinge, und ihre Verfasser, das Einzelne liebevoll erfassend, suchten der strengen Fragestellung zu entgehen, welche die geschichtliche Forschung forderte. Hier hat Bäur eingesetzt, geleitet von den großen
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Gedanken der Hegeischen Geschichtsphilosophie, aber dabei die Errungenschaften des kritischen Rationalismus festhaltend. Drei Hauptgesichtspunkte macht er geltend: Erstens, die Geschichte des sich entwickelnden Christentums gehört als ihr vornehmstes Stück in die allgemeine Geschichte des Geistes, steht unter ihren Gesetzen, und ihr Ablauf muß daher als ein einleuchtender Entwicklungsprozeß verständlich gemacht werden können. Sodann Ideen, die sich in Spaltungen und höheren Verbindungen fort und fort auswirken, bestimmen die Geschichte; sie sind ihre eigentlichen Kräfte, denn alle anderen Kräfte erscheinen ihnen gegenüber als sekundär. Drittens, durch sorgfältige Erforschung des Zweckes und der Eigenart jedes Schriftstücks vom ältesten Evangelium und vom ältesten Paulusbrief an muß die Stelle sicher bestimmt werden können, an welche es als notwendiges Glied des Entwicklungsprozesses gehört. Nach diesen Grundsätzen hat Baur die Kritik an den Urkunden des ältesten Christentums vollzogen und ein ganz neues Bild von seiner Entwicklung bis zur Entstehung der altkatholischen Kirche gegeben. Die Erscheinung und die Predigt Jesu stehen hier am Anfang; sie bergen die Idee eines neuen Verhältnisses des absoluten Geistes zum endlichen, Gottes zur Menschheit keimhaft in sich. Nun beginnt die Entwicklung: Die Zwölf Apostel vertreten den Faktor der jüdischen Gebundenheit; sie begreifen das Neue lediglich als Vollendung des Alten; Paulus aber begrüßt es als Gegensatz zum Alten und als die Aufhebung der gesetzlichen Notwendigkeiten zur Freiheit des Geistes. In Thesis und Antithesis stehen sich die Urapostel und Paulus, der das freie griechische Christentum begründet, gegenüber. Ein ungeheurer Kampf beginnt; in Kompromissen und Ausgleichungen vollziehen sich Synthesen, bis im Johannesevangelium einerseits und in der großen katholischen Kirche andrerseits die höhere Einheit gefunden wird. Baur zertrümmerte mit seiner Kritik und in seinen Darstellungen die traditionellen Vorstellungen noch stärker als der Rationalismus — als echt ließ er aus dem Neuen Testamente nur vier Paulusbriefe
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und die Johannes-Offenbarung bestehen; alle übrigen Schriften wies er ins nachapostolische Zeitalter und betrachtete sie als Dokumente der werdenden katholischen Kirche. Diese neue Darstellung machte einen berückenden Eindruck; die Wissenschaft selbst schien sie entworfen zu haben. In der Tat bot sie die erste begriffene Entwicklungsgeschichte des ältesten Christentums und umfaßte dazu eine Fülle geschichtlicher Züge, die aufs sicherste beobachtet waren und vor denen jeder Widerspruch verstummen mußte. Dennoch aber war sie ungenügend, ja verfehlt, und es ist vor anderen Ritschis unsterbliches Verdienst, dies gezeigt zu haben — gezeigt als Schüler Baurs und zugleich als echter Historiker, der sich auch mit Widerlegungen nicht aufhält, sondern der ungenügenden Darstellung eine bessere entgegensetzt. Bei dieser ließ sich Ritsehl von grundlegenden Erkenntnissen leiten, die Baur bei der Absolutheit seines Hegeischen Denkens bei Seite gelassen oder philosophisch transponiert hatte. Ritsehl hat sie nicht selbst formuliert; man muß sie aus seinem Werk „Die Entstehung der altkatholischen Kirche" abstrahieren: Erstlich, Geistesgeschichte und Religionsgeschichte fallen nicht einfach zusammen; diese behauptet vielmehr innerhalb der Geistesgeschichte ihre besondere Eigenart und hat ihre besonderen Gesetze. Zweitens, die Geschichte ist keineswegs nur Ideengeschichte, auch nicht nur ein Ringen zwischen Gebundenheit und Freiheit, kein abstrakter Prozeß des Geist-Werdens, sondern in ihrem Gewebe müssen vor allem die konkreten Kräfte und Tatsachen in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit als direkte Faktoren des Lebens gewürdigt werden. Drittens, Baur hat den Gegensatz der Urapostel und des Paulus nicht nur übertrieben, sondern auch verzerrt, und er hat diesem Gegensatz einen viel zu großen zeitlichen und sachlichen Umfang gegeben und ihn auch dort noch für entscheidend gehalten, wo er längst ausgespielt hatte. Endlich, Baur hat alle Faktoren der Geschichte zu eindeutig betrachtet; er hat nicht bemerkt, daß Gesetzlichkeit in der Religion nicht nur jüdisch und
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judenchristlich ist, sondern auch griechisch und römisch; er hat Paulinismus und Heidenchristentum viel zu nahe an einander gerückt, ist der selbständigen Bedeutung des letzteren als des Hauptfaktors in der nachapostolischen Entwicklung nicht gerecht geworden, hat daher die Eigenart der ältesten christlichen Literatur gegenüber der der folgenden Periode nur zum Teil richtig zu bestimmen vermocht und ist so zu unhaltbaren radikalen Urteilen über die Entstehung der Mehrzahl der neutestamentlichen Schriften gelangt. Von diesen und verwandten Erkenntnissen geleitet hat Ritsehl „Die Entstehung der altkatholischen Kirche" beschrieben und die geschichtliche Auffassung begründet, die als einschneidende Korrektur der Baurschen zur Ankennung gelangt und in den unveräußerlichen Besitz der Wissenschaft übergegangen ist. Das Werk besticht nicht durch den Glanz seiner Darstellung, auch nicht durch die anschauliche Frische des den Stoff nacherlebenden Historikers — durch die Sicherheit in Hauptpunkten und Hauptlinien der geschichtlichen Erkenntnis ist es siegreich geworden. Zwar die Korrekturen begannen auch hier sehr bald. Daß Ritsehl gegenüber Baur in der Bestimmung des Unterschieds der Neutestamentlichen von der späteren Literatur zu weit gegangen und daher zu konservativ geworden, bemerkten die Kritiker mit Recht. Die Einsicht, daß auch jetzt noch Erweiterungen inbezug auf die geschichtlichen Gesichtspunkte und Zusammenhänge notwendig seien, drängte sich der folgenden Generation der Forscher auf. Dem Geschichtsbilde gegenüber, welches heute gezeichnet wird, kann das Werk leicht als steif und dürftig erscheinen; gelesen und zitiert wird es wenig mehr; allein, doch ist und bleibt es ein klassisches Buch der kirchengeschichtlichen Wissenschaft, und das Geschick des Werks ist in Wahrheit beneidenswert — es ist in den Boden gesunken, weil es fähig und stark war, das Gebäude zu tragen, das zwei Generationen von Forschern über ihm erbaut haben und an dem wir noch heute arbeiten. Mit diesem Werk über die altkatholische Kirche hat Ritsehl seine Studien zur alten Kirchengeschichte abge-
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schlossen und ist später kaum mehr zu ihnen zurückgekehrt. Im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen hier in Bonn und später in Göttingen ging er zu neuen Problemen über. Zu neuen Problemen — aber dieser Ausdruck ist hier schwach und ungenügend: das Wesen der christlichen Religion an sich und in seiner geschichtlichkirchlichen Entfaltung bis zur Gegenwart zu erfassen, also das theologische Problem in seinem ganzen Umfang und in seiner Einheit zur Klarheit zu bringen — nur diese Aufgabe genügte ihm jetzt und erfüllte fortan sein ganzes wissenschaftliches Sein und Leben. Nicht schon weil er diese Aufgabe sich stellte — wie viele kleine Geister haben sie sich gestellt! —, sondern weil sie sich ihm aufnötigte und er ihr mit eigentümlicher Kräftigkeit genüge getan und ein Ganzes geschaffen hat, darf man ihn an die Reihe der großen Theologen von Origenes und Augustin bis Schleiermacher anschließen. Die theologische Zentralaufgabe kann verschieden angefaßt werden; immer aber muß sie auf den biblischen Grundlagen beruhen, immer muß sie Gottes- und Christuslehre sein und immer muß sie sich gegenüber anderen Glaubens- und Weltanschauungen behaupten können. Die Verschiedenheiten in den Darstellungen aber ergeben sich aus den verschiedenen Ausgangspunkten, aus der Unterscheidung von Buchstaben und Geist in den biblischen Urkunden, aus der Heranziehung oder Unterdrückung eines weiteren religionsphilosophischen und religionsgeschichtlichen Stoffes und vor allem aus der Verschiedenheit der Erfassung des Religionsbegriffs selbst in seinem Verhältnis zum Welterkennen und zur Ethik. Ritschis Eigenart, Luther folgend, bestand nun darin, daß er die Religion, und daher vor allem die christliche Religion, als ein mächtiges Wesen f ü r sich anschaute und von aller Philosophie unterschied, daß er ferner ihren geschichtlich positiven Charakter scharf betonte und daher die Spekulationen über die sog. „Natürliche Religion und Theologie" bei Seite schob, daß er weiter Religion und Ethik aufs innigste verband, und endlich, daß ihm die Ausprägung der christlichen Religion in den verschiedenen
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Hauptkonfessionen der wichtigste Schlüssel zum tieferen Verständnis des Christentums wurde. Diese Eigenart seines theologischen Denkens beherrscht die großen Werke und alle die einzelnen Aufsätze, die er auf der Höhe seines Lebens verfaßt hat. Sie sind sämtlich Zeugen und Ausführungen einer einzigen, in sich geschlossenen geschichtlich-systematischen Konzeption, sowohl das dreibändige Werk über „die Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre" als das ebenso umfangreiche über die „Geschichte des Pietismus", dazu die kleineren Bücher und Aufsätze, wie die „Studien zur Gotteslehre", der „Unterricht in der christlichen Religion", „Theologie und Metaphysik" und der wundervolle Vortrag über „Die christliche Vollkommenheit". Als diese Werke und Arbeiten der Reihe nach erschienen, wiederholte sich, wenn auch in anderer Weise, im Protestantismus, was er zwei Menschenalter vorher durch Schleiermacher erlebt hatte: Jeder protestantische Theologe war gezwungen, Stellung zu Ritsehl zu nehmen und, ob Freund oder Feind, willig oder unwillig, seinen Gedanken nachzudenken, ja mit ihnen zu denken. Dabei konnte niemand verkennen, daß ihm hier eine einheitliche, straffe und geschlossene Anschauung begegnete, also keine „Fragmententheologie", und daß selbst hinter den Unvollkommenheiten und Widersprüchen, die sich in untergeordneteren Konzeptionen fanden, ein energischer Wille zur Einheit stand. Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich — dieser Grundgedanke kommt bei Ritsehl kräftiger zum Ausdruck als bei Schleiermacher. Er machte ihn entschlossen nicht nur gegenüber anderen Religionen, auch nicht nur gegenüber der Philosophie, sondern auch gegenüber jener Theologie geltend, die die subjektiven frommen Erlebnisse zum Ausgangspunkt nahm. Durch diesen dreifachen Widerspruch setzte er sich zu den führenden Zeitgenossen in einen Gegensatz. Die Einen wollten Allem zuvor aus allen Religionen erst einen Allgemeinbegriff von Religion finden, um an ihm die christliche Religion zu messen und zu werten, und sie warfen Ritsehl christlich-theologische
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Beschränktheit vor. Die anderen wollten der Theologie eine Metaphysik vorangehen lassen, urteilten, daß Ritsehl diese samt der Erkenntniskritik vernachlässige oder nur oberflächlich und unklar von ihr Gebrauch mache, beschuldigten ihn des „Historismus" und verstiegen sich bis zu dem Urteil, seine Theologie drohe zu einer Art von Köhlerglaube zu werden. Die Dritten endlich vermochten sich nicht damit zu befreunden, daß Ritsehl die frommen Bewußtseinszustände für die Bestimmung des Wesens der christlichen Religion zunächst bei Seite schob und sich an die geschichtlichen Tatsachen hielt. Auch sie beschuldigten ihn des „Historismus" und warfen ihm vor, daß seine Theologie einen frostigen, ja wider seinen Willen einen heteronomen und rationalistischen Charakter erhalte. Kein Zweifel — sie alle wiesen auf Gefahren und Einseitigkeiten hin, die hier drohten; aber sie sind nicht notwendig mit dem von Ritsehl eingenommenen Standpunkt verbunden; sie lagen vielmehr in den persönlichen Grenzen dieses charaktervollen Theologen, der seine Kraft und Freiheit, wie jeder von uns, nur in unveräußerlichen und geliebten Schranken zum Ausdruck zu bringen vermochte. Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich — diese Erkenntnis hatte bei Ritsehl eine weitere wichtige Folge: Sie führte zu einer Reduktion und Reinigung der Religion und Theologie. In fünfzehn Jahrhunderten von ihrem Ursprung an hatte sich die christliche Religion in der abendländisch-katholischen Kirche allmählich zu dem beherrschenden Gedanken- und Weltprinzip ausgestaltet. Schlechthin alle Werte waren von ihrem Wertmaß bestimmt; schlechthin alle Ordnungen waren ihrer Ordnung der Dinge unterworfen; schlechthin alle geistigen und seelischen Elemente, Wissenschaften und Künste, waren als dienstfertige Mägde in den Dienst der Religion gestellt, die in ihrer hohen Übernatürlichkeit alles beherrschte. Aber wo sie herrschte, da verlieh sie auch einem großen Ausschnitt des Natürlichen, das sie ordnete, einen Strahl ihres übernatürlichen Himmelsglanzes und zog es in ihre Heiligkeit hinein. Mystischsakramental und symbolisch-mystisch wurde ein Teil des
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Natürlichen in seinen Elementen, Ordnungen, Lehren und Rechten selbst zu Objekten der Religion und untrennbar mit ihr verknüpft. Eine ungeheure Erweiterung, aber auch eine ungeheure Belastung, die nicht nur den Ernst, sondern auch das eigentümliche Wesen der Religion selbst bedrohte! Was war sie nun für ein weites, ausgebreitetes und unübersehbares Ding, wenn ihr Bereich von der heiligen Dreieinigkeit bis zum Weihwasser reichte, und wenn ihre heilige Autorität jeden kirchlichen Anspruch auf jedem Gebiet schützte! Hier hatte einst die Reformation mit der gewaltigsten Reinigung und Reduktion eingesetzt und versucht, die Religion wieder ganz und gar auf ihren geistigen Kern zu beschränken und ihr damit ihren Ernst zurückzugeben, — zurückzugeben, sei es auch unter schmerzlichem Verzicht auf das hohe Ideal des Katholizismus, ein sichtbares Gottesreich hier auf Erden zu bauen und die Welt des Natürlichen mit wesenhaft heiligen Kräften zu durchdringen. Aber hatte hier die Reformation nach einer Seite vielleicht zuviel getan und den Menschen zu einseitig als intellektuelles Wesen erfaßt, nach einer anderen war sie in der Aufgabe der Reduktion stecken geblieben. Bei der Reinigung der Lehre hatte sie noch vieles von dem bestehen lassen, was einst aus der Verbindung der christlichen Religion mit der antiken Philosophie und dem Mysterienwesen als Dogma entstanden war. Hier setzte Ritsehl mit seiner Reduktion ein und machte es besser als die Aufklärungstheologen des 18. Jahrhunderts. Auf Grund eines Gottesbegriffs, der aus dem Evangelium gewonnen war, und auch hier Hauptgedanken Luthers folgend, räumte er mit dem minderwertigen religionsphilosophischen Erbe der Antike auf und ließ in der christlichen Religionslehre nur bestehen, was zum Glauben an Gott als den Vater Jesu Christi gehörte. In der christlichen Religionslehre — eine solche, ein Bekenntnis, forderte er; denn er war, indem er die Dogmatik reduzierte und sie streng auf ihr eigenstes Gebiet zurückführte, weit davon entfernt, sie den Stimmungstheologen und den dogmatischen Anarchisten auszuliefern. Eben weil ihm die christliche Religion ein mächtiges Wesen für sich war,
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forderte er eine umrissene, allgemein gültige Erkenntnis von ihr. Was sich zu dieser in ihrer strengen Geschlossenheit nicht fügte, das Schloß er rücksichtslos aus, zerbrach es oder erklärte es f ü r „individuell"; aber überzeugt, daß Jesus Christus den Vater nicht verhüllt oder in ein mystisches Dunkel geschoben, sondern offenbar gemacht haibe, trat er f ü r die Notwendigkeit und das Recht, die Religion in eine Lehre zusammenzufassen, ein. Einerseits wollte er in der Dogmatik keinen Paragraphen bestehen lassen, über den man nicht predigen könne; aber was als Evangelium zu verkündigen sei, darüber sollte kein Zweifel bestehen, und er verlangte von der Theologie, daß sie es zu einem System bringe. Von der sog. „Natürlichen Theologie" sah er dabei ab. Er hielt sie ebenso f ü r ein geschichtliches Kunstprodukt wie das Naturrecht und die „natürliche" Ethik. Daher hat er auch den Versuch, den er einst gemacht, den christlichen Gedanken von Gott als wissenschaftlich notwendig nachzuweisen, selbst zurückgestellt. Seine Haltung in diesen Fragen und auch seine Auseinandersetzungen mit Kant und Lotze können uns heute nicht genügen, und der biblische Offenbarungsbegriff, auf den er sich zurückziehen zu können glaubte, reichte in seiner Isolierung nicht aus. Aber geschichtlich betrachtet, ist seine Stellung wohl verständlich, und sie kam der Entwicklung der Theologie zugut. Er war durch die Hegeische Schule hindurchgegangen und hatte sich in schwerer Gedankenarbeit aus den Schlingen des vorgreifenden spekulativen Rationalismus herausgezogen. Wer darf sich wundern, daß nun der Pendel nach der entgegengesetzten Seite ausschlug, und wer kann die Befreiung verkennen, die darin gegeben war, daß Religion und Theologie der philosophischen Umklammerung entzogen und sich selbst zurückgegeben wurden? Die philosophische Spekulation durfte erst wieder zurückkehren, nachdem man lauschend und lernend die christliche Religion selbst wieder gehört hatte, und der Offenbarungsbegriff durfte den Schranken, in denen er bei Ritsehl steht, erst entrückt werden, nachdem die Eigenart der christlichen Religion scharf erfaßt war.
