Achim von Arnims Romanfragment "Die Kronenwächter" 9783110947366, 9783484103375


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German Pages 147 [156] Year 1979

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Table of contents :
1. Die Entwicklung der Romankonzeption
2. Bertholds erstes und zweites Leben
3. Die Kronenwächter gegenüber der Tradition des Bildungsromans
4. Die Symbolik in den Kronenwächtem: Mythos, Ethos, Utopie
5. Die Kronenwächter als historischer Roman
6. Dichtung und Geschichte
7. Literaturverzeichnis
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Achim von Arnims Romanfragment "Die Kronenwächter"
 9783110947366, 9783484103375

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 24

Hans Vilmar Geppert

Achim von Armins Romanfragment »Die Kronenwächter«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1979

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Geppert, Hans Vilmar: Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronwächter" / Hans Vilmar Geppert. Tübingen : Niemeyer, 1979. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 24) ISBN 3-484-10337-X

ISBN 3-484-10337-x

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1979 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Williams, London Druck: Becht, Pfäffingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Dem Andenken an KLAUS

ZIEGLER

gewidmet

Inhalt

1. Die Entwicklung der Romankonzeption

1

Die Geschichte von den Kronenwächtern (2) Die Themenfolge (4) Zur Poetik der Kronenwächter (13); 2. Bertholds

erstes und zweites

Leben

19

Kindheit (19) Reichtum (22) Zeitenwende (28) Restauration und Entfremdung (31) Buße, Tod und neue Hoffnung (36) 3. Die Kronenwächter

gegenüber der Tradition des

Bildungsromans

40

4 . Die Symbolik in den Kronenwächtem:

Mythos,

Ethos, Utopie

53

Zur Symbolik um die Kronenburg (55) Das Hausmärchen (61) Das Symbol des Brunnens (69) Der Nachtrag (73) Das Symbol der Krone (79) Arnim und Novalis (82) 5. Die Kronenwächter

als historischer Roman

88

Der Geschichtsraum (88) Die Zeichen der Geschichte (90) Die Kronenwächter und der ,andere' historische Roman (97) Arnims Aporie (101) 6 . Dichtung

und Geschichte

108

Natur und Geschichte (110) Die hermeneutische Kehre (115) „Geist und Erde" (123) Der Anspruch der Dichtung (129) „Sehen" (132) 7. Literaturverzeichnis

143

1. Die Entwicklung der Romankonzeption

„Die Übersicht seines Planes wird erst im folgenden Band möglich", schrieb Achim von Arnim an Goethe, 1 als er ihm sein neuestes, Anfang 1817 erschienenes Buch zuschickte: Die Kronenwächter, Erster Band: Bertholds erstes und zweites Leben. Jede Lektüre und Interpretation dieses Amimschen Hauptwerkes steht seitdem von Anfang an vor derselben Schwierigkeit: der Erste Band ist ohne den weiteren Zusammenhang nicht zu verstehen,aber einen „folgenden Band" hat Arnim selbst nie vorgelegt. Denn was als Band vier der sämtlichen Werke, also scheinbar als Fortsetzung, unter dem Titel Die Kronenwächter, Zweiter Theil, 1854 herauskam, gehört in Wirklichkeit viel früheren Werkstufen an.2 Die tiefgreifende, wohl zwischen 1814 und 1817 vorgenommene Umarbeitung, die das Gesicht des Ersten Bandes geprägt hat, kann ganz offensichtlich diesen Zweiten Theil nicht mehr erreicht haben. Nur der Nachtrag (1034 ff), 3 bzw. einzelne Stücke davon, 1 Goethe und die Romantik. Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 14, S. 152. 2 Zur Entstehung vgl. W. Migge in den Anmerkungen zu seiner Arnim-Ausgabe (1078 f f ) . Zur fCronenwächter-Forschung vgl. den Forschungsbericht von V. Hoffmann, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 47 (1973) S. 270-342. 3 Im Text wird wie folgt zitiert: (Seite) A.v.A., Sämtliche Romane und Erzählungen. Auf Grund der Erstdrucke herausgegeben von W.Migge, München 1962-1965; Bd. I: Gräfin Dolores, Die Kronenwächter. (II-III, Seite) A.v.A., Sämtliche Romane und Erzählungen, hg. von W. Migge, Bd. II, III. (1-23, Seite) Ludwig A.v.A., sämtliche Werke. Hg. von W.Grimm, Bd. 1 - 2 2 ; 23, Berlin u.Weimar 1839-1856; Tübingen 1977. Achim von Arnim und die ihm nahestanden. Hg. von R. Steig u. H.Grimm, Bd. 1 - 3 , Stuttgart u. Berlin 1894-1903: (C, Seite) Bd. I: A.v.A. und Clemens Brentano, 1894. (B, Seite) Bd. II: A.v.A. und Bettina Brentano, 1913.

1

könnten eine Ausnahme bilden. Das übrige sind eine Reihe jeweils in sich geschlossener Episoden, von Bettina von Arnim mit einem Vorwort versehen, vermutlich auch überarbeitet und zu einer sprunghaft lockeren Handlungsfolge verbunden. Von einer Fortsetzung des Ersten Bandes kann daher in einem für die Interpretation tragfähigen Sinn nicht die Rede sein; und natürlich ergibt sich so auch keine .Übersicht des Romanplanes'. Dennoch geben gerade diese Texte aus dem Nachlaß Aufschluß, zumindest ein Stück weit, über die Entwicklung der Romankonzeption. Man kann nämlich, wobei man ja nur dem Gang der tatsächlichen Umarbeitung folgt, den Zweiten Theil als die Vorgeschichte des Ersten Bandes lesen. Das ergibt in der Tat einen klaren Sinn, und zwar genau für den Handlungsstrang, den auch der für den Gesamtroman vorgesehene Titel in den Mittelpunkt rückt.

Die Geschichte von den Kronenwächtern Der Graf von Stock, so wird Anton, dem Helden des Zweiten Theils, für ihn völlig unerwartet eröffnet, ist sein Vorfahr und der Stammvater der Kronenwächter-Familie. Von ihm erfährt man, daß er von Kaiser Konrad mit einer Schlossertochter in Würzburg gezeugt, erst Hufund Waffenschmidt im Gefolge Konradins wurde, und als solcher die Gnade des unglücklichen Fürsten sich in dem Maße verdiente, daß dieser ihn noch vor seiner Gefangennehmung als seines Vaters außer der Ehe gezeugten Sohn anerkannte und in den Grafenstand erhob (844). [Nach der Gefangennahme Konradins gelingt es dessen Halbbruder zu entkommen. Er findet den Weg zu der geheimen] alten Kronenburg der Hohenstaufen, wo ihre Krone und ihr Schatz noch immer bewahrt wird, bis ein von Gott Begnadeter alle Deutschen zu einem großen gemeinsamen Leben vereinigen wird. (845)

Jahrhundertelang haben seine Nachkommen „das große Geheimnis (...), den schweren Dienst und die unbestimmte Hoffnung" bewahrt (869). Ungerechtigkeit und Härte, Mißtrauen und Neid untereinander (G, Seite) Bd. III: A.v.A. und Jacob und Wilhelm Grimm, 1904. (Ν I - N IV, Seite) Novalis, Schriften. Hg. von P.Kluckhohn u. R.Samuel, 2. Aufl., Bd.I-IV, Stuttgart 1960-1975.

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machen die Last der Verantwortung und das einsame Warten immer schwerer. Der Zweifel wird unabweisbar, ob sie nicht über dem Sichanklammern an vergangenes Recht und der Hoffnung auf eine unbestimmte Zukunft, „starr hingerichtet mit aller Aufmerksamkeit auf nichts" (843), das einzig Lebendige, die Gegenwart versäumen: Wie habe ich jahrelang diese Krone bewacht, die ich nie trage! und dieses Kind, das meine Frau getragen in Liebe und Schmerzen, habe ich ohne Wache in der Welt irren lassen! (872)

In diesem Ton endet der Bericht des alten Kronenwächters im Zweiten Theil des Romans. Aber unverkennbar knüpft die erste Erzählung von der Kronenburg4 im Ersten Band an eben diese Vorstellungswelt und Gemütslage an: von .rätselhaft trostlosem Geschick' ist die Rede, von der „Last der Jahrhunderte", welche wie ein Stein die Menschen zerdrückt (vgl. 575), zu „finsteren, drückenden Erwartungen" und „katzenartigem Lauern" (573) ist das Selbstbewußtsein der Kronenwächter verkommen. Der Held dieser Erzählung, legitimer Nachfahre des Stockgrafen, ist der erste, der sich gegen Tradition und Herkunft entscheidet, wenn er die Krone wegzutragen und anderen auszuliefern sucht. Bezeichnenderweise wird auch er, und ebenso die Erzählerin selbst, vor die Wahl gestellt, ihr Kind oder die Krone zu retten (vgl. 579, 580, 583). Der Konflikt aus dem Zweiten Theil wird also deutlich wieder aufgenommen. Aber im Gegensatz zu ihren Vorgängern entscheiden die Mitglieder der Grafen-Familie, also die Hoffnungsträger im ursprünglichen Sinn, sich jetzt für das ,Kind', für Leben, Veränderung, organisch wachsende Zukunft, gegen das starre Festhalten eines verjährten Anspruchs, freilich ohne sich damit durchsetzen zu können. Denn inzwischen sind die Kronenwächter aus einem FamilienVerband zu einem mächtigen, nach starren Gesetzen organisierten Geheimbund geworden, der mit Aushorchung, Erpressung, gewaltsamer Unterdrückung, ja geradezu mit Terror und Feme-Mord sein Ziel verfolgt. Die legitimen Erben bewachen die Krone nicht mehr. Sie leben verstreut, teils ohne voneinander zu wissen, meist im Unklaren über ihre Herkunft, bald dem Einfluß der Kronenwächter, bald dem von 4

Das demgegenüber viel unproblematischere Lied (539 f f ) , das ebenfalls von der Kronenburg erzählt, stammt aus der Päpstin Johanna (vgl. 19,56 f f ) .

3

Gegenparteien nachgebend. Der Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit ihrer Macht und Legitimität ist nahezu unüberwindlich. Märchenhafte Verklärungen der vergangenen Herrlichkeit, wunderbare Versprechungen, die unter dem Zugriff der Realität sich auflösen, und schließlich fratzenhaft Phantastisches sind an die Stelle des verlorenen Zusammenhalts ihrer Geschichte getreten. So gibt es nur noch gewaltsame oder trügerische Verbindungen zwischen den überlieferten Hoffnungen und den Forderungen des Tages. Verfangen in diese Widersprüche, dazuhin in die politischen Konflikte der Reformationszeit verstrickt, verläuft das Leben Bertholds, des Helden aus dem Ersten Band der Kronenwächter. Mit ihm wird die Kronenwächter-Geschichte wieder in die historische Realität eingeflochten, die sie mit der Gestalt des Stockgrafen verlassen hatte. Aber gerade dies scheint zunächst nur noch mehr Konflikte auszulösen. Gerade die vielerlei Spannungen und Brüche der ihm zugemuteten, halb unwirklichen, halb unentrinnbar realen Lebens-Sphäre, verführen den Romanhelden dazu,moralisch schuldig zu werden,und zerbrechen alle seine Lebensentwürfe. Die äußerste Entfernung von der mit dem Stockgrafen eingeführten Romanfabel scheint damit erreicht: mit ihr endet im Grunde der ausgeführte Teil des Romans.

Die Themen-Folge Diese radikale Korrektur der ursprünglichen Handlungs-Idee ist, sieht man sich den Roman genauer an, ganz offensichtlich nicht mehr umkehrbar. Es entstehen im Zuge der Umarbeitung neue Themen, Probleme, Überzeugungen und Erzählformen, welche die alten nicht nur ablösen, sondern geradezu aufheben. Auch an ihnen läßt sich die Entwicklung der Roman-Konzeption vom Zweiten Theil zum Ersten Band und teilweise über den Schluß des Romanfragments hinaus verfolgen: Die meisten Episoden des Zweiten Theils schließen sich zunächst einmal zu einem lose komponierten, romantischen Entwicklungsroman zusammen. Sein Held, teils Künstler, teils sympathischer Starkhans, könnte ein männliches Gegenstück zur Isabella von Ägypten von 1812 abgeben. Wie dort sind auch hier wechselnde Szenerien, manchmal 4

phantastisch überhöht, zu einer Art Erziehungsgeschichte verbunden. Ähnlich wie in den Novellen der Sammlung von 1812 geht es um einen Kampf guter und böser, ja dämonischer Einflüsse, in dessen Verlauf der Held bestimmte, gemeinschaftsbildende Tugenden einsehen und entwickeln soll: Liebe, Gerechtigkeit, Freigiebigkeit, Erkenntnis der eigenen Schwächen, selbstlose Hingabe für das Wohl der Allgemeinheit. Auch das tiefer liegende Handlungsschema, in das die Vordergrundhandlung der Isabella einmündet, fehlt dem ursprünglichen Entwurf der Kronenwächter nicht. Es kündigt sich mit der Erzählung vom natürlichen Sohn des Kaisers an. Deutlich erkennt man hier in der zentralen Idee einer .Wiederkehr des Königs', vergleichbar etwa der .Heimkehr eines verlorenen Volkes' in Isabella von Ägypten, der .Erlösung eines ewigen Wanderers' in Halle und Jerusalem oder der .Vereinigung feindlich getrennter Stämme' in Die Gleichen, eine romantische Mythendichtung: eine Bild-Erzählung geschichts-metaphysischen Inhalts, aufgrund ihres geschlossenen Nexus selbstevident, als der Erfahrung vorgegeben sich präsentierend, daher selbst nicht nachprüfbar und doch eine durch die Geschichte immer wieder zu erneuernde Wahrheit beanspruchend: „die Grundveste, auf der alle weitere Entwicklung sich vollenden soll".5 Das triadische Geschichtsmodell einer Wiederkehr des Ursprungs, die niedere Geburt des Hoffnungsträgers, seine Herkunft aus der Ferne und spontane Aner^ kennung als Erwählter, das sind in der Tat alte Mythen-Motive, die gerade von der Romantik vielfältig wiederbelebt worden waren. Arnim präsentiert sie allerdings in Form von Personenerzählungen und so von Anfang an gleichsam im Modus des Potentialis. Wie in seinen anderen Mythen-Dichtungen hatte er offensichtlich auch hier vor, dem romantischen Erbe „in einer veränderten Zeit durchaus veränderte Bedeutung zuzumessen".6 Zu diesem Zweck kleidete er das mythische Schema in Formen zum Teil noch lebendiger, volkstümlicher Überlieferung. Man denkt z.B. sogleich an die Vorstellung vom Kyffhäuser-Schlaf Kaiser Friedrichs I. 5

J. Görres, Bedeutung der Mythe. In: K. Kerenyi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, S. 33; vgl. ebd.: „Alles daher, was selbst bei einem einzelnen Volke durch seine ganze Geschichte sich entfalten soll; alles das ist auch wieder symbolisch in seiner Mythe angedeutet." 6 W. Vortriede, Achim von Arnim, in: Deutsche Dichter der Romantik, S. 256.

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Denn Arnim verstand Mythen und Sagen als Ausdruck allgemeiner, im Volk lebender Hoffnungen, welche die Völker „an ihre Königsstämme als Wurzeln annagelten" (G, 249). Sie waren ihm, „wenn gleich ganz unwahr, doch das Wahrste, was ein Volk zur Darstellung seiner liebsten Gedanken hervorbringt" (II, 671). Um so eher fühlte er sich dann auch berechtigt, seine eigenen historisch-politischen Hoffnungen darin zu gestalten. Was sich so von Anfang an für ihn mit dem KronenwächterMythos verbunden haben muß, kann also nur der Gedanke einer Wiedervereinigung der deutschen Nation sein, frei von Fremdherrschaft und ebenso frei von fürstlicher Willkür. Auch dieses Thema weist auf die Zeit um 1812, den Höhepunkt der sogenannten .Freiheitskriege'. Die folgenden Zeilen aus dem Widmungsgedicht der Novellen-Sammlung aus diesem Jahr scheinen z.B. viel eher auf die Kronenwächter zu passen; denn gegen die historisch-sammelnde Mythen-Behandlung der Brüder Grimm sagt Arnim von sich: Mein Buch dagegen glaubt daß viele Sagen In unsern Zeiten erst recht wieder tagen Und viele sich der Zukunft erst enthüllen.

(II, 447)

Die Mythen-Dichtung hat also einen deutlichen Zeitbezug. Von da her aber wird sie auch zwangsläufig problematisch. Denn als Bedingung einer nationalen Einigung in seiner eigenen Zeit sah Arnim die Erarbeitung einer ständisch-liberalen Verfassung an. Er hat selbst versucht, eine Verfassung von Preußen zu entwerfen.7 Aus allgemeiner Zustimmung und öffentlicher Geistestätigkeit' .hervorgegangen, sollte sie Grundlage eines monarchisch-konstitutionellen Staatswesens werden, das getragen sein sollte von einer aus Geburts-Adel, sofern er dieser Aufgabe würdig geblieben war, und neuem Verdienstadel, einem ,neuen Rittertum' gebildeten Führungsschicht.8 Die Arnims Meinung 7 Vgl. J. Knaack, Achim von Arnim - Nicht nur Poet, S. 50 u. 101, sowie zum folgenden S. 12 ff, 27 ff, 45 ff. 8 Vgl. J. Knaacks Charakteristik der politischen Bestrebungen Arnims: „Arnims persönliche Misere ist es nun, daß er zeit seines Lebens in seinen verfassungspolitischen Vorstellungen diesen halben Schritt (zur Forderung einer ständischliberalen Verfassung, H.V.G.) macht, während von Regierungsseite nichts geschieht, die liberalen Kräfte aber eine grundsätzliche Veränderung fordern. Damit steht Arnim politisch von Anfang an zwischen den Fronten" (S.21, vgl. S. 54).

