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German Pages [216] Year 2013
Adolf Schlatter Einführung in die Theologie
Adolf Schlatter
Einführung in die Theologie Im Auftrag der Adolf-Schlatter-Stiftung herausgegeben von Werner Neuer
Calwer Verlag Stuttgart
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Adolf-Schlatter-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4531–3 ISBN 978–3–7668–4274–9 © 2013 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Beltz Bad Langensalza GmbH Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlesung »Einführung in die Theologie« – ein theologisches Vermächtnis Adolf Schlatters . . . . . . . . . . 2. Die Vorgeschichte der Edition von Schlatters »Einführung in die Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« als biographisches und theologiegeschichtliches Dokument . . . 4. Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« als Denkanstoß für Theologie und Kirche heute . . . . . . . . . 5. Hinweise für die Leser von Schlatters »Einführung in die Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Hinweise zur Edition von Schlatters »Einführung in die Theologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 9 13 17 21 28 30
EINFÜHRUNG IN DIE THEOLOGIE Vorlesung im Sommersemester 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I.
Das Ziel der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
§ 1 § 2 § 3 § 4 § 5
Amt und Theologiestudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wissenschaftlichkeit der Theologie . . . . . . . . . . . . . . Der Glaube und die wissenschaftliche Arbeit . . . . . . . . . . Denken und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Forschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . –5–
39 44 51 61 64
II. Die Lehrmittel der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 § 6 Die Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 § 7 Die Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 § 8 Der religiöse Anschauungsstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 § 9 Das Arbeitsfeld: die vier theologischen Disziplinen . . . . . 87 § 10 Benachbarte Arbeitsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 § 11 Die beiden Testamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 § 12 Die Deutung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 § 13 Die zusammenfassenden biblischen Disziplinen . . . . . . . 112 § 14 Die Hilfswissenschaften für neutestamentliche und alttestamentliche Schriftbearbeitung . . . . . . . . . . . . 120 III. Der Gegenstand der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 129 § 15 Das Studium der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 § 16 Die drei wichtigsten Themen des kirchengeschichtlichen Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 § 17 Die Dogmengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 § 18 Die Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 § 19 Hilfswissenschaften zur Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . 157 § 20 Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 § 21 Die Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 § 22 Die christliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 § 23 Die praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 ERFOLG UND MISSERFOLG IM THEOLOGISCHEN STUDIUM Eine Rede an die evangelisch-theologische Fachschaft in Tübingen (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 –6–
Vorwort Gerade noch rechtzeitig zum 75. Todestag Adolf Schlatters – und erstmals seit der Publikation von Schlatters »Metaphysik« (1987) – erscheint mit der Vorlesung »Einführung in die Theologie« ein bislang unveröffentlichtes Werk des großen Tübinger Theologen. Wie aus der Einführung hervorgeht (s. u. S. 9), gab es zwar einige Schwierigkeiten und Bedenken zu überwinden, bevor das Projekt schließlich publikationsreife Gestalt angenommen hatte, aber dank der Unterstützung und Mithilfe einiger Institutionen und Personen war es möglich, den schon vor Jahrzehnten – zunächst vage – ins Auge gefassten Plan zu verwirklichen, eine Publikation dieser Vorlesung zu realisieren. Entscheidend war der Entschluss der AdolfSchlatter-Stiftung, das Werk noch in diesem Jahr anlässlich des 75. Todestages Adolf Schlatters als Buch herauszugeben. Der Stiftung, insbesondere ihrem Vorsitzenden Dr. Gerhard Schlatter, aber auch dem Calwer Verlag möchte ich an dieser Stelle von Herzen danken für alle Unterstützung und Ermutigung! Herzlich Dank sagen möchte ich auch drei Personen, die aufgrund ihrer eigenen Schlatterstudien bereit und fähig waren, mir durch ihre kritische Lektüre Hinweise zur Korrektur oder Verbesserung des Manuskriptes zu geben: Mein Vorgänger als Dozent für Systematische Theologie am Theologischen Seminar St. Chrischona Pfarrer Dr. Helmut Burkhardt (Grenzach-Wyhlen), Pfarrer Marco Jaeschke (Muhen/AG) und mein Kollege Dr. Andreas Loos (St. Chrischona). Eine zusätzliche Freude war mir, dass sich auch Vertreter der jungen Generation von Theologiestudenten am Projekt beteiligten: Ganz besonders gilt dies für Daniel Gleich (St. Chrischona), der sich der Mühe unterzog, vom originalen tran–7–
skribierten Vorlesungstext, der sich in einem recht mangelhaften Zustand befand, eine saubere digitale Fassung herzustellen. Aber auch Daniel Zehnder war gerne bereit, sich am Korrekturlesen zu beteiligen. Besonders danke ich Gott für alles Gelingen und verbinde die Veröffentlichung dieser bislang unbekannten Vorlesung Adolf Schlatters mit der herzlichen Bitte, dass ER die Leser und durch sie Seine Kirche reichlich segnen möge! In der Pfingstwoche 2013
Werner Neuer
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Einführung 1. Die Vorlesung »Einführung in die Theologie« – ein theologisches Vermächtnis Adolf Schlatters Im Sommersemester 1924 hielt Adolf Schlatter in Tübingen als über 70jähriger Professor für Neues Testament zum letzten Mal seine Vorlesung »Einführung in die Theologie«. Fünfmal hatte er das Kolleg bereits gehalten. Nun wollte er diese allgemeine, das Ganze der Theologie betreffende Vorlesung noch einmal den Studenten präsentieren, um sich dann in der letzten Phase seines Lebens auf sein Spezialgebiet Neues Testament zu konzentrieren. Schon zuvor hatte er begonnen, den weiten Radius seiner wissenschaftlichen Studien mehr und mehr auf seine neutestamentliche und judaistische »Kernkompetenz« zu beschränken.1 Schlatter hielt die Vorlesung »Einführung in die Theologie« zwei Jahre nach seiner Emeritierung (im August 1922), also zu einer Zeit, in der sich die meisten Professoren längst in den »Ruhestand« zurückzogen haben. Auch er hatte zunächst erwogen, sich zurückzuziehen, dann aber entschieden, seine Lehrtätigkeit mit durchschnittlich sechs Wochenstunden pro Semester fast unvermindert fortzusetzen! Auf diese Weise wurden ausgerechnet die Jahre nach der Emeritierung für ihn selbst unerwartet zu einem Höhepunkt seiner gesamten akademischen Lehrtätigkeit! Das 1924 zum letzten Mal gehaltene Kolleg »Einführung in die Theologie« war also kein »Anhängsel« an eine bereits abge1 Vgl. dazu W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996, 600ff.
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schlossene Vorlesungszeit, sondern Bestandteil einer noch immer höchst regen Lehrtätigkeit, die auch nach wie vor – für ihn selbst erstaunlich – von einer großen Anzahl von Studenten in Anspruch genommen wurde: Immer wieder mussten seine Vorlesungen in den bis auf den letzten Platz gefüllten Festsaal der Universität verlegt werden, da die zur Verfügung stehenden Hörsäle den Ansturm von Studenten nicht fassen konnten. Seine Seminare zählten nicht selten um die hundert Teilnehmer, im Sommersemester 1924 waren es sogar circa 200! Schlatter nahm »dankbar wahr, dass die Kraft noch weiter reicht(e), als ich meinte.«2 Gerade auch, weil ihm die Ermüdung des Alters stärker zu schaffen machte, als es nach außen schien, teilte er im Sommersemester 1924 seiner Tochter Ruth staunend mit, dass ihm »die akademische Arbeit« noch einmal »so reichlich« beschert wurde, »wie es auf deutschem Boden vermutlich nur wenigen Kollegen beschieden ist …«3 Wir können die starke Faszination, die von Schlatters Vorlesungen ausging, heute vielleicht nicht mehr ganz nachvollziehen, da uns – und auch dies nur von einem kleinen Teil seiner Vorlesungen – allenfalls deren Inhalte und nur mit Einschränkung deren Wortlaut vorliegt4, aber der dazu gehörige optische und akustische Eindruck fehlt. Den Schilderungen von Hörern zufolge erlebten die Studenten den eher an einen Schweizer Bergbauern als an einen Gelehrten erinnernden »Alten« schon rein äußerlich als »Original
2 Schlatter an Tochter Ruth, 18.5.1925 [AS-Archiv (LKA Stuttgart) Nr. 459]. 3 Schlatter an Tochter Ruth, 19.5.1924 [AS-Archiv (LKA Stuttgart) Nr. 459]. 4 Folgende Vorlesungen Schlatters liegen gedruckt vor: – Die philosophische Arbeit seit Cartesius. Ihr ethischer und religiöser Ertrag, in: BFChTh 10 (1906) H. 4/5. – Die Geschichte der ersten Christenheit, Beiträge 2. R. 11, Güters loh 1926; Stuttgart 61983. – Jesus und Paulus, Stuttgart 31961.
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bis in die Schnürsenkel«:5 »Der reichlich ungepflegte Bart und die wilde Stirnlocke mach(t)en einen geradezu gewalttätigen Eindruck. Dabei war der Mann von zierlicher Gestalt. Kleine zarte Hände waren beständig in Bewegung.«6 Schlatter pflegte seine Vorlesungen frei zu halten, »oft hin und her pendelnd, manchmal beinahe umkippend, an die vorne sitzenden Hörer zeitweise gewendet als die Partner des Lerngeschäfts, ohne Benützung des Manuskripts und des Grundtextes, den er im Kopf hatte u. aus dem Gedächtnis zitierte.«7 Hinter den geschilderten äußerlichen Besonderheiten von Schlatters Auftreten stand allerdings die nicht minder auffällige Persönlichkeit eines theologischen Lehrers, der den Studenten in bemerkenswerter Weise persönlich und dialogisch zugewandt war: Der Theologiestudent (und spätere Evangelist) Wilhelm Busch fasst seinen Eindruck von Schlatters Zuwendung zur Hörerschaft in die Worte: »Was uns in den Bann schlug, war sein Blick. Er sah uns bei seinen Vorlesungen an. Und jeder hatte das Gefühl: Er spricht mit mir.«8 Liest man die in großer Zahl vorliegenden studentischen Berichte, gewinnt man den Eindruck: Für die Studenten war Schlatter nicht nur ein respektierter Wissenschaftler, sondern zugleich ein Zeuge Gottes, der für sie in seiner gesamten Existenz eine ungezwungene Einheit von Glaube und Wissenschaft, von Bekennen und Erkennen verkörperte. Der spätere Neutestamentler Karl Heinrich Rengstorf hat diese Dimension von Schlatters Lehrtätigkeit einmal in die Worte gefasst: »Zu dem, was an Adolf Schlatter für alle, die ihm nähertreten durften, unvergesslich bleibt, gehört, dass sich immer und immer wieder sein Hörsaal zu einem gottesdienstlichen Raum wandelte, ohne dass es dazu von seiner Seite irgend5 Erinnerungen von Margrit Haenchen [AS-Archiv (LKA Stuttgart) Nr. 647]. 6 W. Busch, Professor Adolf Schlatter und wie ich ein »dummer Junge« wurde, 190, in: LuL 77 (1966/12) 189–191. 7 Erinnerungen von Theodor Kiefner [AS-Archiv (LKA Stuttgart) Nr. 648]. 8 W. Busch, aaO (s. o. Anm. 6) 190.
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welcher liturgischen oder pseudoliturgischen Akte bedurfte …«9 Viele Hörer bezeugten, dass Schlatters Vorlesungen nicht nur theologische Lehre, sondern darüber hinaus in ungewöhnlicher Weise die Freude des Glaubens vermittelten und so Glauben weckten und stärkten. Nach der Schilderung eines Studenten war der »Eindruck des an Gestalt kleinen Mannes mit … seinen blitzenden von innerer Freude durchleuchteten Augen … kaum in Worte zu fassen. An ihm und von ihm lernten wir, dass christlicher Glaube im Herzen des Menschen Freude schafft.«10 Dem Faszinosum von Schlatters Vorlesungen konnte sich nicht einmal der Philosoph Martin Heidegger entziehen, der einmal – bereits als Philosophieprofessor – eine Schlatter-Vorlesung besuchte und danach bewundernd feststellte: »Das ist Theologie!«11 Die geschilderten Hintergründe muss man berücksichtigen, wenn man ein volles Verständnis von Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« gewinnen will, weil dadurch gewisse formale (oder auch inhaltliche!) Schwächen dieser Vorlesung in den Hintergrund treten, die beim bloßen Lesen und im Abstand von 90 Jahren ins Auge fallen. Fragt man nach den Besonderheiten von Schlatters »Einführung in die Theologie«, so lässt sich ein Zweifaches sagen: 1) Das Besondere dieser im Sommersemester 1924 gehaltenen Vorlesung besteht zunächst einmal biographisch darin, dass Schlatter seine systematisch-theologische, d. h. das Gesamte der theologischen Wissenschaft thematisierende öffentliche Lehrtätigkeit beendete, da er in den kommenden Jahren in seinen Vorlesungen nur noch exegetische und historische Themen behandelte. In gewisser Weise hat er mit dieser Vorlesung ein theologisches »Vermächtnis« hinterlassen, das nun – durch diese Edition – 9 K.H. Rengstorf 268, in: Nachwort zu: Schlatter, A., Rückblick auf meine Lebensarbeit, Stuttgart 21977, 263–270. 10 Erinnerungen von Walter Grundmann 20 [AS-Archiv (LKA Stuttgart) Nr. 689]. 11 Vgl. dazu Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 607.
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nicht nur den damaligen Hörern, sondern der Theologie überhaupt erstmals zugänglich wird. Es wäre gewiss überzogen, hier von »dem Vermächtnis« Schlatters zu sprechen, denn sonst hätte man erwarten müssen, dass Schlatter selbst diese Vorlesung als Buch herausgegeben hätte. Es handelt sich vielmehr um ein Vermächtnis, das neben anderen Vermächtnissen (etwa die Publikation von neun großen wissenschaftlichen Kommentaren in den Jahren 1929–1937) steht,12 aber eben auch als ein solches bezeichnet werden darf. 2) Abgesehen vom biographischen Aspekt besteht die Bedeutung dieser Vorlesung darin, dass sie die einzige ausführlichere Stellungnahme Schlatters zum Ganzen der Theologie als einer wissenschaftlichen Disziplin darstellt. Er hat diese Vorlesung zwar insgesamt sechsmal gehalten, aber nie veröffentlicht. Durch die Edition der Vorlesung wird nun dieser bislang teils unbekannte, teils wenig bekannte Aspekt seines Denkens und Lehrens einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit wird eine Lücke geschlossen, was man aus der Sicht der SchlatterForschung und der Theologie insgesamt nur begrüßen kann.
2. Die Vorgeschichte der Edition von Schlatters »Einführung in die Theologie« Dass es im Abstand von ca. 90 Jahren noch zu einer Veröffentlichung von Schlatters Vorlesung gekommen ist, ist maßgeblich einem seiner damaligen Hörer zu verdanken: dem badischen Theologiestudenten, späteren Theologieprofessor und Lutherforscher Erwin Mülhaupt, der die Vorlesung aufmerksam mitstenografiert 12 Schlatter schrieb neun große wissenschaftliche Kommentare zu allen vier Evangelien, zum Römerbrief, zu den Korintherbriefen, den Pastoralbriefen, zum 1. Petrusbrief und zum Jakobusbrief.
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und damit die Basis für eine eventuelle Veröffentlichung gelegt hatte, da das Originalmanuskript von Schlatters Vorlesung leider nicht (mehr) vorhanden ist. Der Schlatter-Forschung war lange Zeit unbekannt geblieben, dass Mülhaupts Mitschrift überhaupt exis tierte. Erst Jahrzehnte nach Schlatters Tod stellte Mülhaupt seine stenographische Mitschrift dem Schlatter-Archiv zur Verfügung, das damals noch von Pfarrer Ernst Bock im Auftrag des württembergischen Oberkirchenrates aufgebaut wurde.13 Als Leiter der damaligen Forschungsstelle der Adolf-Schlatter-Stiftung stieß ich auf das Manuskript, dessen Stenographie ich allerdings nicht entziffern konnte. Zum Glück befanden sich an den Seitenrändern zusammenfassende Bemerkungen von Mülhaupt in lateinischer (und damit für mich lesbarer) Schrift, so dass ich wenigstens einen ersten Eindruck von dem interessanten Inhalt der Vorlesung gewinnen konnte. Erfreulicherweise war Erwin Mülhaupt bereit, auf Bitte der Adolf-Schlatter-Stiftung im Oktober 1984 eine Transkription seiner Mitschrift anzufertigen. Darüber hinaus hatte ich damals auch die Gelegenheit, unklare Stellen seines Manuskriptes in einem mehrstündigen Gespräch mit ihm zu klären. Mein Eindruck entsprach damals dem von Prof. Mülhaupt: Wenn möglich, sollte die Vorlesung trotz ihres Alters und mancher schwieriger Stellen veröffentlicht werden! Die Adolf-Schlatter-Stiftung konnte sich damals jedoch nicht zu einer Edition entschließen, so dass das Projekt lange Zeit nicht weiterverfolgt wurde. Im vergangenen Jahr schlug ich der Schlatter-Stiftung vor, eine Veröffentlichung der Vorlesung angesichts des im Jahr 2013 bevorstehenden 75. Todestages von Schlatter zu planen. Bei der erneuten Durchsicht des Textes zeigte sich allerdings, dass eine ganze Reihe von Stellen für Leser, die Schlatters oft eigenwillige und ungewohnte stilistische und inhaltliche Diktion nicht kennen, nur schwer oder in einigen Fällen überhaupt nicht zu verstehen sind. Angesichts dessen stellte sich durchaus noch einmal die Frage, ob eine Edition 13 Vgl. dazu E. Bock, Das Adolf-Schlatter-Archiv, BWKG 89 (1989) 246–308.
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überhaupt sinnvoll ist. Erschwerend kam hinzu, dass Schlatter im mündlichen Vortrag dazu neigte, Sachverhalte oft nur knapp und andeutend anzusprechen, anstatt sie ausführlich und differenziert darzulegen. Die stenographische Mitschrift verstärkt diese Tendenz zur Verkürzung, zumal es sich bei Erwin Mülhaupt nicht um einen professionellen Stenographen handelte. Er verfügte allerdings offenbar über gute stenographische Fertigkeiten, da Schlatter ein von Mülhaupt mitstenographiertes Vorlesungsmanuskript für die spätere Drucklegung der Vorlesung erbat.14 Dies lässt auf eine Wertschätzung von Mülhaupts stenographischen Fähigkeiten schließen. Trotzdem muss damit gerechnet werden, dass mancher halbe oder ganze Satz von Schlatters Vorlesung in der Transkription nicht wiedergegeben wird, was natürlich das Verständnis des Textes für den heutigen Leser nicht gerade erleichtert. Abgesehen von den genannten Schwierigkeiten war das his torisch bedingte Problem zu bedenken, dass die inzwischen auf beinahe 100 Jahre angewachsene zeitliche Distanz zur geistigen Ursprungssituation der Vorlesung die heutige Rezeption von Schlatters Gedanken weiter erschwert. Beispielsweise sind viele der von Schlatter genannten Theologen und Philosophen nicht mehr in der aktuellen Diskussion, so dass deren Kenntnis beim heutigen Leser (im Unterschied zu den damaligen Hörern) nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten war klar, dass sich eine eventuelle Edition der Vorlesung nicht darauf beschränken durfte, den Wortlaut des Textes kommentarlos wiederzugeben und einfach als »Fremdkörper« in den Raum heutiger Theologie und Kirche hineinzustellen. Um den Text nicht nur für einen kleinen Kreis von Schlatterkennern, sondern auch für Pfarrer, Prediger, Theologiestudenten und interessierte Laien verstehbar zu machen, war vielmehr ein Zweifaches erforderlich. 14 Es handelt sich um Schlatters Buch »Die Geschichte der ersten Chris tenheit«, Gütersloh 1926 (= Stuttgart 61983). Mündliche Mitteilung von Prof. Dr. Erwin Mülhaupt.
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a) Durch eine Einführung und durch Anmerkungen zur Vorlesung sollten dem heutigen Leser sachliche Erklärungen und Interpretationshilfen gegeben werden. b) Der Text selbst sollte – wo nötig – durch korrigierende oder auch ergänzende Zusätze verständlicher und lesbarer präsentiert werden, die mittels eckiger Klammern ([]) kenntlich gemacht werden (s. u. 6. Hinweise zur Edition des Textes). Ich hoffe, dass diese Bemühung um einen sowohl authentischen als auch verständlichen und lesbaren Vorlesungstext einigermaßen gelungen ist. Was hat nun den Ausschlag gegeben, trotz der genannten Schwierigkeiten eine Edition von Schlatters Vorlesung in die Wege zu leiten? Die Antwort ist einfach: Bei der Vorbereitung der geplanten Edition verdichtete sich – trotz der genannten Bedenken – der Eindruck, dass es ein Verlust wäre, die Vorlesung der interessierten Öffentlichkeit vorzuenthalten und sie in einem nur Forschern zugänglichen Archivstatus zu belassen. Dieser Eindruck wurde durch den größten Teil der Vorlesung bestätigt, der auch ohne sprachliche Verstehenshilfen oder sachliche Erklärungen hinreichend verständlich und teilweise sogar ausgesprochen gut formuliert ist. Noch viel wichtiger und letztlich entscheidend aber war die Tatsache, dass der theologische Inhalt der Vorlesung auch nach 90 Jahren in vieler Hinsicht hilfreich und wegweisend ist, mindestens aber einen Diskussionsbeitrag darstellt, der auch heute noch ernsthafte Beachtung verdient. Anders ausgedrückt: Trotz der Stellen, die zweifellos überholt sind15, weil die gesellschaftliche und kirchliche Entwicklung und nicht zuletzt die theologische, philosophische und historische Forschung weitergegangen sind, hat Schlatters Vorlesung noch immer ein beachtliches Potential, auch der gegenwärtigen Theologie und Kirche fruchtbare Denkanstöße zu geben (s. u. 4.)! Diese Tatsache ist eine hinreichende Begründung für die Publikation der Vorlesung und wird nicht zuletzt bestätigt durch das ausdrücklich positive Votum des »Vorlesungszeugen« und Tradenten Erwin Mülhaupt, dem wir den Erhalt 15 Dies gilt z. B. für seine teilweise allzu plakativen geistes- und theologiegeschichtlichen Skizzen und Verweise.
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der Vorlesung verdanken. Hinzu kommt die Tatsache, dass speziell die Schlatter-Forschung und überhaupt die kirchengeschichtliche Forschung dem nun publizierten Dokument in Zukunft manche wertvolle Information oder Erkenntnis entnehmen können (s. u. 3.). Der Leser möge sich daher nicht durch ihm schwierig erscheinende Stellen abschrecken lassen, sondern die Vorlesung mit jener lernbereiten Offenheit lesen, die aus historischen Texten übergeschichtliche Wahrheiten und fruchtbare Impulse für Gegenwart und Zukunft anzueignen vermag, auch wenn diese Texte in mancher Hinsicht »überholt« erscheinen oder auch sind. Für Schlatters Vorlesung jedenfalls gilt: Zukunftsweisend sind nicht in erster Linie die kirchengeschichtlich interessanten historischen und zeitgenössischen Informationen, die Schlatter weitergibt, sondern die Einsichten des inzwischen alt und »weise« gewordenen bedeutenden Theologen über die Grundlagen und Grenzen des theologischen Erkennens, Studieren und Forschens. In dieser Hinsicht enthält die Vorlesung unzweifelhaft nicht wenige Anregungen, die die gegenwärtige Theologie und Kirche befruchten könnten (s. u. 4).
3. Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« als biographisches und theologiegeschichtliches Dokument Das Besondere dieser Vorlesung ist für die Schlatter-Forschung die Tatsache, dass in keiner der bisherigen Publikationen Schlatters Verständnis der wissenschaftlichen Theologie als Ganzer so ausführlich thematisiert wird wir hier, so dass man die Vorlesung durchaus als ein »Vermächtnis« Schlatters bezeichnen kann. Was Schlatter hier und dort in einzelnen Aufsätzen (vor allem zur Methodologie und Hermeneutik)16 16 Vgl. dazu: A. Schlatter, Die Bibel verstehen. Aufsätze zur biblischen Hermeneutik, hg. v. W. Neuer, Gießen / Basel 2002.
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entfaltet hat, das versucht er in dieser Vorlesung in ein Gesamtbild zu überführen, von dem wir ohne diese Vorlesung keine Kenntnis hätten. Insofern schließt diese Edition eine wirkliche Lücke der SchlatterForschung. Die einzige Publikation, in der Schlatters Gesamtschau der wissenschaftlichen Theologie wenigstens als Miniatur aufscheint, ist seine Rede an die Tübinger Theologische Fachschaft, die er 1931 unter dem Titel »Erfolg und Mißerfolg im theologischen Studium« gehalten hat. Diese Rede des beinahe 80jährigen Schlatter anlässlich seines Abschiedes von der akademischen Lehrtätigkeit fand damals solche Beachtung, dass der Vortrag per Lautsprecher in zwei Hörsäle übertragen wurde. In dieser Rede fasste Schlatter einige Grundeinsichten zur Theologie im Allgemeinen und zum Erkennen, Lernen und Studieren im Besonderen zusammen, die sich z.T. auch in der Vorlesung finden. Deswegen schien es sinnvoll und sachgemäß, diese bereits zweimal veröffentlichte Rede der Publikation der Vorlesung anzufügen.17 Die Rede ist einerseits eine Bestätigung der grundlegenden Konzeption des Theologiestudiums bei Schlatter, wie sie auch in der Vorlesung skizziert wird. Andererseits aber gibt die Vorlesung eine Fülle von Konkretionen, die in der Rede an die Fachschaft schon aus zeitlichen Gründen nicht entfaltet werden konnten. Schlatters Vorlesung ist – bei allen Unterschieden in der inhaltlichen Konzeption – in mancher Hinsicht vergleichbar mit Karl Barths »Einführung in die evangelische Theologie.«18 Beide Vorle17 Die Rede wurde erstmals 1931 in Tübingen publiziert: Erfolg und Mißerfolg im theologischen Studium. Eine Rede an die evangelischtheologische Fachschaft in Tübingen, Tübingen 1931, 3–23 [A]. Dann wurde sie ein zweites Mal (B) in dem von U. Luck hg. und eingeführten Aufsatzband »Zur Theologie des Neuen Testaments und zur Dogmatik« (Kleine Schriften, München 1969) [B] veröffentlicht. Die Originalseitenzählung der beiden früheren Publikationen [A+B] sind in der Neuedition dieser Rede am Rande gekennzeichnet [A 3ff + B 256ff] so dass der Vergleich einzelner Stellen mit den früheren Fundorten problemlos möglich ist. 18 EVZ-Verlag Zürich 1962 (= TVZ 72010).
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sungen kann man als ein theologisches Vermächtnis dieser Theologen bezeichnen, insofern sie ein letztes Mal bemüht waren, vor allem die Einsichten weiterzugeben, die ihnen im Laufe eines langen Theologenlebens besonders wichtig geworden sind. Beide Vorlesungen sind daher geeignet, um einen summarischen Eindruck von den theologischen Konzeptionen der beiden großen Theologen zu bekommen. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass bei Barths Vorlesung der Autor im Gegensatz zu Schlatter noch bewusst die Gelegenheit nutzte, seine Einführungsvorlesung im Wortlaut festzulegen und dann als Buch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schlatter hat dies nicht getan, so dass wir daraus folgern müssen, dass ihm Anderes wichtiger war. Wenn seine Vorlesung nun doch publiziert wird, müssen wir bei ihm daher auf den Grad an Genauigkeit und Authentizität verzichten, der Barths Einführung kennzeichnet. Es ist deshalb bei Adolf Schlatter noch mehr als bei Karl Barth darauf hinzuweisen, die Vorlesung nicht als Ersatz, sondern allenfalls als Ergänzung zum umfangreichen, vom Verfasser selbst publizierten Werk zu benutzen. Bei beiden Theologen sollte die Sekundärliteratur nicht außer Acht gelassen werden, die bei Schlatter gerade in den letzten 30 Jahren auch international beachtliche Erträge erbracht hat.19 19 Im deutschen Sprachraum sind außer zahlreichen Arbeiten aus meiner Feder folgende Monographien hervorzuheben: J. Walldorf, Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999; H.-M. Rieger, Adolf Schlatters Rechtfertigungslehre und die Möglichkeit ökumenischer Verständigung, Stuttgart 2000; D. Rüegg, Der sich schenkende Christus. Adolf Schlatters Lehre von den Sakramenten, Gießen 2006; A. Loos, Divine action, Christ and the doctrine of God: the trinitarian grammar of Adolf Schlatters theology, Diss., St. Andrews 2006; C. Hägele, Die Schrift als Gnadenmittel. Adolf Schlatters Lehre von der Schrift in ihren Grundzügen, Stuttgart 2007 und das einführende Werk von H. Hempelmann / J. v. Lüpke / W. Neuer, Realistische Theologie. Eine Hinführung zu Adolf Schlatter, Gießen / Basel 2006. Zur Schlatterforschung in den USA vgl. W. Neuer, Schlatters Theologie der Liebe, 136, in: H. Hempelmann u. a., 111–142.
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Schlatters Vorlesung ist inhaltlich im Unterschied zu der Barths noch stark von den Fragestellungen der Theologie des zu Ende gehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt. Außer Schleiermacher (7mal), der die Theologie des 19. Jahrhunderts wie kein zweiter geprägt hat, erwähnt Schlatter die Theologen Albrecht Ritschl und Hermann Cremer (je 3mal), Theodor Zahn, Richard Reitzenstein und Adolf Deissmann (je 2mal) und David Friedrich Strauss, Richard Rothe, Adolf von Harnack, Johann Christian Konrad Hofmann, Bernhard Weiß, Julius Wellhausen, Martin Kähler und George Milligan (je 1mal). Dagegen kommt bei Schlatter (im Unterschied zu Barth) die vor allem durch das Aufkommen der Dialektischen Theologie stark veränderte theologische Situation des begonnenen 20. Jahrhunderts zwar noch in den Blick,20 ohne freilich schon tiefere Spuren zu hinterlassen. Die starke Präsenz der Theologie des 19. Jahrhunderts in Schlatters Vorlesung darf allerdings nicht überbewertet werden. Denn bei aller theologiegeschichtlichen Einordnung ist Schlatter bemüht, in die grundsätzlichen, wesentlichen und insofern überzeitlichen Fragen der christlichen Theologie einzuführen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Erwähnung der großen »Klassiker« der Theologie wie Luther (12mal), Augustinus (5mal), Melanchthon (4mal), Athanasius (3mal), Thomas von Aquin (2mal) und Justin, Irenäus, Eusebius, Abälard und Bernhard von Clairvaux (je 1mal), zu denen – wenn auch nicht in der gleichen Quantität – einige »Klassiker« der Philosophie hinzugefügt werden: Kant (6mal), Descartes (3mal), Aris toteles, Plato, Pascal, Leibniz und Hegel (je 2mal) und Epikur, Demokrit, Philo, Rousseau und Schopenhauer (je 1mal). Diese Verweise unterstreichen, dass es Schlatter in seiner Vorlesung wirklich um eine Einführung in die Theologie als solche geht, d. h. in die christliche Theologie in ihrer vorkonfessionellen Grundsätzlichkeit, in ihren fundamentalen Voraussetzungen, aber auch in der Vielzahl ihrer Aspekte und Disziplinen und damit auch in ihrer 20 Immerhin findet sich in der Vorlesung bereits eine Auseinandersetzung mit dem frühen Barth! S. u. S. 166 und Anm. 196.
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Fülle und Ganzheit. Dies geschieht zwar aus einer klar reformatorischen Perspektive (s. u. S. 142ff), aber zugleich in einer ökumenischen Offenheit und Weite, die konfessionalistische Rechthaberei hinter sich lässt (s. u. S. 156). Dieser grundlegende Charakter von Schlatters »Einführung in die Theologie« macht diese zu einem über seine Zeit hinausweisenden, die Epochen übergreifenden Werk, das uns auch noch zum Beginn des 21. Jahrhunderts zu befruchten vermag. Dies soll im nächsten Kapitel wenigstens andeutungsweise sichtbar werden (s. u. 4.)
4. Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« als Denkanstoß für Theologie und Kirche heute Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« ist nicht nur von biographischem und theologiegeschichtlichem Interesse, sondern kann auch als Denkanstoß für Theologie und Kirche heute hilfreich sein. Die Vorlesung zeigt noch einmal auf eindrucksvolle Weise, dass der oft zu sehr als bloßer »Neutestamentler« betrachtete und daher häufig unterschätzte Theologe Adolf Schlatter in seinem Denken einen ungemein weiten Horizont hatte, der nicht nur die historischen Disziplinen der Theologie, sondern auch ihre systematischen Fächer (einschließlich der »praktischen Theologie«) umfass te und insofern das Ganze der Theologie auch in ihrem Gegenüber zur Philosophie und anderen Nachbarwissenschaften (etwa der Philologie oder Religionswissenschaft) in den Blick nahm. Diese enzyklopädische Weite verbindet sich in der Vorlesung mit temperamentvollen, zum Teil scharfen und nicht selten einseitigen Urteilen über Strömungen und Positionen der Theologie- und Geistesgeschichte, die an Ernst Käsemanns Einschätzung erinnern, dass man Schlatter als einen »der streitbarsten und freiesten Geister seiner Generation« betrachten müsse und nicht »einfach – wie dies immer wieder geschehen ist – in die Reihe der Erbauungsschriftsteller – 21 –
oder der typischen konservativen Theologen« einreihen könne.21 Schlatters kritische Urteile gelten keineswegs immer nur »liberalen« Gegenpositionen, sondern machen auch vor »konservativen« oder »traditionellen« Positionen nicht Halt. Zwei Jahre vorher hatte er in seiner Abschiedsrede zur Emeritierung (»Ein Wort zum Preise meines Amts«) sein Bemühen um einen möglichst unabhängigen Standpunkt mit den Worten umschrieben, dass »der Verdacht, ich setzte mich für diese oder jene kirchliche Sonderbildung ein … immer unbegründet« gewesen sei, und stattdessen für ihn die Devise gegolten habe: »Es geht ums Ganze.«22 Wie sehr Schlatter bemüht war, dem Ganzen der Theologie gerecht zu werden, wird in der Vorlesung »Einführung in die Theologie« z. B. daran erkennbar, dass Schlatters Denken Vieles vereint, was in seiner Zeit, aber auch heute noch häufig zu einer falschen Alternative zu werden droht, obwohl es der Sache nach zutiefst zusammengehört. Dazu nur einige Beispiele:
Obwohl für Schlatter die christliche Theologie ganz auf der Heiligen Schrift als Fundament und Quelle beruht23 und er die Bibel in der Einführungsvorlesung als »köstlichsten« Besitz der Kirche preist24, hatte er – im Unterschied zu vielen »konservativen« Theologen seiner und unserer Zeit ein ganzes Ja zu einer uneingeschränkt offenen Begegnung mit der erfahrbaren Wirklichkeit: Die Einführungsvorlesung befürwortet einen Erkenntnisweg, der »von den Vorstellungen zu den Dingen selbst« vorstößt25 und so zu einer realitätskonformen »Theologie der
21 E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, 14. 22 Ein Wort zum Preise meines Amts, in: EvKBlW 83 (1922) 97f. 23 Vgl. dazu die (in Anm. 19 oben genannte) Studie von C. Hägele über Schlatters Lehre von der Heiligen Schrift (Die Schrift als Gnadenmittel). 24 S. u. S. 110. 25 S. u. S. 164.
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Tatsachen« gelangt,26 die jede »biblizistische« Enge überwindet, durch die gerade eine bibelorientierte Theologie stets gefährdet ist.27 Obwohl Schlatter ganz im Sinne reformatorischer Theologie den Glauben als Fundament christlichen Lebens und christlicher Kirche betonte28, erlag er nicht der Gefahr eines vernunftfeindlichen Fideismus, welcher die Vernünftigkeit christlicher Theologie bestreitet und Glaube und Vernunft als Gegensätze betrachtet. Die Einführungsvorlesung zeigt seine Grundüberzeugung, dass der Glaube die Vernunft zu ihrer wahren Vernünftigkeit befreit,29 so dass sie in der Lage ist, die Theologie auch als Wissenschaft zu ermöglichen.30 Dem fast unausrottbar scheinenden Vorurteil, dass die Bindung der Wissenschaft an den Glauben und die Kirche notwendigerweise die wissenschaftliche Objektivität einschränke oder gar preisgebe, hält Schlatter den historischen Befund entgegen: »Unsre ganze europäische Wissenschaft 26 S. u. S. 169: Der Glaube entsteht aus »Tatsachen«. Zu Schlatters Theologie der Tatsachen siehe W. Neuer, Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik, Gießen / Basel 1986, 27.44–47. 27 Diese Gefahr sah Schlatter im sog. »Biblizismus«, bei dem die Schrift erkenntnis auf Kosten der Gegenwartserfahrung betont wird. S. u. S. 88: Der Biblizismus lässt »kein andres Ziel« zu »als die Deutung der Schrift mit der daraus sich ergebenden Norm«. 28 S. u. S. 42: »Die Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens.« 29 Dies versuchte Schlatter vor allem in seiner gegen den Schweizer Rechtsgelehrten Carl Hilty gerichteten Streitschrift aufzuzeigen: Die Furcht vor dem Denken. Eine Zugabe zu Hilty’s »Glück« III, in: BFChTh 4 (1900) H. 1; 21917. 30 Die Bedeutung des Gottesglaubens für die Wissenschaft besteht für Schlatter u. a. darin, dass Gottesgedanke und Wahrheitsgedanke untrennbar sind: »Das Schicksal des Wahrheitsgedankens und das des Gottesgedankens sind identisch. Wird der Gottesgedanke abgelehnt, so zerfällt auch der Wahrheitsgedanke, weshalb sich eine Wissenschaft, die atheistisch wird, ihr Ende bereitet.« [Das christliche Dogma, Stuttgart 21923, 98; Hervorhebung W.N.].
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ist Produkt der Kirche.«31 Dieser historische Befund aber stützt Schlatters Überzeugung, dass die Bejahung Gottes keineswegs ein Hindernis für eine unbefangene Wahrnehmung des Wirklichen ist, sondern – ganz im Gegenteil! – die optimale Voraussetzung darstellt, um einen »wissenschaftlichen Charakter« und damit Wissenschaft zu ermöglichen.32 Obwohl Schlatter keinen Zweifel an der Eigenständigkeit der christlichen Theologie gegenüber der Philosophie (und allen anderen Wissenschaften) ließ, verbindet er seinen Ansatz einer selbständigen und schriftgebundenen Theologie des Glaubens in der Einführungsvorlesung mit einer prinzipiellen Wertschätzung der Philosophie,33 die die Philosophie ihrerseits als eigenständigen Gesprächspartner der Theologie »auf Augenhöhe« anerkennt. 34 Obwohl Schlatter die Konfessionalität der christlichen Theologie als unvermeidlich und legitim akzeptiert35, betont er in der Einführungsvorlesung (also bereits Jahrzehnte vor den erst in den 1960er Jahren beginnenden organisierten ökumenischen Dialogen der Kirchen!) die Notwendigkeit einer ökumenischen 31 S. u. S. 44. 32 Briefe über das Christliche Dogma, Stuttgart 21978, 23 (8. Brief). 33 S. u. S. 102: »Austausch, Verkehr, Arbeitsgemeinschaft haben hier Platz. Keiner von uns arbeitet für sich, sondern auch für den andern … Umgekehrt empfangen wir mit großer Dankbarkeit jede philosophische Erwerbung.« 34 Zur Eigenständigkeit der Theologie und gleichzeitigen Wertschätzung der Philosophie vgl. auch meinen Aufsatz: Adolf Schlatter als Philosoph, 103–108; in: S. Grosse / G. Schultz (Hg.), Möglichkeit und Aufgabe christlichen Philosophierens, Wien / Berlin 2011, 91–108. 35 S. u. S. 156: »Wir können aber den geschichtlich gegebenen Tatbestand [der Konfessionen; W.N.] vor der Hand nicht aufgeben.« Vgl. auch seine Feststellung: »Wir sind auf einen bestimmten Standort gesetzt, der uns ohne unser Zutun gegeben worden ist, weil wir Glieder einer geformten, bestimmten religiösen Gemeinschaft sind« (s. u. S. 211; Hervorhebung W.N.).
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Theologie, die sich nicht mit der Trennung der Kirchen abfindet, sondern auf die Überwindung der Kirchenspaltung zielt: »Die Zerspaltung der Kirche soll als das behandelt werden, was überwunden werden muss. Nur dann ist der konfessionelle Charakter der Theologie legitimiert.«36 Obwohl Schlatter an der einzigartigen Heilsmittlerschaft Christi und – mehr als viele zeitgenössische Theologen – an der unabdingbaren Notwendigkeit der christlichen Mission festhielt,37 macht er in der Einführungsvorlesung deutlich, dass er im Islam und den asiatischen Hochreligionen »ebenbürtige Gegner« des Christentums sieht. Das zur damaligen Zeit noch vielfach vorhandene Überlegenheitsbewusstsein christlicher Mission war in Schlatters Sicht daher nicht berechtigt, zumal die damals vermittelte theologische Ausrüstung der Missionare für eine Begegnung mit diesen »ebenbürtigen« Religionen nach seinem Urteil »viel zu armselig« war.38 Obwohl Schlatter ein grundsätzliches Ja zu Vernunft und Wissenschaft und damit auch zur Eigenständigkeit des Wahrheitsgedankens vertrat, die keine Instrumentalisierung zu be36 S. u. S. 156. 37 Vgl. dazu Schlatters berühmte Schrift Der Dienst des Christen in der älteren Dogmatik, 23ff, in: A. Schlatter, Der Dienst des Christen. Beiträge zu einer Theologie der Liebe, hg. v. W. Neuer, Gießen / Basel 2 2002, 19–93. Der bekannte Missionswissenschaftler Wilhelm Oehler bescheinigte Schlatter, dass abgesehen von dem Bibeltheologen und lutherischen Dogmatiker Martin Kähler (1835–1912) »vor dem Ersten Weltkrieg wohl kein anderer [evangelischer] Theologe der Mission so gedient (habe) wie Adolf Schlatter« (W. Oehler, Geschichte der deutschen evangelischen Mission, Bd. 2: Reife und Bewährung der deutschen evangelischen Mission 1885–1950, Baden-Baden 1951, 43). 38 S. u. S. 95. Schlatter sah daher für die Begegnung mit den nichtchristlichen Religionen eine »streng nach der Wahrheitsregel« arbeitende Religionswissenschaft als »unentbehrlich« an, um »auch die Werte« der Religionen unvoreingenommen erkennen zu können (Die christliche Ethik, Stuttgart 51986, 244).
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stimmten Zwecken und Interessen verträgt,39 betonte er in der Einführungsvorlesung auffallend stark die Kirchlichkeit aller Theologie: Die Begriffe Kirche (353mal) und Amt (118mal) kommen so häufig vor, dass sie geradezu Schlüsselbegriffe der Vorlesung sind. Die kirchliche Bindung der christlichen Theologie war für ihn – darin an Karl Barth erinnernd! – offenbar ebenso unverzichtbar wie die rückhaltlose Bindung an die Wahrheit. In seiner (dieser Edition beigefügten) Rede über »Erfolg und Mißerfolg im theologischen Studium« brachte er diese enge Bindung von wissenschaftlicher Theologie, Theologiestudium und Kirche auf die einprägsame Formel: »Wir leben in der Kirche, von der Kirche und für die Kirche. In der Kirche, durch die Kirche und für die Kirche studieren wir Theologie …«40 Obwohl die Theologie als Wissenschaft nach Schlatter der unbestechlichen Klärung der Wahrheitsfrage zu dienen hat und diese keinen (auch nicht kirchlichen!) Interessen opfern darf, bilden Wahrheit und Liebe für ihn eine untrennbare Einheit, die auch in der Wissenschaft berücksichtigt werden muss. Die christliche Theologie ist deshalb für ihn – besonders im Bereich der Lehre – zu einem dialogischen Umgang mit der Wahrheit genötigt, da sie ganz im Dienste der Menschen steht, die zum Glauben an Christus eingeladen werden sollen.41 Die Konsequenz aus dieser Einsicht für die christliche Dogmatik besteht nach Schlatter beispielsweise darin, »dass sie allen dient … nicht bloß den Wiedergeborenen« und – soweit irgend möglich – auch den Nichtglaubenden »die Begründetheit der christlichen Überzeugung« aufzeigt.42 Die Konsequenzen für den Gottesdienst 39 Zu Schlatters Wahrheitsbegriff vgl. Walldorf, Realistische Philosophie, aaO [s. o. Anm. 19], 102–112. 40 S. u. S. 211 (Hervorhebung W.N.). 41 Zu den Auswirkungen dieser Einsicht auf Schlatters Theologie vgl. meinen Aufsatz zu »Schlatters Theologie der Liebe«, 126–128. 42 Das christliche Dogma, aaO [s. o. Anm. 30], 557.
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bringt Schlatter in der Einführungsvorlesung lapidar und zugleich recht drastisch zum Ausdruck: »Der Glaube ist zu begründen, der Wille ist zu normieren. Beides gehört zum Gottesdienst. … Wenn der Geistliche die Gemeinde anschreit: ›Ihr müsst glauben!‹, ist der christliche Stand verlassen.«43 Bei aller Klärung theoretischer Fragen bemüht sich Schlatters Vorlesung in hohem Maße darum, auch konkrete Hilfestellung zu geben für praktisch-seelsorgerliche Fragen des Theologiestudiums. Was er in der Einführungsvorlesung beispielsweise vorschlägt zur Überwindung von Zweifel und Anfechtung im Studium44 oder zur Notwendigkeit von Konzentration und Selbstbeschränkung für ein fruchtbares Lernen und Forschen,45 ist heute noch ebenso hilfreich wie damals. 46 Dass Schlatter als ehemaliger Gemeindepfarrer auch als Hochschullehrer die vielfältigen Aufgaben und Schwierigkeiten des geistlichen Amtes in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft vor Augen hatte, zeigt die Fülle von konkreten Anregungen, die er in seiner abschließenden Vorlesung zur praktischen Theologie (§ 23) entfaltet. Vieles davon (etwa die Vorschläge zur Konfirmation, zur Jugendarbeit und zur missionarischen Verkündigung generell) ist im Hinblick auf Diagnose und Therapie von überraschend großer Aktualität und zeigt, dass das Problem der Säkularisation einen wachen Theologen wie Schlatter schon vor ca. 100 Jahren intensiv beschäftigt hat. Überraschen wird manchen Leser vermutlich, dass der von seiner Herkunft her reformiert geprägte Schlatter nicht in der Predigt, sondern im Herrenmahl die Mitte des christlichen Gottesdienstes sah und da43 S. u. S. 189. 44 S. u. S. 52–55. 45 S. u. § 4 (S. 64ff). 46 Schlatter war von 1875–1879 Gemeindepfarrer in den Schweizer Gemeinden Kilchberg, Neumünster und Kesswil. Vgl. zu dieser für ihn sehr prägenden Zeit Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 85–140.
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mit eine Einsicht formulierte, die zwar in der lutherischen Reformation noch präsent war,47 im neueren Protestantismus aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr wiederentdeckt wurde, wenngleich sie im deutschsprachigen Raum leider noch immer nicht zur Normalität des sonntäglichen evangelischen Gottesdienstes gehört.48 Dies mag genügen, um wenigstens anzudeuten, dass Schlatters Einführungsvorlesung auch für die gegenwärtige Theologie und Kirche fruchtbare Impulse bereithält, die es wert sind, wohlwollend gehört, bedacht und aufgegriffen zu werden.
5. Hinweise für die Leser von Schlatters »Einführung in die Theologie« In Anbetracht der im vorigen Kapitel dargelegten Überlegungen ist diese Erstedition von Schlatters Vorlesung »Einführung in die Theologie« mit der hoffentlich nicht verwegenen Hoffnung verbunden, dass sie nicht nur bei dem eher kleinen Kreis der Kenner und Freunde Schlatters auf Interesse stößt, sondern auch bei solchen Theologen und theologisch Interessierten, die Schlatters Theologie noch nicht kennen und einen ersten Ein47 Vgl. H.-C. Schmidt-Lauber, Die Zukunft des Gottesdienstes. Von der Notwendigkeit lebendiger Liturgie, Stuttgart 1990, 57 unter Verweis auf CA XXIV,2. 48 So kritisierte der badische Landesbischof Heidland 1974 das hier vorhandene biblisch-reformatorisch und ökumenisch gleichermaßen zu beklagende Defizit recht schroff mit den Worten: »Die zentrale Stellung des Predigtgottesdienstes und die Verdrängung der Mahlfeier stellt einen offensichtlichen Bruch der Stiftung dar« (zit. nach ebd. 341).
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druck von ihr gewinnen wollen. Darüber hinaus richtet sich diese Edition natürlich ebenso an all jene, welche (auch abgesehen von der speziellen Sicht Schlatters) überhaupt an den Inhalten und Problemen der christlichen Theologie interessiert sind – kurz an all jene, die ein echtes Interesse an der Theologie als einem der zweifellos interessantesten Fächer des Wissenschaftsbetriebes haben. Die Edition ist deshalb bewusst so gestaltet, dass sie nicht nur Fachgelehrten zugänglich ist, sondern auch theologischen »Laien«, Studenten aller Semester oder Pfarrern, die nur wenig Zeit für die wissenschaftliche Theologie finden: Deswegen beschränkt sich die Kommentierung des Textes in den Fußnoten nicht auf die für die Fachdiskussion wünschenswerten Hinweise, sondern gibt auch Erklärungen ab zu Personen (Theologen, Philosophen) oder Sachverhalten (z. B. Latinismen oder Geistesströmungen), deren Kenntnis bei Studienanfängern oder gar Nichttheologen nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Edition ist daher bewusst »niederschwellig« gehalten. Damit soll natürlich auch dem Alter des Textes Rechnung getragen werden. Wir leben heute in einer geschichtsvergessenen Zeit, die den Zugang zu älteren Texten der Geistesgeschichte generell zu verlieren droht und dadurch im Korsett heutigen Denkens und Meinens gefangen bleibt. Gerade in einer solchen Zeit vermag die beinahe hundert Jahre alte, vermeintlich »überholte« Vorlesung eines damals schon betagten Theologen womöglich überraschend neue und konstruktive Perspektiven zu eröffnen, wie im vorigen Kapitel angedeutet wurde. Ob und inwieweit dies freilich geschieht, kann nur der Leser selbst erfahren. Die Schlatter-Stiftung und der Herausgeber wollten jedenfalls diese Möglichkeit den heutigen Lesern nicht vorenthalten. Sie geben diesen Text heraus in der Hoffnung, dass er auch in der Gegenwart zur Bereicherung von Erkennen und Glauben beitragen möge.
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6. Hinweise zur Edition von Schlatters »Einführung in die Theologie« Ziel und Maßstab für die Edition war die unverfälschte Widergabe von Inhalt und Intention der Vorlesung Schlatters. Auch die Sprachgestalt (z. B. der abgekürzte Stil der mündlichen Rede) sollte erhalten bleiben und der die Vorlesung kennzeichnende Stil der »Rede« z. B. nicht nachträglich in den Stil einer schriftlichen Publikation verwandelt werden. Deshalb wurde in die Sprachgestalt nur behutsam eingegriffen. Wenn dies der Fall war, dann geschah dies um der besseren Verständlichkeit der in der Vorlesung vorgetragenen Gedanken willen, ohne damit den Inhalt zu beeinträchtigen. Dies betraf – gelegentliche Umstellungen von einzelnen Wörtern oder – sprachlich begründete kleine Ergänzungen des Herausgebers, die durch eckige Klammern [] kenntlich gemacht sind und das Verstehen der manchmal unvollständigen oder nur verkürzt formulierten Sätze erleichtern. Inwieweit diese Ergänzungen oder Korrekturen des Wortlautes gelungen sind, kann der Leser daran prüfen, ob die in eckige Klammern gefassten Worte das angemessene sachliche Verständnis der jeweiligen Sätze tatsächlich erleichtern. Erklärende Erläuterungen werden in der Regel im Anmerkungsteil erörtert. Sie beziehen sich – auf die in Umschrift wiedergegebenen Latinismen, Gräzismen und Hebraismen,
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– auf die in der Vorlesung genannten Theologen und Philosophen49 und – auf sachlich leicht missverständliche oder auch ausgesprochen schwer verständliche Formulierungen, die teils für den Nichtkenner Schlatters, teilweise aber auch für den Kenner der Schlatterschen Theologie schwer zu interpretieren sind. Die im Text selbst in runden Klammern () auftauchenden Ergänzungen stammen vom Transkribenten Prof. Erwin Mülhaupt und sind von den eckigen Klammern [] des Herausgebers deutlich unterschieden. Sie haben in der Regel erläuternden oder ergänzenden Charakter. Inwieweit diese vielleicht teilweise sogar auf den Wortlaut von Schlatters Vorlesung zurückgehen, muss offen bleiben, da es nicht mehr möglich ist, den längst verstorbenen Transkribenten zu befragen. Auch die durch drei Punkte […] gekennzeichneten Auslassungszeichen gehen auf den Transkribenten Mülhaupt zurück. Die durch Fettdruck oder Kursivierung hervorgehobenen Wörter oder Formulierungen dienen ausschließlich der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit des Textes und stehen in der alleinigen Verantwortung des Herausgebers. Am Schluss des Buches finden sich ein Personen- und ein Sachregister, um den Lesern die Übersicht zu erleichtern!
49 Die Lebensdaten der Theologen und Philosophen in den Fußnoten sind in der Regel dem Biographischen Index von EKL3, Bd. 5, Göttingen 1997, 1–679 entnommen.
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EINFÜHRUNG IN DIE THEOLOGIE
Vorlesung im Sommersemester 1924
Vorbemerkung Wie studiert man Theologie? [Dies ist] die stetige Frage aller in der Kirche Arbeitenden. Wenn diese Frage sich nicht mehr regte, dann wäre die Fakultät wertlos. Eine Enzyklopädie sämtlicher theologischer Wissenschaften gebe ich nicht.50 Nicht um eine Vorwegnahme des Studiums in einem Kurzbuch geht es, sondern um die Theorie, und zwar [um die] kritische Theorie des Studiums. Auch die andre Erwartung kann ich nicht befriedigen, nämlich die, daß die Vorlesung den Charakter einer Norm-Wissenschaft bekommt. Das ganze Unternehmen, eine Norm-Wissenschaft zu bekommen, setzt die Theorie von der reinen Vernunft, den Idealismus voraus, das, was morgen im Festsaal51 gefeiert wird.52 Eine Norm 50 Die Einführungsvorlesungen in die evangelische Theologie hatten zu Lebzeiten Schlatters oft den Titel »Enzyklopädie«. Vgl. z. B. K.R. Hagenbach’s Encyklopädie und Methodologie der Theologischen Wissenschaften (hg. v. E. Kautzsch), Leipzig 111884, ein Standardwerk der damaligen Zeit. Unter »Enzyklopädie« verstand man damals »den Inbegriff des theologischen Wissens« bzw. die Aufgabe, »auf dem geschichtlich gegebenen Grunde das weitere Ziel der [theologischen] Wissenschaft nach seiner prinzipiellen und idealen Seite zu begreifen« (ebd. 1). 51 Wahrscheinlich eine Feier der Universität Tübingen zum 200. Geburtstag des bedeutenden deutschen Philosophen Immanuel Kant (geb. 22.04.1724, gest. 12.2.1804). 52 Zu Schlatters Ablehnung einer geschichtslosen, erfahrungsunabhängigen »reinen Vernunft« vgl. J. Walldorf, Realistische Philosophie, aaO [s. o. Anm. 19], 95–101.