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Wie erfaßte Ritsehl diese Eigenart? Indem er seinen Standort im Mittelpunkt der christlichen Religion nahm, aber zugleich ihren Entwicklungsgang in den Hauptkirchen fest im Auge behielt in der Gewißheit, daß dieser den Forschenden nicht verwirre, sondern zur Klarheit führe. In den Mittelpunkt der christlichen Religion stellte er sich, indem er nur eine religiöse Hauptfrage gelten ließ: den Glauben an Gott als den Vater. Ist „Gott" der Ausdruck für den Grund alles Seins und Lebens, für das Schicksal und den Lauf der Dinge und für das Ziel alles Seins und Lebens (a deo, per deum, ad deum), so ist es das entscheidende Hauptbekenntnis der christlichen Religion, daß dieser Gott eine geistige Macht ist und daß er sich als Vater offenbart hat und finden läßt. An diese Erkenntnis schließt sich die andere, daß alles Naturhafte ein Unterbau ist für ein Reich der Geister, für das Reich Gottes, in welchem die Menschen ihre Bestimmung und eine höhere Gemeinschaft in Geist und Liebe erleben sollen. Endlich aber erkennt der christliche Glaube in Christus den Spiegel des väterlichen Herzens Gottes, den Stifter des Gottesreichs auf Erden und den Erlöser, der von der Schuld befreit und seine Brüder über die Welt erhebt. Die innere Zuständlichkeit, d. h. die Frömmigkeit, welche diesem Glauben entspricht, ist die Zuversicht zum Sinn und zum Sieg des Lebens, d. h. die freudige Ergebung in den göttlichen Willen trotz Schicksal, Sünde, Tod und Teufel, ist die Gewißheit der Vergebung, die Demut, die nur Gott sieht, nicht aber sich selbst, und ist endlich der tätige Wille, der — ein Jeder in seinem Beruf und Stand — sich als Gottes Mitarbeiter ihm zum Dienst stellt und dem Nächsten in Liebe dient. Als christliche Religion ließ Ritsehl nur diese eben skizzierte, in sich geschlossene Gedankenreihe gelten. Unter den großen Theologen gibt es wie unter den großen Philosophen zwei Haupttypen — solche, die ihre Eigenart an der Kraft haben, mit der sie aus einem starken Lebensgefühl heraus alle Erscheinungen und Gedanken bis zur
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complexio oppositorum zu würdigen und in eine Einheit zu bringen vermögen, und solche, welche einen imperatorischen Hauptgedanken erfassen, nach ihm alles ordnen und für unwert erklären, was sich unter ihn nicht beugen läßt. Jene machen den Zuständen hoffnungslosen Streites oder unfruchtbarer Spezialisierung ein Ende; diese bringen wieder Mark in die Knochen der Erkenntnis und des Lebens, bestimmen die Richtung und schaffen Klarheit. Zu den letzteren gehörte Ritschi. Indem er aber die Reduktion an der Theologie des Protestantismus vollzog, der kirchlichen und der sog. liberalen, hat er sich dabei offenbar nicht nur vom Evangelium, sondern auch von der Geschichte desselben in den Kirchen leiten lassen. Er selbst nahm für sich in Anspruch, daß er Luther folge. Seine Gegner bestritten diesen Anspruch, und gewiß können sie Unterschiede hier nachweisen, die sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Technik und den neuen Zeitumständen erklären. Allein in der Hauptsache hatte Ritsehl mit seiner Behauptung recht. Er vermochte dieses Recht an einem entscheidenden Punkte nachzuweisen, an dem Begriff der christlichen Vollkommenheit. In allen Religionen und Konfessionen läßt sich ihre Eigenart am besten an dem Ideal, das sie sich von der vollkommenen Frömmigkeit gebildet haben, erkennen. Ritsehl konnte nun zeigen — es war das wie eine geschichtliche Wiederentdeckung —, daß die hervorragendsten Schriften Luthers und die Augsburgische Konfession eben die Beschreibung der christlichen Vollkommenheit bieten, die er gegeben hat. Auch sie verkünden, daß die erlebte Erlösung sich in der freudigen Ergebung in Gottes Willen, in der sicheren Zuversicht auf ihn, in dem Gebet, in der Demut und in der treuen Arbeit — ein Jeder in seinem Beruf und Stand — zu Nutz des Nächsten darstelle. Diese Wiederentdeckung des finis religionis evangelicae stand aber bei Ritsehl in engem Zusammenhang mit den umfangreichsten und eindringendsten Studien auf den Gebieten der Dogmengeschichte und der vergleichenden Konfessionskunde. Obgleich er weder eine Dogmengeschichte noch eine Konfessionskunde veröffentlicht hat, darf man
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doch sagen, daß er sowohl durch seine Vorlesungen als auch durch Monographien und Abhandlungen diese Hauptdisziplinen neu begründet hat. Hatte man sich früher hier begnügt, die theologischen Lehren der Kirchen im engsten Sinne des Wortes darzustellen und zu vergleichen, so erweiterte, präzisierte und vertiefte Ritsehl die Aufgabe in fruchtbarster Weise. Wie er einst schon die älteste Entwicklungsgeschichte des Christentums unter die Frage gestellt hat, wie ist die altkatholische Kirche entstanden und dadurch allen Untersuchungen auf diesem Gebiet ein festes Ziel gab, so verfuhr er auch in bezug auf die weiteren Epochen. Überall nahm er sich hier die Erkenntnis der Lebensgestalt der großen Kirchen zum Ziel und nicht nur ihren Lehrbegriff. Diese Lebensgestalt sah er in ihrem Gottesbegriff, ihrem Kirchenbegriff, ihrer Vorstellung von der Erlösung, ihrem Vollkommenheitsideal, ihrem Kultus und ihrer Stellung zur Welt. Diese Stücke arbeitete er in ihrer Endgestalt und in ihrer geschichtlichen Entwicklung heraus; er fand, daß in jeder der großen Hauptkirchen eine wirkliche Einheit dieser verschiedenen Elemente besteht, so daß sie sich als charaktervolle und geschlossene Größen darstellen — die morgenländische Kirche, die Augustinisch-abendländische Kirche, die lutherische und die Galvinische Kirche, die nachtridentinischabendländische Kirche und der Typus der kirchlichen Sekte. Die Dogmengeschichte, die Kultusgeschichte, die Geschichte des christlichen Lebens usw. arbeiteten sich fortab in die Hände und richteten sich auf ein Ziel: die großen Kirchen in der Totalität ihres Wesens und ihrer Erscheinung zu vollem Verständnis zu bringen. Ich muß mir es leider versagen, zu schildern, wie Ritsehl jeden einzelnen dieser Typen charakterisiert und zur Darstellung gebracht hat, aber man darf unbedenklich behaupten, daß eine tiefere Erfassung des Wesens und der Eigenart der einzelnen Hauptkirchen mit ihm begonnen hat, so große Verdienste sich vor ihm Männer wie Schleierwacher, Möhler und Schneckenburger um die Lösung dieser geschichtlichen Hauptaufgaben erworben haben. Eines aber lassen Sie mich doch noch als besonders
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wichtig hier hervorheben. Über keine andere Frage hat Ritsehl so energisch nachgedacht und so umfassende Studien gemacht als über die, das Wesen des abendländischen Katholizismus und Protestantismus und ihr gegenseitiges Verhältnis tief und klar zu bestimmen. Ich habe auch keinen protestantischen Gelehrten gekannt, der, bei aller Polemik, der katholischen Kirche so einsichtsvoll und so respektvoll gegenübergestanden hat wie Ritsehl, und der sowohl ihren führenden scholastischen Theologen als auch der Mystik und dem Mönchtum ein so eindringendes Verständnis entgegengebracht hat wie er. Eben weil er den Protestantismus tief erfaßt und als eine besondere religiöse Größe bestimmt hatte, gelang ihm dasselbe auch beim römischen Katholizismus. Durchweg vermochte er nachzuweisen, daß Mutter und Tochter zwar dem morgenländischen Katholizismus gegenüber eine gewisse Einheit bilden, daß sie aber auf dem Grunde dieser Einheit Gegenpole in jeder Hinsicht darstellen. Vor allem an der Frömmigkeit selbst und ihrem höchsten Ideal wies er das nach und zeigte, daß die mystische Frömmigkeit ausschließlich zum Katholizismus gehört und daß sie samt der weitabgewandten Askese im Protestantismus einen partiellen Rückfall in den Katholizismus bedeutet. Das umfangreiche Werk über den Pietismus, welches so viele neue Aufschlüsse bietet, dient letztlich nur dem Nachweise, daß der evangelische Glaubensbegriff und demgemäß die evangelische Frömmigkeit den Pietismus ausschließen, daß dieser eine seiner Hauptwurzeln an der eingeschleppten katholischen Mystik hat, daß durch Mystik und Askese der Protestantismus eine kümmerliche Dublette zum Katholizismus zu werden droht und daß evangelischer Pietismus nichts anderes als katholischer Dilettantismus ist. Mit einer außerordentlichen Energie hat Ritsehl diesen Gedanken zu beweisen versucht — unzweifelhaft auch mit Einseitigkeit und ohne Rücksicht auf die positive Bedeutung des Pietismus innerhalb der evangelischen Kirchen und innerhalb der Kulturgeschichte. Aber in der Hauptsache hat er m. E. recht, der Protestantismus muß den Glaubensbegriff und das Lebensideal Luthers gegen-
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über Mystik und Askese festhalten oder er wird auf die Dauer überhaupt nicht sein. In großen Zügen habe ich versucht, Ihnen, meine Herren, ein Bild von der wissenschaftlichen Lebensarbeit und der Bedeutung Ritschis zu geben. Neue Strömungen sind in Kirche und Theologie wirksam geworden, seitdem er vor dreiunddreißig Jahren die Augen geschlossen hat, und sie haben seine Arbeit zum Teil verdeckt; aber kein Theologe ist in dem letzten Menschenalter erstanden, der ihm an Bedeutung gleichkäme, und wie die, die ihn persönlich erlebt haben, den charaktervollen Mann und den treuen Freund niemals vergessen werden, so wird auch die theologische Wissenschaft das Andenken des großen Lehrers in Kraft erhalten; denn er hat sich selbst in seinen Werken ein unvergängliches Denkmal gesetzt. An Sie aber, meine Herren Kommilitonen, möchte ich noch ein kurzes Wort richten: Über unser Vaterland, ja über die europäische Kulturwelt geht zur Zeit wieder einmal eine internationale romantische Welle. Ihre Anfänge liegen schon in der Zeit vor dem Weltkriege; aber die Enttäuschungen, die er gebracht, und die Einsicht, wie wenig die überlieferten Weltanschauungswissenschaften hier haben helfen können, haben sie mächtig verstärkt. Statt „Wissenschaft" will man „Leben", statt der „ R a t i o " die „Intuition", und ein Weltbild voll geheimnisvoller Kräfte und seelenstärkender Elemente soll den Geist für den angeblichen Zusammenbruch aller rationalen Erkenntnis entschädigen. Wirklich stecken Keime eines gehaltvollen Lebens in der neuen Bewegung; aber wie sie selbst in ihrer Ausgestaltung die mannigfaltigsten Züge vom Erhabenen bis zum Lächerlichen, vom Genialen bis zum Absurden, und vom Tröstlichen bis zu schweren Beängstigungen trägt, ist sie eine wogende und schwankende Erscheinung, der sich hinzugeben nicht ohne Gefahr ist. Eins aber ist gewiß — wer sich ihr ganz hingibt in der Meinung, die überlieferte Wissenschaft und die überlieferten Lebensideale und -kräfte seien abgetan und dem Untergang verfallen, der ist verblendet, und auf die Verblendung folgt die Zerrüttung — nicht die Zerrüttung der
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Wissenschaft, sie geht ihren ehernen Gang, man kann ihn stören, aber nicht aufhalten — wohl aber die Zerrüttung der Verblendeten. Halten Sie daher die Wissenschaft hoch und in Ehren; sie vermag nicht alles zu leisten, aber Niemand darf sich von ihr emanzipieren, und sie kann nur auf eine Weise getrieben werden, und sie ist trotz ihrer Verächter ein Stahlbad des Geistes. Wir bedürfen ihrer vor allem auch zum Wiederaufbau unsres Vaterlands und müssen uns an ihren großen Führern stärken und ihnen nachfolgen. Zu diesen gehört auf seinem Gebiet auch der Mann, den wir heute feiern. Er war ein wissenschaftlicher Charakter, und wer von ihm gelernt und ihn verstanden hat, der stellt sich sicher und freudig in den Dienst der Wissenschaft und ist fähig, die Geister zu prüfen.