6

nach unvermeidliche und notwendige, gesellschaftliche Veränderung, eingeleitet durch die französische Revolution und die napoleonischen Kriege, sollte, so hoffte er, „statt herabzuziehen den Adel so viele wie dessen fähig zum Adel hinauf" bringen. 9 Man kann deutlich im sozialen Aufstieg des Stock-Grafen, im Abstieg seiner Nachkommen und im Wiederaufstieg Antons eben diesen Lieblingsgedanken Arnims gestaltet finden: „daß adlig all auf Erden, muß der Adel Bürger werden" (173). Nationale Einigung, Versöhnung ständischer Antagonismen, aber auch der Gedanke einer Integration verschiedener Epochen der deutschen Geschichte, alles das scheint schon mit dem Blick auf den Roman angesprochen, wenn Arnim am 25.8.1814 an Clemens Brentano schreibt, seine „Seele" sei oft stundenlang gebannt, an dem Babylonischen Thurmbau zu grübeln, wo und wie sich alle und alles vereinigen ließe, was mir innerlich werth ist von deutschen Menschen. Ich habe ein mauerfestes Zutrauen, es müsse sich von selbst ohne Zuthun irgendwo fügen. (C, 338)

Wenn man schließlich bedenkt, daß ,Geist' für Arnim in erster Linie allgemeine, politische und kulturelle ,Volkstätigkeit' bedeutet hat 1 0 — „Thätigkeit ist ja der Geist" (23,219) - , d a n n ist es nicht zu überseheti, daß auch die folgende Notiz aus dem Nachtrag eben jene Hoffnung auf die, durch eine liberale Verfassung getragene, nationale Einheit mit dem Kronenwächter-Mythos verknüpft: Die Auflösung ist endlich, daß die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde. (1040 u. 1051)

Aus diesen Umrissen der Kronenwächter-ldee und -Fabel nun wachsen kontinuierlich weitere Themen hervor. So gerät Die Geschichte des alten Rappolt (853 ff) auf weite Strecken zu einer Parabel von der Macht Einzelner, wie Arnim sie ähnlich an den Schicksalen der Fürstin am Ende der Gräfin Dolores, an der Gestalt Karls V. in Isabella von

9 Aus dem Nachlaß mitgeteilt von H. Hairtl, Arnim und Goethe, Diss. 1971, S. 371. 10 In seinem Aufsatz Von Volksliedern von 1805 werden beide Begriffe nahezu synonym gebraucht. Vgl. auch unten Kap.4, S. 67 f und Kap. 6, S. 123 ff.

7

Ägypten,

v.a. aber an der des Landgrafen Heinrich in seinem Schau-

spiel Der Auerhahn11

dargestellt hatte: die Last dieser Macht, ihre

Verführung z u m Eigensinn, die Isolation die sie bringt, vor allem aber die Ungerechtigkeit und Härte, die aus ihr zwangsläufig folgt. Damit ist nun zugleich ein Teil der widersprüchlichen Thematik des Ersten

Bandes

vorbereitet. Denn dort antwortet geradezu der Frage

nach der Gefährlichkeit unkontrollierter Macht die Legende gerechten, von der „Seele des Volkes" geleiteten Handelns im Hausmärchen.

Aber

es entspricht ihr auch, gesteigert und verzerrt, die starre Gewalt und tückische Grausamkeit des Kronenwächter-Bundes und die radikale Entfremdung der Hoffnungsträger selbst von dessen Zielen. Schuld an dieser radikalen Umkehr sind aber nun sicher nicht Arnims veränderte, politische Überzeugungen. In seiner Rede vor der,Tischgesellschaft' am 18.1.1815 hat er sich noch einmal ausdrücklich dazu bekannt: 1 8 1 1 , bei Gründung dieser Gesellschaft, sagt Arnim, hätte Preußen versuchen sollen, sich eine freye Verfassung zu geben, welche notwendig seine künftige allgemeine Herrschaft über Deutschland begründet hätte (...). Der Moment war groß, aber die alten Staatssünden verblendeten. Heimlich sollte sich bilden, wo nur freye Hingabe eine offene Wahrheit schaffen kann. Ohne Zutrauen zu dem Charakter des Volkes, daß es mit Ergebenheit und Einsicht sich selbst nach seinem Bedürfniß eine Verfassung schaffen könnte, wenn ihm nur freye Berathung gelassen würde, konnte man auch diesem Volke keine heimlich erdachte geben, denn das diese gehalten würde, forderte noch größeres Zutrauen (...). So ging die kostbare Zeit vorüber, nur das erschien, was der harte Drang äußerer Verhältnisse erpreßte, drückende Abgaben, Gesetze aller Art (...) insbesondere Policeyanstalten (...) zu unsrer ewigen Höllenqual (...). Die Preßfreiheit (...) wurde durch Policeygewalt immer mehr unterdrückt, so fehlte auch diese Stellvertretung der öffentlichen Meinung. Immer abgeschlossener (...) standen die Gesellschaftsführer vor dem Volke, sie wußten nicht wie sie wohl und wehe thaten. 1 1 Diese Sätze sind bis in die Formulierungen hinein aufschlußreich. Die 11 Dort ist, ganz ähnlich wie in diesem Stadium der Kronenwächter, ebenfalls ein .fremdes, trostloses Geschick' das Thema, dem der Mensch sich zeitweilig als „Gottes leid'ge Puppe hier auf Erden" (5,178) ausgeliefert sieht. Wie im ersten Entwurf der Kronenwächter geplant, wird auch dort das Reich durch einen ,Bastardsohn' wieder erneuert. 12 Hg. von J. Knaack, S. 134; zu Arnims Absicht, mit der Tischgesellschaft ein .liberales Verfassungsmodell' zu erproben, vgl. J. Knaack, S. 35 ff. 8

Hoffnung auf die .künftige allgemeine Herrschaft' einer vom Volke selbst erarbeiteten Verfassung verbindet sich, wie wir noch zeigen werden, kontinuierlich mit dem Symbol der Krone im Roman. Anderes dagegen erinnert deutlich an die Enttäuschung dieser Hoffnung im Handeln des Kronenwächter-Bundes: wie ein Leitmotiv durchzieht die Vorstellung des ,Heimlichen' die Rede; wie hier die Verfassung, so soll dort die Krone .geheim' erarbeitet werden, und kann nur Böses wirken. .Unterdrückung' Andersdenkender ist in beiden Fällen ein wichtiges Motiv. Auch die Burg der Kronenwächter wird einmal als ,Vorhölle' und als .verwunschen', ein .Schloß der Qual' bezeichnet (vgl. 748 ff)· Ein Satz schließlich wie: „immer abgeschlossener standen die Gesellschaftsführer" - man denkt sofort an eine Geheimgesellschaft - „vor dem Volke, sie wußten nicht wie sie wohl und wehe thaten", paßt eher in den Roman als in diese Rede. Schuld an der klaren Wendung des Kronenwächter-Mythos zum Bösen ist also, soviel wurde bis jetzt deutlich, die veränderte oder vielmehr jetzt erst geklärte Wirklichkeit, auf die Arnims Hoffnungen im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts trafen: das Scheitern der Einigungs- wie der Verfassungsbestrebungen, die politische und gesellschaftliche Restauration und die Verwirklichung der Reformen nahezu allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dabei nimmt Arnim eine eigentümliche Verschmelzung vor. Denn meines Erachtens bestimmt die Bürokratie der Ära Hardenberg, dessen "niederträchtig schleichende Herrschsucht" (C,342) Arnim tief zuwider war, die neue Wertung der Kronenwächter ebenso, wie die starr reaktionäre Haltung von dessen zeitweiligen politischen Gegnern, d.h. der ,altadligen Fronde' in Preußen. Nach Arnims schon lange feststehender Überzeugung war dies eine „eigensinnige Klasse von Leuten (...), welche blind an eine notwendige Rückkehr derselben Verhältnisse glaubte, die lange ihnen bequem gewesen" (171/172), wie es in der Gräfin Dolores heißt. Erst der geheime Zusammenhang dieser gegensätzlichen Positionen, die Arnim beide ablehnte, und die in der Zukunft ja in der Tat eine bedeutsame Allianz eingehen sollten, erklärt, so scheint mir, das neue Bild der Kronenwächter im umgearbeiteten ersten Teil des Romans. Nicht freilich daß damit eine zeitgeschichtliche Schlüsselerzählung entstanden wäre, wie Arnim sie später mit Metamorphosen der Gesellschaft unternommen hat. Es sind eher persönliche, politische 9

Empfindungen, Ängste und Erbitterungen, 13 welche, gleichsam atmosphärisch rückprojiziert, „das Politische" des Romans nicht an der „Oberfläche" (vgl. G, 402), aber in der Tiefe bestimmen: Je näher, ruhiger und sicherer ich das innere Leben der Staaten sehe, so lauter ruft es in mir, daß eine harte Zeit des Zwanges, der Willkür und Nachlässigkeit über uns eindringt, daß ich nirgends einen wahren Zusammenhalt gegen die Thoiheiten der Regierung und nirgends die Einleitung zu besserer Verfassung sehen kann. (G, 335)

Dies alles bedeutet für Arnim nicht nur Enttäuschung sondern auch ein Stück Selbstkritik. Noch in der Gräfin Dolores hatte er das mittelalterliche Schloß einmal als Symbol „einer alten dauerhaften, wiederkehrenden (...) Zeit" bezeichnet (373). Die Beschreibung des Schlosses Hohenstock, der Hausburg der Kronenwächter, nun steht zu diesem, freilich seinerzeit auch nur hypothetisch eingebrachten Urteil in krassem Gegensatz. Eine klarere „ A b s a g e a n Mittelalteridealisierung und Hohenstaufenkult" 14 hat es in der deutschen Romantik wohl nie gegeben. Arnims Grundüberzeugung, mit der Neuzeit und seit der französischen Revolution „sei doch eine bessere Zeit in die Welt gekommen" (C,3) stand ohnehin seit langem fest. „Wir fühlen, daß die alte Zeit nicht viel taugte und die neue nicht vollendet ist", schreibt er an anderer Stelle. ls Dann aber wird der Wert der näheren wie ferneren Vergangenheit, die Frage nach den Orientierungshilfen, die sie gleichwohl der Gegenwart geben kann und auch muß, zu einem um so gewichtigeren, weil offenen Problem. „Das Rechte will da errungen sein" (517), sagt Arnim in Dichtung und Geschichte, der Einleitung zum Kronenwächter-Roman. Im Wechselspiel von Einleitung und Roman, von Erkenntnis der Vergangenheit einerseits, politischem Handeln in einer historischen Gegenwart andererseits, rückt dieses Thema immer deutlicher in den Mittelpunkt des umgearbeiteten Ersten Bandes. 13 Ähnliche Anspielungen finden sich z.B. in der ebenfalls 1817 erschienenen Novelle Frau von Saverne, wo die Macht der „Geheimpolizei" mit dem „Sinken aller Verfassung" steigt, so daß „nichts Freies gedeihen" kann (II, 707). 14 H.G.Werner,in: Weimarer Beiträge 17, 1971, S. 19. 15 Was soll geschehen im Glücke. Ein unveröffentlichter Aufsatz A.v. Arnims, Hg. von J. Göres, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5, 1961, S. 199.

10

Bertholds Lebensgeschichte ist so der Entwicklungsroman von einem, dem die „zerstörende und schaffende Hand der Zeit" (519) die Orientierungen seines Handelns entzogen hat, und der sie aus Täuschung und Eigensinn nicht mehr zu finden vermag. Entsteht so eine neue Konzeption des Entwicklungsromans, so muß zugleich ein weiterer, ebenfalls in früheren Dichtungen immer wieder angeklungener, aber jetzt unaufschiebbar überfälliger Problemkomplex angegangen werden: es geht in den Kronenwächtern über die Auseinandersetzung mit einzelnen historischen Epochen und Strömungen hinaus, ganz grundsätzlich um die fragliche Legitimität und schon nicht mehr latente Gefährlichkeit allen geschichts-mythischen, -metaphysischen und religiös-heilsgeschichtlichen Denkens. Arnims kritisch einschränkende Meinung hierzu ist in diesem Roman außerordentlich klar Gestalt geworden. Das läßt sich an eingeflochtenen Sentenzen und den Reflexionen der Einleitung ebenso ablesen, wie an dem Schicksal, das der romantischen ,Urgeschichts'-Symbolik bereitet wird.16 Arnim macht dabei auch vor dem zentralen Symbol des Romans, der Krone, nicht halt. Es hängen aber, so glaube ich, auch zwei weitere, das endgültige Aussehen des Romans prägende Verlagerungen des Interesses damit zusammen: Zum einen ist das Gewicht der Historie im Zuge der Umarbeitung wesentlich gewachsen. Sie steht jetzt dem Lebenslauf des Helden als ein eigener Bedeutungsraum gegenüber, der eigens erkannt und gewürdigt sein will. Zum anderen wird, da der Mythos, das Vakuum klarer Orientierung füllend, fast nur noch zur Lüge zu gebrauchen ist, eine Reinigung und Klärung der in ihm enthaltenen Überzeugungen und Hoffnungen notwendig. Das ist die Wendung der Kronenwächter — wohlgemerkt auch hier kann nur von einem graduellen, wenn auch eindeutigen Unterschied zu früheren Positionen Arnims die Rede sein — von der Vorzeit zur Zukunft, vom Mythos zur Utopie, vom Symbol zur Allegorie. Mit alledem hängt schließlich noch ein letzter Themenkreis zusammen. Seine Auffassungen von Geschichte und Politik, seine Meinungen zu Mythos, Religion, Natur und Poesie haben für Arnim nie die Bedeutung einer nur in ihrer eigenen Kohärenz begründeten Theorie gehabt. 16 Vgl. W. Emrich, Begriff und Symbolik der „Urgeschichte"in der romantischen Dichtung. In: W.E., Protest u. Verheißung, S. 25 ff.

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Immer hatten sie für ihn den Wert persönlicher Handlungsorientierung, einen Bezug auf seine Zeit und die Rolle, die er sich in ihr zutraute. Auch seine jeweiligen, persönlichen Stimmungen scheinen sein Urteil zu allgemeinen Fragen immer wieder beeinflußt zu haben. Darum hat dieses Urteil, trotz festgehaltener Grundüberzeugungen, manchmal etwas Schwankendes. Es tritt dann nur ein Aspekt aus einem weiten Spektrum hervor. So spiegeln die Kronenwächter gerade in der umgearbeiteten Form gewiß auch ein Stück persönlicher Problematik wieder. Es ist der Zweifel und die Resignation an seiner eigenen öffentlichen Wirksamkeit: als Adliger, d.h. als Träger einer politisch-gesellschaftlichen Verantwortung, die Arnim zeitlebens sehr ernst genommen hat, aber auch als Dichter, was für ihn immer eine volks-pädagogische, öffentlich kulturelle Aufgabe bedeutete. Insbesondere nach der Ablehnung für die preußische Landwehr, der Auflösung des Landsturms, für den Arnim sich sehr engagiert hatte, der Aufgabe der Redaktion des Preußischen Correspondenten (am 1.2.1814) und schließlich der Übersiedlung nach Wiepersdorf im gleichen Jahr muß sich diese schon immer vorhandene Tendenz zur Resignation17 verstärkt haben. Zum Grübeln über seine politische Untätigkeit gesellte sich die Einsicht in die fehlende Wirkung seiner Dichtungen.18 Diese Stimmung geht nicht nur in die Einleitung Dichtung und Geschichte ein: Der Albeiter auf geistigem Felde [und das bedeutet für Arnim beides: politische und dichterische Tätigkeit] fühlt am Ende seiner Tagewerke nur die eigene Vergänglichkeit der Mühe und Sorge, der Gedanke, der ihn so innig beschäftigte, den sein Mund nur halb auszusprechen vermochte, sei wohl auch in der geistigen Welt, wie für die Zeitgenossen untergegangen. (518)

17 Schon 1803 schreibt er an C.Brentano: „Ich bin zu starr, um mich zu fügen, zu biegsam, um jemand zu verletzen, und leider kenne ich mein Land, das mir in allem, wo ich gefällig hochfliegen könnte, die Flügel lähmt" (C, 64). 18 Für die Zeit der Arbeit an den Kronenwächtern vgl. v.a. den Briefwechsel mit den Brüdern Grimm: G,211, 336, 453 („meine Werke haben das mit dem Himmelreich gemeinschaftlich, daß die wenigsten hinein mögen"), 507 („Daß meine Bemühungen in der Welt vergessen werden, bin ich gewohnt"), 543/544; vgl. auch: Achim und Bettina in ihren Briefen. Hg. von W. Vortriede, Bd. 1, S. 27: „Ohne daß ich es dir oft sagte, quälte mich manche Sorge um die Zukunft, vergebliche Pläne, Wünsche in die Ferne; doch die Macht der Jahrhunderte hat mich mit Kindern und Kindeskindern an die Uckermark gefesselt, es sei denn, daß alles in der Welt wankt".

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Auch der Roman selbst hat etwas davon mitbekommen: das Scheitern dessen, der zu viel nur mit Büchern Umgang hatte, dessen Pläne in die Realität nicht passen, der, von seinen Mitbürgern getrennt, auch von Freunden und Angehörigen nicht verstanden wird, das ist auch ein bitteres Eingeständnis von Arnims eigener Krise.