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erscheint, die noch keinen Inhalt hat. Das Denken wird geregelt, ohne daß ich etwas denke. Fac et scies53 ist die Regel. Studieren lernt man dadurch, daß man studiert. Gerade wenn die Normalität am Lebensakt selbst wahrgenommen wird, wenn wir vom Erlebnis aus den Gedanken gewinnen, dann wird unser Thema »wie studiert man Theologie?« erst recht groß. Das ist eine wissenschaftliche Aufgabe, genau so alt, wie wenn man systematisch sich einen Vorgang des inwendigen Lebens verdeutlicht. Theologie-Studium ist ein Akt des Menschen, [des] Christen, der Kirche. Wie kommt er zustande und was sind seine Bedingungen? Die Einteilung [der Vorlesung] lautet: Ziel, Mittel, Gegenstand. Der Zielgedanke ist der, mit dem wir einen Willen begründen. Bei der antiken Logik54, nach der der Mensch ein ens rationale55 ist, wird der theologische Gedanke nicht an die erste Stelle gesetzt.56 Sie braucht keinen Willen dazu. Das gilt nicht nur für den einmaligen Entschluß, sondern auch für jede besondere Betätigung des ergriffenen Berufs. Wille ist nicht denkbar ohne einen Zielgedanken, [ohne] eine richtige theologische Idee. So fragen wir [zunächst]: Wozu studieren wir Theologie? 53 Lat.: Handle und du wirst es wissen/verstehen. 54 Schlatter versteht unter der sog. »antiken Logik« hier nicht die von den Griechen (Aristoteles) entwickelte Logik im engeren Sinn (als Wissenschaft vom schlußfolgernden Denken), sondern umfassender die maßgeblich von den Griechen entwickelte antike Denkweise, die den Menschen nach Schlatters Auffassung in der Anthropologie und Ethik vor allem als Vernunftwesen beschrieb und entsprechende (in Schlatters Sicht einseitig intellektualistische) Folgerungen zog. 55 Lat.: ein rationales Seiendes. 56 Schlatter versteht unter dem »theologischen Gedanken« das, was er wenige Sätze vorher definiert hat: eine Vorgehensweise, bei der »die Normalität am Lebensakt selbst wahrgenommen wird, wenn wir vom Erlebnis aus den Gedanken gewinnen«: Nicht die Vernunft, sondern der »Lebensakt« (d. h. die sich im menschlichen Leben zeigenden Werke Gottes in Natur und Geschichte) ist für Schlatter der Ausgangspunkt theologischen Erkennens.
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I. Das Ziel der Theologie
§ 1 Amt und Theologiestudium Vermengung und Zerreissung der beiden Vorgänge ist denkbar. Vermengung liegt vor, wenn das Theologiestudium aufgefaßt wird als die Zeit, wo man den nötigen Vorrat [an Erkenntnis] für den Amtsbetrieb sich verschafft. Da werden die beiden Vorgänge in falscher Weise vermengt und durcheinander geworfen. Das Studium hat aber seinen eigenen Zweck, der es von dem, was dem Amt aufgegeben ist, deutlich unterscheidet. Dieser Unterschied darf aber nicht zur Zertrennung werden, sodaß der Blick auf das Amt eine gewisse Furcht erzeugt, die an der tapferen Besorgung des studentischen Geschäfts hindert. Liegt es nicht im Interesse des Amts, das theologische Studium möglichst zu kürzen? Erzwungene, mißmutig vollbrachte Leistung ist immer geschädigt. Hier darf sich nicht eine bange Angst auf uns legen. Aber auch nach der anderen Seite wird nicht selten betont: lustige Studentenzeit mit ihrer Freiheit, dann nach einem scharfen Schnitt das Vikariatsjahr. Einerlei, wie die Trennung zwischen Ziel und Weg, Lebensberuf und Vorbereitungszeit vorgenommen wird, schädlich ist die Trennung immer. Wie stellt sich theologisches Studium zum Amt? Diese Frage haben wir uns gleich im Anfang zu stellen. Was heißt das: kirchliches Amt? Das Amt stellt uns in die Gemeinschaft. Wo keine Sozietät ist, gibt es kein Amt. Wir haben gar keine Verbände im menschlichen Leben, ohne daß sie auch zur Bildung des Amts führen. Eine verantwortliche Führung treffen wir in den kleinsten Sozietäten, [z. B.] in der Familie. Wo die Gemeinschaft größer wird und nicht unmittelbar durch die Natur befestigt ist, wird das Amt unentbehrlich, tritt es noch deutlicher heraus. Es ist dazu da, daß die Einigung der Vielen zustande komme, Einheit im Denken und Handeln. – 39 –
In der Christenheit bekommt das Amt durch die Merkmale des Christentums seinen besonderen Charakter. Hier handelt es sich um persönliche religiöse Gemeinschaft, die auf der Liebe beruht. Das Amt soll nicht die Tätigkeit der andern unterdrücken, sondern begründen, sodaß gemeinsames Handeln zustande kommt. Zur Freiheit kommt noch ein zweites Merkmal: Die Gemeinschaft ist vollständig und grenzt nicht einzelne Werte ab, sondern macht sie zum einigenden Band. Eine Kirche, und zwar eine christliche Kirche, haben wir nur dann, wenn die Gemeinschaft den ganzen Lebensinhalt des Menschen umfaßt. Mit Intellekt und Willen, Leib und Geist, mit Zeit und Ewigkeit hat es die Kirche zu tun. Die Haltung Jesu besitzt an dieser Stelle die vollste Deutlichkeit: Er gibt die Vollendung schaffende Gnade und Liebe. So bezieht sich die Liebesregel nicht nur auf Einzelne. Er verbindet Mensch mit Mensch, weil er den Menschen mit Gott verbindet. Die Gemeinschaft, die hier zustande kommen soll, ist frei und vollständig: gemeinsame Buße, eine Front gegen das Böse, gemeinsamer Glaube, eine Gott zugewendete Gewißheit, gemeinsame Fürsorge für die Geschädigten, gemeinsame Pflege der Gesunden. Daraus ergeben sich die Merkmale für die andern. Hier haben wir die lehrreiche Schwankung in der Kirche vor uns, daß das Amt in der Kirchengeschichte sich in vierfacher Form zeigt: 1. in der apostolischen Gemeinde, 2. in der Alten Kirche, 3. in der Reformation, 4. in der Gegenwart. 1. In der apostolischen Gemeinde wird der Christ mit dem Amt begabt, weder eine besondere intellektuelle noch eine asketische Vorbereitung wird verlangt. 2. Dann kommt die Alte Kirche mit der Erteilung des Amts durch das Sakrament,57 die Vorbereitung dazu ist Askese und Zö57 Schlatter meint die in der Alten Kirche übliche exklusive Bindung der
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libat. Die Wandlung ist Folge der durchgreifenden Veränderung, die der religiöse Vorgang bis in seine innerste Tiefe erfuhr. Das Bewußtsein der unversöhnten Entfremdung gegenüber Gott wird wieder das Merkmal der Christenheit. Die Pistis58 der ersten Zeiten hält die Alte Kirche nicht fest, sie bekommt wieder einen fernen Gott. Darum bedarf sie des Mittlers zwischen Gott und der Gemeinde, und dies geschieht durch das Sakrament. Das ist die Zerteilung der Kirche in Klerus59 und Laos60. 3. Die Reformation stellt dann wieder gründlich um, denn sie konnte wieder glauben, hatte wieder eine gegenwärtige Beziehung zu Gott. Das Mittel, das Luther61 und seine Genossen dem Glauben bieten, ist das Wort. Der Amtsträger bekommt die Qualifikation zum Amt durch das Studium. Der Amtsträger geht nicht mehr aus dem Kloster und der Gemeinde hervor, sondern von der Universität, weil er den theologischen Besitz von ihr empfangen hat. 4. Gibt es noch eine vierte Form? Die Wirkungen der Reformation erstrecken sich noch kräftig in unsre Gegenwart hinein. Hier schieben sich die verschiedenen Schichtungen übereinander. Immerhin halte ich für unbestreitbar, daß sich eine Veränderung in der Fassung des Amts vollzogen hat und immer kräftiger sich vollziehen wird. Die Reformation suchte die Einigung in der Einheit der Erkenntnis. Der Amtsträger mußte gelehrt sein, Befähigung zur Lektüre der Bibel mußte er haben, Hebräisch und Griechisch und dazu zur Verteidigung einen systematischen Unterricht bekommen. Das hat sich geändert, nicht durch Willkür und Aufruhr, nicht Sakramentsverwaltung an das geistliche Amt, die seiner Ansicht nach noch nicht neutestamentlich ist. 58 Griech.: Glaube, Vertrauen. 59 Der Stand der Geistlichen (von griech.: Los, Anteil). 60 Das übrige Kirchenvolk (von griech.: Volk). 61 Martin Luther (1483–1546), deutscher Theologe und Reformator, Übersetzer der Bibel und Liederdichter. Die von ihm gewollte biblische Erneuerung der Kirche endete ungewollt in der Spaltung der westlichen (römischen) Kirche.
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durch Unfug der Fakultäten, sondern der geschichtliche Prozeß vollzog sich mit deutlicher Begründung, darum auch mit unwiderstehlicher Macht, wie sie echte Geschichte besitzt. Die vollständige Gemeinschaft wird mit dem Dozieren und Lehren der einheitlichen Lehre nicht erreicht. Das Fundament der reformatorischen Kirche in dieser Hinsicht zerbrach. Und damit zerbricht nicht die Kirche, sondern nur die Fassung, die sich im Sturm und Drang des 16. Jahrhunderts erreichen ließ. Die Gemeinschaft greift über das Denken hinaus, sie bindet uns nicht nur mit der Einheitlichkeit der Theologie zusammen. Die Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens. Glaube und Lehre, Glaube und Theologie haben sich für uns unterschieden. Das heutige Amt stellt sich dar als berufen, Gemeinschaft des Glaubens herzustellen. Die Qualifikation entsteht nicht durch den Besitz des Amtsträgers neben seinem Christentum. Die Voraussetzung zum Amt ist eben sein Christenstand. Wir wollen Glauben begründen. Dazu ist erforderlich, daß wir ihn haben. Wir sollen Liebe wecken, dazu müssen wir Liebe haben. Wir haben zu bekehren, dazu müssen wir selbst die Absage gegen das Böse in uns tragen. Damit ist gegeben, daß wir den Zusammenhang zwischen Studium und Amt nicht so fassen können, daß wir hier eine besondere Weihe und Zurüstung zu einer eigenartigen von der Gemeinde geschiedenen Leistung empfangen. Zum Christenstand kommt nicht noch ein Gramm theologischen Wissens hinzu. Was soll nun aber das Studium? Wir brauchen zur Übernahme des Amts nur den Christenstand, aber so, daß die Einigung zwischen den Gemeindegenossen zustande kommt, so daß Leitung der Vielen zur einträchtigen Wirksamkeit erreicht wird. Und nun entsteht allerdings vom Amt aus ein intellektueller Anspruch, der seine innere Majestät uns zeigt. Weil wir nichts andres bedürfen als den Christenstand, brauchen wir auch die bewußte sorgfältige Begründung dessen, was Christenstand ist. Das bedeutet auch Klarheit des Denkens, möglichst ausgedehnte Gemeinschaft mit dem, was um uns und vor uns besteht, Erweiterung des Sehfelds über die zufällige Ärmlichkeit unsers individuellen Daseins, den Erkennt– 42 –
nisakt in ausgedehnter Stärke. Der theologische Beruf ist damit in keiner Weise herabgesetzt, wenn wir die Trennung in Wissende und Unwissende aufgeben. Die Gemeinde soll nicht allein aus Wissenden sich sammeln, der Grund der Einigung liegt tiefer. Aber zum Glauben brauchen wir die Erfassung des Glaubensgrundes. Weil der im inwendigen Besitz für uns fruchtbar wird, bedürfen wir des Wissens. Wenn das kirchliche Amt bloß befiehlt, wird es unterchristlich. Wir bedürfen des Wissens, und das ergibt, daß Studium und Amt in der festesten Verbindung stehen.
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§ 2 Die Wissenschaftlichkeit der Theologie Der Christ ist natürlich der Denkende, die Kirche Gemeinschaft des Bekenntnisses. Aber was sagt dazu die Wissenschaft? Die Spannung an dieser Stelle ist sehr sichtbar bei uns: Viele Studenten befinden sich auf der Universität in kirchlichem Urlaub. Unsre ganze europäische Wissenschaft ist Produkt der Kirche. Woher stammen die Universitäten? Eberhard gründet die Universität Tübingen62, weil er Christ ist und gehört hat, daß der kostbare Besitz des Christentums die Wahrheit ist. Woher stammt unsre Medizin? Wer hat die Astronomie hergestellt? Es handelt sich hier nicht nur darum, daß in der mittelalterlichen Periode die Verfügungsgewalt über die Völker bei der Kurie in Rom lag, sondern die kausalen Beziehungen greifen viel tiefer. Das Christentum hat die Wissenschaft dadurch hervorgebracht, daß es den Mythus63 verscheucht hat. Die ganze christliche Arbeit 62 Der württembergische Graf Eberhard V. mit dem Beinamen »im Barte« (1445–1496) gründete 1477 die Universität Tübingen. 63 Mit Mythus (lat.) [oder häufiger Mythos (griech.)] sind jene Erzählungen der vorwissenschaftlichen Phase der Menschheitsgeschichte gemeint, die beanspruchen, die Wahrheit über Gott, die Welt und den Menschen zum Ausdruck zu bringen. Was Schlatter hier nur andeutet, hat der Physiker und Philosoph C.F. von Weizsäcker in die Worte gefaßt: Der Schöpferglaube hat »die Welt entgöttert« …, so hat gerade der Glaube an Gott unser Denken entmythologisiert …« (Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 61990, 46). Aus diesem Grund bezeichnete der Chemiker und Nobelpreisträger Melvin Calvin den Monotheismus als »die historische Grundlage für die moderne Wissenschaft« (zit. nach J. Lennox, Hat die Wissenschaft Gott begraben? Eine kritische Analyse moderner Denkvoraussetzungen, Witten 82009, 28).
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ist vom ersten Tag an unter die Wahrheitsregel gestellt, der Mensch wird der Wirklichkeit zugewendet. Dazu kommt ein Zweites: Indien und China haben ihre großen Denker gehabt, aber es kommt nicht zur Wissenschaft. Konfuzius und immer wieder Konfuzius,64 die ganze Geschichte bleibt fixiert in der einmal herausgetretenen Form. Der Inder liest seine Veden heute noch. Die Wissenschaft besitzen wir nicht als fixierten Bewußtseinsinhalt, sondern das vor uns gestellte Objekt fordert immer wieder die Wahrnehmung. Der Sehakt meines Vorgängers ersetzt nie den meinigen. Dort in Indien und China haben wir keine Wissenschaft, sondern Scholastik, die nicht das Wissen um den Gegenstand, sondern das Wissen eines andern vom Gegenstand ist. 65 Die Scholastik entsteht immer da, wo der Nomos66 waltet. Das Christentum ist vom ersten Tag an, da Jesus das Wort nahm, Durchbruch durch das Gesetz, Begründung des Lebens auf Gottes Charis.67 Das ergibt Unermüdlichkeit des christlichen Willens. Das sind die Bedingungen, unter denen die Christenheit zur Wissenschaftlichkeit gelangte: Unterstellung unter die Wahrheitsregel und Einführung in die Freiheit. Woher nun aber die Spannung? Auch bei den führenden Geistern unsrer Wissenschaft, bei den Häuptern unsrer Fakultäten ist 64 Konfuzius (um 551–um 479 v. Chr.), chinesischer Philosoph und Sozialreformer, dessen Lehre von 206 v. Chr. an zur Staatslehre wurde und in China bis heute erheblichen Einfluß auf Denken und Verhalten der Menschen hat. 65 Schlatter verwendet hier den Begriff »Scholastik« nicht – wie normalerweise üblich – als historische Benennung der mittelalterlichen Theologie, sondern ganz allgemein als systematische Kennzeichnung jeder Form (auch nichtchristlicher) traditionalistischer Theologie, welche ihre dogmatischen Erkenntnisse nicht aus der (z. B. in Natur und Geschichte oder im Neuen Testament) erkennbaren Realität, sondern aus der als normativ geltenden religiösen Tradition zu gewinnen sucht, ohne diese kritisch an der Wirklichkeit zu prüfen. 66 Griech.: das Gesetz. 67 Griech.: die Gnade.
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der Argwohn gegen die Theologie vorhanden, ob sie Wissenschaft sei, ob die Kirche fesselt usw. Wenn wir uns nach den historischen Ursachen umschauen, müssen wir nach Athen gehen. Das Christentum fand den Griechen vor, dazu kam die Wirkung Jesu auf den natürlichen Menschen. Zum natürlichen Menschen gehört auch die durch Geschichte ihm gegebene Gestalt. Einen homo naturalis68 im chemischen oder biologischen Sinn gibt es nicht. Da verbindet sich beides zu einer Tradition, zu einem Erbe, weil wir eben in die Gemeinschaft hineingesetzt sind. Der natürliche Bestand wird durch die Berührung mit Jesus nicht vernichtet, das Evangelium beruft den Griechen als Griechen, nicht damit er aufhöre, ein Grieche zu sein. Darum haben wir im kirchlichen Leben immer zwei Überlieferungsströme, teils geeint, teils im Streit, oft vermengt: griechische Logik, griechische Soziologie – christliche Normen und Kräfte. Nun entstand im griechischen Leben die Wissenschaft im Gegensatz zu der den Denker umgebenden Gemeinschaft. Die Gemeinschaft, die der Grieche vorfand, leitet ihm den Mythus zu, erhebt ihn nicht über die natürliche Sphäre, läßt sein Leben leer. Der Denker tritt über die Plebs69 hinauf, er sondert sich von der Sozietät, er flieht vor der Natur, Staat und gegebener Religion, weil er in der Erkenntnis seinen Selbstzweck erkennt, der ihm das Leben wertvoll macht. Das hat in unsre wissenschaftliche Tradition diesen eremitenhaften Zug hineingebracht, daß der Denker für sich lebt. Dann entsteht der Widerwille gegen die Kirche. Damit die Sachlage sich kläre, ist eine kurze Ausführung über den Verlauf des Denkakts unentbehrlich. Was heißt denken, Wissenschaft? Die Kontroverse muß nicht in eine endlose Diskussion zerflattern, sowie festgestellt wird, daß es sich zunächst nicht um Phantasie, System usw. handelt, sondern um Wahrheit. Verdeutlichung des Selbstbewußtseins, das den in uns sich herstellenden Le68 Lat.: natürlicher Mensch oder Naturmensch. Gemeint ist, daß der Mensch nie nur Natur, sondern immer auch Person (Geist) und damit Kulturwesen ist. 69 Lat.: das Volk.
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bensvorgang schaut. Alles andre, ob es dann eine Erkenntnistheorie gebe, ob es eine Kritik der Erkenntnis gebe, die uns gegen unsern Lebensakt stemmt, ist cura posterior.70 Zunächst haben wir uns den Vorgang selbst zu verdeutlichen:71 1. Durch die Erfahrung der Menschheit ist bestätigt, daß wir im Denkakt nicht schöpferisch arbeiten, sondern daß der eigenen Leistung immer ein Empfangen vorausgeht. Alles Denken, das zum Wissen wird, beginnt mit der Wahrnehmung. Aber damit haben wir erst den einen Vorgang erkannt, mit dem der Denkakt nicht erschöpft ist. 2. Daran schließt sich eine zweite Funktion: Aufgrund des Empfangenen, infolge der mir gewährten Schau entsteht das Urteil, der aktive Prozeß entsteht, die Leistung, bei der das Ich mit seinem ganzen geistigen Besitz produktiv wird. Wir werden durch Wahrnehmung nicht nur passiv, es entsteht ein an uns sich wendender Anspruch daraus. Der erste Vorgang zeigt uns die stetige Geltung des Kausalgesetzes: Wir sind in den kausalen Verband hineingestellt, der vor die Wirkung die Ursache setzt, ex nihilo nihil 72! Wir haben in Tübingen einmal den Vorgang gehabt, daß einer in seiner Stiftszelle aus der Denkidee eine Dogmatik produziert hat, und manches Leben ist dadurch zerstört worden.73 Dagegen gibt es keine Auflehnung. 70 Lat.: spätere Sorge (im Sinne einer nachgeordneten, weniger gewichtigen Frage). 71 Vgl. dazu Schlatters ausführliche Darstellung in seiner Dogmatik (Das christliche Dogma, aaO [s. o. Anm. 30], 89–93) und bei Walldorf, Realistische Philosophie, aaO [s. o. Anm. 19], 52–114. 72 Lat.: Aus dem Nichts entsteht nichts. 73 Polemische Bemerkung gegen den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der als württembergischer Theologiestudent im Tübinger Stift ausgebildet wurde und für Schlatter ein Paradebeispiel für die Verbindung von starker Wirklichkeitsferne und ausgeprägtem denkerischen Selbstbewußtsein war, die er als eine im Stift verbreitete Geisteshaltung zu beobachten meinte. Vgl. dazu seine Vorlesung Die philosophische Arbeit, aaO [s. o. Anm. 4], 200f., wo er Hegel in diesem Sinne kennzeichnet und diese Charakteristik mit
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Nun kommt die uns aufgegebene Einheit. Ein Ich ist eine Eins. Daraus entsteht die Forderung, daß wir den uns zugetragenen Stoff mit unserm sonstigen geistigen Besitz einigen. Darum ist unser Denken ein beständiges Vergleichen, das Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit feststellt. Wir formen Sätze, Subjekt und Prädikat, wir bilden Begriffe, d. h. wir fassen eine unzählbare Reihe von Vorstellungen zusammen in eine Einheit. Das ist der aktive Beruf, den wir als Denker haben. Er entstammt nicht irgendeiner Willkür, sondern die den Vorgang gestaltende Regel ist für alle gleich. Wir ernähren uns nicht aus unserm eigenen Fett, wir brauchen [bei der Wahrnehmung] Wirklichkeit, um Gedanken zu bekommen. Ebenso ist es beim zweiten Faktor des Denkvorgangs, dem Urteil. Sowie wir mehrere Akte zu einem einheitlichen Verfahren zusammenbringen müssen, entsteht die Möglichkeit der Irrungen. Wir können vermengen und trennen statt zu einen. Wenn wir den ersten Vorgang allein pflegen, entsteht der Empirismus. Wenn wir nur urteilen und nur Begriffe und Syllogismen produzieren, entsteht der Rationalismus, wo der hellenische Einfluß regiert, daß die intelligible Monade74 entstehen soll und der Philosoph zum Eremiten wird. Denn das Empfangen, die Wahrnehmung kann man nur dadurch gewinnen, daß man sich mit dem objectum Aug in Auge, Brust an Brust in Verbindung bringt. Nun entsteht die Frage: Trifft denn diese Beschreibung des Denkakts auch für die Theologie zu? Wahrnehmen – wie wollt seiner Ausbildung im Tübinger Stift in Verbindung bringt. Hinter Schlatters Polemik steht seine langjährige gespannte Beziehung zum Tübinger Stift (und umgekehrt). Vgl. dazu ausführlich: Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 8–392. 74 Die »Monaden« sind in der Philosophie des deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) »völlig in sich geschlossene Urträger des substanziellen Seins«, die »ohne Fenster« existieren und »keine Wechselwirkung« zu anderen kreatürlichen Monaden entfalten können (Art. »Monade« in: W. Brugger [Hg.], Philosophisches Wörterbuch, Freiburg / Basel / Wien 151978, 250). Für Schlatter sind sie der Inbegriff des von der Gemeinschaft isolierten Individuums.
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ihr Gott wahrnehmen? Ihr habt ja kein Objekt für eure Theologie. Oder urteilen? Eigenes Denken pflegen – ist es nicht unfromme Auflehnung? Ihr habt nicht selbst zu denken. Wie könnt ihr selbst denken, wenn ihr einen mit euren Gedanken geformten Satz Theologie nennt und Aussage über Gott? Wenn wir abseits vom göttlichen Wirken eine Wissenschaft vom göttlichen Wesen suchen, dann würde die Einrede »ihr habt ja kein Objekt« zutreffen. Aber wir befinden uns in der Christenheit, nicht in einer mystischen Religionsgemeinde, nicht in einer buddhistischen Zelle. Ihre Aussage über Gott lautet, daß er der Wirkende, der Schöpfer, der Gebende ist. Unsre Theologie beginnt mit der These, daß man Gott nur durch Gott erkennen kann. Aber Gott ist der Wirkende, der Offenbarende. Es handelt sich darum, den Gottesgedanken da zu gewinnen, wo uns göttliches Wirken erreicht. Darum beginnt die Bibel mit einem Schöpfungssatz. Dagegen »deus est ens«75 ist Wiederholung vorchristlicher Logik.76 Wo erreicht uns Gottes Wirken? Da treten immer die beiden Vorgänge zusammen: sensus, aisthēsis 77 [d. h. die »Wahrnehmung«] und das innerlich Geschehende [d. h. das »Urteil«], die Tätigkeit des Intellekts. Ohne Geschichte, ohne Naturbild keine Theologie. Wir können aber nicht nur Historie erzählen, auch nicht nur Naturprozesse, sondern die Bewegung des eigenen Innern, der pneumatische Vorgang ist unentbehrlich. Damit ist die Bedingung für wirkliche Wissenschaft gegeben. Aber das Urteil? Ist das nicht eine irreligiöse Unternehmung, die die Spannung zwischen Universität und Kirche unvermeidlich hervorbringt? »Ihr wollt kritisieren, ihr habt aber nicht zu kritisieren, ihr habt zu glauben!« Die Hemmung des Denkgesetzes hat immer die zerstörenden Folgen, die jede Verneinung der uns ge75 Griech.: Gott ist das Sein. 76 Die Signatur des vorchristlichen Denkens war für Schlatter im Kontrast zum biblischen Schöpfungsdenken die Identifikation des Seins Gottes mit der Wirklichkeit der Welt. 77 Der lat. Begriff sensus bedeutet wie der griech. Begriff aisthesis die Wahrnehmung als grundlegenden Akt allen Erkennens.
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setzten Lebensbedingungen hat. Es ist ein unfrommer Vorgang, die uns gesetzten Lebensbedingungen als Sünde zu werten. Wir haben uns so zu verhalten, wie wir sind, wir stehen aber unter der Regel der Einheit: Wir können Sich-widersprechendes nicht einigen, der Widerspruch ist uns verboten, und unter diesem Verbote steht die Christenheit so gut wie jede andre [Gemeinschaft]. Das Denkgesetz muß in der Christenheit bejaht werden. Wenn wir von der Urteilsfrage sprechen, kommt die Glaubensfrage uns entgegen. Entsteht nicht hier eine Spannung, die uns intensiv quälen kann: Wissenschaftlichkeit und Gläubigkeit?
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§ 3 Der Glaube und die wissenschaftliche Arbeit Glaube und Wissen, ein viel beschriebenes Thema! Mit der Vorstellung Glaube verbindet sich leicht eine bestimmte Reihe von Vorstellungen, [z. B. der Gedanke]: Wissen sind die auf dem Weg der reinen Vernunft entstehenden Vorstellungen, daneben [existiert] ein sogenannter Glaube! Dann [d. h. wenn der Glaube so verstanden wird] entstehen Schwierigkeiten: Dieser Glaubensinhalt läßt sich nicht benennen, zweitens läßt sich nicht angeben, wie wir auf diesen Glaubensinhalt kommen sollen. Eine andre Quelle als das Wissen muß da erschlossen werden, und hier entstehen die uns unbeantwortbaren, sich verlierenden Fragen. Zunächst zum Glaubensinhalt: Er umfaßt den gesamten uns vermittelten Glaubensbesitz. Der Sprachgebrauch verwendet ohne Zweideutigkeit den Terminus Glaube für jeden denkbaren Inhalt, je nachdem, wie der Denkende und Urteilende durch seine Lage beeinflußt ist. Es besteht eine scheinbare Mannigfaltigkeit in der Fassung dieses Gedankens, entfernt liegende Vorgänge kommen unter die gleiche Benennung. Darüber ob es morgen regnet, werde ich mich nicht zu einem Glauben aufschwingen, wenn es mich nicht berührt, wenn es morgen regnet. Bestimmt eine Vorstellung mein Handeln? Erst bei dieser Frage setzt der Glaubensgedanke ein. Wir sprechen damit aus, daß die in uns vorhandene Frage bejaht wird, und zwar nicht nur mit einem logischen, sondern mit einem absoluten Urteil, das den ganzen Lebensinhalt in unsern Besitz stellt. Die Verwendung des Glaubens findet auch fortwährend im menschlichen Verkehr statt: Ich habe mich immer wieder zu entschließen, ob ich einem Menschen glauben soll. Wann tritt der Anspruch Glaube hervor? – 51 –
Dann, wenn die zwischen uns bestehende Beziehung unsern Willen in Anspruch nimmt, wenn ich nicht der interessenlose Zuschauer des andern bin, sondern in irgendwelche Gemeinschaft mit ihm gebracht werde, die eine Entschließung erfordert. Auch einem Buch gegenüber stehen wir vor der Glaubensfrage, wenn es den Anspruch erhebt, die zentrale Überzeugung unsers geistigen Besitzes umzuwandeln. Ebenso entsteht am Gottesbewußtsein die Glaubensfrage, weil vom Gottesbewußtsein die Motive ausstrahlen, die unsre ganze Energie erfassen. Aber der Vorgang steht auf dem religiösen Gebiet, beim Verhältnis zu Jesus, zur Schrift unter keiner anderen Psychologie als beim Vertrauen zur Aussage eines Bettlers oder bei der Erledigung der Frage, ob es morgen regnet. Wenn es einmal einigermaßen deutlich ist, daß wir beim Glauben auf die Beziehung des Erkannten zu uns achten und nicht der Inhalt des Gedachten damit beschrieben ist, sondern der Einfluß, den ich dem betreffenden Gedanken über mich einräume, dann haben wir nicht eine besondere Quelle für Glaubensgedanken in uns zu suchen. Der Vorgang, der uns den Glaubensinhalt vermittelt, verläuft unter dem logischen Gesetz: Der Glaubensinhalt muß uns gegeben sein auf dem Wege, wie jeder Bewußtseinsinhalt uns zufließt. Er unterliegt also der Gesetzmäßigkeit, die wir mit Wissenschaft bezeichnet haben. Nur dann, wenn die Bedingungen, die dem Denkakt gestellt sind, funktionieren, bekommen wir rechtmäßig einen Glaubensgrund. Weil es sich um die Beziehung des Geglaubten zu mir handelt, muß der Glaubensgegenstand vor mir erscheinen. Wir haben darum fortwährend die Tatsache vor uns, daß das Vertrauen mit Zunahme des Wissens steigt auch auf dem theologischen Gebiet, entsprechend auch umgekehrt meine apistia.78 Damit ist ein weiterer Satz gegeben: Glaube kann nicht entstehen durch Selbstbearbeitung. Dieser Gedanke kann darum leicht entstehen, weil sich an den Glauben ein Imperativ heftet, der die logische 78 Griech.: Unglaube, fehlendes Vertrauen.
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Norm mit seinem dringlichen Ernst weit überragt. Wenn der logische Akt mißlingt, wenn wir unwissend bleiben oder wenn wir das Urteil nicht fertigbringen, so entsteht daraus eine Mißbilligung. Allein davon unterscheidet sich der Imperativ deutlich, der mit der Entstehung des Glaubens sich verbindet: Du sollst glauben! Das ist nicht nur im Neuen Testament so, sondern auch im psychologischen Bereich. Jeder Zeuge verlangt, daß ihm geglaubt wird. Die Verweigerung des Glaubens erscheint, wenn sie unbegründet ist, als schwere Verletzung des dem andern zustehenden Rechts, unbegründeter Verdacht ist schmerzhafter Rechtsbruch. Der Imperativ heftet sich darum an den Vorgang, weil er den gesamten Lebensbestand in Bewegung bringt. Dem pistos79 gebührt die pistis80, wird sie ihm verweigert, so geschieht Versündigung. An diesen Tatbestand heftet sich häufig der Gedanke: Es ist Sache meiner ethischen Anstrengung, diesen Imperativ zu erfüllen, mich in den Glauben hineinzusteigern. Und daran hängt sich ebenso notwendig der Verdacht, daß nun doch Gläubigkeit und wissenschaftlicher Ernst unvereinbar sei, man wolle mit seiner Willensenergie Gedanken erraffen, mit einem Sprung schwinge er sich hinauf in Überzeugung. Diese krankhafte Verbildung unsrer religiösen Gedanken haben wir hinter uns, wenn wir uns klar machen, daß der Glaubensinhalt nicht durch eine Willensanstrengung gegeben wird, sondern: so wie jeder Bewußtseinsinhalt mir zukommt. Das Gedachte beim Glauben untersteht restlos dem logischen Gesetz. Erst wenn ich legitim, nicht durch Raub, in den Besitz eines Gedankens gekommen bin, der Herrschaft über mich gewinnen kann, entsteht die Frage: Welchen Machtbereich gönne ich ihm? Lasse ich ihn ein in mein Lebenszentrum, wo Wille wächst? Damit ist weiter klar, warum das Entstehen des Glaubens der wissenschaftlichen Analyse entzogen ist. Wir können mit wissenschaftlicher Deutlichkeit in vielen Fällen sagen, was wir glauben, können auch klar machen, warum wir uns am betreffenden Gegenstand dazu bewegt fühlen. 79 Griech.: zuverlässig, treu. 80 S. o. Anm. 58.
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Aber jetzt: Es kommt nie ein Glaube zustande, ohne daß das Wollen zustande kommt. Der Wille aber ist unserm Denkakt nicht zugänglich. Wir sehen nie den Wollenden, sondern wir sehen unser Gedachtes, unsre Vorstellung, die unser Bewußtsein füllt. Der Wille füllt unser Bewußtsein nicht. Darum ist die Entstehung des Willensakts etwas Unbeschreibliches, Unberechenbares. Zweierlei Bedingungen wirken mit: 1. Die Bedingungen sind teils gesetzt durch den natürlichen Bestand unsers Lebens und durch die göttliche Wirksamkeit, teils besitzen wir kausale Macht als unser ehrliches Eigentum, ist Wollen unser Freiheitsakt. Aber damit haben wir das Bewußtsein bereits bis zu seiner Grenze hin gedeutet. Hier hat unser Blick keine Kraft mehr, das ist unsrer Leitung entzogen. Unsre Bemühung um den Glauben ist daher darauf zu richten, daß unser Glaubensinhalt sichtbar sei. 2. Dazu gibt es einen weiteren Kreis von Bedingungen, mit denen wir an unserm Glauben mitwirken. Für den Theologen ist es eine sehr heilsame Beobachtung, daß die Grenze seines Blicks ihm entgegentritt. Was würde daraus werden, wenn wir hier die restlose Theorie des Glaubens schüfen? Das ergäbe die allmächtige Pädagogik. Durch die Schranke unsers Erkennens ist unsrer Technik die Grenze gesetzt. Weil der Glaube für jeden von uns donum dei81 ist, kann ich auch den Glauben nicht einem andern eindrücken. Es gibt auch keine Glaubensfabrik. Wir haben uns über den Glaubensinhalt klar zu werden. Und da hört die Spannung zwischen Glaube und Wissenschaftlichkeit auf: Wissenschaftliche Höhe und Höhe des Glaubens gehen Hand in Hand. Woher aber die Verherrlichung des Zweifels? Der Vorgang ist auch hier wieder genau zu benennen. Was heißen wir Zweifel? Man spricht vom Zweifel häufig auch dann, wenn die Verhinderung des Urteils eintritt, weil die unentbehrliche Voraussetzung, das Vergleichen, nicht vorhanden ist … Wenn Beziehungen zum vorhandenen Bewußtseinsinhalt nicht vorliegen, dann entsteht 81 Lat.: Geschenk Gottes.
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das Geheimnis, dann erzeugt die Wahrnehmung das Staunen: Es gibt im Bewußtsein keine zweite Vorstellung, die ich mit der jetzt wahrgenommenen verbinden kann. Das schafft den Eindruck des Unbegreiflichen. Das Staunen über das Unbegreifliche mit der damit gesetzten Zurückhaltung ist vom Zweifel im eigentlichen Sinn zu unterscheiden. Dieses Staunen hat der Theologe reichlich und überreichlich wie jeder Historiker in andern Arbeitsfeldern. Die Bescheidenheit, die nicht über alles und jedes ein Urteil bereit hat, wird bei echt theologischem Wissenschaftsbetrieb vorhanden sein. Der Zweifel im engeren Sinn besteht darin: Zwei Vorstellungen sind in uns vorhanden, die beide uns zu einem Urteil bewegen. Aber sie heben sich gegenseitig auf, das Urteil ist nicht möglich, weil es zwei Urteile sind. Es liegt auf der Hand, daß der Vorgang niemals zu den normalen Erscheinungen des Seelenlebens gestellt werden kann. Darum ist die Verherrlichung des Zweifels nicht ohne Gefahr. Wir haben uns zwar teilweise angewöhnt, Defekte als die starken Erreger der kraftvollen Aktion zu preisen: »Erst wühle herum in aller Nacht der Gottesleugnung, dann erst kannst du glauben!«82 Diese Methode beruht deshalb auf einem Irrtum, weil sie sich so stellt, als ob wir keine positiven Güter hätten. Es gibt aber positive Impulse, die vollständig berechtigt sind, unsre ganze Willenskraft aktiv zu machen. Wir brauchen nicht erst die Zerrüttung, um zur Tätigkeit zu gelangen. Es gehört, damit unser Akt gedeihe, der positive Antrieb dazu, der im Objekt selbst zu uns spricht.
82 Diese kritische Bemerkung zielt vermutlich auf Schlatters Tübinger Kollegen Karl Heim (1874–1958), dessen Verneinung jeder positiven, den Glauben begründenden Apologetik schließlich zu einem offenen und öffentlich ausgetragenen Konflikt zwischen den beiden Theologen führte, obwohl sich beide im Bemühen, die Studenten zu einem lebendigen Glauben und einer biblisch fundierten Theologie zu führen, sehr nahe waren. Vgl. dazu Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 708–725.
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Die Tat des Cartesius83 erscheint als die Morgenröte einer neuen Zeit, das gleiche haben wir bei Kant. Solange er Aufklärer ist, ist er nicht der Schöpfer der neuen Zeit. Erst als er irre wird an der Zuverlässigkeit des logischen Gesetzes, beginnt das Neue. Damit ist nicht widerlegt, daß der Zweifel unter die Störungen des seelischen Lebens zu stellen ist, weil [sonst] die Gefahr sich naht, das ganze seelische Leben zu zerbrechen. Die Überwindung der inneren Not wird gefeiert, aber damit ist nicht bewiesen, daß die Not an sich der normale Vorgang sei. Bei den großen Zweiflern haben wir immer die Motive vor uns, die die Verehrung des Zweifels schaffen, nämlich die Angst vor der Tradition. Das bewog Cartesius, mit allem, was er auf der Schule gelernt hatte, aufzuräumen: Das von der jesuitischen Tradition ihm auferlegte Erbe verneint er. [Ihn bewegen] Angst vor der Gemeinschaft, Sicherung des Eigenlebens vor der Überlieferung und dem herrischen Anspruch der andern, die uns als Pädagogen in ihre Gedanken hineinzwingen wollen. Dazu kommt ein zweites Angstgefühl, das wir bei Kant sehr heftig haben: die Begrenzung des eigenen Sehfelds. Ist sie nicht ein lähmender quälender Anblick: Darf ich dem trauen, was mein Sehvermögen mir zeigt? Ist unsre Ichheit der Begrenzung, der Ohnmacht unterworfen, die ein Ziel, wie wir es mit der Formel »wissen« ausdrücken, als unerreichbar darstellt? Beide Vorgänge können aber die Lebensbedingungen, unter die wir gestellt sind, nicht umwandeln. Die größte Wehrfähigkeit gegen die Tradition hebt nicht auf, daß wir ihrer bedürfen, da es Originalität im absoluten Sinn niemals geben kann. Wir sind auch mit unserm Innenleben in die 83 Cartesius ist die heute nicht mehr gebräuchliche lateinische Form des Namens des französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), der als »Vater der Philosophie der Neuzeit« gilt (J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart, 89). Vgl. das Urteil des Philosophen Heidegger: »Die gesamte neuzeitliche Metaphysik, Nietzsche eingeschlossen, hält sich in der von Descartes angebahnten Auslegung des Seienden und der Wahrheit …« (zit. nach ebd.).
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geistige Abhängigkeit hineingesetzt. Das gilt nicht nur für die Erhaltung der natürlichen Existenz, wir sind nicht nur, um zu leben, der Arbeit der andern bedürftig. Also handelt es sich nicht darum, die Gemeinschaft zu zerreißen, sondern unsre Beziehung zu den andern normal zu gestalten. Wir können sie nicht vernichten, sondern müssen sie so pflegen, daß ein Verkehr stattfindet, der sowohl die Gemeinschaft als den Einzelnen stärkt. Damit, daß der Glaubensvorgang zustande kommt, ist sicherlich eine gewisse Begrenzung und Fixierung des inneren Lebens gewonnen. Was ich bejaht habe und zum Eigentum machte, ist nun mein eigener Besitz. Der geglaubte Gedanke regiert die ganze Weise des inneren Lebens. Daran kann sich die Angst heften, daß nun eine Verkürzung eintritt: Du glaubst, also fragst du nicht mehr! Aber diese lähmende Wirkung des Glaubens wird nur dann eintreten, wenn wir unser Glauben an das falsche Glaubensobjekt hängen, wenn der, dem wir unsern Glauben geben, innerlich arm ist. Wir reden aber in der Theologie nicht vom Glauben an ein armes Objekt, sondern hier wird der Glaube dem gegeben, dessen Reichtum unerschöpflich ist, Römer 11 am Schluß84. Hier stehen wir vor dem Unerschöpften, vor der Liebe, die nie enden kann. Weder unser Auge noch unsre Tat erreicht einen Abschluß, bei dem wir nun satt in die Ruhe sinken. Wenn der Glaube bloß als Quietiv85 wirkt, dann hat er sein Objekt nicht vor sich. Sowie uns die Begegnung mit der Wirklichkeit gewährt ist, wird aus dem Glauben nie bloß 84 Schlatter meint wohl die Verse 33–36: »O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! … Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen« [LÜ]. 85 Mit Quietiv bezeichnet Schlatter den Denken, Wollen und Fühlen beruhigenden, Seelenfrieden schenkenden Aspekt des Glauben, dem als ergänzender Aspekt das Motiv gegenübersteht, mit dem Schlatter die Denken, Wollen, Fühlen und Handeln anregende und in Bewegung setzende Seite des Glaubens bezeichnet. Vgl. dazu Neuer, Der Zusammenhang, aaO [s. o. Anm. 26], 218.
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ein Quietiv, eine selbstzufriedene Beharrlichkeit im Empfangen, sondern hier ist eine Unendlichkeit uns erschlossen. Freilich gehört es auch zum Wesen des Glaubens, daß er, weil er uns befestigt, uns auch Ruhe gibt. Und wir brauchen die Ruhe! Die innere Befestigung unsers Geisteslebens ist Voraussetzung für den gelingenden Lebensakt. Der Glaube bringt uns ja mit dem Wirkenden in Zusammenhang. Weil Gott denkt, brauche ich nicht zu sorgen – dieser Satz gehört zu dem andern: Weil Gott denkt, denke ich und wird mein Denken eine nie ermüdende Lust. Wenn uns der Zweifel überfällt, was haben wir zu tun? Vielleicht sind es einzelne Probleme, es kann sich aber auch um das Ganze, um den Sinn des menschlichen Daseins handeln. Was ist zu tun? Zunächst einmal ist Leiden dazu da, daß man es trägt. Innerhalb des christlichen Gedankens ist uns beim Leiden die Zuversicht gegeben, daß sein Ausgang geordnet ist durch die göttliche Güte. Das bahnt die Überwindung schon an. Aber mit der Formel »Leiden« ist die Frage nicht erledigt. Das Leiden verlangt nach der Hilfe, und die entsteht an den festen Teilen unsers Bewußtseins. Wir haben uns klar zu werden, worauf der Zweifel sich bezieht. Vom gesunden Teil des Bewußtseins aus erfolgt die Heilung des kranken Glieds. Der Zweifel wird nicht dadurch geheilt, daß fortwährend gezweifelt wird, sondern dadurch, daß die Bejahung, wo sie uns gewährt ist, festgehalten wird und zum Ausgangspunkt unsrer weiteren Denkleistung wird. Jetzt noch eine spezifisch deutsche Krankheit. Es ist üblich geworden, im Zusammenhang mit der Geschichte unsrer evangelischen Theologie und der deutschen Kultur bei der Erschütterung des Denkakts die Rettung vom Gefühl zu erwarten. Das Gefühl kann das den Denkakt ersetzende Besitztum werden. Hier hat Schleiermacher eine große und unheilvolle Wirkung auf uns Deutsche ausgeübt.86 Gegenüber dem Wirbel der Philosophie flüchtet er 86 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) war der bedeutendste evangelische Theologe des 19. Jahrhunderts. Seine liberale Theologie hatte auf die gesamte (auch konservative) Theologie des 19.
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sich zum Gefühl. Die Bedeutung des Gefühls in unserm seelischen Leben ist rundum zu bejahen. Das Gefühl steht in der Mitte zwischen Denken und Wollen und verbindet die beiden miteinander. Zu den Merkmalen, mit denen wir über unser Wollen unterrichtet werden, gehören lebhaft die Gefühle. Darin, daß eine Vorstellung Gefühle hervorbringt, zeigt sich, daß sie den Willen packt. Darum hat der Satz »wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen« seine tiefe Wahrheit. Ein gefühlloses Denken wird nie zum Glauben werden. Eben mit der Erweckung unsers Gefühls wird auch unser Verlangen bewegt. Die Aneignung des Objekts geschieht dadurch, daß es uns fühlbar wird. Aber es entsteht ein unmittelbarer und unheilbarer Riß im inneren Leben, wenn wir das Gefühl isolieren wollen. Dann entsteht die Sentimentalität, eine schwere Erkrankung des seelischen Lebens. Nun ist es aber unmöglich, daß das Gefühl unser Denken und Wollen ersetzt, eben weil es etwas andres ist. Wir können uns auf das Gefühl nur dadurch beschränken, daß wir die entscheidenden Vorgänge in unserm Innenleben unterdrücken. Mit dem Rückgang auf das Empfinden ist darum nie die Hilfe für die anderen Funktionen gegeben. Wenn der Denkakt erschüttert ist, können wir nur durch Denken vorwärts kommen. Das Gefühl braucht einen Gefühlserreger und bei normalem Verhalten auch eine Folge, einen Effekt. Starkes Fühlen und armes Denken, starke Gefühle und Ausbleiben des Wollens ergibt die Denaturierung des Menschen. Die jetzt berührten Fragen führen noch einmal zu einem Problem beim Glauben: assensus et fiducia,87 Denkakt und Gefühl mit Jahrhunderts einen enormen Einfluß. Zu Schlatters kritischer Sicht von Schleiermacher vgl. seine zahlreichen kritischen Bemerkungen in der Dogmatik und in: Die philosophische Arbeit, aaO [s. o. Anm. 4], 165–167, 217–236 u.ö. 87 Die von Schlatter hier aufgenommenen lateinischen Begriffe assensus [= zustimmendes Urteil] und fiducia [vertrauender Glaube] gehen ursprünglich auf die seit den Loci theologici von M. Chemnitz in der lutherischen und reformierten Orthodoxie fest verankerte Tri-
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der folgenden Begehrung: Der, dem ich Vertrauen entgegenbringe, wird von mir begehrt und zwar seine Gabe. Wir haben im Glauben Denken und Wollen beisammen, und diese Frage ist noch einer kleinen Beleuchtung bedürftig.
as notitia [= Wahrnehmung] – assensus – fiducia zurück: Vgl. dazu Schlatters Dogmatik, (aaO [s. o. Anm. 30] 568) und W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 167 (Anm. 152).
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§ 4 Denken und Wollen Bei den verschiedenen Funktionen unsers Innern entsteht immer die doppelte Erkrankung: Entweder vermengen wir oder trennen wir Denken und Wollen. Beides ergibt krankes Verhalten und stört die wissenschaftliche Leistung: Getrennt sind die beiden Funktionen, wenn der Satz vertreten wird: Denken sei Selbstzweck, wir hätten nur das Wissen zu suchen. Damit ist der Wille vom Betrieb der Wissenschaft abgesondert. Der Satz hat große Wahrheit in sich. Wenn wir von der Selbständigkeit der Wissenschaft sprechen, so wollen wir sagen: daß in den Denkakt kein fremdartiges Motiv hineindrängen dürfe, daß wir unserm Gegenstand eine unverkürzte Liebe und Hingabe widmen. Die Wahrheitsregel muß unbedingt bejaht werden. Darum ergebe die Kombination verschiedener Zwecke im Denkakt selbst die Mißbildung. Damit ist ein großer Gedanke, der seine beständige Wichtigkeit hat, ausgesprochen. Fort mit der Tendenz, fort mit der Eigensucht, die dich zum Vergewaltiger der Wirklichkeit macht: Du hast jetzt zu denken. Aber der Satz wird gefährlich und krank, wenn er die endgültige Scheidung zwischen unsern Funktionen verkündet: Die Bewegung unsers Intellekts läßt sich nicht unabhängig von der Bewegung unsers Willens herstellen. Damit wird etwas Unmögliches gewollt. Die Illusion zergeht nicht nur, sondern der, der nach der Illusion greift, wird verletzt. Wir greifen nicht ungestraft nach der Illusion. Im alten Athen haben sie mit jugendlichem Mut verkündet, der Mensch sei Vernunft, der Vernunft sei es möglich, reine Vernunft zu werden, aus dieser Verstrickung mit dem Naturprozeß, aus der Bindung an die Begehrung sich zu lösen. Meine Herren, das hat keinen Augenblick aufgehoben, daß im Denkakt unsers noch so echten Athen der Wille der regierende Gedanke war. – 61 –
Das haben wir an der beständigen Konfusion vor Augen, die in der Formel Idee vorhanden ist. Da sind immer zwei Gedanken ineinander gemengt: Idee ist ein logisches Gebilde, der Begriff wird hier gewonnen auf der einen Seite, aber Idee ist gleichzeitig ein Ideal, ein Begehrtes, nicht eine Schauung, sondern eine Schöpfung der Phantasie, ein Willensziel, nicht nur ein Wissensprodukt. Dieses Durcheinander haben wir auch heute noch beim Idealismus. Da weiß man nie recht, was man meint. Da hat sich die Unlöslichkeit der Verbindung zwischen Wollen und Denken durchgesetzt. Es werden ja Werturteile geschaffen, d. h. man läßt sich regieren durch die vom Begehren bewirkten Antriebe. Auf der andern Seite steht der ebenfalls gefährliche Satz: Selbständigkeit des Willens. Es wiederholt sich der gleiche Vorgang wie bei der Selbständigkeit des Denkens: Wir bringen keinen einzigen Willensakt fertig ohne den Gedanken. Der Wille braucht ein Objekt, und sowie wir vom Objekt reden, brauchen wir ein Bewußtsein. Wenn wir einen Urwillen bekommen sollen, wie Schopenhauer lehrt,88 so bedeutet das immer, daß der Wille nichts mehr will, daß wir ein Wollen vor uns haben, das nichts mehr will. Es entsteht ein konfuser Selbstwiderspruch, dessen Eintreten unvermeidlich ist, wenn die Beziehung zwischen Denken und Wollen zerschnitten ist. Die Aufgabe ist, daß die beiden Funktionen ihre Normalität bekommen. Wir haben in dem uns gegebenen Beruf in 88 Arthur Schopenhauer (1788–1860), deutscher Philosoph. In seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« (4 Bde., Frankfurt 3 1859) entfaltet er eine Metaphysik des Willens, für die »der Wille« einerseits kosmologisch »der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist«, andererseits aber anthropologisch »erkenntnißlos und nur [als] ein blinder, unaufhaltsamer Drang« erscheint und ihm daher – abgesehen davon, daß er ein diffuser »Wille zum Leben« ist – eine konkrete inhaltliche Bestimmtheit fehlt (Bd. 1/2, § 54, zit. nach der Ausgabe des Könemann-Verlages, Köln 1997, 408f). Demgegenüber kommt für Schlatter anthropologisch alles darauf an, daß der Wille in der Wahrheit begründet ist (Das christliche Dogma, aaO [s. o. Anm. 30], 95) und auf Liebe und Gerechtigkeit zielt (ebd. 186–189).
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beiden Fällen unsre ganze Besonnenheit zu bewahren. Gibt es zu denken, so heißt es denken; gibt es zu wollen, so heißt es wollen. Mit der Richtigkeit des einen Vorgangs wird der andre befruchtet und zu seiner Bedeutung gebracht. Zum Gelingen der Semester gehört auch die sorgfältige Regelung des Wollens. Alles, was unsern Willen zerrüttet, überträgt sich schädigend auf unsre Denkleistung. Wenn die Sinnlichkeit uns schädigt, so ist das nicht eine einzelne Hinderung, sondern der ganze seelische Prozeß wird dadurch affiziert. Wenn die Selbstsucht aufgestachelt wird, so kann unter Umständen ein berühmtes Buch entstehen, aber der Wahrheitswert der Vorstellung ist unmöglich geworden. Der ganze Gedanke wird im Dienst ehrgeiziger Selbstbehauptung verkrümmt. Neben der logischen Aufgabe haben wir unsern ethischen Beruf im Auge zu halten. Ethische Sorgfalt gehört im Studium zum logischen Ernst.
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§ 5 Lernen und Forschen »Ich bin völlig unvorbereitet« – dieser Eindruck am Schluß der Studienzeit hängt teilweise daran, daß vielleicht wacker gelernt wurde, aber nur das. Auch das andre Ziel, das ich in die Formel »Forschen« fasse, führt oft zu Schwierigkeiten, die sich nicht erst in der Erfahrung des Akademikers zeigen. Er ringt um seine eigene Überzeugung: »Was geht mich die Bücherwelt an, ich muß meine Stellung nehmen«. Dann ist mit dem Bemühen, sich den eigenen Besitz zu verschaffen, häufig die Ausweitung des Blicks, die uns das Lernen gewährt, in Gefahr. Es entsteht eine Isolierung des geistigen Lebens. Seinen Text des Hosea konnte er [d. h. der Student] ganz korrekt herstellen, wie er zu lesen sich imstande hielt, aber die übrige Welt ist für ihn nicht vorhanden. Das ist schon in der ersten Zeit sichtbar zwischen Lernen und Forschen: Aus den Ausführungen über den Denkakt [wurde deutlich], warum die beiden Funktionen gleich betätigt werden müssen. Wir haben immer die beiden Stufen vor uns: Wir können nur denken über Ausgesagtes, nur urteilen über uns Gezeigtes, [wir müssen] erst Anteil [gewinnen] am vorhandenen Besitz, eine Einstellung [finden zur] geistig uns nährenden Gemeinschaft. Aber wir sollen nicht in den Empirismus versinken, sollen nicht eine Enzyklopädie werden, sondern wir sind Ichheiten, wir sollen für unsre innere Einheit sorgen, der fremde Gedanke muß verwoben werden mit unserm eigenen Lebensstand. Die kritische Funktion, die Systembildung ist unsre Aufgabe. Die beiden Funktionen sind und bilden die uns gesetzte Normalität des inneren Lebens, weder die eine noch die andre können wir ausrotten: Wir haben sie zu einen. Aus der Aufnahme [vom Wissen] entsteht die Lehre. Wir haben es zunächst mit dem Wissen anderer zu tun und den fremden Ge– 64 –
danken zu hören. Man muß hören und verstehen, wissen, was der andre weiß. Ohne das ist uns der Stoff nicht gegeben, an dem wir unser eigenes Urteil betätigen können. Sonst fehlt uns das Erbe, das dem eigenen Erwerb immer voransteht. Wir sind aber doch nicht Scholastiker, sagt man. Wenn wir von Scholastik sprechen, nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Orthodoxie, und nicht nur dort, sondern auch in der Gegenwart, dann ist davon die Rede, daß die Vorstellung des andern zwischen mir und dem Gegenstand die trennende Wand bildet.89 Damit habe ich eine Christologie, aber keinen Christus, einen Kommentar zum Neuen Testament, aber keine Verbindung damit. Wir empfinden alle: Hier entsteht die Leere, das gibt den Schüler, nicht den Faust.90 [Wir brauchen] also Forschung, aber nicht als Leistung des Eremiten. Hier entsteht die Nötigung zu einer folgenreichen Entschließung. Bei der horizontalen Bewegung des Lernens läßt sich eine gewisse Totalität erreichen: Die Lektüre des Neuen Testaments braucht nicht beim Römerbrief zu enden, seine Bibel kann man lesen. Hier ist eine gewisse Ganzheit, die bis zur Grenze des Wißbaren geht, erreichbar. Aber sowie ich die vertikale Bewegung in das Denken hineintrage, ist die Wahl nötig. Damit kommt hier auch die Qual. Was soll ich nun wirklich in die Finger nehmen zur Selbständigkeit? Daß ich hier nicht mit seelenbildender Schöpfermacht Ihnen die Wahl ersparen kann und will, ist klar. Auch der freiste Akt, verehrte Herren, zerreißt die Kontinuität der Geschichte nicht. Die beiden Dinge, Kausalität und Kontinuität, sind stetig wirksam und Merkmal für jeden Lebenslauf. Eine solche Wahl ist nicht von außen her durch andre zu besorgen, sie erwächst aus dem eigenen Besitz, dem eigenen Erleben. Aber einmal läßt sich sagen: Die mit der Wahl gesetzte Begrenzung darf nicht als Abnormität gescholten werden. Man hört oft solche Stimme: Euer Spezialismus ist das Unglück. Ich muß natürlich, wenn ich zur Produktion übergehen will, notwendig verzich89 Zum Begriff Scholastik s. o. Anm. 65 90 »Faust« ist für Schlatter hier das Sinnbild des selbständig Forschenden.