Ernst Troeltsch. Rede gehalten bei der Trauerfeier am 3. Februar 1923. Ο Ewigkeit, du Donnerwort, Ο Schwert, das durch die Seele bohrt, Ο Anfang sonder Ende. Ο Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, Ich weiß vor großer Traurigkeit Nicht, wo ich mich hinwende. Der Prophet Jesaias schreibt: „Es spricht eine Stimme: PredigeI Und er sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Heu, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Heu verdorret, die Blume verwelket; denn des Herrn Geist blaset darein. Ja, das Volk ist das Heu. Das Heu verdorret, die Blume verwelket; aber das .Wort unseres Gottes bleibet ewiglich. Amen/' Andächtig Leidtragende! In dem Zeitraum von wenig mehr als zwei Jahren hat unsere Universität 24 ordentliche Professoren, unsere Akademie der Wissenschaften 15 Mitglieder, ein volles Viertel, verloren. So furchtbar hat der Tod noch niemals in unsere Reihen eingegriffen, und wir stehen erschüttert, verarmt, verwaist. Nun sind wir wiederum um den Sarg eines teuren Kollegen, eines Führers im Reiche der Wissenschaft, versammelt und müssen die Klage erneuen: „Die Blume verwelket, denn der Geist des Herrn bläset darein." Was wir erfahren, was sich Monat für Monat im Großen und im Persönlichen rings um uns ereignet, das zwingt auch den
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Lebensfreudigsten unter uns, aus dem Leben in den Tod zu blicken: Es wandelt, was wir schauen, Tag sinkt ins Abendrot, Die Lust hat eignes Grauen, Und alles hat den Tod. Ins Leben schleicht das Leiden Sich heimlich wie ein Dieb; Wir alle müssen scheiden Von allem, was uns lieb. Aber wenn wir fort und fort aus dem Leben in den Tod blicken müssen, so sollen wir es auch lernen, aus dem Tod in die Ewigkeit zu blicken: „Das Heu verdorret, die Blume verwelket; aber das Wort unseres Gottes bleibet ewiglich!" Das scheint freilich ein herber Trost, dieser einzige Trost, den der Prophet bietet; aber es ist doch ein wirklicher und starker Trost, und so werde er auch uns ein solcher im Angesicht dieses Sarges; denn das Wort und der Geist Gottes waren es, um die der Entschlafene gerungen hat, und das Bleibende und Ewige suchte er zu fassen im Strom des Zeitlichen, Relativen und Vergänglichen. Als Sohn eines Arztes wurde Ernst Troeltsch in dem Landstrich, wo Schwaben an Bayern grenzt, geboren; bayerisch-fränkische starke Lebenskraft und schwäbische Gedankentiefe waren in ihm verbunden. Aus innerster Neigung wandte er sich dem Studium der Theologie zu, und in einer ernsten und gehaltvollen studentischen Gemeinschaft verbrachte er die ersten Studiensemester zu Erlangen. Dann ging er nach Göttingen, und hier fand er den theologischen Meister, Albrecht Ritsehl, dem er die Grundlegung seiner theologischen Überzeugung verdankt. Was evangelischer Glaube sei und was die Kirchen als geschichtliche Bildungen bedeuten, das lernte er von ihm, und er ist ihm zeitlebens dankbar geblieben; aber den eigentümlichen Schranken dieses charaktervollen, großen Theologen ist er bald entwachsen. Schon seine Erstlingsarbeit kündigte das an. Ihr Thema war jener Periode des lutherischen Protestantismus entnommen, da
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er am engsten und gebundensten war, dem 17. Jahrhundert; aber eben hier wieß er die Verbindungsfäden auf, die auch jene Zeit mit der großen geistigen Entwicklung verband, die mit der stoischen Philosophie begonnen hatte, und stellte das Thema auf die universalgeschichtliche Bühne. Wie hat er gearbeitet? Das war so eigentümlich, daß ich versuchen muß, es zusammenfassend darzustellen. Das Erste war hier seine ungeheure Konsumtionskraft; es ist schier unglaublich, was er Tag um Tag aus der gelehrten Arbeit aller Zeiten und Völker gelesen hat, nicht als Bücherwurm und Pedant, sondern in freiem, stets lebendigem und regem Austausch mit seinen Autoren, und immer rezipierte er, um zu produzieren. Das Zweite war die außerordentliche Fähigkeit, von anderen zu lernen. Nach Ritsehl haben Kant, Schleiermacher, Dilthey, Max Weber, der uns so früh entrissene geniale Nationalökonom, und Hegel auf ihn den stärksten Einfluß ausgeübt. Im Fortgang seiner Arbeiten bemerkt man diese Einflüsse Stufe um Stufe, und wenn es zugleich auch deutlich ist, daß er bei seinem raschen Temperament das nicht immer ganz treu wiedergegeben hat, was er las, so entschädigte er dafür reichlich durch die geniale Erfassung; es fiel ihm leicht etwas Besseres, Bedeutenderes und Umfassenderes bei seiner Lektüre ein, Der Strom seiner Gedanken flutete durch die Lebensarbeit der großen Philosophen und Denker, riß von ihren Ufern gewaltige Teile ab und ließ sie in den eigenen Wellen aufgehen. Ein Weiteres — er hat seine Studien von Anfang an und bis zuletzt nicht nur vor seinen Studenten und Zuhörern, sondern auch vor dem großen Publikum gemacht. Das ist nicht jedem zu raten, aber er konnte nicht anders, und er durfte auch die Folgen auf sich nehmen, die mit der Offenbarung des Stufenwechsels seiner Anschauungen, die noch nicht bis zum Ende durchgedacht waren, notwendig sich einstellen mußten. Er durfte das, weil er auf jeder Stufe Neues und Förderndes brachte vermöge einer herrlichen Kombinationskraft, die ihn nie verließ. Sie war seine stärkste Kraft, das ungemeine Vermögen, sofort dem Ein-
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zelnen die weitesten und reichsten Beziehungen zu geben und für jeden Stein den Stahl bereit zu halten, der leuchtende Funken schlug. Aber über das alles — das Bedeutendste in seiner wissenschaftlichen Art war der Respekt und die Zartheit, mit der er jedes Objekt, jedes Lebendige auffaßte. Die Gewaltsamkeiten des Rationalisten und die Unarten des Systematikers verabscheute er und fühlte sich durch eine tiefe Kluft von allen denen geschieden, die nicht ruhen, bis sie jedes lebendige Objekt in ein eindeutiges, starres Ding verwandelt und ihm nicht nur allen Schmelz, sondern auch das Leben selbst mit seinen Spannungen und Widersprüchen geraubt haben. In raschem akademischen Aufstieg wirkte Troeltsch in Göttingen, Bonn und Heidelberg als Professor der Dogmatik. Diese wichtige Professur ist die am meisten esoterische in cfer theologischen Fakultät, und ihre Inhaber haben häufig nur geringe Beziehungen zu anderen Fächern; aber die Kollegen und Studenten in Heidelberg merkten bald, daß der neue Inhaber dieses Lehrstuhls das Fach ganz anders behandelte, und es dauerte nicht lange, da war das Urteil entschieden, daß es keine reicheren, umfassenderen und packenderen Vorlesungen und Seminare gebe als die dieses systematischen Theologen. Mit leuchtenden Augen strömten junge und alte Zuhörer aus seinen Vorlesungen dort in Heidelberg und hier in Berlin, wohin Troeltsch im Jahre 1915 als Philosoph übergesiedelt war, nicht um das Fach oder gar seine Anschauungen zu wechseln, sondern um sich den größten Wirkungskreis zu sichern und der Fakultätsaufgaben der Theologie enthoben zu sein. Wie er vortrug und sprach, war ganz eigentümlich und hinreißend zugleich. Er formulierte nicht scharf und knapp, sondern er warf in immer neuen Anstrengungen und mit einer sprudelnden Beredsamkeit, die ihm reichlich, überreichlich zu Gebote stand, eine Beobachtung oder einen Gedanken so lange hin und her, bestürmte ihn von allen Seiten und setzte ihn in immer neue Beziehungen, 6is er gereinigt und deutlich erschien. Sein Geist wirkte
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wie eine mächtige Schleudermaschine oder wie eine rotierende Trommel, die den Gegenstand so lange schüttelte und umhertrieb, bis er von allem Fremden gereinigt war und in seiner Eigenart aufleuchtete. Was aber trug er vor, was war er? Nun, er war unstreitig der deutsche Geschichtsphilosoph unseres Zeitalters, ja nach Hegel der erste große Geschichtsphilosoph, den Deutschland erlebt hat. Wodurch war er das? Weil er die beiden größten Gebiete menschlichen Denkens, die Ideologie und die Soziologie, zu durchdringen und als Geschichte in einer großen Einheit zu verbinden strebte. Die Ideologie — die Welt, die uns gegeben ist als ein Kosmos von Erscheinungen, soll umgeschaffen werden zu einem Kosmos von Gedanken. Er hatte die Zuversicht zu dem Logos, daß das gelingen könne und werde; sein unermeßliches Gebiet war der Gedanke und sein beflügelt' Werkzeug war das Wort. Aber eben darum hielt er sich auch nicht viel auf bei dem Primitiven und Folkloristischen, bei dem Unbewußten und Mystischen, bei dem Naturhaften und dem Eros; er kannte diese Gebiete wohl, aber er war der gewissen Überzeugung, daß sie, um im Ganzen des höheren Lebens etwas bedeuten zu können und nicht zu hemmen, bezwungen und verstanden werden müssen von dem Allherrscher, dem Logos. Aber nicht das war seine Meinung, als könne und solle man ein f ü r sich bestehendes, luftiges Gebäude von Gedanken aufrichten, sondern an und in der Soziologie, der Welt des konkreten Lebens mit ihren Schichten, Bildungsgesetzen und Wirtschaftselementen, soll das Gedankliche zum Ausdruck kommen; es soll, an ihr selbst erworben, diese Welt transparent machen und sie als einen geschichtlichen Kosmos strömenden Lebens zum Verständnis bringen, der ebenso von Ideen durchwaltet ist, wie er sich aus Elementen aufbaut. Hier handelte es sich ihm darum, die Ideen als reale Werte darzustellen, deren Realität der Wirklichkeit der ökonomischen Elemente nicht nachsteht, ja sie letztlich beherrscht. In diesem Sinne rang er mit Marx und mit jedem Denker, der nur das Ökonomische gelten ließ, oder der in der Geschichte nur Kulissen sah
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und ihr produzierendes und sich steigerndes Leben verkannte. Hat er diese Aufgabe zum Abschluß gebracht, hat er sie gelöst? Wer darf so töricht fragen! In immer neuen Anläufen, zuletzt noch in seinem großen Werk über den Historismus, dessen ersten Band er vor wenigen Wochen beendet hat, hat er Unvergängliches zur Lösung der Aufgabe beigetragen. Die Worte, mit denen er diesen Band beschlossen hat, sind in Wahrheit sein wissenschaftliches Testament und zeigen zugleich seinen ganzen Ernst und die bescheidene Würde seiner Haltung; sie lauten: „Um die große Aufgabe einer neuen Geschichtsphilosophie zu erfüllen, gehören gläubige und mutige Menschen, keine Skeptiker und Mystiker, keine rationalistischen Fanatiker und historisch Allwissenden. Das kann nicht das Werk eines einzelnen sein. Es ist naturgemäß das Werk vieler, zunächst in der Stille, in der eigenen Persönlichkeit, und dann im weiteren Kreise. Erst aus solchen Kreisen wird das neue Leben kommen und von verschiedenen Punkten her sich zusammenleben. Das Wirksamste wäre ein großes, künstlerisches Symbol, wie es einst die „Divina Gommedia" und dann der „Faust" gewesen ist. Allein das sind glückliche Zufälle, wenn einer Epoche solche Symbole geschenkt werden, und sie kommen meist erst am E n d e . . . Die Aufgabe selbst aber, die immer für jede Epoche bewußt oder unbewußt bestand, ist für unsern Lebensmoment ganz besonders dringend. Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen." Geschichte durch Geschichte überwinden — wie oft hat er mir in den Gesprächen, die wir führten, gesagt: „Es gilt, sein Schicksal hinzunehmen, es zu lieben und es umzuschaffen zu etwas Besserem; Ziel und Methode sind damit gegeben." Kein kleinliches Kritteln und Keifen, sondern zupacken, willig auf sich nehmen und läutern! Und nun er selbst — er war ein prächtiger Mensch und ein guter Geselle, im höchsten Sinne des Wortes; eine Urkraft lag in ihm, und eine Fülle von Sonne und Leben. Aufrecht war er allezeit, aufrichtig, lauter und frei; da war
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nichts Gemachtes und nichts Kleinliches. Aber in dieser mächtigen Urnatur — das war das Schönste und Tiefste an ihm — lebte eine stille und vornehme und reine Seele. Wie er mit aufgeschlossener und zarter Empfindung jedem lebendigen Objekt als Forscher entgegentrat, so war auch der Kern seines Wesens ein zartes Lebensgefühl und eine keusche Liebe. Aber sie verbarg sich, und über diesen Kern warf er allezeit aus seinem ungestümen Temperament heraus den Mantel rücksichtsloser Freiheit. Weil er nichts zu verbergen hatte, wollte er auch nichts verbergen, nichts unausgesprochen lassen, und wollte sich geben, wie er im Momente war. Wir dürfen es nicht verschweigen, und wir brauchen es nicht zu verhehlen, — er war kein bequemer Mann, und er hat es vielen schwer gemacht, sich in ihn zu finden, selbst solchen, die ihn lange kannten und mit ihm lebten. Er konnte durch Freimut verwunden und durch Ungestüm verletzen; er machte es niemandem leicht, bis an sein Inneres heranzukommen. Aber wer darf sich wundern, daß der Strom glühenden, echten Metalls, der in ihm flutete, auch Schlacken emporwarf? Und wie vielen gelang es doch, früher oder später, sich an dem ganzen Mann in der Totalität seines Wesens zu erfreuen! An dem ganzen Mann — er glaubte an einen Sinn des Lebens und des: Geschichte und an den Sinn seines eigenen Lebens: das ist die praktische Erprobung des Glaubens an Gott, und er glaubte, daß die Hoheit und Demut, die an dem Kreuze Christi aufgeleuchtet ist, Vorbild und Kraft unseres Lebens sei: das ist die praktische Erprobung des christlichen Glaubens. Lieber, teurer Freund, wir werden dich nicht mehr sehen und deine Stimme nicht mehr hören; o, wie bitter ist das, und wie schwer hält es, Herr zu werden über die Gefühle der Natur! „Die Blume verwelket; denn des Herrn Geist blaset darein." Aber Gott, zu dem du gegangen, ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen, und seine Toten leben bei ihm. „Das Wort unseres Gottes bleibet ewiglich." Er möge es uns lehren, daß wir seine Hand auch in Not und Tod, in Trübsal und Hunger, spüren. Er möge die trauernde Witwe trösten und möge den Segen
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des Vaters auf dem verwaisten Sohne ruhen lassen. Uns alle aber möge Er stärken, auf daß wir es lernen, aufwärts zu blicken und uns an das Ewige zu gewöhnen.. Ein Tag, der sagt's dem andern, Mein Leben sei ein Wandern Zur großen Ewigkeit. Ο Ewigkeit, du schöne, Mein Herz an dich gewöhne, Mein Heil ist nicht in dieser Zeit.