Zur Poetik der Kronenwächter So haben die Tendenzen der Umarbeitung den Roman mit sehr verschiedenen Problemen erfüllt; seine Erzählform hat von da her gewiß etwas Unübersichtliches, zumindest auf den ersten Blick. „Pläne" und „Contrepläne", wie es Jacob Grimm genannt hat (G,457), scheinen sich im Wege zu stehen. Arnims Eigenheit des gelegentlichen Improvisierens, seine Freude an Erzählsprüngen kommt hinzu.19 Nichts aber scheint mir verkehrter, als ihm nun generell Formlosigkeit vorzuwerfen.20 Arnim ist als Erzähler einmalig in der deutschen Literatur. Klassische, romantische, realistische, aber auch barocke und manchmal schon surrealistisch anmutende Schreibweisen scheinen ihm zur Verfügung zu stehen. Wer ihn nur in einer dieser Dimensionen zu lesen versucht, versteht ihn nicht. Auch wer geradlinige Handlungen und einsinnige Motivationen schätzt, findet zu Arnim keinen Zugang. Und ebenso wenig wird ihm meines Erachtens das häufig geübte Verfahren gerecht, die widersprüchliche Vordergrund-Handlung unter einfache, die Realität des Dargestellten und seine Widersprüche transzendierende Begriffe oder Handlungs-Schemata zu subsumieren, z.B. solche mythischer oder heilsgeschichtlicher Art, die als fester Maßstab fur Abweichungen und Entsprechungen genommen werden.21 19 Vgl. W. Raschs These (in: Der Deutschunterricht 7, 1955), in Arnims Erzählkunst werde „mündliches Erzählen" als fiktives gestaltet (S. 40 f)· Arnim „erzählt improvisierend, aber nicht weil er selbst zerfahren, schwankend und exzentrisch wäre, sondern weil er im Gegenteil durchaus standfest ist (...). Er ist in sich selbst nicht zerrissen, aber er kennt den Zwiespalt der Welt und er weicht ihm nicht aus" (S. 55). 20 Am unerbittlichsten hat dies G. Rudolph (Studien zur dichterischen Welt Achim von Arnims, 1958) festgestellt: „Es fehlt die Gestalt und Überschau verleihende Mächtigkeit des Geistes, oder um es milder auszudrücken, sie hat nicht mehr die ihr zukommende Bedeutung" (S. 134). 21 So' zuerst H. Riebe (Erzählte Welt. Interpretationen zur dichterischen Prosa

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Man m u ß , so glaube ich, davon ausgehen, daß Arnim das Widersprüchliche, Vieldeutige und unabgeschlossen Fließende seiner Dichtungen nicht nur unbekümmert hinnahm, 2 2 sondern bewußt gesucht hat. Das prägt das Ganze wie das Einzelne. Die zunächst unproblematische Bedeutung, die ein Erzähl-Element im engeren Kontext zu haben scheint, ändert sich, sobald man es zu weiteren Horizonten, späteren Phasen oder anderen Ebenen des Romans in Beziehung bringt. Sie kann dabei sehr w o h l in ihr Gegenteil umschlagen. Es drängen sich in der Tat die von Wilhelm Grimm gebrauchten Bilder auf, daß „verschiedene Luftschichten ineinander treiben" ( G , 4 5 4 ) , bzw. daß „das Metall (...) nicht gleichartig gemischt" sei (G, 5 1 9 ) . Ein solches Erzählen ist gleichbedeutend mit der Auflösung einer verbindlichen Erzählerinstanz. Der dreifache Romanbeginn fuhrt dies als gezieltes Verfahren vor: der überschaute Horizont wird hier nicht nur regelrecht, Schritt für Schritt,jeweils um eine Erzählebene verengt, der Erzähler scheint mit jedem Neueinsetzen auch alles vorher gesagte

Achim von Arnims, Diss. 1952): Geschichte bedeutet demnach für Arnim „eine Hervorbildung von lauter Besonderheiten, deren Einbezug in der Vertikale, in ihrer Transzendenz liegt" (S.95, vgl. 98/99, 101, 159), zuletzt H.Hä'rtl: „Fasziniert von der Mannigfaltigkeit der Fakten und Tatsachen, vom Facetten- und Perspektivenreichtum der Erscheinungen, unterstellt er (Arnim) dem scheinbar Disparaten, unfähig es einem realen Konnex einzugliedern, einen ideellen Zusammenhang, der vom Menschen nur zu ahnen und nicht zu erkennen ist, an den, weil er anscheinend nicht gewußt werden kann, geglaubt werden m u ß " (S. 16), und B. Haustein (Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen Achim von Arnims, Diss. 1974): „In der Rolle des Mythenbeschwörers oder Phantasten entzieht sich gewissermaßen der Dichter den Antagonismen der Realität, um sie als .natürliche' zu zementieren" (S. 32). 22 Dieser Aspekt scheint mir zu stark das Arnim-Bild W. Vortriedes zu beherrschen. Für ihn sind die Kronenwächter „ein mit vielen eigenen Erlebnissen durchsetzter, überreich blühender Traum von einer bedeutenden und gefährlichen Zeitenwende aus einem noch ganz unmusealen Verhältnis zur Geschichte heraus entstanden, aus Symbol und Schnurre, Experiment und psychologischer Einsicht, nationaler Glut und Humor, aus Ahnung und Wirklichkeit gewirkt" (Achim von Arnim, S. 265). Ähnlich hatte schon F.Gundolf geurteilt: „So steht Arnim, ohne den geschichtlichen Ruhm eines entscheidenden Neuerers in unserer Romantik da als der gediegenste Geschichtspoet unter den Arabeskenmeistern, als der redlichste Sittenkenner unter den Zauberkünstlern, als der traumreichste Fabulierer unter den Chronisten" (Romantiker, S. 374).

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immer geradezu vergessen zu haben. Verweist so die Einleitung Dichtung und Geschichte auf ein theoretisch-reflektierendes, den Roman deutlich noch als Buch betrachtendes Subjekt, so tritt als das kommunikative Ich der zweiten Einleitung Waiblingen ein Erzähler hervor, der in genauem Sinne den Handlungsraum des Romans vor sich hat, also bereits mit zu dessen erzählter Welt gehört. Beide Ich-Instanzen formulieren einen deutlich verschiedenen Begriff von .Wahrheit', haben sichtbar unterschiedliche Auffassungen von ihrem Vorhaben und sprechen letztlich eine ganz verschiedene Sprache. Geht es aber in Waiblingen noch um panoramatische Überblicke, so setzt der eigentliche Romananfang nochmals neu, nämlich punktuell szenisch ein. Der Erzähler steht jetzt und künftig auf einer Ebene mit den Personen. Auch da, wo deren inneres Gefühls- oder Gedankenleben eröffnet wird, tritt dieses so unvermittelt hervor, scheint es einen gedachten Augenblick vorher noch so fremd gewesen zu sein, auch für den Erzähler selbst, daß dieser gar nicht zu vorgreifenden Überblicken oder gar zur Kundgabe von Zweck-Zusammenhängen fähig scheint. Wo der Erzähler dagegen, wie am Anfang des zweiten (591 ff) und dritten Buches (712 f), oder am Anfang von dessen sechster Geschichte (765 f), längere, allgemeine Kommentare einflicht, da wird die Romanhandlung regelmäßig verlassen. Der Leser sieht sich so in eine Situation versetzt, die deutlich deijenigen der Personen und des Erzählers gleicht. Das scheint offenkundige Absicht des Autors zu sein: angesichts der vieldeutigen und sich ständig verändernden Geschichten kommt alles an auf ein geduldiges, kritisch differenzierendes, alle Einzelheiten beachtendes Verfolgen des Erzählten selbst, nicht weniger auf sachliche, die verschiedenen Positionen gegeneinander abwägende Anteilnahme und zuletzt auch auf das selbständige Urteil jedes Einzelnen. Und ein solches Lesen findet am Roman durchaus seinen Halt. Arnim verfährt beim Schreiben, wie schon der Blick auf die Erzählstruktur des Anfangs zeigte, keinesfalls willkürlich. „Mutwillen" verträgt sich für ihn durchaus mit „poetischem Ernst" (C, 230). Das entscheidende Prinzip der Bedeutungs-Genese in Arnims Dichtungen ist, wie die Forschung vor allem an den Novellen gezeigt hat, das der „retrospektiven Motivierung":23 daß immer die jeweils 23 P.H.Neumann (in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 12, 1968)

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späteren Ereignisse, Symbole oder Sentenzen die Bedeutung der vorhergehenden neu definieren. So entsteht zwar ein vielschichtiges Ganzes fließender Bedeutungen, aber dessen einzelne Ebenen sind klar differenziert und erkennbar. Sie sollen hier kurz vorgestellt werden: Die Ebene der historischen Ereignisse und Entwicklungen bildet, darin unterscheidet sich der Erste Band vom Zweiten Theil, die wichtigste, alles andere .einrahmende' und tragende Schicht. In sie eingefügt, aber eigener Logik folgend, verläuft die zweite Ebene, die Lebensgeschichte des problematischen und in einzelnen Zügen negativen Romanhelden. In Spannung zu diesem Erzählstrang, aber erneut einen eigenen Zusammenhang bildend, entfaltet sich die Ebene der Symbolik und der zunächst mythischen, dann utopischen Elemente; diese Ebene beherrscht vor allem die Personenerzählungen. Das zentrale Symbol der Krone aber zeigt, im kontinuierlichen Wachsen seiner Bedeutung, eine eigene Gesetzmäßigkeit, und bildet sozusagen eine weitere Ebene des Romans. Auch die Sentenzen und Reflexionen, da sie so gut wie nie rein in ihren Kontexten aufgehen, viel eher weit über diese hinausgreifend sich aufeinander beziehen, müssen als eine relativ selbständige Schicht des Romans verstanden werden. Arnim spricht hier, sei es durch den Mund des Erzählers, sei es durch den von Personen, im Grunde seine eigene Meinung aus.24 Die oben untersuchte Auflösung einer zentralen, alles überschauenden Erzähler-Instanz widerspricht dem nicht, sondern bildet geradezu dessen Voraussetzung. Der Autor steht hier nicht über, sondern mitten in seinem Roman. Dem entspricht allerdings auch, daß diese Sentenzen keineswegs eindeutig sind. „Jede

S.300; vgl. auch C.David (in: Festschrift für R. Alewyn, 1967) S.329; „Audela des detours grotesques ou piecieux de l'imagination, on decouvre la fermete du projet, au milieu des volutes la nettete du dessin, parmi les inventions folles une raison süre d'elle-meme". Wegweisend für die ArnimForschung scheinen mir neben den Aufsätzen von W. Rasch und W. Vortriede auch die Dissertationen von U. Ricklefs (Magie und Grenze. Studien zu Ludwig Achim von Arnims .Päpstin Johanna'-Dichtung, Diss. 1972), G.Möllers (Wirklichkeit und Phantastik in der Erzählweise Achim von Arnims, Diss. 1972) und J.Knaack. 24 Zwar warnt V. Hoffmann zu recht vor einer „vorbehaltlosen Identifizierung von Figuren- und Autoraussage" (S. 296), aber gerade die wichtigsten, sprachlich hervorgehobenen und aufeinander verweisenden Sentenzen, häufig lyrisch verkleidet, lassen keine andere .Stimme' als die des Autors zu.

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Regel ist ein Rätsel, das durch andere Rätsel forthilft" (562), sagt eine Romanperson, wie ich meine im Namen des Autors. In der Tat sind die meisten dieser Sentenzen so verrätselt, daß sie der Interpretation durch den ganzen übrigen Roman bedürfen. Dieser Bezug auf das Ganze aber muß immer hergestellt werden. Zwar hat jede Ebene ihr eigenes Thema, ihren spezifischen Komplex von Problemen und Bedeutungen, und all das wird sozusagen gleichzeitig voranbewegt. Aber dabei interpretieren sich die Ebenen auch gegenseitig. Viele Elemente gehören zugleich mehreren Ebenen an. Ganze Netze von Bezügen gehen jeweils vom Einzelnen zum Einzelnen. Und im Ganzen entsteht ein Bedeutungsraum, in dem man auf immer Neues stoßen kann. Dazu kommt schließlich noch ein weiteres, wichtiges poetisches Prinzip der Kronenwächter, das gerade durch die Umarbeitung verstärkt wurde. Alles in diesem Roman, wie es immer fortschreitet und sich verändert, strebt doch klar erkennbaren Fluchtpunkten dieses Bedeutungs-Stromes zu. Sie liegen alle irgendwie an der Peripherie des erzählten Zeit-, Handlungs- und Bedeutungsraumes: So ist die Spannung der drei am weitesten entfernten Räume ,Kronenburg', ,Hohenstock' und , Augsburg' eine Bedeutungsachse des Romans. „Das Hausmärchen ist der Mittelpunkt" (G,402), bemerkt Arnim selbst. Eine hervorgehobene Bedeutung kommt den Schlußpartien des Ersten Bandes, als den letzten umgearbeiteten Teilen des Roman-Fragments zu. Aber das dort erzählte Scheitern und Sterben, wenn auch von Bildern der diesseitigen und jenseitigen Zuversicht umgeben, ist nicht das letzte Wort des Romans. Arnim, der einmal „Hoffnung" als „mein großes und einziges Talent" (II, 128) bezeichnet hat - der allerdings wohl auch den Satz: „Zweifeln war mein Weltgeschick" (276) auf sich selbst bezog - hat mit Sicherheit über diesen vorläufigen, gleichwohl ernstzunehmenden Schluß hinausgedacht. Meines Erachtens enthält der Nachtrag mit seinen deutlich utopischen Bildern und Entwürfen Bezüge auf alle, also auch die umgearbeiteten Teile des Romans. Das wichtige Gedicht „Aus meiner Zelle" (1036 ff), das sich ähnlich auch in der, nach 1817 entstandenen und 1822 veröffentlichten Erzählung Die Kirchenordnung findet (vgl. III, 146ff), stellt z.B. deutlich eine umgearbeitete, spätere Fassung des dort eingefügten Gedichtes dar. Schon das läßt auf eine Aufzeichnung zumindest während der Umarbeitung des Ersten Bandes schließen. So scheint mir der Nachtrag 17

ein weiterer, zu keiner Zeit aufgegebener Fluchtpunkt der Romankonzeption und des in ihr sich bewegenden Bedeutungsflusses zu sein. Eine Art Schluß des Romans endlich, was zunächst paradox anmutet, aber sich im Zuge der Interpretation erweisen wird, bildet die Einleitung Dichtung und Geschichte: was sich nicht mehr realisieren ließ, konnte hier zumindest seinem Anspruch und seiner Berechtigung, ja Notwendigkeit nach reflektiert werden. Ist der Roman dann noch ein Fragment? Er ist sicher keines im spielerisch-spekulativen Sinn der frühen Romantik. Solche Fragmente hat Arnim nie gesucht. Fragment ist er freilich in jenem von Arnim immer wieder betonten Sinn, „daß ein Kunstwerk nichts oder nur die Hälfte ist ohne einen Künstler der es fortsetzen kann", 25 daß es also in der Zeit und in seinem Publikum .aufgehoben', verändert, negiert, neu geschaffen und damit weitergeführt werden muß: Was uranfänglich, doch der Welt verbunden Was keinem eigen, was sich selbst erfunden, Was unerkannt, doch nimmer geht verloren, Was oft erstirbt und schöner wird geboren.

(II, 447)

Darüber hinaus aber ist dieser Roman real gescheitert, Zeugnis einer persönlich wie allgemein als ausweglos empfundenen Situation, zu anspruchsvoll geplant und mit zu viel Hoffnungen angefangen, als daß sein ernüchterter Autor ihn, angesichts einer veränderten und fremder werdenden Wirklichkeit, noch hätte abschließen können. Dennoch ist bei alledem die geistige Welt des Romans, sozusagen in ihrer Tiefe, ihren Grund-Überzeugungen und -Prämissen klar und geschlossen: ein bündiges Programm in einer offenen, unvollständig belassenen Wirklichkeit.

25 Aus Arnims unveröffentlichtem .poetischem Taschenbuch' mitgeteilt von U.Ricklefs, S.31.

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2. Bertholds

erstes und zweites

Leben

Dieser Titel des Ersten Bandes, des einzigen den Arnim selbst veröffentlicht hat, umreißt die zumindest quantitativ wichtigste Ebene des Romans: die Geschichte einer problematischen und schließlich verfehlten Entwicklung.