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ten. Das erscheint leicht als Verengung des Menschen, als Verstümmelung des Sehfelds. Bei dieser Beschwerde liegt doch immer der antike Dünkel von der die Welt formenden und beherrschenden Vernunft zugrunde, und das ist grundsätzlich falsch. Gegen diese Verstimmung dürfen wir uns verschließen. Damit kommt sofort die weitere Regel zur Geltung: Bei dieser Beschwerde ist immer wieder der Einzelne völlig isoliert wie die Leibniz’sche Monade.91 Aber auch diese Vorstellung darf sterben, wir brauchen diese Not uns nicht aufzuladen. Wir bleiben in der Genossenschaft der Arbeiter, sind also immer wieder die Lernenden. Mein Wissen wird teilweise ersetzt durch das Wissen der andern. Was wir brauchen, ist nicht der allwissende Dozent, der sämtliche Wissenschaften in sich vereinigt. Was die Kirche bedarf, ist eine ernsthafte ehrliche Arbeiterschaft, wo der eine den andern ergänzt, wo es zum Geben und Nehmen kommt. Wenn ich mich begrenze, dann ist damit nicht ein Unglück über mich gekommen, nicht etwas, was mir das Lebensziel unerreichbar macht. Im Gegenteil! Das ist die notwendige Bedingung jedes ernsthaften Erfolgs. Wir wollen [nun] einige der großen Unterschiede sehen, in die das Studium sich zerlegen kann: 1. Vergangenheit – Gegenwart. Wenn wir uns die Geschichte der Theologie vorhalten, so haben wir eine geschlossene Front zur Vergangenheit. Wenn man heute den Examinierten fragt »Was ist heute der Katholizismus oder der Monismus?«, »Welches sind die Schwierigkeiten, die der heutige Mensch beim Gebet zu überwinden hat?«, dann antwortet er: »Liebster Herr Professor, ich will ihnen gern sagen, in welchem Jahr die Apologie des Justin92 geschrieben wurde.« Rückwendung zur alten Zeit bedeutet starkes Überwiegen der Philosophie gegenüber der Theologie. Wir haben neben diesem Typ des theologischen Unterrichts allmählich in uns91 Zur »Monade« bei Leibniz und Schlatter s. o. Anm. 74. 92 Justin (um 100 – um 165), Theologe und Philosoph, bedeutendster griech. Apologet, verfaßte um 155 seine berühmte »Apologie« und starb den Märtyrertod.
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rer Jugend einen sehr kräftig entwickelten gegensätzlichen Typ bekommen. »Auf das hebräische Alte Testament verzichte ich«, die in die Strömungen der Gegenwart mich einführende Literatur, Künstlergeschichte, Flugschriften, Broschüren. Das ist das Bild unsrer Jugend. Man kann hier nicht sagen: Ihr steht nicht vor einer Wahl. Ihr steht vor einer Wahl! Die Einrede (gegen) die Wahl braucht noch kein Fehlgriff zu sein. Die, die geneigt sind, den theologischen Betrieb unsrer älteren Theologie zu schelten, sind sicher im Unrecht. Es hat nach allen Seiten fruchtbaren Erfolg, wenn wir ernsthaft in vergangenes Leben unsern Blick hineinsenken, auch wenn wir die Grenzen der Christenheit oder Israels überschreiten. Wenn wir gar keine Beschäftigung mit der Vergangenheit mehr haben, dann ist die Beschäftigung mit der Gegenwart schwerlich auf die Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis zu bringen. Das gibt ein gegenwärtiges Leben, bei dem stark das eigene kleine Ich den ganzen Farbenschmuck des historischen Bildes herstellt. Aber auch der andre Typ darf nicht das Scheltwort »falsch« bekommen: »Mich interessiert das, was ich als von meiner Umwelt gefordert immer vor mir habe«. Erste Aufgabe ist nicht Kirchengeschichte des ersten Jahrhunderts, sondern meiner Zeit. Erste Aufgabe ist nicht die Papstgeschichte, sondern ein Blick in die Spaltung, die unsre Christenheit heute als unüberwindliche Kluft trennt. Wenn man wirklich sehen und begreifen will, wird man von der Gegenwart in die Vergangenheit zurückgeführt ! Aber es bleibt ein deutlicher Unterschied, wohin die Forschung sich wendet. Die Verhütung der Einseitigkeiten und der Verarmung muß dadurch erreicht werden, daß man nicht nur forscht, sondern auch lehrt. 2. Eine andre Wahl von nicht weniger großer Bedeutsamkeit ist die [zwischen] dogmatischem und historischem Betrieb. Wir haben hier die große Schwankung in der Geschichte der Kirche. Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist der dogmatische Betrieb sehr stark, sie haben allerdings auch sehr ernsthafte Exegeten. Aber das Ziel der ganzen Arbeit ist Dogmatik. Ebenso die Betrachtung der Kirche: Sie dient lediglich dem Erweis für die Richtigkeit der eigenen Kirche und die Unrichtigkeit der andern, auch hier wieder – 67 –
mit ernsthafter Anstrengung. Dann kommt der Umschwung im Zusammenhang mit dem Übergang der Aufklärung in den Atheismus, gleichzeitig auch im Zusammenhang mit der Bewegung zu einem andern Wissenschaftszweig, nämlich der modernen Naturwissenschaft: Anstelle einer das göttliche Lehrbuch in der Schrift suchenden Betrachtung tritt die Reproduktion des Geschichtsverlaufs, die Historie, und nun auch wieder so, daß ein scharfer Unterschied, ja Gegensatz gegen die ältere Formation entsteht. Dogmatik ist die Liebhaberei einer kleinen Gruppe, die sich den Luxus des Denkens gönnt, ein gewisses Anzeichen von seelischer Entartung! Das ist eine weit verbreitete Stimmung. Wir haben hier im Kleinen bei uns den gleichen Gegensatz. Hier kann sich ebenso gut wie in der alten Kirche ein kräftiger dogmatischer Hunger zeigen. Das erste ist dann Kant: »Kritik der reinen Vernunft«.93 Das Ziel [ist] eine Erkenntnistheorie, mit der der religiöse Gedanke aufgebaut wird, damit er das Merkmal der Wissenschaft erhält. Begriff, Definition, das ist das Verlangen, das ist der dogmatische Typ. Die Wahl muß getroffen werden ohne Murren, aber auch ohne hoffärtige Geringschätzung des jenseits meiner Wahl liegenden Gebiets. Historische Arbeit ohne Dogmatik, Dogmatik ohne historische Kenntnis ist natürlich nicht normal. Eine Differenzierung gibt es und die Wahl ist nötig, weil wir nicht nach allem mit eigenem Griff langen können. 3. Damit kommt die dritte Bemerkung zur Geltung. Wie auch gewählt wird, eines steht fest: Ernsthafte Arbeit ist unverzichtbar! Die Verzichtleistung auf die Extension muß neben sich haben die tapfere Intension des Strebens. Wenn der Blick sich in die Gegenwart richten soll, dann nicht nur mit Flattern, nicht hier ein bißchen genascht und dort ein bißchen genascht, die Aufgabe verliert nicht an Ernst und Methode, steht auch mit ganzer Energie unter der Wahrheitsregel. Das Gleiche ist auch dem Kritiker zu sagen: Hinein in die Arbeit, es handelt sich nicht nur um ein Register von allerlei Absonderlichkeiten und Unregelmäßigkeiten. Es handelt sich 93 Kants grundlegende Schrift erschien 1781 in erster und 1787 in zweiter Auflage.
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um das Geschehen, um die wirklichen Faktoren, nicht um antike Wunderlichkeiten. Um den antiken Menschen handelt es sich, um den antiken Glauben, um den Verkehr des antiken Menschen mit Gott, um Gottes Wirken in der Antike. Sowie das wissenschaftliche Ziel unverkürzt bleibt, wird das … Studium nicht papierene Wissenschaft, und diese ist nicht maßgebend. Das Gleiche [gilt] auch für philosophische Bemühung und historische Einzelarbeit.
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II. Die Lehrmittel der Theologie
§ 6 Die Lehre Auf der agnostisch-skeptischen Seite wird die Lehrbarkeit der Theologie verneint, weil die Übersetzung einen Einblick in das den Schlußeffekt bildende Geschehen nicht gewährt.94 Wir sehen [beim Lehren] in der Tat nicht nur Veränderung [des Denkens], sondern 94 Der mit »weil« beginnende Nebensatz ist in der vorliegenden Form selbst für einen Kenner der Theologie Schlatters kaum verständlich. Wenn man nicht eine durch den Stenographen bedingte Textverderbnis annimmt, könnte gemeint sein, daß die von der Theologie zu lehrende Wahrheit [es geht in dem Satz in jedem Fall um theologisches Lehren!], also das Ergebnis [»der Schlußeffekt«] des Lehrens, durch den von Schlatter mit einer »Übersetzung« verglichenen Akt des Lehrens letztlich nicht einsichtig gemacht werden kann [keinen »Einblick … gewährt«], zumal die zu lehrende Wahrheit [darauf macht der darauf folgende Satz aufmerksam] immer auch die Willensdimension des Lehrenden berührt, die das »Werden« der Erkenntnisse nach Schlatter stets beeinflußt (vgl. dazu Schlatters Das christliche Dogma, aaO [s. o. Anm. 30], 94), zumal diese wiederum zugleich sein Gottesverhältnis betrifft [wie der weitere Satz verdeutlicht]. Die Stelle würde – so verstanden – Schlatters in seiner Dogmatik klar zum Ausdruck gebrachte Überzeugung bekräftigen, daß »das Entstehen des Gottesbewußseins … nur in seinem Ergebnis, nicht in seinem Werden unserem Blick ausgesetzt ist« und daß das Werden der Gotteserkenntnis daher »ein nicht durchdringbarer Vorgang« ist (ebd. 100). Auch wenn es nach Schlatter plausible Gründe für die Wahrheit des christlichen Glauben gibt, ist diese Wahrheit letztlich von Menschen nicht lehrbar: »Unser religiöses Lehren ist daher nie mehr als die dienende Mitwirkung bei Vorgängen, die weit über unsere kausale Macht hinausragen. Der Lehrer, der wirklich lehrt, wirklich so denken macht, daß der andere weiß und Gewißheit hat, ist einzig Gott« (ebd.).
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[auch] einen Willen (des Lehrenden). Wir sehen am Willen [z. B.] auch, in welchem Verhältnis er zu Gott steht. Der Verkehr zwischen Lehrer und Student vollzieht sich nach der gleichen Regel wie immer: Am Beispiel bekommen wir die Erweiterung unsers Sehfelds. Der Lehrer zeigt, wie er denkt, daran entsteht die Denkfähigkeit des Studenten. Der Lehrer stellt dar, wie er seinen Willen ordnet, daran entsteht die Ethik des Studenten. Eine Tyrannei darf sich nicht in dieses Verhältnis einmengen. In unsrer alten Universität hat sich dies dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es so etwas wie Pädagogik überhaupt nicht gab. Religionspädagogik ist eine sehr moderne Erfindung. Der alte Akademiker teils der Orthodoxie, teils der idealistischen Periode stellt seinen Gegenstand dar unbekümmert um die Fassungskraft seiner Hörer: Wer Ohren hat, der höre! Vermittlung an den Zuhörer gab es nicht. Ich empfinde dieses antike Ideal immer noch als wertvoll im Unterschied zu aller Schulmeisterei. Schädliche Effekte haben sich aber da[nn] angeschlossen, wenn unser akademisches Verfahren imitiert wurde an einer Stelle, wohin es nicht gehört. Die Beseitigung aller Rücksicht auf den Hörer setzt den selbsttätigen, reifen Hörer voraus, die Universität wurde dadurch nicht zur Kinderschule. Wird nun aber das Verfahren heruntergenommen auf die Anfänge des intellektuellen Lebens, dann entsteht eine Verderbnis, ein Notstand. Unsre Führer hatten an der Universität nicht das Vorbild, wie sie mit dem Volk ihrerseits zu verkehren hatten. Aus dem Kolleg entsteht der Kanzelvortrag, der gehalten wird, einerlei ob der Hörer folgt oder nicht, entsteht der Schulunterricht, der ein verkürztes Abbild des akademischen Vortrags ist. Ich habe die Erzählung Herodots von Semiramis95 in der Dorfschule zuerst kennen gelernt. Die Universität soll den Verkehr mit Erwachsenen in Gang bringen, und hier ist die Zwischenstellung des Pädagogischen 95 Der griech. Historiker Herodot (um 490 – um 425 v. Chr.) berichtete in seinen Historien (I, 184) von der persischen Königin Semiramis, der man dann sehr viel später (erst in der Neuzeit) die sog. Hängenden Gärten (eines der sieben Weltwunder der Antike) zuschrieb.
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innerlich begründet. Wenn wir nicht mehr bei der reinen Theorie, beim Wissensziel stehen, wenn die unterstützende Anleitung für die das Zentrale im Menschen berührenden Vorgänge hergestellt werden soll, (dann handelt es sich um Pädagogik). Der Studio muß sich sagen: Ich habe den akademischen Lehrer nicht zu imitieren. Aber auch im Verkehr mit der akademischen Welt ist das Verlangen nach Religionspädagogik entstanden. Denn im alten Betrieb entsteht leicht der Schein, als könnte man das Wissen ohne die Anleitung der andern erreichen. Die Gesamtheit unsrer inneren Lebensvorgänge ist Voraussetzung für das Gedeihen der einzelnen Funktionen. Insofern ist ein der Liebesregel dienstbar gemachter Unterricht eine wesentliche Überschreitung der früheren Methode: Jetzt sucht er ernsthaft den Hörer, und der Unterricht vollzieht sich nicht als Monolog. Noch einige konkrete Wünsche und Räte. In unsrer Situation liegt es, daß der Studio sich nicht einen Lehrer suchen darf, er steht vor einem vielköpfigen Lehrstand. Das bringt Gewinn und Schwierigkeit. In der älteren Geschichte der Kirche kommt es oft vor, daß der eine Lehrer das ganze geistige Leben seiner Zuhörer fordert. Abälard 96 war der Magnet für seine Schüler, 1520 pilgerten sie nach Wittenberg und suchten Melanchthon 97 und Luther, das übrige war Beigabe. Schon die Teilung der Arbeit, die wir nicht als Notstand zu schelten haben, fordert die Vielfalt der Lehrer, die Individualisierung des Geisteslebens. Unsre Kirche hat hier noch viel zu lernen, bis sie sich hier einfügt, weil immer wieder der Versuch 96 Petrus Abaelardus (1079–1142) war französischer Philosoph und Theologe und Wegbereiter der Scholastik. 97 Philipp Melanchthon [= P. Schwarzerdt] (1497–1560) war Universalgelehrter, Humanist und Theologe. Neben Luther war er der bedeutendste deutsche Reformator, darüber hinaus wurde er durch seine Neuordnung des Schul- und Universitätswesens zum »Praezeptor Gemaniae«, dessen Bildungsreform in weiten Teilen Europas zum Vorbild wurde. Vgl. zu ihm meinen Aufsatz: Philipp Melanchthon als Reformator, Ökumeniker und Beter. Zum 500. Geburtstag des Weggefährten Luthers, in: Evangelikale Theologie (April 1997) 4–11.
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hervortritt, die Einheit durch Gleichmachung herzustellen. Innerhalb des christlichen Gedankens ist es ganz klar, daß jeder von uns sein Eigenleben hat mit seiner Grenze, die an der Determination immer entsteht, aber auch mit seiner Kraft, die sich auf den andern übertragen läßt. Darin zeigt sich, daß wirkliche Charis,98 gebendes Wirken Gottes, unser Verhältnis zu ihm herstellt. Die Liebe sucht ihren Empfänger, schafft Eigenleben, stiftet Eigentum. Der Mangel bei der Begrenzung des Eigenlebens wird dadurch ausgeglichen, daß wir in der Gemeinschaft leben. Mit der Formel Individualisierung ist aber der Tatbestand und die an ihm entstehende Aufgabe noch nicht völlig genannt. Es ist unvermeidlich, daß an den Universitäten der Lehrbetrieb sich in der Form des Kampfes vollzieht. Darüber gibt es viel Klage: ein gespaltener Lehrstand, die Autorität nicht nur vielköpfig, sondern in beständigem Hader sich gegenseitig verneinend, nationales Unglück, Unglück auch für den Einzelnen. Allein dieser Tatbestand ist reichlich verursacht durch das, was wir menschliche Schuld und menschlichen Jammer heißen müssen, aber [er ist] doch nicht nur [Ausdruck] unsrer Gottverlassenheit, sondern hat auch wieder seinen Grund in der heiligen, dankbar zu ehrenden Regierung Gottes. Mit der Individualisierung ist die Gruppenbildung nötig, Schulen entstehen, es tauchen immer wieder die antiken Ideale auf als das, was auch unser eigenes Verhalten zu regeln habe. Der Übergang von der Schule zur Partei im Sinn des korporativen Egoismus vollzieht sich rasch. Die Kirche ist keine fertige Gemeinschaft, kein vollendeter Bau, der die Gegenwart des Geistes und das Regiment des Christus in vollendeter Herrlichkeit versichtbart. Wir sind eine Arbeiterschaft, die an der Bauarbeit teil hat. Und das bedeutet, daß die Überzeugungen sich nicht nur differenzieren, sondern auch aufeinander stoßen, und zwar auch in der unsern ganzen Verkehr mit Gott tragenden Norm. Nun gehört es zur großen Aufgabe und zur Ehre von Universität und Kirche, daß der Wahrheit gehorsam keine Vergewaltigung einer Überzeugung stattfindet. Wir können 98 Griech.: Gnade.
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für unsre Fakultäten kein andres Gesetz zulassen, als daß wir jede ernsthaft vertretene Überzeugung zu Wort kommen lassen. So vollziehen sie ihren Beruf, nur so. Auf Seiten des Studenten setzt das voraus, daß er begreift: Es handelt sich im Verhältnis zum Lehrer um freie Gemeinschaft, nicht um Unterjochung und nicht um Übernahme eines fremden Besitzes. Freie Gemeinschaft bedeutet zuerst die Bereitwilligkeit, Verständnis und Ruhe, die hören kann und begreift [und] bedeutet weiter das eigene Urteil, das nicht durch fremde Stöße sich verkümmern läßt. Je nachdem, ob diese Ruhe vorhanden ist, wird die Vielzahl der Lehrer direkt zum Gewinn. Ein gewisses Maß ist hier immer ratsam. Sich in den Gedanken einer Fakultät oder eines Dozenten hineinzufinden, ihn wirklich zu fassen und ein Urteil zu bekommen, braucht es Zeit. Jedes Semester eine andre Fakultät [besuchen] bedeutet unverstandene Brocken, die nicht zusammenfügbar sind zu einem fruchtbaren Ganzen. Behandeln Sie diese Dinge mit dem Ernst, der ihnen gebührt! In der Flatterhaftigkeit der Wanderung liegt nicht ohne weiteres [eine] Erhöhung der Bildung. Es sind beide Werte gegeneinander abzuwägen und die Art, wie die Abwägung sich vollzieht, erfordert einen weislich erwogenen Entschluß. Die Lehrmittel des akademischen Lehrstandes sind Kolleg und Seminar. Die beiden Seiten unsrer Arbeit kommen darin zur Ausprägung: Forschen, eigene Urteilsbildung, die sich eines Stoffes bemächtigt, ist Ziel des Seminars. Ziel des Kollegs: Übersicht über ein Ganzes, Herstellung eines ein gewisses Gebiet umspannenden Wissens. Der Sinn des Kollegs ist nicht, eine normale Wissenschaft zu geben, die für alle Zeiten den Betreffenden begleitet. Im Verkehr mit der Geistlichkeit tritt es einem oft entgegen, daß das Ende ihres Wissens mit dem Ende des Kollegs zusammenfällt. Der Sinn ist nicht der, mit einer normativen Festsetzung das Wißbare einzuprägen. Aber das Kolleg unterscheidet sich vom Seminar wertvoll dadurch, daß es nicht eine Einzelheit zur Beobachtung bringt, sondern die Überschau gewährt. Der Trieb nach dem Ganzen gehört – 77 –
zum Wissen. In dem Maß, als uns ein Ganzes zufließt, sind wir auch für die Einzelarbeit gerüstet. Die Frage, in welches Verhältnis die beiden Methoden des Unterrichts zu bringen sind, hat wieder die Unbeantwortbarkeit der Kasuistik an sich. Im Ganzen ist es eine glückliche Entwicklung an unsern Universitäten, daß der Seminarbetrieb stetig wächst, obwohl ich nicht der Meinung bin, daß er das Kolleg ersetzt. Es fehlt doch wieder das nötige Wissen, das zum Seminar nötig ist, wenn man das Kolleg verläßt. Bei der Wahl der Vorlesung kommt sehr ernsthaft das Verhältnis der Vorlesung zur Literatur in Betracht. Es gibt Stoffe, für die die Bücher einen vollständigen Ersatz für das Kolleg bieten. Bei andern Stoffen ist uns der Lehrer unentbehrlich. Im gegenwärtigen Augenblick gibt es keine Dogmatik, von der man sagen könnte, es sei die Dogmatik der Kirche. Wir stehen hier immer bei den Versuchen, die einigende Überzeugung herauszuarbeiten. Der dogmatische Lehrer ist gegenwärtig unentbehrlich. Der Pluralismus kommt hier wertvoll zum Bewußtsein. Ich zweifle, ob der fruchtbare Verkehr mit dem Neuen und Alten Testament zustande kommt ohne das Beispiel. Gewiß haben wir wertvolle Kommentare, und doch ist zu bezweifeln, ob man mit einigen Dutzend von Kommentaren ins Neue Testament hineinkommt. Man liest den Kommentar und nicht den Text, diese Gefahr ist vorhanden. Der Lehrwert der exegetischen Vorlesung ist kaum zu ersetzen. Am Beispiel wird sichtbar, wie der Akt des Lesens vollzogen wird. Am entbehrlichsten sind die kirchengeschichtlichen Vorlesungen, nicht darum weil die Kirchenhistorie entbehrlich ist, sondern weil hier die Literatur wirklich zum Teil die Vorlesung ebenbürtig ersetzt. Die Handbücher sind hier am leichtesten herzustellen und auch hergestellt. Eine gewisse Kollision mit den rechtlichen Ordnungen unsrer Konsistorien kann eintreten, das ist aber nicht der nächste Gesichtspunkt. Wesentlich ist die Regel, daß nicht mehr Kolleg gehört werden soll, als bewältigt werden kann. – 78 –
Wie ist Schreiben und Hören zu verbinden? Auch eine praktische Frage von ernsthafter Schwierigkeit. Die beiden Entartungen sind klar: Es gibt Hörsäle, die wesentlich Schreibanstalten sind. Ich habe hier abschreckende Erinnerungen an meine Studienzeit in Tübingen vor 50 Jahren, mit dem Erfolg, daß wir nie wußten, was im Kolleg vorkam. Der andre Entartungszustand ist der dasitzende Studio, vielleicht im Moment interessiert, aber die Rede fliegt zum Fenster hinaus. Das Hören und Schreiben muß verbunden werden. Die Regel hier ist keine leichte Kunst, das muß gelernt werden. Die Vorlesung rechnet darauf, daß sie präpariert und repetiert wird. Wenn Vorlesung nur im Hören besteht, wird sie in ihrem Ergebnis verkürzt sein, darum ist immer wieder vor dem Zuviel zu warnen. In dem Maß, als der Stoff bereits in Sicht steht, ist auch die Fruchtbarkeit der Erörterung bereits gesichert. Aber das zweite Überdenken, das dann das Gedächtnis heranzieht, ist ebenso unentbehrlich: Verachten Sie das Memorieren nicht! Noch ein kleines Pünktchen: Eine stückweise gehörte Vorlesung hat zweifellos einen ernsthaft geschädigten Erfolg. Akademische Freiheit? Aber vergessen Sie nicht, daß Freiheit eine große Verantwortlichkeit bei sich hat! Wir bringen in der akademischen Freiheit zum Ausdruck, daß wir unser Verhältnis zum Lehren grundsätzlich davon unterscheiden, was der Aufklärer mit seiner pädagogischen Maschine wollte: Eigene Wissenschaft soll entstehen! Aber ein Kolleg ist ein Ganzes, nicht nur die einzelne Vorlesung. Der Lehrwert einer Vorlesung entsteht doch erst dann, wenn sie als Ganzes [d. h.] ihn ihrem Aufbau wiederholt werden kann.
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§ 7 Die Lektüre Hilty hat eine Abhandlung geschrieben »Lesen und Reden«.99 Wir stehen vor der Tatsache, daß wir sehr wenig Leute haben, die lesen können! Lesen heißt: den von einem andern entfalteten Gedankengang in sich reproduzieren. Warum ist das schwierig? Damit ist in noch stärkerem Maße als beim Hören jene Entsagung dem eignen Interesse gegenüber gefordert. Es gilt, zuerst das Ohr zu öffnen für den dem andern angehörigen Gedanken. Darum greift Kolleg und Lektüre bedeutsam ineinander ein. Die Erziehung zum Hören ist vielleicht das beste Mittel, um die Lesefähigkeit zu erlangen. Aber beim Lesen kommt noch eine Schwierigkeit hinzu, daß es mit dem persönlichen Eindruck nicht rechnen kann wie beim Hören. Das Wort auf dem Papier spricht hier nicht mehr so mit wie in der mündlichen Begegnung. Darum die Tatsache: »Seit ich Sie gehört habe, konnte ich Sie lesen.« Wir dürfen aber doch nicht von diesem mitschwingenden Reiz abhängig bleiben, sondern müssen einen Gedanken als Gedanken, eine Beobachtung als Beobachtung werten. Natürlich ist auch im Verkehr mit dem Buch die Selbstlosigkeit nicht der einzige Vorgang, es kommt dann auch die Urteilsbildung, die Polemik hinzu.100 Aber lesen kann nur der, der es erreicht hat, 99 Vgl. C. Hilty, Lesen und Reden, Leipzig 1922. Carl Hilty (1833– 1909) war Schweizer Professor für Staatsrecht und Erbauungsschriftsteller. 100 Zur dogmatischen Urteilsbildung gehörten in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts »Polemik« und »Ironik«. Vgl. dazu K.R. Hagenbach, Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Leipzig, 111884, 369.
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daß er einen von einem andern erreichten Gedankengang in sich herstellen kann. Die Schwierigkeiten hier kommen teils von der Tagespresse, teils von der schönen Literatur. Die Tagespresse steht nie unter der Wahrheitsregel, sondern verbindet immer die Mitteilung eines Gedankens mit einer Tendenz. Es ist klar, daß die Berührung mit einem Gedanken sofort eine rascher zum Ziel führende Wirkung hat, wenn auch unser Empfinden und Begehren mobil gemacht wird zum Zweck, daß der fremde Gedanke uns erreicht. So ist der Wert der Lektüre verkürzt. Der zweite Gegner, mit dem die Lektüre im Kampf steht und den sie bändigen muß, ist die schöne Literatur, wenn die Leselust geweckt wird mit allen kraftvollen Impulsen, die die Kunst hat, [z. B.] mit der starken Erregtheit des erotischen Begehrens. Nun kann man sagen, daß unsre Wissenschaft an dieser Stelle an unkünstlerischer Gewissenhaftigkeit leidet. Die Generation des letzten Jahrhunderts, ein sehr tüchtiges Theologengeschlecht zwischen Schleiermacher und dem Materialismus, 1800–1848, hat trotz seiner tüchtigen Arbeit durch eine schwerfällige Hemmung der Phantasie, eine reizlose Gegnerschaft gegen die Kunst, den Umfang ihres Wirkens ohne Frage gehemmt. Bei Hofmann101 haben wir einen Verkehr mit der Schrift, der nicht alltäglich ist, neben dem die andern Fakultäten nicht parallele Leistungen zu zeigen haben. Aber ein Kommentar von ihm hat seine Schwierigkeiten, und das hing an seiner eigensinnigen Abneigung gegen jede Bildung, an seinem Versuch, ein reines Denken, ein phantasieloses Denken, ein Denken ohne Vorstellung (zu betätigen). Damit entfällt jegliche Kunst. Wenn unser deutscher Stil sich künstlerisch gestaltet, so ist damit noch kein Schaden angerichtet. Aber es bleibt dabei: Wir haben in der wissenschaftlichen Lektüre nicht ästhetische Genüsse an die erste Stelle zu setzen. Ich weiß sehr wohl, meine Herren, man hat alle Mühe, aus der phantastischen und ästhetischen Genußsucht heraus 101 Johann Christian Konrad (von) Hofmann (1810–1877), Prof. für neutestamentliche Exegese u. a., Vertreter der sog. »Erlanger Theologie« (s. u. Anm. 197).
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zum ernsthaften Lesen zu kommen. Das braucht eine ernsthafte Selbstüberwindung. Es ist nicht nur für das Gedeihen unsrer Wissenschaft, sondern für das Gedeihen unsers Volkes ein ernsthaftes Anliegen, daß wir die Lesefähigkeit bekommen. Beim gegenwärtigen Bestand unsers Buchgewerbes – Romane in Auflagen von 100.000 – kriecht ein ernsthaftes Buch mühsam ins Publikum. Denn die Flügel, die ihm die sinnlichen Reize verschaffen, fehlen ihm. Das ist kein nationaler Wohlstand, den wir hier vor Augen haben. Bei tapferer Gewöhnung ans Lesen entsteht wieder die Not der Wahl: Handbuch oder Quelle? Beides. Wir haben in unserm Verkehr mit den Büchern zwei Vorgänge: es gibt Bücher, die benützt werden, und es gibt Bücher, die gelesen werden. Es ist nicht das Gleiche, ob ich die Darstellung einer Geschichtsperiode dazu benütze, um mir einzelne Daten von ihr zeigen zu lassen, oder ob ich dem Erzähler folge in der Weise, wie er das Geschichtsbild in sich aufbaut. Natürlich brauchen wir eine Menge von Gedrucktem, das wir nur benützen. Aber dazu kommt das zu lesende Buch. Das Handbuch gehört zunächst zu den benützbaren Büchern. Aber nicht nur [das] Handbuch. Die Quelle hat ja auch den großen Wert, daß sie uns leicht über unser eigenes Sprachgebiet hinausführt. Die fremdsprachige Lektüre erleichtert in gewissem Sinn das Lesen, weil sie uns zur Aufmerksamkeit nötigt. Wir können hier nicht fliegen. Auf der andern Seite ist auch wieder die Schwierigkeit da, weil uns die Tatsache stark zum Bewußtsein kommt, daß das Lesen etwas Unfertiges bleibt, auch hier gibt es keine Perfektion. Es gibt keine exakte Wiederholung eines geistigen Vorgangs eines andern. Das Buch ist für den Verfasser immer etwas andres als für den Leser. Das zeigt sich besonders bei der Fremdsprachigkeit. Es ist aber durchaus ratsam, die fremdsprachige Lektüre zu pflegen, also Augustin, Bernhard von Clairvaux,102 Luther. Allein hier ist noch ein 102 Bernhard von Clairvaux (1090–1153) war Zisterzienserabt, Mystiker und Theologe. Seine Christusmystik beeinflußte auch Luther und (über Joachim Arndt) den Pietismus.
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Kanon nötig, damit nicht der Überschuß an Reichtum uns ersticke. Das Semester darf nicht zerflattern! Die Wahl ergibt sich aus dem Zusammenhang mit der Vorlesung. Zweckmäßige Verbindung von Lesung und Vorlesung ist eine sehr fruchtbare Regel, wenn die Semester nicht resultatlos bleiben sollen. Eine kleine Bemerkung: Eine große Hilfe beim Lesen-lernen ist lebendiger Verkehr mit der Bibel. Wenn wir in unser Volksleben hineinsehen, haben wir diesen Tatbestand reichlich vor Augen: Der völlig zerfahrene Großstädter, man kann ihm nichts mehr zeigen – daneben mancher Bauer, gesammelt zum Hören und lesefähig, zum Urteil geschickt. Woher? Sehen Sie einmal seinen Sonntagnachmittag an, er sitzt gesammelt vor seiner Bibel, und hier lernt er lesen, weil ihn hier die Ehrfurcht vor der voreiligen Blasiertheit schützt.103 Pflegt die ernste, gesammelte Schriftlesung! Wenn wir am Evangelium und bei Paulus gelernt haben aufzupassen, dann lesen wir auch Kant und Plato mit Verstand.
103 Schlatter dürfte hier vor allem den württembergischen Pietismus vor Augen haben, der mit seiner durch biblische Lektüre bestimmten und durch sog. »Gemeinschaften« gepflegten Laienfrömmigkeit – damals wesentlich stärker als heute – in vielen Dörfern eine prägende Kraft darstellte.
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§ 8 Der religiöse Anschauungsstoff Hören im Hörsaal, Lesen mit dem Buch. Beide Vorgänge beschäftigen uns mit Gedanken. Wir haben es mit der Darstellung religiöser Vorgänge zu tun, nicht mit den Vorgängen selbst. Eine Gedankenbildung, die immer nur die Gedanken andrer wiederholt, nennen wir Scholastik.104 Aber die Wissenschaft darf sich nicht zwischen uns und die Wirklichkeit stellen. Also stehen wir vor der Frage: Gibt es nicht Mittel, den religiösen Anschauungsstoff heranzuziehen? Wir wollen doch eine Summe von Erfahrung, von Erlebnis, von wahrnehmender Begegnung mit irgendwelcher religiöser Wirklichkeit. Die Erörterung hat sich vielfach geregt über diese Frage bei der Reform des theologischen Betriebs: Nicht nur Papier, nicht nur Formel, nicht nur Vorstellung, gebt uns Anschauungsstoff dazu! Künstliche Veranstaltungen sind hier ganz von sekundärer Bedeutung. Die Benützung einer solchen Gelegenheit kann wertvoll sein. Ich erhebe aber die Einrede: Wenn ihr euch den Anschauungsstoff durch eine Entdeckungsreise [zu] ermitteln sucht, ist der Ausgangspunkt des ganzen Verhaltens schief. Die religiöse Wirklichkeit ist nicht an einzelnen Punkten des Weltalls aufzustöbern. Wir haben es in der Theologie mit dem zu tun, was Faktor menschlichen Lebens ist. Den religiösen Anschauungsstoff sich zu verschaffen, dazu ist das zum Ziel führende Mittel die Beteiligung an dem, was als Religion, als Christenheit um uns steht und in uns wirksam ist. Wenn wir immer wieder auf die Klage stoßen: Die Semester gehen leer vorüber. Das Ende von vier akademischen Jahren ist ein Vakuum, dann liegt doch vielleicht ein ernsthafter Grund für diese Abnormität vor, daß [z. B.] immer nur die Vorstellungen über die 104 S. o. Anm. 65.
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religiösen Vorgänge studiert wurden und der den Betreffenden vor die Augen gesetzte Tatbestand ihn gar nicht erreichte. Bewußte Abwendung vom wirklichen Leben mit Isolierung in einer Denkzelle, in der Professor und Bibliothek vorhanden sind, das erzeugt das Gefühl der Enttäuschung. Diesem Mangel helfen wir nicht durch eine Entdeckungsreise nach theologischen Merkwürdigkeiten, etwa nach Möttlingen,105 ab. Hier ist das Konstante das Lehrreiche, das Nächstliegende das Fruchtbarste, das, was sich ohne Kunst unmittelbar darbietet. Der Studio lebt in der Kirche. Das offene Auge nicht für einen erst zu entdeckenden Vorgang, sondern für den Vorgang, der in unsrer eigensten Lebensgeschichte sich zeigt und in unsrer Umgebung ständig wiederkehrt, diese uns immer nahe Wirklichkeit ins Auge zu fassen, das gibt den religiösen Anschauungsstoff. Es gibt Sonntage. Wir sind mit der Kirchenlehre in innere Berührung mit der Frömmigkeit unsrer früheren Geschlechter gebracht. Wir sind mit dem Text in intensive Berührung gebracht mit der unsre Kirche gestaltenden Kraft. Die Einrede liegt nahe: Ich bekomme hier auch die Anleitung zum Verkehrten. Wir können uns nie in der Gemeinschaft bewegen, ohne daß sie zugleich unsre Abwehrfähigkeit in Anspruch nimmt. Wir müssen wahrnehmen, wo die Defekte entstehen. Das ist ein dankbar zu wertender Anschauungsstoff. Weiter, es gibt nicht nur Sonntage. Die gemeinsame Arbeit führt die Studenten zusammen in Verbände. Wir brauchen (ihnen) nicht erst einen religiösen Titel anzuhängen, es ist Religion darin, vielleicht zerstampfte, beschmutzte. Was nötig ist, damit wir einen Anschauungsstoff bekommen, ist lediglich die Lust am Sehen. Ein 105 Schlatter spielt hier auf die im Nordschwarzwald gelegene »Rettungsarche« an, ein damals von vielen Menschen aufgesuchtes Bibel- und Seelsorgeheim, das von dem charismatischen Prediger und Laienseelsorger »Vater« Friedrich Stanger (1856–1934) begründet wurde und u. a. aufgrund zahlreicher Berichte über Krankenheilungen (durch Handauflegung und Gebet) auch über Deutschland hinaus Aufmerksamkeit erregte.
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Stücklein Liebe ist da nötig. Dann sieht man Leben vor sich, und darin ist sittliche Norm wirksam, Bezogenheit auf Gott vorhanden, ist werdende oder sterbende Religion sichtbar, und alle Probleme treten in kräftiger Veranschaulichung vor uns, die die Gemeinschaft uns darbietet. Vergeben, Treue, Glauben, Liebe lernen wir so. Ist die Beteiligung an der kirchlichen Arbeit auch in der studentischen Zeit nützlich, vor allem in der Jugendarbeit? Die aktive Beteiligung am religiösen Vorgang stärkt die Anschaulichkeit natürlich. Ein Bedenken legt sich aber auch nahe: Die verwirrenden Einflüsse unsrer Umgebung sind besonders stark, wenn man selbst – also [als] »pseudonymer« Prediger – zur Arbeit übergeht. Eine Betätigungsweise ist [für Studenten] die nächst[liegend]e: Der Verkehr mit gleichaltriger Jugend. Aber immer gilt die Regel: Die Notlage ist so, daß jeder Arbeiter willkommen sein muß.
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§ 9 Das Arbeitsfeld: die vier theologischen Disziplinen Ein Universum von Beobachtungen, eine Fülle von Wirklichkeiten ist uns zur wissenschaftlichen Bearbeitung dargeboten. Wir haben diese Fülle gegliedert nach den großen Grundnormen des menschlichen Lebens: Vergangenheit und Gegenwart, Jesus und wir. Das ergibt die Gründe für die Einteilung: 1. Schrift[exegese] 2. Kirche[ngeschichte] 3. Systematische Theologie 4. Praktische Theologie Zu 1. und 2.: Die beiden ersten Arbeitsfelder, Kenntnis der Schrift und Verständnis der Kirche, führen uns in die Vergangenheit. Die Gegenwart ist das Kind des früheren Geschehens. Damit wir selbst eine Gewißheit Gottes haben, schauen wir rückwärts. Die beiden uns bewegenden Vorgänge sind Entstehung der Schrift und das Schicksal der Kirche. Wir haben aber nicht nur die Rückschau zu vollziehen und uns zur Objektivität des Historikers zu erziehen. Die Gegenwart hat dringende Vollmacht, unsre wissenschaftliche Arbeit [zu] bewegen. Darum [sollte die] Verknüpfung des Empfangenen mit dem eigenen Besitz, [die] Stellung der Gottesfrage vom eigenen Ich aus so [erfolgen], daß der Einzelne in der Verbindung mit der ihn umgebenden Gegenwart steht. So geht die theologische Frage vom eigenen Erlebnis, eigenen Empfinden und Wollen aus – und nun haben wir den Systematiker. Es lag immer nahe, die Mannigfaltigkeit der Ziele zu vereinfachen dadurch, daß eine Disziplin vorherrscht. Lange Jahre hatten – 87 –
wir lediglich den Dogmatiker, sei es in der altkirchlichen Form oder im letzten Jahrhundert. Aber im letzten Jahrhundert vollzog sich eine Reaktion: Historie, aber nun auch gar nichts als Historie! Wir stehen gegenwärtig in der Gefahr, daß unsre Systematiker alle in der Historie stecken bleiben. Schließlich bleibt die absolute Wahrheitsfrage unbeantwortet und das die Gegenwart betreffende [Interesse] kommt nicht zu seiner Erfüllung. Weder die eine noch die andre Einseitigkeit gibt gesunde Fakultäten. Die Frage ist nicht die, was andre machen, sondern wir bedürfen der wissenschaftlichen Unterweisung zum Zweck der eigenen Lebensführung. Nun entsteht die Frage: Warum nicht bloß zwei Disziplinen? Warum entsteht bei beiden noch einmal eine Teilung? Die uniformierende Neigung, die die Disziplinen ineinander hinein vermengt, zeigt sich hier heftig. Früher war es so, daß neben der Schrift die Aufmerksamkeit auf die Kirche unterblieb. Die kirchengeschichtliche Leistung der Christenheit ist sehr lange dürftig geblieben: [Zunächst ist] eigentlich nur Eusebius 106 [zu nennen]. Dann geht es lange bis zur Zerreissung der kirchlichen Einheit, als die Konfessionen miteinander rangen. Das ergibt das, was man Biblizismus genannt hat, eine Richtung der theologischen Arbeit, die kein andres Ziel zuläßt als die Deutung der Schrift mit der daraus sich ergebenden Norm, daß mit dem Schrift-Satz die Christusfrage ohne weiteres geregelt sei. Wir haben jetzt sehr stark die entgegengesetzte Stimmung unter uns: Die frühere Unterscheidung von Bibel und Kirche sei umgestürzt: Die Geschichte der apostolischen Zeit ist das erste Kapitel der Kirchengeschichte, der Umfang des Worts Jesu ist der Anfang der Dogmengeschichte. Daß Zusammenhänge zwischen denen, die uns die Bibel von Mose bis zur apostolischen Zeit erzählen, und denen, die aus der von den Aposteln gegründeten Gemeinde hinüberführen, bestehen, ist klar. Die Frage ist aber: Ist nicht durch diese 106 Eusebius von Cäsarea (ca. 260–ca. 340), Theologe und Bischof von Cäsarea, wurde vor allem durch seine umfangreiche, 10bändige Historia Ecclesiastica (Kirchengeschichte) bekannt (in deutscher Übersetzung erhältlich bei WBG Mainz 2011).
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Beseitigung des Unterschieds doch der religiöse Tatbestand verletzt? Die, die hier eine Unterscheidung vornehmen, sagen: Schrift und kirchliche Tradition stehen nicht gleichwertig nebeneinander, in der Schrift liegen die normierenden kausalen Faktoren, die Kirche hat sich an der Schrift ihre Norm zu holen. Hier geht man von dem Satz aus: Es gibt ein religiöses Amt, das nicht zum Besitztum der Gesamtheit wird. Dieses Amt ist Besitztum Jesu, derer, die ihm vorangingen und derer, die in seinem Dienst standen. Das ist die durch keine spätere Ereignisreihe ersetzbare Bezeugung Gottes, die durch keine kirchliche Leistung erreicht wird. Keiner tritt neben Jesus, keiner ersetzt Apostel und Propheten, weil dort religiöses Amt in sich nicht wiederholender Art vorhanden ist. Wenn wir aber vom religiösen Genius sprechen oder von der klassischen Periode der Religion, fällt der Unterschied zwischen beiden dahin, die Begriffe »Genius« und dergleichen sprechen immer nur von einem relativen Unterschied. Zwischen Goethe107 und irgendeinem Schreiberlein, das Verse verbricht, öffnet sich ein sehr ernsthafter Unterschied, aber die Skala ist kontinuierlich, auch wenn die Distanz sich weit dehnt, da kann es sich nie um Über- oder Unterordnung handeln. Das Plus auf der einen Seite hat ein Minus auf der andern, die Funktion bleibt die gleiche, hier mit großer Kraft, dort mit kindischem Unvermögen behaftet, aber der Vorgang ist immer wieder der gleiche. Daher bekommen wir mit der Formel »in der Bibel haben wir religiöse Genien« nicht einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Disziplinen Schriftlehre und Kirchenlehre. Der Gedanke ist aber jenseits der Schrift entstanden, weil er den religiösen Vorgang nur vom Menschen aus konstruiert: Menschliches Wollen und Denken ist letzter schaffender Grund des Vorgangs, den wir Religion heißen. Damit haben wir im besten Fall als Ziel begehrende Religion vor uns, aber nicht die wirkliche und wirksame [Religion]. Es kann aber auch so werden, daß die prinzipielle Ablehnung des religiösen Vorgangs damit verbunden wird. Es läßt sich nicht be107 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war einer der bedeutendsten und einflußreichsten deutschen Dichter.
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streiten, aber es kann sich ein negatives Werturteil damit verbinden, das dieses Gebiet zum menschlichen Träumen in Beziehung bringt. Dann bekommen wir nur die relativen Unterschiede, aber nicht den ernsthaften Unterschied, der das Verhältnis zum Zeugen Gottes, zum Glauben und Gehorsam entfaltet. Damit ist aber der Standort des Historikers ein ganz andrer als der der Bibel selbst. Wir müssen uns aber immerhin den Vorgang so verdeutlichen, wie ihn die Erlebenden gesehen haben: Das ganze Leben Jesu steht unter dem Sendungsgedanken dessen, der für die Menschen gesandt ist, der darum Gott kennt, damit er ihn zeige, der darum in der Macht Gottes handelt, damit die sich Gott unterwerfende Gemeinde im Glauben entstehe. Aber auch die vorangehende Geschichte ist schon durch die gleiche Norm vollständig bestimmt: Erwähltes Volk, Gottes Wille mit göttlichem Gebot und göttlicher Verheißung bilden hier den Inhalt des Erlebens, d. h. wir haben den Amtsgedanken vor uns, der nicht vermengt werden darf mit Pfaffentum und Tyrannis, die den andern an den eigenen Willen fesselt. Das Amt entsteht dazu, damit das Volk geeint sei in einem Willen, einem Glauben usw., nicht durch Genien, nicht durch besondere psychische Zustände, sondern mit Verwendung des menschlichen Lebensinhalts in unverkürzter Natürlichkeit, aber so, daß hier der menschliche Lebensinhalt einem empfundenen, wahrgenommenen Willen Gottes gehorcht. Wenn das zugestanden wird, daß wir hier eine Reihe von singulären Vorgängen vor uns haben, dann tritt Schriftstudium und Kirchenstudium auseinander, dann hat der Verkehr mit der Schrift seinen Eigenwert, unentbehrlich zur normalen Beteiligung an der Kirche, zum Gewinn einer Systematik, die mehr ist als Eigenpoesie. Warum werden wir nun nicht Biblizisten? Der reformatorische Satz hat oft diese scharfe Ausprägung bekommen: Tradition der Kirche ist nur Verführerin, darum nicht zweierlei [Maßstäbe], sondern nur die heilige Schrift. Die Kirche ist nicht zu eigener Gedankenbildung berechtigt. Mit diesem theologischen Gedanken ist aber auch wieder der Schriftsatz verlassen, die scheinbare – 90 –
Schrifttreue schlägt um in eine bewußte radikale Antithese gegenüber der Schrift. Denn hier wird die Bibel Gesetzbuch, das den Lebensakt der andern von außen her sich unterwerfen will. Ich bekomme eine Berührung mit Gott nur jenseits meines eigenen Lebensstandes. So bekommen wir eine Gegenwart, die von Gott losgelöst ist, eine von Religion leere Gegenwart, eine Offenbarung, die einst war, aber uns nur durch den Zwang einer von außen her uns erfassenden Gesetzgebung erreicht. Das ist aber nicht Schrift, weder Altes Testament noch Neues Testament. Das Werk Gottes ist auch im Alten Testament die lebendige Gemeinde, die von Geschlecht zu Geschlecht unter Gottes Regierung bleibt. Das Alte Testament ist kein Koran und hat die Vorstellung des Koran nicht: Gott offenbart sich durch die Verfasserschaft eines heiligen Buchs, das vom Himmel herunterkommt. Nie ist (im Alten Testament) das Gramma108 Alleinherrscher in der Gemeinde, immer wird gesagt, daß zum Schriftwort der Exeget gehöre, daß es ohne Tradition keine Möglichkeit gebe, das Schriftwort zu lehren und zu wissen. Vollends im Neuen Testament: Der Christus bringt die Charis 109, durch ihn kommt die gnädige Wirkung Gottes zu uns. Das Prinzip wäre entzweigebrochen, wenn das Resultat des Wirkens Jesu nur die Herstellung eines Buches ist, wenn das göttliche Wirken nicht zu seinem Ziel, dem Lebensstand des Menschen, gelangt. Sowie wir auch hier die lebendige Gemeinde haben, dann ist klar, daß zur Schriftwissenschaft die Kenntnis der Kirche kommt und zwar mit dem ganzen Ernst einer der Theologie gestellten Pflicht. Damit entsteht das Bindeglied zwischen uns und dem Anfang. Ohne diese beiden Glieder werden wir immer zum Nomismus hinübergedrängt, der den Blick für die gegenwärtige Not und Kraft der Christenheit durch den aus dem biblischen Spruch gezogenen Paragraphen des Statuts trübt. Die Differenzen zwischen Tradition und Kanon sind nicht als ein Übel zu empfinden. Es zeigt sich natürlich in unsrer Kirchen108 Griech.: Buchstabe. 109 Griech.: Gnade.
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geschichte die Not des menschlichen Lebens, was es heißt Religion zu haben, wie entlegen das ist für unsre natürlichen Gedanken und unsern Willensbestand. Die göttliche Gnade hat aber auch ihren Platz in der Kirchengeschichte. Wenn wir hier nur die Not sehen, ist immer nur der Nomismus da, der immer wieder das Gleiche bei der Religion finden will. Aber wenn wir uns verdeutlichen, daß mit dem Ziel der göttlichen Gnade die Einsetzung des Menschen in seine Arbeit verbunden ist, dann bekommen wir auch für das andre offene Augen. Zu 3. und 4.: Wenn wir von der Schrift zur Kirche hinüber gehen, haben wir sofort den Weg zur Systematik. Sie summiert die aus der Ganzheit sich ergebenden Wahrnehmungen zu einem gerundeten Ganzen. Aber brauchen wir hier zwei Disziplinen? Gibt es noch eine praktische Theologie neben der Systematik? Der christliche Systematiker bewährt sich als solcher immer dadurch, daß er nicht bloß eine Weltanschauung begehrt, sondern auch dem Willen sein Ziel gibt, also eine Ethik schafft. Beide Aufgaben sind Hand in Hand zu behandeln. Nun scheint es ja genug zu sein: Ich bekomme vom Systematiker eine Ethik, das Verhalten der Christenheit wird mit Ziel und Norm ausgerüstet, damit ist doch die Praxis geordnet. Der Pfarrstand hat ja sein inneres Recht schon dadurch, daß er am Christenstand aller teil hat. Wenn feststeht, was Christentum ist, scheint doch auch festzustehen, was kirchliche Praxis ist. Allein hier ist wieder ein Tatbestand übersehen. Zweifellos ist die Voraussetzung des Amts nicht die Erfindung einer eigenen Theologie, sondern der Anteil an der Religion aller. Aber er erhält das Amt, d. h. er bekommt den Auftrag, seine ganze Wirksamkeit auf die Herstellung der Gemeinde zu beziehen. Er denkt nicht nur zur Befriedigung seiner eigenen nach Wahrheit strebenden Sehnsucht, handelt nicht nur zur Begründung seiner eigenen Seligkeit, sondern er denkt, um lehren zu können, er handelt, um die andern miteinander zu verbinden, um die Gemeinsamkeit des Handelns zu ermöglichen. Er verwaltet also Sitte. Er braucht nicht nur Sittlichkeit, sondern er – 92 –
muß wissen, wie das Zusammenwirken der Vielen begründet werden kann. Das ist ein Vorgang, der seine eigene Darstellung, seine eigene wissenschaftliche Durcharbeitung dringend nötig hat. Die Unfertigkeit unsrer praktischen Theologie ist sichtbar. Das klare Bewußtsein darüber haben wir uns zu erwerben, was die dem Amt gesetzten Ziele und Mittel sind.