Nathan Söderblom. (1926) Im Anfang war das Wort — aber das Wort muß fort und fort in der Geschichte zur Tat werden; sonst verhallt es ohne Wirkung. Die Tatkräftigen allein machen die Geschichte. Sie wissen es, daß die Unterlassungssünden die schwersten Sünden sind, und daß jede Gemeinschaft in Trägheit und Egoismus versinkt, wenn sie nicht wirkt und handelt, und wenn ihre Ziele nicht höher sind als die ihrer Selbsterhaltung. Die Kirchen der evangelischen Christenheit, auf den Glauben gegründet, sind von Anfang an von der doppelten Gefahr bedroht gewesen und sind es noch, träge im Tun zu werden und zu vergessen, daß sie Pflichten für die ganze Christenheit und für die Menschheit haben. Doch sind den evangelischen Kirchen immer wieder Männer geschenkt worden, die diesen Gefahren mutig und kraftvoll entgegengetreten sind, Männer wie S ρ e η e r , W e s l e y , W i c h e r n und Andere. In der Reihe dieser Männer sehen wir Nathan Söderblom stehen, den evangelischen Mann der Tat, den ökumenischen Lutheraner, und grüßen ihn in dankbarer Verehrung an seinem 60. Geburtstag.
Karl Holl. Rede bei der Gedächtnisfeier der Universität Berlin am 12. Juni 1926. Magnifizenz! Kollegen! Kommilitonen! Hochansehnliche Trauerversammlung! Zum zweiten Mal im Laufe weniger Monate hat die Theologische Fakultät Sie zu einer akademischen Trauerfeier eingeladen: dem Grafen von Baudissin ist Karl Holl im Tode gefolgt, und ein tiefes Gefühl der Verarmung erfüllt die Lehrer und Schüler unserer Fakultät — Verarmung in einem doppelten Sinn: nicht nur haben wir verloren, was wir besaßen, sondern auch was wir noch erhoffen durften; denn wer ihn und seine Arbeiten kannte, wußte, daß Karl Holl trotz seiner sechzig Jahre noch ein Mann großer Hoffnungen für die Wissenschaft und für den gesamten Protestantismus gewesen ist. Seinen wissenschaftlichen Höhepunkt hat er nicht mit vierzig Jahren, wie so viele Gelehrte, erreicht, um dann auf dem gewonnenen Plateau fortzuschreiten, sondern er ist Stufe für Stufe höher gestiegen. Als er vor zwanzig Jahren als Ordinarius der Unsrige wurde, kannten ihn die Fachgenossen als hervorragenden Kirchenhistoriker; als er die Augen Schloß, war er in die vorderste Linie deutscher Gelehrter getreten, und
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die Evangelischen Kirchen aller Länder kannten und verehrten ihn als einen Führer, dem sie sich mit Dank und Bewunderung anvertrauen durften. Unsere Universität aber, die ihn vor zwei Jahren an ihre Spitze gestellt hat, weiß nicht nur, daß sie einen ihrer besten Männer verloren, sondern auch, daß sein Heimgang eine Lücke in ihren Lehrkörper gerissen hat, die wohl geschlossen, nicht aber ausgefüllt werden kann. Es bleibt ihr nur sein fortwirkendes Gedächtnis und der tiefe Dank! Darf ich in diesem Zusammenhang von mir selber reden. Im Jahr 1889, als ich vor kurzem erst nach Berlin berufen worden war, trat Karl Holl als jugendlicher Kandidat aus Tübingen in mein Zimmer; bald erkannte ich, wes Geistes Kind dieser Jüngling war, und über welche Kräfte er verfügte. Vom Mitglied des Seminars, sodann vom selbständigsten Hilfsarbeiter, den ich je besessen, ist er als Gelehrter und Meister langsam, zielstrebig und sicher aufgestiegen bis zu der Höhe und der Anerkennung, die er gewonnen hat. In dieser langen Zeit von mehr als einem Menschenalter sind wir stets verbunden geblieben; Wege habe ich ihm ebnen, Türen auf schließen und Hemmnisse wegräumen können — aber mehr habe ich nicht getan und brauchte ich nicht zu tun; denn alles verdankte er ausschließlich seinem Genius, der, was von außen in ihn dringen wollte, stets energisch ablehnte: jeder, der ihm näher trat, empfand diese Eigenart und respektierte sie. Jahre hindurch sind wir jeden Sonnabend zu gemeinsamer Beratung und Arbeit zusammengetreten. Das konnte nicht fortdauern; aber wenn auseinandergehende äußere und innere Führungen die gemeinsame Arbeit auch noch sei tener gemacht hätten, als sie es wurde, so wäre das starke Band doch bestehen geblieben, das mich mit dem Freunde verband. Ein eigenes Stück Leben ist für mich mit seinem Heimgang zu Grabe getragen. In dieser Stunde liegt es mir ob, das Bild des Entschlafenen im Lichte seines Lebenswerks zu erfassen und fest-
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zuhalten; aber nur um wesentliche Striche kann es sich handeln. Daß das Bild voll in die Erscheinung trete, ist eine Verpflichtung der Wissenschaft, der ich nicht vorgreife. Karl Holl war ein universaler Kirchenhistoriker — nicht nur weil er in der alten, mittleren und neueren Kirchengeschichte nahezu gleichmäßig zu Hause war, auch nicht nur weil er die literarischen Probleme, die Institutionengeschichte, die Geistesgeschichte und die Biographik mit derselben Sachkunde, inneren Aufgeschlossenheit und Reife bearbeitete, sondern vor allem, weil er Handschriftenforscher, Philologe, philosophischer Denker und Theologe in einer Person war. Wie er die verschiedenen Methoden dieser Disziplinen, ohne je ein Wort über „Methode" zu verlieren, streng beherrschte, so hat er sie dadurch zusammengehalten, daß er stets, wo er als König baute, sein eigener Kärrner gewesen ist. In einem Zeitalter, in welchem die Geistesgeschichte von der Gefahr bedroht ist, in Schauungen, Einfallen und Paradoxien sich aufzulösen, und ein gescheiter Kopf durch geschickte Kombinationen und mit flinkem Stil mühelos Fragmente neuer Weltanschauungen zu produzieren vermag — in einer solchen Zeit wachte er unerbittlich über der Wissenschaft als res severa und über ihrer Methode als res iudicata; ja in diesem strengen Eifer wurde er mißtrauisch und hart gegen solche Forscher, deren umfassendes wissenschaftliches Thema sie nötigte, sich auch auf die Arbeiten anderer zu stützen. Aber das war nur der Schatten seiner Tugenden! Zu der technisch wissenschaftlichen Meisterschaft, die ihm die Bewunderung und Freundschaft auch der Gelehrten aus den Nachbargebieten gewann, trat bei ihm ein ungemeines Vermögen hinzu, in jedem großen oder kleinen geschichtlichen Problem den Hauptpunkt herauszufinden und diesem den gesamten Quellenstoff systematisch zu unterwerfen. Diese Fähigkeit, die ihn vor jeder unnützen und
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kleinlichen Fragestellung, wie sie heute so häufig sind, schützte, traf zusammen mit der eigentümlichen Anlage seines Geistes, die Erkenntnisobjekte in Religion und Geschichte in Kontrasten zu schauen. Nicht nur die großen Denker, nein, wir alle scheiden uns ja im Leben und in der Wissenschaft in zwei Gruppen, in die Gruppe solcher, denen die geistige Welt als ein aus Stufen und Nuancen zusammengesetztes Ganzes erscheint, und in die andere Gruppe, die die Dinge und die Personen in großen Gegensätzen schaut. Zu dieser zweiten Gruppe gehörte unbestritten Karl Holl, und er hat alle die Vorzüge, die sich aus einer solchen Geschichtsschau ergeben, glänzend entwickelt, aber auch ihre ganze Schwere und Tragik erlebt. Alle ihre Vorzüge — denn der höhere Moralismus, der mit jener Kontrastschau unzertrennlich verbunden ist, gab ihm nicht nur den schärfsten Blick für alle versteckten Unzureichendheiten, Ausflüchte und Menschlichkeiten in Wissenschaft und Leben, sondern auch ein ethisches Pathos, welches jeder seiner Arbeiten und seiner ganzen Persönlichkeit den Stempel aufdrückte. Verbunden mit seiner lückenlosen Quellenkenntnis und seinem systematischen Drang, den Stoff restlos in die Einheit einer Hauptbetrachtung aufgehen zu lassen, verlieh dieses ethische Pathos allen seinen Arbeiten eine eigentümliche Würde und schuf ihnen den tiefen Eindruck. Aber auch die ganze Schwere und Tragik solch einer Geschichtsbetrachtung hat Karl Holl erlebt; denn alle diese, in Antithesen denkenden und ordnenden Historiker müssen erfahren, daß das, was sie suchen und verehren, und neben welchem sie Stufen und Nuancen nicht leicht erblicken — daß dies erhabene Gute nur wie ein seltener Gast, ja wie ein Fremdes auf dieser Erde vorkommt. Diese Erfahrung versetzt sie fort und fort in den tragischen Zustand einer seelischen Erschütterung, und wenn sie auch für ihre Person den Seelenfrieden finden, so bleibt ihnen
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doch Welt und Geschichte in tiefem Dunkel liegen — έν τώ πονηρω κείνται. Ich will nicht sagen, daß Holl das Schmerzliche dieser Erfahrung, die Beleidigungen und die Sünde des Weltgeschehens, grenzenlos empfunden habe — es fehlten ihm vielmehr ausgleichende und sänftigende Lebensund Geschichtsbetrachtungen nicht, vor allem erkannte er sie in den mächtigen sittlichen Persönlichkeiten, die der Menschheit geschenkt worden sind, und an denen er sich erhob. Aber auch hier ist es charakteristisch, daß er ein befreiendes positives Verhältnis nur zu solchen Persönlichkeiten gewinnen konnte, die ihm in ihrer dezidierten Weltbeurteilung kongenial waren — also zu Paulus, Tertullian, den großen Mönchen, Luther, Kalvin, Kant. Dagegen, wo er die Kraft strenger Exklusive vermißte oder gar Eudämonismus witterte, da konnten ihn auch die glänzendsten Anlagen des Geistes oder die gewaltigsten weltgeschichtlichen Wirkungen mit einer Persönlichkeit nicht versöhnen. An seiner tiefen Studie über Augustin tritt das mit besonderer Deutlichkeit hervor. Eine verhaltene Abneigung gegen den größten Mann, den die lateinische Welt hervorgebracht hat, der aber trotz der „duae civitates" und trotz des Antipelagius, Stufen und Nuancen wohl kannte, zieht sich durch die ganze Studie. Ähnliches gilt von dem Verhältnis Holls zu Leibniz und selbst zu Goethe. Es blieb da immer ein starker Vorbehalt für ihn zurück, weil er die aus dem Gewissen hervorbrechende Kraft der Exklusive an diesen Männern vermißte. „Amicus Plato, magis amica severitas" darf man mit dieser Variante von ihm sagen. Umgekehrt aber, wer seine Verehrung besaß — er verschwendete sie wahrlich nicht! — der durfte sicher sein, daß Holl als Biograph alles aufbieten würde, um einen solchen Mann als geschlossene Persönlichkeit so zur Darstellung zu bringen, daß sein Leben und Wirken restlos, und ohne Widersprüche und ohne Schwanken, in seinem Typus und in seiner Größe aufging.