Kindheit Arnims Dichtungen, und die Kronenwächter als ein in mehrfachem Sinne ,historischer Entwicklungsroman' im besonderen, erhalten ihren Bedeutungs-Zusammenhang aus der Rückschau. Sie zeigt ein düsteres BÜd: Daß ein Geschlecht vergehe und das andere komme, und die Eide indessen unbeweglich bleibe und ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel seine Stunde habe, dessen gedenket man nicht, wie es doch jedem geraten ist, denn die künftigen Zeiten werden alles zugleich in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit und was wir schaffen in der Gegenwart, denn nichts erringen wir, als die Zukunft. (779)

Mit diesen Sätzen endet das Leben des Romanhelden. So etwas wie die Summe dieses Lebens scheint ausgesprochen. Auch das weitere Umfeld dieses Todes, die Gräber seiner Vorfahren, ein armes, vom Aussterben bedrohtes Kloster und ein Krieg, dessen Absicht und Ausgang so unklar sind wie die Rechtsgrundlage, auf der beide Parteien stehen, scheint ein Ende aller Illusionen anzuzeigen. Dem entspricht Bertholds persönliche Situation: von seiner Frau schon halb vergessen, offen angezweifelter Vater eines Kindes, das nur Streit und Mißgunst in seiri Leben gebracht hatte, den drohenden Verlust seines Besitzes 19

vor Augen, von der Mehrzahl seiner Mitbürger als eigennützig und treubrüchig verachtet, eine Enttäuschung für seine Freunde und Ratgeber, schließlich auch vor sich selbst gezwungen, das Scheitern seiner weitgreifenden politischen Pläne einzugestehen — all dies scheint für den Romanhelden nur noch die Einsicht in die bloße Vergänglichkeit alles Menschlichen zuzulassen, das bloße Strömen der Zeit. Seine Jugend hatte allerdings zu anderen Hoffnungen Anlaß gegeben. Aber das Schlußthema, für den rückschauenden Blick deutlich erkennbar, wird schon auf den ersten Seiten des Romans genannt: „Solch armes Volk lebt in die Zeit hinein, wie's liebe Vieh", und: „Das würde sich finden wie's Sterben" (523), heißt es von den Menschen auf dem Turm. Hinter diesen, von der sprechenden Romanperson abschätzig gemeinten Worten verbirgt sich ein viel weiter und tiefer reichender Sinn. Auch das Kind tritt ja nicht zufällig auf einen Totenschädel gebettet in diesen Kreis ein, und die ersten Gespräche bei der seltsamen Hochzeitsfeier kreisen wie selbstverständlich um den Tod: Gerade weil diese Leute sich, bildlich gesprochen, von der Zeit forttragen lassen, auf den Tod zu, geht zugleich von ihrer Welt eine Ruhe und Sicherheit aus, die Berthold später vergeblich wird festzuhalten suchen. Erst der Hintergrund der vergehenden Zeit und des Todes, auch des sicheren ,Unterganges der ganzen Welt'(526), gibt also dem „Glück der Armen" (523), das am Anfang dieses Romans steht, seinen richtigen Platz in dessen Bedeutungs-Welt. Zugleich nun wird hier von Arnim eine Sphäre unaufdringlicher, moralischer Vorbildlichkeit entworfen, die nichts Idyllisches hat. Wie die Menschen ihre Zeit- und Sterblichkeit naturhaft erleben, so sind sie auch auf erne natürliche Weise selbstlos: wenn sie ihren Besitz teilen, wenn sie sich spontan des Kindes annehmen, aber auch, wenn sie die düsteren Ahnungen des alten Martin, jenes von Arnim immer verurteilte „Beziehen aller Welt auf sich" (B, 82/83), anläßlich der Sonnenfinsternis mit dem Argument zerstreuen: „um einen Menschen geht die Welt nicht unter" (533). ,Sich-selbst-aufgeben' in der Zeit, aber auch in der Tätigkeit für andere,beides geht hier bruchlos zusammen; und das .Absehen von sich selbst' öffnet die Augen für den immer neuen Anfang der Zeit und des Lebens. Solchen Gedanken kann man im weiteren Verlauf des Romans immer wieder begegnen. Gleichwohl sind die Widersprüche der ihn umgebenden Wirklichkeit 20

von diesem so abgeschlossen, inselhaft wirkenden Raum der ersten Kapitel nicht verdeckt. Sie werden spürbar in den Farbkontrasten, den wiederholten Anspielungen auf .Engel' und .Teufel' (524,528), dem geheimnisvoll Bedrohlichen, das die Ankunft des Kindes umgibt, der Verschränkung von .Schuld' und .Unschuld' (528), bis sie sich dann in der Erzählung von den Fehden der Staufer und Weifen (531 ff), die ja auch für Berthold später bedeutsam werden sollen,1 erstmals historisch verdichten. Dann wird auch der scheinbare Friede des Romananfangs in die richtigen Perspektiven gerückt: „erst wenn feindliche Stämme sich innerlich versöhnen und verbinden, wird der Friede kommen auf Erden" (532). So ist auch der junge Berthold das ganze erste Buch hindurch von dieser halb unbewußten Sicherheit im Fortschreiten der Zeit und der Tätigkeit für andere getragen: in seinem raschen Lernen, dem unbefangenen Zugang zum Wunderbaren und zur Vergangenheit, den .verständigen Gartenanlagen' (545), dem mannhaften Sichwehrenkönnen (559), der .seltenen inneren Einsicht' beim Hausbau (557,562) und den iersten Erfolgen im Erwerbsleben. Die Störungen und Warnungen, die er in diesem ersten Lebensabschnitt erfährt, durchbrechen die harmonische Welt noch nicht. „Das Außerordentliche im Geschick" (555) zeigt zuerst nur freundliche Seiten: Martins Tod und die Zeichen wachsender Gebrechlichkeit beim alten Berthold sind schnell vergessen; die latente Gefahr des Schatzes wird noch nicht wahrgenommen; die schmerzliche Erfahrung ständischer Vorurteile und Willkür im Hause des Bürgermeisters ist noch von einer Atmosphäre kindischen Spiels umgeben, und das Selbstbewußtsein persönlicher Tüchtigkeit gleicht alles wenig später aus. Nur in einem, freilich entscheidenden Punkt kündigen sich Bertholds spätere Probleme schon jetzt nachdrücklich an. Ganz im Gegensatz zu seinen Pflegeeltern kann er das ,zu Nichts werden' alles von Menschen Erlebten und Erreichten nicht hinnehmen. Seine erste Gemütsregung 1 Apollonia ist weifischer, Anna auch noch zähringerischer Abstammung. Es wird hier ein Zusammenhang aus dem Zweiten Theü, wo Susanna ja auch noch aus dem Hause Habsburg stammt, wieder aufgenommen, eben der Gedanke einer .Vereinigung feindlicher Stämme', sozusagen ein .Neben-Mythos', der aber mit dem Fortschreiten des Ersten Bandes deutlich an Bedeutung verliert, bzw. in die tiefer reichende Symbolik des Romans integriert wird.

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ist ein solcher Widerstand; dann nämlich, als er, über die wahre Natur seiner kindlichen Schreibereien aufgeklärt, unter Weinen antwortet: „Ich habe nun schon seit Jahren etwas zu tun vermeint, es war aber lauter Nichts und nur zu meiner Übung; wenn nun das alles, was ich hier treiben soll, auch nur zu meiner Prüfung und an sich zu nichts dient?" (535) 2 Wenig später ist ihm der Gedanke unerträglich: „nichts was da gewesen, nichts was er gepflanzt, sollte bleiben" (546): er muß an anderer Stelle ermahnt werden, daß der Mensch .nichts von dieser Erde mitnehmen kann' (549). Und von hier führt eine deutliche Linie von Bezügen zu seinem späteren, unheilvollen Widerstand gegen die „zerstörende (...) Hand der Zeit" (591) und gegen die „Wandelbarkeit des Irdischen" (729) - schon sein Haus glaubt er „zu irdisch ewiger Dauer begründet und auferbaut" (589) — eine Haltung die er erst kurz vor seinem Tode ablegen wird. So wird dieses Grundthema des Romans, Zeitlichkeit und Veränderung, von Anfang an eingeführt und wach gehalten.

Reichtum Durch den Fund des Schatzes, in der Vierten Geschichte (548 ff) freilich ist diese harmonische, von Armut, Selbstlosigkeit, Zeit und Gottvertrauen eingegrenzte Jugendwelt unterschwellig bereits erschüttert. Im Grunde erscheint die Jugend Bertholds ja nur darum so behütet, weil man sie schon von der späteren, durch den Reichtum mitverursachten Entfremdung her betrachtet. Erst die späteren Gegensätze lassen die Bedeutung des Früheren entstehen, und retrospektiv klären sich auch die Vieldeutigkeiten, mit denen Arnims Schreibweise manche Elemente des Romans erfüllt. Das Motiv des Schatzes, des Geldes im weiteren Sinn, aber auch das mit diesem hier eng verbundene des Traumes ist dafür ein gutes Beispiel. Es soll daher etwas ausführlicher betrachtet werden. 2 Nicht nur das Thema der geschichtlichen Zeit und Vergänglichkeit, auch der Wortlaut hier wie in dem eingangs zitierten Abschnitt „Daß ein Geschlecht vergehe..." (779) erinnert deutlich an Herder; und zwar, wie sich immer wieder zeigen wird, vor allem an das 1. Kapitel des IX. Buches der Ideen (vgl. Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, Bd. 13, S. 343 ff).

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Schatz und Reichtum bedeuten zunächst eine Wende in Bertholds Leben: er wird wirtschaftlich unabhängig und ganz folgerichtig später auch politisch aktiv. Darin hat sein Schicksal etwas Repräsentatives: es ist hier durchaus als ein Beispiel fur das wirtschaftliche und politische Aufkommen des Bürgertums und den unaufhaltsamen Abstieg oder zumindest Wandel des Adels zu verstehen. „Es trat der Kredit an die Stelle des Lehnrechts" (111,67), heißt es nüchtern am Ende der 1820 erschienenen Erzählung Die Majoratsherren. Diese Entwicklung hatte mit dem Ende des Mittelalters in den Städten ihren Anfang genommen, ihre Darstellung im Roman ist also historisch völlig am Platze, und sie fuhrt kontinuierlich bis in Arnims eigene Gegenwart. Arnim hielt sie für unvermeidlich, und lange Zeit hatte sie ihn mit der Hoffnung auf eine neue, aus allen Ständen zusammengesetzte Aristokratie, einen .geistigen Adel' erfüllt.3 Im Roman nun spricht sich diese Hoffnung vor allem in der wunderbaren Förderung aus, die dem bürgerlichen Streben Bertholds und seiner Freunde zuteil wird. Wie oben gezeigt, hatte sich diese Hoffnung Arnims ja auch mit dem Symbol der Krone verbunden. Es ist dann nur folgerichtig, wenn jener, der Krone von Anfang an mitgegebene .Schatz' offenbar jetzt zu öffentlicher Wirksamkeit kommen soll (vgl. 845). Solche dem geläufigen RomantikKlischee widersprechende Bedeutungen seiner Symbole sind bei Arnim durchaus möglich. Blickt man zurück auf den Zweiten Theil des Romans und auf die, einen Übergang der beiden Teile bildende Erzählung der Fürstin, so setzt Berthold damit ja auch, unbewußt aber unverkennbar, eine Tradition seiner Familie fort: der Graf von Stock war Hufschmidt, ein anderer „Vorfahr" hat die Glasfenster zum Hausmärchen gemacht (vgl. 648), Anton ist ein Maler, Bertholds Vater hat das Weben erlernt, Berthold selbst ist zuerst als Gärtner sehr geschickt und wird unmittelbar darauf als Baumeister ein für alle ganz unerwartetes Talent entfalten; und wie bei seinem Vater (vgl. 574) und Anton (vgl. 720 ff, 877 ff) fördern diese Bestrebungen zunächst auch sein Liebesglück. 3 Vgl. oben Kap.l, S. 6; die einzige Stelle die Arnim in Wilhelm Grimms Entwurf einer Rezension der Kronenwächter verändert wissen wollte, war „die Stelle am Schlüsse, wo die Gesinnung des Buches adelich genannt wird". Er bemerkt dazu: „es ist mir diese sogenannte adliche Gesinnung schon mehrmals vorgeworfen worden, während ich doch eigentlich mit lebhaftefem Anteil der bürgerlichen Thätigkeit mich zuwende" (G,403).

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Dennoch bezeichnet diese Stelle zugleich einen Bruch der Kontinuität, sowohl in Bertholds Leben, als auch in der Roman-Handlung allgemein. Berthold vollzieht den Übergang zum bürgerlichen Erwerbsleben, dJi. zum Tuchhandel, nicht freiwillig .und innerem Antrieb folgend, wie sein Vater und Anton, sondern halb widerstrebend, halb notgedrungen. Er arbeitet auch nicht selbst, und wird überhaupt seinem Besitz und Stand gegenüber unfrei. Daß daraus für ihn auf lange Sicht verhängnisvolle Konsequenzen erwachsen werden, zeigt sein .Zweites Leben'. Arnim deutet aber schon jetzt darauf hin, wenn Berthold ähnlich wie sein Vater sich zwischen Besitz und Liebe, bzw. Besitz und ,Kind' halb unbewußt entscheiden muß; denn nichts anderes bedeutet das unmittelbar dem Schatzfund folgende, erste Zusammentreffen mit dem „schönen Kind" Apollonia (549). Aber während für den Vater der analoge Konflikt ein von außen kommendes Verhängnis bedeutet, in dem sich die .untadelige Reinheit' seines Charakters nur um so unbedingter bewährt, wird er für Berthold im folgenden zu einem innerlich wie äußerlich unauflösbaren Zwiespalt: Zunächst möchte auch er mit dem Reichtum aus seiner Tuchweberei die Geliebte gewinnen (vgl. 549, 556/557, 560), aber gerade die wachsende Konkurrenz zu deren Vater entfremdet sie ihm für immer. Und im weiteren Verlauf des Romans werden Reichtum, verlorene Liebe und die „Hand der Zeit" ganz allgemein ihn krank machen, zauberische Kunst wird ihn nur sehr fragwürdig wieder herstellen und in eine zwiespältige Liebesbeziehung führen. Der wunderbar-wohltätige Fund wird für ihn so zugleich auf eine unvorhersehbar phantastische, sein unbewußtes Inneres wie die ungewissen Zeitverhältnisse aussprechende Weise verhängnisvoll. Darauf weist von nun an das dem Schatz mitgegebene Messer hin, das Berthold im Traum nicht gesehen hat, das er aber im Wachen bei dem Schatz findet. Es wird künftig wie ein böser Zauber sein Leben begleiten und seinen Tod mitverursachen.4 Was sich hier phantastisch spiegelt, ist, wie immer bei Arnim, dem

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Vgl. 554, 666 (bei Fausts erstem Auftreten: „einen prachtvollen türkischen Dolch trug der feurige Drache" - nicht auf einen .magischen' Gegenstand sondern auf das phantastische Zeichen kommt es Arnim an), 642,673, 729, 746,756,779/780,795.

„Realisten des Phantastischen",5 politisch und moralisch unlösbar. Den Hinweis gibt der ehrwürdige Alte des Traumes, wenn er zu Berthold, ,sich in diese Worte verwandelnd' sagt: Vergiß nicht, daß es nui geliehenes Gut ist und daß ich alles zurück fordern kann, wenn es mir gut dünkt und ich es einem andern verleihen will. Der Zins ist nicht hart (...), ist doch dem Menschen unter gleicher Bedingnis die Erde geschenkt, er nimmt nichts von ihr in jene Welt als die Einsicht und den Glauben, den er auf ihr gewonnen. (549)

Gerade sein Reichtum aber fördert bei Berthold jene verhängnisvolle Tendenz des .Festhaltenwollens', den vermessenen Anspruch auf .irdisch ewige Dauer'. Ähnlich wird Arnim von den Leuten in Die Majoratsherren sagen: „Jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit auf dieser Erde ein" (111,33), und wird in Dichtung und Geschichte vor einer Tendenz seiner Zeit warnen, „die ihr Zeitliches überheiligen möchte mit vollendeter, ewiger Bestimmung, mit heiligen Kriegen, ewigen Frieden und Weltuntergang" (519). Er verurteilt alle Versuche, etwas Zeitliches, Materielles zu verabsolutieren. Auch für Berthold wird ja sein Reichtum dadurch gefährlich, daß er ihn festlegt, einengt, unfrei macht. So wird er seine ersten Liebeshoffnungen zerstören, ihn zunächst unmerklich, dann immer verstockter zu eigensinnigem und eigennützigem Gebrauch seiner Habe und Macht verführen, und wird schließlich jene Trennung des fremden, gebildeten und nun auch reichen Einzelgängers von seinen Mitbürgern vergrößern, die unausweichlich zu seinem Scheitern fuhrt. Damit klärt sich die Bedeutung der Textstelle weiter, und neue Bezüge tun sich auf. Wie das Wunderbare hier die historische Gesetzmäßigkeit des Epochenübergangs, von der feudalen zur bürgerlich bestimmten Zeit, als das Glück eines Neubeginns erfahren läßt, so verweist zugleich das Phantastische auf ein Vakuum an politisch-moralischem Bewußtsein, das v.a. dadurch gefährlich wird, daß man es nicht als solches empfindet. Denn nur so ist die Verabsolutierung des Besitzes möglich. Arnim hat hier seine eigene Gegenwart von einer anderen Seite her im Blick, als bei der Darstellung des Kronenwächterbundes. Er sieht in dem unaufhaltsamen Wandel .Kredit statt Lehensrecht' die Gefahr, daß, wie früher Stand und Geburt, jetzt Besitz und 5 W. Vortriede, Achim von Arnim, S. 330; vgl. auch G.Möllers, v.a. S. 35 ff.

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Erwerb verabsolutiert werden, daß an die Stelle von Adels-Willkür und -Eigensinn lediglich der bourgeoise Einzel-Egoismus treten könnte. 6 Beidem steht im Roman die Idee einer ethisch begründeten, von den Besten aller Stände selbstlos getragenen, politischen und gesellschaftlichen Neuordnung und neuen Einigung gegenüber, deren Symbol die Krone ist. Von ihr wird Berthold wenig später erstmals erfahren, ohne freilich den Sinn dieser bildhaften Erzählung verstehen zu können. Nicht zufällig wird er sich später den Kronenwächtern anschließen. Daß die Krone kurz darauf sich geradezu als ein ,Teufelsding' erweisen wird, eben weil die Kronenwächter ihren eigenen Machtanspruch in ihr verabsolutieren, weist unmerklich, aber wie immer aus der Retrospektive völlig einsehbar, auf die bedeutungsvolle Parallele hin. Der Pervertierung der Krone in den Händen der Kronenwächter entspricht die des Schatzes im weiteren Leben Bertholds. Auch das eröffnet einen klaren Bezug auf Arnims eigene Zeit: Er sieht seine politischen Ideen und Hoffnungen gleichermaßen von der starrsinnigen Adelspartei verraten, wie von dem fast ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen sich orientierenden Bürgertum. Die Allianz von wirtschaftlichem Fortschritt und verfassungs-politischer Stagnation wird von ihm klar und bedrückend gesehen. Freilich ist die Bedeutung dieser Textstelle damit noch nicht zu Ende. Mit einer Rückprojektion zeitgenössischer Verhältnisse in die dargestellte Vergangenheit und mit deren moralischer Aburteilung ist für Arnim offensichtlich noch nicht genug getan. Die historisch-repräsentative Bedeutung des Motivs, der beginnende Machtwechsel vom Adel zum Bürgertum, und die zeitkritische Anspielung gehen nebeneinander her; und die in der Sentenz, aber auch in den symbolischen und phantastischen Überhöhungen sich aussprechende, politisch-moralische Position des Autors bewahrt zu beiden Sinndimensionen, der historischen wie der zeitgeschichtlichen, eine deutliche Distanz. Die moralische Sentenz spricht die Situation Bertholds nur sehr unmittelbar an, und die Symbolzusammenhänge werden erst viel später durchsichtig. 6 In Die Majoratsherren von 1818 entspricht .ganz folgerichtig dem Unrecht einseitiger Geburtsvorteile das Unrecht einseitiger, industrieller Bereicherung. Beide .bewohnen nacheinander das selbe Haus' und erfahren dieselbe groteske Verzerrung.