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§ 10 Benachbarte Arbeitsgebiete Die Welt ist größer als die Christenheit, die Religion ist älter als Jesus, die Offenbarung Gottes umfassender als die Schrift. Darum – sagt man – [solle] an die Stelle der Kirchengeschichte Religionsgeschichte und an die Stelle der systematischen Theologie Religionspsychologie und Religionsphilosophie [treten]. Es ist klar, daß wir in der theologischen Arbeiterschaft für den Wissen[schaft]sbetrieb schlechterdings keine Schranken errichten. Aber die Frage ist: Was steht in notwendiger Beziehung zum Endziel der theologischen Fakultät? Der eigene Erfahrungsinhalt, der eigene Lebenskreis bleibt das erste große Arbeitsfeld. Es darf sich hier nichts an die Stelle dessen drängen, was durch unsre eigene Geschichte als unsre Aufgabe uns gezeigt ist. Religionsgeschichte. Auch der älteren Theologie ist sie nicht fremd. Sie ist ja ein wesentliches Stück unsrer Kirchengeschichte. In Schrift und Kirche haben wir es auch nicht allein mit dem Werk Jesu zu tun, menschheitliches Verhalten haben wir vor uns. Der Hellenismus in der Kirche ist ein mächtiges Stück Religionsgeschichte. Wieviel animistische Vorstellungen sind in unserm Volk befestigt. Auch den Mythus haben wir immer vor uns: Spezifisch christlicher Mythus entsteht auch in einer Form, die der vorchristlichen Frömmigkeit entspricht. Die Religionsgeschichte ist aber nicht nur der Gegner des christlichen Gedankengangs, sondern immer gehört zum Beruf der Christenheit auch der Verkehr mit den fremden Religionen. Dieser Verkehr kann nicht dadurch normal werden, daß wir die andern ausrotten. Unser Verkehr mit den andern Religionen muß der Regel Jesu gehorchen, d. h. unter der Liebesregel stehen. Darum ist das, was wir heute Religionsgeschichte heißen, weitaus – 94 –
und größten Teils Arbeitsertrag der Kirche und der Missionen. Der englische Offizier saß jahrhundertelang in Indien, ohne daß wir etwas über die indische Religionsgeschichte erfuhren. Erst der Missionar hatte die Liebe und das Auge für die andre Religion. Anlaß, über den eigenen Erfahrungsbereich hinauszusehen und die andern ins Auge zu fassen, haben wir immer. Wenn uns aber gesagt wird: »Ihr müßt euern religiösen Betrieb dadurch reformieren, daß ihr als erstes in die Religionsgeschichte einführt«, dann besteht nicht nur ein methodologischer Gegensatz, sondern ein in die Tiefe reichender Konflikt. Dann wird über den wirklichen Vorgang ein sogenannter Begriff gestellt, der hergestellt wird durch die Verdünnung aller einzelnen Vorstellungen zu einem abstrakten System: Der Begriff »Religion« schwebt in abstrakter Höhe über allen einzelnen Vorgängen. Der Begriff entsteht aber nicht so, daß wir eine Menge halber Beobachtungen gewinnen, sondern dadurch, daß das Geschehen in seinen Gründen erfaßt wird, wo es unser Bewußtsein erreicht. Die Vertiefung in das Einzelne erzeugt den gefüllten, nicht den leeren Begriff. Wir können aber nicht beim Bau mit dem Dach beginnen. Wenn wir uns aber in Berührung mit der Wirklichkeit bringen wollen, dann ist die uns selbst gegebene Gestaltung des Lebens für eine ernste Wissenschaft der zuerst zu beachtende Gegenstand. Ein mit einem Minimum von Religion ausgestatteter Forscher wird in der Religionsgeschichte nicht viel leisten. Fremdes kann ich mir nur durch Vergleichung mit dem Eigenen verständlich machen, das setzt aber das Bewußtsein des Eigenen voraus. Wenn wir uns für den Verkehr mit andern Religionen rüsten wollen, wenn wir Religionswissenschaft suchen, dann heißt das zuerst, daß wir selbst erreichbare Religiosität haben und kennen. Das zeigt unsre Erfahrung überreichlich: Für den religiösen Verkehr mit dem Islam sind wir gar nicht gerüstet. Warum? Die theologische Ausrüstung unsrer Leute, die mit den Moslems zusammenkommen, ist viel zu armselig. Man stößt hier auf einen ebenbürtigen Gegner, ist ihm nicht überlegen. Im östlichen Asien haben wir den gleichen Vorgang. Darum haben wir oft den Fall, daß unsre indischen – 95 –
Missionare auch religiös als Inder heimkamen. Darin zeigt sich die Tatsache, daß wir für den Verkehr mit den andern nicht nur Christentum bringen sollten, sondern es haben müssen mit einer unsern eigenen Besitz uns deutenden Wissenschaft. Religionspsychologie. Gehen wir zur Ersatzleistung für die Dogmatik. Der Dogmatiker soll eine Wissenschaft des religiösen Vorgangs geben, der natürlich begründet und darum in jedem Bewußtsein vorhanden ist. Der religiöse Akt ist also ein seelischer Lebensakt, darum Religionspsychologie. Hier stehen wir an einer Frage, die uns bei der Erörterung der dogmatischen Arbeitsziele und -methoden noch einmal begegnen wird: das Verhältnis des systematischen Denkens zur Psychologie. Auch hier ist deutlich, daß der Religionspsychologe schwerlich zu Resultaten gelangt, wenn er keinen Einblick in sein eigenes inneres Leben hat. Das die Welt beherrschende Gesetz ist das egozentrische Gesetz: Du mußt selbst ein eigenes Ich sein, sonst kannst du nicht in andre hineinschauen. Der dich selbst beherrschende Inhalt deines Lebens ist der Stoff deines psychologischen Forschens. Die Religionspsychologie kann uns zunächst nicht von der Dogmatik wegführen, sie wird uns später noch einmal begegnen. Religionsphilosophie. Dieser Begriff muß vor allem erwogen werden. In Tübingen haben wir den Stand der Religionsphilosophie erst vor wenigen Jahren zu durchbrechen vermocht, den Stand als Propädeutik für die Theologie, die wenig ertragreich ist. Der Stand, den die Geschichte der Theologie zuweist, hängt mit einem der merkwürdigsten Abschnitte unsers Lebens zusammen. Was wir Geschichte der Philosophie heißen, ist in hohem Maß höchst fruchtbare Religionsgeschichte. Auf dem indischen Boden ist das klar, gilt aber ebenso deutlich für die griechische Philosophie. Die Erträge des griechischen Lebens und Denkens sind unser Eigentum geworden, da die Kirche den Hellenen gewonnen und in ihren Lebenskreis hineingezogen hat. Damit kam auch seine Philosophie in den Besitz der Christenheit. Wenn wir von Philosophie in Hellas sprechen, befinden wir uns fortwährend in der bewußten Opposition gegen die populäre Religion. Es ist nicht nur die Wonne am mathematischen – 96 –
Denken gewesen, die den Pythagoräer 110 schuf und die Zahl für ihn zum Geheimnis machte. Sicher haben die alten Jonier111 ihren bestirnten Himmel angeschaut mit der forschenden Lust dessen, der sich das Bild der Natur schenken läßt. Der Konflikt zwischen der das öffentliche Leben beherrschenden Religion und ihrem Naturbild treibt die Systeme heraus, und das hat sich in verstärktem Maß in der philosophischen Reihe vollzogen, die für die spätere Zeit die größte Bedeutung bekommen hat. Wenn die Kirche [das Studium] aufbaute a) Philosophie und b) Theologie, so hieß das: zuerst Aristoteles112, dann die Bibel. Bei den Sokratikern ist es nicht mehr an erster Stelle der Druck der Religion, sondern der Zerfall der Religion, der sie aufweckt und zu Denkern macht. Wenn die Götter auf die Bühne gehen, dann entsteht Religionszerfall. Wenn ein Homer113 in die Theologie kommt, dann hören die Götter auf, Objekt des Glaubens zu sein. Er hat nichts mehr als die Tyche,114 und nun entsteht die starke Reaktion gegen diese in die Natur versinkende Verödung des Lebens. Das ist das Nicht-seiende, erklärt der religiös Entschiedene: 110 Die Pythagoräer sind eine philosophische Richtung, die sich als »Vorsokratiker« (so die spätere Bezeichnung) schon im 6. Jahrhundert v. Chr. um den Philosophen und Mathematiker Pythagoras (570–500 v. Chr.) sammelte und die mathematischen Strukturen der Welt zu erkennen suchte. Vgl. dazu A. Kenny, Geschichte der abendländischen Philosophie, Bd. 1: Antike, WBG 2012, 28–30. 111 Mit Joniern meint Schlatter die jonischen Naturphilosophen (z. B. Thalet von Milet, Anaximander, Anaximenes), die sich schon im 6. Jahrhundert v. Chr. nicht mit den Mythologien der griechischen Religion zufrieden gaben, sondern die Ursachen der Welt denkerisch zu erforschen suchten und daher als erste philosophischen Denker der Griechen angesehen werden. Vgl. dazu Kenny, aaO, 23–28. 112 Aristoteles (384–322 v. Chr.) war neben dem griech. Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.), dessen Schüler er war, der bedeutendste griechische Philosoph und Lehrer Alexanders des Großen. 113 Homer (um 800 v. Chr.) Name für den anonymen griech. Dichter der »Odyssee« und der »Ilias«. 114 Griech.: Schicksal.
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Einkehr in sich selbst rettet vor der durch das Versinken in die Natur entstehenden Verwüstung. Und in der Einkehr bei sich selbst findet er das Denken, die Logik. Das ist ein religiöser Vorgang. Aristoteles weiß vollständig, was er tut, wenn er die Metaphysik mit der Gotteslehre abschließt. Es war keine Entartung, wenn die späteren Sokratiker Bußprediger geworden sind für ihre Bevölkerung. So ist hier vorchristliche Religiosität entstanden, nicht vorchristliche Phantasterei, nicht vorchristliche Gnosis, nicht in Sinnlichkeit fixierter Egoismus, sondern Frömmigkeit. Als die Synagoge hinausging zu den Griechen, kam sofort die Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen Schrift und Philosophie? Antwort: Hier kann nicht nur ein Gegensatz bestehen, hier findet Austausch und Vereinigung statt. Das konnte leicht zu einem Synkretismus werden und ist es auch geworden: Innerlich Unvereinbares wird zusammengesetzt. Dieser Synkretismus reicht aber bis zur Orthodoxie der Protestanten im 16. Jahrhundert. Die Einigung wird dadurch erreicht, daß die Philosophie zur Vorhalle für das Haupthaus der Theologie wurde. Die Einigung ist aber nur äußerlich erreicht. Aber der Vorgang der Geschichte macht klar, daß bei dieser Doppelheit der höchsten Erkenntnis die Universität sich nicht auf einer Fakultät aufbaut. Der moderne Verlauf hat uns von der Antike wenig entfernt. Mit der Bildung der modernen Philosophie durch Cartesius,115 Bacon116 und die Humanisten 117 ist die griechische Linie fortgesetzt worden. Die Anfänge entstehen im Bewußtsein, daß der bisherige Ausgleich doch nur künstlich gewesen sei, daß es sich hier doch um zwei Psychologien, um zwei Naturbilder, um zwei Weltdeutungen handelt, die im Grunde nicht geeint seien. Unsre Philosophen stehen nun wieder entschlossen auf der antiken Seite, aber 115 S. o. Anm. 83. 116 Francis Bacon (1561–1626) war englischer Staatsmann und Philosoph, Wegbereiter des englischen Empirismus. 117 Die Bewegung des Humanismus war im ausgehenden Mittelalter um die Wiederentdeckung der antiken Sprache und Kultur bemüht.
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nicht nur in Wiederholung, sondern in eigenartiger Denkleistung. Das ist auch in der Philosophie des letzten Jahrhunderts und in der die idealistische Philosophie ablösenden Formation nicht anders geworden. Beim Idealismus weht der Wind von Athen her. Aber auch die Zersetzungspunkte des Idealismus wiederholen die antiken Vorgänge von Demokrit 118 und Epikur 119. Monismus 120 – wer ist denn in kraftvoller Ausprägung Monist und glaubt an das denkende Feuer? Die Substanz – eine stoische Formel. Der Stoiker ist Monist. Daneben steht der Agnostizismus 121, auch eine antike Erscheinung, wie sein Revenant ein wiedergekehrter Toter. Die Skepsis als Endprodukt der Religion, die auf die Logik aufgebaut war, haben wir auch in Griechenland schon. Darin zeigt sich, daß wir bei der Philosophie noch in sehr enger Gemeinschaft mit der griechischen Welt stehen. In eigenartiger Weise hat sich nun aber der Geschichtslauf dazu gewendet, daß der Geltungsbereich des philosophischen Arbeitsfeldes gegenüber dem Altertum reduziert worden ist. Aus Physiologie, Logik, Theologie ist die griechische Philosophie aufgebaut. Aus dem einheitlichen System, das unser gesamtes Wissen sammelt, sind die selbständigen Wissenschaften erwachsen. Naturlehre – der heutige Naturforscher nennt sich mit Bewußtsein nicht mehr Philosoph. Der Grund der Naturwissenschaft liegt in der Natur, nicht in der Philosophie. Auch die Geisteswissenschaften haben diese 118 Demokrit (470–360) war griech. Philosoph, Naturforscher und Mathematiker. Als Schüler Leukipps von Milet war er Begründer eines materialistischen Weltbildes, das in ewigen und unveränderlichen Atomen die unteilbaren Grundbausteine der Welt sah (vgl. dazu Kenny, aaO [s. o. Anm. 110] 45ff.111f). 119 Epikur (341–271), griech. Philosoph, Begründer der Schule der Epikureer, die dem Menschen trotz seiner Sterblichkeit ein glückliches Leben eröffnen sollte. Vgl. dazu ebd. 111. 120 Der Monismus leitet die gesamte Wirklichkeit aus einem einzigen Prinzip ab. 121 Der Agnostizismus vertritt die prinzipielle Unerkennbarkeit einer göttlichen Wirklichkeit.
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Selbständigkeit erreicht mit Einschluß der Psychologie. Im Lauf des letzten Jahrhunderts hat sich diese Bewegung durchgesetzt. Von der Allherrschaft des Philosophen ist nicht mehr zu sprechen. Aber es bleibt neben den selbständig gewordenen Wissenschaften ein besonderes philosophisches Arbeitsfeld. Auch in der Theologie im Verhältnis zur Philosophie ist die Form selbständig geworden. Die Frage ist damit noch nicht erledigt. Denn die Verselbstständigung der Disziplinen hat nicht die Sterbestunde der Philosophie herbeigeführt, auch nachdem der Historiker sich nicht [mehr] beim Philosophen Rat holt. Der philosophische Trieb ist immer noch mit kräftiger Betätigung da. Woran liegt das? Daran, daß in der inneren Grundordnung unsers inneren Lebens über den einzelnen Vorgang hinaus treibende Motive wirksam sind. Das stärkste Motiv ist die in uns wirksame Kategorie Einheit. Einheitlichkeit zunächst unsers Denkens, das greift natürlich auch hinüber in Intellekt und Willen. Das erste Gebiet, an dem die zur Einheit drängende Bewegung sich äußert, ist unser intellektueller Besitz. Darum entsteht die Frage nach einer über allen einzelnen Wissenschaften stehenden Erkenntnis, nach einer Metaphysik, die uns Letztes zeigt, was als erkennbar zu unserm Eigentum werden kann. Dieses metaphysische Verlangen gibt der Philosophie die Unvergänglichkeit, auch wenn sie den größeren Teil ihrer früheren Arbeitsgebiete abgegeben hat. Wir haben immer wieder Männer, die alle ihre Einzelurteile zusammenbinden zu einer letzten Gewißheit und in allem Geschehen den letzten Grund suchen. Dieser Vorgang steht neben dem religiösen Erlebnis und bildet eine Parallele dazu. Und doch können wir Gedankenreihen, die nach Einigung unsers geistigen Besitzes streben, nicht ohne weiteres christlich heißen. Damit, daß die Kategorie Einheit unser geistiges Leben beherrscht, ist uns ein Wahrzeichen Gottes vermittelt, wir stehen in einer Berührung mit dem göttlichen Willen. Darum verlangt der Mensch nach Einheit, darum ist das Verlangen, nicht ein Vielerlei von Beobachtungen anzuhäufen, sondern ein »letztes« Wort zu sagen, das das Universum beschreibt, ein religiöser Vorgang. Von Christentum können wir nur dann reden, wenn die Wirkung Jesu sich in unserm – 100 –
inneren Leben geltend macht. Dieses Motiv [ein Letztes zu erkennen] ist auch in großer Energie wirksam, wo keine Anteilnahme an der Kirche vorliegt. Zunächst ist es ein intellektuelles Bedürfnis, das hier Befriedigung sucht, das dem Intellekt eigen ist, einerlei wie er seine Ethik gestaltet und seine Praxis ordnet. Das erste bei der Metaphysik herausgehobene Bedürfnis ist das nach der Beurteilung unsrer Erkenntnis. Brauchen wir nicht eine Erkenntniskritik und eine Erkenntnistheorie? Der naive Denkakt gelange notwendig zum Träumen, sagt man. Wir stehen hier vor einer ernsten Notlage bei der wissenschaftlichen und vor allem religiösen Betätigung. Am wenigsten leidet der Naturforscher darunter. Er legt die Erkenntnistheorie bei seinem Verkehr mit der Natur völlig auf die Seite. Am schwersten ist von diesem Postulat der Theologe gefordert. Warum entsteht die Gefahr? Sie haftet nicht am wissenschaftlichen Ziel, sondern an der rationalistischen Methode. An sich ist es völlig richtig, daß unser Denkakt immer wieder Gegenstand solcher sorgfältiger Beobachtung ist. Aber der rationalistische Gedanke schafft die Gefahr darum, weil er den Trieb nach Erkenntnis mit einem Machtwillen vermengt, der in der Erkenntnis das Mittel sieht, sich der Dinge zu bemächtigen. Von da aus wird die Grenze unsers Bewußtseins zur Last. Bei den inwendigen Dingen stehen wir nun aber sehr rasch am Ende unsers Begreifens. Das hängt mit dem Grundmerkmal des Menschen zusammen: Er ist Kreatur, nicht generatio aequivoca122. Wir sind gemacht und machen uns nicht selbst, d. h. die Wurzeln unsers Lebens sind uns verhüllt. Wenn nun mit der Erkenntnistheorie sich der Gedanke verbindet: »Wenn keine Theorie erreichbar wird, 122 Lat.: (wörtl.) unbestimmte Zeugung. Der Begriff (auch als generatio spontanea bezeichnet) ist ein naturphilosophischer Begriff für die schon bei Aristoteles vorliegende Vorstellung einer sog. »Urzeugung«, d. h. einer »Entstehung von Lebewesen … durch natürliche … Kräfte« (R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904, Art. »Urzeugung«). So verstanden ist der Begriff ein Gegenbegriff zur Vorstellung einer Erschaffung des Lebens.
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wird die Funktion kassiert«, dann entsteht die große Gefahr. Die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie hemmt dann alles weitere Wissen. Wie unser Raumbild uns in Verkehr bringt mit der wirklichen Natur, wie unser Sinn Dinge faßt, ist ein Geheimnis, ein absolutes Geheimnis. Hierüber ist keine Theorie erreichbar. Darum verneint man die Funktion, und das Ende der Wissenschaft ist da. An dieser Stelle ist nötig zu sagen: Die Ausübung der Funktion hängt nicht von ihrer Theorie ab. Freilich kann die Theorie helfen, Korruption an meinem Verhalten zu vermeiden. Aber die Theorie ist das zweite, die Funktion ist das erste. Es gibt ein Zeitbewußtsein nur darum, weil unser Kausalbegriff und das Weltgeschehen in Beziehung zueinander stehen. Mit der Kassierung der Funktion entsteht nur die unmöglichste wissenschaftliche Arbeit.123 Die erkenntnistheoretischen Fragestellungen sind gewiß kein Fehlgriff, die Grenzen unsers Bewußtseins sind uns mit einer unbeweglichen Fixation gegeben. Wie weit unser Blick reicht, zeigt erst die Erfahrung. Abzulehnen ist nur der Rationalismus, der sagt: Wenn ich nicht in alle Geheimnisse eindringe, werde ich Skeptiker. Damit wird uns die Philosophie zur Gefahr. Jetzt die Gruppen [= Disziplinen] in ihrem Verhältnis: Austausch, Verkehr, Arbeitsgemeinschaft haben hier Platz. Keiner von uns arbeitet für sich, sondern auch für den andern. Damit sind tyrannische Entstellungen abgewehrt. Mit Tyrannei wird die Gewißheit von ihrer Begründung losgelöst. Die Anschauungen sind verschieden. Wenn einer jenseits der christlichen Vorgänge steht, kann man ihm eine christliche Doktrin nicht aufbürden. Umgekehrt empfangen wir mit großer Dankbarkeit jede philosophische Erwerbung. Das Verhältnis ist nicht anders als das zu den andern selbständig gewordenen Wissenschaften. Die Bewegung der Naturwissenschaft geht natürlich auch die Theologie an, der Gedanke 123 Dieser unklar formulierte Satz meint wohl: Die Leugnung der Möglichkeit des Erkennens macht wissenschaftliche Arbeit unmöglich, weil die Wissenschaft mit der Möglichkeit des Erkennens steht und fällt.
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Darwins124 ist selbstverständlich eine Epoche in der Geschichte der Theologie. Ebenso ist jeder Erwerb des Historikers von großer Bedeutung für die Theologie. In gleichem Verhältnis stehen wir zu denen, die eine Metaphysik, eine Weltanschauung suchen. Hier ist die Arbeitsgemeinschaft besonders eng, weil das Verlangen nach Einigung immer auch den gesamten Lebensinhalt ergreift und eine Ethik erzeugt. Die Gefahr der knechtischen Abhängigkeit des Theologen vom Philosophen ist erledigt, sobald sich der Theologe klar macht, daß er ein Gebiet des Geschehens vor sich hat, das mit dem Ernst der Tatsächlichkeit zu ihm spricht und nicht erst aus einem Begriff herausspringt. Daraus entsteht nun auch die Regelung der pädagogischen Anordnung der philosophischen und theologischen Vorlesungen. Philosophie als Portal zur Theologie ist heute für den Theologen wenig ratsam. Ich rate nicht zum Beginn des Studiums mit philosophischer Arbeit. Aber wenn an den Anfang des Studiums eine gute Geschichte der antiken Philosophie gestellt wird, ist das nützlich, weil damit der köstlichste Teil der antiken Religionsgeschichte sichtbar wird, der sowohl für die Ausgänge des Judentums wie für die Geschichte der Kirche große Folgen hat. Dagegen Metaphysik und eine philosophische Ethik werden erst dann fruchtbar, wenn theologischer Besitz vorhanden ist … Positive akademische Jahre sind nicht selten mit Ausflügen ins philosophische Gebiet zustande gekommen.
124 Charles Robert Darwin (1809–1882), brit. Naturforscher (besonders Biologe). Seine Evolutionstheorie (Entstehung der Arten durch einen »Kampf ums Dasein«, bei dem die lebenstüchtigsten Arten aufgrund günstiger Veränderungen des Erbgutes (Mutationen) überleben (»survival of the fittest«) hat durch den sog. Darwinismus weit über die Biologie und die ursprünglichen Gedanken Darwins hinaus die Philosophie und das Denken der Nachwelt bis heute beeinflußt.
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§ 11 Die beiden Testamente Altes und Neues Testament, sollen wir beide in unser Sehfeld stellen? Das Argument gegen die alttestamentlichen Studien ist: Übermaß an Arbeit mit relativ kleinem Ergebnis. Das ist nicht nur eine Äußerung der Trägheit, ich sehe die Abneigung gegen das Hebräische doch nicht nur an als Ausfluß bloßer Bequemlichkeit. Auch hier liegt ein ernsthaftes Motiv vor. Die Aufgaben sind so riesig gegenüber der Kürze der akademischen Jahre, daß die Forderung »Reduktion« verständlich ist. Aber es kommt nicht nur dieses Motiv in Betracht. Liegt nicht in der Beibehaltung des Alten Testaments eine Belastung der Kirche mit Vorchristlichem vor, die wir nicht weiter mit ihrer verwundenden Wirkung zu tragen haben? Diesen Gedanken hört man gegenwärtig sehr stark im Zusammenhang mit der antisemitischen Bewegung. Die hier entstehende Frage ist nicht zu beantworten, solange die Autorität der Schrift dadurch begründet wird, daß sie die inspirierte Lehre enthalte. Wenn sie als Lehrbuch verstanden wird, wenn der gnostische Gedanke die ganze religiöse Bewegung regiert, dann kommen wir mit dem Alten Testament nicht zurecht. Denn eine uns am göttlichen Wissen beteiligende Doktrin ist nicht das Merkmal weder der Thora noch der Prophetenreihe. Aber diese Vorstellung war von Haus aus unchristlich. Der Anteil an Gott füllt nicht nur unsern Intellekt mit Vorstellungen, die wir als geoffenbart werten, [sondern] ist Herstellung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Die Schrift verkündet uns Gottes Willen, Gottes Gnade, die unsern eigenen Lebensstand in die Regelung durch die göttliche Gabe bringt. Hier sind wir über die Vorstellung »Lehrbuch« hinausgeführt. Aus dem Religionsbegriff der Schrift entsteht als Folge, daß das Werk Gottes die Gemeinschaft ist, die sich zwischen uns – 104 –
herstellt. Es entsteht also aus der göttlichen Offenbarung Geschichte. Wir sind in ein Gesamtleben hineingesetzt, wo ein Vorgang dem andern die Richtung gibt. Wenn wir diesen Gedanken uns angeeignet haben, kann von einem Riß zwischen Altem und Neuen Testament nicht mehr gesprochen werden. Der geschichtliche Zusammenhang zwischen Altem Testament und Neuem Testament ist absolut unzerreißbar. Der ganze Vorgang, restlos mit jedem Stück, mit jedem Gedanken der neutestamentlichen Männer ist Bestandteil der in Israel gewonnenen Geschichte. Im Neuen Testament haben wir es bei jedem Wort mit einem Stück jüdischer Geschichte zu tun. Freilich wird dieser Geschichtslauf über die Schranken hinüberbrechend Menschheitsanliegen. Aber die Evangelisation geht von Jerusalem aus. Auch Jesus steht mit allem, was er ist und tut, vor der Vergangenheit. Die Schrift gibt uns Anteil an einer Geschichte von Gottes Wirken und trägt uns nicht nur eine Gotteslehre vor. Ist dieser Satz richtig, dann läßt sich nicht ein Gedankenstrich zwischen Altem und Neuem Testament machen. Beides muß zum gegenseitigen Verständnis notwendig sein.
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§ 12 Die Deutung der Schrift Die Funktion des Theologen ist Exegese: lesen. Diese Formel »lesen und auslegen« hat ihre Schwierigkeit, wie wir schon sahen. Die verschiedenen Typen können wir uns teils aus der Geschichte, teils aus dem inneren Vorgang selbst verständlich machen. 1. Zunächst begegnet uns die dogmatische Methode. Der Leser tritt als Wissender an die Schrift heran. Warum ist er Wissender? Er ist Glied der Kirche und hat das Dogma. Das hieß jahrhundertelang nicht Last, sondern lange war das Dogma in der Kirche lebendig und beherrschte von innen her den Gedankenlauf aller derer, die sich mit der Schrift beschäftigten. Trotzdem wurde richtig gesagt: Deswegen entstand eine ernsthafte exegetische Arbeit. Wie verhält sich meine Überzeugung zum Schrift-Satz? Die Bestätigung des Schriftworts wird für die eigene Überzeugung gesucht. Der Dogmatiker benützt die loci probantes125 der Bibel als Beweis für seine These. Die Folge dieser Arbeitsrichtung zeigt sich in der Literatur. Da, wo er auf Schwierigkeiten stieß, wurde seine Tätigkeit munter. Die cruces interpretum126 haben viel Arbeit gegeben. Im übrigen ist ja alles klar, die Schrift sagte [nach seiner Überzeugung] das Gleiche wie er, er liest also sofort weiter. Jetzt wird der Exeget nicht munter, aber wenn die cruces kommen, müssen sie überwunden werden. Die Veränderung, die wir der exegetischen Arbeit der älteren Zeit gegenüber nötig haben, besagt [aber] nicht, daß das von ihr erstrebte Ziel kassiert werden soll. [Wenn gesagt wird] »Die Exegese hat sich unabhängig vom dogmatischen Arbeitsziel zu ent125 Lat.: Beweisstellen. 126 Lat.: Interpretationskreuze. Gemeint sind schwierig zu interpretierende Stellen.
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falten«, [dann] ist das noch nicht ganz richtig. Die Beziehung des Schriftsatzes zur eigenen Überzeugung sowohl der Gesamtheit als des Einzelnen darf nicht mißachtet werden, sie bedarf der Pflege, der Verdeutlichung. Hier entsteht die dogmatische Kritik der Bibel. In der Kritik liegt nie nur der negative Gedanke. Der andre [d. h. positive Gedanke] ist die Begründung der eigenen Überzeugung. Die Wahrnehmung der Kongruenz mit dem eigenen Erleben hat Wichtigkeit. [Aber] es darf nicht das einzige Geschäft bleiben. 2. Die dogmatische Behandlung wurde zum Teil abgelöst, zum Teil weitergeführt durch die erbauliche und polemische Bearbeitung der Schrift. Hier verhält sich der Leser nicht mehr nur als Wissender, sondern als der die Schrift in Beziehung zum Lebensvorgang Setzende. Dabei kann die Bewegung des inneren Lebens sehr kräftig zur Polemik hinüberdrängen. Auch hier entsteht für die exegetische Arbeit sofort eine ernsthafte Gefahr, weil das eigene Interesse überwiegt und das aufmerksame Hören unterbleibt. Daher die seltsame Erscheinung, daß wir eine ganze Menge erbaulicher Bibelstunden haben mit ganz geringem Verständnis der Schrift, weil sofort gefragt wird: Was wird da mir gesagt? Der Inhalt des eigenen Lebens tritt hier an die Stelle des Schriftsatzes, auch wenn nicht polemisiert wird. Auch hier [besteht] eine analoge Schranke wie beim redlichen dogmatischen Schriftgebrauch, wo der Exeget nur munter wurde, wo er den Text nicht verstand, das andre ist ihm feststehend. Ähnlich wird, was mich berührt, aufgefaßt, dabei bleibt das Auge haften, das gewinnt Interesse für den Leser. Daraus ergibt sich sofort die Gefahr, daß das, was den eigenen Lebensstand überragt, wegbleibt. Und das Wegbleibende kann die Hauptsache sein. 3. Eine dritte Form der Exegese mit einem großen literarischen Umfang ergibt sich daraus, daß der Schriftsatz mit dem uns gesetzten logischen Gesetz Berührung bekommt. Es handelt sich um Wiedergabe von Gedanken. Der Apostel, der einen Brief schreibt, entwickelt Gedanken. Das ergab die Exegese, für die jedes gar 127 127 Griech.: denn, nämlich.
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und oun 128 zum Gegenstand größter Aufmerksamkeit wird. Das gibt die Gedankenarbeit, die aus dem Schriftinhalt Begriffe formt, [z. B.] so einen Begriff der Rechtfertigung, der den logischen Aufbau eines Gedankengangs heraushebt als Ergebnis. Auch damit ist wie vorher eine unvergängliche Aufgabe des Arbeitens genannt. Aber wir stehen hier doch wieder vor einer Schranke, die sich an dieser Literatur immer zeigt. Bernhard Weiß 129 steht deutlich hier in dieser Gruppe. Hier ist immer wieder Hauptpunkt, die logische Richtigkeit im Gefüge der Gedanken darzutun. Das ist eine unentbehrliche Aufgabe für den Exegeten, denn unser Denken steht unter dem logischen Gesetz, wir können uns keinen Gedanken aneignen, der diese Regel zerreißt. Aber diese Exegese hat einen Mangel: Das, womit wir uns beschäftigen, ist nicht nur eine logische Reihe, nicht nur die Entwicklung eines Denkakts. Der Mensch spricht hier, nicht nur ein von Willen und Wirken abgesonderter Nous 130. Diese Exegese hing mit dem Rationalismus zusammen, mit der Definition des menschlichen Wesens als Vernunft. Damit ist der Schriftinhalt verhüllt und nicht vollständig erfaßt. (An keiner Stelle können wir mit der Schrift in Berührung kommen, ohne über die Logik hinauszugehen) … Für den über den Denkakt hinausragenden Inhalt (der Schrift) bleibt die rein logisch gerichtete Exegese blind … Die Schrift bringt uns Berührung mit Geschichte. 4. Der vierte Typ [ist die] religionsgeschichtliche Exegese. Zum Verständnis brauchen wir immer eine Mehrheit von Vorstellungen. Das Vergleichsmaterial scheint uns dadurch überreichlich gegeben zu sein, daß die neutestamentliche Geschichte ihre Umgebung hat. Orient und Hellas, das sind Beziehungen, die herauszuheben das Verständnis erleichtert. So entsteht die religionsgeschichtliche Exegese, die drei Formen annimmt: 128 Griech.: also, demnach. 129 Bernhard Weiß (1827–1918) war Prof. für Neues Testament in Königsberg, Kiel und Berlin und galt als »Vermittlungstheologe«. 130 Griech.: Vernunft.
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a. Wir brauchen einen Exegeten, der die Beziehungen des Neuen Testaments zum Judentum kennt. b. Wir brauchen einen für das Hellenentum [Hellenismus] und seine Beziehung zum Neuen Testament. c. Und noch eine dritte Umgebung ist da: Aus der apostolischen Zeit wächst das zweite und dritte Geschlecht heraus, auf die Urkirche folgt die Reichskirche. Wie die Kirche im Zusammenhang mit der Schrift wächst, was das Ergebnis des Neuen Testaments im zweiten und dritten Geschlecht ist, das ist für den Exegeten eine sehr interessante Frage. Was ist die Tradition der Kirche über das Neue Testament? Für diese Art Exegese steht der Name Zahn131 im Vordergrund. Für die zweite Gruppe (Beziehung zu Hellas) Reitzenstein132 und Deissmann133. Für die erste Gruppe (Beziehung zum Judentum) ist ein Name in der Nähe, ich brauch ihn wahrscheinlich nicht auszusprechen! (Schlatter selbst)134 Beim Alten Testament ist bezüglich der Heranziehung der Umgebung die Differenzierung nicht so dringend nötig und doch sichtbar. Das Thema Altes Testament und Ägypten ist wahrscheinlich zu kurz gekommen. Die Arbeitsteilung ist im Neuen Testament dringender geboten als im Alten Testament. Aber auch mit dieser Methode haben wir nicht die Methode des exegetischen Themas. Es liegt hier eine ähnliche Gefahr vor wie beim erbaulichen Interpreten und beim alten Dogmatiker. Denn nun 131 Zu Theodor Zahn (1838–1933), der übrigens ein Cousin von Adolf Schlatter war vgl. W.G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg/München 1958, 247–250. 132 Zu Richard Reitzenstein (1861–1931) vgl. ebd. 340–342, 448ff. 133 Zu Adolf Deißmann (1866–1937) vgl. ebd. 277–280. 134 Daß Schlatter an dieser Stelle sich selbst meint, wie der Stenograph Mülhaupt durch seine Hinzufügung behauptet, ist offenkundig: Zehn Sätze später bezeichnet er den dritten Typus direkt als »mein Arbeitsfeld«. Tatsächlich war Schlatter unter den zeitgenössischen Exegeten im Hinblick auf die Kenntnis und Heranziehung des neutestamtlichen Judentums für die Exegese konkurrenzlos.
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sind wir doch wieder neben der Schrift mit unsrer Beobachtung angewurzelt. Wir vergleichen, und um zu vergleichen, muß das neben dem Neuen Testament Stehende ans Licht gehalten werden. Daß damit die Verengung des Sehfelds leicht eintritt, ist wieder durch reichliche Erfahrung auch in der gegenwärtigen Literatur belegt. Der, der die kirchliche Tradition als Schlüssel für das Neue Testament benützt, macht leicht einen Kirchenvater (aus Jesus oder Paulus). Wenn einer bei Reitzenstein in die Schule gegangen ist, ist fortwährend von Mysterien die Rede. Auch bei meinem Arbeitsfeld kann es sein, daß Jesus und die Apostel zu Rabbinen werden. [Betrachten wir] den Akt des Lesens im Elementarbestand! Wir brauchen vergleichbare Größen. Sind sie mir gegeben, wenn ich den Akt der Beobachtung auf die mir vorliegenden Texte beschränke? Denn jede Einzelaussage hat ja neben sich eine andre. Ich habe nicht einen einzelnen Spruch Jesu vor mir, sondern eine ganze Reihe. Eine Anekdote des Matthäus ist hineingestellt in eine Erzählung. Das Ganze muß gesehen werden, und die Teile dürfen auch nicht übersehen werden. Zunächst ist hier die Aufgabe auf das betreffende Buch beschränkt: Römer 5 kann man nicht ohne das Vorangehende und Folgende interpretieren. Der Zusammenhang wird zum exegetischen Hilfsmittel. Wenn ich von einem Spruch zum andern gelange, wenn der Teilbestand Teil des Ganzen wird, dann ist die Richtigkeit der Auslegung bewährt. Aber wir werden ja sofort über das einzelne Buch hinausgedrängt, denn es ist Teil einer über den einzelnen Verfasser hinausgreifenden Geschichte. Die Beziehung dieser Schriften zueinander ist historisch begründet, also faktisch begründet, [sie] wächst aus der religiösen Geschichte heraus. Darum gewinnt die rein beobachtende Exegese Größe und Füllung mit Stoffen, und sie ist für alle andern Methoden und Verkehrsformen mit der Bibel unentbehrlich. Was wir zu tun haben, um der Kirche ihren köstlichen Besitz zu erhalten – und der köstlichste ist die Bibel – ist die Erziehung zur Beobachtung gegenüber der Schrift, die Befähigung zum Hören, das – 110 –
Vermögen zum einfachen Akt des Lesens, der den Gedanken des andern unverkrümmt reproduziert. Damit erst wird die kritische Funktion der Schrift vor Entgleisung und Verderbnis geschützt. Wenn der Dogmatiker sich die Aufgabe stellt, auch die Distanz zwischen seinem inneren Besitz und dem Schrift-Satz zu sehen, so ist die Voraussetzung dazu nur in der Beobachtung gegeben. Sonst entsteht immer die Spiegelfechterei gegen etwas, was gar nicht da ist. Der gleiche Gedanke überträgt sich ohne weiteres auch auf die historische Kritik. Beschreibung des Paulus bei Lukas – wie verhält sich diese zur Geschichte? Den allwissenden Historiker, bei dem das Geschichtsbild kongruent (mit der wirklichen Geschichte) wäre, gibt es nicht und kann es nie geben. Sehen Sie nur einmal auf die zeitgenössischen Dinge, Selbstbiographien und dergleichen! Da haben Sie sofort bei wachen Augen die klare Beobachtung vor sich: Geschichte und Geschichtsbild ist zweierlei. Der historische Exeget ist gegenüber dem geschichtlichen Bericht der Bibel zur Stellung dieser Frage berechtigt und verpflichtet. Er kann sie nicht fruchtbar anfassen, wenn er nicht zuvor gehört hat. Daß wir dies erreichen … ist das große Ziel des exegetischen Unterrichts.
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§ 13 Die zusammenfassenden biblischen Disziplinen Aus der Einzelbeobachtung erwächst das Bestreben nach Herstellung eines das Ganze zu erfassen suchenden Bildes. Die Eigenart der religiösen Denk- und Willenshaltung kommt hier noch in besonderem Maß in Betracht. Die Frage nach dem Verlauf der biblischen Geschichte ist dadurch gestellt. 1. Das Älteste, was einigermaßen zur Konsolidierung gelangt, ist die Einleitungswissenschaft. Zunächst in der kümmerlichen Form, daß der Exeget, ehe er an die Arbeit ging, eine richtige Erkenntnis des Verfassers und dessen Absicht zusammenstellte. Daraus entstand allmählich eine beide Testamente ins Auge fassende Einleitung. Der Titel der Disziplin zeigt die Herkunft dieser Arbeit. Der Titel ist irreführend: Einleitung in die biblische Literatur, die aber die Texte voraussetzt. Urteile über Verfasser, Zeit, Tendenz und Platz in der Schrift müssen sich aus dem Text ergeben. Der Exeget muß erst arbeiten. Aber die literarische Geschichte Israels und der neutestamentlichen Gemeinde herauszuarbeiten, bleibt eine hohe Aufgabe. Die Inspiration, naturwidrig und geschichtslos gedacht, ergibt den einzelnen Spruch, der vom fehllosen göttlichen Wissen eingegeben ist. Aber diese Vorstellung ist nicht durchführbar. Dieser [biblischen] Geschichte nachzudenken ist ein hohes Ziel. Die Einleitung zerlegt sich in zwei Aufgaben: a. [Die Erforschung] der einzelnen Schriften. Aber die einzelnen Dokumente wirken ja auf die Gegenwart, weil sie zum Kanon verbunden sind. b. Und [die Erforschung] des Kanons ist das zweite Problem. Hier sind die beiden Testamente nicht in gleicher Weise zugänglich: Bei der Kanon-Arbeit im Neuen Testament ist – 112 –
Zahn135 der größte Arbeiter. Für das Alte Testament ist die Lage ungünstiger. Wir können die Geschichte des Kanons erst fassen in dem Moment, wo sie zum Stillstand kommt. Einheitlichkeit des Schrifttextes, des Schriftverzeichnisses, aber zwischen dem Entstehen der einzelnen Schriften und dem ersten Jahrhundert, wo der Kanon zum Abschluß kommt, liegt eine bewegte Periode mannigfaltiger Schriftbenützung, in die wir bisher sehr wenig hineinsehen. Auch im Alten Testament handelt es sich nicht nur um die einzelnen Bücher, sondern auch [darum], wie es zur Sammlung und Fixation des hebräischen Kanons kommt. 2. Wir brauchen noch zwei weitere Disziplinen: Exegese und Einleitung genügen noch nicht: Die biblische Theologie des Alten Testaments und des Neuen Testaments. Auch das ist eine geschichtliche Disziplin. Hier handelt es sich um die Überzeugungen, die in der Schrift vorhanden sind. Wie sind diese Überzeugungen geworden? Ideengeschichte beschäftigt uns hier. Freilich darf hier nicht übersehen werden, daß die religiöse Idee ihre Eigenart hat. Ihre Bedingungen liegen sehr ernsthaft auf dem Gebiet der Ethik. Die Mängel der alttestamentlichen und neutestamentlichen Theologie liegen zum Teil daran, daß diese religiösen Dinge verhüllt bleiben. Religion ist ein Lebensakt und nicht nur ein Denkakt, das muß beim Entwurf des historischen Bilds beachtet werden. In der Entwicklung unsrer Disziplin haben wir drei Typen mit charakteristischen Zielen: a. Die Entstehung der biblischen Theologie fällt ins 18. Jahrhundert. [Sie steht] im Zusammenhang mit der Opposition gegen das Lehrgesetz. Das Dogma wird als Last empfunden, eine vorwärts strebende Bewegung entsteht, und das Mittel ist sehr wirksam: Die Berufung auf die Schrift. Der orthodoxe Lehrer will nichts andres sagen, als was die Schrift sagt, darum führt er für jedes seiner Worte den Schriftbeweis. Hier ist natürlich 135 S. o. Anm. 131.
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ausgiebige Kritik nötig, und der Kampf gegen den Dogmatismus beginnt damit, daß gesagt wird: Schriftsatz und Dogma decken sich nicht. Aus diesem Anlaß ergab sich zunächst [als] Methode [biblischer Theologie]: Sie folgt jeder einzelnen These des Dogmas nach, sie formt eine biblische Dogmatik. Die biblische Aussage wird Punkt für Punkt herangezogen. Diese Art ist nicht unwissenschaftlich und fruchtlos für den Gang eines akademischen Arbeitens. Es leuchtet aber sofort ein, daß an dieser Methode ein Mangel hing: Der Historiker entnahm sein Arbeitsziel nicht aus der Geschichte selbst, sondern die Methode ist ihm von einer andern Seite bereits gegeben. Sein dogmatisches Lehrbuch leitet ihn bei der historischen Forschung. b. Darum haben wir noch eine zweite Methode. Die Beobachtung, daß jeder einzelne Verfasser in der Schrift einen in sich geschlossenen geistigen Besitz hat, drängt sich auf. Jeder einzelne Prophet hat seine besondere Physiognomie, jeder Apostel hat seinen Tropus, verdeutlicht einen religiösen Typus. Hier die Einheit herauszustellen bei mosaischer Periode, vorprophetischer Periode, jeder prophetischen Stimme für sich – dadurch wird der Geschichtslauf verdeutlicht in seiner den Einzelnen bewegenden Kausalität. Die Lehre Jesu ist nicht gleich zu vermengen mit der Verkündigung der Apostel. Paulus [ist] wieder für sich [zu erforschen]. So bekommen wir soviel Theologien, als es Bücher in der Bibel gibt, als Männer zu uns reden. Diese Methode – sie beginnt auch schon am Ende des 18. Jahrhunderts, Herder136 ist einer der Anfänger – ist immer wieder unentbehrlich. Wir müssen uns klar machen: Was ist Paulinismus? Mit welcher Gedankenreihe hat Jesus gearbeitet? Was ist der geistige Besitz der Propheten? Wie verhält sich das nachexilische Geschlecht zum vorexilischen? Ein Mangel entsteht aber auch hier: Wir haben jetzt die Geschichte aufgelöst in lauter einzelne Biographien. 136 Zu dem Theologen und Philosophen Johann Gottfried Herder (1744– 1803) vgl. Kümmel, Das Neue Testament, aaO [s. o. Anm. 131], 94–99.
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Aber das, was für die Geschichte bedeutsam ist, daß die Richtung des einen durch die Richtung des andern bestimmt ist, also gerade das Wesentliche am historischen Vorgang, die kausale Macht der Gemeinschaft, tritt hier zurück. Die Folge im Geschichtsbild ist: Wir bekommen einen ganz originalen Paulus, eine Lehre Jesu, die ohne Verbindung mit der vorangehenden und folgenden ist. Wir bekommen einen Priesterkodex, da die Isolierung des Einzelnen das historische Bild geschwächt hat. c. Eine dritte Methode müssen wir pflegen: die historische, die sich freilich klar macht, daß die Geschichte nicht nur einem Naturprozeß gleicht, dessen Mechanik eine völlig gebundene Bewegung der Agenten zur Folge hat. Geschichte entspringt aus der Persönlichkeit. Geschichte kommt nur zustande durch Tat. Der Einzelne lebt aber nicht für sich und durch sich, er steht in einer sein ganzes Denken und Wollen beherrschenden Beziehung zum andern. Darum hat sich der Blick auf die Führenden und auf die Gemeinde zu richten, aus der diese führenden Männer kommen und für die sie arbeiten. Wir sind also über den Einzelnen mit seinem charakteristischen Typ hinausgewiesen in die großen Zusammenhänge. Stecken wir das Ziel so, daß die biblische Theologie zur Religionsgeschichte der alt- und neutestamentlichen Gemeinde wird, dann empfinden wir die Unendlichkeit unsrer Aufgabe. Das liegt nicht nur an der Beschränktheit der Quellen. Die Quellen erschließen allerdings dann doch auch wieder Innerstes und Letztes. Diese Männer sprechen mit Wahrhaftigkeit Tiefstes aus, was sie bewegt. Der Geschichtsforscher steht hier in günstigerer Lage als irgendwo sonst auf antikem Boden. Mit babylonischen Königslisten und Hieroglyphen kommen wir erst recht nicht an das Geschehen heran. Wir stehen aber oft genug einfach vor dem fertigen Resultat und haben nicht Einblick in das Werden. Das ist aber das gemeinsame Los, das wir mit dem Historiker auf jedem Gebiet teilen. Auch die Natur ist eine Unendlichkeit, nie faßbar in ihrer Totalität. Diese erreicht der Historiker nur dadurch, daß er zum Poeten wird. Die biblisch-theologischen Versuche, auch – 115 –
wenn wir noch so bescheiden ihre Begrenztheit festhalten, sind eine unschätzbare Hilfe bei der Exegese und der Aneignung des Schriftworts im eigenen Verhältnis. Wenn wir die Schwächlichkeit unsrer biblischen Theologie ins Auge fassen, auch Namen wie Wellhausen137 ändern daran nichts, so kommt dann noch die [bereits genannte] dritte Aufgabe uns zu Hilfe, nämlich: die reale Geschichte. Für das Alte Testament liegt klar am Licht, daß die Schicksale des Volkes und die Bewegung in seiner Religion ineinander greifen. Damit wird sowohl die Einleitung wie die biblische Theologie auf ein gesichertes Fundament gestellt. Einen kleinen und doch nicht unwesentlichen Punkt nenne ich damit: So bekommen wir eine Chronologie. Daten nennen uns nicht die kausalen Faktoren, aber sie sind eine starke Hilfe bei der Gestaltung des Geschichtsbilds. Denn die Zeit ist für das Geschehen unentbehrlich. Im biblischen Gebiet sind wir ja sehr häufig nicht in der Lage, Daten herzustellen. Der Wert der Realhistorie greift über die genannte Einzelheit [d. h. die Chronologie] weit hinaus. Der Zusammenhang mit der natürlichen Lage und der inneren Lebensbewegung ist wichtig. Es hat seine zentrale Wichtigkeit gehabt, wo Israel wohnte. Aber es wäre nicht richtig, wenn wir die Aufgabe nur darauf beschränkten, das inwendige Geschehen auf seinen natürlichen Boden zu stellen, dem Denker eine Heimat zu geben, der Sprache ihr natürliches Anschauungsmaterial zu geben. Hier kommt noch ein weiteres Motiv in Betracht: Hätten wir nur eine neutestamentliche Theologie, dann entstünde eine Verkürzung des Geschichtsbilds. Damit der Gedanke Religion wird, damit er Gemeinde schafft, bedarf er der kausalen Macht. Kraft und Idee müssen zusammen kommen, damit Leben entsteht. Jetzt sind wir beim Textproblem der Darstellung der israelitischen und urchristlichen Geschichte. Wir stehen hier vor Handlungen, nicht 137 Zu Julius Wellhausen (1844–1918) vgl. Kümmel, Das Neue Testament, aaO [s. o. Anm. 131], 358–364.
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nur vor Überzeugungen: Wie wird der religiöse Antrieb in der Weltgeschichte zur wirkenden Macht? Wir brauchen dazu noch eine weitere Arbeit, die die Lücke zwischen Altem Testament und Neuem Testament ausfüllt. 3. Unsre Theologie bleibt unvollständig, wenn sie bei Esra schließt und bei Jesus wieder neu anfängt. Die Geschichte kennt bekanntlich keine solchen Löcher. Die [die Lücke füllende] Disziplin hat noch einen ungeschickten Namen: neutestamentliche Zeitgeschichte, d. h. Darstellung des Judentums. Der Kanon zeigt ja, daß zwischen Altem Testament und Neuem Testament eine Lücke von einigen Jahrhunderten ist, die nicht an religiösem Leben leer sind. Die Lücke entsteht durch die griechischen Einwirkungen auf die Gemeinde. In der Gestaltung des Kanons zeigt sich der pharisäische Grundsatz: kraftvoller Gegensatz gegen die griechische Beeinflussung der Gemeinde. Darum wird diese Zeit für den Kanon unwirksam gemacht. Es gab ja Schwankungen: Sirach hat ernsthaft den Zusammenhang mit dem Kanon gewonnen, auch in Jerusalem. Auch die Makkabäer wären einer Zuteilung zum Kanon wohl fähig gewesen – jedenfalls das Stück, das hebräisch ist. Der Pharisäer aber sagt: Die griechische Periode hat uns die Verwirrung gebracht, also Rückkehr zur prophetischen Periode, Abschluß mit dem Ende der Perserzeit. Dieses Urteil kann man nicht als religiös minderwertig bezeichnen. Die griechische Periode ist eine Zeit der Gärung, es entstehen Mischformen. Die beiden Überlieferungsströme kommen nicht zu einer inneren Einigung, die Verarbeitung der griechischen Erwerbungen gelingt nicht ausreichend. Insofern ist das Urteil der Palästiner durchaus berechtigt. Wenn man eine Schrift Aristobuls138 nicht in den Kanon aufnahm, den ersten Schriftsteller, der Griechentum mit Bibel vereinigen wollte, so hat das guten Grund. Die Ausscheidung der Apokalypsen aus dem Kanon ist eine Tat der Reformatoren, die wir dankbar zu begrüßen haben. Historischer Betrachtung stellt sich aber hier eine unent138 Aristobul (Mitte 2. Jh. v. Chr.) war jüdisch-hellenistischer Philosoph in Alexandria.
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behrliche Aufgabe. Die Sprache im Neuen Testament, die neutestamentlichen Formeln stehen nicht im Alten Testament: basileia tōn uranōn139, metanoia 140, pistis 141, christos 142 – all das sind Worte, die wesentlich anders gefüllt sind als etwa im Psalter. Nicht nur die Gedankenwelt der Gemeinde hat sich wesentlich geändert, auch ihr Recht, ihre Sitte, die religiösen Zustände und der Gottesdienst, wie wir ihn heute noch haben. Für Altes Testament und Neues Testament ist das Studium dieser Vorgänge unentbehrlich. Es hat sich dafür die kindische Formel »Spätjudentum« eingebürgert. Wenn die alexandrinische Theologie Spätjudentum repräsentiert, was tun dann die Heutigen? »Spät« ist kein Werturteil. Wenn das Judentum der griechischen Periode 300 [ante] – 100 post [Christum natum] aus der Betrachtung ausgeschaltet wird, fehlt ja der Geschichte das Ende, sie hört auf mit einem Riß. Für die Geschichte des Gesetzes ist es von größter Bedeutung, wie das Gesetz gewirkt hat. Eschatologie wirkt in dem Sinn, daß die ganze Lebensführung und Politik der Gemeinde durch sie bestimmt wird. Aber noch nötiger ist das Studium dieser Periode vom Neuen Testament aus, weil Jesus und seine Jünger mit diesen Überzeugungen in Verbindung stehen. Wir bekommen im Neuen Testament die Antwort Jesu und seiner Jünger auf das »Spätjudentum«. Um die Antwort zu verstehen, hat es bedeutsamen Wert, daß wir den auch kennen, mit dem der Dialog geführt wird. Da, wo das Judentum verschleiert ist, entstehen notwendig vorgreifende Konjekturen. Aber auch vom kirchengeschichtlichen Ziel aus ist die Kenntnis des Judentums zwischen Altem Testament und Neuem Testament unentbehrlich. Denn die jüdische Tradition ist wie die griechische mächtig in die Kirche hineingeflossen. Jüdische Legende, jüdischer Nomismus und Zauber ist für die Kirche eine gefährliche und ver-
139 Griech.: Königsherrschaft der Himmel. 140 Griech.: Umdenken, Umkehr. 141 S. o. Anm. 58. 142 Griech.: Gesalbter, Christus (Messias).
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führerische Macht geblieben. Was hat doch Philo143 in der Kirche bedeutet mit seiner Allegorie, die wir bis heute noch nicht zu entfernen vermochten. Als unterstützende Disziplin kommt daher zur Exegese auch noch die Geschichte des Judentums hinzu, also die Geschichte der Juden in der griechischen Zeit. Die persische Zeit war ja noch vom Alten Testament erfaßt, die Sammlung geschieht in der letzten Zeit der Perserherrschaft. Die Schwierigkeiten sind sehr groß, das liegt an den Quellen. Aber der Quellenbestand ist doch reicher als in der Perserzeit und der vorexilischen Zeit.
143 Philo von Alexandria (um 15/10 v. Chr. – 40 n. Chr.), bedeutendster Philosoph des hellenistischen Judentums, vertrat die Auffassung, daß neben der wörtlichen Interpretation des Bibeltextes, dem sog. Literalsinn, auch der allegorische (d. h. ein »anderer«, geistig-symbolischer) Sinn, zu beachten sei. Sein großer Einfluß führte in der kirchlichen Exegese vor der Reformation zur Lehre vom vierfachen (d.h, wörtlichen, allegorischen, anagogischen, moralischen) Schriftsinn und damit zu einer Überbetonung des allegorischen und einer Vernachlässigung der buchstäblichen Auslegung. Die Reformatoren lenkten wieder zur buchstäblichen Auslegung als Grundlage aller kirchlichen Auslegung zurück. Vgl. dazu: Kümmel, Das Neue Testament, aaO [s. o. Anm. 131], 12–26.
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§ 14 Die Hilfswissenschaften für neutestamentliche und alttestamentliche Schriftbearbeitung 1. Philologia sacra. In der Beobachtung der sprachlichen Prozesse kann man schon eine Lebensaufgabe erkennen. Die Aneignung der Sprache ist ja zunächst eine Fertigkeit: Ein Realgymnasiast lernt in den ersten 14 Tagen Matthäus und Römerbrief auswendig!144 Die vom sprachlichen Gebilde erweckten Vorstellungen werden uns nur dadurch deutlich, daß wir reichlich analoge Möglichkeiten haben. Die Sprache muß mit ihrem Reichtum in uns gegenwärtig sein. Für die alttestamentlichen Aufgaben stellt sich darum mit durchsichtiger Begründung der Wunsch ein, die philologische Arbeit über das Hebräische hinaus zu dehnen und die semitischen Dialekte sich anzueignen. Ich bin nicht in der Lage, hochgreifende Ziele durch Warnung zu verkürzen. Immerhin bin ich hier eher in der Stimmung, vor übereilten Versuchen zu warnen. Die Aneignung des Arabischen oder – gegenwärtig sehr verlockend – des Assyrischen145 144 Ein in dieser allgemeinen Formulierung rätselhafter Satz! Zwar hatte Schlatter selbst ein phänomenales Gedächtnis und es gibt glaubwürdige Berichte darüber, daß er das gesamte griechische Neue Testament auswendig konnte (vgl. dazu Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 603. Aber der Satz kann sich mit seinen allgemeinen Formulierungen nicht auf ihn selbst beziehen und ist daher entweder als ironisch gemeinte Übertreibung zu verstehen oder als ein Hinweis auf ein tatsächliches Ereignis, das ihm mitgeteilt wurde. Dies würde dann aber die Vergangenheitsform voraussetzen: »Ein Realgymnasiast lernte in den ersten 14 Tagen Matthäus und Römerbrief auswendig und inwendig.« 145 Schlatter selbst hat als Student Lehrveranstaltungen zu Arabisch und Syrisch belegt (vgl. Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 53.