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So hat er uns Luther vorgestellt, und von dem Lutherbuch, seiner größten Leistung, datiert die Wissenschaft und die Evangelische Kirche mit Recht eine neue Stufe in der Erkenntnis des Reformators. Dieses Lutherbuch, original und kongenial empfunden, tief gedacht und mit verhaltener Leidenschaft geschrieben, ist eine umfassende Darlegung der Bedeutung Luthers auf allen großen Linien seines Wirkens — gesehen und ausschließlich beleuchtet von e i n e m Standort her, nämlich dem Gotterlebnis, das den Reformator zum Reformator gemacht hat. In wesenlosen Schein versinken neben diesem Buch alle kleinlichen, tendenziösen und tückischen Angriffe auf den Reformator, und alle halben und unsicheren Würdigungen. Gewiß, auch dieses epochemachende Buch hat seine Schranken: daß auch Luther ein Mensch war „mit seinem Widerspruch", daß er stärker durch sein Temperament und vor allem durch seine Zeit gebunden gewesen ist, als hier zugegeben wird, und daß er ein gottesfreudigerer und -seligerer Mann war, als er nach dieser Darstellung erscheint, soll offen gesagt werden; auch ist manches hier Luther zugeschrieben, was er nicht allein und nicht zuerst verkündigt hat. Aber das alles kann ergänzt werden, und es ist ein Geringes gegenüber der Tatsache, daß hier das Wichtigste — was es für Luther bedeutet hat, Gott zu finden und zu haben, und was das überhaupt bedeutet — zu einem ergreifenden Ausdruck kommt. Hier steht nicht „Gott und die Seele", sondern vielmehr „Gott und das Gewissen" im Obersatz, wie für Luther, so auch für den Biographen. Dieses Lutherbuch, das mit eigener Flamme brennt, wird bleiben, solange es eine theologische Wissenschaft gibt und einen evangelischen Glauben, und sein Verfasser wird den Ruhm behalten, ein Erneuerer des Luthertums geworden zu sein. Dieses Werk konnte ihm aber auch das hohe Bewußtsein einer Tat erwecken, jenes Bewußtsein, welches
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die tragischen Historiker selten aufzubringen vermögen, weil ihre Weltanschauung wie eine schwere Last auf ihrer Tatkraft liegt. Mit dem Lutherbuch sind wir zur Würdigung der wissenschaftlichen Arbeit Karl Holls im einzelnen übergegangen und haben die letzte und reifste Frucht, die sie getragen, vorweggenommen. Begonnen hat Holl als Forscher mit der Alten Kirchengeschichte, und er ist diesem Arbeitsfelde bis zuletzt treu geblieben. Man darf sagen: dem Forscher war und blieb die Alte Kirchengeschichte das Hauptgebiet, dem Lehrer aber die Reformationsgeschichte, die er auch in seinem Seminar fast ausschließlich pflegte. Dieses Seminar gestaltete sich mehr und mehr zu einer Pflanzschule der Wissenschaft, wie wir kaum eine zweite in der Theologie besitzen. Ausgezeichnete junge Gelehrte sind aus ihm hervorgegangen, die da bekennen, ihr bestes Teil von ihm empfangen zu haben. Es ist der große Lehrer, um den wir trauern — nicht minder heiß als um den Gelehrten. Wenn heute in der Theologie an vielen Stellen der zweideutige Ruf nach einer Umkehr der Wissenschaft und nach einer pneumatischen Methode ertönt, so können diese Rufer an Holls Arbeit lernen, wie das Objekt selbst dafür bürgt, daß die alte Methode streng kritischer Arbeit seine Würde nicht schmälert, sondern ans Licht stellt. Doch nun zur Charakteristik seiner Hauptarbeiten auf dem Gebiete der Alten Kirchengeschichte: Zeitlich an der Spitze steht hier sein Werk in zwei Bänden, das er im Auftrage der Kirchenväter-Kommission der Akademie unternommen hat, die Herausgabe der Sacra Parallele. Die Quellen der Alten Kirchengeschichte bestehen zu einem erheblichen Teil aus Fragmenten, die im byzantinischen Zeitalter zusammengestellt worden sind. Die bedeutendste Sammlung ist in den sogenannten Sacra Parallela des Johannes Damaszenus enthalten. Sie in dem best-erreichbaren Text zu publizieren und zugleich alles zu tun, um sie wissenschaftlich brauchbar zu machen, war die ge-
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stellte Aufgabe. Sie verlangte eine umfassende Handschriftenforschung in Italien und die gründlichsten patristischen Kenntnisse; denn jedes der vielen Hunderte von Fragmenten forderte eine eigene Behandlung. Hier hat Holl seine Schulung als Handschriftenforscher und Philologe erfahren und in den zwei Bänden eine abschließende Arbeit geleistet. Aber gleichzeitig zeigte er in seiner Berliner Habilitations-Vorlesung (1897) über Tertullian, daß er sich auch in die christlich-lateinische Literatur eingearbeitet hatte. Sehr viel und Bedeutendes war schon über Tertullian geschrieben worden; aber eine Charakteristik, wie sie Holl in dieser Vorlesung über den ihm kongenialen großen Afrikaner geboten hat, besaßen wir bisher nicht. Wer in Kürze einen Eindruck von Karl Holl als zusammenschauenden Historiker gewinnen will, der greife nach diesem in den „Preußischen Jahrbüchern" veröffentlichten Vortrag. Nicht lange dauerte es, im Jahre 1898, da erschien ein neues Werk von ihm: „Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum". Gestehen wir es — vor dem Erscheinen dieses Werkes begnügten wir uns in bezug auf das griechische Mönchtum, im Unterschied vom vielseitigen abendländischen, mit dem Urteile, es sei als die eindeutige und unveränderliche Erscheinung einer dumpfen Askese einer tieferen differenzierenden Betrachtung nicht würdig und nicht fähig. Mit einem Schlage hat Holls Untersuchung diesem bequemen und falschen Urteil ein Ende gemacht. Von dem Begriff „Enthusiasmus" ausgehend, den ich in die Geschichte der Würdigung des alten Christentums eingeführt hatte, zeigte er, welches neue und reiche Leben in dem griechischen Mönchtum steckte und wie groß die Bedeutung gewesen ist, die es in bezug auf die Theorie und Praxis der Buße und auf die Formierung des inneren Lebens und der kirchlichen Frömmigkeit besessen hat. Er wurde selbst ein innerlich ergriffener, verständnisvoller Freund dieses griechischen Mönchtums, und die erfolgreiche
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Untersuchung wurde ihm der Ausgangspunkt für immer neue, bis zuletzt fortgesetzte Arbeiten, die sich bis zu umfassenden Studien über die heutige russische Kirche und bis zu Tolstoi und Dostojewski erstreckten. Sie mündeten in der abschließenden und leuchtenden Abhandlung: „Die religiösen Grundlagen der russischen Kultur". Aus diesen zahlreichen Untersuchungen strengster und formvollendeter Art ragen besonders zwei mit bescheidenen Titeln hervor: ,,Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens" und „Die Vorstellung vom Märtyrer und der Märtyrerakte in ihrer geschichtlichen Entwicklung". Hier hat er uns das Wesen und den Begriff des griechischen Heiligen und namentlich des Märtyrers erschlossen, und er hat zuerst das griechisch-christliche Vollkommenheitsstreben, die τροκοζή, auf ihre Wurzeln zurückgeführt und zum Verständnis gebracht. Was er herausgearbeitet, erscheint heute als eine elementare Einsicht; aber eben das ist das Siegel wahrer Erkenntnis. Dazu: die in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung bisher verkannte und vernachlässigte, zuletzt noch mißhandelte und ihrem Verfasser abgesprochene Urquelle für die gesamte Geschichte der griechischen Asketik, die Vita Antonii des Athanasius, hat er in ihrem unvergleichlichen Werte erkannt und an die Spitze gestellt. Er durfte seine Untersuchung mit dem Urteil schließen: „Athanasius hat auf den ersten Wurf etwas geschaffen, das seine Nachfolger nicht zu übertreffen, ja kaum zu erreichen vermochten. Seine ,Vita Antonii' stellt das Muster dar, dem man im Orient nacheiferte, solange dort überhaupt Heiligenleben geschrieben wurden." Bald nach dem Werk über „Enthusiasmus und Bußgewalt" verließ uns Holl im Jahre 1900, um als Prof. extraord. nach Tübingen zu gehen, wo er sechs Jahre geblieben ist. Hier begann er seine Arbeiten über Luther, speziell über seine Rechtfertigungslehre, sowie über den Stifter des Jesuitenordens, dessen „Exerzitien" er neu beleuchtet, ja eigentlich erst durchschaut hat — wie anders urteilt man
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heute über diese Exerzitien als noch vor einem Menschenalter! — setzte aber seine Untersuchungen zur Alten Kirchengeschichte fort und überraschte uns im Jahre 1904 mit einem neuen Werk. Die Geschichte der Trinitätslehre im 4. Jahrhundert ist hier im Rahmen einer Monographie über „Amphilochius in seinem Verhältnis zu den großen Kappadoziern" aufgehellt. Dogmengeschichtlich gibt es kaum ein intrikateres Problem; denn die Spekulationen über die Trinität in jener Zeit sind von einer Feinheit und Kompliziertheit, von der sich der Laie keine Vorstellung machen kann; aber den schwäbischen Denker reizte eben diese Aufgabe, und wenn hier auch manches noch zu tun übrig bleibt, so werden die Arbeiten nur auf der Grundlage des Werkes von Holl fortgeführt werden können. Im Jahre 1906 wurde Holl als Ordinarius an unsere Fakultät berufen. Bald blickten wir mit Staunen, aber auch mit Besorgnis auf sein pausenloses Arbeiten und mit Bewunderung auf die Mannigfaltigkeit und Fülle der Probleme, die er bemeisterte. Auch an eine bloße Aufzählung der wichtigsten ist hier nicht zu denken. Aber mochte er nun über die Entstehung des Epiphanienfestes oder die griechische Altarbilderwand, über die Zeitlage eines altlateinischen polemischen Gedichtes oder über neue ägyptische Urkunden zur Kirchengeschichte des 4. Jahrhunderts, über den Kirchenbegriff des Paulus im Unterschied von dem der Urgemeinde oder über die Struktur und den Sinn des altrömischen Glaubensbekenntnisses, über das Mönchtum oder über den Beruf schreiben — niemals griff er abgegriffene Probleme auf, niemals isolierte er sie, niemals trug er künstliche Fragen an sie heran, vielmehr waren seine Untersuchungen stets original, fruchtbar und in der Regel abschließend. Und doch sind alle diese Abhandlungen für ihn in seiner Berliner Zeit nur Parerga gewesen, zu denen er in unbegreiflicher Weise noch Zeit fand; denn zwei Hauptthemata beschäftigten ihn hier von Anfang an und fort und fort: die
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umfassende neue Darstellung Luthers, an der er sich selbst emporgehoben und gestählt hat — ich habe von ihr schon gesprochen — und gleichzeitig eine nicht minder gewaltige Aufgabe, die Herausgabe eines der schwierigsten, wenn nicht des schwierigsten Kirchenvaters des 4. Jahrhunderts, Epiphanius. Sie mußte ab ovo gemacht werden, und sie war deshalb so schwierig, weil das Werk des Epiphanius nicht ein Einzelwerk ist, sondern eine „Bibliotheca" der wertvollsten Exzerpte aus drei christlichen Jahrhunderten, zusammengebracht von einem ehrlichen, aber völlig unkritischen, gelehrten, aber wüst-gelehrten Bischof, einem typischen Konfusionarius und schrecklichen Chronologen — und doch besitzen wir nur durch ihn einen kostbaren Teil der altchristlichen Literatur! Holl hat an diese Aufgabe seine unvergleichliche Arbeitskraft, sein exquisites zuverlässiges Wissen und sein unbestechliches kritisches Urteil gesetzt und sie dadurch zur Musterausgabe eines antiken Schriftstellers gemacht, zumal da er einen ebenso reichhaltigen wie knappen Kommentar den Quellenstücken beigegeben hat. Leider ist es ihm nicht mehr vergönnt gewesen, die Ausgabe zu vollenden; aber das noch Fehlende ist doch schon so weit vorbereitet, daß der berufenste Gelehrte und Freund Holls sich zu unserer Freude bereit erklärt hat, die Ausgabe zu Ende zu führen. Ich kann aber diese Ubersicht über das schriftstellerische Lebenswerk Holls nicht schließen, ohne der Arbeit zu gedenken, die wir von ihm aus dem letzten Jahre besitzen; es sind Vorträge, die er über das gewaltige Thema „Urchristentum und Religionsgeschichte" gehalten hat, Vorlesungen, die, wie der Vortrag über Tertullian, auch weiteren Kreisen zugänglich sind. Es ist einfach unvergleichlich, wie Holl hier auf 48 Seiten den umfassendsten Stoff bewältigt hat. Und was ist das Ergebnis? Holl nimmt in den Vorlesungen Stellung zu der großen Frage: Ist das Christentum, sei es von Anfang an, sei es im Laufe seiner ältesten Entwicklung, eine synkretistische Religion, oder hat
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es eine von allen anderen Religionen im Reiche sich scharf abhebende Eigenart und hat diese auch behauptet? Die Antwort lautet: den Erlösungsgedanken und den Gerichtsgedanken, die Verehrung eines absoluten Herrn und die Kyriosmystik, die Sakramentsvorstellung und die mystische Ausgestaltung des Gottesdienstes teilt das Christentum mit anderen Religionen; aber dennoch ist es etwas von ihnen ganz Verschiedenes, nämlich durch seinen einzigartigen neuen, von Jesus stammenden Gottesbegriff, den es auch behauptet hat und dem es den Sieg über alle anderen Religionen verdankt. Man darf es also nicht eine synkretistische Religion nennen. Die Herausarbeitung des christlichen Gottesbegriffs im Kontrast mit allen anderen ist die bleibende Leistung dieser Vorlesungen. Ob aber die Kritik das scharfe Entweder — Oder anerkennen und dazu den Sieg des Christentums über die anderen Religionen aus seinem Gottesbegriff mit Holl ableiten wird, muß gefragt werden. Wann ist jemals in der Geschichte eine Religion in der Welt zum Siege gekommen durch ihr Eigenes und Bestes? Waren es nicht immer die zweiten Gründe und die zweiten Motive, die die Massen bezwungen und den Sieg in der Welt herbeigeführt haben? War es in der Geschichte des Urchristentums oder in der Reformationsgeschichte anders? Das Christentum verdankt seinen Sieg in der Welt seinem Synkretismus; also gilt das „Entweder — Oder" nicht. Es muß in ein „Sowohl — als auch" verwandelt werden. Das Christentum war wirklich trotz seines eigentümlichen Gottesbegriffs eine synkretistische Religion. Aber wenn das festgestellt ist, kommt die These Holls doch noch indirekt zu ihrem Rechte; denn der christliche Synkretismus unterscheidet sich spezifisch von allen anderen durch die beispiellose Organisationskraft; diese aber stammt nicht aus ihm selbst, sondern letztlich aus der heißen Sorge für das Seelenheil und die Erziehung der Menschheit und aus der Bruderliebe — also aus dem eigentümlichen Gottesbegriff.
[287]
8. Karl Holl. (1926)
1593
Nun ist der Mund verstummt, der uns so viel zu sagen hatte, und unbeschrieben sind die Blätter zurückgeblieben, die seiner Feder noch harrten. Wir erwarteten noch so viel von ihm, vor allem eine große Studie über Luther und Augustin, die zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der abendländisch-katholischen Kirche hätte führen müssen; er beurteilte sie herber als den morgenländischen Katholizismus. Welchen theologischen Standpunkt hat Karl Holl eingenommen? Es ist der beste Beweis für seine charaktervolle Eigenart, daß niemals jemand meines Wissens diese Frage in bezug auf ihn gestellt hat. Die leichtfertigen Schlagworte: „positiv, liberal" prallten von ihm ab. Von dem schwäbischen Luthertum mit seinem pietistischen Einschlag und seinem Gemeinschaftssinn ist er hergekommen — auch seine Auffassung Luthers verleugnet diesen Ursprung nicht — und von Ritsehl hat er dankbar viel gelernt. Aber einfach einen Jünger Ritschis kann man ihn so wenig nennen, wie einen Jünger der schwäbischen Theologen Bengel und Beck oder andrerseits Ferdinand Christian Baurs. Er war überhaupt kein typischer schwäbischer Theologe, sondern ein freier historisch-kritischer Forscher und zugleich ein Theologe, der sich auf Luthers Lehre gründete. Das muß genügen; aber damit ist noch nicht ausgesprochen, welcher leidenschaftliche Drang nach Wahrheitserkenntnis ihn beseelte, welch ein heißes Ringen um ein höheres Leben ihn, den schwer Lebenden, erfüllte, und mit welchem heiligen Ernste er alles, was er dachte und lebte, unter den Prinzipat des Gewissens gestellt hat. So haben wir ihn kennen gelernt — vor dem Kriege, im Kriege, nach der Kriegszeit — und dieses Bild wird uns bleiben! Bei Kalvins frühem Tode hat man gesagt, der Eifer um das Haus Gottes habe ihn verzehrt. Das Wort gilt auch von Karl Holl in seinem inneren Ringen um die Wahrheit, um Gott: „Der Eifer um das Haus Gottes hat ihn verzehrt."
1594
V. Weg- und Zeitgenossen
[288]
Kollegen, Kommilitonen! Seit dem erschütternden Ausgang des Weltkriegs und dem noch tiefer erschütternden „Frieden" gewahren wir in beiden Kirchen, und auch in ihrer Theologie, ein mächtiges Streben, in die Tiefe zu gehen und die Innerlichkeit und den Ernst der Religion unmittelbarer zu erfassen. Auf verschiedenen Linien offenbart sich dieses Streben; unser entschlafener Kollege gab ihm durch seine Arbeit als Historiker einen reinen Ausdruck. Er ist uns genommen. Sein Tod steigert die Verantwortlichkeit derer, die nachgeblieben sind, steigert unsere Verantwortung. „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige" — so klagt man heute mit Recht in unsrem Vaterland. Möge der fortwirkende Geist des entschlafenen Lehrers zahlreiche Arbeiter erwecken helfen! Möge er nun erst zu voller Wirksamkeit gelangen! Mortuus doceat vivos!
Martin Rade. (1927)
Lieber Freund I Wenn ich an Dich denke — und es geschieht oft — stehst Du vor mir, wie Du vor fünfzig Jahren warst, und ich muß diese Deine Erscheinung immer erst gewaltsam zurückschieben, damit sie Deinem jetzigen Bilde Platz mache. Aber auch ich bin, wenn ich Deiner gedenke, augenblicks nicht der alte Berliner Professor, sondern ein ganz junger Leipziger Dozent, dessen Leben beglückend ausgefüllt war durch seine Arbeit am Schreibtisch und durch den regsten Verkehr mit Dir und Euch, den fast gleichalterigen Studiengenossen. Ihr saht mich als Euren Lehrer an; mir aber wart Ihr liebe Kameraden. Vor uns lag, wie ein gewaltiger Ozean, das große Gebiet der alten Kirchengeschichte, eng verbunden mit der Reformationsgeschichte. Sonnenbeglänzt war dieser Ozean, und wir wußten, welches Schiff wir zu besteigen, und welchen Kurs wir zu nehmen hatten. Die Sonne, welche dieses Meer beglänzte, war die evangelische Botschaft — jüngst war sie wieder von einem großen Theologen kraftvoll ans Licht gestellt worden — das Schiff war die strenge geschichtliche Wissenschaft, der wir uns bedingungslos anvertrauten; der Kurs ging aus dem Verworrenen zum Einfachen, aus dem Mystischen zum Logos.