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Dem entspricht die Handlungskontinuität: die Freude am Fortschritt wie der Sog des Reichtums sind unwiderstehlich;zunächst kann Berthold kaum anders reagieren, und später ist es bereits zu spät. Und dem entspricht auch die schmerzliche, nur rückblickende Passivität der Erkenntnis, zu der Autor und Leser sich dem Helden, aber auch dem von ihm Repräsentierten gegenüber allenfalls durcharbeiten können. Daß verschiedene Wahrheiten, verschiedene Wirklichkeiten nicht einfach subsumierend zu vermitteln sind, daß auch das moralisch-politische Urteil, so klar es ausfällt, die realen Widersprüche noch nicht löst, darauf macht vor allem die Bedeutung des Traumes in dieser Szene aufmerksam. Der Satz: „Ganz unbemerkt versank er in eine andere Welt, die sich nur ungern mit jener befassen mag, in der wir zu wachen meinen" (548), bedeutet ganz und gar nicht, daß es sich beim Traum gegenüber der Welt des Tages um eine höhere, dichtere, sinnerfüllte Wirklichkeit handelt. 7 Nichts wird Arnim weniger gerecht. Träume sind bei ihm immer vieldeutig, aus Wünschen und Ängsten, wahren Vorahnungen und Trugbildern gemischt; auch wo allgemeine, menschliche Wahrheiten im Sinne des Autors sich bildhaft in den Träumen aussprechen, bleibt für die Menschen immer die Gefahr, sich von der bildhaften Einkleidung verfuhren zu lassen, und den tieferen, meist moralischen Sinn zu verfehlen.8 So warnt Arnim in der Gräfin Dolores ausdrücklich davor, sich vorbehaltlos der „eignen Verkehrtheit des Traumwesens" (301) hinzugeben. Entscheidend ist für ihn in letzter Instanz immer das Wachen, der Tag, das im Leben Wirkende, die Realität. In ihr erweist sich nicht nur, ob die Auslegung des Traumes ,richtig' oder .falsch' war, sie stellt dessen Bedeutung geradezu erst her. Gerade Bertholds Schicksale nach diesem, wie nach dem analogen zweiten Traum (728 ff) machen das deutlich. Der Traum verstärkt hier, wie sonst in den Dichtungen Arnims auch, nur die meist verhängnisvolle Konstellation von undurchschauter, persönlicher Neigung und unklarem Sog der Realität. 7 Vgl. z.B. H.G.Hemstedt (Symbolik der Geschichte bei Ludwig Achim von Arnim, Diss. 1956): im Traume „öffnet sich dem Menschen das Tor zur Welt in ihrer ganzen Weite" (S. 171). 8 Vgl. die Träume vom Reichtum in Gräfin Dolores (16 ff) und Die Gleichen (20,124 ff), wobei jedesmal Wahrheit und Täuschung auf eine gefährlich unentwirrbare Weise gemischt sind.

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Denn, und das ist ganz folgerichtig die andere Seite dieser Sentenz, umgekehrt ist auch die Welt des Tages, die empirisch-historische Realität nicht einfach als geschlossene Wirklichkeit gegeben. Sie scheint Arnim durchaus noch nicht hinreichend durchschaut zu sein und vor allem von sich aus noch keine klaren Orientierungen des Handelns zu liefern. Nur darum kommt es ja immer wieder zu dem verhängnisvollen Kurzschluß, daß Träume, ähnlich wie Mythen, als unmittelbare Handlungsschemata in der Welt des Tages Macht gewinnen können. Und darum .meinen' wir auch nur in dieser ,zu wachen'. Eine korrespondierende Sentenz spricht dies so aus: Wir Menschen sind Nachtwandler mitten am Tage, nur ein kleiner Kreis unsers Lebens ist zu unsrer Prüfung der freien Wahl überlassen, öfter ist es unsre höchste Tugend, dem Gesetze und dem Triebe unsres Herzens uns mutig zu überlassen, wo der Geist nicht widerspricht. (573/574)

Gegenüber den vieldeutigen Träumen und den ungeklärten Situationen der Tages-Realität kommt alles auf die wache, freie Entscheidung an. Und sie muß vom Gewissen, dem Bewußtsein .sittlicher Freiheit' und ebenso von geistiger Bildung, der Erkenntnis historischer Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten, zugleich mit der Einsicht in die Forderungen der Allgemeinheit, geleitet werden. Ganz folgerichtig werden die .ethische Legende' des Hausmärchens, vor allem aber die Einleitung Dichtung und Geschichte diese Motive des .Schlafens', ,Träumens' und .Wachens' wieder aufnehmen. 9

Zeitenwende Auch für die Romankonzeption ist Bertholds Schatzfund wichtig. Er wird erst jetzt zu einem repräsentativen, sei es .mittleren' sei es bürgerlichen Romanhelden: 10 einerseits kann er Reisen unternehmen, 9 Vgl. 690 ff, den Schlaf und Halbtraum des Königs im Hausmärchen, sowie 519: Dichtungen sind „eine Erinnerung derer, die im Geist erwachten von den Träumen, die sie hinüber geleiteten, ein Leitfaden für die unruhig schlafenden Erdbewohner". Zur Interpretation dieser Stellen vgl. unten Kap. 4, S.62f und Kap.6, S. 130f. 10 Das erste entspricht einer zentralen Forderung W. Scotts für den historischen

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Persönlichkeiten der Geschichte treffen, am Brauchtum der verschiedenen Stände teilnehmen, Partei ergreifen in den historischen Strömungen seiner Zeit; andererseits muß er künftig, materiell unabhängig geworden, sein Leben und seine weiteren Schicksale weitgehend frei bestimmen; erst jetzt also kann er seine menschlichen Möglichkeiten aber auch Schwächen fortschreitend deutlicher ausbilden. Damit wächst aber zugleich das Maß an widersprüchlicher und vielschichtiger Wirklichkeit, das ihm zugemutet wird. Auch wenn er sich davon noch keine Rechenschaft gibt, und wenn die unbewußte Sicherheit seiner bisherigen Lebenssphäre ihn noch trägt, so dringt doch diese Wirklichkeit nun von allen Seiten auf ihn ein. Und entsprechend tauchen von jetzt an immer wieder Ratgebergestalten an seinem Lebensweg auf. Auch das weist auf die spätere Erschütterung des Bisherigen hin. So erweckt der Baumeister, darin durchaus das Sprachrohr der Vorlieben seines Autors, „eine Fülle von Hoffnungen über das allmähliche Steigen und Befreien der Städte von Fürsten und herrschenden Geschlechtern" (560), und entwickelt am Beispiel der Freimaurer die Notwendigkeit langer Arbeit des Lernens und Überlieferns; ohne diese bewußt immer wieder hergestellte Kontinuität läßt sich in der Geschichte nichts .Bleibendes' erreichen. Man sieht, wie hier ein Modell kontinuierlichen Fortschritts entworfen wird, das die unbewußte Sicherheit im Leben auf dem Turm aufheben und zugleich fortfuhren könnte. Der entscheidende Unterschied kommt dabei im Gespräch über die Intuition bzw. .innere Einsicht' zur Sprache. Sie genügt im größeren, zeitlichen wie gesellschaftlichen Rahmen nicht mehr. Vielmehr muß man, angesichts einer ständig sich ändernden Wirklichkeit auch die Gesetze des Handelns immer neu begründen: Die Regel nutzt nur dem, der sie entbehren kann, den aber verdirbt sie, der sich in ihr weise glaubt; jede Regel ist ein Rätsel, das durch andere Rätsel forthilft. (562)

Roman: sein Held, z.B. in Waverley von und Gefühle haben, „common to men Edition, Bd. 1, S. 3), andererseits an den können. Das zweite ist eine notwendige (vgl. unten Kap. 3).

1814, muß einerseits Eigenschaften in all stages of society" (Standart historischen Ereignissen teilnehmen Voraussetzung des Bildungsromans

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Diese fur Arnims Denken schlechthin zentralen Sätze finden wenig später ihre Entsprechung, wenn auch das „Geschick" der Menschen als „rätselhaft" bezeichnet wird (575). Beides muß in der Tat zusammengesehen werden. Wie die Geschichte alles scheinbar Dauernde immer wieder aufhebt, denen, die sie erleben, immer neue ,Rätsel' aufgibt, so darf auch im Denken und Handeln nichts scheinbar definitiv Gültiges unbefragt stehen bleiben; sonst .verdirbt es den, der sich in ihm weise glaubt'. Daß Berthold diesen Forderungen nicht wird entsprechen können, hindert nicht, daß er ihren Voraussetzungen nicht entrinnen kann. Die ,hohe Fremde', wie sich herausstellt seine leibliche Mutter, eröffnet ihm nicht nur seine Abkunft, sondern zugleich den Blick für die Antagonismen, in die er durch sie hineingestellt ist. Und wenig später wird er im Kapitel Der Sturm erstmals einem .rätselhaft trostlosen Geschick' ja einem „gewaltsamen Ereignis" (588), einer von außen hereinbrechenden „Gewalt und Erschütterung" (589) unterworfen. Der Verlust Apollonias erscheint dabei nur wie ein Teil viel weiter greifender Veränderungen, die sich in diesem letzten Kapitel des ersten Buches ankündigen: Eine Unbestimmtheit hatte alle ergriffen, die jeden lahmte, und wie Krank-, heiten im Menschen solche Vorgefühle von Erschöpfungen voranschicken, so schien diesmal ein gewaltsames Ereignis in den Lüften wie eine allgemeine Krankheit des Gestirns auf alle Bewohner zu wirken. Ein Sturm erbebte durch die Gassen der Stadt, den die innerlich Erschütterten bis jetzt überhört hatten. (588)

Diese Sätze sind zu gewichtig für die private Geschichte eines Einzelnen. Gleich darauf wird gesagt: „Es bedarf der ganzen Gewalt und Erschütterung des Erdelements, um dem Geiste seine Freiheit zu geben."(589)n Das verweist voraus auf den Schluß des ersten RomanBandes, der sich ebenfalls in einem Erdbeben ankündigt (vgl. 766),

11 Hier kündigt sich ein klarer, noch oft zu erkennender Gegensatz Arnims zu Herder an: gerade das Versagen naturgesetzlicher und analog aus der bloßen Kontinuität der historischen Entwicklung ableitbarer Zwecke führt auf das freie Selbstbewußtsein des .Geistes'. Arnim steht in diesem, für seine Geschichtsauffassung zentralen Gedanken, meines Erachtens deutlich in der Nachfolge von Kant. Vgl. unten Kap. 6, S. 116 ff.

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aber es erinnert auch an jene beziehungsreiche „Erderschütterung" in der Gräfin Dolores, welche „die Bewohner der Paläste" den „Bewohnern der Hütten" gleichgemacht hatte (vgl. 404). In der Tat läßt sich der intensiven Beschreibung des Sturmes durchgehend eine Dimension des historisch-politisch Repräsentativen, Exemplarischen abgewinnen: Vakuum der Willensbildung, Willkür und Versagen Einzelner, Zerbrechen des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, Vermischung bisher getrennter Stände,beschleunigter sozialer Aufstieg und Fall, VorsehungsFatalismus und bedenkenlose Nutzung persönlicher Vorteile, eine „tiefe Einsicht von der Nichtigkeit (...), welche die Welt in ihren Herrschern verehrt" (600), und ein aus den Erschütterungen der bisher tragenden Strukturen herauswachsendes, neues Bewußtsein von der „Freiheit des Geistes" (589). In all diesen Aspekten verdichtet sich für ein paar Augenblicke eine Atmosphäre gewaltsamer Veränderungen, ein Epochenübergang, das plötzliche Fortrücken der historischen Weltzeit, dem der Autor hier wie einem Naturereignis und nahezu ebenso passiv wie die Personen gegenüberzustehen scheint. Was hier atmosphärisch-unbestimmt evoziert wurde, nimmt der Autor, und zwar begrifflich-allgemein, am Beginn des zweiten Buches wieder auf: die „zerstörende und schaffende Hand der Zeit und des Menschen" (591) verbindet ganz deutlich die beiden Bücher. Mit äußerster Kraßheit wird nun das Leben Bertholds den Gesetzen der menschlichen Zeitlichkeit und Kreatürlichkeit unterworfen. Der große Zeitsprung von „etwa dreißig Jahren" (594) gibt allem etwas Plötzliches, ähnlich wie vorher das Aufkommen des Sturmes. Man hat in der Tat den Eindruck eines jähen Einbrechens der Zeit und des Todes in das scheinbar Dauernde: Wie hat sich der fröhliche Knabe verändert, seit Reichtum und Ehre ihn mächtiger rüsteten, wie ist er so ohnmächtig und siech geworden. (593)

Restauration und Entfremdung Trotz dieses Zusammenhangs kommt mit dem zweiten Buch ein völlig neues Element in den Roman. Wenn es heißt, Berthold „fühlte sich allmählich absterbend dem Fleische und auflebend im Geiste" (593), 31

und wenn man bedenkt, welch weites Spektrum von Möglichkeiten der fruchtbare Gegensatz .geistiger Freiheit' zum ,Erdelement' der realen, kreatürlichen Bedingtheiten für Arnim enthält, dann wird deutlich, daß Berthold davon nur einen kleinen Teil erfaßt. 12 Nur das Schmerzhaft-Tröstliche, notgedrungen Weitabgewandte daran ist ihm in seiner Krankheit und Isolation zugänglich. Der Roman im ganzen aber wird noch viele andere Seiten dieses Verhältnisses von ,Geist' und ,Erde' aufdecken. Das ist bezeichnend für die neue, mit dem zweiten Buch einsetzende Erzählweise Arnims. Das Individuum rückt aus dem Zentrum des Romans. Jenes repräsentative Gewicht, das der Schatzfund Berthold verliehen hatte, wird ihm durch seine Krankheit wieder entzogen. Seine Schicksale bilden fortan einen fast extremen Sonderfall. Das Hauptinteresse des Romans, die Frage nach einer human verbindlichen Gestaltung der Geschichte durch den Menschen, wird in erster Linie in Sentenzen, Symbolen, dem Aufweis historischer Wirkungszusammenhänge, aber auch durch die Gesamtkonzeption im ganzen weiterverfolgt. Bertholds Leben kommt dabei fast ausschließlich nur noch die Rolle zu, die Fragen nach dem richtigen Handeln, Erleben, aber auch Erkennen negativ, im Mißlingen und Scheitern zu spiegeln. Und daraus ergibt sich auch für die Individualität des Romanhelden selbst eine klare Paradoxie: seine historische Urteilsfähigkeit einerseits, andererseits sein Erlebnis-, Handlungs- und Selbstbeurteilungsvermögen treten offenkundig auseinander. Berthold ist fortan ein negativer Romanheld, also einer, der sein Leben verfehlt, ja verfehlen muß; zugleich aber ist er nicht nur Zeuge, sondern klarsichtiger Beurteiler historischer Ereignisse — und darin durchaus Sprachrohr seines Autors. Das kann so weit gehen, daß er genau den Fehlern erliegt, die er vorher zu Recht an historischen Persönlichkeiten kritisiert hatte. 13 Das zentrale Thema seines Lebens bleibt dabei, nun erst recht zu 12 Berthold ähnelt darin dem Helden in Die Majoratsherren. Dort spricht Arnim die Korrektur dieser einseitigen .Vergeistigung' selbst aus, die in den Kronenwächtern der Gesamtroman leistet: jene voreilige Hinwendung zu „einer höheren Welt" mußte „durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden werden (...) die aller Kraft bedarf, und uns in ruhiger Folge jede Anstrengung belohnt" (III, 33). 13 Vgl. unten Kap. 3, S.44.

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radikaler Problematik gesteigert und somit im Grunde bereits vorweg negativ beantwortet, sein Verhältnis zur Zeit. Hatten sich seine Schwierigkeiten bisher, also vor dem Storm-Kapitel, fast unmerklich als innere Widerstände angekündigt, so umschließen sie ihn jetzt von außen, nahezu plötzlich, wie eine Falle, der er nicht mehr entkommen wird. Angelpunkt dafür ist seine Krankheit und die zauberische Verjüngung. Beides ist nahezu unentrinnbar verhängnisvoll, läßt ihn aber zugleich moralisch schuldig werden, und wird von ihm auch selbst als Schuld erlebt.14 Denn das im Roman propagierte Ethos ist durchaus nicht von äußeren Förderungen oder Hemmnissen abhängig. Gleichwohl zeigt sich auch hier eine weitere Seite der eben gesehenen Paradoxie. Was in der Erzählung seiner Mutter wie eine dunkle Vorahnung geklungen hatte, das Rätselhaft trostlose Geschick', die ,Last der Zeit', das trifft Berthold jetzt wie einen ganz wörtlich .Neugeborenen'. Und zwar wächst der Druck für ihn in dem Maße, in dem er ihm nicht nachgeben will. Gerade der Versuch, an der fraglos harmonischen Sicherheit seiner ersten Lebensphase festzuhalten, bzw. an sie wieder anzuknüpfen, setzt ihn zugleich den Gefahren seines nunmehr schiefen Verhältnisses zur Zeit und zu seinen Mitmenschen aus: Die zauberische Heilung sieht er, wie vorher den Schatz, später den Brunnenfund, als „Gaben himmlischer Gnade" (670), er erkennt sie nicht als den, im Sinne Arnims, überheblich-selbstbetrügerischen Versuch, die Zeitlichkeit und Kreatürlichkeit alles Wirklichen zu überwinden, das Abgestorbene wieder zu beleben; analog steht es später mit seinem Versuch, die jugendliche Liebe zu wiederholen; beim Brunnenbau will er noch einmal, wie früher bei der Gründung des Tuchhandels, persönlichen Nutzen mit allgemeinem Vorteil verbinden; und in der Reichsfreiheit Waiblingens soll erneut adliger Anspruch und bürgerliche Position verschmolzen werden, deren Übergang ihm früher unbewußt selbstverständlich gelungen war. Immer aber zeigt sich der Bruch, ein Riß der zeitlichen Kontinuität und seines Verhältnisses zu ihr, welcher, durch

14 Darauf weist schon W.Grimm in einem Brief an C.Brentano hin: Bertholds „Geschick geht über ihn, er handelt immer natürlich und recht, und doch istes, als trüge er Schuld" (C. Brentano und die Brüder Grimm, hg. von R. Steig, S. 221).