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nimmt doch einen sehr großen Teil der Studienzeit in Anspruch, sodaß die Überlegung unumgänglich ist, ob nicht die zentralen Ziele Gefahr laufen. Wir sind auf die Arbeitsteilung angewiesen. Theologie besteht aber nicht nur im Memorieren, nicht nur in der Fertigkeit, eine Sprache zu handhaben, sondern die Sprache wird für sich Gegenstand der Beobachtung, des Begreifens, der Erkenntnis. Der Vorgang, wie hier der seelische Prozeß sich äußert und die das Volkstum zusammenbindende Gemeinschaft sich darstellt, hat spannendes Interesse. Auf beiden Gebieten stellen sich hier weit ausgreifende Probleme. Im Neuen Testament stehen wir vor der Frage, wie das Griechische im Neuen Testament zustande gekommen ist. Es unterscheidet sich von dem in der griechischen Literatur bekannten, wir haben die Koinē vor uns. Diese Formel der alten Philologen ist eher irreführend. Sie geht davon aus, daß der ältere Hellenismus die bekannten Dialekte zeigt: Attisch, Jonisch, Kretisch usw. Darüber hebt sich eine Literatursprache, die allgemein ist (glossa koinē).146 Die Gräzität des Neuen Testaments führt uns nicht in eng umgrenztes dialektisches Gebiet, sondern gibt die Verkehrssprache des ganzen Orients. Aber mit dieser Erklärung ist der Tatbestand ungenügend bekannt. Es handelt sich um das Verhältnis der gesprochenen zur literarischen Sprache. Das Neue Testament gibt uns annähernd die gesprochene Sprache. Hier greift die Doppelsprachigkeit Palästinas ein. Auch Städte, die eine lange Geschichte hatten wie Tyrus und Gaza, verlieren ihre heimische Sprache und Überlieferung radikal. Die Grabungen in Palästina haben das aufs neue bestätigt. Wenn wir Megiddo oder Gaza oder Samaria aus dem Boden hoben, dann zeigte sich, daß die ganze alte Überlieferung restlos vernichtet ist. Nicht ein Buchstabe als Sprache Edoms ist in Philadelphia erhalten. Der Hellenismus hat alle alte Tradition 146 Griech.: allgemeine Sprache. Gemeint ist das von allen gesprochene Griechisch der neutestamentlichen (bzw. hellenistisch-römischen) Zeit im Unterschied zum klassischen Griechisch der vorhellenistischen Zeit.
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radikal vernichtet.147 Die tyrische Literatur, Mathematik und Astronomie ist völlig vernichtet. Dieser Vorgang hat sich in Jerusalem nicht vollzogen, und hier wirkt der religiöse Faktor entscheidend mit. Er hält die Sprache fest seiner Schrift wegen. Der Wille Gottes steht in der Thora, und die ist hebräisch. Man betet mit den Worten des Psalters, und darum bleibt auch Gebet und Gottesdienst auf palästinischem Boden hebräisch. Die alte heilige Sprache ist aber nun nicht Verkehrssprache. Im ganzen westlich vom Euphrat liegenden Asien hat sich das Syrische durchgesetzt mit kleinen Unterschieden. Die Landessprache und die heilige Sprache waren so verwandt, daß die eine die andre stützt. Solange man syrisch sprach, war auch der Zugang zur heiligen Sprache leicht zu gewinnen. Also ist die palästinische Bevölkerung doppelsprachig. Die Doppelsprachigkeit ist von Einfluß auf die Art des hier lebenden Hellenismus. Dadurch daß die beiden Sprachen beständig nebeneinander stehen, gleichen sie sich aneinander an. Der ganze Sprachaufriß, die Struktur der Sprache – indogermanisch-semitisch – ist so verschieden, daß eine unmittelbare Angleichung nicht möglich ist. Aber Verbindung findet doch statt, doch so, daß aufgenommen wird, was in der andern Sprache reproduzierbar ist. Der Anteil an der reinen Gräzität ist bei den verschiedenen neutestamentlichen Stücken verschieden. Man darf nicht vom Judengriechen sprechen, es handelt sich im Neuen Testament nicht um eine Ghetto-Sprache. Das Ghetto in Alexandria ist ein wesentliches Hauptstück der Stadt, das Ghetto in Jerusalem ist die ganze Stadt. Der Jude nimmt unbefangen, ja begierig am griechischen Leben teil und schließt sich nicht aus. Die semitische Sprachgewöhnung läßt man aber nicht untergehen, und sie regiert auch seine Gräzität. Dieser Vorgang erstreckt sich auf das ganze doppelsprachige Gebiet. Wo Semitismus und Hellenismus vorliegen, kommt dieser Vorgang der Doppelsprachigkeit in Sicht. Wir haben also nötig, die Berührung mit der lebendigen Sprache zu suchen. Das hat der gegenwärtigen philologischen Arbeit ihr Recht 147 Vgl. dazu Schlatters ausführliche Schilderung in seiner Geschichte Israels von Alexander Großen bis Hadrian, 31925 [= 1977], 12–16.
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gegeben – Deißmanns »Licht vom Osten« – Sammlung der Papyri, eifrige Sammlung der Inschriften.148 Bei den Inschriften kommen die beiden verschiedenen Einflüsse gleichzeitig ans Licht: auf der einen Seite Kunstsprache im blödesten Sinn, aber auch, namentlich auf den Grabsteinen, einfach Fixierung des gesprochenen Worts. Das Verständnis des Neuen Testaments bekommt natürlich von den Papyri nicht eine völlig neue Wendung. Da sind Übertreibungen im Eifer der modernen Forschung natürlich nicht ausgeblieben. Aber das Forschungsziel ist wertvoll, und es fehlt auch nicht ganz an Erträgen. Auch das Alte Testament gibt dem Philologen reizvolle, vielleicht auch unlösbare Probleme. Wir haben den gemeinsamen semitischen Grundstock vor uns, gemeinsames Sprachgefühl. Nun die Dialekte – wie entstehen sie, wie wachsen sie aus dem sprachlichen Gemeingut heraus? Das ist eine für das, was die Jerusalemiten des ersten Jahrhunderts den lěšôn hāqôdeš 149 nannten, interessante Frage. Was haben wir vom Philologen als Resultat zu empfangen? Zunächst die Herstellung des Textes. Die Aufgaben sind für Altes Testament und Neues Testament verschieden. Das Alte Testament ist hier auf ganz minimales Material beschränkt, wir haben die Masora 150, die Leistung der jerusalemitischen Theologen vor uns, und daneben nur die Septuaginta.151 Die alttestamentliche Textkritik ist daher überwiegend auf die eigene Konjektur angewiesen. Das setzt aber [eine] Sprachkenntnis voraus, die nicht jedermanns Ding ist. Dazu ist die rechte Einfühlung in das Semitische unerläßlich, sonst bekommen wir Konjekturen, die das Hebräisch des Betreffenden sind. Anders ist es im Neuen Testament. Da liegt die breite Überlieferung der Kirche vor, wir haben Überfluß an Handschriften. Ale148 Zu Deißmann vgl. Kümmel, Das Neue Testament, aaO [s. o. Anm. 131], 277–280. 149 Hebr.: die heilige Sprache. 150 Das hebräische Alte Testament. 151 Die griechische Übersetzung des Alten Testaments.
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xandria, Caesarea, Antiochien sind die drei Überlieferungszentren, durch die der Text hindurchgegangen ist. Auf das Ganze gesehen sind die Erträge der Textdurchforschung klein. Wir können sagen: Die Textüberlieferung ist glänzend, die Gemeinde hat ihre Schriften mit großer Sorgfalt bewahrt. Unterschiede liegen natürlich vor. Wenn Konjekturen hier auftreten, so immer an Stellen, die in der gesamten Überlieferung bereits irgendwie verletzt sind, weil die Erzählung auf die Anfänge der Überlieferung zurückgeht. Bei der Arbeit für die Herstellung des Textes gibt es Wandlungen in der Schrift und Wandlung in der Buchgestalt: Die Paläographie ist das erste. Beim Alten Testament finden wir die starke Verschiebung in der Schrift: Die »alte Schrift« und die »assyrische Schrift«, wie die Juden sagen, und, wie wir sagen, die »Quadratschrift«.152 Es ist hier immer zu erwägen: Wie sieht der Text aus in der »alten Schrift« und wie sieht er aus in der »Quadratschrift«? Darum ist es nützlich und unentbehrlich, daß die textkritischen Männer sich ihren Text auch in der alten phönizischen Schrift vorstellen. Die Verwunderung darüber, daß der alttestamentliche Text eine Reihe von endgültig verletzten Stellen enthält, nimmt ab, wenn man sich den alten zackigen Schriftcharakter gegenwärtig hält. Für das Neue Testament ist der ältere Schrift-Charakter die Majuskel, der jüngere die Minuskel. Eine Kursivschrift kommt in Geltung, die auch für die Texte Verwendung findet. Darum unterscheiden sich unsre Texte in diesen beiden Arten von SchriftDuktus. Die Majuskel steht im Großen und Ganzen voran, eine Minuskel ist natürlich nicht ohne weiteres wertlos. Die Buchform hat auch Wandlungen erfahren, die für die Gestaltung des Textes nicht gleichgültig sind. Die neutestamentlichen Bücher sind zunächst Papyrusbücher und dann Kodizes. Im vierten Jahrhundert [nach Christus] kam die Wandlung mit dem für die Bücher verwendeten Material: Wir bekommen den Papyrus, aber 152 Mit der »Alten Schrift« ist die »phönizisch-althebräische Schrift« gemeint: Vgl. E. Würthwein, Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 1952, 9f.
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nun nicht als Rolle, sondern als Buch Blatt um Blatt. Das neue Material hatte den Vorzug, daß es stabiler war als das frühere. Sodann gibt es die Grammatik und das Lexikon: Beide Worte brauchen eine kleine Anmerkung. Die Grammatik ist ein Gesetzbuch, das irgendjemand durch [einen] inspirativen Vorgang153 verfaßt hat, und nun muß es so verwendet werden. Diesen Nomismus kennt aber die Sprache nicht! Aber wir haben doch einen Vorgang vor uns, den wir mit »Gesetz« bezeichnen. Es ist leicht verständlich, mit welcher Stärke die Angleichung im Sprechen zwischen den nebeneinander Lebenden sich vollzieht. Und das ergibt eine Summe von Regeln, die für den betreffenden Sprachtyp in Geltung stehen. Und diese Regeln vor sich zu haben, hilft bei der exegetischen Arbeit. Im strengen Sinn gibt es keine neutestamentliche Grammatik. Die Doppelsprachigkeit geht über religiöse und konfessionelle Grenzen hinweg. Die Unterschiede gegenüber der attischen »Gesetzgebung« [= Grammatik] sind deutlich. Die Erscheinungen, die hier von den Grammatikern definiert werden, gehören eben in die Doppelsprachigkeit des Orients, d. h. in die griechische Sprache von Männern, die gleichzeitig semitisch empfinden. Das Lexikon des Neuen Testaments ist noch nicht geschrieben.154 Die Philologen bringen es fertig: Wir haben einen recht hübschen Thesaurus graecus.155 Die Schwierigkeiten sind hier be153 Schlatter gebraucht hier einen ironisierenden Stil: Er versteht hier unter »inspirativem Vorgang« natürlich nicht eine »Inspiration« des Heiligen Geistes, sondern ironisiert die tendenzielle Absolutheit, die mit grammatischen Regeln oft verbunden wird. 154 Diese Feststellung Schlatters gehört längst der Vergangenheit an. Vgl. dazu: W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin u. a. 61988 und auch: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (begr. von Gerhard Kittel, hg. von Gerhard Friedrich), 10 Bde., Stuttgart u. a. [1933ff] 1966–1979. 155 Schlatter spielt hier an auf das große Lexikon griechischer Wörter von [urspr.] Henricus Stephanus, Thesaurus Graecae Linguae, [Bde. 1–5, Genf 1572] Bde. 1–9 [hg. von K.B. Hase / W. Dindorf],
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trächtlich, weil die Doppelsprachigkeit des Neuen Testaments die beiden Zweige der philologischen Arbeit nötig macht. Wer ein neutestamentliches Lexikon schreiben will, muß sehr gut semitisch und sehr gut griechisch können. Milligan, ein Wörterbuch aus den Papyri156 – da wird die Verbindung hergestellt zwischen oberägyptischer Gräzität und neutestamentlicher Sprechweise, zweifellos ein wertvoller Beitrag, aber nur ein Beitrag. Beim Lexikon kommt es nicht nur auf das Vorhandensein eines Worts an, sondern auch auf die Bedeutung. Stellen wir Milligan als Kontrast den Ansatz von Cremer 157 zur Seite: Hier [finden wir] eine [besondere] Achtsamkeit auf die Bedeutung, auf die Wandlung der mit dem Laut verknüpften Vorstellung. Ohne Kooperation läßt sich diese Aufgabe nicht bewältigen. Die Zusammenarbeit ist ja nicht gerade das Glanzstück der deutschen Geschichte, wir leiden schwer unter der Unfähigkeit zur Zusammenarbeit. Neben der Philologie steht die Archäologie als eine Hilfswissenschaft. Das Alte Testament und das Neue Testament geben uns eine Menge von Worten, die sich auf Vorgänge der natürlichen Sphäre beziehen, wo die Kultur des Verfassers und seiner Umgebung sichtbar wird: Parabeln Jesu mit ihrem Griff in die alltäglichen Bestände des Lebens oder Prophetismus mit seiner überströmenden Verwertung natürlicher Bilder zur Darstellung des sittlichen und religiösen Akts. Was sind diese natürlichen Bestandteile des Textes? Darüber hat uns die Archäologie zu unterrichten, und die Beiträge, die sie uns für das Verständnis der Bibel gibt, sind beträchtlich. Auch wenn es sich nur darum handelt, daß in unsre Exegese die GewöhParis 1831–1865. Dieses Lexikon ist der Vorgänger des heute von der University of California betreuten digitalisierten Projektes Thesaurus Linguae Graecae (TLG, 1972–2012). 156 Vgl. James H. Moulton / George Milligan, The vocabulary of the Greek Testament: illustrated from the Papyri and other non-literary sources, 8 Bde., London 1915ff. 157 Vgl. H. Cremer, Biblisch-theologisches Wörterbuch der Neutestamentlichen Gräzität (hg. v. Julius Kögel), Gotha 101915.
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nung hineinkommt, das vom Text Gesagte sich auch vorzustellen, wäre der Gewinn groß. Die Schwierigkeiten des Lesens kommen in der Exegese reichlich in der Form ans Licht: Sie stellt sich nicht vor, was der Erzähler sagt. Der Archäologe hat es mit [anschaulichen] Vorstellungen zu tun. Die historische Geographie – auf diesem Gebiet sind wir in einem Fortschritt begriffen wie in der Archäologie. Schon die Bequemlichkeit der Reisen, die uns der Orient aufgetan hat, hat hierin gewirkt. Dann aber die allmählich wachsende Zahl von Grabungen. Eine palästinische Karte in seiner Phantasie bei sich zu haben, ist viel für einen Studien Machenden. Wir haben es in der religiösen Geschichte nicht mit Vorgängen zu tun, die wir aus Kultur und Nahrung abzuleiten haben. Aber es gibt keine Geschichte, die nicht in die Natur hineingesetzt ist. Zu den Faktoren, die den ganzen Geschichtslauf tragen, gehört auch der Boden, die Siedlung, in denen sich das Volksleben konzentriert. Aber beide Disziplinen, Archäologie und Geographie, behalten völlig durchsichtig den Wert von unterstützenden Arbeiten.
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III. Der Gegenstand der Theologie
§ 15 Das Studium der Kirche Ist nicht der einzige Besitz des kirchlichen Arbeiters die Schrift, verstandene Schrift, geglaubte Schrift? Es hat darum lange gedauert, bis wir ernsthafte Kirchengeschichte finden. Die Reformation hat sie nicht gebracht. Es gibt zwar Ansätze, teils aus Polemik, teils im Zusammenhang mit der Dogmatik. Aber als selbständige Unterweisung der Jugend und selbständiges Arbeitsgebiet existiert die Kirchengeschichte erst vom Anfang des letzten Jahrhunderts an. Auch der Aufklärer bleibt im Grunde noch Dogmatiker. Ein religiöses Motiv hat hier mitgewirkt: Ist nicht mit der Wertung Jesu als des Zeugen der göttlichen Gnade der Kirche die Erkenntnis gegeben, in der sie vollständig zu ihrer Wirksamkeit gerüstet ist? Es erschien häufig als Verletzung der der Schrift zustehenden Autorität, wenn neben die mit der Schrift sich beschäftigenden Disziplinen noch ein andres theologisches Arbeitsgebiet gestellt wird. Allein [die Kenntnis des] Übergangs von der Schrift zur Kirche wird uns sowohl von der Schrift aus wie von der Kirche aus zur unbedingten Pflicht. [Denn] wir bringen unser Studium [dadurch] in Verbindung mit dem [geistlichen] Amt. Die Frage nach dem gegenwärtigen Bestand des Christentums läßt sich nicht auslöschen, wenn wir uns zum Amt rüsten wollen. Jeder Blick auf die Gegenwart zeigt, daß hier verschiedene Kräfte miteinander ringen, und das war immer so. Die Gegenwart des Kanons ist sichtbar … Eine andre Quelle, Jesus kennen zu lernen, als das Neue Testament gibt es nicht. Kein Visionär kann uns das ersetzen. Wir können zur Vorgeschichte [des gegenwärtigen Christentums] nur dadurch Stellung gewinnen, daß wir das aus dieser Geschichte stammende Zeugnis hören. Aber nirgends haben wir in der Kirche nur die Erträge der neutestamentlichen Zeit, die Wirkung Jesu. – 131 –
Das Christentum sieht sofort von der zweiten Generation an wesentlich anders aus als der Kanon, und diese anders gearteten Motive stammen aus der gegebenen Lage der Völker, denen das Evangelium gebracht wird. Zunächst dadurch, daß die Apostel die Hellenen in die Kirche führen. Daher haben wir im Christentum Hellenismus und Biblizismus nebeneinander. Das setzt sich fort auch bei der Übertragung des Christentums auf die andern Völker. Neben den vom christlichen Gedanken geleiteten Vorgängen stehen immer solche, die wir im weitesten Sinn unter den Titel »natürliches Geschehen« stellen. Neben der Theologie steht »Naturwissenschaft«158, die unmittelbar im Verkehr mit dem natürlichen Geschehen steht. Neben der Kirche steht unser Staat mit seinem natürlichen Interesse, und hier findet beständig Verbindung hin und her statt. Darum, wegen dieser zwei Arten von Christentum, vom Kanon fixiertes und durch den Eintritt der Völker in die Kirche bewirktes (Christentum), müssen wir notwendig in entschlossener Exegese und Historie uns dem Kanon zuwenden und ebenso den geschichtlichen Vorgängen, die uns die Gegenwart vor Augen stellt. Sogenannter Biblizismus, der vom Geistlichen einzig die Beschäftigung mit der Bibel verlangt, zerreißt das Evangelium und steht im Streit mit dem, was uns als Werk und Wille Jesu bezeugt ist. Wir können daher im Gehorsam gegen ihn nie an der Gemeinde vorübergehen. Wir brauchen für die Gemeinde die Grundmauer. Diese ist durch die Geschichte Jesu gelegt. Aber die Grundmauer ist dazu da, daß auf ihr gebaut wird, und das geschieht in der Sukzession der Geschlechter. Um der Zukunft willen ist die frühere Geschichte da, und das ist neutestamentlicher Grundsatz. Aber nun entstehen die Schwierigkeiten. Es gibt wohl keinen Studio, der nicht etliche Male auf die Kirchengeschichte stößt. Offenheit des Auges für die Kirche, nicht nur mit der Erinnerung an 158 Hier dürfte der Begriff »Naturwissenschaft« – entgegen dem üblichen Sprachgebrauch – zu verstehen sein als Erkenntnisbemühung um die »natürlichen« Aspekte des geschichtlichen Geschehens im Unterschied zu seinem geistig-religiösen und kulturellen Hintergrund.
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das Kreuzesbild Jesu, sondern Offenheit für den jetzigen Stand, für den heutigen Menschen, das ist unbedingte Pflicht. Aber gerade wenn ich das sage, dann kommen die Schwierigkeiten. Ich brauche nur die Formel ecclesia invisibilis 159 zu nennen. Wenn das so ist, dann entsteht für die Kirchengeschichte eine große Schwierigkeit: Was ist sichtbar an der Kirche? 1. Antwort: die Geistlichkeit. [Daraus entsteht ein erster Typus der Kirchengeschichte:] Die Kirchengeschichte wird zur Darstellung des kirchlichen Amts und seiner Beamten. Wir bekommen die patres ecclesiae,160 die Episkopengeschichte, weiter das von der Reformation geschaffene Amt, die Kirchengeschichte führt uns die Reihe der Theologen vor. Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts ist Aufzählung der einigermaßen beredten Theologen, Schleiermacher obenan, Ritschl folgt. Das Bild, das wir uns von einer Zeit verschaffen, bleibt natürlich fehlerhaft, wenn wir die Männer nicht kennen, die führten. Die Geschichte des Amts ist ohne weiteres auch Geschichte des Hirten. Aber wenn sich die Kirchengeschichte darauf beschränkt, haben wir doch noch nicht das gewonnen, was wir mit dem Titel Kirchengeschichte im Grunde wollen. Es wirkt sich hier in unwiderstehlicher Weise die Wirkung Jesu aus, der nicht einen Klerus schafft. Das religiöse Amt ist in der Geschichte der Christenheit seit Jesus und durch Jesus da. Aber das Amt hat nicht seinen Zweck in sich selbst, sondern es schafft die Gemeinde. Solange wir in der Kirchengeschichte nur die Amtsträger vor uns haben, bleibt sie dürftig. Darum sind die Darstellungen der älteren Zeit – Arnold 161 und die Centurien 162 ungenügend. 159 Lat.: die unsichtbare Kirche (d. h. die Kirche als pneumatische Gemeinschaft aller Christusglaubenden). 160 Lat.: Kirchenväter (d. h. die führenden Theologen der Alten Kirche). 161 Gottfried Arnold (1666–1714) pietistischer Kirchenhistoriker, Verfasser der epochalen Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie, (3 Bände) Leipzig und Frankfurt am Main, 1699f. 162 Schlatter meint das von Matthias Flacius Illyricus organisierte mehrbändige Kirchengeschichtswerk der sog. Marburger Zenturien [Basel
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2. [Daraus ergibt sich eine] zweite Methode für den Kirchengeschichtler: Nicht das Amt, sondern die vereinigte Kooperation ist Gegenstand der Kirchengeschichte. Also: die Kirche wird als Institut[ion] gefaßt, der Historiker stellt ihr Recht und ihre Verfassung dar. Dieses Ziel steht im Zusammenhang mit der kräftigen Ausbildung der Rechtsgeschichte. Unsern Staatsleitern ging das Auge dafür auf, daß die das Zusammenleben gestaltenden Normen nicht durch einen abstrakten Begriff begründet sind, sondern im Zusammenhang mit der Volksgeschichte wachsen, daß also die für die Zukunft zu erarbeitenden Normen das Erzeugnis der vorhandenen Rechtslage sind. Die Frage hat historischen Sinn: Wie wird das Zusammenleben von Volk und Kirche durch Regeln zur Gemeinsamkeit befestigt? Die Verfassung der Kirche ist dann das große Thema. 3. Ein weiterer Gegenstand [der Kirchengeschichte] ist die Lehre, in noch weiterem Sinn, als der Titel »Dogmengeschichte« es anzeigt. Die Einigung der Kirche geschieht durch gemeinsame Überzeugung. Der geistige Besitz der Kirche ist nicht stabil. Diese Vorgänge zu sehen, ist unentbehrliches Stück der Kirchengeschichte. Wir sind aber immer noch fern vom entscheidenden Vorgang. 4. Daher kommt ein moderner Ton gegenwärtig sehr kräftig zur Geltung: Kirche ist Kultusgemeinschaft. Also haben wir uns den Gottesdienst der Kirche zu verdeutlichen, [die] Geschichte des Abendmahls [und] des christlichen Unterrichts. Aber alle diese Ziele, die miteinander verbunden werden müssen, bewirken doch immer noch den Eindruck: Wir sind nicht beim entscheidenden Vorgang. 5. [Daraus entsteht] wieder eine andre Methode der Kirchengeschichte: Auflösung der Geschichte in Biographien. Wir machen den Versuch, das Werden der Tat zu begreifen. Hier zeigt sich die Unendlichkeit des Ziels. Nicht nur die Hochstehenden können uns hier interessieren, sondern [ganz allgemein] die Menschen der Kirchengeschichte müssen unsre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 1559–1574], das vor der Publikation von Arnolds Werk die bedeutendste evangelische Kirchengeschichtsdarstellung war. Vgl. dazu: E. Stöve, Art. »Kirchengeschichtsschreibung« 541 [in: TRE 18, 535–560].
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6. [Daraus] entsteht aber noch einmal eine Erweiterung der Methode: Denn der Einzelne wächst ja nicht aus sich, sondern aus den andern heraus. Diese Beziehungen stehen unter Gesetz[en]. Sie haben Gesetzmäßigkeit. Darum, weil der Begriff Gesetz zur Verwendung kommt, ist Historie eine Wissenschaft.163 Hier liegt eine zur Allgemeingültigkeit vertiefte Wissenschaft vor, die dann entsteht, wenn die einzelnen Wahrnehmungen sich zusammenordnen, sodaß das sichtbar werden kann, was wir Gesetz heißen. Was ist gesetzmäßig? Wo haben wir in der Geschichte nicht die Freiheit des Einzelnen, nicht die undefinierbare Besonderheit der individuellen Wahl, sondern einen Typus, eine über den Einzelnen stehende Notwendigkeit, eine die Ereignisse zusammenbindende Gesetzmäßigkeit? a. An einer Stelle ist die Gesetzmäßigkeit klar: Die Geschichte hat etwas Naturhaftes an sich. Der Wille wird zu dem die Geschichte bewegenden Ereignis erst dann, wenn er fertig ist in der sichtbaren Tat und dazu braucht er die natürlichen Werkzeuge. Von hier aus ergibt sich Gesetzmäßigkeit. Denn die natürlichen Gesetze sind zweifellos gebunden. Wenn wir diesen Gedanken zum regierenden machen, dann wird die Kirchengeschichte zur Geschichte der christlichen Kultur, der uns zugänglichen Mittel zur Förderung unsers Lebens. Die Kirchengeschichte in dieser Beleuchtung sich zu verdeutlichen, hat großes Interesse. Wie schafft die Kirchengeschichte Kultur? b. Die Gesetzmäßigkeit haben wir aber auch bei unserm Denk akt, es gibt logische Gesetze. Es lag im Zuge des Idealismus, etwa Hegels, daß dieser Gedanke auch auf die Kirchengeschichte übertragen wurde. Der Standort hat seine fruchtbare Richtigkeit. Das logische Gesetz fordert die Einigung, die die uns gezeigten Gedanken zusammenfaßt, zu einem widerspruchslosen Ganzen. Diesen Vorgang haben wir immer vor uns in der Kirchengeschichte. Das braucht nicht einzig in der hegelschen Form [zu] geschehen. Die 163 Vgl. zu den geschichtlichen Gesetzen Schlatters Dogmatik, aaO 62 [s. o. Anm. 30].
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hegelsche Logik kannte als einzige Regel den Widerspruch: These – Antithese – Synthese. Diese Logik entspricht dem Gedankenprozeß nicht korrekt. Daß unsre Urteile immer wieder zerfallen, ist die Not unsers Denkens, aber das ist nicht alles. Immerhin ist das ein sehr ernsthafter Antrieb [zum Denken]. Aber es entsteht Wahrheit nicht nur aus dem Wahn. Aber auch bei tieferer und reicherer Fassung der Gesetzmäßigkeit bleibt eine unter die logische Gesetzmäßigkeit gebrachte Kirchengeschichte unfertig. Schon das erste Moment der Natürlichkeit ist neben der hegelschen Kirchengeschichte eine bedeutsame Beobachtung der Kirchengeschichte. c. Aber wir haben das Gesetz auch bei unserm Willen. Unser Wollen wird in das richtige und verwerfliche Verhalten gebunden. Hier entsteht noch einmal ein höheres Ziel der wissenschaftlichen Betrachtung. Die Christenheit ist der Ort, wo Gerechtigkeit und Sünde geschieht, wo das ethische Gesetz sich zeigt. Beide Vorgänge schaffen über den Einzelnen hinweg Konsequenzen, die die weitere Bewegung des gesamten Geschehens bestimmen. Sündliches Wollen und richtiges Wollen schaffen ihre Ernte. Wenn wir unsere Tradition nach dieser Seite ansehen, so ist die Leistung unsrer Wissenschaft noch sehr dürftig. Was hier hemmend wirkt, ist klar: Wir sind zur richterlichen Funktion nicht berufen. Was der ethischen Beurteilung unterliegt, geschieht in der Heimlichkeit des inneren Lebens, wohin kein Auge dringt. [Trotzdem] darf aber bei aller historischer Arbeit nicht vergessen werden, daß unser Leben unter dem ethischen Gesetz steht. Schleiermacher hat nach dieser Seite hin die Aufmerksamkeit gerichtet: Er stellte die Kirchengeschichte neben die Ethik. Die Ethik gibt die Formel, die Kirchengeschichte das Beispiel zur Geltung der ethischen Norm. Aber die Kirchengeschichte ist größer, schon weil sie den logischen und natürlichen Vorgang in sich hat. d. Und nun kommt das Letzte und Höchste: Es gibt auch religiöses Gesetz, unser Verkehr mit Gott steht unter festen Normen, die uns gesetzt sind, weil ja Religion nie unser eigenes Produkt sein kann, sondern empfangen wird, [soweit sie] Offenbarung ist. Gottes Verhalten zu uns ist nicht Laune, sondern hat seine feste – 136 –
Normalität. Höchstes Ziel der Betrachtung der Kirche ist: Wie ist diese Offenbarungsmittel Gottes? Wie zeigt sich in ihr Gnade und Gericht Gottes? Aber auch hier ist unsre Kirchengeschichte vorsichtig und zurückhaltend. Doch muß es festgehalten werden, daß das letzte Ziel der Kirchenhistorie immer das religiöse Ziel ist: Wie verhält sich das Geschehen zu Gott? Wie wird Gottes Wirken in der menschlichen Geschichte wahrnehmbar? Stellen wir diese Methoden nebeneinander, so zeigt sich mit zwingender Notwendigkeit, daß wir uns zu einer Wahl entschliessen müssen. Darum ein Wort über die drei wichtigsten Themen des kirchengeschichtlichen Stoffs.
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§ 16 Die drei wichtigsten Themen des kirchengeschichtlichen Studiums Die Wahl bedeutet, daß wir sicher immer vom Einzelnen ins Ganze dringen müssen, auch wenn wir uns entschlossen auf ein einzelnes Beobachtungsfeld beschränken. Wir können nicht in Unendlichkeiten hineinschauen, dazu ist nicht nur die Studienzeit, sondern das menschliche Leben nicht eingerichtet. 1. Wohin gehört unser Blick zuerst? Einmal auf den Übergang von der neutestamentlichen Zeit zur alten katholischen Kirche. Dieser Unterschied zwischen biblischem und kirchlichem Christentum muß studiert werden. Wir haben immer zwei Arten von Christentum vor uns, das des Neuen Testaments und das gegenwärtige. Ein Urteil [über beide Arten] läßt sich hier nur durch Historie erreichen. 2. Ein zweites Thema entsteht durch den Bruch in der Kirche, den die Reformation herbeigeführt hat. [Er ist] auch für unsre Gegenwart ein unser ganzes Verhalten bestimmender Tatbestand. Die Beziehungen zwischen den beiden Kirchen sind ein wirksamer Faktor in unsrer Geschichte. Hierüber muß ein klares Urteil vorhanden sein. 3. Drittens: Die aus der Reformation hervorgegangene Kirchenbildung ist zerbrochen. Wir haben in der Gegenwart keine Fortsetzung der reformatorischen Kirche. Unsre reformatorischen Kirchengebilde sind vom 18. Jahrhundert an von innen umgewandelt, was den modernen Zustand schuf, daß es heute in Deutschland keine lutherische und keine reformierte Kirche mehr gibt.164 Das 164 Mit dieser mißverständlichen Behauptung will Schlatter nicht den in den Kirchenverfassungen festgelegten (lutherischen, reformier-
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ist eine für den ins Amt Tretenden und in der Gegenwart Lebenden nicht zu umgehende Frage. Hier gilt es Klarheit zu haben. Diese Aufgabe der Kirchenhistorie gelingt nicht jedem. Es gibt immer Geistliche, die mit großer Liebe und großem Fleiß Kirchengeschichte mit ihrem Pfarramt verbinden. Aber es entsteht meist eine unverbundene Trennung zwischen Versenkung in die Vergangenheit und der Gegenwart. Aber zwischen der Kirchengeschichte und unserm Lebensstand ist eine Beziehung vorhanden, die den Lebensstand aufs tiefste beeinflußt. Zu 1.: Nun das erste Thema. Daß hier eine Wendung stattfindet, ist unbestreitbar und drängt sich sofort wahrnehmbar auf. Wenn wir vom Neuen Testament herkommen, so kann dort noch nicht in strengem Sinn vom »Christentum« gesprochen werden. Die Evangelien erzählen uns den Verkehr der Jünger mit Jesus, die Briefe den Verkehr der Apostel mit dem Christus. Die Frömmigkeit besteht im Anschluß an Jesus, in der Verbundenheit mit dem Christus. Eine von Jesus abgelöste Religiosität gibt es hier nicht. Aber im zweiten Jahrhundert und seiner Literatur haben wir schon »das Christentum« vor uns. Der das religiöse Verhalten bestimmende Faktor wird der Gegenwart entnommen: In der Unterwerfung unter den Bischof besteht die Religion der Gemeinde. Also Zerlegung der Gemeinde in Klerus und Laien, eine Vorstellung, die dem Neuen Testament fremd ist. Wie wirkt der Episkop165 religiös? Durch die Lehre. Im ten oder unierten) Bekenntnisstand der evangelischen Kirchen in Deutschland leugnen, sondern auf den seiner Ansicht nach unleugbaren historischen Befund aufmerksam machen, daß zwischen den heutigen evangelischen Landeskirchen und ihren Vorgängern seit der Aufklärung eine solche Diskontinuität besteht, daß von einer »Fortsetzung der reformatorischen Kirche« keine Rede sein kann: An die Stelle einer früher klar fixierten Konfessionalität ist faktisch ein theologischer Pluralismus getreten, der die konfessionelle Eindeutigkeit längst hinter sich gelassen hat. 165 Griech. episkopos: Bischof.
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Neuen Testament konstituiert sich die Gemeinde nicht als Verein der Wissenden, sondern als Gemeinschaft der Glaubenden. Aber aus der Pistis166 wird im Fortgang der Geschichte die Gnōsis 167. Wir bekommen die für den Anteil an Gott unentbehrliche Theologie, die Gemeinde besteht aus den orthodoxoi 168 . Die göttliche Lehre wird angeeignet vom lernenden Menschen. Neben die Lehre tritt als religiöses Motiv und Begründung des Glaubens das Sakrament. Die Kirche vermittelt [die Gnade] in bestimmten Handlungen. Dieser Wendung entspricht eine folgerichtige Veränderung in der Ethik: a. Die neutestamentliche Ethik ist durch die Liebesregel Jesu geordnet: Der Verkehr zwischen den Gemeindegliedern entsteht unter dem Antrieb der Liebe. Daher die freie Gemeinde, denn die Liebe läßt sich nicht regulieren, sie entspringt der inneren Lebensbewegung dessen, der sie hat. b. Nun aber im zweiten Jahrhundert bekommen wir den aus der griechischen Ethik stammenden Begriff der Tugend mit großem Ernst religiös gewendet. Wir können nicht sagen: Die Kirche tritt lediglich auf den stoischen oder peripatetischen Standort169 zurück. Aber die Gemeinsamkeit [mit der Tugendethik] ist klar, das Ziel liegt in der Ausbildung des eigenen Lebens, in der Heiligung der eigenen Persönlichkeit. [Nach dem Neuen Testament dagegen hat der Christ] die Aufgabe, den auf Gott gerichteten Willen zur Betätigung zu erwecken und 166 S. o. Anm. 58. 167 Griech.: Erkenntnis. Schlatter sieht in der alten Kirche gegenüber dem Neuen Testament eine Akzentverlagerung vom (vertrauenden) Glauben zur (intellektuellen) Erkenntnis. 168 Griech.: die Rechtgläubigen. 169 Die Stoiker und die Peripatetiker waren zwei philosophische Denkrichtungen, die sich im Anschluß an die klassische griechische Philosophie (Sokrates, Platon, Aristoteles) in der hellenistischen Zeit (ab ca. 300 v. Chr.) verbreiteten und eine starke ethische Ausrichtung hatten.
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den Kampf gegen die Sünde mit aller Kraft zu führen. Das sind zwei deutlich voneinander unterschiedene Ziele, die die ganze Lebenshaltung bestimmen: Sowie ich die Tugendethik bekomme, brauche ich unvermeidlich zur Regelung des Verkehrs das Recht, das Gesetz. Hier ist die Gemeinde nicht mehr auf dem Boden der Freiheit [der Liebe] herzustellen, daher die Angleichung der Gemeinde an den Staat, die Politisierung der Kirche, und zwar längst vor Konstantin, als die Kirche noch ganz nach eigenem Recht lebte und nicht einen staatlichen Beamten über sich herrschen läßt. Denn ich brauche, um die Gemeinde beisammen zu haben, eine Autorität, die zu befehlen vermag, eine Justiz, die die Analogie mit der staatlichen Justiz sofort erreicht. Der Widersprechende wird geschändet: »Ketzer« wird ein mit dem tiefen Groll gefülltes Wort, das sofort ehrlos macht. Der Büßer muß sich in schimpflicher Entehrung erniedrigen. So entstehen zwei nebeneinander stehende Gebilde [das neutestamentliche und das (alt)kirchliche Christentum], deren Beziehung zueinander klar herausgearbeitet werden muß. Die Werturteile über diese Entwicklung gehen in schriller Dissonanz auseinander. Der eine spricht von einem ruinierenden Fall. Auf der andern Seite [finden wir eine] lebhafte Anwendung einer entwicklungstheoretischen Erklärung: Einbürgerung zur Weltweite. Werturteile sind immer das Letzte und am wenigsten das Ziel unsers Strebens. Diese Frage [der historischen Differenz zwischen Neuem Testament und Alter Kirche] ist nicht ohne weiteres identisch mit der willensmäßigen Ordnung der Beziehungen zwischen diesen Tatsachen [wie sie im Werturteil vollzogen wird].170 Der Hellene wird jetzt Christ und zeigt die hellenische Art auch an seinem Christentum. Darum wird es ihm schwer, die Differenz 170 Schlatter plädiert in diesem schwer verständlich formulierten und deshalb mit erklärenden Ergänzungen versehenen Abschnitt für den Vorrang des historischen Verstehens vor subjektiven Werturteilen über geschichtliche Entwicklungen nach dem Maßstab, ob diese dem eigenen Wünschen und Wollen entsprechen.
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zwischen Glauben und Erkenntnis festzuhalten. Daher sofort die Annäherung der Kirche an die gegebene Form der Gemeinschaft, Angleichung des geistlichen Amts an das staatliche Amt, geistliche Justiz wird Staatsrecht, Ersetzung der Liebe durch Uniformität der einen und selben Satzung. Hier darf nicht vergessen werden, daß es im ursprünglichen Gedanken des Paulus und seiner Schar lag, dem Griechen als Griechen die Berufung zu Gott zu erteilen. Der Einzug des Griechentums in die Kirche ist nicht ein der ursprünglichen Absicht nicht entsprechendes Unglück171. Im Evangelium liegt von Anfang an die Ehrung der durch die natürlichen Beziehungen geschaffenen Zustände. Aber in der schroff heraustretenden Biegung beim Verlauf der Ereignisse offenbart sich, wie inhaltsvoll die hier liegenden Probleme waren. Zu 2.: Das Zweite, was wir notwendig verstehen müssen, ist die Reformation. Es wird Ihnen ja die Unterschrift unter die reformatorischen Dokumente vorgelegt.172 Das bedeutet nie eine Verpflichtung auf diese Lehre,173 wohl aber bedeutet es sehr ernsthaft ohne irgendwelche reservatio mentalis174 die Zustimmung zur Lösung von der mit171 Schlatter wendet sich hier gegen die These des bedeutenden liberalen Theologen Adolf von Harnack (1851–1930), daß in der Alten Kirche das einfache neutestamentliche Evangelium durch eine »Hellenisierung« verfremdet worden sei (vgl. dazu A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Freiburg 21888, 17f). Zu Schlatters Sicht der Hellenisierung als einer legitimen Anpassung von Kirche und Theologie an die hellenistische Kultur vgl. auch: Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 307f, 530f. 172 Schlatter meint die Unterschrift unter die Ordinationsurkunde. 173 Schlatter will mit dieser mißverständlichen Formulierung nicht die grundsätzliche Geltung des reformatorischen Bekenntnisses bestreiten, sondern eine gesetzliche Verpflichtung auf alle Einzelaussagen des reformatorischen Bekenntnisses abwehren (s. auch die folgende Anmerkung). 174 Reservatio mentalis (lat.) meint einen inneren Vorbehalt.
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telalterlichen und antiken Kirche zur reformatorischen Auffassung des Christenstandes.175 Es wird der vorhandenen Kirche durch die Reformation das Bußwort zugerufen, es wendet sich nicht mehr an den Einzelnen. Aber nun kommt das Neue. Der Bußruf hat sich [in der vorreformatorischen Kirche] darauf bezogen: religiöse Funktionen, Bußruf bis zur Selbstzerfleischung höchst gespannter Askese, Liebe in reicher Aufopferung ungezählte Male für die Ziele Gottes und der Kirche. Aber die Kirche weiß nicht [mehr], was Glaube ist, und daran entsteht die Nötigung, sich von ihr zu trennen. Wie war es so gekommen? Das Verhältnis zwischen Sozietät und dem Einzelnen verkrümmt sich. Die Sozietät beansprucht Gewalt: Keine Zustimmung zu irgendeiner Wahrnehmung ohne Vorbehalt der kirchlichen Genehmigung! Der gezeigten Wahrheit wird nie ein unbedingtes Ja gegeben. Auch die Danksagung, die die göttliche Gnade sich aneignet, wird nicht gegeben, immer die absichtlich durchgehaltene Scheu: Heilsgewißheit gibt es erst im Jenseits. Die Liebe bekommt ihr Gebot nach der Regel der Oberen, daher Kasuistik und Nomismus, der die eigene sittliche Leistung als Glaubensmotiv benützt und so den Verdienstgedanken handhabt. Damit ist der Tatbestand noch nicht vollständig erkannt. Die von der Kirche geleistete Arbeit ist der eigentliche Glaubensgrund geworden, als das religiöse Mittel steht die Kirche vor dem Menschen. Immer ist der religiöse Akt angeschlossen an den gegenwärtigen Vorgang, der innerhalb der Erfahrung der Einzelnen durch die Kirche zustande kommt. Jetzt entstand nie eine volle Gewißheit. An dem, was die Kirche leistet, ist immer ein »Wenn und Aber« unteilbar dabei. An den Menschen geheftete Gläubigkeit ergibt immer eine reservatio, die die Zuversicht bricht. Mag das Verdienst sich häufen, Ruhe entsteht nie, mag die Majestät der Kirche imponieren, das Bewußtsein »hier wirkt der Mensch« ist mächtig. Daher gibt es keinen End175 Schlatter versteht das reformatorische Bekenntnis von seiner soteriologischen Mitte her, wie sie in den particula exclusiva der Reformation (v.a. solus Christus, sola gratia, sola fide) zum Ausdruck kommt.
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punkt, der wieder der Anfangspunkt einer in den Frieden Gottes gestellten Wirksamkeit würde. Darum [ist] fortwährend wieder die Skepsis als Erreger des Denkens, immer Buße und Furcht als Korrektiv zur religiösen Zuversicht [wirksam]. Hier vollzog sich nun die Wendung, und zwar in der persönlichen Lebensgeschichte Luthers. Er lernte glauben, weil die ihm von der Kirche gebotenen Gnadenmittel versagten. Er kam nicht zur Lösung der Grundfrage, nicht zur Aneignung der Vergebung. Die gewann er im Blick auf Jesus. Nun ist die Kirche das Werkzeug Jesu, der Glaubensgrund lag im Christus, dort ist die Absolution, die Totalität der Liebe und des Gehorsams. Darum hängt Luther an Jesus. Daher der Bußruf an die den Glauben verbietende und ihn wegstoßende Leitung der Christenheit. Aus dem Kampf mit Gott trat er hinüber in eine reine, lautere, glänzende Betätigung der fides. Das ist das, was die Unterschrift unter die reformatorischen Bekenntnisse meint. Die Reformation hat aber noch eine zweite Frage in sich. Was ist das Ergebnis des reformatorischen Anfangs? Das Problem gleicht dem ersten Abschnitt [s. o. S. 139ff]. Auch hier sieht es aus, als ob ein religiös starker Anfang in einem schwächlichen Ergebnis endet, als ob auf die klassische Periode eine Zeit der Erstarrung und Korruption folgte. Woher rührt dieser Eindruck? Die Glaubenden sollten zusammengefaßt werden zu einer Kirche. Da der reformatorische Glaube im Verhältnis zu Jesus entstand, bekommen wir nicht isolierte Gläubige, nicht nur bekehrte Seelen, sondern das Ziel der Bewegung war von Anfang an eine Kirche und nicht Separatismus. [Dies] ist nicht nur konservativer Anschluß an die gegebene Lage, sondern ergab sich aus dem Blick auf Jesus, der keine isolierten Einzelnen, sondern die zum gemeinsamen Leben verbundene Christenheit kennt. Die Frage ist: Wie wird das, was im Einzelleben sich zuträgt, zum Grund der Gemeinschaft? Jetzt wird mit zwei Faktoren gearbeitet, die teils im Zusammenwirken, teils für sich nicht nur Förderung, sondern auch Hemmung schufen: a. Erstens einigt man die Glaubenden in ein und derselben Lehre, die Kirche wird auf das Bekenntnis gestellt. Darin lag eine große – 144 –
Gefahr, weil sie sich sofort ausweitet bis zur Frage, wie die Gegenwart des Leibes Christi im Brot des Abendmahls zu denken sei. Das war durch die Lage nahegelegt, weil der Gegner ja auch eine durch die Autorität der Kirche festgelegte Theologie hatte, die heilsnotwendig war. Überall wurde von der Beantwortung kirchlicher Fragen die Heilsgewißheit abhängig gemacht. Daher die Erweiterung des Glaubensbekenntnisses zur theologischen Lehre. Das ist Hemmung, [denn] nun wurde [anstelle des Glaubens] die Übereinstimmung in der Theologie zum Fundament der Kirche. Daher ist jede Schwankung in der theologischen Arbeit sofort für die Kirche von größter Bedeutung. b. Zweitens war es eine Hemmung, daß man den mit gewaltsamen Mitteln arbeitenden Angriff der Gegner erwartete. Wie bekommt die Kirche die Schutzwehr? Antwort: Durch Einordnung der Kirche in den Staat, die Regierung übernimmt den Schutz der Kirche, der Kurfürst führt den reformatorischen Akt durch. Darin lag eine für die Fortbewegung der Kirche viele Schwierigkeiten schaffende Hemmung. Denn nun bekommen die kirchlichen Gesetze Teil an der Starrheit des römischen Rechts. Nachdem die obrigkeitlichen Erlasse den Status aller Staatsangehörigen bestimmten, verschwand die religiöse Spannung der ersten Zeit. Zu 3.: Die dritte große Frage [ist] der Übergang zur gegenwärtigen Lage. Hier muß der Blick sich vollends schärfen. Von Anfang des 17. Jahrhunderts an setzte sich der Prozeß durch, daß die Reformationskirchen zunächst auf deutschem Boden geendet haben. Das Verhältnis der Einzelnen zu den Sozietäten wandelt sich sehr charakteristisch. Die Reformation vollzog sich noch unter der Voraussetzung, daß jeder in die Gemeinschaft hineingestellt ist mit einer keinen Widerspruch zulassenden Verbundenheit. Wenn er aus seinem Volkstum hinausgestoßen wird und sich in seinem religiösen Leben isoliert findet, so gilt das als schwerer Schlag. Vom Ende des 16. Jahrhunderts an verändert sich dieser Tatbestand merklich. – 145 –
Denken Sie an Cartesius176: Was liegt ihm an all dem, was er gelernt hat? Nichts! Nur wer sich selbst seine Überzeugung bereitet, hat Anspruch auf Gewißheit, verdient den Titel »Wahrhaftigkeit«, Verselbständigung des Einzelnen, das wird nun gegenüber der die Einzelnen von außen her normierenden Allgewalt der Sozietäten hochbegehrtes Ziel. Daher ist die ganze Bewegung fortwährend mit Revolution verbunden, es kommt immer wieder mit Gewaltsamkeit zum Rechtsbruch. Die Sozietät gibt [dem Einzelnen] nicht das, was er zu fordern hat, er verlangt es [notfalls] auch mit Bürgerkrieg. Alle Revolutionen, auch die gegenwärtige,177 haben sehr energische Einwirkungen auf die Religionsgeschichte. Aber damit ist nur der eine Vorgang beleuchtet. Mit der zuerst genannten Reihe von Vorgängen begreifen wir, warum für unser heutiges Geschlecht ein Stichwort wie Sozialismus Bedeutung hat, warum wir den religiösen Individualismus in der Form der Unkirchlichkeit vor uns haben. Damit ist eine deutlich vom reformatorischen Christentum sich abhebende Reihe von Vorgängen skizziert. Dann [ist] die Bewegung in der Psychologie [zu beachten]: Die alte Kirche und auch noch die Reformation arbeiteten mit der Psychologie, die das Denken als den für den Menschen bedeutenden Vorgang wertet. Das unterschied ihn vom Tier, das begründet auch, daß es für ihn Religion gibt, weil er ens rationale178 ist. Immer gab es auch eine Ethik, auch in der vorchristlichen Religiosität. Aber voran ging die Logik, die Ethik bildet den Anhang. Aber nun brach diese Zuversicht zur Denkleistung entzwei: Ist der Mensch wirklich zum Denken geschaffen? Wenn unsre Vernunft entzweibrach, wenn an Wahrheit und Erkenntnis gezweifelt wird, drängte sich die neben dem Erkennen stehende Hälfte unsers Wesens auf, man machte die Entdeckung, daß 176 S. o. Anm. 83. 177 Schlatter meint die russische Revolution, deren Bürgerkrieg erst zwei Jahre vor der Vorlesung [1922] zu Ende ging. 178 Lat.: ein rationales Seiendes.
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der Mensch will.179 Nun kam die Frage mit aller Energie, was denn der Mensch zu wollen und zu tun habe, welches die uns einigende Ethik sei. In der Richtung haben sich die englischen Einflüsse als sehr stark erwiesen, dort ist die Zuversicht zur antiken Beschreibung des Menschen zuerst verloren gegangen. Der Anstoß übertrug sich auf Deutschland und hat sich mit noch größerer Konsequenz durchgesetzt als dort. Der Rückweg zur antiken Psychologie ist verbaut. Mit der Aufmerksamkeit auf den Willensvorgang ist gegeben, daß auch die Bedeutung des Gefühls für den seelischen Vorgang empfunden wird. Pflege des Empfindens, das wird auch religiöses Ziel, und zwar nicht nur im Sinne der egoistischen Ausnützung des Empfindens zur Herstellung einer ungestörten Wonne, sondern auch immer mit kräftigem sittlichem Interesse.180 Diese Tatsachen bekamen auch für die Führung der Christenheit Bedeutung. Damit war sofort gegeben, daß sich eine gewisse Entfremdung von dem durch die Reformation gegebenen Kirchentum unvermeidlich einstellte. Die Kirche dozierte. Wo näherer Zusammenhang mit der Reformation vorlag, da dozierte sie zur Begründung der fides, womit auch der Wille des Menschen formiert wurde. Aber als das Ziel der kirchlichen Arbeit stellte sich doch immer die Pflege des Denkens dar. Die Ethik wurde Privatsache. So entstand hier Verlegenheit, während gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der antiken Psychologie ein dringendes Verlangen nach Normierung des Willens, nach Verdeutlichung eines Eintracht zwischen uns schaffenden Ziels vorhanden war. Man hatte ja den Pessimismus vor sich. Aber wir müssen noch einen dritten Vorgang kennen: Das Naturbild veränderte sich, nicht nur Staat und Kirche. Nicht nur das Selbstbewußtsein [d. h. die Zuordnung von Denken, Wollen und 179 Schlatter stellte die hier skizzierte Neubewertung des Willens z. B. bei Philosophen wie (dem späteren) Schelling, Schopenhauer und Nietzsche fest. Vgl. dazu: Die philosophische Arbeit, aaO [s. o. Anm. 4], 179ff, 249ff. 180 Schlatter sah die von ihm beschriebene Neubewertung des Gefühls v. a. bei Schleiermacher gegeben. Vgl. dazu ebd. 217ff.
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Fühlen], [sondern auch] die [das Naturbild betreffenden] Begriffe bekamen andre Fassungen. Die Veränderungen in der Natur haben selbstverständlich sofort tiefgreifende religiöse Folgen. Die erste Aussage über Gott ist die, daß er der Verursacher der Natur sei. Das ist nicht nur darum von Bedeutung, weil durch das neue Naturbild die sogenannte biblische Anschauung korrigiert wurde.181 Auch der Zusammenhang des Inneren mit der Natur wurde zur Frage. Herrlichkeit und Schrecklichkeit der Natur zeigt sich in ungeahnter Größe. Da entstanden zu neuer Arbeit führende Impulse.
181 Schlatter spielt hier auf Darwinismus und Materialismus an. Vgl. dazu Die philosophische Arbeit, aaO [s. o. Anm. 4], 269ff und 279f.
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§ 17 Die Dogmengeschichte Die Dogmengeschichte isoliert nicht einzelne Äußerungen des christlichen Lebens, sie hat aber ihr eigenes Ziel, das sich ausdrückt in dem Wort Dogma. Nicht jeder christliche Gedanke erscheint auch in der Dogmengeschichte, sondern es handelt sich um das Dogma. Was ist das? Die Gemeinschaft, die uns Jesus gibt, umfaßt unsern ganzen Lebensinhalt, also auch unsre Erkenntnis. Daher einigt sich die Kirche durch ein gemeinsames Bekenntnis. Mit dem Bruch der Kirche hat sich dieser Gedankengang verstärkt. Das die neue Kirche Einigende ist der Glaube. Wie wird das wahrnehmbar? Durch die Lehre wird sichtbar, was der Glaube der Gemeinde ist. Also ist das Dogma das die Kirche einigende Wissen. Damit verbindet sich, daß dieser Überzeugungskreis geschützt wird durch das kirchliche Recht. Allein das Recht ist nie eine schöpferische Funktion, sondern es ordnet die Verhältnisse, die durch unsre Lebensbedingungen gesetzt sind. Jedes Gesetz muß über seine Begründung Auskunft geben. Die Juristen aber sagen, das für das Recht wichtige Merkmal sei die Gewalt. Damit setzen sie vorchristliche Zustände voraus. Dieser Einwand hat in der Kirche keinen Platz. Ein Dogma ist nicht darum wahr, weil es in einem Gesetzbuch steht, sondern hat die Begründung in seinem Inhalt. Damit ist aber die Funktion des Rechts nicht aufgehoben. Die Gemeinschaft können wir nur dadurch schützen, daß Angriffe auf sie mit Gewalt abgewehrt werden. Es gibt darum einen Kreis von Überzeugungen, die die Kirche auch mit Anwendung ihrer Machtmittel schützt. Es ist [aber] eine abzuwehrende Vorstellung, daß der Gesetzgeber das Dogma produziere, es bekäme seine verpflichtende Macht darum, weil es mit dem Siegel des Rechts abgestempelt ist. Der Vorgang erfordert unsre besondere Aufmerksamkeit, was Dog– 149 –
ma wird und wie ein Gedankengang die Bedeutung eines Dogmas erhält, [und dann auch] wie er kirchenbildend wird, wie er stirbt und aufhört, Grund der Gemeinschaft zu sein. Die überlieferte Formation unsrer Theologie hat ein starkes Bedenken gegen sich: Ist wirklich nur das Wissen das die Kirche Zusammenbindende? Ist sie nur Gemeinschaft des Denkens, nicht auch der Arbeit? Es kennzeichnet die Schatten, die auf der Vergangenheit der Kirche liegen, daß sie die Geschichte der christlichen Ethik nicht mit der gleichen Energie pflegte. Damit wären die Faktoren ins Sehfeld gestellt, die über das gemeinsame Erkennen hinausgreifen. Wir stehen hier noch stark in der Abhängigkeit von der hellenistischen Art: verschiedene Christologie, Differenz in der Prädestinationslehre – das ist Bruch der Gemeinschaft. Aber so unumstößlich die These ist, daß die Kirche verdorrt, wenn sie nur ein Dogma hat, ist auch, daß wir die Einigung nicht anders erreichen als durch eine gemeinsame Erkenntnis. Zu jedem Willen gehört ein Willensbild, ein Gedanke. Sind wir im Denken zerrissen, so kommen wir nie zur Gemeinschaft des Handelns, differente Überzeugungen erzeugen verschiedene Praxis. Es bleibt also immer ein Ziel der Theologie, und [zwar] ein sehr ernsthaftes Ziel, daß sie sich verdeutlicht: In welchen Überzeugungen gewann die Kirche das sie einigende Band. Wieso gibt es hier eine Geschichte? Darum, weil die Kirche eine Geschichte durchlebt. Vom Hellenismus her kam die Vorstellung: Unsre Urteile haben unbewegte, zeitlose Geltung. In der Kirche gilt, wie die berühmte Formel lautet, das, »was zu jeder Zeit von allen und an allen Orten geglaubt worden ist.«182 Denn das göttliche Bewußtsein steht ja in der zeitlosen Vollendung, und die Kirche hat Anteil am ewigen Wissen Gottes und dieses einigt sie! Also [ist] Geschichtslosigkeit [hier Merkmal] des 182 Schlatter zitiert hier die berühmte Formel von Vinzenz von Lérin (5. Jh.): Katholisch ist das, was, »was immer, überall und von allen geglaubt wurde« (zit. nach P. Neuner, Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997, 135).