1596
V Weg- und Zeitgenossen
[259]
Ich habe in den nun fünfzig Jahren, die hinter uns liegen, Erhebendes und Beschämendes in meiner Arbeit erlebt, aber keinen Schiffbruch und keinen Wandel: die Sonne hat sich mir nicht verdunkelt, nichts hat mich gezwungen, das Schiff zu wechseln, und an dem Kurs bin ich nicht irre geworden. Neues habe ich in Fülle gesehen, aufgenommen und durchdacht; der Horizont wurde immer weiter, aber das Steuer habe ich niemals umgelegt. Kämpfe hat es auch genug gegeben — keinen habe ich absichtlich herbeigeführt, und jeder war mir im Innersten unwillkommen — aber kein Kampf ist mir an die Seele gegangen. Dem gradlinigen inneren Leben entsprach das äußere: es war das des deutschen Professors, der nur den Ort wechselt, nicht den Beruf; und was mir an ungeahnten neuen Aufgaben reichlich zugewachsen ist, habe ich stets der großgefaßten Aufgabe des Kirchenhistorikers einzugliedern vermocht, die im Grunde meine einzige geblieben ist. Der äußere Gang Deines Lebens, lieber Freund, war wechselvoller: Lehrer in einem Hause, das Dir durch seine Großzügigkeit neue Einblicke in das Leben gewährte und Deinen tiefen künstlerischen Sinn erweckte, Dorfpfarrer, Stadtpfarrer, Dozent, Professor; von der dörflichen Seelsorge zur universalen kirchlichen Fürsorge — an welcher ihrer zahllosen Aufgaben hast Du ausführend und führend nicht teilgenommen? — von der Katechismuslehre zu den großen theologischen Kontroversen und Kämpfen; von der ländlichen Bücherei zur evangelischen Kulturpolitik; von der kritischen Biographie des Papstes Damasus zum umfassenden Lutherbuch, vom Lutherbuch zur „Christlichen Welt"! Die „Christliche Welt" — ursprünglich einem engeren theologisch-kirchlichen Zweck dienend, ist sie Produkt und Spiegel Deiner Eigenart und Deiner Persönlichkeit geworden. Sie hat verschiedene Phasen durchlaufen und ist immer dieselbe geblieben, ganz wie Du selbst. Sie erscheint dem oberflächlich und nach dem Schema der üblichen kirch-
[260]
9. Martin Rade. (1927)
1597
lichen Zeitschriften Urteilenden als ein „Sprechsaal" und erhebt sich doch hoch über einen solchen. Worin besteht ihre Eigenart? In ihrer T r e u e zum evangelischen Bekenntnis, das hier groß und weit gefaßt ist, weil es so fest ist. In ihrem U n i v e r s a l i s m u s , der sich auf die herzliche Liebe zu allem Lebendigen und zu allen Brüdern als Kindern Gottes gründet, so verschieden sie sein mögen. In ihrer G e r e c h t i g k e i t , der nichts unerträglicher ist, als mit doppeltem Maße messen, unterdrücken, hemmen, totschweigen, und nichts notwendiger erscheint, als pflegen und wachsen lassen bis zur Ernte. In ihrer F r e i h e i t , die in der Liebe zur Wahrheit, in der Liebe zur Selbständigkeit und in der zarten Ehrerbietung gegen jedermann wurzelt. Endlich in ihrer F r e u d i g k e i t laetari qui sperat in domino".
— „Non potest non
In diesem Geiste hast Du die „Christliche Welt" geleitet und leitest sie noch — heute sicherer als in irgendeiner früheren Periode; denn auch Du hast lernen müssen, bist durch dürre Zeiten gegangen, hast Freunde gewonnen und Freunde verloren; aber Dein Werk ist Dir nicht aus den Händen entglitten, und Du hast niemals kapituliert, auch nicht wohlmeinenden Freunden gegenüber, wenn sie Dir das Innere stören oder Dein Werk verengen wollten. Empor geführt hast Du es trotz allem Widerspruch, und es ist heute das einzige kirchliche Weltblatt, welches wir evangelischen Deutschen besitzen. Ein Führer bist Du uns geworden, aber eine neue Führerschaft hast Du ausgebildet — nicht persönliche Autorität wirfst Du in die Wagschale, sondern die zwingende Gewalt der Offenheit und Gerechtigkeit, des geistigen Reich-
1598
V Weg- und Zeitgenossen
[261]
turns und der umfassenden Einsicht, dazu eine nicht zu ermüdende Güte. Für all das sei an Deinem siebzigsten Geburtstage herzlich bedankt von Deinem ältesten Freunde, der sich nach dem innern Gang seines Lebens aufs tiefste mit Dir verwandt fühlt, A d o l f v. H a r n a c k .
Bibliographischer Anhang
Nachweis der Drucke (Von Hanns-Christoph Picker unter Mitarbeit von Martin Koenitz)
Teil 1: Der Theologe und Historiker I. Person und Botschaft Jesu 1. Als die Zeit erfüllet war.
(1899)
1.
Reden und Aufsätze. Erster Band. Gieszen (J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung) 1904, S. 299-306. «Titelblatt S. 299-300. 2. Die christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. (Herausgegeben von Martin Rade.> Dreizehnter Jahrgang. N r . 51. 21. Dezember 1899. Marburg i. H . (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 1201-1204 3a. Reden und Aufsätze. Erster Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 299-306. (Titelblatt S. 299-300> 3b. När tiden var fullbordat (in:> Kristendom och historia jämte andra uppsatser. Bemyndigat översättning av August Carr. Stockholm (Wahlström & Widstrand) 1913, S. 29-36 3c. (Unter dem Titel:> Das Weihnachtsfest (in:> Das deutsche Echo. A. Busse, Editor. G. Kartzke, W . Rumpf, Associate Editors. Volume 1. N u m b e r 4. December 1927. New York City (B. Westermann Co.), S. 21-22. (Neuformulierung durch die Redaktion unter Verweis auf den in den Reden und Aufsätzen abgedruckten Text.> 2. Christus als Erlöser. 1. 2.
(1899)
Aus Wissenschaft und Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 81-93 (Englisch:. Some Thoughts on Redemption (in:> T h e Independent. (A weekley journal of free opinion, devoted to the consideration of politics, social and economic tendencies, history, literature, and the arts.> Vol. LI. No. 2663. N e w York, Thursday, December 14, 1899.
1602
Nachweis der Drucke
i n d e p e n d e n t Publ.>, S. 3 3 8 3 - 3 3 8 5 N o . 2664. T h u r s d a y , December 21, 1899. i n d e p e n d e n t P u b b , S. 3445-3448. Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Festrede gehalten am 10. November 1883 in der
1 / II. Der Protestantismus
1607
großen Aula der Ludewigs-Universität. Glessen (J. Ricker) 1883,30 S. 3a. Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte. 3. Auflage. Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. 2. Auflage. Zwei kirchenhistorische Vorlesungen. Gießen (J. Ricker) 1886, S. 61-88 3b. Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Dritte durchgesehene Auflage. Gießen (J. Ricker) 1901. 27 S. 3c. Reden und Aufsätze. Erster Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpel3d.
3e.
3f. 3g.
mann) 1906, S. 141-169. (Titelblatt S. I4l-142> Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Vierte durchgesehene Auflage. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911. 29 S. Martin Luther Kristendom och historia jämte andra uppsatser. Bemyndigat översättning av August Carr. Stockholm (Wahlström & Widstrand) 1913, S. 97-125 Deutsche Akademiereden. Herausgegeben von Fritz Strich. München (Meyer & Jessen) 1924, S. 247-264 Ausgewählte Reden und Aufsätze. Anläßlich des 100. Geburtstages des Verfassers neu herausgegeben von D . Dr. Agnes von ZahnHarnack t und Dr. Axel von Harnack. Berlin (Walter de Gruyter) 1951, S. 42-65
2. Zur gegenwärtigen
Lage
des Protestantismus
(1896)
Aufsätze zeitgenössischer Schriftsteller. Ausgewählt und zusammengestellt von E. Lemp. Bd. 1. Zur Religion und Ethik. Velhagen & Klasings Sammlung deutscher Schulausgaben. Lieferung 103. Bielefeld und Leipzig (Velhagen & Klasing) 1903, S. 63-81 «Unter dem Titel:» Aus der Rede gehalten bei der Feier zum 400jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16. Februar 1897 «in:» Wilhelm Paszkowski «Hrsg.» Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands. Berlin (Weidmann) 1904, S. 115-118. «Kurzfassung.» «Unter dem Titel:» Aus der Rede gehalten bei der Feier zum 400jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16. Februar 1897 «in:» Wilhelm Paszkowski «Hrsg.» Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands. 2. Auflage. Berlin (Weidmann) 1905, S. 147-151. «Kurzfassung.» Reden und Aufsätze. Erster Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 171-191. «Titelblatt S. 171-172» «Unter dem Titel:» Aus der Rede gehalten bei der Feier zum 400jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16.
1 / II. Der Protestantismus
3f.
3g.
3h.
3k.
1609
Februar 1897 Wilhelm Paszkowski Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands. 3. Auflage. Berlin (Weidmann) 1907, S. 152-156. «Kurzfassung.» Aus der Rede gehalten bei der Feier zum 400jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16. Februar 1897 Wilhelm Paszkowski Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands. 4. Auflage. Berlin (Weidmann) 1911, S. 152-156. Aus der Rede gehalten bei der Feier zum 400jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16. Februar 1897 Wilhelm Paszkowski Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands. Band 1. 5. Auflage. Berlin (Weidmann) 1915, S. 152-156. Harnack auf Melanchthon. Rede gehalten bei der Feier zum 400-jährigen Gedächtnis der Geburt Philipp Melanchtons in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 16. Februar 1897 Deutsche Denkreden. Besorgt von R. Borchardt. München (Bremer Presse) 1925, S. 423-445 Die Antike. Deutsche Allgemeine Zeitschrift für Kunst und Kultur des klassischen Altertums. Herausgegeben von Werner Jaeger. Heft 7. Berlin/Leipzig (Walter de Gruyter) 1931, S. 181-195
4. Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte (1899) 1.
Reden und Aufsätze. Zweiter Band. Gieszen (J. Ricker'sche Verlagsb u c h h a n d l u n g - A l f r e d Töpelmann) 1904, S. 295-326. 2. Die christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. (Herausgegeben von Martin Rade.> Dreizehnter Jahrgang. Nr. 1. 5. Januar 1899. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), Sp. 7-9 Nr. 2. 12. Januar 1899. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), Sp. 25-29 Nr. 3. 19. Januar 1899. Leipzig (Grunow), S. 50-52 Nr. 4. 26. Januar 1899. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), S. 75-77 Nr. 5. 2. Februar 1899. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), Sp. 99-101 Nr. 6. 9. Februar 1899. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), Sp. 123-125 3a. Reden und Aufsätze. Zweiter Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 295-326. «Titelblatt S. 295-296»
1610
Nachweis der Drucke
3b. Reformationens plats i den allmänna religions historien Nutidsröster fran reformationens moderland. Översatta och utgivna av August Carr. Lund (C.W.K. Gleerup) , S. 1-32.
5. Protestantische 1.
2.
2.
(1912)
Noris. Jahrbuch für protestantische Kultur. Herausgegeben von Hans Pöhlmann. Nürnberg (Friedrich Korn'sche Buchhandlung) 1912, S. 4-8. 6. Protestantische
1.
Kultur
Kultur und Dr. Max Maurenbrecher.
(1912)
Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Dritter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 212-226 Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. (Herausgegeben von Martin Rade.> Sechsundzwanzigster Jahrgang. Nr. 1. 4. Januar 1912. Marburg i. H. (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 2-8
7. Die religionsgeschichtliche
Bedeutung
der Reformation
Luthers
(1926)
1611
1 / III. Katholika
1.
2.
3a.
3b. 3c.
3d.
Reden und Aufsätze. Zweiter Band. Gieszen (J. Ricker'sche Verlagsb u c h h a n d l u n g - A l f r e d Töpelmann) 1904, S. 247-264. /Titelblatt S. 247-248> Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Fünfter Jahrgang. Nr. 18. 30. April 1891. Leipzig (Fr. Wilh. Grunow), Sp. 401-408 «Französisch:) Catholicisme et protestantisme Revue chr^tienne. Recueil Mensuel. Trenthuitieme annee. Nouvelle Serie. — Tome IX. N° 5. - l c r Novembre 1891, S. 913-927. «Übersetzt von H. Trabaud.» Reden und Aufsätze. Zweiter Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 247-264. «Titelblatt S. 247-248> Hvad vi hafva att lära och icke lära af den romerska kyrkan. Föredrag. Bemyndigat översättning af Henning Sjögren. Svenska kyrkoförbundets skriftserie 16. Uppsala (Askerberg) 1916. 29 S. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Anläßlich des 100. Geburtstages des Verfassers neu herausgegeben von D. Dr. Agnes von ZahnHarnack t und Dr. Axel von Harnack. Berlin (Walter de Gruyter) 1951, S. 66-79 2. Das Testament Leos XIII. — Das päpstliche Rundschreiben an die Fürsten und Völker des Erdkreises vom 20. Juni 1894 (1894)
1.
2.
3.
Reden und Aufsätze. Zweiter Band. Gieszen (J. Ricker'sche Verlagsb u c h h a n d l u n g - A l f r e d Töpelmann) 1904, S. 265-293. «Titelblatt S. 265-266> Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Hans Delbrück. Siebenundsiebzigster Band. Juli bis September 1894. Heft 2. Berlin (Hermann Walther), S. 321-342 Reden und Aufsätze. Zweiter Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 265-293. «Titelblatt S. 265-266» 3. Protestantismus und Katholizismus in Deutschland
1.
(1907)
Aus Wissenschaft und Leben. Erster Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Erster Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 225-250. «Titelblatt S. 225-226> 2a. Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Hans Delbrück. Einhundertsiebenundzwanzigster Band. Januar bis März 1907. Heft 2. Ber-
1612
Nachweis der Drucke
lin (Georg Stilke), S. 294-311. 2b. Protestantismus und Katholizismus in Deutschland. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 27. Januar 1907. Berlin (Georg Stilke) 1907. 31 S. 6. Jahrgang. 5. Heft. Februar 1909. M ü n c h e n / K e m p t e n (Kösel), S. 530-532
1 / III. Katholika
5. Pater Denifle, Pater Weiß und Luther (1909) — Die Grisars (1911)
1.
2.
1. 2.
2.
1.