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die Regeneration nur scheinbar verdeckt, in der Folgezeit nur um so unheilbarer hervortreten wird. Dabei läßt die Heilung ihre Gefährlichkeit für den Augenblick nur ahnen; diese ist in der Symbolik des Bösen, im Bild von ,Drache' und .Messer' nur angedeutet. Zugleich aber, denn nichts in diesem Roman ist ganz eindeutig, muß Faust, wie der Luzifer in der Päpstin Johanna,15 durch das Böse auf lange Sicht Gutes wirken: So weist die Verbindung zu Anton, der hier als Bertholds ebenfalls leidender Antipode in die Handlung eingeführt wird, bereits auf einen späteren, von der Folgezeit schließlich auch dem Leben Bertholds verliehenen Sinn voraus: „Und wenn ich stürbe und hätte dem Knaben das Leben gerettet, es sollte mir nicht leid sein" (608/609) - dies erinnert sowohl an Bertholds Vater, an den König im Hausmärchen, wie an Anton im Nachtrag. Erst kurz vor seinem Tode wird auch Berthold endgültig zu einer solchen Haltung finden, freilich auch dann nur in den ihm gesteckten Grenzen. So radikal Arnim seinen Romanhelden am Ende von dessen erstem Leben der Zeitlichkeit unterworfen hatte, so konsequent entwickelt er also in dessen zweitem Leben die Folgen eines falschen Verhältnisses zu ihr. Das Unheil, das der „schreckliche Betrug" (779) einer falschen Erneuerung, in Wahrheit aber einer Restauration des schon Überlebten bedeutet, nähert Berthold erneut dem Kronenwächter-Bund und läßt in beiden durchaus vergleichbare, politisch-moralische Bedeutungen aufscheinen. Was sich bei den Kronenwächtern als verbrecherische Macht zeigt, konkretisiert sich bei Berthold, dem leidenden Einzelnen, in einer mehrfachen Entfremdung: Er ist in der Tat .fremd', nicht mehr zu Hause in sich, als sittliches Individuum wie als kreatürlicher Mensch, ebenso in seiner gesellschaftlichen Umwelt und ganz entsprechend auch in seiner Zeit. 16 Daß er seine unmittelbar nach dem Heilschlaf erwachte Zuneigung für Anton, nun sozusagen ein Teil seines Ich, später verleugnet, ist der erste, sichtbare Schritt dieser Selbstentfremdung. Gerade dadurch aber

15 Vgl.v.a. 19,6 ff und 19,90 ff. 16 „Die Kronenwächter erzählen ja die genaue Geschichte einer doppelten, stufenweise wachsenden Entfremdung: der Selbstentfremdung und der Gesellschaftsentfremdung" (W. Vortriede, Achim von Arnim, S. 258). 34

vergrößert er die Gefahr, die Anton später für seine Ehe bedeuten wird, und in seinem Kind kehrt ihm dieses sein unfreiwillig ,anderes Ich' unheilvoll zurück. Analoge Widersprüche brechen auf, wenn er statt der ihm innerlich anverlobten Apollonia die jüngere und anziehendere Anna zur Frau nimmt, ohne sich von der früheren Geliebten ganz lösen zu können. Liegt in der schiefen Liebesbeziehung schon der Keim des Sichentfremdens von seiner gesellschaftlichen Umwelt, so wird diese später, parallel zu seiner disharmonischen Ehe vollends unhaltbar Realität. Die Möglichkeit dazu gibt ihm erst sein Reichtum. Nicht zufällig ist die Heilung motivisch eng mit dem Schatz verbunden, den Berthold am Ende seiner Kindheit gefunden hatte (vgl. 609/610). Was zuerst ihm eine fruchtbare, öffentliche Wirksamkeit ermöglicht hatte, wird jetzt verhängnisvoll: beim Brunnenbau, als Berthold selbst sein „Unrecht als Verwalter des öffentlichen Vorteils" (670) bewußt wird, das zweite mal bei seinem Bemühen, Waiblingen reichsfrei zu machen, als er, durch Krankheit und Reichtum zu sehr von seinen Mitbürgern getrennt, sich eingestehen muß, „daß er die Stadt nicht gekannt, sie in seine Hoffnungen habe zwingen wollen" (773). In beidem bekundet sich zugleich seine Entfremdung von der Gegenwart, bzw. von der Tradition, die sie trägt, und der Zukunft, die ihr angemessen ist. „Keiner vermag es, seiner Zeit zu entfliehen" (88), könnte auch über Bertholds zweitem Leben stehen. Schon von Kindheit an hatte er sich vergeblich gegen die Vergänglichkeit der Dinge gewehrt, erst jetzt aber bekommt seine Zuwendung zum Mittelalter etwas, wenn auch vorerst latent Gefährliches. Sie ist interessanterweise auch den Zeugnissen der Vergangenheit selbst schädlich; denn zugleich mit der Verletzung des .öffentlichen Vorteils' vergeht sich Berthold aus Eigennutz auch an dem .ehrwürdigen Hohenstaufenpalast' (608). Und auf der politisch-historischen Ebene ist sein Taktieren mit Kronenwächtern, Städtebund und Fürst um die Reichsfreiheit einerseits hinter der Zeit zurück — schon der alte Bürgermeister hatte Ähnliches versucht, und das Reich ist längst keine verläßliche, politische Größe mehr - , wie es ihr andererseits gewaltsam voraus eilt. Denn die Stadt ist den mit der Freiheit verbundenen, demokratischen Formen der Macht aber auch Verantwortung noch nicht gewachsen: Berthold

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sah, daß die reichsstädtische Verfassung zu einer leeren Form wurde, weil sie nicht durch die Notwendigkeit entstanden war, eine allgemeine Kraft zu begrenzen. Diese allgemeine belebende Kraft fehlte. (773/774) I

Man erkennt auch hier eine resignierende Rückprojektion der eigenen Gegenwart Arnims — man braucht nur das Wort .reichsstädtisch' fortzulassen — in die historische Vergangenheit. Schließlich verstärkt auch noch das Moment historisch-politischer Teilnahme an den Spannungen seiner Zeit diese mehrfache Entfremdung; denn in dem Maße, in dem Berthold Zugang zu dem Historischen des Romans gewinnt, erliegt er, zuerst in Augsburg, dann aber vor allem in Hohenstock buchstäblich dem Sog dieser Räume und der in ihnen ihm begegnenden Vorurteile; während umgekehrt das Hausmärchen, dessen Grundgedanken sein ethisches Selbstbewußtsein, alle interessegebundenen Zwecksetzungen hinterfragend, hätten stärken können, keine Spuren in seinem Handeln hinterläßt. Mit der Reise nach Hohenstock beginnt dann das unaufhaltsame Scheitern. Unmittelbar davor, am Anfang der Dritten Geschichte des Dritten Buches (728 f) wird dies bildhaft vorweggenommen; in dem im Wachen begonnenen, im Schlaf fortgesetzten Traum klingen fast alle verhängnisvollen Motive aus Bertholds zweitem Leben an: das Unglück der verfehlten und erkünstelten Liebe, die Gefahr des eigennützigen Reichtums, das verderbliche Sichstemmen gegen die Zeitlichkeit, aber auch die vermessene Wunderheilung, der die tragende Kontinuität verletzende Traditionsbruch und die zum Realitätsverlust fuhrende Gegenwartsferne. Sie alle gipfeln schließlich in der äußersten Selbstentfremdung, bildhaft gesprochen darin, daß Berthold im Traume sich selbst ums Leben bringt.

Buße, Tod und neue Hoffnung Das weist alles schon auf den Schluß voraus. Aber Bezüge erschließen in diesem Roman immer zugleich Abweichungen. Das Verhältnis ist ähnlich wie bei der Voraussage des alten Martin, „es werde der Junge zu nichts in der Welt taugen" (534). Dort war die Voraussage in genau umgekehrtem Sinne eingetroffen, als sie gemeint war, denn das bürgerliche Leben hatte den Erfolg, das ritterliche das Scheitern mit sich 36

gebracht. Genau so wird sich diese Vorausdeutung auf Bertholds Tod erfüllen, denn nicht sein Festhalten des .erworbenen Gutes', wie des .Ererbten' (730) wird letztlich seinen Tod herbeiführen, sondern das Hingeben alles Besitzes und aller familiären Bindungen. Die letzte Phase in Bertholds Leben (vgl. 776 ff) erhält von daher deutlich noch eine positive Wendung. Aus Entfremdung und Selbstverlust, nach dem Scheitern aller seiner Pläne, stößt Berthold zu jenem Ideal der .tätigen Selbstaufgabe' vor, das ihm in den Erzählungen von seinem Vater und vom König im Hausmärchen vorgestellt worden war, das ihm aber auch seine Pflegeeltern unbewußt vorgelebt hatten. Andere, zumindest bisher für ihn vorbildliche Gestalten übertrifft er sogar noch, denn er verzichtet auf Reichtum, Familienglück, persönliche Sicherheit und schließlich das eigene Leben, nicht um den eigenen künstlerischen Anspruch zu bewahren, wie der Baumeister (vgl. 599), oder um des eigenen Seelenfriedens willen, wie der alte Anno.17 Für ihn ist vielmehr in erster Linie das allgemeine Wohl Beweggrund seines Handelns, auch wenn er als Garant für die Richtigkeit seiner Entscheidung nur das eigene Gewissen, die gute Absicht und verpflichtete Ehre anführen kann. Ganz unauffällig kehrt ihm damit auch die Kraft zurück, alles „Überflüssige" und Überlebte zu vergessen, auf „Gott und die Zeit" zu vertrauen (776), und die „Freude", parteinehmend „seinen Willen bewähren zu können" (778). So kehrt er zurück in eine Sphäre der Armut und des ,auf den Tod zu Lebens', wie sie seine Kindheit auf dem Turm umgeben hatte. Und endlich, wie er sich gleichsam auflöst in dem über ihn hinweggehenden Strom der Zeit, wird ihm auch der mögliche Sinn seines verfehlten Lebens sichtbar: „ ... denn nichts erringen wir als die Zukunft" (799).18 17 Vgl. unten Kap.3, S.42f. 18 Es ist bezeichnend, daß Arnim diese letzte Wendung seiner im übrigen treu erzählten Quelle zugefügt hat (Vgl. A.Wilhelm. Studien zu den Quellen und Motiven von Achim von Arnims Kronenwächtern, S. 101). In einer sehr ähnlichen Sterbeszene in Die Majoratsherren (vgl. 111,63 ff) tilgt er dagegen den Bezug auf die Zukunft aus einem Zitat nach G.H.Schubert (vgl. 111,758/759). Beides scheint sich gegenseitig zu ergänzen. Kommt es ihm in Die Majoratsherren beim Tod der schönen Esther auf den Kontrast diesseitiger Hoffnungslosigkeit und schwärmerisch jenseitiger Hoffnung an, die unter dem Motto der Eingangsrede (III, 33) und des Gedichtes (111,44/45) ethisch-diesseitig gedeutet werden soll, so soll in den Kronenwächtem unmittelbar die Analoge

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Ganz zuletzt erhält damit das Leben Bertholds, die Geschichte von einem, der sich in die Zeit nicht finden konnte und an ihr zugrunde ging, eine neue Dimension. Die äußerste Negation, der Tod, „diese härteste aller Prüfungen" (518), scheint klärende Voraussetzung für den, freilich sprunghaften Übergang zu einem neuen Anfang. Das ist hier ganz konkret lebendig zu verstehen. Bertholds ,Zukunft' sind Anton, Anna und das Kind. Ihnen wendet sich daher das Interesse des Romans im folgenden zu. Die bewußte, tätige ,Selbstaufhebung' des Einzelnen in der Zeit bedeutet hier zugleich — und das gilt immer bei Arnim - seine Aufhebung in einer größeren Gemeinschaft. Folgerichtig gehen dann auch Bertholds zuletzt erworbene Tugenden auf seine Nachfolger über: Anton sucht nur der „Landessache" (780) zu dienen, so gut er sie eben versteht, er hilft selbstlos „dem alten Anno ohne Lohn und Brot" (ebd.) und läßt sich in seinem Vertrauen auf das Edle in den Menschen durch böse Einflüsterungen nicht beirren (781/782). Er nähert sich jetzt dem für Arnim so wichtigen Wunschbild naturnaher Kunst, mit dem z.B. Dichtung und Geschichte beginnt; und die Art und Weise, wie er das Bild über der Tür vollendet, steht deutlich in Analogie zum hoffnungserfüllten, teilweise bewußt utopisch angelegten Schluß des Zweiten Theils19 — wie es überhaupt auffällt, daß der Anton dieser Kapitel mehr mit dem Schluß, als mit den vorhergehenden Partien des Zweiten Theils gemeinsam hat. Von Weissagungen der Versöhnung erfüllt sind die beiden Lieder, die im Umkreis der Tauffeier gesungen werden; es sieht dabei so aus, als sollte am Beispiel des Kindes das ethische Prinzip des Romans unmittelbar vor Augen treten, wenn es heißt: „Vertrau dem Wort in deiner Seele, Das dir nicht eigen, du bist sein" (789). Und deutlich utopische Züge der Wiederkehr des goldenen Zeitalters und einer transzendierenden Vollendung menschlicher Bildung zeigt der Schluß dieses Liedes: von Glaubens-Zuversicht und Hoffnung auf eine historische Zukunft zum Ausdruck kommen. Der Tod Bertholds erinnert von da her nicht nur an den der Gräfin am Ende der Gräfin Dolores (vgl. 510: „Der Zukunft gehört alle Welterfahrung (...) in ihr lebt alles Vergangene ein vollkommenes Leben"), sondern mehr noch an den Scheintod des Grafen in der Mitte dieses Romans (vgl. 306/307 ff). Was dort einer einzigen Person möglich ist, ein neuer Anfang, wird hier auf zwei Personen verteilt. 19 Vgl. 786/787, 793, 877 f, 1035.

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Des Paradieses Frucht bewahre, Der Apfel reift zur Winterszeit, Und du wirst selbst das ewig Wahre, Suchst du des Schönen Seligkeit.

(789) 20

Ein Lieblings-Motiv Arnims schließlich, die Wechselwirkung von jenseitigem Glauben und diesseitiger Tätigkeit21 wird am Ende des Ersten Bandes gestaltet (797 f): Die Szene ist zugleich von äußerster Verdichtung der Ereignisse und der tiefen Stille persönlicher Lebensentscheidung erfüllt. Die Zeit der Welt und die des eigenen Herzens, der .feste gleiche Gang' der Turmuhren und der Mühlräder klingt zusammen mit dem .heftigen Schlagen' im Innern. Aus „reinem Herzen" sucht Anna Anton wieder zum Leben zu erwecken. Damit wird motivisch und thematisch auch die zauberhafte Heilung Bertholds durch Faust korrigierend aufgehoben, was zugleich Korrespondenzen zu Bertholds Mutter (vgl. 583) und vor allem zu Susanna (vgl. 876) eröffnet. Anna folgt, wie früher Berthold, ganz ohne es zu wissen, einer vorbildlichen Tradition. Der „angestrengte, heilende Wille" nimmt ethische wie religiöse Züge an, die zerrissene Wirklichkeit erscheint vorgreifend einen Augenblick lang versöhnt. Dabei ist die religiöse Heilsgewißheit zwar das Movens dieser Versöhnung, aber nicht ihr Inhalt; nur in der Form des Vergleichs wird sie mit ihr in Zusammenhang gebracht. So schließt der Roman mit einem Bild diesseitiger Hoffnung aus jenseitigem Glauben: Welch ein Morgen, der solchen Jammer erhellt, aber Anna hofft auf Zeichen und Wunder. Anton wird erwachen, das glaubt ihr Herz, das erfüllt ihre Gedanken, wie die Verheißung des ewigen Lebens die gläubige Seele, daß sie der irdischen Sorge entrissen, den Himmel mit ihren betenden Lippen zu berühren, mit ihren ausgestreckten Armen zu umfassen glaubt. (798)

20 Vergleicht man diese Hinweise auf Bedeutung und Schicksal von Bertholds Kind mit dessen Rolle im Zweiten Theil (vgl. 911 ff), so wird deutlich, daß eine eventuelle Fortsetzung völlig anders ausgesehen hätte, als das, was vorliegt. 21 Vgl. z.B. den Schluß von Halle und Jerusalem (16,380 ff), das ja aufweite Strecken eine Geschichte religiöser Läuterungen ist: „Dieses ist der Worte Ziel,/Doch des Lebens Ziel ist Handeln" (16,400).