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Dogmas [geworden], so daß die Dogmengeschichte im Grunde Polemik gegen die Dogmatik wird. Für die Gegenwart ist Harnacks Dogmengeschichte 183 das große Ereignis geworden. Er erzählt uns die Dogmengeschichte mit dem Ergebnis: Nun löst sich das Dogma auf. Bis zu Luther [gibt es eine] aufsteigende Dogmengeschichte, danach [ihre] Auflösung. Dieser Gedanke läßt sich nicht abwehren, wenn wir den alten platonischen Wahn fortsetzen. Es sind nicht nur die nationalen Faktoren, die hier die Bewegung im Denken schaffen, obwohl sie sehr bedeutend sind. Wir brauchen nur eine Seite bei Athanasius 184 zu lesen und merken den Griechen. Jeder von uns ist nicht nur ein Gebilde des heiligen Geistes, sondern zuerst ein Gebilde der Natur. Es gibt deutsche Frömmigkeit, deutsches Christentum, ebenso englisches, französisches usw. Und das bringt in die Geschichte des Dogmas den Fluß, die Unruhe, das nicht zu erschöpfende Streben hinein. Denn diese natürlichen Faktoren sind in Bewegung, eine Nation gleicht nicht einem zur völligen Fixation gekommenen Kristall. Hier entsteht fortwährend neues Werden und Absterben. Darum trägt dieser Vorgang das Merkmal der Natur. Nun hat es sein tiefes Interesse, daß deutlich wird: Was ist für die deutsche Christenheit das sie Einigende? Was ist für eine spanische oder chinesische Kirche der sie zusammenführende Gedankenkreis? Das hängt natürlich immer wieder mit der Kultur der betreffenden Nation zusammen. Dennoch ist es nicht richtig, bloß darauf zu achten: antike Kirche, sterbendes Altertum, junge Germanen, abendländische 183 Vgl. Harnacks oben (Anm. 171) zitiertes »Lehrbuch der Dogmengeschichte«. 184 Athanasius von Alexandrien (um 297–373) war Bischof von Alexandrien und einer der bedeutendsten Kirchenväter, bekannt durch seine theologischen Schriften (z. B. die Lebensbeschreibung des Eremiten Antonius »Vitae Antonii«) und seine lebenslange Verteidigung des auf dem Konzil von Nizäa verabschiedeten Glaubensbekenntnisses (325) gegen die Arianer. Vgl. zu ihm P. Gemeinhardt (Hg.), Athanasius Handbuch, Tübingen 2011.
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Kultur im Aufblühen, neue Kultur, nationale Formationen, wie wir sie jetzt haben, Ausbildung der völkischen Sonderart gegenüber den universalen Verbänden der alten Zeit, deutsches Dogma, englisches Dogma. Das Motiv, das die Kirche in Bewegung bringt, liegt im Christentum selbst, im Verhältnis von Gott und Jesus, nicht nur im Zusammenstoß mit der Natur. Wenn die Kirche ihr Dogma als zeitlosen Satz beschrieb, dann entzog sie sich der Dienstpflicht und begriff nicht, daß Gottes Wille ihren Willen erfaßt und daß sie innerhalb des Weltbestands eine von ihr zu erfüllende Pflicht hat, die nicht durch ein einziges Geschlecht erledigt wird, sondern der Gemeinschaft als ganzer anvertraut ist. Damit ist gegeben, daß der Blick der Kirche sich immer wieder ihrem Gegenstand zuwenden muß. Sie empfängt von Jesus die Liebe, aber die Liebe denkt und wird nicht müde. Wir stehen ja vor einem Gegenstand, der die Unerschöpflichkeit der göttlichen Größe in sich trägt. Unerschöpflichkeit des Lebens und darum Unermüdlichkeit des Denkens. Darum ist die Bewegtheit im Dogma nicht das Zeichen seiner Auflösung. Es gibt freilich auch viel tragisches Geschehen, wenn die alten Formationen zerbrechen. Die Kirchen sträuben sich alle gegen die Anerkennung dieser Vorgänge, aber der Schmerz berechtigt nie zur Flucht und Feigheit. Wenn wir uns verdeutlichen, daß es sich darum handelt, uns zusammenzufinden zu der in Gott geeinten Menschheit, so beglückt uns das mit großer Gnade. So gewinnen die von der Dogmengeschichte dargestellten Vorgänge theologischen Ernst und werden Bestandteil unsrer christlichen Frömmigkeit.
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§ 18 Die Symbolik In der Nähe der Kirchengeschichte haben wir noch einmal eine Wissenschaft mit diesem nicht ohne weiteres durchsichtigen Namen. Er bezieht sich auf die Dokumente, die durch das kirchliche Recht zum Merkmal der betreffenden Kirchen gemacht worden sind. Diese Schriftstücke nennen wir die Symbole der Kirche. Aber es ist klar, daß die Aufgabe, die sich uns hier stellt, durch diesen Titel nicht genügend bezeichnet ist. Was ist hier neues Ziel, nachdem die Einheit der Kirche in Protestantismus und Katholizismus zerbrochen ist? Es entstand die Frage: Wie wird der Verkehr zwischen den Kirchen in Gang gebracht? Auf den Verkehr zu verzichten, ist keiner Kirche möglich, ohne daß sie sich tötet. Denn der Einheitsgedanke – eine Kirche, eine Gemeinde – entspringt aus dem Monotheismus mit Notwendigkeit. Daher ist in jeder christlichen Bewegung der Einheitsgedanke sofort sichtbar, auch wenn der Ausgangspunkt noch so individuell ist. Die unbedingte Bejahung einer Erkenntnis, die wir als Gottes Wort werten, führt über alle Beschränkungen hinweg. Damit ist gegeben, daß die verschiedenen Kirchen nicht ohne Verkehr miteinander bestehen können. Nun stehen wir vor der Frage, wie dieser Verkehr geordnet wird. Die Ausrüstung dazu zu geben, ist das Ziel der Symbolik. 1. Sie tritt zuerst als Polemik auf. Sie ist noch ein junges Unternehmen. Die ganze alte Theologie bis ins 18. Jahrhundert kennt als Verkehrsform zwischen den Kirchen nur die Polemik. Nicht nur mit der jenseits der Kirche stehenden Religion, sondern auch mit den verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften, die auf der christlichen Basis entstanden. In der Reformation entstand der polemische Drang mit verstärkter Kraft auf beiden Seiten. Das Tridentinum ist lauter Polemik, so wie schon die alte Literatur antihäre– 153 –
tisch war (Irenäus,185 Augustin186, Athanasius). Aber Polemik ist eine sehr schwierige Form des Verkehrs und ein Widerspruch zu dem christlichen Ziel, eine Abweichung von der christlichen Regel. Wir haben darum die Tatsache vor uns, daß unsre Polemik der Kirche nicht [nur] half, sondern sie schädigte. Das gilt [z. B.] von den alten Antignostikern des zweiten Jahrhunderts. Sie hatten ja zweifellos Recht in ihren zentralen Gedanken, aber die Nebenwirkungen dieser Polemik waren nicht nur heilsam. Im 16. Jahrhundert hat sich dieser Vorgang im Großen gezeigt. 2. Ist Jesus Pazifist? Nie, denn er handhabt ja den absoluten Bußruf, er stellt menschliches Verhalten und menschliches Denken unter absolute Beurteilung, er spricht über das menschliche Wollen das negative Urteil mit dem absoluten Ernst der Verwerfung. Mit dem Wahn gibt es keine Versöhnung, weil es keine Einigung mit der Sünde gibt. Darum haben wir überall den Kampf, nie eine Verwischung der Gegensätze. Der gleiche Kanon [d. h. Maßstab] setzt sich durch im Verkehr der Kirchen miteinander. Wir sind einander das Bußwort schuldig, die Wahrheitsfrage behält ihren stahlharten Ernst. Aber wenn Jesus in den Kampf mit der menschlichen Werkund Willensleistung tritt, handelt er als der Versöhner und der Vergebende, der die Gemeinschaft will. Also ist das Ziel des Kampfs Friede, nicht Abbruch der Gemeinschaft. Jetzt wird der Polemiker zum Christen, nicht dann, wenn er den Gegner vernichtet, wenn er aus dem Kampf die Zerstörung der neben ihm stehenden Religiosität und kirchlichen Organisation macht, sondern wenn er die 185 Irenäus von Lyon (um 130–200) war Bischof von Lyon und wurde vor allem als Apologet bekannt durch seine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Sekten der Valentianer und Markioniten, denen er sein bedeutendstes Werk »Gegen die Irrlehren« (Adversus Haereses) widmete. 186 Aurelius Augustinus (354–430) war Bischof von Hippo und der bedeutendste Theologe und Kirchenvater der westlichen Kirche. Sein Einfluß auf die Kirche des Mittelalters und die Reformatoren (vor allem den Augustinermönch Martin Luther) kann kaum überschätzt werden.
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Gemeinschaft herzustellen vermag. Dann wird er nach der christlichen Regel zum Kämpfer und Sieger. Kampf ist unvermeidlich, damit wir siegen. Wollen wir aber den Verkehr miteinander über den Jammer der Vergangenheit auf die christliche Höhe emporheben, dann ist die allererste Voraussetzung des Polemikers die, daß er seinen Gegner kennt. Ehe der Polemiker einsetzt, muß der Historiker seine Arbeit tun, und so verstehen wir gegenwärtig die Symbolik. Ihr Ziel ist Darstellung der anders gearteten Religiosität, Verständnis und Kenntnis der neben uns stehenden Kirche, erst dann Beurteilung des andern. Wer [heute] die Unterschrift unter die Confessio Augustana leistet, will nicht [mehr] (Andersgläubige) durch staatliche Gesetzgebung aus deutschem Boden hinausdrängen.187 Dabei wurde darauf reflektiert, daß die amtliche Grundlage der Kirche ihr Verhältnis zum Staat ordnet. Das ist aber ein völlig sekundärer Gesichtspunkt. Die Dokumente, denen die Kirche den Stempel des Staates gab, haben für das Verständnis der in ihr vorhandenen religiösen Kräfte Wichtigkeit. Aber das religiöse Leben einer Gemeinschaft wird nicht durch ihre rechtliche Ordnung vollständig ans Licht gebracht. Das Recht beschränkt sich immer auf Minima188. Das Notwendige in der Gemeinschaft wird durch das Gesetz sichtbar garantiert, aber es gibt uns nie die wirksamen Kräfte. Es kommt alles in Betracht, was nicht nur einzelne Frömmigkeit, nicht 187 Anspielung auf die reichsrechtliche Bedeutung des Augsburger Bekenntnisses: Nur die Unterzeichner konnten 1530 auf den Rechtsschutz des Reiches für ihre Glaubensüberzeugung hoffen, der dann allerdings erst durch den Augsburger Religionsfrieden (1555) definitiv gewährt wurde. Zwingli, die oberdeutschen Städte (Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen) und die Wiedertäufer haben das Dokument nicht unterzeichnet und auf die damit verbundene Hoffnung auf reichsrechtliche Anerkennung ihrer Überzeugung verzichtet. Die damals historisch gegebene Verknüpfung von Bekenntnis und staatsrechtlicher Anerkennung war für Schlatter theologisch inakzeptabel. 188 Lat.: Die Geringsten, Wenigsten. Gemeint ist, daß das Recht dazu neigt, nur die unbedingt erforderlichen Dinge zu regeln.
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nur Sondermeinungen eines einzelnen Theologen oder Frommen sind, sondern was die Gemeinschaft kennzeichnet, etwa das Gebet der betreffenden Kirche, ihre Liturgie, ihr Lied, die Differenzierung ihrer Ethik. Wir können heute Konfessionskunde nicht schaffen, ohne daß der Unterschied zwischen katholischer und evangelischer Ethik ans Licht kommt, also Ausdehnung der Beobachtung über die rechtlichen Dokumente hinaus. Aber auch wenn wir entschlossen die Objektivität des Historikers in unsre Beobachtung hineinlegen, so kann es unsrer Wissenschaft doch nie verhüllt bleiben, daß sie nicht bloß Tatbestände darzustellen hat, daß sie vielmehr über die Tatbestände hinausgehen muß. Die Zerspaltung der Kirche soll als das behandelt werden, was überwunden werden muß. Nur dann ist der konfessionelle Charakter der Theologie legitimiert. Zunächst sieht es ja wunderlich aus: zwei theologische Fakultäten an den Universitäten, beide christlich. Wir können aber den geschichtlich gegebenen Tatbestand vor der Hand nicht aufgeben. Der hier waltende Gegensatz soll in seiner Begründung und seinem Ziel hell ans Licht gehalten werden.
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§ 19 Hilfswissenschaften zur Kirchengeschichte Christliche Literaturgeschichte. Zur Geschichte brauchen wir Quellen. Die Reihe der Quellen stellen wir unter den gemeinsamen Namen »christliche Literaturgeschichte«. Wir könnten sie ruhig mit dem gleichen Recht und Unrecht »Einleitung in die Kirchengeschichte« heißen. Patristik – die Literaturgeschichte der alten Kirche griechischer und lateinischer Zunge – (religiöse Literaturgeschichte des Mittelalters und der Gegenwart). Ausgebaut ist hier vor allem die Patristik, die durch die Arbeit der katholischen Theologen gefördert ist. Kirchliche Literaturgeschichte, die hinunter reicht bis auf die Gegenwart, ist noch ein Zukunftsziel. Literatur gibt es nur durch Sprache, also Philologie, die nicht mit der Kenntnis des Hebräischen und Griechischen aufhört. Die Gemeinschaft miteinander bekommen wir nicht durch unmittelbare Gedankenübertragung, sondern durch Sprache. Also deutsche Philologie, die uns das deutsche religiöse Wort in seiner Geschichte darstellt. Es handelt sich nicht nur um die Terminologie, sondern um die religiöse Rede: Seit wann wird üblich, daß die Kollegen vom Absoluten plaudern? Drittens Kunstgeschichte. Auch wieder eine Hilfsdisziplin, nur das, meine Herren. Denn nicht die Kunst allein verschafft uns die Berührung mit Gott. Es gibt noch andre Äußerungen des Lebens als Verse, Töne und Farben. Für die gesamte Erfassung des kirchlichen Lebens aber ist sie belangreich. Ein spezielles Gebiet ist die Geschichte des Kirchenlieds. Aber auch die anders geartete Kunstleistung, die wir Rhetorik heißen, spielt eine große Rolle. Für das Verständnis der Schrift ist der in der Kirche gezeigte Bilderkreis wahrscheinlich wirksamer geworden als alle Kommentare, und zwar fördernd und hemmend. Unsre Passionsfeier ist bis in ihre – 157 –
Tiefen hinein durch das Passionsbild bestimmt, durch die Art, wie der Künstler uns den Leidenden vorgestellt hat. Von der Architektur nicht zu sprechen, die tief hineingegriffen hat bis in die letzten Leistungen unsrer Christenheit. Das was hier geschieht, ist nicht nur Erregung des ästhetischen Empfindens, sondern umfaßt den ganzen Lebensstand.
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§ 20 Dogmatik Die Frage ist nicht die, was wir als richtig und normativ für unsern Willen erfassen, sondern Gegebenes steht vor uns, bietet sich uns an als Füllung für unser Bewußtsein, gibt uns den Stoff, ohne den wir innerlich völlig arm sind. Aber nun kommt die andre Frage: »Wie setzt sich die alte Geschichte in der Gegenwart fort?« »Was bedeutet das historisch mir vorgelegte Objekt für mich?« Dieses »für mich« setzt uns aber in die Gemeinschaft, aber eben in eine jetzt lebende Gemeinschaft hinein. Da ist die theologische Aufgabe: Wahrheitsfrage in ihrer Absolutheit, ebenso die ethische Frage. Wenn wir auf die Dogmatik verzichten, würde das heißen, wir stellen die Kirche nur her durch den Ritus, also durch Gesetz, und damit wäre der christliche Standort zerbrochen. Das Recht können wir nicht entbehren, darin liegt keine Mißachtung der die Gemeinschaft sichernden Rechtsnorm, aber wir können sie nicht nur mit dem Recht herstellen, wenn sie christlich sein soll, sondern sie erbaut sich auf dem freien, zum persönlichen Verhalten geordneten Anschluß ihrer Glieder. Der christliche Gedanke muß so gefaßt werden, daß er statt des Ritus das Eigentum derer ist, die jetzt die Kirche bilden. Die Beteiligung an der Arbeit [der Kirche] kann sich uns mit Verzicht auf die Dogmatik anbieten. Aber so bedeutsam die Arbeit ist – dienen [ist] eine große Sache für jeden – sie wird nicht nur dadurch lebendig, daß sie dem Staat die unentbehrliche Grundlage verschafft. Denn gemeinsames Handeln erfordert gemeinsames Wissen. Wir können nicht in der Liebe zusammenwachsen, wenn wir nicht auch in der Überzeugung zusammenkommen. Sonst entsteht eine Veräußerlichung des Verbands, die das innere Einigungsmittel von außen her durch Satzung und Zwang ersetzt. – 159 –
Entsteht aber nicht durch die Erkenntnistheorie eine die dogmatische Arbeit von der Schwelle her vernichtende Einrede? Was heißt das: »Wahrheit«? Agnostizismus als Resultat der den Denkakt analysierenden Kritik? Die agnostische Einrede kann den Historiker hemmen, da er erklärt: In die wirklichen Vorgänge ist uns der Einblick versagt. Sie kann den Naturforscher hemmen. Aber dem Theologen gegenüber ist diese Einrede unmöglich. Denn der Gottesgedanke liegt in der Menschheit vor, wir können ihn nicht umgehen. Es gibt Religion, und an diesen Tatbestand heftet sich die unweigerliche Forderung, zu bejahen oder zu verneinen. Der Agnostiker verneint. Er kann aber seine Verneinung nur begründen, nicht als Gesetz proklamieren. Aber dadurch, daß er das tut, ist er Theologe, arbeitet er als Dogmatiker. Der Name »Dogmatik« verbindet diese theologische Funktion mit dem Dogma. In unsrer Literatur zeigt sich eine sehr lehrreiche Schwankung an dieser Stelle. Es gibt Kollegen, die diesen Titel meiden und von »systematischer Theologie« sprechen. Daran haftet sich allerdings eine Zweideutigkeit: Wohin kommt das Dogma, an den Anfang oder an das Ende der wissenschaftlichen Arbeit? Je nachdem geantwortet wird »das Dogma ist vorhanden« oder »das Dogma ist das Gesuchte« bekommen wir zwei recht verschiedene Typen dogmatischer Arbeit. In der Kirche ist diese Schwankung in hohem Maß vorhanden: 1. Für das Mittelalter gilt die Vorstellung: Das Dogma ist vorhanden (Thomas von Aquin).189 2. Wenn Sie in die neue Literatur hineinsehen, stehen Sie vor dem Tatbestand: Das Dogma ist das Gesuchte. Wir suchen die Einigung der Kirche in einer gemeinsamen Überzeugung herzustellen. Darum [d. h. wg. dieser beiden gegensätzlichen Konzeptionen] ist es nicht unverständlich, daß der Titel Dogmatik auf ein 189 Thomas von Aquin (1224–1274), mittelalterlicher Theologe und Philosoph, einer der bedeutendsten Vertreter der scholastischen Theologie. Sein Einfluß auf die römisch-katholische Theologie bis heute kann kaum überschätzt werden.
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gewisses Mißtrauen stößt, auch in weiteren Kreisen als in der Theologie. Auch »Glaubenslehre« ist eine zweideutige Formel. Diese zusammengesetzten Worte haben ja immer Zweideutigkeit. Wird der Glaube gelehrt, so entsteht die Frage: Kann man denn das [d. h. den Glauben] lehren? Das kann man doch nur vom Wissen sagen. Damit ist die alte Vermengung von Glauben und Wissen vorhanden. Jeder von uns vermittelt seinem Leser Erkenntnis in der Erwartung, sie begründe seinen Glauben. Aber es gehört zu den unveräußerlichen Erwerbungen der letzten Zeit, daß wir Glaube und Lehre nicht zusammenwerfen [dürfen]: Das Wissen schafft nicht den Glauben. Wenn wir uns klar machen, daß im Glauben der ganze inwendige Besitz des Menschen in Bewegung ist, dann kann man den Glauben nicht mehr lehren, dann ist die Formel »Glaubenslehre« falsch. Vielleicht ist die andre Fassung die verbreitetere, es sei hier von der Erkenntnis die Rede, die der Glaube uns verschaffe, der Glaube sei der Lehrende, der, der dem Menschen Erkenntnis verschaffe. Wir haben aber auch hier wieder Undeutlichkeit, und es ist nicht ganz gleichgültig, wenn die systematische Arbeit unter einem undeutlichen Titel vor sich geht. Wir bekommen hier »den Glauben« als eine Hypostase. Er wird als für sich existent behandelt, als ein selbständiges Etwas. Solche Hypostasen schädigen die Klarheit des Denkens und das Gelingen der wissenschaftlichen Arbeit schwer. [Auch] die Hypostasierung der Vernunft hat unsre Philosophie zu endlosem Geschwätz verdammt [und] ihre Arbeit schwer geschädigt. Dabei wird immer vergessen, was eigentlich mit diesen Abstraktionen zusammengefaßt ist, es wird nicht deutlich, was überhaupt gemeint ist. Auch der Titel »Systematik« ist nicht ganz einwandfrei. Einmal erhebt ein Historiker, der seine Wissenschaft ernsthaft betreibt, die Einrede, daß seine Gedankenreihe keineswegs systemlos sei. Unsre Historie ist systematischer als das, was unsre Dogmatiker wissen. »System« dient nicht zur Unterscheidung. Wenn »systematisch« eine a priori bestehende Gedankenreihe heißt, die über die ganze Arbeit regiert, dann lehnt sich der Historiker mit vollem Recht dagegen – 161 –
auf. Der Dogmatiker hat nicht als der schon Wissende seine Arbeit zu beginnen. Ein Systematiker, der nicht Forscher ist, ist zu entlassen und nicht zu verehren. Die Systematik ist auch hier nicht der Anfang, sondern der Ertrag der Arbeit, nicht ihre Voraussetzung. Insofern verhalten sich der nach Einheit strebende Drang bei der historischen und systematischen Arbeit ähnlich. Dazu kommt noch ein Zweites, was übergroßes Gewicht bekommen hat: Es erscheint als das große Ziel des Dogmatikers, seine Vorstellungen lückenlos unter ein Schema zu bringen. Daher haben wir vom Anfang des 19. Jahrhunderts, vom Ausgang des Kantianismus an in unsern Dogmatiken ein Übermaß von logischen Frisuren. Jeder Paragraph ist schön an den andern gefügt, Schleiermacher ist nach dieser Seite verhängnisvoll, die dialektische Künstlernatur hatte er in hohem Maß in sich. Hinter dieser formalen Logik tritt leicht der Ernst der Wahrheitsfrage zurück. Die Aufgabe ist nicht die, Vorstellungen zu ordnen, die sich glatt ineinander schmiegen und das ästhetische Wohlgefallen einer in sich geschlossenen Totalität bereiten, sondern unsre Aufgabe ist, das zu erkennen, was uns erkennbar ist: Die uns erreichbare Wirklichkeit muß erfaßt werden ! Wenn unsre dogmatische Literatur im letzten Jahrhundert so relativ fruchtlos geblieben ist, wenn ein so reich begabter Mann wie Cremer 190 für unsre Kirche wenig bedeutet, so hängt das stark am Formalismus ihrer Gedankenführung: Das System soll entstehen! Das hat die Berührung mit den Vorgängern, den Zugang zum Tatbestand gehemmt. Aber damit ist nicht gesagt, daß Aphorismen eine wirksame Dogmatik bilden. Das Verlangen nach Einheit ist freilich ein unausrottbarer Bestandteil des Denkakts, und es gehört zu den Merkmalen der Weisheit, daß sie uns die uns gezeigten Vorstellungen zueinander stellt zu einem Gesamtbild. 190 Hermann Cremer (1834–1903) lutherischer Pfarrer und Professor für Systematische Theologie in Greifswald. Als Kollege und Freund Schlatters bliebe er nicht ohne Einfluß auf Schlatters Theologie. Vgl. dazu Neuer, Adolf Schlatter, aaO [s. o. Anm. 1], 225–238, 245–250, 262–264, 293–295 u.ö.
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So ist doch zuletzt der Titel »Dogmatik« für diesen Zweck der theologischen Arbeit der zutreffendste. Denn er setzt die Beziehung, die diese Arbeit zur Kirche hat, in helles Licht und stellt den einzelnen Forscher hinein in die Gemeinschaft der Kirche. Dogma ist das einigende Band, das die Kirche zusammenhält. Damit werden wir nicht Intellektualisten und mißbrauchen den Denkakt nicht zur Befriedigung unsrer eigenen Bedürfnisse, sondern stellen ihn in den Dienst für andre. Aber in welches Verhältnis die systematische Arbeit zum Dogma zu treten hat, muß heraustreten. »Die Dogmatik ist eine historische Disziplin« hat Rothe 191 aus dem idealistisch hegelschen Lager gesagt. Seine Meinung ist nicht, daß damit die theologische Arbeit beendet sei, denn darüber steht eine philosophische Theologie, eine Gotteslehre mit dem Anspruch, die Wahrheitsfrage zu beantworten. Wenn wir das Dogma als gegeben betrachten, bietet sich zunächst die logische Regel als das an, was dem Theologen die Arbeit zeigt. Nach Thomas von Aquin soll er die logische Richtigkeit der in der Kirche lebenden Gedanken zeigen. So entsteht die Freiheit der kirchlichen Lehre von Widersprüchen, die sich einstellen, wenn der ungeschulte Denker die Sätze formt. In der idealistischen Bewegung haben wir noch einmal eine analoge Gestaltung der Dogmatik bekommen, die sich an D.F. Strauss hängt.192 Da ist der Satz gültig: Was das Dogma der Kirche ist, ist nicht erst zu finden, sondern ist gegeben, wir aber übernehmen den Besitz der Kirche und bearbeiten ihn logisch, und hier mit dem Ziel, das Dogma aufzulösen. Es scheitert an seiner Widerspruchsfülle. Eine scholastische Färbung blieb dieser ganzen Arbeit immer eigen. Es ist immer die Rede davon, was andre gelehrt ha191 Richard Rothe (1799–1867), Professor für systematische Theologie in Heidelberg u. a. 192 David Friedrich Strauss (1808–1874), ev. Theologe und freier Schriftsteller, wurde vor allem bekannt durch sein Buch Das Leben Jesu (1835f), in dem er die fast die gesamte Evangelienüberlieferung als ungeschichtlichen »Mythos« interpretierte: Vgl. dazu Kümmel, aaO [s. o. Anm. 131], 147ff.
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ben. Die Frage ist nicht die, ob es einen Christus gebe, sondern ob die Christologie denkbar sei. Es wird gefragt: Ist der Gottesgedanke der Christenheit widerspruchsloses Denken? Der Dogmatiker beschäftigt sich nicht mit dem Erlebnis der Kirche, sondern mit den Beschreibungen dieses Vorgangs, mit den Begriffen. Aber es ist klar, daß wir erst dann zu einem endgültigen Urteil gelangen, wenn wir von den Vorstellungen zu den Dingen selbst hinüberdringen. Möglich, daß der Gottesgedanke der Kirche lauter Gestammel ist, verschwindet [aber] mit der Theologie auch der theos 193? Möglich, daß das, was wir über den Verlauf des Christenstandes sagen, unklar ist, daß hier Antinomien ans Licht treten. Ist deswegen der Vorgang nicht geschehen, weil wir ihn unzulänglich beschreiben? Das ist immer das Merkmal der Scholastik, daß sie sich mit den Theorien über die Dinge und nicht mit den Dingen selbst beschäftigt. Dieses Schwanken überwindet keine bloß logische Bearbeitung des Dogmas. Mit der Reformation gewinnt der dogmatische Beweis eine veränderte Gestalt. Auch hier wird das fertige Dogma übernommen, etwa bei Johann Gerhard194, aber es gibt eine Veränderung in der Beweisführung. Der logische Beweis verschwindet nicht, aber er wird überboten durch den Schriftbeweis. Der Schriftsatz ist das Maß, an dem der Dogmatiker die ganze dogmatische Gedankenführung beständig mißt. Übereinstimmung mit den Anfängen der Kirche ist weiter unentbehrlich für das Dogma, aber es muß auch einheitlich in die Gesamtgeschichte der Kirche hineingestellt sein. Zur Schriftauslegung tritt ein großer historischer Exkurs hinzu, und das hat die Dogmatik der Orthodoxie zu dieser riesigen Größe anschwellen lassen. Aber auch hier bleibt eine Einrede unüberwindlich: Das Verhältnis zwischen Kirche und dem Einzelnen, zwischen 193 Griech.: Gott. 194 Johann Gerhard[t] (1582–1637) einer der bedeutendsten Theologen der lutherischen Orthodoxie, bekannt durch seine umfassende Dogmatik (Loci theologici) und durch seine Erbauungsschriften (z. B. Meditationes sacrae).
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Sozietät und den ihr Angehörenden ist nicht klar durchdacht. Das Dogma ist unbeweglich, der Dogmatiker hat es nur zu verteidigen [und] zu beweisen. Hier ist die Gemeinschaft die ausschließlich Gebende, der Einzelne der Empfangende. Das gab der ganzen Arbeit das Merkmal der Gebundenheit. Daher [kam es] unvermeidlich zum Zusammenbruch der ganzen Arbeit, nicht darum, weil sie wiederlegt worden wäre – die Aufklärer sind nicht klüger als die Theologen des 17. Jahrhunderts – sondern einfach wegen des Phänomens der Ermüdung: Ein Jahrhundert hindurch hat man das Dogma bewiesen, die Geschichte wird langweilig und hört auf! Neue Fragestellungen kommen auf [und es entsteht] ein abrupter Bruch. Wir leiden schwer unter dieser für unser Volk sehr ungünstigen Wendung der deutschen Geschichte, und die Schuld, wenn wir von einer solchen reden wollen, liegt nicht nur bei den Aufklärern, sondern auch bei den vorhergehenden Generationen. Beim Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinde gilt nicht nur einseitige Abhängigkeit des Einzelnen: Die Gegenwart hat nicht nur zu wiederholen, was die Alten lehrten, sondern hier findet Wechselwirkung statt. Jeder hat seinen Wert in der Gemeinde, ohne die er nichts ist. Wir sind immer erst die Empfangenden, aber das Empfangen endet nicht bloß in der Wiederholung des schon Vorhandenen, es erzeugt den eigenen Denkakt. Das Dogma wird nun Ziel, es steht am Schluß des dogmatischen Prozesses. So wird der Dogmatiker zum Beweger der Kirche. Ihre Einheit wird nicht als vorhanden fingiert, sondern wird das Ziel, auf das die Arbeit sich richtet. Der Dogmatiker hat der Christenheit zu zeigen, worin sie ihren Besitz zu erkennen hat. Die Wendung geschieht mit Schleiermacher, zunächst so, daß ein religiöses Grundphänomen gesucht wird. Der Stoff des Dogmatikers ist bei ihm: Wir suchen den seelischen Vorgang, das religiöse Erlebnis so, wie es immer existiert. Diesem Grundphänomen wird alles angegliedert, das ergibt die spannungsvolle Aufgabe des Dialektikers, jetzt geht der logische Tanz los. Bei Schleiermacher ist es die »schlechthinnige Abhängigkeit«. Hier entsteht der Gottesgedanke und bekommt seine Füllung als das »Woher« unsrer – 165 –
Abhängigkeit.195 Der Gedanke wirkt bis in die Gegenwart hinein: Bei Barth wird an der Verneinung, die das ganze Leben entwertet, das Werk Gottes sichtbar.196 Da ist auch ein psychologischer Vorgang ans Licht gehoben, auf den die ganze Theologie gestellt wird. Das ist nicht die einzige Form der Dogmatik geblieben. Sehr rasch kam unter den Schülern Schleiermachers der Eindruck auf: Wir müssen der Dogmatik ein christliches Erlebnis zum Stoff geben, nicht ein allgemein religiöses. Das Dogma der Kirche muß vom spezifisch christlichen Tatbestand ausgehen. Die Schattierungen sind hier sehr interessant. Was ist das Zentrale? fragt man. Ein naheliegender Satz ist: Das Schuldbewußtsein, nicht allgemeine Abhängigkeit, sondern der spezifische meinen Willen richtende Prozeß im Schuldbewußtsein, wir schließen an die Sündigkeit des Menschen an. Also zentrales Dogma [ist] die Rechtfertigung. Die zentralen Arbeiter des letzten Jahrhunderts Cremer, Kähler, Ritschl gehören zu dieser Gruppe, zwischen Kähler und Ritschl bestehen natürlich Unterschiede. Davon unterscheiden sich die Erlanger:197 das Grundphänomen in der Erfahrung der Kirche 195 Schlatter spielt hier an auf Schleiermachers Dogmatik (»Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt«, 2. Aufl. 1830), in der Schleiermacher das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit als grundlegend für den Menschen beschreibt (§ 4). 196 Die Kritik Schlatters zielt auf den frühen Karl Barth (1886–1968), der zwei Jahre zuvor [1922] die zweite Auflage seines damals großes Aufsehen erregenden Kommentars zum Römerbrief veröffentlicht hatte (K. Barth, Der Römerbrief, [München 21922] Zürich 192012). Schlatter hat seine Kritik ausführlicher formuliert in seiner Besprechung des Kommentars: Karl Barths »Römerbrief«. 2. Aufl. in neuer Bearbeitung 1922, in: Furche 12 (1922/6), 228–232, neu gedruckt in: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner (hg. v. J. Moltmann), München 1966, 142–146. 197 Schlatter meint hier die sog. »Erlanger Theologie«, eine Ausprägung lutherischer Erfahrungstheologie, die von 1833 bis 1894 die Erlanger
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ist die Wiedergeburt. Der Dogmatiker zeigt, was der Wiedergeborene über Gott, Welt, Mensch, Jesus aussagt. Dadurch, daß jeder Satz der Kirche mit dem Grundvorgang in Zusammenhang gestellt wird, ist die dogmatische Beweisführung eröffnet und die christliche Richtigkeit und Wahrheit der betreffenden Aussage festgelegt. Der Zusammenhang mit der Reformation ist bei beiden Formen sichtbar. Wenn die Erlanger über den Rechtfertigungstyp hinausgehen, so kam darin der ethische Impuls zur Geltung unter dem Eindruck, den die Lage der Kirche einem aufmerksamen Beobachter machte. Die Christenheit braucht Anleitung zum Glauben, aber auch Anleitung zum Handeln, sie braucht Gewißheit ihrer Schuld gegenüber, aber auch Gewißheit gegenüber ihrer Pflicht. Dadurch, daß die Wiedergeburt in die Mitte gestellt wird, wird der ganze Lebensbestand erfaßt. Damit ist eine gewisse Annäherung an die am [ehesten] vollendete Arbeit der Reformation erreicht. Wenn wir fragen, was im Reformationsjahrhundert als dogmatische Instruktion zu nennen sei, dann ist es Calvins Institutio.198 Melanchthon mengt seine humanistische Überlieferungen ein. Der Reformationsgedanke kam in der Institutio zu einer formell vollendeten Darstellung. Was ist hier der Ausgangspunkt? Der Schriftinhalt. Insofern schließt sich die [orthodoxe] Scholastik an Calvin an. Aber Calvin selbst ist nicht Scholastiker, er behandelt die Schrift nicht als Gesetzbuch theologische Fakultät kennzeichnete und vor allem in A. v. Harleß (1806–1879), J.Chr.K. v .Hofmann (1810–1877) und F.H.R. v. Frank (1827–1894) ihre profiliertesten Vertreter hatte. Sie betonte als Ausgangspunkt der Theologie die subjektive Erfahrung der Wiedergeburt, die es allerdings in einem »Dreiklang von persönlicher Erfahrung, Bibel und kirchlichem Bekenntnis« mit Schrift und kirchlicher Tradition als objektiver Norm des Glaubens zu vermitteln galt. Vgl. Näheres U. Swarat, Art. »Erlanger Theologie«, in: ELThG 1 (1992) 519f. 198 Johannes Calvin (1509–1564) war der einflußreichste Reformator der zweiten Generation. Sein theologisches Hauptwerk, die Institutio religionis Christianae, war und blieb die umfassendste Gesamtdarstellung evangelischer Dogmatik aus der Reformationszeit.
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für seine Gedanken. Hier erwächst an der Schrift Glaube, sie wird zum Beweger des eigenen Denkens und Wollens [und insofern zum] Eigentum des Menschen. Damit ist gegeben: Wenn in dieser Richtung weiter gearbeitet wurde, beschränkte sich die Dogmatik nicht auf einen einzelnen Vorgang, sondern nahm den ganzen Lebensinhalt auf. Bei der Verengung der dogmatischen Ziele hat ein nicht ganz klar gedachter logischer Impuls mitgewirkt: der Zug zum System, zur vollständigen Konformität aller religiöser Aussagen. Jede Dogmatik gewinnt natürlich mit der Einheitlichkeit ihrer Form Stoßkraft, überzeugende Kraft, und doch [steht] vielleicht – ich rede zurückhaltend – der geringe Erfolg der theologischen Arbeit des letzten Jahrhunderts damit im Zusammenhang, daß das dogmatische Ziel vereinzelt blieb. Die formelle Vollendung unsers Denkens dürfen wir nicht höher werten als den Gedankeninhalt. Der Anspruch, das fertige Gebäude aufzuführen, das vollendete Kunstwerk zu zeigen, hat das Vertrauen zu unsrer Dogmatik, wenn ich recht sehe, stark erschüttert. Bei Ritschl 199 haben wir sicher sehr tüchtige intellektuelle Arbeit mit einem ganz minimalen Erfolg, und doch ist er zweifellos ein starker mannhafter Intellekt und nicht ohne ernste Basis. Warum? Auseinandersetzung mit Luther, mit dem Ausgangspunkt der Reformation, mit dem Katholizismus, Abgrenzung gegenüber dem Pietismus, Begründung des Satzes, daß wir, obwohl der moralischen Not teilhaftig, dennoch der göttlichen Gnade uns freuen dürfen, – alles sind nur einzelne Anliegen, kein Griff ins Ganze, darum auch keine wirkliche Einigung, im Gegenteil: Erzeugung des Streits [und] Parteigründung. Daneben [steht] Erlangen mit seiner Wiedergeburt, eine geschlossene Gruppe, die 199 Albrecht Benjamin Ritschl (1822–1889) war als Professor für Systematische Theologie in Bonn und Göttingen einer der bedeutendsten Schleiermacher-Schüler und wurde »der beherrschende ev. Theologe des wilhelminischen Zeitalters« (J. Ringleben, Art. »Ritschl, Albrecht [1822–1889]« 201, in: W. Härle / H. Wagner [Hg.] Theologenlexikon. Von den Kirchenvätern bis zur Gegenwart, München 1987, 201–203).
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jeder andern theologischen Gestaltung ein »hypage Satan«200 zuruft. Die Rechtfertigungslehrer sind diesen Wiedergeburtslehrern gegenüber auch mißtrauisch, ablehnend. Das ist aber nicht das Geschäft eines Dogmatikers, daß jeder Dogmatiker eine Schule schafft. Einigung ist sein Geschäft. Schulbildung und Dogmenbildung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wir werden den Stoff so zu definieren haben: Alles, was mir Gott zeigt, ist Gegenstand der Dogmatik. Soweit Gottes Offenbarung reicht, soweit [reicht] der Stoff des Dogmatikers. Aber wir müssen begrenzen, weil wir mit unserm Blick nicht ins Universum dringen. Wenn der Dogmatiker sich zum Universalwissenschaftler ausbildet, ist die Wirkung der dogmatischen Arbeit auch wieder gefährdet. Denn ohne Gott ist nichts. Darum ist die Gefahr, daß wir eine Wissenschaft über alle Rätsel des Lebens machen. Zwei Arbeitsziele stellen sich nebeneinander: 1. Die Tendenz zur Vereinfachung, die sich aus dem praktischen Beruf ergibt: daß die Kirche sich nicht in Mysterien einigt, sondern im nächsten, alle berührenden, unmittelbar gewissen Stoff. 2. Daneben wird sich immer auch der andre Zug bemerkbar machen: »in die Weite, in die Höhe.« Es gibt schließlich doch keinen Vorgang, an dem der Dogmatiker vorbeigehen müßte. Beide Tendenzen sind innerlich begründet. Aber beim Streben, jeden Vorgang nach seinem theologischen Wert zu untersuchen, darf nie vergessen werden, daß das Ziel des Dogmas nicht die Erweiterung des eigenen Sehfelds, nicht der Gewinn individueller Erkenntnis ist, sondern Herstellung des Gemeinguts der Christenheit. Darum ist die Vereinfachungstendenz für die dogmatische Arbeit unentbehrlich. Daneben aber steht: Die Tatsachen stehen voran, die Glauben schaffen.201 Innerhalb der Arbeit haben wir den besonderen persönlichen Klang nicht auszumerzen. Das zeigt die Gegenwart, wo von jedem Hörsaal zum andern die Dogma200 Griech.: »weiche Satan« (Mt 16,23). 201 Diese Stelle zeigt, wie stark Schlatter seine Theologie als »Theologie der Tatsachen« versteht. S. o. S. 22f.
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tik wechselt. Das erschwert uns die Begründung einer kraftvollen Arbeitsgemeinschaft in der Kirche. Es ist aber nicht nur ein Übel, sondern entspringt aus der uns gegebenen Situation mit Notwendigkeit. Ein Übel ist es nur dann, wenn die individuell bestimmten Dogmatiker das Gesetz der Kirche werden wollen. Aber es liegt auch ein Gewinn darin, daß wir nicht durch Gleichförmigkeit die Gemeinschaft schaffen, sondern daß viel eigenartiges Leben in ihr vorhanden ist. Wir brauchen eine Einigung verschiedener Typen der Dogmatik, und dazu bietet sich die Methode an. Indem die Arbeit methodisch geschieht, sind die Berührungen zwischen den einzelnen Gedankenreihen erreicht. Darum ist noch ein kurzes Wort über die Methode des dogmatischen Denkens nötig. Wir stehen auch hier vor einem Scheideweg. Die Neigung, dem Dogmatiker eine eigene Logik zuzubilligen, kommt je und je zur Sprache. Er habe keine Gemeinsamkeit zwischen sich und den andern wissenschaftlichen Arbeitern anzustreben, denn der religiöse Vorgang habe seine eigenen Gesetze, seine eigene Logik. Daneben steht die andre These: Unsre Methode ergibt sich aus der Logik, die in uns allen lebendig ist. Die Wahl zwischen diesen beiden Standorten kann nur so zustande kommen, daß die Tatsachen das letzte Wort haben. Gibt es eine neben dieser Gesetzmäßigkeit stehende Methode? Wenn wir die Geschichte des Geisteslebens der Kirche überschauen, ist die Frage mit aller Bestimmtheit zu verneinen. Der psychische Prozeß vollzieht sich im Christentum in der gleichen Form wie bei allen andern. Dann ist der dogmatische Arbeiter in beständigem Austausch mit den andern wissenschaftlichen Arbeitern. Das brauchen wir, wenn das Resultat des Forschers zum gemeinsamen Besitz aller werden soll. Dann muß das Resultat erreicht werden unter der Herrschaft des uns allen immanenten seelischen gesetzlichen Vorgangs: also Wahrnehmung und Urteil, Einigung unsrer Vorstellungen zur geschlossenen Reihe. Dann fällt der Beweis in das Gebiet der Wahrnehmung. Der theologische Beweis ist dadurch zu führen, daß die Tatbestände, die den Gottesgedanken in uns erwecken, ans Licht gestellt werden. Das gilt für Natur und Geschichte. – 170 –
Sehr häufig wird an das theologische Verfahren der Anspruch gestellt, daß, bevor die religiöse Wirklichkeit erfaßt wird, die Möglichkeit derselben aufgezeigt werden müsse. Der Beweis liege darin, daß aus dem uns sonst gegebenen Wissen die Möglichkeit der theologischen Aussage abgeleitet wird. Erst dann sei eine Bejahung der Wirklichkeit denkbar. Hier dürfte eine der Vergangenheit angehörende Logik mitwirken, die Logik des Platonikers, der die ihn anstrahlende Idee zum Ausgangspunkt nimmt, weil er von der ihn erfassenden Wirklichkeit sich mit einem pessimistischen Urteil abgewendet hat.202 Es ist nicht richtig, das Schicksal der Kirche und des Dogmas an diese Sonderform der Erkenntnistheorie zu binden. Aber die Gebilde Geschichte und Natur stehen in ihrer Realität vor uns: Nun kann erst nach der Möglichkeit gefragt werden, wenn die Wirklichkeit erfaßt ist. Wenn ich nach der Möglichkeit eines Ereignisses frage, was heißt das? Was heißt Möglichkeit der Auferstehung, des Wunders? Es heißt: Ist die mir hier zuwachsende Vorstellung mit meinem anderweitigen Bewußtseinsinhalt vereinbar? 202 Schlatter spielt hier auf Platons Ideenlehre an, die der Platonforscher Johannes Hirschberger treffend wie folgt charakterisiert hat: Das »wahre Sein ist … nicht die sogenannte wirkliche, raumzeitliche Welt … Die wahrhaft seiende Welt ist nur die Ideenwelt. Ein erstes Abbild davon … ist die raumzeitliche Welt« (Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Altertum und Mittelalter, Freiburg 141977 [= 1991], 104; Hervorhebung W.N.). Schlatter kritisiert an dieser Sicht nicht die Überzeugung Platons von der Existenz transzendenter »Ideen«, sondern die damit verbundene ontologische Herabstufung der raumzeitlichen Welt, deren Realitätscharakter nach Schlatter keine Einschränkung oder gar Leugnung duldet. In einer solchen Konzeption sieht Schlatter eine Gefährdung des von ihm vertretenen biblischen Realismus, der im Erkennen und Handeln auf eine Hinwendung zur sinnenhaften, raum-zeitlichen Wirklichkeit zielt. Schlatter vertritt selbst eine an Aristoteles erinnernde Ideenlehre, indem er in der materiellen Natur intelligible geistige Realitäten wahrnimmt (Zahlen, Gesetze, Wesensformen und Teleologie), welche die Natur konstituieren. Vgl. dazu Neuer, Der Zusammenhang, aaO [s. o. Anm. 26], 125–129.
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Wenn ich jetzt den Vorgang richtig definiert habe, springt in die Augen, daß die Frage nach der Möglichkeit immer die zweite Frage ist. Es gehört zu der dogmatischen Aufgabe, daß die Verbindungslinie zwischen den religiösen und den übrigen Bewußtseinswerten erreicht wird. Aber das steht nicht am Anfang der dogmatischen Arbeit und ist auch nicht schlechthin die Bedingung für die Gültigkeit des Dogmas. Die Möglichkeit des Vorgangs ist erwiesen, sowie seine Wirklichkeit sich uns zeigt. Die Verbindung mit der übrigen Erkenntnisreihe zu erreichen, bleibt die Aufgabe, ist aber für die Geltung der dogmatischen These nicht entscheidend. Je mehr wir auf Möglichkeitsberechnungen uns einlassen, desto weniger bekommen wir ein Dogma, das eine einigende Macht hat. Was uns einigt, sind nicht Schlüsse. Uns kann nur einigen, was als unerschütterliche Wirklichkeit unserm Blick sich zeigt.
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§ 21 Die Apologetik Der ursprüngliche Sinn des Wortes Apologetik ist nicht so gemeint, daß sie zuerst und dann die Dogmatik kommt. Unsre Theologiegeschichte reicht bis ins achte Jahrhundert ante [Christum] zurück, in dem wir auch Apologetik haben. Dort hat die Auseinandersetzung mit den andern Religionen begonnen.203 Die Juden haben das Griechentum neben sich, und nun entstehen Apologien.204 Für die geistige Regsamkeit der Kirche bedeuten diese Apologien recht viel. Die großen Patristiker sind alle Apologeten.205 Die Wende tritt hier im 17. Jahrhundert ein. Wir haben sie zuerst klassisch in der Hand eines großen Denkers, Blaise Pascal,206 203 Schlatter meint hier – vom üblichen Sprachgebrauch abweichend – die Entstehung der Schriftprophetie im 8. Jh. v. Chr. (Amos, Hosea, Jesaja u. a.), weil sich dadurch Israel erstmalig der Völkerwelt gegenüber geöffnet und damit auch mit deren Religion und Ethik auseinandergesetzt habe: »Bisher war das, was Israel empfangen hatte, in seinen Grenzen eingeschlossen. Es hatte zu den übrigen Völkern keine Beziehung.« Die Schriftprophetie aber »richtet« ihr Auge auch auf die Völker ringsum und stellt sie Israel zur Seite. Der Geist der Weissagung wird als der Quell einer großen Liebe wirksam, die die ganze Welt umspannt« (Einleitung in die Bibel, Stuttgart 41923, 184; vgl. auch ebd. 168–173). 204 Schlatter spielt hier auf die frühe jüdisch-hellenistische Philosophie an, wie sie z. B. von dem Alexandriner Aristobul im 2. Jh. v. Chr. vertreten wurde. Vgl. dazu seine ausführliche Darstellung in: Geschichte Israels, aaO [s. o. Anm. 147] 77–90. 205 Vgl. dazu die Überblicksdarstellung von M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn u. a. 22001. 206 Blaise Pascal (1623–1662), frz. Physiker, Mathematiker und Laientheologe.
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vor uns. Er wollte eine »Apologie des Christentums« schreiben. Seine Fragmente davon sind wirksamer geworden als manches fertige Buch. Hier handelt es sich um einen Bruch in der eigenen religiösen Überlieferung, der Apologet wendet sich gegen das, was ihn selbst in seinem eigenen Christenstand angreift. Hier entsteht der durch die Apologie zu überwindende Angriff im eigenen religiösen Erleben. Das ist eine bedeutsame Wendung unsrer ganzen theologischen Arbeit: Ihr Gegner ist nicht nur jenseits der Kirche, sondern in der Kirche selbst. Von hier aus ist verständlich, warum Apologetik als Vorhalle, als erster Teil der Dogmatik ausgebildet werden kann. Fragen wir zunächst: Was hat im 17. Jahrhundert die theologische Arbeiterschaft in die Rolle des Angegriffenen getrieben? Bei Pascal kommt der erste stärkste Gegner in Sicht, der den ganzen dogmatischen Bau erschüttert. Er ist Naturforscher und Cartesianer, er deutet den Naturprozeß also lediglich mechanistisch, es gibt für ihn in der Natur lediglich »gefüllte Quanten«. Die Welt entsteht durch die Bewegung der sich gegenseitig stoßenden raumfüllenden X. Das beruht auf der Wahrnehmung, daß wir im ganzen Naturprozeß Mathematik vor uns haben. Er hat den Vorgang zuerst nur halb vollzogen: Die Seele saß daneben. Heute steht die Sache durchaus so: Es gibt kein dogmatisches Wort, das nicht ein mathematisches Problem ist. Nun entsteht der Riß: Wie verhält sich diese aus Quanten sich aufbauende Unendlichkeit zum Dasein Gottes, zum Glauben der Christenheit? Kann es eine göttliche Regierung geben, wenn die Natur zum völligen Gegensatz gegen die aus dem inneren Leben des Menschen geschöpften Vorstellungen [geworden] ist? Hier entsteht der Kampf, darum Verteidigung, darum Apologetik. »Wir brauchen einen, der die Vereinbarkeit des christlichen Denkens mit der Naturforschung nachweist« sagt Pascal. Dieses Motiv blieb wirksam bis heute. Die Modifikation am cartesianischen Dogma hat das Problem nicht aus der Welt geschafft. Wir stehen vor dem Vorgang, daß es ein Versinken in das natürliche Leben gibt, das den Gottesgedanken auslöscht [und damit] die christliche Überzeugung unmöglich macht. Und hier entsteht eine zur Apologetik drängende Aufgabe. – 174 –
Es kamen aber noch andre Angriffe: Die christliche Aussage bezog sich auf geschichtliche Vorgänge. Die Bibel erzählt Geschichte, die Kirche beschrieb Handlungen als göttliche vermittelnde Ordnung, teils in ihrer Vergangenheit, teils in der Gegenwart als jetzt sich dem Menschen darstellende Gnade mit dem Anspruch, daß sie das Dogma schaffe. Aber ist die Geschichte nicht das Verderben des Intellekts und des Wissens, ist nicht das die große Not, daß sie an diesen Zusammenhang gekettet ist, daß sie in ihrer Jugend verdorben wurde mit Schultradition? Also raus aus der Geschichte! Wir bekommen die antisoziale Strömung in der modernen Welt, der Einzelne hat sich dadurch innerlich vor Verkümmerung zu schützen, daß er sich isoliert. In der Geschichte gibt es nichts, was mein eigenes Leben ordnen könnte: ego ipse!207 Damit war ein Angriff auf das Dogma geführt, der den ganzen Bestand bedroht. Dazu kam noch eine dritte Frage: Das auf sich selbst reduzierte einzelne Ich kam in Verlegenheit, einen Lebensinhalt aufzuzeigen, der der Kritik standhielt. Wie stand es mit dem Denkprozeß, erreicht er irgendwelche Wirklichkeit, ist der Wahrheitsbegriff ein Phantom? Die isolierte Monade von Leibniz, die sehr rasch auf den Cartesianismus gefolgt ist, hatte keine Fenster, sonst war sie ja nicht mehr Monade.208 Wie gewinnt sie nun als subjektives Gebilde Vorstellungen, die wahr sind? Die Monade hat auch keine Pflicht. Verpflichtung entsteht nur, wo Verflochtenheit besteht, Ethik entsteht immer erst in der Verbundenheit mit andern. Aber die Monade ist 207 Lat.: ich selbst (muß mein Leben selbst ordnen …). 208 Zu Schlatters Verständnis der Leibnizschen Monade s. o. Anm. 74. Man wird bei den Ausführungen Schlatters strikt unterscheiden müssen zwischen der generellen Problemanzeige bzgl. der neuzeitlichen Philosophie, daß die philosophische Evidenz von Wahrheit und Sittlichkeit zum Problem wurde, und seiner speziellen Interpretation der Leibnizschen Monadologie. Das erstens nicht zu bestreiten ist, ist unabhängig von der Frage, ob seine Leibniz-Interpretation bejaht wird.