Lutherbiographie
Pater Denifle, Pater Weiß und Luther. Aus Wissenschaft und Leben. Erster Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Erster Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 295-332. (Titelblatt S. 295-296) (Rezension in:> Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Hans Delbrück. Einhundertsechsunddreißigster Band. April bis Juni 1909. H e f t 1. Berlin (Georg Stilke), S. 28-55 Die Lutherbiographie Grisars. Aus Wissenschaft und Leben. Erster Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Erster Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 332-340 (Rezensionen unter dem Titel:> Grisar, Hartmann, S. J., Luther. (3 Bände) I. Band: Luthers Werden. Grundlegung der Spaltung bis 1530. Freiburg i. B., Herder 1911, (XXXV, 656 S.) Lex. - 8° Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Oberlehrer Hermann Schuster. 36. Jahrg. Nr. 10. 13. Mai 1911. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung), Sp. 301-305 Grisar, Hartmann, S. J., Luther. (3 Bände) II. Band: Auf der Höhe des Lebens, 1. u. 2. Aufl. 1 . - 6 . Tausend. (XVII, 819 S.), Lex. 8° Freiburg i. B„ Herder 1911 Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Oberlehrer Hermann Schuster. 36. Jahrg. Nr. 24. 25. November 1911. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung), Sp. 751-752. Neue Freie Presse. Morgenblatt Nr. 16501. Sonntag, den 31. Juli 1910. Wien (Verlag der Neuen Freien Presse) Anhang. Konfession und Politik. Aus Wissenschaft und Leben. Erster Band. Reden und Aufsätze. Neue
1614
2.
Nachweis der Drucke
Folge. Erster Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 287-293 Konfession und Politik Deutsche Wacht. Wochenschrift der Deutschen Vereinigung. 4. Jahrgang. N° 9. Bonn, 26. Februar 1911, S. 99-101. Eine Betrachtung Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift. Nr. 12. Friedrich Naumann. 18. Dezember 1902. Berlin (Verlag der „Hilfe"), S. 359-360. Eine kurze Betrachtung Aus Wissenschaft u n d Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 307-309 3. Naumanns
1.
2.
Briefe über Religion.
Aus Wissenschaft und Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 73-80. «Titelblatt S. 73-74> «Rezension unter dem Titel:> N a u m a n n , F., Briefe über Religion, 1903 Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur. Herausgegeben von Dr. Th. Barth. Nr. 51. Berlin, den 19. September 1903. 20. Jahrgang. (Georg Reimer), S. 810-811 4. Alte Bekannte
1.
2.
2.
3.
1.
(1903)
Aus Wissenschaft und Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 277-285. (Titelblatt 277-278> Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. «Herausgegeben von Martin Rade.> Siebzehnter Jahrgang. N r . 2 1 . 2 1 . Mai 1903. Marburg i. H . (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 493-495 5. Die Höhepunkte
1.
(1903)
in Augustins Konfessionen
(1912/1913/1916)
Die Einleitung zu Augustins Konfessionen. Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Dritter Band. Giessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 67-76. «Titelblatt S. 67-68> «Unter dem Titel:> Die Einleitung zu Augustins Konfessionen. Eine Theorie der Religion und der christlichen Religion Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. «Herausgegeben von Martin Rade.> Sechsundzwanzigster Jahrgang. N r . 44. 1. November 1912. Marburg i. H . (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 1052-1055 «Japanisch:) Augustein-no-zange-roku-no-shohö Augustein-nozange-roku. Tokyo (Iwanami-shoten) 1929 Der erste Höhepunkt im Drama der inneren Entwicklung Augustins. Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Fol-
1 / V. Religion und Frömmigkeit
2.
3.
1. 2.
3.
1. 2. 3.
ge. Dritter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 76-86 Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Siebenundzwanzigster Jahrgang. Nr. 3. 16. Januar 1913. Marburg i. H. (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 50-55 Augustein-no-zange-roku-no-shohö Augustein-nozange-roku. Tokyo (Iwanami-shoten) 1929 Der zweite Höhepunkt im Drama der inneren Entwicklung Augustins. Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Dritter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 86-95 Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. (Herausgegeben von Martin Rade.> Siebenundzwanzigster Jahrgang. Nr. 8. 20. Februar 1913. Marburg i. H. (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 170-174 Augustein-no-zange-roku-no-shohö Augustein-nozange-roku. Tokyo (Iwanami-shoten) 1929 Die letzte „Schauung" Augustins. Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Dritter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 95-99
2. Die Aufgabe der theologischen Facultäten und die allgemeine Religionsgeschichte. Rede zur Gedächtnissfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III in der Aula derselben am 3. August 1901. Berlin (Gustav Schade) 1901. 20 S. 3a. Die Aufgabe der theologischen Facultäten und die allgemeine Religionsgeschichte. Rektoratsrede. Gehalten am 3. 8. 1901. Fünfzehnter Jahrgang. Nr. 47.21 .November 1901. Marburg i.H. (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 11041107.
1622 3.
Nachweis der Drucke
Reden und Aufsätze. Zweiter Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 179-187 3. Religiöser
1. 2. 3.
2.
2.
Fakultät der Universität
Berlin
(1910)
Aus Wissenschaft und Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Giessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 153-164 Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. (Herausgegeben von Martin Rade.) Vierundzwanzigster Jahrgang. Nr. 40. 6. Oktober 1910. Marburg i.H. (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 949-953
5. Ansprachen 1.
(1908)
Aus Wissenschaft und Leben. Erster Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Erster Band. Giessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 267-276.
Neue Freie Presse. Morgenblatt Nr. 15732. Sonntag, den 7. Juni 1908. Wien (Verlag der Neuen Freien Presse) (Schwedisch:> Religiös tro och fri forskning Religiös tro och fri forskning jämte andra uppsatser. Bemyndigat översättning av August Carr. Stockholm (Wahlström & Widstrand) 1913, S. 7-16 4. Die Theologische
1.
Glaube und freie Forschung
in der Festsitzung des Kirchenhistorischen Seminars Feier des sechzigsten Geburtstages (1911)
zur
Aus der Werkstatt des Vollendeten. Als Abschluß seiner Reden und Aufsätze herausgegeben von Axel von Harnack. Mit zwei Bildnissen. Giessen (Alfred Töpelmann) 1930, S. 7-15. Beilage der „Täglichen Rundschau" vom 30. Dezember 1905. 25 Jahre „Tägliche Rundschau".
1 / VII. Zur Theorie der Geschichte
4. Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher (1917)
1627
Erkenntnis.
1.
Erforschtes und Erlebtes. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Vierter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1923, S. 3-23 2a. Die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis. Vortrag gehalten in der Kgl. Residenz in München aus Anlaß der 11. Jahresversammlung des Deutschen Museums am 6. Februar 1917. Deutsches Museum. Vorträge und Berichte. Heft 17. München (Bruckmann) 1917. 16 S. 2b. Die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis. Vortrag. Gehalten in München 1917. München (R. Oldenbourg) 1917. 23 S.
5. Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? (1920)
2a. Die Verhandlungen des Dreizehnten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Dortmund vom 21. bis 23. Mai 1902. Nach dem stenographischen Protokoll. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1902,S. 12-29 1.
2 / II. Bildungspolitik
1635
2b. Baltische Monatsschrift. Herausgegeben von Arnold von Tideböhl. 44. Jahrgang. Band 54. 1902. Riga (Verlag der Baltischen Monatsschrift), S. 104-126 2c. Die sittliche Bedeutung des modernen Bildungsstrebens Evangelisches Schulblatt. August 1902. , S. 337-341. (Kurzfassung mit einleitender Bemerkung der Redaktion.) 3a. Reden und Aufsätze. Zweiter Band. 2. Auflage. Gieszen (Alfred Töpelmann) 1906, S. 77-106. «Titelblatt S. 77-78> 3b. The Moral and Social Significance of Modern Education Essays on the Social Gospel. By Adolf Harnack and Wilhelm Herrmann. Translated by G. Μ. Craik and Edited by Maurice A. Canney. Crown Theological Library Vol. XVIII. London (Williams & Norgate) New York (G. P. Putnam's Sons) 1907, S. 95-141. , Sp. 72-77. Ausführliche Fassung.)
4. Das Urchristentum und die sozialen Fragen (1908) — Anhang: Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung (1905) 1.
2.
Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Hans Delbrück. Einhunderteinunddreißigster Band. Januar bis März 1908. Heft 3. Berlin (Georg Stilke), S. 443-459
Anhang: Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung. 1. Aus Wissenschaft und Leben. Zweiter Band. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Zweiter Band. Giessen (Alfred Töpelmann) 1911, S. 274-276 2. Der Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung (in:> Evangelisch-Sozial. Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses. 14. Folge. (Im Auftrage des Aktionskommitees herausgegeben von Pfarrer Lie. W. Schneemelcher. Generalsekretär.) 25. März 1905. Nr. 3/4. Unserem hochverehrten Ehrenpräsidenten Herrn Geheimen Regierungsrat Prof. Dr. Adolf Wagner zu seinem 70. Geburtstage gewidmet vom Aktionskommitee des Evangelischsozialen Kongresses. (Berlin (Alexander Duncker)>, S. 48-49 3a. (Unter dem Titel:> Der Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung (in:> Aus Harnacks Arbeit im Evangelisch-Sozialen Kongreß. Zusammengestellt von Generalsekretär Pfarrer D. Herz in Leipzig
1642
Nachweis der Drucke
Evangelisch-Sozial. Vierteljahrschrift für die sozial-kirchliche Arbeit. 35. Folge. Supplement to The Christian World. Thursday, February 9, 1911. (Ohne Einleitung. Ubersetzt von J. H. Rushbrook.»
2 / IV. Zwischen Machtpolitik und Friedensethik
1645
2b. Peace the Fruit of the Spirit The Associated Councils of Churches in the British and German Empires for Fostering Friendly Relations Between the Two Peoples. Speeches Delivered at the Inaugural Meeting of the British Council at the Queen's Hall. London, Febr. 6 t h , 1911 by the Archbishop of Canterbury, Dr. Spiecker. London (Bowers) 1911 3. Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Fünfundzwanzigster Jahrgang. Nr. 32. 10. August 1911. Marburg (Verlag der Christlichen Welt [Martin Rade]), Sp. 757-759
3. Offner Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze.
(1912)
1.
Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Reden und Aufsätze. Neue Folge. Dritter Band. Glessen (Alfred Töpelmann) 1916, S. 279-283 2. As others see us. Berlin Crisis Through German Glasses The Daily News. 20,574. Saturday, February 17, 1912. London & Manchester (The Dailey News). Deutsche Allgemeine Zeitung. Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Morgenausgabe Nr. 545. 6. November 1919. Berlin (Verlag der Deutschen Allgemeinen Zeitung) (Unter dem Titel·) Harnack an Clemenceau (in:> Tägliche Rundschau. Unabhängige Zeitung für nationale Politik mit Unterhaltungsblatt für die Gebildeten aller Stände. Herausgeber: Heinrich Rippler, Berlin. Abendausgabe. Nummer 552. 39. Jahrgang. Berlin, Donnerstag, den 6. November 1919. (Mit einer einleitenden Bemerkung der Redaktion.) Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von Hans Delbrück. Einhundertundachtundsiebzigster Band. Oktober bis Dezember 1919. Heft 3. Berlin (Georg Stilke), S. 531-533. (Mit einer Vorbemerkung von Hans Delbrück.) Hans Wehberg. Wider den Aufruf der 93! Das Ergebnis einer Rund-
2 / V. Weg- und Zeitgenossen
1651
frage an die 93 Intellektuellen über die Kriegschuldfrage. BerlinCharlottenburg (Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte) 1920, S. 27-29 12. Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet. (1919) 1. 2. 3.
Der romfreie Katholik. Dritter Jahrgang. Nr. 43.22. Oktober 1914, S. 333-337. Missione e propagazione del cristianesimo nei primi tre secoli. Milano (Vallardi) 1914. XIV, 581 S. (Nachdruck der Ausgabe Torino 1906> 1915 An die Kulturwelt! Die Eiche. Vierteljahressschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen. Ein Organ für soziale und internationale Ethik. Herausgegeben von Friedr. Siegmund-Schultze. 3. Jahrgang. Nr. 2. April 1915. Berlin (Fr. Zillessen), S. 94-97 1932 Kirisutokyo-shingaku-oyobi-kydkai-kydri-no-seiritsu. Steffenhagen und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Bearbeitet von einem Göttinger Bibliothekar. Hainbergschriften. Arbeiten Göttinger Bibliothekare. Herausgegeben von Karl Julius Hartmann und Hans Füchsel. 8. Heft. Göttingen (Ludwig Häntzschel & Co.) 1940, S. 37
(Brief an Oskar von Gebhardt vom 6. August 1905> Steffenhagen und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Bearbeitet von einem Göttinger Bibliothekar. Hainbergschriften. Arbeiten Göttinger Bibliothekare. Herausgegeben von Karl Julius Hartmann und Hans Füchsel. 8. Heft. Göttingen (Ludwig Häntzschel & Co.) 1940, S. 38-39
Steffenhagen und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Bearbeitet von einem Göttinger Bibliothekar. Hainbergschriften. Arbeiten Göttinger Bibliothekare. Herausgegeben von Karl Julius Hartmann und Hans Füchsel. 8. Heft. Göttingen (Ludwig Häntzschel & Co.) 1940, S. 41
(Wortbeitrag in der Sitzung des Beirats der Königlich-Preußischen thek am 6. Juli 1908>
Biblio-
Steffenhagen und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Bearbeitet von einem Göttinger Bibliothekar. Hainbergschriften. Arbeiten Göttinger Bibliothekare. Herausgegeben von Karl Julius Hartmann und Hans Füchsel. 8. Heft. Göttingen (Ludwig Häntzschel & Co.) 1940, S. 58
(Zusatz zum Geleitwort des 1914 erschienenen loges der Königlich-Preußischen Bibliothek>
Gesamt-Zeitschriften-Kata-
Steffenhagen und Harnack. Eine bibliotheksgeschichtliche Parallele. Bearbeitet von einem Göttinger Bibliothekar. Hainbergschriften. Arbeiten Göttinger Bibliothekare. Herausgegeben von Karl Julius Hartmann
1658
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
und Hans Füchsel. 8. Heft. Göttingen (Ludwig Häntzschel & Co.) 1940, S. 70-71 1942
Theodor
Mommsen
Unsterblichkeit. Deutsche Denkreden aus zwei Jahrhunderten. Besorgt und eingeleitet von Gerhard Pohl. Berlin (Buchmeister) 1942, S. 251-161 1945
Storia del dogma. Bonwetsch, G. Nathanael. Grundrißder Dogmengeschichte. 2. Aufl. (IV, 219 S.) gr. 8°. Gütersloh, Bertelsmann 1919. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D.
1974
1663
Hermann Schuster. 45. Jahrgang. Nr. 17/18. 25. September 1920. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 202. Bousset, Wilhelm. Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus. Zweite umgearbeitete Auflage. (XX, 394 S.) gr. 8°. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1921. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Wilh. Heitmüller, Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. 47. Jahrgang. Nr. 7. 8. April 1922. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 145-147. «Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922> Cadoux, C. John, Μ. Α., D. D. (London), M. A. (Oxon.), The early Christian attitude to war. A contribution to the history of Christian ethics. With a foreword by the Rev. W. E. Orchard, D. D. (XXXII, 272 S.) London, Headley Bros. Publishers 1919. —, Τ he Guidance ofJesus for today, being an account of the teaching ofJesus from the standpoint of modern personal and social need. (178 S.). London, Allan & Unwill) 1920. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 46. Jahrg. Nr. 11/12. 25. Juni 1921. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 126. «Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1921 > Clemen, Prof. D. Dr. Carl: Religionsgeschichtliche Erklärung des Neuen Testaments. Die Abhängigkeit d. ältesten Christentums v. nichtjüdischen Religionen undphilos. Systemen. Zusammenfassend unters. 2., völlig neubearb. Aufl., 1. Hälfte. Gießen: A. Töpelmann 1924. (IV, 192S.)gr. 8°. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Wilh. Heitmüller, Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 49. Jahrg. Nr. 26. 27. Dezember 1924. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 555556. «Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1924> Connolly, Dom R. Hugh, Μ. Α.: The so-called Egyptian Church Order and derived Documents. (Texts and Studies Vol. VIII.) (XIV, 197 S.) 8°. Cambridge, University Press 1916.