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3. Die Kronenwächter gegenüber der Tradition des Bildungsromans

Die Umarbeitung des Kronenwächter-Fragments, der Wechsel vom Zweiten Theil zum Ersten Band hat den Roman-Typ, der schließlich vorliegt, tiefgreifend verändert. Er ist ganz allgemein realistischer, stärker induktiv fragend und suchend und ebenso gegenständlich begrenzter geworden. Gerade das Verhältnis von Held und Umwelt macht das sichtbar: Der Anton des Zweiten Theils hat von vorneherein etwas Fertiges: eine kraftvolle, auch in ihren Verirrungen poetischritterliche Gestalt. Die wechselnde Szenerie, in die er gestellt ist, wirkt dagegen häufig kulissenartig. Sie liefert ihm Situationen und Stichworte, an denen er seine Tugenden und Fehler erweisen kann. Auch die wichtigsten Gestalten, die der Autor ihm mitgegeben hat, Susanna und Seeger — nur sie kommen in allen Episoden vor - verkörpern deutlich das Gute und das Böse in ihm selbst. Das erinnert an Karl V. in Isabella von Ägypten, der ebenfalls zwischen Alraun, Golem und Bella als zwischen verschiedenen Seiten seines Charakters steht; der Zweite Theil der Kronenwächter ist hier sogar noch eindeutiger als diese oder die anderen, ebenfalls hierin vergleichbaren Erzählungen der Sammlung von 1812. Der Nachtrag vermerkt in diesem Sinne ganz allegorisch durchsichtig: Anton und Seeger waren ursprünglich eins und „gehen in eins zusammen" (1045). Ebenso werden Anton und Susanna sich schließlich zu einer einzigen Person vereinen (vgl. ebd.). Und entsprechend dieser Korrespondenz von Held und Umwelt ist auch das Ziel von Antons Erziehungsweg, „das Bewußtsein eines größeren Geschickes, dem nicht zu entfliehen" (1022), klar vorgezeichnet. Berthold dagegen ist auf seine Individualität reduziert. Sein Selbstbewußtsein ist ihm bis zuletzt problematisch, und der Anspruch, den seine Umwelt an ihn stellt, ist, bei aller Widersprüchlichkeit seiner 40

Situation, ins Unabweisbare gewachsen. Bis in alle Einzelheiten hinein lebt er unter den Bedingungen bürgerlicher Zeit, wo alles auf Gewissensentscheidungen, persönliche Liebe, Arbeit und Überzeugungskraft ankommt, auf Besitz, der Macht verleiht, Auseinandersetzungen und Kompromisse gleichberechtigter Parteien, wechselnde Mehrheiten, vor allem aber auf einen ständigen Übergang, Ausgleich oder Streit alter und neuer Verhaltensmuster. Das ist, wie gerade der Unterschied zum Zweiten Theil zeigt, in vielem bereits die Welt des bürgerlichen Entwicklungs- und Bildungsromans.1 Dieser wäre dann in den Kronenwächtern lediglich stärker ins Politische und Historische verschoben. Auch der Maßstab für die Entwicklungsgeschichte in diesem Roman, daß ein Einzelner, durch wechselnde Schicksale erzogen, den Weg zur Realität und zu seiner Rolle in ihr findet, daß er mit seinem eigenen Wachsen auch auf seine Umwelt einwirken soll, schafft eine gewisse Nähe zum Bildungsroman. Das Scheitern des Helden in den Kronenwächtern ändert daran prinzipiell nichts.2 Der Maßstab bleibt davon unberührt. Auch für die Gattung des Bildungsromans ist ja die „komplementäre Spiegelung" des verfehlten und des gelungenen Bildungsweges konstitutiv.3 Die Grundidee einer „Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit"4 bleibt ja in der Tat dieselbe, ob der Romanheld dies erreicht oder scheiternd seine Wirklichkeit verfehlt. Zumindest auf der Romanebene, die das Leben Bertholds erzählt, können also auch die Kronenwächter mit dieser Gattung in einen Zusammenhang gebracht werden, der dann auch dem unverkennbaren Abstand Bedeutung verleihen könnte. Eine Reihe gemeinsamer Elemente sind entsprechend unschwer zu finden: der Modellcharakter der Kindeqahre, der Schwerpunkt der Darstellung auf dem Übergang der Lebensalter, das Motiv der frühen

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Vgl. L.Köhn, Entwicklungs- und Bildungsroman. 1969 und J.Jacobs,Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. 1972. 2 Ein von J.Jacobs nicht genügend berücksichtigtes Prinzip (vgl. v.a. S. 166ff and 271 ff). 3 Vgl. L.Köhn, S. 102. 4 G. Lukacs, Die Theorie des Romans, S. 135.

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Begegnung und langen Trennung der Geliebten, die Position des Helden zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Ständen, die Bedeutung der Liebe als Indikator seines Gesellschafts-Verhaltens, eingefugte, vorbildliche oder warnende Erzählungen, die exemplarische Belohnung oder Bestrafung des Helden zum Romanende und wohl noch manches mehr. Die wichtigste und augenfälligste Verbindung stellen aber wohl jene Ratgebergestalten dar, die, gegenüber dem übrigen Personal des Romans herausgehoben, von außen immer wieder in Bertholds Lebensraum eintreten und ihn in ihren ,Bildungsgesprächen' zu beeinflussen suchen. Arnim hat dabei die Idee persönlicher Bildung als einer auf Erfahrung gegründeten Selbsterziehung, deren Ergebnis prinzipiell offen ist, eher noch verschärft. Denn keiner dieser Ratgeber, deren Lebensführung und Wirklichkeitsauffassung im Roman diskutiert wird, vermag dessen Bildungsziel rein auszusprechen oder gar zu verkörpern: Die ironische Selbstaufhebung des Baumeisters im ewig unvollendbaren Kunstwerk z.B. (vgl. 599), eine Anspielung auf künstlerische Tendenzen der Frühromantik, bleibt zu eng persönlich; sie zielt garnicht auf öffentliche, politische Folgen. Der andere, ebenfalls .romantische' Künstlertypus,5 Grünewald, ist trotz seiner Fähigkeit, Stimmungen und Hoffnungen seiner Umgebung aufzuspüren und auszusprechen, ein haltloser, vertrauensseliger, ständig von Selbstmitleid erfüllter und zu allem zu brauchender Schwärmer. Seine Verwandlungsfähigkeit ist keine tätige ,Selbstaufgabe' sondern eher eine Art Selbstverlust. Auch der Renaissance-Utopist Treitssauerwein und der Mittelalter-Traditionalist Ehrenhalt werden deutlich kritisiert.6 Faust verkörpert in seiner frevelhaft eigennützigen Manipulation der Naturgesetze geradezu das schlechthin Böse, das aber gleichwohl auf lange Sicht zum Sieg des Guten beitragen muß. Eine gewisse Vorbildlichkeit kommt dagegen der Gestalt des alten 5

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Arnim bezeichnet in der Dedikation des ersten Wunderhom-Bundes an Goethe sich selbst als ,Grünewald' (vgl. H. Härtl, S. 104); dessen Bild ist im Zweiten Theil viel gewichtiger (vgl'.977: „Ihr werdet noch allen aus der Not helfen, ohne selbst einen Rat zu wissen, Ihr seid ein Mann des Zufalls"), und erinnert in einzelnen Zügen an den Prinzen von Papagonien aus der Gräfin Dolores, eine andere Selbstdarstellung Arnims. Vgl. unten S. 44.

Anno zu: Er hat, wie es heißt, das „niedrige Erdenleben" aufgegeben, um sich meditierend und betend dem „Himmel" zu nähern (vgl. 763 ff). Gerade dadurch aber ist er — ein für Arnim zentraler Gedanke 7 — der „Erde" erst eigentlich nahe gekommen, zurückgekehrt zum einfachen Rhythmus des Wachsens, Reifens und Vergehens; und zugleich ist er wohltätig gegenüber seinen Mitmenschen. Das erinnert nicht nur an den Anfang des Romans, sondern mehr noch an jenes Lob der Landleute, das unvermittelt in die Beschreibung der Burg Hohenstock eingebracht wird: Das Jahr ist uns eine Tat, die uns vom Beginnen bis zum Schluß unter Arbeit und Festen an sich fesselt, als gehörten wir notwendig zur Welt, ja wir fühlen uns Mitschöpfer und Mitgeschaffene zugleich. (748) 8

Hier spricht sich einmal mehr jenes Ideal schöpferischer Kontinuität aus, an dem Arnim, trotz aller Problematik stets festgehalten hat. Aber dieser „Erziehung der Menschen in dem Reichtum himmlischer Gaben" (763) stellt schon Anno selbst die ebenso notwendige „Erziehung in Reue und Jammer" gegenüber (764). Man darf den Antagonismen der Wirklichkeit nicht entfliehen, „nicht jeder bleibt in seiner Unschuld unsträflich" (764). Das meditative, weitabgewandte Leben ist kein Ersatz für das tätige, immer unsichere und leicht in Schuld verstrickte, welches die Wirklichkeit fordert. Gerade daß Berthold in deren Widersprüchen sich aufreibt, läßt ihn ja über seine Schuld hinauswachsen. Nur als Trost in der Resignation kann es daher für Arnim Vorbildlichkeit beanspruchen, wenn Anno „die Ereignisse dieser Welt (...) nur immer als Gleichnisreden zur Belehrung" betrachtet, „aber nicht als etwas, das an sich bestehe" (763). Auch der alte Anno hat deshalb nur die „Sorgen", nicht aber den „Fleiß" aufgegeben; und noch krasser wird die weitabgewandte Innerlichkeit und Jenseits-Suche im Nachtrag kritisiert, wenn es von der .leeren Einsamkeit' heißt:

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„Daßje näher wir der Erden / Auch so näher wir dem Himmel" (23,201). Vergleicht man die Stelle mit der von A. Wilhelm (S. 80 ff) mitgeteilten Quelle, einem Brief U. v. Huttens an Pirkheimer, so erkennt man deutlich, daß es sich hier um einen Zusatz Arnims handelt, der dem klagenden Tenor des Briefes klar widerspricht. 43

Das innre Leben ward nicht mein /Weil ich das äußre mied / (...) Es meidet keiner Lebensnot,/Wohin er sich entzieh,/Und wer nicht sorgt für täglich Brot/Genießt das ew'ge nie/(...). Gott (...) gab dir mehr als einen Mund,/ Der die Gebete lallt. (1036-1038) 9

Alle diese Gestalten treten mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Lebenshaltung auf. Aber die durch den Roman-Kontext erbrachte Kritik prüft sie gerade auf ihr Verhältnis zum Eigenrecht des Wirklichen. Und zwar ist es vor allem Berthold, der paradoxerweise diese Kritik leistet. Zum einen, und unmittelbar, durch die Antworten, welche er in den jeweiligen Bildungsgesprächen gibt. So sagt er z.B. von Faust, daß „gerade die allgemeine wissenschaftliche Ansicht, wenn sie allein herrschend würde, die sittlichen Grenzen des einzelnen Menschen auslösche" (613). Oder er erklärt dem Ehrenhalt: „Ich meine, daß ein hochberühmtes Geschlecht nach Gottes Weisheit von der Höhe schwindet und dem gemeineren Platz macht, wenn seine Fortdauer Gräuel brütet" (658). Noch wichtiger aber ist die mittelbare Kritik, wenn Bertholds eigene Lebensschicksale den verbindlich korrigierenden Kommentar der Bildungseinflüsse abgeben. Es wird ja gerade an seinem .zweiten Leben' deutlich, wie unheilvoll der Einfluß Fausts für ihn war. Nicht anders muß er nach seinem Versuch, Waiblingen zur freien Reichsstadt zu machen, sich selbst eingestehen, daß er, wie Maximilian und Treitssauerwein wirklichkeitsfremd, die .Tugenden und Fehler seiner Mitbürger nicht in sich fühlend', „seine Plane zu weit gemacht, so daß sie nirgends recht passen wollten" (635). Es zeigt sich dabei erneut die spezifische Seh- und Denkweise Arnims: erst retrospektiv kann Bertholds Leben zu einer Bildungsbzw. Verbildungs-Geschichte werden. Erst die letzte Phase seines Lebens kann entsprechend diejenige Kontinuität seines Entwicklungsganges konigierend wieder herstellen, die sein voriges Leben verletzt hatte: durch die Regeneration, die nachgeholten Jünglingsjahre, die

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Es widerspricht Arnims Religionsauffassung und noch mehr der Praxis seiner Dichtung diametral, wenn in der Forschung immer wieder von einem „Sichselbst-Überlassen dem Absoluten" (J. Göres, Das Verhältnis von Historie und Poesie in der Erzählkunst L. Achim von Arnims, Diss. 1956, S.43) bzw. „sich dem Göttlichen Anvertrauen" (H.-G. Werner, S. 20) die Rede ist. Vgl. dazu auch unten Kap.4, S.64f und Kap.6, S. 123.

Vertauschung von Mutter und Tochter in der Liebe und die Verschränkung seines Lebens mit Anton. Hier liegt,unter dem scheinbar Beiläufigen dieser Bezüge, die tiefste, freilich nur tendenzielle Parallele zum Bildungsroman verborgen: die Haltung des antidogmatischen, induktiven Suchens, Fragens, Korrigierens, Demonstrierens und Verallgemeinerns. Eine „Zweckmäßigkeit" des Ganzen, wie es Schiller anläßlich des Wilhelm Meister ausgedrückt hat, „ohne daß der Held einen Zweck hätte; der Verstand findet also ein Geschäft ausgeführt, indes die Einbildungskraft völlig ihre Freiheit behauptet." 10 Der schließliche Roman-Sinn ist so, bei aller sich nach und nach durchsetzenden Idee, letztlich nur aus der Überschau verallgemeinerter, „gereifter und vollendeter Erfahrung" 11 gewonnen, und bleibt notwendig an diese zurückgebunden. Dieses Gewicht der Retrospektive, welche die endliche Einsicht in den Lebens-Sinn stiftet, „die erlebende Bejahung des Lebensprozesses" im „Gedächtnis",12 ist gerade in solchen Modellen des Bildungsromans wie Goethes Wilhelm Meister, Stifters Nachsommer oder Kellers Zweitfassung des Grünen Heinrich breit und ausführlich belegt. Dennoch sind die Kronenwächter kein Bildungsroman. Nicht einmal ihre Tendenz, die sicher über den realisierten Roman hinausgreift, wäre damit adäquat erfaßt. Gerade die Unterschiede aber erlauben es, dieses wohl wichtigste Buch Arnims genauer zu verstehen. Arnim teilt zwar die Voraussetzungen des Bildungsromans, ebenso dessen mittelbar letztes Ziel, „bewußt und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebensverlaufe" darzustellen.13 Und von da her sind viele gemeinsame Elemente zu erkennen. Aber er sah offenbar keine Grundlage und hatte auch kein Vertrauen zu den unmittelbar verbindlichen Realisierungs-Instanzen des Bildungsromans: die Versöhnung einer gerundeten, individuellen Persönlichkeit mit einer in ihrer zusammenhängenden Gesetzmäßigkeit dargestellten und anerkannten, gesellschaftlichen Umwelt.

10 F. Schiller an J.W. v.Goethe, 8. Juli 1976 (Dei Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. v. P. Stapf, Tempel-Klassiker, S. 172). 11 ebd. 12 G. Lukäcs, Die Theorie des Romans, S. 131. 13 W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 273.

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Hier scheint bei Arnim eine gewisse Entwicklung vorzuliegen: Denn als Modell einer Bildungsgeschichte, schon hier stark politisch akzentuiert, läßt sich durchaus die Erinnerung an Horace Benedikt von Saussure verstehen, die Arnim 1802 seinem in der Weri/ier-Nachfolge stehenden Roman Hollins Liebeleben angehängt hatte: Viele brave Männer erweiterten ihr Gemüt zu dem einzelnen großen Wirkungskreise ihres Lebens, wenige haben den Sinn des wahrhaft großen Lebens, in dem auch der beschränkteste Wirkungskreis groß wird. Das Beispiel jener mag den einzelnen stärken, das Beispiel dieser könnte allen fruchten, weil alle darnach streben sollten. (II, 76)

„Frei im freien Vaterlande geboren" und „allseitig gebildet" vermag Saussure auch alles, was er tut, „dem Ganzen fruchten zu lassen" (II, 78 u. 82); er vereinigt „Theorie und Praxis", Gelehrten, Bürger, .Arbeiter' und Staatsmann: Und war es wohl zuviel, was ich von ihm verkündete, sein Leben sei ein harmonisches Ganzes und doch der Keim unendlicher Entwicklung gewesen? Blicken wir noch einmal umher, wo ist Störung oder Verirrung der Kraft, wo Rückgang oder Widerspruch in Wort und Tat? Alles im einzelnen ist gut, alles verbunden ist groß. (II, 85)

Aber schon hier ist bezeichnend, daß Arnim diese Bildungsgeschichte - im Gegensatz zur Schlußbetrachtung kennt sie auch die Krisen und Störungen der Entwicklung — in ein fremdes Land, das demokratische Genf,und in die Vergangenheit des achtzehnten Jahrhunderts legt; daß er ihr weiterhin die Form einer rein berichtenden, mit Anmerkungen und Quellenangaben versehenen Biographie gibt, und daß er sie noch dazu nur als korrigierende „Beilage" nach den „Papieren" einer Person aus seinem Roman, der Erzählung von einer verfehlten Lebensgeschichte, einführt. Von einer anderen Seite scheint Arnim den Bildungsroman dann am Ende der Gräfin Dolores zu streifen. Denn es sieht so aus, als sollte die lange Krisengeschichte einer Ehe und ihrer Umwelt schließlich in eine zukünftige Bildungsgeschichte des Grafen und seines Vaterlandes integriert werden: am Ende des Romans fühlt sich der Graf

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wieder erfrischt, das Leben zu ertragen und es in allen seinen übrigen Wirkungskreisen zu vollenden, er fühlte sich gestärkt, bei dem Rufe seines bedrängten Vaterlandes, sich von dem Grabe seiner Dolores loszureißen, den Deutschen mit Rat und Tat, in Treue und Wahrheit bis an sein Lebensende zu dienen: ihm folgten seine Söhne mit jugendlicher Kraft. (513)