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ja das, was der unbedingten Bejahung allein fähig ist. Es versinkt also die Ethik und die Logik. An die Stelle der Logik tritt die Skepsis, an die Stelle der Ethik der Pessimismus. Das psychische Gebiet erscheint also ebenso leer wie Natur und Geschichte. Hier ist ein Angriff abzuwehren, die Notwendigkeit der Apologetik ist mit den geschilderten Vorgängen gegeben. Die Kirche muß diese Arbeit besorgen, die ihr dadurch gestellt ist, daß aus der [Betrachtung der] Natur Verneinung der Gottesgewißheit wird. Aber nun. Wie macht das der Apologet? Die Auseinandersetzung mit dem andersartigen Gedanken setzt immer voraus, daß der uns gegenüberstehende Vorgang unverkürzt und sachgemäß ans Licht tritt. Der Gegner ist über das, was er selbst sagt, glaubt und vertritt, zu hören. Dem Monadologen, dem religiösen und auch irreligiösen, der aus sich selbst lebt, ist die Frage vorzulegen, auf welche Wahrnehmungen er seine Entschließung stellt, ebenso dem Psychologen, der für das Denken kein Ziel zuläßt, der Agnostiker wird und für die Ethik die Norm streicht. Wir haben hier eine ähnliche Aufgabe zu stellen wie im Verkehr zwischen den Kirchen. Der Gegner muß ans Licht kommen, aber im Verkehr mit dem uns gegenüberstehenden Gedanken dürfen wir uns nie bloß darauf beschränken, sondern wir suchen die Einigung. Die Aufgabe der Apologetik ergibt sich aus der Lage der Menschheit. Es besteht zwischen der christlichen Aussage über die Menschheit und Gott und der Aussage der Welt zu diesen Dingen ein Unterschied, ein Konflikt. Der Weg zur Lösung ist hier verschieden. Wird die Apologetik zur Vorbedingung der Dogmatik, so wird das gefordert, was der Apologet will. Er will Verständigung, aber dazu braucht er begründetes Dogma, feststehende Überzeugung. Der Gegner arbeitet mit bestimmten Wahrnehmungen. Hat sie der Theologe nicht, so gleicht er sich unwillkürlich dem Gegner an. Diese Anpassung vollzieht sich beim Gespräch unwillkürlich, aber ohne die positive These kann der Gegner nicht überzeugt werden. Die Apologetik darf nicht nur aus Furcht getrieben werden. Die Kirche wird angegriffen, und dann fängt sie an zu denken. So darf es nicht sein! Hier erzeugt die Not die Theologie. Die Furcht ist – 176 –
aber nicht der einzige zur Erkenntnis treibende Beweggrund. In der Natur die Herrlichkeit Gottes, im Menschen das göttliche Wirken: Das, was wir haben, gibt den Antrieb zur Wissenschaft, nicht nur unser Mangel.
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§ 22 Die christliche Ethik [Der erste wiedergegebene Teil der Ethik-Vorlesung stammt nicht von Erwin Mülhaupt, da er in dieser Stunde nicht anwesend war, sondern von der Hörerin Leni Wüst (später verh. Müller)] Die christliche Gemeinschaft ist nicht nur Gemeinschaft des Wissens, sondern [auch] Gemeinschaft des Handelns. Sie ist eben eine vollständige Gemeinschaft. Die Kirche führte noch lange die antike Ethik weiter, sogar noch in der Reformation: Melanchthon verband Luthers Rechtfertigungslehre mit Stoischem, ohne daß dies einer von den beiden merkte! Es gab keine Ethik, die dem reformatorischen Ziel entsprach. Die [spätere] Aufklärungsethik ist Tugendethik und dies nicht ohne Einfluß des Neuen Testaments. Denn das Neue Testament ist in der evangelischen Kirche bekannt. Warum will man keine Ethik? Der Glaube soll von selbst die Normalität des Verhaltens ergeben. Er ist der Baum, aus dem die Frucht von selbst kommt. Das Dogma sei selber Ethik, das Ziel der theologischen Arbeit sei die Einheit: Aufhellung des göttlichen Wirkens mit Sicherstellung des menschlichen Verhaltens. Also entweder nur Dogma oder nur Ethik!209 209 Hinter dieser äußerst pauschalen und in dieser Form natürlich sachlich unhaltbaren Darstellung verbirgt sich Schlatters Überzeugung, daß die reformatorische Theologie die Liebe und damit auch die Ethik vernachlässigt habe. Nähere Ausführungen zu dieser von Schlatter an anderer Stelle wesentlich differenzierter erörterten, äußerst komplexen Thematik findet sich in meiner großen Biographie Schlatters (aaO 546–553) und bei H.-M. Rieger, Adolf Schlatters Rechtfertigungslehre und die Möglichkeit ökumenischer Verständi-
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Der Glaube wird aber egoistisch, wenn er nur Quietiv 210 ist. Der Mensch sucht nur die Ruhe, aber damit steht er im Eudämonismus.211 Der Schmerz und die Sorge in jeder Handlung wird so umgangen. Damit verdunkelt sich aber die Vorstellung. Ohne den Willen zum Kampf gibt es keine christliche Gemeinschaft. Sie ist Willensgemeinschaft im füreinander und miteinander arbeiten. Dieser Mangel [an Willensgemeinschaft] zeigt sich in der von oben her zusammengehaltenen Staatskirche. Das ist keine Gemeinschaft. Bei der Bildung des sittlichen Urteils brauchen wir die andern, so oft sie uns auch hemmen. Selbständigkeit bedeutet nicht notwendig Konflikt. Die Frage, worin das Werk des Menschen und der Kirche besteht, ist ernst. Die vorchristliche Ethik ging aus von dem im Menschen liegenden Vermögen, das sich entfalten und steigern läßt durch Kultur und Übung. Das Ziel ist Tüchtigkeit, volle Entfaltung [der Fähigkeiten]. Der Ausgangspunkt dieser Ethik ist auch für den christlichen Ethiker unantastbar. Die [natürlichen] Grundlagen [des Menschen] sind der Entwicklung fähig. Aber damit allein ist das Lebensziel innerhalb des einzelnen Ich egoistisch gefaßt. Das Motiv ist der Ehrgeiz, der die Ehrung des andern haben will, sonst nichts. Das ist aber Hemmung des Christentums, Unterwühlung des Evangeliums. Die zweite Form der Ethik stammt aus der Geschichte Israels: die Pflichtenethik. Hier wird die Norm des Willens, der Maßstab gesucht. Der sich in uns regende Wille bedarf des Maßstabs. Die Pflichtenethik beruht auf dem Gewissensvorgang. Der Eudämonismus führt an sich aus dem Christlichen heraus. [Ende des Textes von Leni Wüst] gung, Stuttgart 2001, 175–222, 380–397 u.ö. und in meiner Einführung zu: A. Schlatter, Der Dienst des Christen. Beiträge zu einer Theologie der Liebe (hg. v. W. Neuer), Gießen / Basel [1991] 22002, 7–18. 210 Zum Verständnis des Quietivs bei Schlatter s. o. Anm. 85. 211 Unter Eudämonismus versteht man eine Ethik, deren oberstes Ziel das »Glück« des Menschen ist.
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[Fortsetzung des Textes von Erwin Mülhaupt] Mit der Tugendethik ist das Ziel der Ethik nicht erreicht. Eudämonismus ist die Form der Lebensgestaltung, die aus dem christlichen Gesichtspunkt herausgedrängt ist. Also: Wir haben ernsthafte ethische Theorie und Anstrengung vor uns, die wir in der Kirche [aber] nicht wiederholen dürfen. Dazu gehört die Tugendethik, weil sie immer individualistisch und zugleich egoistisch bleibt. Die zweite Form der Ethik, die dem Pharisäismus die Stoßkraft gab, macht die Norm, das Gesetz zum Inhalt der Ethik. Gegen diese Form der Ethik ist zu sagen, daß sie notwendig unpraktisch bleibt. Wir können die Norm immer entweder an den Anfang oder an das Ende unseres Wollen stellen. Stellen wir sie an den Anfang, so entsteht ein Imperativ, stellen wir sie an den Schluß, so entsteht ein Urteil. Aber immer ist die Vorstellung die, daß der Lebensprozeß vor sich gegangen ist. Und nun, nachdem er fertig ist oder entstehen soll, kommt eine Norm in Sicht. Daher wird diese Ethik immer der Wirklichkeit des Lebens gegenüber ohnmächtig bleiben. Sie kann den Willen nicht fassen in seinem schaffenden Vorgang, sondern setzt den Willensablauf voraus, um ihn zu kritisieren. An diesem Zwiespalt zwischen Gebot und Wollen, zwischen Idealität und Realität des menschlichen Lebens zeigt sich, daß wir hier auf der vorchristlichen Stufe stehen. Dieser Zwiespalt kennzeichnet den unversöhnten Stand des Menschen. Allein in der von Jesus uns bereiteten Stellung vor Gott ist etwas andres in Aussicht genommen: An der göttlichen Gnade entsteht der Wille, in dem Norm und Wollen geeint sind. Die Frage der christlichen Ethik ist nicht, wie es neben unserm Willen eine Norm gebe, sondern wie wir den Willen gewinnen, der den göttlichen Willen vollzieht. Die Pflichtethik wird immer die Neigung haben, den Mangel, der ihr selbst auch spürbar wird, dadurch zu überwinden, daß sie zur Kasuistik wird. Darum sind starke religiöse Bewegungen immer begleitet von kasuistischer Ausbildung der Ethik:
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Das erste große Beispiel dafür gab die Theologie von Jerusalem.212 Die zweite große Strömung dieser Art entstand im Zusammenhang mit der Gegenreformation im Jesuitismus. Hier wird das Mittel, wodurch die Richtigkeit des Verhaltens garantiert wird, ebenfalls in der Kasuistik gesehen. Ein drittes nur entfernt durch Religionsgeschichte bedingtes Beispiel ist die Geschichte unsrer Jurisprudenz 213, die fortwährend der Kasuistik zum Opfer fällt und damit eine Gesetzgebung schafft, die sich unausführbar macht. Der gegenwärtige Zustand unsers Staates erklärt das. Daß die Ethik nach diesem Mittel greift, ist völlig durchsichtig. Er [der Staat] entwirft ein Ideal, von dem er nicht weiß, was es für die ihm Untergebenen bedeutet. In der Entfernung vom Wirklichen verliert die Norm den konkreten Inhalt. Das bekannteste Beispiel ist Kant mit seinem Imperativ, von dem er gar nichts andres mehr sagen kann, als daß er allgemeingültig sei.214 Aber was soll ich tun? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Wenn nur die Norm den konkreten Lebensinhalt fassen soll, so scheint sie den Kasus ergreifen zu müssen. Dann ist garantiert, daß die Norm die 212 Schlatter meint mit der »Theologie von Jerusalem« die lange Zeit mündlich tradierte, stark kasuistisch konzipierte rabbinische Theologie, wie sie sich unter dem Einfluß des Pharisäismus in den beiden Jahrhunderten vor und nach Christus mehr und mehr herausbildete und schließlich im (Babylonischen bzw. Jerusalemer) Talmud ihr literarisches Endstadium erreichte. Vgl. dazu Schlatters anschauliche Beschreibung in seiner Geschichte Israels, aaO [s. o. Anm. 139], 147–153 und in seiner Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josefus, Gütersloh 1932, 205–211. Eine deutsche Übersetzung des Babylonischen Talmuds [von Lazarus Goldschmidt] in (fast 1000 Seiten umfassenden) 12 Bänden findet sich im Jüdischen Verlag 2007. 213 Jurisprudenz (lat.) bezeichnet die Rechtswissenschat. 214 Anspielung auf den kategorischen Imperativ Kants, den dieser in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) folgendermaßen formuliert: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (§ 7). Zit. nach: Kritik der praktischen Vernunft (hg. v. K. Vorländer), Leipzig 81922, 39.
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Wirklichkeit umfaßt. Aber das beruht auf einer Selbsttäuschung, nicht nur, weil das Unternehmen unausführbar ist. Der Talmud ist ein Riesenwerk geworden, um seine Absicht durchzuführen. Die juristische Kasuistik ist auch ein Rabbinat, zu dem man etliche Jahre studieren muß, bis man es annähernd übersieht. Die Buntheit des menschlichen Lebens können wir vom Katheder aus nicht erfassen. Aber der Schaden sitzt tiefer. Der Kasuist könnte antworten: Wenn ich auch nicht alles erfasse, so ist doch ein großer Teil davon getroffen. Das Verhältnis der Sozietät zu den Einzelnen und umgekehrt ist falsch bestimmt. Wenn der Ethiker sich zum Kasuistiker macht, übernimmt er selbst die sittliche Urteilsbildung anstelle dessen, der handeln soll. Er macht den Handelnden von der Leitung abhängig, die er ihm gibt. Darum ist die Kasuistik immer mit einer Entstellung des religiösen Amts zur Tyrannei verbunden. Die sittliche Entscheidung wird dem Einzelnen entzogen und seinem Beichtvater übertragen. In dieser Form muß das einzelne Glied der Gemeinde fortwährend die Hilfe seiner Seelenführer anrufen, er ist fortwährend an den Sachkundigen verwiesen. Die innere Autonomie hat er nicht. Darum gibt es innerhalb der christlichen Gemeinschaft keine berechtigte Kasuistik. Das Neue Testament ist nach dieser Seite hin das klassische Dokument, obgleich es im Rabbinat das große kasuistische Vorbild vor sich hat. Eine dritte Form der noch unterchristlichen Ethik: Wenn wir die Gemeinschaft des Handelns erreichen wollen, bedürfen wir dazu der Sitte, der Regel, die gleichmäßig das Verhalten aller bestimmt. Die Ethik wird also gefaßt als Lehre von »Sittlichkeit«, also als Sozialethik. Das sei die große Aufgabe, und daraus entstehe dann [auch] als die mit ihr gegebene Konsequenz die Individualethik. Richtigkeit der Sitte garantiert die Reinheit und Fruchtbarkeit aller Lebensläufe, die von der Gemeinschaft umfaßt werden. Nun ist auch mit dieser Formel selbstverständlich ein sehr ernsthafter Vorgang betrachtet, der nicht mißachtet werden darf: Die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft bezieht sich nicht nur auf unsern Denkakt, auf die Sprache, auf Lehre und Lernen, sondern die Gemeinsamkeit erfaßt auch sehr ernsthaft die Bewegung unsers – 182 –
Willens: Am Wollen des andern entsteht mein Wille. Es ist völlig richtig, daß die Verfestigung des Ethos in der Sitte für jedes einzelne Glied der Sozietät von größter Bedeutung ist. Es ist nicht falsch, vom Volkswillen zu sprechen, es ist auch nicht falsch zu sagen: Die Sozietät braucht eine Ethik. So gewiß der Willensakt Sache des Einzelnen ist, es ist nicht Phrase, wenn wir vom Gemeinwillen und Volkswillen, von der Sozietät als Inhaberin eines Willens sprechen. Denn die Gleichförmigkeit setzt sich hier mit erstaunlicher Stärke durch. Das Imitationsbedürfnis ist als ein mächtiger Kitt in alle unsre Verhältnisse hineingelegt. Daher entsteht sofort der große Chor der Nachahmung, und diese Nachahmung kann sämtliche Glieder einer Sozietät erfassen, sodaß ein über die Einzelnen hinübergreifender Wille vor sich geht, der den Einzelnen nie ganz von der Verantwortung entlastet, aber ein mächtiger Faktor bei der Formation seines Willens ist. Aber mit dieser Erläuterung ist auch ausgesprochen, daß wir die Ethik nie bloß als Lehre von der Sitte fassen dürfen. Denn das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft ist verkannt, wenn wir nur die Entrechtung des Glieds zugunsten des Organismus bekommen und nicht den Verkehr, wo die Gemeinschaft ihre Glieder stärkt. Wir bleiben in der christlichen Linie nur dann, wenn dem Einzelnen ein Anteil am göttlichen Willen gegeben wird, der ihm den ihm allein gehörenden Willen verschafft. Dafür hat er die Regelung, Zielsetzung, Normierung zu suchen. Wenn wir freilich nur eine Monadologie 215 bekommen, ist die christliche Ethik wieder entzwei gebrochen. Dann wird die Rückkehr zur Tugendethik als die für die Ethik richtige Form erscheinen, dann treten wir auf den vorchristlichen Standort zurück. Für die christliche Ethik ist festzuhalten: Pflicht entsteht für den Verkehr mit den andern. Es gibt keine Ethik, die beim Einzelnen 215 Schlatter meint hier nicht die von Leibniz entwickelte Lehre von den Monaden (»Monadologie« [Jena 1720]), sondern allgemeiner jedes Wirklichkeitsverständnis, das den Menschen nur als Einzelnen, nicht aber als soziales Wesen versteht.
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stehen bleiben könnte. Die Ethik ist von Haus aus Sozialethik.216 Die Frage, wie die Gemeinschaft erreicht wird, wie ich mein Leben für die Gemeinschaft fruchtbar mache, das ist die ethische Frage. Die Sozialethik hat sich nun aber dem Willen Gottes zu unterstellen, d. h. sie steht unter der Liebesregel.217 Sie darf nicht nur ein Machtwille sein, ethisch wird ihr Verhalten nur, wenn sie für ihre Glieder vorhanden ist. Gewiß ist es ein Fortschritt, daß wir endlich Sozialethik bekamen auf dem philosophischen Katheder: Das Verdienst gebührt hier Herbart,218 der für die Ethik sehr Beträchtliches geleistet hat. Er hat zuerst erklärt, die Ethik ist unfertig, wenn sie nicht die Gemeinschaft umfaßt. Nur ist die Zweiteilung auch wieder mit einem Schatten belastet, weil es so aussieht, als ob zuerst ein ethisches Ziel des Einzelnen erreicht werden müßte und dann auch noch sein Anteil an der Gemeinschaft besprochen werden müßte. Das Ziel der christlichen Ethik ist das gleiche wie bei der Dogmatik und damit gegeben, daß wir vor einem göttlichen Wirken stehen, das die Gesamtheit unseres Lebens erfaßt und mit den Gaben seiner Gnade ausrüstet. Der Einzelne kann seinen Dienst [für] Gott nur dadurch tun, daß er empfangend und gebend in der Sozietät sich betätigt. Damit wird die Ethik nicht nur eine Sammlung von Normen, sondern Beschreibung dessen, was als uns geschenkter Wille in der Christenheit vorhanden ist. Nur dann erreichen wir den wirklichen Lebensvorgang (und hört die Ethik) auf, die leerste aller Phrasen zu sein.
216 Die Sozialität des Menschen ist für Schlatters Ethik grundlegend. Vgl. dazu Die christliche Ethik, aaO [s. o. Anm. 38], 135–248. 293– 320.360–373.393–436. 217 Zu Schlatters Verständnis der christlichen Ethik als Liebesethik vgl. ebd. 116–133. 218 Vgl. zu Schlatters Sicht des Philosophen Herbart (1776–1841) vgl. Die philosophische Arbeit, aaO [s. o. Anm. 4], 237–249.
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§ 23 Die praktische Theologie Ich verstehe es ganz gut, wenn sich auch in der Gegenwart der gleiche Vorgang wiederholt wie zu meiner Zeit. [Man sagt:] »Auf praktische Theologie kann ich verzichten!« [In Wirklichkeit aber] stehen wir noch einmal vor einer umfassenden großen Aufgabe. Und wenn sie im gegenwärtigen Betrieb noch so dürftig beachtet ist, so gibt das nur [umso mehr] Anlaß, diese Aufgabe deutlich zu erfassen. Es handelt sich um die Frage: Was ist das religiöse Amt und der vom Amtsträger zu leistende Arbeitskreis? Die Einrede kann kommen: Das ist doch keine neue Erkenntnis, soll denn der Amtsträger eine andre Überzeugung haben als der gewöhnliche Christ? Nein, es gibt keine Geheimwissenschaft innerhalb der Kirche. Also: Der Erkenntnisbesitz des Geistlichen ist der gleiche wie der der Kirche. Was er bedarf, ist Unterricht über das Dogma, die Ethik seiner Kirche, über die seine Gegenwart schaffende Geschichte, er hat die Schrift zu handhaben, die in jedermanns Hand liegt. Es steht nicht so, daß bestimmte religiöse Leistungen den Geistlichen von der Gemeinde unterscheiden. Die Ethik des Pfarrhauses ist genau die gleiche wie die des Laien. Was gibt es denn noch für ein besonderes Ziel? Der Geistliche übt sein Christentum zum Zweck, um die Gemeinschaft herzustellen. Dazu ist das Amt da, daß die Sozietät wird. Jetzt stehen wir vor einer Frage, die über die bisher betrachteten [Fragen] noch hinausgreift. Sie steht in engster Fühlung mit allen andern theologischen Fächern. Aber die Frage kommt noch einmal mit Ernst: Wie verwenden wir unsern religiösen Besitz so, daß daraus die Einigung der vielen entsteht, daß gemeinsame Überzeugung wird? Dieses Ziel ist unter allen Umständen von überragender Größe und wird in der Gegenwart besonders groß. Je mehr in einem Volk die Individualisation vorliegt, je mehr es sich in Gruppen teilt, – 185 –
auch in der Kirche, umso höher [wird] die Bedeutung des Amts, das hier die Einigung nicht nur repräsentiert, sondern bewirkt. Je mehr gegeneinander strebende Gruppen und Kräfte da sind, umso größer, schwieriger und lockender wird das Amt. Daß es weniger anziehend mehr sei, ein Geistlicher zu werden, ist falsch. Heute ist das religiöse Amt von unentbehrlichster Wichtigkeit, weil eine Fülle von Gruppierungen unter uns vorhanden sind, die sich zunächst nur exklusiv gegeneinander verhalten. Die Einrede könnte weiter lauten: Praktische Theologie ist doch nur eine technische Frage. Technik 219 ist bei der praktischen Theologie auch Gegenstand der Aufmerksamkeit. Die Frage danach stellt sich, sowie wir Verkehr und Gemeinschaft herstellen wollen, [denn dann] sind die natürlichen Prozesse unsre Arbeitsmittel. Wer zu andern reden will, muß sprechen, und dazu bedarf er der Technik. Aber daß es sich nur um Technik handle, diesen Satz lehne ich meinerseits ab, sondern es handelt sich noch einmal um eine theologische Frage. Es ist ein ernsthaft wissenschaftlich-theologisches Anliegen, zu fragen, was wir zur Erfüllung des dem Amt gesetzten Ziels zu tun haben. Damit ist auch die Frage beantwortet, in welchen Zeitpunkt die praktische Theologie in den Studienjahren gelegt werden soll. Da sie das Endergebnis aus Exegese, Dogmatik und Ethik ist, ist klar, daß diese Vorlesungen nicht an den Anfang gehören. Allein, gerade weil ein technisches Moment dabei ist, ist mit der Theorie gleichzeitig auch Übung notwendig verbunden, und Übung läßt sich nicht in kurze Frist zusammenpressen, sondern [dazu] sind längere Fristen nötig. Unser herkömmlicher Fakultätsbetrieb ist hier zu sparsam bemessen. Denn es schadet auch für die Anfänge des Studiums gar nichts, wenn sich mit der Übung das Bewußtsein verbindet, daß das ganze theologische Studium sein Ziel in der Amtspraxis hat. Aber Übung bedarf der Theorie, darum Übung mit Aufsicht. Am schlechten homiletischen Muster entstehen ungezählte Predigten 219 Heute würde man anstelle der Begriffe technisch bzw. Technik eher die Begriffe methodisch bzw. Methodik verwenden.
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vom gleichen Muster. Darum [ist] Übung unter Leitung, unter annähernd verständiger Aufsicht [nötig]! Das erste Stück der praktischen Theologie ist das Kirchenrecht. Hier wirkt die antike Tradition mit ihren beiden Rechten nach: Staatsrecht und Kirchenrecht. Das zweite Stück ist die Rede, die Predigt, es entsteht die Homiletik. Die Antike hat die Rednerschule geschaffen. Die Frage ist, wie der christliche Rhetor diese Tradition benützen soll. Damit ist aber nicht der ganze Inhalt der pastoralen Arbeit beschrieben. [Denn] dazu kommen neue Disziplinen: Zunächst noch recht ungeregelt im Zusammenhang mit der pädagogischen Bewegung des 18. Jahrhunderts (Pestalozzi,220 Rousseau221) entsteht die Katechetik. Dazu die Liturgik, ein Sammelname für Sakramente und die Handlungen, mit denen die Kirche den Lebenslauf des Menschen begleitet: Ehe, Beerdigung, Konfirmation, das von der Gemeinde zu übende Gebet. Und endlich kam noch ein Ansatz zu einer weiteren Disziplin zustande: [Die Lehre von der] Seelsorge, ein Titel, der düstere Irrungen nahelegt. Das deutsche Wort ist einfach ein Abklatsch des Lateinischen cura animarum.222 Damit ist der Gedanke in der Nähe, daß sich die christliche Arbeit und Gemeinschaft nur auf die inneren Vorgänge bezieht, daß die Notstände und Güter des natürlichen Bereichs von der kirchlichen Arbeit ausgeschlossen seien. Wenn wir diese ungeordnete Stoffanhäufung ordnen wollen, ist der einheitliche Zweck des Amts die Basis. Die Kirche hat ein Ziel: Darum besteht das Pfarramt nicht aus allerlei Geschäften, sondern hat ein Ziel, die Herstellung der christlichen Gemeinschaft. Hier können wir nun teilen nach den beiden zur Gemeinschaft notwendig gehörenden Gruppen von Vorgängen. Die Gemeinschaft ist innerlich gegründet, läßt sich also nicht durch das Recht herstellen. 220 J.H. Pestalozzi (1746–1827) Schweizer Reformpädagoge und Schüler Rousseaus. 221 J.J. Rousseau (1712–1778), Schweizer Philosoph und Pädagoge der Aufklärung. 222 Lat.: Sorge für die Seelen.
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Die Gemeinschaft hat innerliche Begründung nötig, und dazu ist das uns gegebene Mittel das Wort. Aber die Gemeinschaft ist vollständig, sie bezieht sich nicht auf unsern Gedankenbesitz und unsre Stimmung [allein], sondern sie eint Mensch mit Mensch. Darum kommt zum Wort das Handeln. Das ist die für die Übersicht über die hier anliegenden Probleme vielleicht dienliche Kategorie. Um die gemeinsame Überzeugung zu schaffen, ist dem Geistlichen das Wort gegeben und zwar das göttliche Wort. Die Einigung kann nicht dadurch zustande kommen, daß irgendeiner in seinem Gedankengang das Bindemittel der Gemeinschaft sucht. Das geschieht nur durch die Beugung vor dem Höheren, über allen Stehenden: duo fiunt unum in tertio.223 Durch das göttliche Wort bereitet er der Gemeinde den Gottesdienst, so entsteht der Kult. Das Christentum ist Religion, also die göttliche Liebe ist das erste, nicht Philanthropie. Aber den Kultus bereiten wir uns nicht dadurch, daß wir handelnd und gebend vor Gott treten, sondern dazu ist der Christus da, damit der gebende Gott die Grundlage unsers Gottesdienstes werde. Die Gemeinde muß zuerst hören, und das gemeinsame Hören herzustellen, ist Pflicht und Beruf des Geistlichen. Es ist falsch, das Wort Kultus lediglich auf das zu beziehen, was die Predigt umgibt: Gebet, Lied, Sakrament. Aber das erste und wesentliche Hauptstück ist, daß der Mensch sich das geben lasse, was Gottes Gnade ihm darbietet, und das unentbehrlichste Besitztum ist das Empfangen des Worts. Aber hier entstehen an der Größe des Ziels Schwierigkeiten, Fragen und Probleme in Menge. Was ist richtige Predigt, was ist Sinn und Methode der Gottesdienst schaffenden Predigt? Die eine große Frage ist: Text und Predigt. Die angegebene Definition bringt es mit sich, daß gegen die vom Text abgelöste Predigt ein starkes Bedenken zu Recht besteht. Es ist nicht unmöglich, ohne Verlesung eines Texts einen Gottesdienst zu gestalten, es gibt keine Gesetzgebung an dieser Stelle. Aber dadurch, daß der Text zur Predigt gehört, kommt zum Ausdruck, daß die Gegenwart sich 223 Lat.: Zwei werden eins im Dritten.
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auf das Wirken Jesu aufbaut und daß der Blick der Gemeinde über den Geistlichen empor gehen soll, über seine intellektuellen, religiösen Fähigkeiten. Klerikalismus und Pfaffentum wird dadurch vermieden. Wenn ein Text zur Predigt gehört, muß er ernsthaft die Predigt bestimmen und darf nicht nur Prätext sein. Wenn aber der Geistliche seinen Text zwar liest, aber dann mit einer mehr oder weniger eleganten Bewegung auf die Seite schiebt, dann wird die Predigt direkt zum Ungehorsam, zur Mißhandlung der Bibel, zur Entfernung von Jesus. Die Geltung der Bibel sinkt in unserm Volk, sagt man. Fragen wir warum? Ich wage den Satz: Die Weise, wie der Text häufig auf der Kanzel mißhandelt wird, ist an dieser Entfremdung von der Schrift wesentlich beteiligt. Soll denn der Laie sich mit der Bibel einlassen, wenn der Pfarrer sich nicht mit ihr einläßt? Die Predigt soll den Gehorsam gegen den Text zum Ausdruck bringen. Aber jetzt entstehen neue Fragen: Die Predigt soll ja die Gegenwart erreichen, sie soll uns nicht nur Geschichte deutlich machen. Wir wollen nicht eine Objektivität der Schriftlesung, die uns selbst nicht an ihr beteiligt. Der Weg muß gefunden werden vom Wort Jesu zum eigenen Wort des Pfarrers, vom Apostel, der zu seiner Gemeinde sprach, zur Gegenwart. Das Licht muß auf das fallen, was die Gemeinde innerlich bewegt. Die zweite Frage ist damit gegeben, daß der christliche Gedanke sich doppelt gruppiert: Dogmatik und Ethik. Der Glaube ist zu begründen, der Wille ist zu normieren. Beides gehört zum Gottesdienst. Wenn das eine oder andre fehlt, entsteht kein Kultus. Wenn der Geistliche die Gemeinde anschreit: »Ihr müßt glauben!«, ist der christliche Stand verlassen. Erst Gott, seine Gabe, sein Wirken, dann der Mensch, seine Pflicht, seine Sünde und ihre Überwindung, sein Dienst. Aber ebenso wenig ist der christliche Kult erreicht, wenn wir nur eine dogmatische Abhandlung bekommen, also nicht so: »Wir behandeln heute das Lehrstück von der unsichtbaren Kirche«, wie eine Predigt anfing, die ich einmal hörte. Das ist gnostischer Gedankengang. Ein christlicher Kult besteht darin, daß der Mensch Gott seinen Willen gibt: Ohne Ethik keine Predigt ! Beides ist zu verbinden: Begründung, nicht nur Gesetz, nicht nur – 189 –
Scheltrede gegenüber dem menschlichen Notstand, sondern gebendes Wort. Aber auch nicht nur Betrachtung, Meditation, Theorie, sondern Erfassung des Willens. Ein drittes Problem ergibt sich aus dem Anteil der Predigt an der Kunst, an der Benützung der Ästhetik für die Herstellung der religiösen Gemeinschaft. Auch wenn wir an den Zusammenhang mit der Antike denken, so ist doch klar aus dem Wesen der Sache, daß die Ästhetik ein höchst wertvoller Faktor für die Herstellung der Gemeinschaft ist. An jeder unästhetischen Gestaltung unsers Handelns und Redens entsteht eine Mißstimmung, die die Öffnung für das Gesagte erschwert. Mit der ästhetisch starken Form des Worts ist seine Aufnahme erleichtert. Die Kunst gehört in den Kult. Wo sie fehlt, entsteht Barbarei, und das erschwert das innere Ziel der ganzen Arbeit. Aber hier entsteht ein Problem, weil die Ästhetik immer die Neigung hat, sich zur Herrin zu machen. Das geschieht ebenso leicht beim Hören wie beim Reden. Auch der Hörer ist da, wo die Ästhetik stark heraustritt, in der Gefahr, daß er nur noch ästhetisch genießt, daß der ganze Vorgang hinabsinkt auf die Stufe eines Kunstgenusses. Hier ist wieder beständige sorgfältige Arbeit unerläßlich. Wir bedürfen notwendig noch einer andern Form des Worts. Man denkt dabei gewöhnlich an die der Kirche Entfremdeten, also [an das] missionarische Wort. Dieses Ziel ist zweifellos berechtigt. Die Kirche kann sich nie auf ihren gegebenen Stand zurückziehen. Sie hat hier offene Türen zu halten. Das Wort muß so gestaltet werden, daß es auch für die dem christlichen Gedanken Fernen faßlich wird. Hier legt die Predigt uns Schranken auf, die wir nicht beseitigen können. Wir brauchen bei der missionierenden Arbeit die Beweglichkeit der Rede, die der Gegenrede Raum gibt, wenn diese auch nur dadurch zustande kommt, daß der Standpunkt des andern entwickelt wird. Damit ist aber die Erweiterung neben der Predigt noch nicht vollständig erkannt, auch dem Gemeindeglied muß die Möglichkeit gegeben werden, zu Wort zu kommen. Die Beschränkung der Rede auf den Geistlichen allein schwächt die Gemeinschaft. Zur vollständigen Gemeinschaft gehört Rede und Gegenrede. – 190 –
Eine besondere Gestaltung hat das Wort nötig, wenn es sich an die Jugend wendet. Lange Zeit hat die Kirche diese Frage nicht ins Auge gefaßt, sondern sich ihren Nachwuchs dadurch angeeignet, daß sie die Jungen neben die Alten setzte. Wenn auch Jugendgottesdienst und Christenlehre gehalten wurden, so ist das nichts andres, als daß die Jugend nun pflichtmäßig anwesend war. Aber eine sachliche Verschiedenheit, eine innere Veränderung fand im Kultakt nicht statt. Erst im letzten Jahrhundert kamen die ersten Versuche, in denen die Frage angefaßt wurde: Wie wird der christliche Gedanke dem Kind vermittelt? Wie wird die Jugend unterrichtet? Das ergibt die Katechetik. Zum Kult gehört auch die Antwort der Gemeinde auf das an sie ergehende Wort. Wenn Gott gesprochen hat, hat der Mensch auch zu sprechen. Er gewinnt im Evangelium Vermögen und Recht zum Gebet, daher Lieder und Kirchengebet. Die Theorie wird hier nicht viel leisten können. Die Frage, die viele bewegt und ihren inneren Ernst hat, ist die nach dem Verhältnis des freien Gebets zur vorgeschriebenen Gebetsformel. Es ist leicht eine gewisse Überschätzung des freien Gebets vorhanden. Die feste Gebetsformel hat etwas Unpersönliches und Zeitloses, was zur Stimmung des Moments nicht immer glatt zusammenpaßt. Allein es darf beim öffentlichen Gebet nie vergessen werden, daß wir hier uns vor Gott zu einigen versuchen. Demgemäß treten die einzelnen Anliegen zurück. Die feststehende Formel ermöglicht darum, weil sie allen Gemeindegliedern bekannt ist, wenigstens bekannt sein soll, die Neigung zum Gebet. Daß unsre Kirchenbücher etwas belastet sind mit schwerfälliger Rhetorik, ist ja klar. Zur Einigung im Gebet bleibt das wichtigste Gebet immer das Unser-Vater. Wenn ein Kulta kt damit schließt, daß das Unser-Vater noch als Zugabe rasch heruntergesprochen wird, ist das ein sicheres Zeichen, daß die Gemeinde das nicht empfing, wessen sie bedarf. Aber die Aufgabe des Amts und das Wesen der Kirche können wir nicht nur in der Gemeinschaft des Worts begründen. Denn die Vollständigkeit der Gemeinschaft verlangt, daß wir zusammen handeln, und zwar nicht nur der Geistliche, sondern die ganze – 191 –
Kirche. Es liegt aber auf der Hand, daß damit das Ziel eine Majestät bekommt, die die größte intellektuelle Tüchtigkeit erfordert. Zum Teil hat Jesus selbst dafür gesorgt, daß in seiner Gemeinde nicht nur gesprochen, sondern gehandelt wird, dadurch daß hier ein Akt geschieht: das Sakrament. Der Inhalt des Sakraments ist kein andrer als der Inhalt des Evangeliums. Daß das Wort neben dem Sakrament ärmer oder reicher sei, kann man nicht sagen, sondern beide haben den gleichen Inhalt, tun den Willen Jesu, vollziehen die Absicht des Christus. Aber es bleibt ein bedeutsamer Unterschied, ob hier nur gesprochen und gehört wird, oder ob der schuldige Mensch zur Taufe hertritt, ob der Bekennende zum Tisch Jesu tritt, das Brot empfängt und mit der Gemeinde die Tischgemeinschaft herstellt, die uns Jesus gewährt. Da kommt auf beiden Seiten zur Verkündigung die Handlung hinzu. Hier entstehen sofort wieder ausgreifende Erwägungen: richtige Taufpraxis, richtige Abendmahlspraxis. Das Sakrament ist aber nicht der einzige Vorgang, der die Gemeinde aktiv macht. Die Sakramentsverwaltung ist ein bedeutsamer Teil des Amts, obgleich der Inhalt des Sakraments unabhängig ist von der Person. Die Handlungen Jesu bekommen durch ihn ihren Inhalt, nicht durch die Gemeinde, nicht durch den Geistlichen. Die Handlung vollzieht den Willen des Christus, der hier der versammelten Gemeinde vorhält, was er für sie geschaffen hat. Indem wir taufen, stehen wir vor der Welt als die, die Vergebung haben, ebenso beim Abendmahl. Die Handlung dabei ist nicht Opfer, sondern Sakrament. Der Christus wird im Taufakt und im Abendmahl beschrieben als der, der die Vergebung für die Menschheit erwarb. Der Opfergedanke ist damit nicht aus dem Kult ausgeschaltet und kann nicht verschwinden. Aber alle unsre Gabe, alles, was als Opfer in Betracht kommen kann, gründet sich auf das Empfangen. Das kommt dadurch zum Ausdruck, daß in der Mitte des christlichen Gottesdienstes das Sakrament steht. Dazu treten die Handlungen, die das Evangelium mit besonderen Epochen des Lebens verbinden: Begräbnis [und] Eheschließung. Beide Funktionen sind nicht Sakramente, sind aber auch nicht nur – 192 –
Gelegenheiten zur Lehrtätigkeit. Die Eheschließung wird mißverstanden, wenn sie nur als Anlaß, eine Predigt zu verfassen, benützt wird. Ebenso ist auch ein Grab nicht der geeignete Ort, um ein Kolleg zu halten, einen theologischen Unterricht zu erteilen. Das Vorhandensein des christlichen Erkenntnisbesitzes bedingt natürlich die christliche Ethik und Praxis. Wir können gegenüber dem Tod nicht das Leben bejahen, wenn wir Gottes nicht gewiß sind. [Ähnliches gilt für die Eheschließung.] Sonst gibt es bei der Eheordnung wilde Erotik und die kirchliche Eheordnung ist sonst eine unerträgliche Last. Aber es wird hier, weil die Gemeinde handelt, auch ein aktiver Zweckgedanke sichtbar in der Funktion des Geistlichen: Er steht hier als der Segnende. Es ist von Bedeutung, daß dieser Begriff in der Kirche lebendig bleibt, was es heißt: bērek běrākâ.224 Die göttliche Gnade in ihrer für uns vorhandenen Wirklichkeit wird hier bezeugt. Das ist mehr als Theorie, das ist mit dem gegebenen Maß sich verknüpfender Wille. Meine Herren, es ist eine große Sache, immer wieder vor der sterbenden Schar zu stehen als der, der vom Leben spricht, und immer wieder vor der egoistischen Schar zu stehen, die nur wilde Erotik kennt, auch in der Ehe, als Zeuge der Liebe. Am meisten Schwierigkeit macht die Konfirmation. Sie ist nicht christlich zu gestalten, solange es undeutlich bleibt, was sie ist. Wir haben das Recht und die Pflicht zu segnen d. h. die Gottesgnade als die unser Leben gestaltende Macht zu bezeugen. Dann wird dem Geistlichen der Übertritt der Jugend in die selbständige Lebensgestaltung Anlaß geben, den er zur Feier gern benützt, und zwar zu der Feier, die über die kommende Lebensgeschichte die göttliche Gnade stellt. Die Konfirmation wird schwierig, wenn sie zum Glaubensexamen wird, zum Bekenntnismoment. Sie ist haltbar, wenn die Segnung begründet wird auf die mit dem Christus für uns wirksam gewordene Gnade. Neben diesen Handlungen, wo Geistliche und Gemeinde lediglich die Empfangenden sind, bedürfen wir notwendig auch der gemeinsamen Arbeit, und Sinn und Zweck des Amts bleibt verkürzt, 224 Hebr.: Segnen, Segensspruch.
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wenn nicht diese Seite der kirchlichen Arbeit herausgearbeitet wird. Hier entstehen noch unbebaute, noch gar nicht ernsthaft berührte Arbeitszweige. Wenn wir fragen, was die Kirche neben der Bewahrung des Worts und neben dem Sakrament getan hat, so hat sie eines getan: Sie war immer barmherzig. Besonders hat sie sich um die Gefährdeten bemüht, die irgendwie durch die ungünstige Wendung ihrer Lebensgeschichte verletzt waren: Almosen [waren] von jeher ihr eifrig betriebenes Geschäft! »Sorgt für die sexuell Gefährdeten, rettet die Dirnen, so gut es geht, sorgt für die Erkrankten!« Hier ist zweifellos eine von der Kirche nie zu versäumende Arbeit begonnen worden. Wir haben sie in allen Generationen der Kirche. Allein, wir stehen hier vor einer großen Frage. Das hier wirksame Motiv ist die Barmherzigkeit, das Mitgefühl mit den Leidenden. Die Handlung wird hervorgerufen durch den Druck der Not. Wenn die Gefährdung des Lebens in Sicht ist, dann entsteht der Versuch zur Hilfeleistung. Aber ist das wirklich das einzige Motiv, das die Christenheit arbeitsam macht? Kommen wir hier nicht doch immer mit unsrer Tätigkeit zu spät, erst dann wenn die Verletzung des Lebens schon geschehen ist? Es liegt mir daran, daß ja keine Geringschätzung auf die Barmherzigkeit fällt. Der Titel »innere Mission« für diese Arbeit ist unglücklich. Für die Kirche soll hier kein Profit erwachsen, diese Arbeiten sind ihrer selbst wegen Christentum. Aber wo bleibt die gesunde Jugend? Wenn sie erotisch verderben will, interessiert sich der Geistliche für sie. Wo bleiben unsre gesunden Männer? Wenn sie krank sind oder sterben, erscheint der Geistliche. Aber wo bleiben unsre ethisch Normalen, hat die Kirche ihnen keine Dienstleistung zuzuweisen? Diese Fragen sind unbeantwortet, auch durch Luther. Daran hängt zum großen Teil das schwere Schicksal unsers Volkes. Luther hat mir herrlicher Stärke barmherzig gedacht. Er hat keinen faulen Glauben gehabt, sondern hat in klassischer Deutlichkeit erlebt, daß mit dem Entstehen des Glaubens die Liebe da ist. Aber er wird aktiv, wenn die Not zwingt. Er steht damit in der alten Ethik. Seine Leute sind unfähig, mit der Bibel etwas anzufangen, demgemäß [sollen] Schulen, Volksschulen, Gymnasien [entstehen]. [Dann – 194 –
aber] Schluß, Schluß! Es waren andre, die merkten, daß die Jugend Gegenstand einer ernsthaften Arbeit ist. Ähnlich im Verhältnis zum Volkstum: Wenn der Türke kommt und Wien anzündet, eventuell auch in letzter Not, wenn der Papst seine bewaffneten Gewaltmittel auf die Evangelischen hetzt, dann Widerstand, dann kann der Kriegsmann auch in seligem Stand sterben,225 aber sonst, sonst [gilt] Geduld, Leiden, Geduld, Leiden. Die Reformation hat nicht vor der Entartung unsrer Regierenden in schlimmster Gestalt geschützt. Das gilt auch für die Verwaltung des Eigentums: nicht stehlen, nicht wuchern! Aber damit habe ich noch keine Anleitung zum Erwerb, darum haben wir keine evangelische Nationalökonomie bekommen. Die Kirche soll barmherzig bleiben, aber das ist nicht der [einzige] Sinn des Amts, nicht der [einzige] Zweck, weshalb wir als Christen beieinander sind. Da wir hier vor zukünftigen Gedanken stehen, vor künftigen wissenschaftlichen Erträgen, bin ich zur Kürze verpflichtet und verzichte grundsätzlich auf Katheder-Autorität, aber ich sage Ihnen noch kurz meine Meinung: Zunächst ist die Gemeinschaft an zentraler Stelle zu erstreben. Die innerlich auf Gott gerichtete Funktion ist aus der Vereinsamung [zu lösen und] für die Gemeinschaft zu tun [d. h. auf die Gemeinschaft auszurichten]. Dabei können wir unmöglich Uniformität anstreben, können nicht alle in die gleichen Verbände bringen. Das ist durch die Lage unsers Volkes und durch das Grundgesetz des göttlichen Regiments »Gnade« ausgeschlossen. Denn damit wendet sich die göttliche Gabe an den Einzelnen. Wir können nicht darauf rechnen, daß wir gegenseitiges Verständnis, gegenseitige Gebetsgemeinschaft, sittliche Hilfeleistung über einen großen Kreis mit gleichartiger Regung des religiösen Verhaltens herstellen. Also [ist] Gruppenbildung [unvermeidlich]. Dem Amt bleibt die Aufgabe, daß es diese Sondergruppen beieinander hält und nicht zur Sekte werden läßt, die dann entsteht, wenn jede 225 Anspielung auf Luthers Schrift »Ob Kriegsleute auch im seligem Stand sein können« (1526).
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Gruppe sich als die bezeichnet, die allein der Wahrheit die Stätte bereitet. Mit der öffentlichen Bezeugung des Evangeliums soll der Geistliche über die Gruppen hinweg die Gemeinschaft herstellen. Diese Einigung wird nicht dadurch anzustreben sein, daß der Geistliche überall dabei ist. Diese Neigung, das Amt mit einem Monopol auszustatten, stammt aus der Antike, ist Übertragung des staatlichen Amtsbegriffs auf das religiöse Amt, ist Verpolitisierung des Amts. Im staatlichen Amtsbetrieb ist selbstverständlich [z. B.] die Funktion eines »Gemeindeeinziehers«226 nicht durch irgend einen andern zu verwalten, hier sind die Kompetenzen gegeneinander abgegrenzt. Aber das ist dann, wenn neutestamentliches Wort in der Gemeinde lebt, hinter uns. Im geistlichen Gebiet existiert keine derartige durch Rechtssatz abzugrenzende Differenzierung. Der Geistliche soll nicht alles machen, wohl aber hat er – dazu hilft ihm die akademische Bildung – Beobachtungsfähigkeit, das Vermögen zum Verstehen, den historischen Blick nicht nur für eine Erscheinung im öffentlichen Leben, sondern für den Reichtum dessen, was uns gegeben ist. Er soll imstande sein, Mystisches und Rationales, Antikes und Modernes in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und ihrem religiösen Wert zu würdigen. Er hat durch seinen Anteil am Evangelium Pflicht und Vermögen, dem egoistischen Verhalten des Willens zu widerstehen und die Einheit der Gemeinde im Wort und Sakrament zu repräsentieren. Aber ich habe jetzt lebhaft den Eindruck, daß ich mit diesem Zukunftsideal, d. h. mit dieser Utopia, die Kompetenz eines akademischen Lehrers bereits überschritten habe. Fest steht der andre Satz, daß wir die Rechtsbildung abzulösen haben von ihrer Angleichung an die staatliche Überlieferung. Durch die bisherige Geschichte ist gegeben, daß das Kirchenrecht Bestandteil des öffentlichen Rechts wurde. Aus dem gegebenen Rechtsbe226 Laut Archivar Stefan Gemperli (Staatsarchiv St. Gallen) ein heute nicht mehr gebräuchlicher schweizerisch-alemannischer Ausdruck wahrscheinlich für die Person, die für die kommunalen Finanzen zuständig war. Entspricht dem heutigen Finanzverwalter.
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stand wird lediglich durch das berühmte juristische Denken, das eine besondere Art des Denkens sein soll, aus dem Kirchenrecht neues Recht entwickelt. Das läßt sich auf die Kirche nicht ohne schwere Verletzung ihrer Kraft und Arbeit übertragen. Wir brauchen feststehende Normen, nicht nur Sitte, sondern auch Recht, und die Regierung der Kirche ist hier unentbehrlich. Wir dürfen uns auch nicht vor dem Zwang fürchten. Wir ziehen aus dem Bereich der Sitte die Regeln, die nicht verletzt werden dürfen, dadurch aus, daß wir sie mit dem Zwang belegen. Worin liegt der Unterschied? Das natürliche Recht hat wegen des Zusammenhangs, in dem unsre natürliche Gemeinschaft mit der Natur steht, die Gewalt vor sich als die Quelle, aus der das Recht stammt. Alle unsre Eigentumsverhältnisse, alle unsre staatlichen Grenzen gehen in letzter Instanz auf kräftige Gewaltübung zurück. Das kann der Staat, da er mit der natürlichen Gemeinschaft zu rechnen hat, nicht anders einrichten. Er wächst aus der Gewaltübung heraus.227 Aber die Gemeinschaft, die wir jetzt anstreben, für die wir das geistliche Amt schaffen, beruht auf vollständig freier Einigung. Da kann das Recht nicht nur aus Gewalt geboren werden, sondern es entsteht durch Verständigung, durch Einigung. Das ist auch wieder ein über unsre gegenwärtigen Verhältnisse weit 227 Der hier von Schlatter besonders stark hervorgehobene Aspekt des Zusammenhangs von Recht und Staat mit der Gewalt muß ergänzt werden durch den in seinen publizierten Werken betonten Zusammenhang von Recht und Staat mit Gerechtigkeit und Liebe: In seiner Ethik macht Schlatter deutlich, daß Gerechtigkeit und Liebe das sittliche Fundament von Recht und Staat sind, während die Natur als Schöpfung Gottes seine ontologische Basis darstellt, aus der dann beim Rechtsbruch die Zwangsgewalt des Staates entsteht, ohne die – jedenfalls unter den Bedingungen des Sündenfalls – das Recht (und damit auch die sozial erforderliche Gerechtigkeit und Liebe!) nicht durchsetzbar sind. Vgl. dazu: Die christliche Ethik, aaO [s. o. Anm. 38], 136f. Ähnlich betont er in seiner Dogmatik, daß nicht der Zwang, sondern die »materielle Richtigkeit« (d. h. die Übereinstimmung mit den ethischen Normen von Recht und Gerechtigkeit) das Recht begründet (Das christliche Dogma, aaO [s. o. Anm. 30], 64).
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hinausreichender Zielgedanke. Wir können in der Kirche nicht nur mit Majoritäten wirtschaften, auch nicht nur mit einer oberen Behörde, sondern müssen kirchliches Recht und kirchliche Regierung dadurch zustande bringen, daß wir uns gegenseitig einigen. Daraus entsteht die Rechtsbildung der Zukunft. Das staatliche Recht hat unvermeidlich die Neigung, möglichst lange zu dauern, möglichst stabil zu sein. Was schleppen wir nicht von römischen Rechtssatzungen seit Generationen weiter! Diese Starrheit des Rechts entfernt aber die Leistungen der Gemeinde von dem durch die Lage ihr gegebenen Bedürfnis. Es steht unfähig vor dem, was die Zeit fordert. Wir haben das in den letzten Jahren erlebt, meine Herren, ein frappantes Beispiel, wie mit der Starrheit des Rechts, mit der Unfähigkeit, es an die Situation anzupassen, nationales Unglück in großem Stil passiert. Wir haben im kirchlichen Leben Ähnliches erlebt, und es wird die Aufgabe sein, Rechtsbildung zu erreichen, die der Geschichte parallel läuft, nicht ihr vorangeht – die Versuche Ideale zwangsweise zu realisieren, sind nicht ratsam – ihr aber auch nicht in weiter Distanz nachhinkt. Das bedeutet zu allererst für den Stand der Geistlichen, daß sie unter sich ernsthaft die Verständigung anstreben. Der Zustand, daß jeder in seinem Pfarrhaus sitzt und sich um niemand kümmert, ist krank. Im Pfarrstand selbst sollen einheitliche Ziele und Maßstäbe für die Arbeit herauswachsen. Noch ein paar Worte über das Schwierigste: Wir stehen auch vor der natürlichen Aufgabe unsers Volkes, vor dem Eigentum, vor der staatlichen Ordnung, vor der Politik, vor den die Erkenntnis schaffenden Arbeiten der Schule, vor dem, was dem ästhetischen Bedürfnis die Füllung verschafft usw. Kirchliche Wirtschaft, kirchliche Politik, kirchliche Wissenschaft, kirchliche Kunst. Mit jeder dieser Formeln ist ein Problem angesprochen, das noch in nebelhaftes Zukunftsdunkel hineinragt. Die Kirche kann sich unmöglich nur auf die im engeren Sinn gottesdienstliche Arbeit beschränken. Das ist auch Auflehnung gegen klare deutliche Worte Jesu, wenn wir das natürliche Interesse des Menschen aus unsern christlichen Arbeitszielen auslöschen. Wir stehen mit unserm ganzen geistigen Leben immer in Abhängigkeit von diesen natürlichen Prozessen. Die Kirche kann – 198 –
nicht arbeiten, wenn sie kein Geld hat. Sie hat also die Pflicht und Schuldigkeit, reich zu sein. Die Kirche braucht notwendig positive Beziehungen zum Staat, sie kann ja ohne die vom Staat hergestellte Rechtsordnung gar nicht existieren. Sie braucht beständig die vom Staat uns gewährten Werte. Sie soll aber nicht nur brauchen, schmarotzen, sondern soll diese Werte auch selbst herstellen. Ebenso wenig können wir für die höchsten Funktionen, die wir noch als natürlich bezeichnen dürfen, nämlich für Intellekt und Kunst und für [die] Kultur, gleichgültig bleiben. Denn sie sind uns genauso unentbehrlich wie die jenseits der Kirche stehende Menschheit und leisten uns für unsre Arbeit fortwährend unersetzliche Dienste. Aber es wird von größter Bedeutung sein, daß bei dieser Beteiligung an den natürlichen Funktionen, die wir unsrer Christenheit zur Pflicht machen müssen, die Regel Jesu unverletzt bleibt, daß Gott über die Natur, das Ewige über das Vergängliche, das Sittliche über das Lustvolle, der Geist über die Natur energisch empor gehoben wird. Es wird darum nie eine Erwerbslehre, eine Politik der Kirche, Kunst und Wissenschaft geben, die als Selbstzweck in sich abgeschlossen ist, sondern es wird immer die positive energische Durchführung des Gedankens angestrebt werden müssen: All das [ist] nur Arbeitsrüstung, nur Vorwerk! Damit ist der Konflikt unvermeidlich, indem an diese Vorgänge der höchste Leisten angelegt wird: Wie christliche Wirtschaft wirklich erreicht wird, wie wir zu einer Politik kommen, die christlich ist, zu einer Beeinflussung der Staatsleitung durch unsre evangelische Christenheit,228 – eine katholische Politik gibt es schon lange – wie wir zu einer Kunst kommen, die wir christ228 Schlatter hat bald darauf [1926] öffentlich den Christlich-sozialen Volksdienst unterstützt, dessen politisches Programm im Vergleich mit den übrigen Parteien der Weimarer Republik seiner Vorstellung einer christlich-sozialen und demokratischen Politik am besten entsprach. Vgl. dazu Neuer, aaO [s. o. Anm. 1], 675–687. Der Christliche-Soziale Volksdienst war zusammen mit der Deutschen Zentrumspartei ein Vorläufer der nach 1945 gegründeten ChristlichDemokratischen Partei Deutschlands (CDU).
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lich und evangelisch heißen können. Das sind Vorgänge, die der Theorie sich entziehen, weil die Theorie dem Erlebten immer erst nachkommt. Hier stehen wir noch vor Unüberlegtem, unbearbeiteten Arbeitsmöglichkeiten in Menge. Und erst, wenn wir der Kirche die Arbeitsgelegenheit bereitet haben, wird auch ihr missionierendes Wort Kraft haben. Noch eine besondere Sorge und Hoffnung schließt sich an dieser Stelle an den Verkehr mit der Jugend an. Wir haben ihr das Wort zu geben. Aber mit Schul- und Religionsunterricht ist der Jugend nicht das gewährt, was sie nötig hat. Also auch hier [ist] Gruppenbildung und Herstellung der Gemeinschaft [notwendig]. Unsre jugendlichen Verbände herzustellen und zweckmäßig zu leiten ist eine der dringendsten Aufgaben der Gegenwart. Ich schließe hier mit einem Satz, der doch noch näher bei der Wirklichkeit steht: Ich glaube, wir haben doch in unsrer gemeinsamen Betrachtung den Eindruck gewonnen: Die Arbeit lohnt sich und zwar nicht nur während der Semester. Machen Sie aus Ihrem theologischen Leben eine ununterbrochene Wanderung hinüber in das Gebiet der Erkenntnis Gottes, die wir nicht durch Träumen und Phantasieren gewinnen, sondern in der Wahrnehmung seiner Werke.229 Und die Wahrnehmung seiner Werke ist uns dazu gegeben, daß wir handeln und die Seligkeit des Arbeitens kosten. Das wünsche ich Ihnen reichlich!