1664
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 45. Jahrgang. Nr. 19/20. 30. Oktober 1920. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 225. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1920> Döllinger, Ignaz. Betrachtungen über das Wesen der deutschen Universitäten. Hrsg. von Prof. Dr. Wilhelm Lubosch. (VI, 72 S.) 8°. Würzburg, Kabitzsch & Mönnich 1920. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 46. Jahrg. Nr. 3/4. 26. Februar 1921. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 35. Feine, Prof. D. Dr. Paul: Die Gestalt des apostolischen Glaubensbekenntnisses in der Zeit des Neuen Testaments. Leipzig: Dörffling & Franke 1925. (152 S.) gr 8°. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Wilh. Heitmüller, Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 50. Jahrg. Nr. 17. 22. August 1925. Leipzig ( J C · Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 393-395.
(Rezension:> Ficker, Johannes: Luther als Professor. Rede. Halle a. S.: M. Niemeyer 1928. (50 S.) 8°. = Hallische Universitätsreden, 34. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Wilh. Heitmüller, Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 49. Jahrgang. Nr. 6. 22. März 1924. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 373.
Reitzenstein, R.: Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Vortrag, geh. in d. wiss. Predigerverein f . Els.-Lothr., den 11. Novem. 1909. 2. umgearb. Aufl. (VIII, 268 S.) 8°. Leipzig, B. G. Teubner 1920. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 46. Jahrg. Nr. 3/4. 26. Februar 1921. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 26-27. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1921 > Reitzenstein, R. : Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Vortrag, ursprüngl. geh. in dem wissenschaftl. Predigerverein f . Elsass-Lothringen, den 11. Nov. 1909. 3. erweit, u. umgearb. Aufl. Leipzig: B. G. Teubner 1927. (VIII, 438 S. m. 2 Taf.) gr 8°. 3. erweit, und umgearb. Aufl. Leipzig (Teubner) 1927 Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Hans Lietzmann, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt in Vierteljahrsheften, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 52. Jahrg. Nr. 16. 6. August 1927.
1974
1669
Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 364-365. Rüther, Dr. Theodor: Gott ruft die Seele. Auslese aus Clemens von Alexandrien. Paderborn: F. Schöningh 1923. (87 S.) 8°. = Dokumente der Religion IX. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Wilh. Heitmüller, Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 50. Jahrg. Nr. 3. 7. Februar 1925. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 55-56.
Schermann, Thdr. Die allgemeine Kirchenordnung, frühchristliche Liturgien und kirchliche Uberlieferung. 2. Tl. Frühchristliche Liturgien. (Studien z. Gesch. u. Kultur d. Altertums. 3. Erg.-Bd.) (Xu. S. 137-573.) gr. 8°. Paderborn, F. Schöningh 1915. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor Lie. Hermann Schuster. 42. Jahrg. Nr. 2. 20. Januar 1917. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 38-39. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1917> Schermann, Theodor: Frühchristliche Vorbereitungsgebete zur Taufe (papyr. Berol. 13415). Neubearbeitet v. Sch. (Münchener Beitr. z. Papyrusforschg. 3. Heft 3). (VI, 32 S.) 8°. München, C. H. Beck 1917. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. H e r m a n n Schuster. 43. Jahrg. Nr. 6/7. 30. März 1918. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 81. Schmidt, Carl: Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung. Ein katholisch-apostol. Sendschreiben des 2. Jahrh.. Nach e. kopt. Papyrus des Institut de la mission archeol. fr an ς. au Caire unter Mitarbeit v. Hrn. Pierre Lacau, derzeit. Gen.-Dir. der ägypt. Museen hrsg., übers, u. untersucht. Nebst drei Exkursen. Mit Lichtdr.-Faks. der Handschrift. Ubersetzung des äthiop. Textes von Dr. Isaak Wajnberg. ( Texte u. Untersuchungen z. Gesch. d. altchristl. Lit. 43. Bd.) (VII, 731 u. 83*S.)gr. 8°. Leipzig, J. C. Hinrichs. 1919.
1670
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 44. Jahrg. Nr. 21/22. 29. November 1919. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 2452 4 7 . (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1919> Sild, Olaf, Das altchristliche Martyrium in Berücksichtigung der rechtlichen Grundlage der Christenverfolgung. (184 S.) gr 8°. Dorpat, Buchdr. Ed. Bergmann 1920 (Durch J. C. Hinrichs Sort., Leipzig). Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D. Hermann Schuster. 46. Jahrg. Nr. 3/4. 26. Februar 1921. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 30-31.
White, M. A. Hugh G. Evelyn: The Sayings of Jesus. From Oxyrhynchus ed. with introduction, critical Apparatus and Commentary. (LXXVI, 48 S.) 8°. Cambridge, University Press 1920. (in:> Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor D.
1975
1671
Hermann Schuster. 46. Jahrg. Nr. 1/2. 29. Januar 1921. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 4-5. «Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1921> Wien, Wilhelm: Die neuere Entwicklung unserer Universitäten und ihre Stellung im deutschen Geistesleben. Rede f . den Festakt in der neuen Universität am 29. Juni 1914 zur Feier der hundertjähr. Zugehörigkeit Würzburgs zu Bayern. (31 S.) 8°. Leipzig, J. A. Barth, 1915. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor Lie. H e r m a n n Schuster. 41. Jahrg. Nr. 15. 22. Juli 1916. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 357-358. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig l9l6> Wilpert, Joseph. Die Römischen Mosaiken und Malereien der kirchlichen Bauten vom 4. bis 13. Jahrhundert. Unter den Auspizien u. m. allerhöchster Förderg. Sr. Maj. Kaiser Wilhelm II. 2 Bde. (1226 S. m. 542 Textbildern u. 2 Bde. m. 300färb. Tafeln.) gr. Fol. Freiburg i. B. Herder 1916. Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf Harnack. Fortgeführt von Professor D. Arthur Titius und Professor Lie. H e r m a n n Schuster. 42. Jahrg. Nr. 3. 3. Februar 1917. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 52-56. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1917> Zeitlin, Prof. Solomon: The Christ Passage in Josephus. London: Macmillan & Co. 1928. (S. 231-255). gr. 8°. = The Jewish Quaterly Review, New Series, Vol. XVIII. (in:> Theologische Literaturzeitung. Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack. Herausgegeben von Professor D. Emanuel Hirsch unter Mitwirkung von Prof. D. Dr. G. Hölscher, Prof. D. Hans Lietzmann, Prof. D. Arthur Titius, Prof. D. Dr. G. Wobbermin. Mit Bibliographischem Beiblatt in Vierteljahrsheften, bearbeitet von Priv.-Doz. Lie. theol. Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen. 53. Jahrg. Nr. 7. 31. März 1928. Leipzig (J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung). Amsterdam (Rodopi) 1974, Sp. 154. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1928>
1975 Gidoggyoeni Boujil. (Das Wesen des Christentums. Koreanisch> Yun Seong-Beom. Seoul (Samseong Munhwajaedau) 1975. 301 S.
1672
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnaclcs
Porphyrins, „Gegen die Christen" (κατά Χριστιανών) 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate. Zug (Inter Documentation) 1975. 4 Bögen, 9x12cm. 1977
Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen Anfänge der Dialektischen Theologie. Teil I. Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner. Herausgegeben von Jürgen Moltmann. Theologische Bücherei. Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert. Begründet von Ernst Wolf. Herausgegeben von Gerhard Sauter. Systematische Theologie. Band 17/1. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 63-76 Christmas. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 313-318 The Confessions of St. Augustin.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 233-249 The Constitution and Law of the Church in the First Two Centuries.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 227-231 The Formation of Christian Theology and of Church Dogma.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 166-169 The Two-fold Gospel in the New Testament. (Nachdruck der Ausgabe London 1911> Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at
1676
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 146-154 History of Dogma.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 250-268 What has History to Offer as a Certain Knowledge Concerning the Meaning of World Events. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 46-63 The Evangelical-social Mission in the Light of the History ofthe Church.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 270-289 Outlines of the History of Dogma. < Dogmengeschichte. Englisch>
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 108-126 Revelation and Theology: The Barth-Harnack-Correspondance. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 85-108 Stages of Scientific Knowledge. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 43-45 The Present State of Research in Early Church-History (Nachdruck der Ausgabe London 1886> Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at
1990
1677
its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. London (Collins) 1988, S. 182-194 1990
Dogmengeschichte Tübingen (Mohr) 1990. XV, 486 S.
Die Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten. Urchristentum und Katholizismus Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1990. X, 186 S. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1910>
Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen den Theologen
Theologie unter
Hans-Walter Krumwiede Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik. Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte herausgegeben von Heiko A. Oberman, Adolf Martin Ritter und Hans-Walter Krumwiede. Band 2. Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag) 1990, S. 151-153
Offener Brief an Herrn Professor K. Barth Hans-Walter Krumwiede Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik. Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte herausgegeben von Heiko A. Oberman, Adolf Martin Ritter und Hans-Walter Krumwiede. Band 2. Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag) 1990, S. 156-159
Nachwort zu meinem offenen Brief an Herrn Professor Karl Barth Hans-Walter Krumwiede Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik. Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte herausgegeben von Heiko A. Oberman, Adolf Martin Ritter und Hans-Walter Krumwiede. Band 2. Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag) 1990, S. 168-169
Lehrbuch der
Dogmengeschichte
Bd. 1. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas — Bd. 2. Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas (1.) — Bd. 3. Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas (2./3.). Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1990. XIX, 826 S. - X V I , 538 S. - X X , 959 S. (Nachdruck der 4. Auflage Tübingen 1909/1910>
1678
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. 1. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas — Bd. 2. Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas (1.) - Bd. 3. Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas (2./3.) Tübingen (Paul Mohr) 1990. XIX, 826 S. - X V I , 538 S. - XX, 959 S. Marcion. The Gospel of the Alien God. Translated by John Ε. Steely and Lyle D. Birma. Durham (Labyrinth Press) 1990. 181 S. (Übersetzung der 2. Auflage Leipzig 1924>
1991 The Apostel's Creed.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. T h e Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 300302. (Nachdruck der Ausgabe London 1988>
Dietrich Bonhoeffer. Barcelona, Berlin, Amerika. 1928-1931. Herausgegeben von Reinhart Staats und Hans Christoph von Hase. In Zusammenarbeit mit Holger Roggelin und Matthias Wünsche. München (Chr. Kaiser) 1991, S. 160-161 Christ as Saviour. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 304312. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> What is Christianity? (Auszugsweiser Nachdruck der Ausgabe London 1900> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 77-85, 126-146, 155-166, 169-182, 194-226, 289-298, 312-313. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> Christianity and History. (Nachdruck der Ausgabe London 1896> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at
1991
1679
its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 63-76. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> Christmas. Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 313318. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> The Confessions of St. Augustin. (Auszugsweiser Nachdruck der Ausgabe London 1901 > (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 233249. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> The Constitution and Law of the Church in the First Two Centuries. (Auszugsweiser Nachdruck der Ausgabe New York 1910> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 227231. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> Dogmengeschichte Tübingen (Mohr) 1991. XV, 486 S. (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1922> The Formation of Christian Theology and of Church Dogma. (Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas. Englisch> (Auszüge) (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 166169. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> The Two-fold Gospel in the New Testament. (Nachdruck der Ausgabe London 1911> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at
1680
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 146154. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> History of Dogma.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. T h e Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 250268. What has History to Offer as a Certain Knowledge Concerning the Meaning of World Events. < Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten? Englisch> Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 46-63. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> Die Lehre der zwölf Apostel nebst Untersuchungen zur ältesten Geschichte der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts. Anh.: Ein übersehenes Fragment der Didache in alter lateinischer Übersetzung. Mitgetheilt von Oscar v. Gebhard Berlin (Akademieverlag) 1991. 736 S. (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1883> The Evangelical-social Mission in the Light of the History of the Church.
(Nachdruck aus Essays on the Social Gospel. London 1907> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. T h e Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 270289. (Nachdruck der Ausgabe London 1988> Outlines of the History of Dogma. (Auszugsweiser Nachdruck der Ausgabe New York 1893> (in:> Martin Rumscheidt (Hrsg.> Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. T h e Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 108126. (Nachdruck der Ausgabe London 1988>
1992-1993
Revelation and Theology: The Barth-Harnack-Correspondance. sel mit Karl Barth. Englisch>
1681
Stages of Scientific Knowledge. Englisch>
(Stufen der wissenschaftlichen
Erkenntnis.
Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 43-45. «Nachdruck der Ausgabe London 1988>
The Present State of Research in Early Church-History «Nachdruck der Ausgabe London 1886> Martin Rumscheidt Adolf von Harnack. Liberal Theology at its Height. The Making of Modern Theology. Selected Writings. General Editor John de Gruchy. Minneapolis (Fortress Press) 1991, S. 182194. «Nachdruck der Ausgabe London 1988>
Die Uberlieferung der griechischen Apologeten des zweiten Jahrhunderts der alten Kirche und im Mittelalter
in
Berlin (Akademieverlag) 1991. 748 S. «Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1882>
1992
L 'Essenza del christianesimo.
Editoriali di Gianfranco Bonola e di Pier Cesare Bori. Traduzione dal tedesco di Gianfranco Bonola. Brescia (Queriniana) 1992. 288 S. «Neuauflage der Ausgabe Brescia 1980> 1993
«in:» An die Freunde (1903-1934). Vertrauliche d. i. nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Mitteilungen. Verantwortlicher Herausgeber Prof. D. Rade. Nachdruck mit einer Einleitung von Christoph Schwöbel. Berlin/ New York (Walter de Gruyter) 1993, S. 225-228
1682
Ergänzungen zur Personalbibliographie Harnacks
Histoire des dogmes. Traduit de l'allemand par Eugene Choisy. Postface par Kurt Nowak. Patrimoines christianisme. Paris (Cerf) 1993. XXXVI, 495 S. k o r r i g i e r te Neuauflage der Ausgabe Paris 1893> 1994 Christus praesens — Vicarius Christi. Eine kirchengeschichtliche Skizze
Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699-1927. Herausgegeben von Bernd Moeller. Bibliothek der Geschichte und Politik. Herausgegeben von Reinhart Koselleck. Band 22. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994, S. 646-689. Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699-1927. Herausgegeben von Bernd Moeller. Bibliothek der Geschichte und Politik. Herausgegeben von Reinhart Koselleck. Band 22. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994, S. 714-717. Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699-1927. Herausgegeben von Bernd Moeller. Bibliothek der Geschichte und Politik. Herausgegeben von Reinhart Koselleck. Band 22. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994, S. 690-707 Das Wesen des Christentums
Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699-1927. Herausgegeben von Bernd Moeller. Bibliothek der Geschichte und Politik. Herausgegeben von Reinhart Koselleck. Band 22. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994, S. 602-644 Lehrbuch der Dogmengeschichte (Auszüge aus der 4. Auflage. Bd. 1. Tübingen 1909 und Bd. 3. Tübingen 1910: Prologomena § 1. Begriff und Aufgabe der Dogmengeschichte; Zweiter Teil. Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas. Zweites Buch. Viertes Kapitel. Abschnitt 3. Der pelagianische Kampf. Die Lehre von der Gnade und Sünde>
1994ff
1683
Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699-1927. Herausgegeben von Bernd Moeller. Bibliothek der Geschichte und Politik. Herausgegeben von Reinhart Koselleck. Band 22. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994, S. 551-601 Angekündigt L'Essence du christianisme.