229 Wahrnehmung der Werke Gottes ist nach Schlatters Verständnis die zentrale Aufgabe der christlichen Theologie, der er sich selbst spätestens seit Beginn seiner Lehrtätigkeit in Bern verpflichtet sah und die er schon in seiner Habilitationsvorlesung am 6. Mai 1881 eindrucksvoll und programmatisch vorgetragen hatte: Vgl. dazu Neuer, aaO [s. o. Anm. 1], 166–168.
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Erfolg und Misserfolg im theologischen Studium Eine Rede an die evangelisch-theologische Fachschaft in Tübingen230 |Kommilitonen! Ich darf wohl mit der Andeutung beginnen, daß diese Anrede eine starke, dankbare Freude verbirgt. Obwohl ich vor 60 Jahren im Frühling 1871 Student der Theologie geworden bin, ist eine Anrede, die mich in eure zur theologischen Arbeit berufene Schar hineinstellt, auch heute noch für mich nicht eine Phrase, nicht nur eine Erinnerung an Vergangenes. Das ist Grund zur Freude. Wenn aber theologische Arbeit nicht anders als froh und dankbar betrieben werden kann, woher rührt dann die Spaltung unseres Themas, das nicht nur den Erfolg, sondern auch den Mißerfolg des Studiums erwägt? Will ich euch eine ängstliche, großväterliche Pädagogik aufnötigen, die für die Bewegungen des jugendlichen Intellekts ein Schema bereithält, in das sie ihn hineinzwingen möchte? Freilich, das sage ich aus schmerzlicher Erfahrung: Ein weiser Berater ist jedem Jungen zu wünschen, ebenso auch jedem Alten, der Hand an die theologische Arbeit legt. Oft kommt es zu vergeblicher Arbeit und zu zwecklos bedrucktem Papier, weil sich der Denker in seine Einsamkeit einkapselt. Also, Studenten, seid nicht zu stolz, um euch raten zu lassen. Der Mut zur Frage schändet niemand; nur ein degenerierter Ehrtrieb schämt sich zu fragen. Daß aber Sprünge die geistige Bewegung manches Studenten kennzeichnen, ist nicht nur ein Unglück. Denn negative Erkenntnisse sind auch Erkenntnisse. Oder steckt hinter der Spaltung des Themas eine Klage über unsere theologische Lage, die sie als schwierig, verworren und ge230 Zu den bisherigen Fundorten der zweimal publizierten Rede s. o. Anm. 17.
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fährlich beklagt? Ernst ist die Lage offenkundig, spannend, ein Aufruf zur Sammlung unserer ganzen Kraft. Wenn die Russen gegenwärtig versuchen, einen völlig religionslosen Staat zu konstruieren, in dem es für Theologen keinen Raum mehr gibt, so ist das nicht nur ein lokaler Vorgang. Sie sprechen in Moskau nur nach, | was zuerst bei uns in Deutschland gesagt worden ist. War aber die Theologie jemals eine Tändelei? War | sie je nur Spiel? Wann entstand die Theologie als Wissenschaft? Im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr., als Israel mit dem überlegenen Griechentum rang. Wo ist die Heimat unserer Theologie, der reformatorischen, der paulinischen? Ihre Heimat ist Golgatha. Wir wären nicht mehr Theologen, wenn wir über unsere Lage jammerten. Alles liegt daran, daß wir sie klar erfassen, alles aber auch daran, daß wir mit unerschütterlicher Ruhe bei unserer Arbeit ausharren. Wenn wir in Angst versinken und zu jammern beginnen, taugen wir nichts mehr. Denn der Theologe widerlegt sich selbst, wenn er über die geistige Lage jammert, in die er hineingesetzt ist. Solches Klagen ist ihm verboten, weil es sich unvermeidlich in einen murrenden Widerspruch gegen den verwandelt, der uns unsere geistige Lage bereitet hat. Sofort entsteht daraus eine Anklage gegen den angeblich »verborgenen Gott«. Denn Offenbarung und Theologie sind Parallelen und gehen Hand in Hand. Wer in die theologische Werkstatt tritt, betrete sie nicht als ein kleiner Prometheus, der Gott ein neues, deutlicheres Wort abtrotzen will, nicht als Sturmtrupp im Kostüm eines jungen Luthers oder jungen Melanchthons, sondern froh und dankbar mit dem entschlossenen Willen, sich anzueignen, was uns gegeben ist. Dieser Entschluß darf sich mit starkem Verlangen des Worts bemächtigen: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Aber dieser Griff nach den himmlischen Mächten wird verfälscht, wenn er etwas anderes begehrt, als zu sehen, was uns gezeigt worden ist, und zu empfangen, was uns gegeben ist. Das zeigt uns aber jeder Blick auf die Lage, daß wir beides erwägen müssen. Erfolg und Mißerfolg. Wir alle verspüren im Rückblick auf unsere Studien mancherlei Regungen des Bedauerns, und über diesen kleinen, persönlichen Erlebnissen steht der Spruch der – 202 –
Geschichte, der mit unbestreitbarer Deutlichkeit feststellt, daß die Kirche und damit die Völker durch ihre Theologie nicht nur gestärkt, sondern auch schwer belastet worden sind. | Muß ich nun Bußprediger werden? Werde ich meinem Thema nur dann gerecht, wenn ich von der Trägheit, Dummheit, Sündlichkeit und Gottverlassenheit der Theologen rede? Wenn wir beginnen, das menschliche Elend zu studieren, das an den theologischen Fakultäten ebenso sichtbar ist als an unserer Wirtschaft und an unserem Staat, dann findet dieses Studium kein Ende. So erfassen wir aber niemals den primären, den grundlegenden Vorgang. Es ist nicht das wesentliche und wirksame Merkmal der theologischen Fakultäten, daß sie faul, dumm und gottlos sind. Sie sind das auch, wie alle Menschen; aber | sie sind nicht einzig dies, sondern sie sind zuerst das, was aus dem Reichtum Gottes zu ihrem Besitz geworden ist. Woran messen wir den Erfolg? Das theologische Studium hat, wie jeder wissenschaftliche Vorgang, seinen Zweck in sich selbst und bekommt ihn nicht erst durch seine spätere Brauchbarkeit. An seinem eigenen Ziel entscheidet sich, ob das Studium gelingt oder mißlingt. Zwar hat die Brauchbarkeit unserer Vorstellungen zur Bildung unseres Willens und zur Ordnung unseres Handelns auch für die Bewegung unseres Denkens ernsthafte Wichtigkeit, und der Theologe kann am wenigsten unter allen wissenschaftlichen Arbeiten darauf verzichten, den Erfolg seines Studiums durch die Brauchbarkeit seines Wissens zu erweisen. Das lenkt den Blick auf jene Ziele, an die wir mit heißem Verlangen denken, sowie wir aus unserer Werkstatt hinaus auf die Arbeit sehen, die die Kirche im völkischen Leben auszurichten hat, auf ein gelingendes Amt, eine weit ausgreifende Wirksamkeit, sieghafte Macht gegenüber den antichristlichen Unternehmungen, Einfluß auf die philosophische Bewegung, auf die Gestaltung des Staats usw. Es entsteht aber eine für das Studium gefährliche Verschiebung des Zwecks, wenn sein Erfolg nur in diese Vorgänge hinübergelegt wird. Vor der Verpflichtung zum Handeln steht für den Theologen die Verpflichtung zum Denken, die Wertung der Erkenntnis als eines unbedingt zu – 203 –
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begehrenden Zwecks. Wir Theologen sind die letzten, die vor der Skepsis weichen dürfen. So lange wir Theologen sind, se|hen wir im Erkennen einen Vorgang, der göttlichen Grund und göttliche Verheißung und darum unbedingte Notwendigkeit hat. Deshalb ist auch das Verhältnis der Studien zum Amt jetzt nicht mein Thema. Die einander folgenden Generationen zeigen an dieser Stelle große Verschiedenheit. Für die Generation, zu der ich gehöre, begleitete der Gedanke an das kommende Amt die Studienzeit nur wie ein dunkler Schatten. Nach praktischer Theologie begehrten wir nicht; wir vermuteten, sie heiße so, weil sie unpraktisch sei. Heute begehrt die Jugend eifrig nach Schulung für die Pflichten des Amts. Die Studienjahre bleiben ein Mißerfolg, wenn sich der Kandidat beim Eintritt in das Amt in ein Vakuum versetzt sieht, in dem er sich nicht zu helfen weiß. Aber auch dann ist der Erfolg der Studien gefährdet, wenn sich der Student schon wie ein halber Kleriker aufführt. Das evangelische Amt verkündet unsrem Volk die Vergebung der Sünden im Namen des Christus. Das erinnert den Studenten beständig daran, daß der Weg, den er betreten hat, ihn auf eine erhabene Höhe führt. Das bleibt aber für ihn | noch der morgende Tag, den er dadurch gewinnen muß, daß er ganz im heutigen Tage lebt, und dieser verlangt von ihm das Studium. In beiden Fällen geht uns der kommende Tag verloren, sowohl wenn wir den heutigen Tag verachten, weil er noch nicht der kommende ist, als wenn wir so im Heute leben, als käme nicht mit eilendem Schritt der morgende Tag aus ihm heraus. Theologie! Kann denn, wenn wir die Größe des Berufs, mit dem jeder theologische Arbeiter, sei er Anfänger oder Veteran, begnadet ist, bedenken, darüber ein Zweifel entstehen, daß uns Erfolg und Mißerfolg beschieden sind? An jeder hochragenden Felswand kann man stürzen. Jedes große Ziel erweist seine Größe auch dadurch, daß man es verfehlen kann. »Erkenne an deinem Mißlingen die Größe deines Ziels«, das ist mein Trost im Rückblick auf meine theologischen Unglücksfälle, mein Trost für die, die stöhnend durch die Semester wandern und die Hochschule bedrückt verlassen, meine Antwort an die, die uns vorhalten: Wie oft ward ihr – 204 –
nicht zur Stelle, wenn nationale Gefahren euch riefen! Augustin schrieb am | Schluß seiner Arbeit Retraktationen. Jeder Theologe kann solche schreiben, und die Beobachtung, daß Verkehrtes öfter zitiert wird als das Richtige, kann den Wunsch stärken: Rotte die Irrtümer, die du ausgesät hast, aus. Es verbindet sich aber damit leicht eine Überhebung, die unseren Beruf überschätzt. Daß Augustin so handelte, ergab sich aus seiner hierarchischen Lehre von der Kirche und ihrem Amt. Dem evangelischen Theologen ist dagegen vom Anfang seiner Arbeit an bis zu ihrem Ende die Bereitschaft zum Mißerfolg gegeben. Er hat den Verzicht auf Unfehlbarkeit ehrlich und beharrlich vollzogen. Nun erschallt freilich die Einrede: »Dieser Verzicht ist Verrat am Volk und an der Kirche. Wer ist Führer? Nur der, der den Mut hat, unbedingte Autorität zu sein; ihr verzichtet auf die Führerschaft.« Man wird aber nicht dadurch Führer, daß man sich an Gottes Stelle setzt und den Raub an Gott begeht, dem einen Unfehlbaren. Ich mahne jeden Studenten, daß er am evangelischen Verzicht auf Unfehlbarkeit in jeder Lage festhalte, sich selbst gegenüber und gegenüber jedem Lehrer, jedem Buch, jeder Schule, jeder Partei. Den Unfehlbaren findet nur der, der das unermeßlich Große, das uns anvertraut ist, mit dem Minimum identifiziert, das in unser Sehfeld hineingelangt ist. Dieser Verzicht hat eine höchst heilsame Wirkung. Weil die Theologie immer unfertig bleibt, kann das Studium nicht enden, wenn es einmal begonnen hat. Einen breiten Raum im Leben kann es nur selten bekommen; aber | bei allen, die es erfolgreich begannen, setzt es sich durch ihre ganze Lebensarbeit hindurch fort und verbindet sich völlig mit ihr. Wird eingewandt: »Dann studieren nur sehr wenige erfolgreich«, so ist zu sagen: Seien es viele, seien es wenige, was gehen uns die anderen an, wir laufen nach dem Ziel. Größe hat unser Beruf; was ist mit dieser aus dem Raum geschöpften Vorstellung gemeint, wenn sie auf den geistigen Vorgang übertragen wird? Der Stoff, der auf unsere Arbeit wartet, ist eine unzählbare Vielheit, eine unerschöpfliche Fülle, und diese Vielheit ruft uns zu: Einige mich; ich bin das Werk des Einen; du hast | – 205 –
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mich erkannt, wenn ich ein Ganzes geworden bin. Was geschah, als im fernen Ägypten die mathematische Phantasie erwachte und den Raum zu beherrschen lernte, als in Jerusalem die Weisen den heiligen Kanon schrieben, als Jesus Gott zu Lob und Ehren das Kreuz trug, als Augustin der Kirche sagte: »Du bist Gottes Stadt!«, als Luther alles menschliche Wollen als sündlich richtete und aus der Hand Jesu die Vergebung der Sünden empfing, als Spinoza 231 im Anblick der Natur Willen und Tat verlor und sich entschloß, eine Denkmaschine zu sein usw. usw., das ist alles eine Geschichte, unsere Geschichte. Darum, weil sich uns Unzählbares und Unerschöpfliches dazu zeigt, damit wir darin die Einheit und Ganzheit erkennen, naht sich uns der Mißerfolg in doppelter Gestalt. Geht uns die Einheit verloren, so entsteht ein zersplittertes Trümmerfeld, ein Haufen von Notizen. Geht uns die Fülle verloren, so entsteht die ausgeleerte Abstraktion, die klappernde Formel, der inhaltlose Begriff. Was bieten wir unserem Volk an? Was sollen unsere Studenten mit sich nehmen? Ein theologisches Konversationslexikon? Das wäre nicht der gewünschte Erfolg. Ein vielleicht fein gewobenes Geflecht von Formeln? Auch damit wäre das Ziel nicht erreicht. Nun fährt aber unser Ziel in eine entlegene Höhe hinauf. Wie werden wir den verwirrenden Reichtum meistern, der uns sichtbar wird, sowie wir die Türe zur theologischen Werkstatt öffnen? Ich forme drei Synthesen: durch Historie zur Theologie, folgerichtig durch Gelehrsamkeit zur Erkenntnis, folgerichtig durch das Dichten hindurch zur Wahrheit. Wer eint diese Synthesen? Mich dünkt, der wäre ein Meister, der sie eint. Von Luther und Calvin her hatte unsere Kirche eine ernsthafte Theologie, aber weder in der Auslegung der Schrift noch in der Betrachtung der Kirche Geschichte. Der Mißerfolg war deutlich. Die Predigt verarmte, und die Kirche blieb unsichtbar und stand abseits neben dem völkischen Leben. Paris wurde stärker als Wit|tenberg und Genf, Voltaire mächtiger als die Theologen. Jetzt haben wir eine reich 231 Zu Spinozas zeitweiligem Einfluß auf Schlatters Denken vgl. Neuer, Adolf Schlatter, aaO (s. o. Anm. 1), 59.
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ausgebildete Geschichtswissenschaft, oft aber | ohne Theologie, eine Geschichte, die mit Skepsis endet. Der Mißerfolg ist wieder sichtbar. Die geschichtlich gedeutete Bibel verliert die Autorität und die Leser, und die geschichtlich verstandene Kirche sieht wie eine Ruine aus, ein Tummelplatz für Kinder und ein Wallfahrtsort für Greise. Durch Geschichte Theologie, durch Theologie Geschichte, hier winkt der Erfolg. Geschichte, das bedeutet Sprachkunde. Manchen Jungen, den ein christlicher Besitz und religiöser Wille zum Eintritt in unsere Fakultät bewog, überfiel, wenn er darin war, ein quälendes Erstaunen: »Ich suchte Theologie und fand sie nicht. Jeder Hörsaal war von der Geschichtswissenschaft belegt, und vor ihm stand als strenge Hüterin der Pforte mit rasselndem Schlüsselbund die Philologie, beladen mit drei oder vier Grammatiken und ebensovielen Lexika, und ihr Geschenk waren drei Sprachexamina. Theologie, wo bist du?« Derselbe Eindruck, daß die Theologie nur mit großen Schwierigkeiten aufzufinden sei, beherrscht unser ganzes Volk, auch seinen christlichen Teil. Jedermann hält sie für eine geheime Wissenschaft, vor der man sich hüten muß. Warum? Man kann sie nicht verstehen. Warum nicht? Sie spricht mit fremden Zungen. Wer die heilige Sprache nicht kann, bleibe bescheiden ein »Laie«. So befahlen es schon die Weisen Jerusalems. Wir stehen immer noch vor der Not, die schon Jerusalem lähmte; sie muß überwunden werden. Wir dürfen nicht mehr wie einst unsere Ahnen dazu Griechisch und Hebräisch lernen, um das Deutsche zu verlernen. Wir müssen Deutsch zu unserem Volke sprechen, und alles liegt daran, daß das kommende Geschlecht der Theologen noch deutlicher Deutsch reden könne als wir Alten. Aber durch die Frage nach der Fruchtbarkeit der Theologie für das Volkstum wird ihre Verbundenheit mit der Philologie nicht berührt, und das philologische Können ist heute wie immer eine unersetzbare Bedingung des theologischen Erfolgs. Warum? Wie hat Gott den Menschen mit dem Menschen verbunden? Durch das Wort kommt der Mensch zum Menschen; durch das Wort werden die Fernen die Nahen und die Abgerufenen die Gegenwärtigen. Verschwinden | muß jener Riß durch die Kir– 207 –
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che, den die Kenntnis der alten Sprachen deshalb schuf, weil sie einen vornehmen Klerus über ein unmündiges »Volk« (Laien) stellte, und von der Kinderei der Humanisten, die auf ihre lateinischen Perioden und ihre Hexameter stolz waren, ist nicht die Rede, wenn die Philologie an unserer Fakultät Hei|matrecht besitzt. Aber davon ist die Rede, daß wir in der Christenheit in Gemeinschaft mit Israel stehen und darum Hebräisch lernen, und davon, daß unser Glaube, unsere Buße, unser Gottesdienst im Anschluß an Jesus bestehen, weshalb wir Griechisch lernen, und davon, daß wir mit der ganzen Kirche, auch mit der anderer Zeiten und Völker, im Austausch des Gebens und Empfangens stehen, weshalb wir Englisch, Lateinisch, Italienisch lernen. Indem wir hören, lesen, sprechen lernen, treten wir in die menschliche Gemeinschaft hinein, und dorthin gehört jeder, der Theologe sein will. Wo wollten wir Gott finden, wenn er uns nicht innerhalb der menschlichen Gemeinschaft sein Wirken zeigt? Es gibt aber keinen anderen Schlüssel zur Gemeinschaft und zur Geschichte als das Wort. Ohne das Wort ist auch unsere eigene Geschichte, das, was sich in uns selber regt und formt, nicht für uns vorhanden. Denn Erlebnis wird dies alles dadurch, daß es das Wort erzeugt. Ebenso entsteht gemeinsame Geschichte, Volksgeschichte, Kirchengeschichte, gemeinsames Denken, Handeln, Leiden, in dem Maß, als uns ein gemeinsames Wort umfaßt. Also jeder, einerlei, was für eine Schule ihn in seiner Kindheit gebildet haben mag, erwerbe sich den Zugang zur Theologie auf dem legitimen Weg aus der Hand der Türhüterin, der Philologie, samt ihren Grammatiken und Lexika, damit er Meister werde im Wort. Es gab nie einen wirksamen Theologen, der nicht auch Philologe war. Nehmt Jesaja sein blitzendes Hebräisch, Jesus sein leuchtendes Griechisch, Origenes seinen griechischen Rhythmus, Augustin sein tönendes Latein, Luther sein Deutsch, was sind sie noch? Entfremdung von unserem Volk kann durch unser philologisches Können nur dann entstehen, wenn wir selbst uns von ihm entfernen. Jedes Glied der Kirche kann begreifen, daß die, die in ihr das Amt | haben, fähig sein müssen, auch mit anderen als mit den Dorfgenossen zu verkehren. – 208 –
Wenn wir nun aber dahin gelangt sind, wohin die Sprache uns den Weg bahnt und die Rüstung zu geschichtlichen Studien erworben ist, tritt uns schreckhaft der Zweifel entgegen, der manchen Studenten so erschüttert, daß er vor der Frage stehen bleibt: »Kann ich überhaupt anfangen? Wie fängt man auch nur an?« Jeder geschichtliche Vorgang ist unergründlich tief. Wissen wir denn, was mosaisch war? Wissen wir, was apostolisch war? Ist es möglich, daß uns irgendeine der typischen Gestalten der alten Kirche wirklich verständlich werde? Bleibt uns nicht auch Luther rätselhaft? Rücken uns etwa die Modernen näher? Verliert nicht gerade ihre Geschichte alle Übersichtlichkeit? Gibt es denn gelin|gende geschichtliche Arbeit? Strebt sie nicht an jeder Stelle nach einem unerreichbaren Ziel? Diese Nöte drücken nicht nur deshalb auf uns, weil alles Geschehen mit seinem weit überwiegendem Teil spurlos versunken ist. Das verkleinert freilich unser Arbeitsfeld. Was uns an die Geschichte bindet, war von Anfang an in der Tiefe verborgen und wurde für die Späteren vollends unsichtbar. Zwar haben die dunkeln Stellen im Geschichtsbild eine seltsam anziehende Kraft, auch wenn uns nicht eine angeblich reine Vernunft mit der Verheißung absoluter Wissenschaft betäubt. Doch kann sich jeder sagen, daß er nicht das zu ergründen habe, was man nicht wissen kann, als könnten wir Tote erwecken. Unsere wissenschaftliche Unzulänglichkeit entsteht aber nicht durch das, was wir nicht sehen, sondern durch das, was wir sehen, durch den Teil des Geschehens, der in das Wort gefaßt worden ist und uns dadurch erreichbar ist. Immer stehen wir vor Vorgängen, die sich ins Grenzenlose erweitern, vor einem Geschehen, in das eine unübersehbare Vielheit hineingebunden ist. Deshalb gibt es für kein geschichtliches Wissen ein Fertiggewordensein. Hier ist jedes Urteil nur provisorisch, jeder Abschluß ein gewaltsamer Akt, der nur dadurch entsteht, daß der Forscher müde geworden ist und sich niedersetzt. Darum entsteht an jeder Stelle die Gefahr, daß wir in | sie versinken. Kein Wunder, daß sich mancher besinnt, ob er den Mut zum Beginn des Studiums aufbringe. Jeder Anfang nähme ihn ganz in Beschlag und keiner fände ein Ende. »Will ich anfangen oder nicht anfangen?« diese Frage ist uns nicht gestellt. Da wir mitten in die Geschichte hineingesetzt sind, – 209 –
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nimmt sie uns entweder blind mit sich, oder wir nehmen sehend an ihr teil. Ist der Student Theologe, dann weiß er, daß er Inspirationen, die aus der Schwäche, Mutlosigkeit und eigensüchtigen Weichlichkeit stammen, nicht zu gehorchen hat. Mit jedem Blick auf Gott haben wir begriffen, daß es unsere Sache ist, das zu sehen, was uns gezeigt wird, das zu nehmen, was uns gegeben ist, und uns in die menschliche Gemeinschaft hineinzugeben, so weit als sie uns offen steht. Würden wir der Geschichte antworten: »Du gibst mir nicht alles, darum will ich nichts«, so spielten wir wieder den kleinen Prometheus, der sich die Welt erobern will und verdrossen ist, weil ihm das nicht gelingt. Der Beginn der Arbeit geschieht freilich durch eine Wahl, und diese ist immer zugleich ein großer Verzicht. Indem wir an der einen Stelle Eigentum gewinnen, wird alles andere für uns fremdes Land. Die Herren der Welt werden wir so nicht. Das ist aber kein Mißerfolg. Wohl aber werden wir Besitzer eines redlich erworbenen Eigentums, und das ist Erfolg. Leicht | haftet an einer solchen Wahl folgenreicher Ernst, da sie den ganzen Verlauf unseres inwendigen Lebens bestimmen kann. Als Schutz gegen notwendig mißlingende Griffe steht uns aber der geordnete Unterricht der Fakultät zur Seite mit seinen reichen Übersichten in allen Arbeitsfeldern. Diese verhüten ein armmachendes Spezialistentum. Aber die bang von der Arbeit sich abwendende Frage: Lohnt es sich? hat noch einen tieferen Grund. Was kann uns die Geschichte zeigen? Nur einst Gewesenes, nun aber Gestorbenes, nur anderen Gegebenes, für uns aber fremd Bleibendes, immer wieder Menschen, freilich Menschen mit ihrem Gottesbewußtsein und ihrer Sendungsgewißheit, doch nur Menschen, deren Menschlichkeit um so deutlicher wird, je mehr die geschichtliche Forschung sich ihnen | nähert. Um so deutlicher sehen wir die Zusammenhänge, aus denen sie wuchsen; um so sichtbarer wird es, daß sie in Windeln gewickelt ihr Leben begannen, in die Windeln, mit denen ihre Mutter sie umwand. Laut wird uns zugerufen: Und das ist eure Theologie? Ist nicht Theologie, die nichts als Menschen zu studieren weiß, ein Mißerfolg? Hier scheiden sich die Wege. Der Platoniker geht mit Plato in seine berühmte Höhle, kehrt der Welt, der Welt Gottes, den Rüc– 210 –
ken zu, empfängt dafür den Besuch von Ideen und konstruiert sich aus ihnen seine eigene Welt. Aus der christlichen Theologie scheidet er aus. Der Mystiker geht zum Hierophanten232, damit er ihn in die Dunkelkammer des Okkultismus führe. Er scheidet damit aus der theologischen Wissenschaft aus. Für uns dagegen bedeutet das theologische Studium nicht eine Entdeckungsfahrt in unerforschte Weiten. Wir sind auf einen bestimmten Standort gesetzt, der uns ohne unser Zutun gegeben worden ist, weil wir Glieder einer geformten, bestimmten religiösen Gemeinschaft sind. Wir leben in der Kirche, von der Kirche und für die Kirche. In der Kirche, durch die Kirche und für die Kirche studieren wir Theologie, und ihre Botschaft an uns lautet, daß Gott sich dadurch offenbart, daß er Menschen zu sich beruft. Darum sind in der Tat Menschen mit Gottesbewußtsein, mit Pflichtbewußtsein, mit Sendungsbewußtsein, Menschen, die mit eigenem, zum Dienst bereitem Willen begnadet waren, das Objekt der christlichen Theologie. Weil es solche Menschen gab und damit es solche Menschen gebe, deshalb und dazu ist der Christus da. Diese Theologie bleibt auch für den, der die Frage offen läßt, ob sie wirklich Theologie sei, ein spannendes Studium, an das er einen tüchtigen Fleiß wenden darf. Wenn wir unsere Beobachtungen dorthin richten, wo aus einer Gottesgewißheit heraus gedacht und | gehandelt wird, beschäftigen wir uns mit dem, was in der Geschichte wirksam ist, mit dem Menschlichsten in ihr. Der, der auch an dieser Stelle der Geschichte nur Nichtigkeiten und Larven sieht, der gliedere sich in | einen dem Tierstaat nachgebildeten Staat ein und werde Kommunist. Wenn wir ernsthaft Geschichte studieren, werden wir gelehrt. Stürmisch wendet sich dagegen die Einrede: »Ihr verkennt die Lage gründlich; Gelehrsamkeit ist nicht das, was unser Volk bedarf, nicht das, was ein Student als ein Ziel erfassen soll.« Ist Gelehrsamkeit schon Erkenntnis? In den Jahren, als ich anfing, hat mich diese Einrede oft gequält. Du gleichst, sagte ich, dem, der eine Freske 232 Hierophanten (= »Enthüller heiliger Dinge«) waren bei den Griechen Oberpriester, die heilige Symbole oder Bräuche erklärten.
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an die Hauswand malt, während das Haus brennt. Ich male aber heute noch an dieser Freske und freue mich, daß noch manche andere Hand den Pinsel führt. Warum? Mancherlei Wissen ohne Gewißheit, das wäre ein Mißerfolg, zersplitterte Vielheit ohne Einheit. Das gibt keinen Theologen, keinen, der den Einen kennt. Eine kräftig wärmende Gewißheit ohne Wissen, das wäre ein in sich selbst hinabgesunkener Mensch; auch dies wäre kein Erfolg. Auch so entstände kein Theologe. Wenn für uns die Welt versinkt, versinkt auch Gott. Wenn aber aus Gelehrsamkeit Erkenntnis entsteht und Erkenntnis zu Gelehrsamkeit führt, dann sind wir über das Bruchstück hinaus zum Ganzen gelangt. Geschichte studieren heißt lernen, horchen, unermüdlich lernen, immer wieder hören. So entsteht zunächst jene Theologie, die wir Scholastik heißen, und es wäre verkehrt, wollten wir sie gering schätzen. Wir nennen den mittelalterlichen Naturforscher einen Scholastiker, weil er ein ernsthaftes Wissen besaß, denn er lernte, was Aristoteles über die Natur sagte; er wagte aber keine eigene Beobachtung der Natur, und darum war er nur Scholastiker. Ebenso sind beträchtliche Perioden der theologischen Arbeit Scholastik, die mittelalterliche, die nachreformatorische und nicht geringe Teile der modernen, weil hier die Theologie im Wissen um das Wissen der Autoritäten bestand. Das ist eine notwendige Leistung der Theologie, weil sie die gemeinsame Arbeit der Kirche ist. Wir schicken nicht einzelne, weder Studenten noch Professoren, auf Entdeckungsreisen aus, damit sie Theologie als ihren individuellen Erwerb herstellen. Unsere Theologie ist unser gemein|samer Besitz und wird dadurch angeeignet, daß wir lernen, was die anderen wissen. Darum besteht die Theologie aus historischen Arbeiten. Wie kann aber daraus mehr entstehen als jene Gelehrsamkeit, die weiß, soweit wir dies wissen können, was Jesaja von seinem Gott | sagte und was Jesus von seinem Vater sagte und was Paulus von seinem Herrn sagte und was die in Nikäa Versammelten über den Gott der Christenheit sagten usw.? Und wir selbst? Mag das Bewußtsein innerer Leere uns noch so brennen, der Widerwille gegen das Lernen ist unser Feind. – 212 –
Von jeher hat sich die akademische Jugend nur schwer zum Lernen entschlossen. Ist nicht Bildung ein höheres Ziel als Gelehrsamkeit? Bildung, das ist nicht mehr die Haltung dessen, der sein Auge klar und frei zur Beobachtung des Geschehenen hergibt. Stärkung und Füllung des eigenen Lebens ist nun das Ziel. Dieses Ziel ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem, was die Universitätsjahre der Jugend bringen; sie sind ja die Jahre, in denen der Knabe verschwindet und der Mann erscheint. Darum bietet die Universität auch reichlich, was zur Bildung hilft, Sport und Kunst und Freundschaft. Auch das wichtigste Bildungsmittel, die Teilnahme am Gottesdienst, ist wenigstens für die theologische Fachschaft vorhanden, da sie sich nicht, wie andere Fakultäten, einbilden kann, daß sie im kirchlichen Urlaub lebe. Die Bemühungen, die nach dem Erwerb der Mannhaftigkeit streben, würden aber nicht so oft mit dem Ziel der Fakultät in eine harte Spannung geraten, wenn nicht unser Bildungsideal noch aus der Antike stammte. Von dort holten wir das Wort »Bildung«, und von dorther haftet am Gedanken »Bildung« eine Wertung des einzelnen, die ihn isoliert und ihm zumutet, darin, daß sich in ihm Kraft ansammelt, sein Ziel zu finden. Dieser aus sich selbst wachsende und sich für sich selbst bereichernde Mensch mag nichts lernen; er ist aber eine phantastisch entstellte Gestalt. Der Mensch trägt den Quell seines Lebens nicht in sich selbst. Er wird ernährt, und das ihm Gewährte wird seiner Bestimmung entfremdet, wenn es nicht aus ihm herausströmt und für die anderen fruchtbar wird. | Freilich ist Gelehrsamkeit ein Unglück, wenn der Mensch dabei verkümmert; aber ebenso ist Bildung ein Unglück, wenn sie den kräftig entwickelten und reich ausgerüsteten Egoisten macht. Hält sich der Student auf dem Standort, der ihm als Theologen zusteht, steht er also innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, nicht in wahnsinnigem Bildungsstolz über ihr, nicht eingekerkert in selbstherrliche Einsamkeit, sondern vor Gott, dann empfängt er mit der Vergünstigung, lernen zu dürfen, auch die Pflicht: Werde kein Krüppel, werde ein Mann, und mit dem Erwerb von Bildung erhält er die Pflicht: Nun lerne; drehe dich nicht nur um dich selbst; denn deine Bildung hat ihr Ziel nicht in dir, sondern im Dienst. | – 213 –
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War für den Studenten der Entschluß zum Lernen nie leicht, heute ist er doppelt schwer. Denn unsere Zeit lärmt und füllt mit Heilrufen und Unheilrufen die Luft, mit den Zeichen unserer inneren Unruhe, die sich in den Lebensbedingungen angegriffen fühlt. Lernen kann man aber nur in der Stille, nur wenn uns die inwendige Ruhe gegeben ist, die sich vom eigenen Zustand und seinen Bedürfnissen und Nöten und Sehnsüchten abzuwenden vermag und imstande ist, das beobachtende Auge und das auffassende Ohr an den zu verschenken, der zu uns spricht. Die allgemeine Unruhe und Verwirrung raubt unseren Fakultäten einen beträchtlichen Teil ihres Lehrwerts. Daß unsere Fakultäten verschiedene theologische Typen umfassen, hat für unsere Jugend und für unser gesamtes Volk großen Lehrwert, aber nur dann, wenn die Jugend die innere Ruhe besitzt, die es ihr möglich macht, deutlich aufzufassen und aus seinen Gründen zu begreifen, was vor ihr steht. Wenn sie sofort ihr eigenes Urteil einmengt und Partei nimmt, weil sie an ihren eigenen aufgewühlten Interessen klebt, gibt sie ihre Freiheit bald dem, bald jenem Meister preis und pendelt von einer Schule in die andere. Der Lärm der Zeit will uns diese Ruhe nehmen; aber gerade dadurch, daß sie lärmt, ruft sie uns zu: Die Stunde verlangt, daß ihr tapfer seid, und wir alle, Junge und Alte, bewähren unsere Tapferkeit dadurch, daß der | Lärm der Zeit unseren zähen Willen zu lernen nicht beugen kann. Das aber bleibt bei all dem gewiß: Der Gelehrte ist noch eine unfertige Figur; er wartet noch auf das, was ihm die Ganzheit gibt. Damit, daß wir uns der Kunst des Lernens bemächtigen und sie tapfer verteidigen, ist der Erfolg des Studiums noch nicht in unserer Hand. Theologie ist niemals nur Gelehrsamkeit. Sie trägt uns eine Verheißung zu, die jedem persönlich die Befreiung, Stärkung und Erfüllung des eigenen Lebens verspricht, und mit der Verheißung ist ein Anspruch verbunden, der ebenso persönlich unser eigenes Urteil, eigenes Wissen, eigenes Glauben und Handeln erfaßt. Das ist die Eigenart des Gottesgedankens, daß er uns in der Einheit und Ganzheit unseres Ichs erfaßt und alles in uns bewegt. Darum ist das theologische Studium ganz anders als jedes andere Studium – 214 –
unser eigenstes Anliegen und unmittelbar ein Teil unserer Lebensgeschichte. Wie wird aber das, was uns fremd als Stoff für unsere Arbeit gegenüber steht, ein Bestandteil unseres eigenen Lebens, die Wurzel unseres Denkens, der Impuls unseres Wollens? Wie wird aus der geschauten, studierten und begriffenen Geschichte die Macht, die uns unsere eigene Lebensgeschichte gibt, | und dies so, daß sie sich in Gottes Wirken einfügt und sich auf Gottes Bahn bewegt? Das ist dann geschehen, wenn uns an diesem mannigfachen Geschehen mit seiner nie endenden Fülle der Eine wahrnehmbar geworden ist, von dem alle diese Menschen reden und für den sie alle leben. Was ist nun aber dies für ein Vorgang? Gerade dann, wenn wir uns mit reinlicher, erfolgreicher Entsagung als hörendes Ohr und sehendes Auge ohne irgendwelche eigensüchtige Ansprüche vor die Geschichte stellen, ist es völlig unmöglich, daß wir die Vorgänge nur passiv wie ein Spiegel wiederholen. Wir werden in der Aneignung unseres Gegenstandes, z. B. in der Lektüre des Neuen Testaments, selbsttätig, gewinnen am Vorgang, den wir studieren, Überzeugungen und schöpfen aus dem Wort, das zu uns spricht, unser eigenes Wort. Der Vorgang ist zunächst psychologisch völlig durchsichtig und gesetzmäßig. | Wir können ihn den poetischen Vorgang nennen und das, was durch ihn entsteht, einen Mythus heißen. An den Vorstellungen, die uns zufließen, erwacht unser Begehren; wir heben dieses, indem wir unsere Vorstellungen formen, in unser Bewußtsein hinauf, und indem wir uns mit unserem Begehren einigen, verlegen wir das Begehrte aus uns heraus in die Zukunft hinüber oder in die Überwelt hinauf. Damit taucht aber das tiefste Problem in uns auf. Ist auch das noch Wissenschaft, auch das erfaßte Wirklichkeit? Wo landet die theologische Fahrt, bei der Dichtung oder bei der Wahrheit? Gebieterisch, ja gewalttätig mißt unsere Zeit an dieser Frage alles was in den theologischen Werkstätten entsteht. Im Verkehr mit der Natur ist sie realistisch geworden; sie ist es auch in der Beurteilung der theologischen Leistungen. Mythus oder Wahrheit, daran mißt sie ihr Verhältnis zur Kirche; daran bemißt sich auch für uns alle der Ertrag unserer Studien. – 215 –
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Kein Religiöser, auch wir nicht, die Wissenschaftlichen, stellen jemals das Dichten ein. Schon als Historiker werden wir beständig zu Poeten; nur so runden sich die geschichtlichen Bilder zur Einheit und Ganzheit ab. Wollen wir als Systematiker unser Verhältnis zu Gott und zu Christus durch Begriffe ausdrücken, so entstehen Gleichnisse, d. h. ein aus Begriffen bestehendes Gedicht. Zeigt der Ethiker der Kirche ihr Ziel, nachdem sie ihre Arbeit ordnen soll, oder beschreibt er dem einzelnen das auf Gott bezogene Leben, damit er daran seinen Willen forme, dann dichtet er. Das ist nicht Wahrgenommenes, sondern Ausdruck unseres Begehrens, ein Gebilde unserer über das Wirkliche sich erhebenden Phantasie. Wir können das Dichten nicht lassen; denn die Ordnung unseres inneren Lebens verlangt es von uns. Unsere Seele kann | nicht mit dem auskommen, was sie sieht und ist, sondern verlangt nach dem, was kommt. Wir verlangen nach dem Anblick Gottes im Christus. Daher formen wir ein Gottes- und Christusbild, obwohl wir ohne Schwanken dabei beharren: »Niemand hat Gott je gesehen.« Wir verlangen nach dem mit Gottes Willen geeinten Willen. Darum erscheint in uns ein Idealbild des from|men Lebens, mag es auch nirgends zu finden sein. Wir verlangen nach der in Gott geeinten Menschheit und erzeugen darum ein Bild der Kirche nach der Formel: »Die eine, heilige, allgemeine Kirche«, obwohl die Wirklichkeit sie uns nirgends zeigt. Ist das aber der ganze und letzte Ertrag der theologischen Arbeit? Stellt sie eine eigenartige, besondere Ideologie neben die, die sich aus der Natur gewinnen läßt und in der der religionslose Staat sein Fundament hat? Ist uns der Erfolg noch versagt geblieben, so lange wir bloß dichten, wünschen, ahnen können? Ist er uns erst dann zuteil geworden, wenn uns über dem Mythus und im Mythus233 die Wahrheit erschienen ist? Wenn wir der heute stürmisch vertretenen Forderung nachgäben, auf die Wahrheitsfrage verzichteten und unseren Beruf darin sähen, der Seele bei ihrem seltsamen Drang, religiöse Dichtungen zu produzieren, als Berater beizustehen, damit sich ihr Dichten 233 Zum Mythus s. o. Anm. 63.
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nicht zu weit von der beobachtbaren Wirklichkeit entferne und für unser Zusammenleben unschädlich, vielleicht sogar fruchtbar bleibe, so könnte uns nicht vorgeworfen werden, daß wir unnütze Arbeit tun. Der Mythus bekommt ein verschiedenes Gesicht, wenn die Phantasie ihn ungehemmt produzieren darf oder wenn eine nach Wahrheit verlangende Theologie ihn meistert. Wenn ein Inder den Himmel mit Göttergestalten bevölkert, entsteht ein anderes Ergebnis, als wenn Kant seine reine Vernunft mit einer Gottesidee beschenkt. Einen verschiedenen Wert erhielt der Mythus, wenn ein Babylonier seine Phantasie spornte, damit sie ihm den Weltanfang vorstellbar mache, oder wenn ein Israelit Adam und Eva beschrieb, wenn Jesus in weissagenden Worten seinen Messianismus aussprach und den allmächtigen Christus verkündete, oder wenn ein Rabbi das verklärte Jerusalem mit Perlentoren und wunderbaren Weinstöcken versah, wenn ein Gnostiker das Leben Gottes zu einer Äonenreihe entfaltete oder Athanasius die trinitarische Formel schuf. Das freilich kann kein Theologe verhüten, daß der Mythus, wenn er als Mythus erkannt ist, stirbt. Das ist aber nicht die Schuld der Theologie. Das geschieht | in Kraft einer Gesetzmäßigkeit, die unser ganzes inwendiges Leben beherrscht. Ist Gott wirklich tot, dann kann die Kirche und der Theologe nicht mehr begehren, daß sie weiter leben. | Gibt es jemand, der einen Maßstab hat, der Dichtung und Wahrheit trennt? Offenbar hat unsere Zeit, die Zeit der Technik, einen solchen. Warum heißt der Naturforscher seine Vorstellungen wahr, Enthüllung der Natur, erkannte Wirklichkeit? Er hat doch nichts anderes als seine eigenen Vorstellungen, und das Raumbild, aus dem er sie deutet, ist nirgends vorhanden als in ihm selbst. Aber diese Vorstellungen werden ihm gegeben. Sie entstehen nicht unabhängig von den natürlichen Vorgängen aus ihm selbst, sondern werden durch die natürlichen Vorgänge in ihn hineingelegt. Weil er mit dem arbeitet, was er empfangen hat, nennt er seine Vorstellungen wahr. Derselbe Maßstab scheidet in unserem inwendigen Leben die Wahrheit von der Einbildung. Wir sind mit unseren eigenen Augen die Beobachtenden und formen mit unserer eigenen – 217 –
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Urteilskraft unsere Begriffe und pflanzen sie mit eigener Wahl in unser Begehren hinein, das unserem Leben die Richtung gibt. Wo sitzt aber der Erreger der Bewegung? Von wo geht die theologische Produktion aus? Geht sie vom Empfangen aus oder von einem aus uns stammenden Begehren? Beginnt die Bewegung mit dem Urteil: »Ich will« oder mit dem Urteil: »Ich muß«? Wenn der auf Gott bezogene Vorgang mit dem Bewußtsein verbunden ist: »Das ist das dir Gegebene«, dann kann, dann soll jene unbedingte Bejahung stattfinden, die ihren sprachlichen Ausdruck in der Formel »Wahrheit« hat, und dann ist uns der letzte, zum großen Staunen und tiefen Dank verpflichtende Erfolg der theologischen Arbeit geschenkt, nämlich das Glauben. In der evangelischen Kirche hat alle Arbeit, die sie tut, ihr Ziel im Entstehen des Glaubens. Die Arbeit, die wir als Theologen tun, erweist sich dann als kirchlich, als in der Kirche, nicht gegen sie geschehend, wenn der Erfolg, der sie krönt, Glaube ist. Damit tritt auch in unser Dichten, in unsere Begriffe, in unsere Normen, Wahrheit hinein. Auch diese haben in ihrem Maß am Gegensatz | von »wahr« und »falsch« teil. Unsere Dichtungen sind so weit wahr, als sie das, was sie in das Jenseits verlegen und zum Ideal erweitern, aus dem Empfangenen schöpfen. Können wir eine Technik erfinden, die bewirkte, daß aus der Gelehrsamkeit Erkenntnis, aus dem Studium Gewißheit, aus der Historie Theologie entstehe? Wer an eine solche Technik dächte, wäre Naturalist, Atheist, nicht mehr Theologe. Aus dem Wesen der Natur folgt, daß sie der Technik gehorchen muß. Im Verhältnis des Menschen zu Gott hat dagegen Technik keinen Raum, eben weil Gott Gott, Schöpfer und Herr, ist. Das ist die nie zu verwischende Verschiedenheit, die die theologische Arbeit von der des Naturforschers trennt. Dem Naturforscher | spendet die Natur zwingende Methoden. In die Hand des Theologen ist kein Zwang gelegt. Unser Gebiet ist der Ort, an dem die Freiheit wohnt; denn es ist der Ort, an dem der Geist sein Werk vollbringt. Das ist die Ohnmacht der Theologie gegenüber der Zeit, die sie nie verleugnen oder verhüllen darf. Sind wir damit der Ratlosigkeit und dem Zweifel im Blick auf den Erfolg unseres Studiums überantwortet? Wir sind es, bis wir – 218 –
Theologen sind. Sind wir es, so sind wir vor Gott gestellt, nicht vor den abwesenden, der einst gnädig war, sondern vor den gegenwärtigen, dessen Wort die Macht in sich trägt, uns zu ihm zu rufen, indem es Glauben schafft. Das legt in die theologische Arbeit die Ruhe hinein, die ihre Erträge nicht mit eilfertigem Griff erhaschen will, sondern sie reifen läßt und sie dann, wenn sie reifen, und so, wie sie reifen, dankbar empfängt. Wartet ihr noch auf irgendein mystisches Erlebnis? Öffnet die Augen: Gottes reiche Gaben liegen vor euch. Das Semester ist im Gang. Greift zu, ihr könnt studieren. Es gibt auch jenseits des Studiums Vorgänge, durch die uns göttliche Gnade widerfährt. Ich spreche jetzt aber von derjenigen Begnadigung, die uns als Theologen geschenkt ist. Es gibt auch Vorgänge, die die theologische Arbeit stören. Das weiß jeder Student. Folglich weiß er, daß er tapfer sein muß. Der | Vorgang, auf den wir zu achten haben, wenn wir bis dahin durchstoßen wollen, wo uns Wahrheit, Wirklichkeit Gottes, sichtbar wird, vollzieht sich in der Tiefe des inwendigen Lebens. Der theologische Erfolg setzt das wache Ohr voraus, das die Stimmen unterscheiden kann, die Stimme des eigenen Begehrens und die von oben uns erreichende Stimme, das eigne von unserer Seele gesprochene Wort und das zu uns gesprochene Wort, die uns gewährte Gabe und den von unserem Begehren geschaffenen Wert. Lebten wir vereinsamt, so würde uns dieses Kriterium schwerlich vor dem Zweifel schützen. Wir leben aber vereint, und das Urteil des einen befestigt sich durch das der anderen. Ebenso arbeitet der Naturforscher deshalb mit Zuversicht, weil er in der Gemeinschaft steht. Kurz nach dem Erscheinen meiner Abhandlung über den Glauben, meines ersten Buchs, schrieb mir ein Leipziger Kollege eine Postkarte: ich habe noch wenig darin gelesen, sage Ihnen aber: ex ungu[n]e leonem.234 Wenn ich mich besinne, was aus diesem Löwen geworden ist, der damals zum erstenmal seine Klaue zeigte, wandern meine Gedanken zu der Felswand in Luzern, an der in 234 Lat.: An der Kralle erkennt man den Löwen.
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einer Höhlung der sterbende Löwe liegt. | Noch lebt er; aber der Pfeil sitzt tief. Das mächtige Tier stirbt. Ist das das Bild der evangelischen Theologie? Der sterbende Löwe war das Denkmal der Soldaten, die in Paris bei der Verteidigung eines gekrönten Hauptes, Ludwig XVI., starben. Wäre das Diadem, das das Haupt krönt, nach dessen Namen wir uns nennen und dessen Wort uns leitet, vom selben Stoff wie das, das in Paris seine Getreuen vergeblich zu schützen suchten, so wäre der sterbende Löwe auch unser Bild. Das Pariser Diadem war Import aus Rom, eine glänzende Erfindung des begehrlichen Machtwillens. Die Krönung Jesu geschah an seinem Kreuz. Dort entstand die christliche Theologie. Das Kreuz entstand nicht aus dem, was Fleisch und Blut denkt und begehrt, nicht aus dem, was Natur hervorbringt. Diese Krone war empfangen, nicht gemacht; darum rollt sie nicht in den Staub. | Darum ist auch nicht der sterbende Löwe das Bild unserer Theologie. Mit unseren theologischen Fakultäten ist uns etwas Großes geschenkt. Wir haben allen Grund, für die Arbeit, die sie leisten, dankbar zu sein. Die Schulung, die diese uns verschafft, ist eine wirksame Anleitung zur Wachsamkeit gegenüber unserer begehrlich dichtenden Phantasie und unseren aus ihren Erzeugnissen gewobenen Schlüssen. Unter allem, was uns zur Verfügung steht, sind verständig gebrauchte theologische Semester das heilsamste Mittel, das uns zum Erwerb der Fähigkeit hilft, die unterscheiden kann, was uns gegeben ist und deshalb feststeht und den Theologen überdauert und was Theorie, Postulat und Wunschbild ist und deshalb mit dem Theologen vergeht. Mit dem zur Wirklichkeit hingewandten und für sie geschärften Blick empfängt unsere Jugend auch die begründete Hoffnung auf ein gelingendes Lebenswerk, auf ein fruchtbares Amt mitten in der strudelnden Gegenwart.
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Personenregister Abälard . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 75 Aristobul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Aristoteles . . . . . . . . . . 140, 171, 212 Arnold . . 20, 36, 97, 98, 101, 133, 134 Athanasius . . . . . . . 20, 151, 152, 217 Augustin . . . . . . . . 20, 82, 154, 204, 205, 206, 208 Bacon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Barth . . . . . . . . . . 18, 19, 20, 26, 166 Bernhard von Clairvaux . . . . . 20, 82 Calvin . . . . . . . . . . . . . . . . . 167, 206 Cartesius . . . . . . . 10, 55, 56, 98, 146 Cremer . . . . . . . . . . 20, 126, 162, 166 Darwin . . . . . . . . . . . . . . . . . 77, 103 Deissmann . . . . . . . . . . . . . . . 20, 109 Demokrit . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 99 Descartes (s. o. Cartesius) Epikur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 99 Eusebius . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 88 Gerhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Harnack . . . . . . . . . . . . . 20, 142, 151 Hegel . . . . . . . . 20, 47, 135, 136, 163 Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Herodot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Hilty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23, 80 Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 81 Homer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Kähler . . . . . . . . . . . . . . . 20, 25, 166 Kant . . . . 20, 35, 56, 68, 83, 181, 217 Konfuzius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Leibniz . . . . . . . . 20, 48, 66, 175, 183 Ludwig XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Luther . . 20, 41, 9, 75, 82, 144, 151,154, 168, 178, 194, 195, 202, 208, 209 Melanchthon . . 20, 75, 167, 178, 202 Milligan . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 126 Origenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Pascal . . . . . . . . . . . . . . . 20, 173, 174 Pestalozzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Philo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 119 Platon . . . . . . . . . . 140, 151, 171, 210 Prometheus . . . . . . . . . . . . . 202, 210 Reitzenstein . . . . . . . . . . 20, 109, 110 Ritschl . . . . . . . . . . . . . . 20, 133, 166 Rothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 163 Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 187 Schleiermacher . . . . . . 20, 58, 81, 133, 136, 147, 162, 165, 166, 168 Schopenhauer . . . . . . . . . 20, 62, 147 Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 206 Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 163 Thomas von Aquin . . . . 20, 160, 163 Voltaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Irenäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 154
Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 108 Wellhausen . . . . . . . . . . . . . . 20, 116
Justin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20, 66
Zahn . . . . . . . . . . . . . . . 20, 109, 113
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Sachregister Agnostizismus . . . . . . . . . . . . 99, 160 Alte Kirche . . . . . . . . . . . 40, 41, 146 Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . 79 Archäologie . . . . . . . . . . . . . 126, 127 Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Aufklärung . . . . . . . . 68, 139, 178, 187 Biblizismus . . . . . . . . . . . 23, 88, 132 Darwinismus . . . . . . . . . . . . 103, 148 Empirismus . . . . . . . . . . . . 48, 64, 98 Erkenntnistheorie . . . . . . 47, 68, 101, 102, 160, 171 Erlanger Theologie . . . . . 81, 166, 167 Eudämonismus . . . . . . . . . . 179, 180 Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Griechentum (Hellenismus) . . 94, 109, 117, 121, 122, 132, 142, 150, 173, 202 Historie . . . . . 49, 68, 74, 78, 88, 116, 132, 133, 135, 137, 138, 139, 161 Humanismus . . . . . . 75, 98, 167, 208 Idealismus . . . . . 35, 62, 99, 135, 163 Kanon . . . . . . . 83, 91, 112, 113, 117, 131, 132, 154, 206 Kantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Katholizismus . . . . . . 66, 138, 150, 153 156, 157, 160, 168, 199 Kunst . . . . . . . . . 67, 79, 81, 200, 213
Literatur . . . 78, 81, 106, 110, 112, 121, 122, 139, 153, 157, 160, 162 Logik . . . . . . 36, 46, 49, 98, 99, 108, 136, 146, 162, 170, 171, 176 Metaphysik . . . . . . . 56, 62, 98, 100, 101, 103 Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . 66, 99 Mythus . . . . . . . 44, 46, 94, 97, 163, 215, 216, 217 Naturwissenschaft . . . 68, 99, 102, 132 Nomismus . . . . . 91, 92, 118, 125, 141 Orthodoxie . . . . . . 59, 65, 74, 98, 164 Pädagogik . . . 54, 56, 74, 75, 79, 103, 187, 201, 207, 208 Patristik . . . . . . . . . . . . . . . . 157, 173 Pharisäismus . . . . . . . . 117, 180, 181 Philologie . . . . . . . . . 120, 121, 122, 123, 125, 126, 157 Philosophie . . . 12, 19, 20, 21, 24, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 114, 117, 119, 145, 147, 148, 160, 161, 163, 171, 173, 184, 203 Pietismus . . . . . . . . . 82, 83, 133, 168 Platonismus . . . . . . . . . . 151, 171, 211 Polemik . . . . . . 48, 80, 107, 131, 151, 153, 154, 155 Psychologie . . . . . 52, 53, 94, 96, 98, 100, 146, 147, 166, 176 Pythagoräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Rabbinat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Rationalismus . . . . . 48, 101, 102, 108
– 222 –
Reformation . . . . . 40, 41, 42, 59, 75, 90, 117, 119, 131, 133, 138, 139, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 153, 154, 164, 167, 168, 178, 195, 202 Religion(en) . . . . . . 21, 25, 46, 49, 74, 75, 84, 85, 86, 89, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 99, 103, 104, 108, 113, 115, 116, 136, 139, 146, 153, 160, 172, 181, 188, 200, 202, 216
Scholastik . . . . . . . . . . 45, 65, 75, 84, 164, 167, 212 Skepsis . . . . . . . . . . 99, 102, 144, 176, 204, 206 Sokratiker . . . . . . . . . . . . . . . . 97, 98 Tridentinum . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Uniformität . . . . . . . . . . 88, 142, 195
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