Vor diesem Hintergrund nun ergibt sich für die Kronenwächter ein eigentümlicher Widerspruch: in Anlage, Voraussetzungen und Ziel kommen sie dem Bildungsroman näher als irgend ein anderes Werk Arnims,14 aber von dessen zentraler, sich realisierender Idee sind sie weiter entfernt als die eben angeführten Ausblicke der früheren Romane: Auch Arnim geht, wie der Bildungsroman, von der Idee einer subjektiv allgemein' begründbaren, sittlichen Freiheit des Individuums aus. Das wird das nächste Kapitel zeigen. Auf die Tätigkeit und Initiative des Einzelnen ist der Fortschritt und die Vollendung der Allgemeinheit notwendig angewiesen. Aber gleichzeitig scheint er seinem Helden das Feld seiner Bildung und Betätigung zu entziehen. Er rückt ihn, wie gesehen, konsequent aus dem Mittelpunkt des Romans. Berthold ist nicht nur tief widersprüchlich angelegt, er ist auch viel weniger als frühere Gestalten Arnims ein plastisches, lebendiges Individuum, ja sein Autor .zerlegt' ihn geradezu in verschiedene Funktionen. Das Interesse des Romans gilt letztlich gar nicht ihm, als einer, ihre Erlebnisse zur Klarheit des Bewußtseins verarbeitenden Gestalt, sondern dem, was an ihm sichtbar gemacht werden kann. Nur ein Teil der Bedeutungswelt des Romans wird von ihm erfaßt, und nur eine begrenzte, fast schon negative Wahrheit steht am Ende seines Entwicklungsweges. Das sind alles tiefgreifende Unterschiede zum Bildungsroman. Umgekehrt folgerichtig ist nicht nur die Einheit des Individuums hier aufgelöst, der Held findet auch an seiner Umwelt keinen rechten Halt. Es ist ja bezeichnend, daß nach anfänglichem Erfolg das bürgerliche Leben Berthold krank macht, die spätere Neigung zu ritterlichadliger Lebensführung aber seine Schuld und sein Scheitern mit sich bringt. Und diese gesellschaftliche Umwelt des Helden, die Realität 14 Arnim hat während der Zeit der Umarbeitung des Ersten Bandes den Wilhelm Meister „wie ein ganz fremdes Buch wiedergelesen" und die „ungemeine Tiefe von Weisheit" darin bewundert (G, 305). 47

seiner Lebens- und Entwicklungsbedingungen, so definitiv ihr Einfluß ist und so illusionslos sie anerkannt wird, ist immer nur im Bezug auf bestimmte, zentrale Probleme dargestellt, nicht, bzw. nur in fast punktuellen Einzelzügen, in ihrer Eigengesetzlichkeit. Damit hängt konsequent eine weitere Eigentümlichkeit zusammen. Bildungsroman und .realistische Mimesis', das notwendige Medium zu dessen Realisierung,15 treffen bei Arnim auf deutlich analoge Widerstände: Mit dem Verzicht auf die Einheit einer subjektiven Perspektive, sei es die eines Erzählers oder einer Person, geht hier nicht nur der Verzicht auf die Darstellung gesellschaftlicher Eigengesetzlichkeit, sondern auch der auf einen kontinuierlichen Zusammenhalt der gegenständlichen Welt überhaupt einher.16 Arnim sucht, oft sehr treffend, das Detail, stiftet eine Vielzahl von Bezügen, aber er hält sich dabei nicht an eine räumlich oder zeitlich identifizierbare Folge der dargestellten, gegenständlichen Sachverhalte oder Eindrücke.17 Der reale Nexus der Einzelheiten ist dabei durchaus vorhanden, das wird sich am Beispiel des Historischen im Roman noch zeigen, ebenso klar ist die Einsicht in wesentliche, gesellschaftliche Strukturen, aber diese Realzusammenhänge stehen hinter dem hervorgehobenen Detail; Arnim versucht gar nicht, sie im Text der Dichtung, bzw. in deren dargestellter Welt zu reproduzieren. Denn er hat ein, den Konventionen des Realismus wie den Forderungen des Bildungsromans völlig entgegengesetztes Verhältnis zu seinem Roman. Kann man dort von einer „teleologischen Funktion des Erzählens" sprechen,18 so kann man umgekehrt sagen, daß in den Kronenwächtern letztlich der Autor selbst, nach der Art der Helden

15 L.Köhn, S. 23. 16 Zu diesen Prinzipien des literarischen Realismus vgl. R. Brinkmann, Zum Begriff des Realismus, in: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, S.229/230; G.Kaiser, Um eine Neubegründung des Realismusbegriffs, in: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, S. 248 f und 256 f; ders., Realismusforschung ohne Realismusbegriff, in: Deutsche Vierteljahresschrift 4 3 , 1 9 6 9 , S. 1 5 2 f f . 17 Diese „Kohärenz des Dargestellten" (S.Kohl, Realismus, 1977, S. 194), scheint mir das entscheidende Kriterium .realistischen Beschreibens' (vgl. S. Kohl, S. 228) zu sein, und ebenso den Desillusions- und Erkenntnis-Funktionen des Realismus zugrundezuliegen (vgl. S.Kohl, S. 187 ff). 18 L.Köhn, S. 10.

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im Bildungs- und Entwicklungsroman, ein ,Suchender' ist. Er steht nicht über, sondern innerhalb der dargestellten Welt. Seine Sentenzen z.B. setzen sich der Interpretation durch den Rest des Romans aus, sie bilden nirgends ein Ergebnis oder eine feste Wahrheit. Genauso schieben sich die Fragen, Probleme, Hoffnungen und Vorbehalte des Autors vor die Darstellung des zentralen Individuums und dessen Umwelt, sie werden nicht in deren kontinuierlicher Entwicklung und Auseinandersetzung gespiegelt, wie im .realistischen' Bildungs- und Entwicklungsroman. Das ergibt z.B. eine völlig andere Konflikt-Struktur: im Bildungs-Roman arbeitet sich das problematische Individuum an den öffentlichen Zuständen ab, stößt mit der Klarheit über sie auch zu plastischer Deutlichkeit des eigenen Selbstbewußtseins vor; und über beides kommt der Roman zur Repräsentation human verbindlicher Fragen und Inhalte. Bei Arnim ist es unmittelbar und so gut wie nur die Frage nach der .conditio humana' selbst, welche die Konflikte der Entwicklungsgeschichte zusammenhält: Der Mensch als ein der Zeit und Kreatürlichkeit unterworfenes, als ein gesellschaftlich lebendes und als ein der Moral und Selbstbestimmung fähiges, in diesem dreifachen Sinne also als ein .geschichtliches Wesen' — diese kategoriale Frage stiftet unmittelbar den Zusammenhang im Leben des Romanhelden. Mit ihr in erster Linie, weniger mit seiner Umwelt, muß er sich auseinandersetzen. Die Probleme, welche der Autor sieht, vor allem aber die Forderungen, die er stellt, bestimmen ebenso unmittelbar aber auch die Darstellung der gesellschaftlichen Realität in den Kronenwächtern. Zwar streben Arnims Ideen, zielt sein gesamtes Denken auf die konkrete Realität des Lebens hin. 19 Insofern sind die Kronenwächter, 19 Am ausführlichsten wird dies, soweit ich sehe im Gegensatz zu allen anderen, umfangreicheren Arnim-Monographien, von G.Möllers und U.Ricklefs herausgearbeitet. So geht Möllers von der richtigen Erkenntnis aus: Arnim „stellt das künstlerische Subjekt in das Bezugsfeld seiner Auseinandersetzung mit der historischen Wirklichkeit" (S. 2); er nimmt die Offenheit dieser Auseinandersetzung aber wieder zurück - m.E. aufgrund eines zu eng verstandenen .Geist'-Begriffs und einer falschen Einschätzung der .Vorzeit' bei Arnim. Denn hinter den realen Antagonismen steht nach Möllers „die Entfremdung der Gesellschaft insgesamt von einem ursprünglich höheren, besseren, ein» heitlichen Zustand" (S. 25); während dieser Gott näher stand, ist es heute die Aufgabe des Künstlers, „den sich in der Welt manifestierenden göttlichen

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obwohl sie eine mehrfache Entfremdungsgeschichte erzählen, kein „Entfremdungsroman". 20 Die „Immanenz des Sinnes" im Roman entsteht hier nicht „aus dem rücksichtslosen Zu-Ende-Gehen im Aufdecken ihrer Abwesenheit" in der dargestellten Realität. 21 Der gesuchte Sinn wird allegorisch, legenden- und sentenzhaft deutlich ausgesprochen, er kommt auch klar in der Denkbewegung zum Ausdruck, welche den Roman durchzieht. Und immer ist er auf zumindest punktuelle Übereinstimmung mit der Realität in Vergangenheit und Gegenwart, volle Harmonie in der Zukunft hin angelegt. Entsprechend wird Bertholds,Entfremdung'ja auch als Schwäche gezeichnet, als ein unglückliches Verhängnis; mit der äußeren Welt zerfällt für ihn, wie immer für Arnim 2 2 auch die innere. Aber umgekehrt ist der Autor nicht bereit, im realistischen Sinne die ,Realität darzustellen wie sie ist', zumindest nicht als einen geschlossenen Zusammenhang, solange sie seinen Forderungen nicht entspricht. Damit klärt sich das Verhältnis der Kronenwächter zum Bildungsroman. Weil Arnim den wesentlichen, gesellschaftlichen Ständen und Strömungen seiner Zeit insgesamt mißtraute, sah er folgerichtig auch für die Bildung des Individuums in ihnen keinen sinnvollen Platz, auch nicht in ihren Entsprechungen oder Vorläufern in der Vergangenheit.23

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Willen mit der irdischen Existenz fortwährend zu versöhnen" (27). Der Gedankengang Arnims wird dadurch unangemessen verkürzt. Zu Recht warnt dagegen U. Ricklefs davor, Arnim eine „Spekulation im Sinne etwa des Schemas von Abfall und Rückkehr (S. 42) zu unterstellen. Entscheidend ist der „Weg von der Phantasie zur Realität" (S. 250): „Die Magie der Einbildungskraft, die täuschende Erfindung sucht in einer Umkehrung des subjektiven Prozesses das Imaginierte als Gegebenes, als die unabhängig vom Subjekt beglaubigte Realität, als das Positive der Anschauung zu erfahren" (S. 331). So W. Vortriede, Achim von Arnim, S. 258. G. Lukäcs, Die Theorie des Romans, S. 70. Vgl. III, 146: „Das innre Leben ward nicht mein, / Seit ich das äußre mied", und 1036, wo „seit" durch „weil" ersetzt wurde. Den Weg A. Stifters, die offenkundigen Grenzen der selektiven Kunst-Utopie des Nachsommer im historischen Roman Witiko dadurch zu korrigieren, daß er sie zur ethisch-politischen Staats-Utopie erweitert und in eine gereinigte Vergangenheit projiziert, diesen Weg einer Verschmelzung von Bildungsroman und historischem Roman ist Arnim in den Kronenwächtern ganz konsequent nicht gegangen. Schon das müßte alle Thesen von einer besseren ,alten' und

Dann trennt sich schließlich auch das bisher als gemeinsam bezeichnete Bildungs-Ziel der Kronenwächter von dem des Bildungsromans, ebenso, wenn ich recht sehe, von dem der früheren Werke Arnims. Denn der Wert einer persönlichen .Vollendung des Lebens in allen seinen Wirkungskreisen' (vgl. 513), mit dem noch die Gräfin Dolores schließt, ist offensichtlich in den Kronenwächtern gar nicht mehr entscheidend. Es kommt gar nicht mehr auf eine Versöhnung bzw. „Übereinkunft des aktiven Menschen mit der Wirklichkeit" an. 24 Die Vorstellung, welche die Kronenwächter von allen Seiten umkreisen, ist vielmehr deutlich und immer wieder die einer .Aufhebung' des Individuums: in der Zeit, in einer größeren Gemeinschaft, im ,Geiste', in der Zukunft. Diese .tätige Selbstaufgabe' setzt die selbstverantwortliche Initiative des Einzelnen voraus, seine Erkenntnis und Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und so gesehen auch seine .Bildung'. Aber wenn Arnim sagt, daß die „Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde" (1040), so meint er damit die Bildung des Volkes, der Allgemeinheit. Dieses ist das Ziel. Es hebt das des dargestellten, individuellen Lebens- und Bildungsweges notwendig auf, auch und gerade da, wo dieser zum Ideal verklärt ist. So heißt es auch von Anton im Nachtrag: „Im Vertrauen auf die Krone stirbt er" (1045). Und dem entspricht es, daß auch das Darstellungs-Ziel des Autors nicht eine vorliegende Realität ist, sondern „die Umbildung der Welt" (1038), die der ,Kunstberuf' freilich nicht leisten, in die er aber .eingreifen' soll. Auch dies will Arnim, wie sich noch zeigen wird, als eine .tätige Selbstaufgabe' verstehen. Für beide Tendenzen ist es bezeichnend, daß im Nachtrag als „das Ende" einmal „eine Zeit" angesprochen wird, „welche durch ihr Bestreben zum Allgemeinen alle besonderen Ansprüche aufhebt." (1050)

einer .verderbten neuen Zeit' (so v.a. E.-L.Offermanns in seiner Interpretation der Gräfin Dolores, Diss. 1959;vgl. auch die Kritik von J.Knaack, S.30ff) fragwürdig machen. 24 Vgl. H. Härtl, S. 6: „Arnim hält eine Übereinkunft des aktiven Menschen mit der Wirklichkeit für möglich - er vermag sie jedoch nur als Ideal zu propagieren". Dies bezieht sich allerdings auf den jungen Arnim. Der spätere, von dem Härtl „mit einigem Recht" sagt, daß er „der .eigentliche' war" (S. 21) stellt, zumindest in den Kronenwächtern, zugleich umfassendere Forderungen als auch skeptisch-resigniertere Diagnosen seiner Zeit.

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So nähert sich Arnim einerseits dem Bildungsroman, ohne ihn zu erreichen. Andererseits, sowohl der Idee wie der Form nach, sucht er ihn bereits wieder hinter sich zu lassen. Die Kronenwächter tendieren im ganzen viel stärker zu einer anderen Gattung des Romans, wobei sich Bezüge auftun, die weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein reichen. Zugleich aber wird von hier aus schon etwas von der Aporie sichtbar, in die Arnims Romankonzeption ihn nahezu zwangsläufig fuhren muß, und die sich an diesem Fragment gebliebenen Roman vielleicht am deutlichsten von allen seinen Werken ablesen läßt.

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4. Die Symbolik in den Kronenwächtern: Mythos, Ethos, Utopie

Gerade an den Wendepunkten seines Lebensweges, ,Schatzfund', ,Sturm', ,Heilung', ,Tod' sieht sich Berthold, der negative, freilich auch nicht mehr umfassend repräsentative Held des Ersten Bandes der Kronenwächter, einer höheren, unbekannten Macht unterworfen, in eine Form von Geschichte eingebunden, die seinen Erfahrungshorizont übersteigt, und die er durch sein Handeln nicht beeinflussen kann. Es sieht so aus, als könnte er sich aus dem Mythos nicht befreien, der im falschen Sinn-Anspruch der Kronenwächter und in ihrem verbrecherischen Handeln pervertiert worden ist, obwohl er ihn nur noch leidend erfährt. Berthold vermag daher auch nicht ein eventuell neues, sinnvolles Muster in diesen seinen Schicksalen zu entdecken, zumindest nicht bis zum Augenblick seines Todes. Darin scheint sich erneut eine Folge der Umarbeitung auszusprechen. Die Menschen im Zweiten Theil, auch die Bösen, sind zumindest gegen Ende des Romans durchaus in der Lage, ja ihre Entwicklung zielt wesentlich darauf ab, die „wunderlichen Schicksale", die ihnen begegnen, zugleich als ein „inneres Leben in ihnen" zu erkennen (976): „Es ist ein eigner Zauber an mir", sagt Anton, „es macht sich alles von selbst, und wird alles anders als ich meine, bin ich etwa der Zauberer, der seine Kräfte nicht kennt"(953)? Dem entspricht die Tatsache, daß Antons Bildungsgang nichts anderes als ein persönliches Hineinwachsen in den Platz sein soll, den der umfassende Kronenwächter-Mythos für ihn vorsieht. In seinem, an der Oberfläche der Entscheidung nur ihm selbst bzw. den Forderungen der Gegenwart verantwortlichen Handeln soll er gleichwohl ein Gesetz der Geschichte erfüllen, das bisher im eigenen Innern wie in der Tiefe der Außenwelt verborgen gewesen war: „mit raschem Selbstgefühl durchsetzen, was der Augenblick heischt", um „dem Genius, der auf ein harmonisches Dasein deutet, zu genügen." (1035) 53

Dann ergäbe sich, nur ins Politische und Nationale verschoben, eine gewisse Analogie zu jener spezifisch .romantischen' Variante des Bildungsromans, wie sie — Arnims frühe, schroffe Ablehnung dieses Romans einmal beiseite gelassen1 - z.B. in Novalis' Heinrich von Ofterdingen |vorliegt. Was Anton erst am Ende seiner Erfahrungen zu ahnen beginnt, die Korrespondenz von innerer, seelischer Energie, äußeren Erfordernissen und geheimer, umfassender Gesetzmäßigkeit, das verspürt Heinrich von den ersten Seiten des Romans an. Alles scheint ihm auf eine vorbewußte Weise schon bekannt zu sein. Die Regungen seines Gemüts finden kontinuierlich ihre Antwort in der äußeren Welt, und jede Anregung von dort scheint wiederum .Türen' und .Fenster' in seinem Innern zu öffnen. Das aber ist nach der Gesetzmäßigkeit dieses Romans nur möglich, weil Heinrichs Bildungsgang von vorneherein als Ausdruck, ja Teil einer umfassenden symbolischen ,Welt-Bildung' verstanden werden soll. Diese sucht sich aus Bildern, Reflexionen und einzelnen Zügen der dargestellten Realität heraus zur Klarheit des Bewußtseins und ineins damit zu sinnlich gegenwärtiger, tätiger Anschaulichkeit durchzuarbeiten. Und indem die Poesie im Roman sich als eine solche Synthese des Erkennens und Handelns erweist, demonstriert sie zugleich ihren Anspruch auf weltbildende und -verwandelnde Kraft in der Wirklichkeit außerhalb des Romans. So mündet Heinrichs Bildung zum Dichter in eine „Apotheose der Dichtung": das symbolisierende und .romantisierende' Vermögen selbst, im wechselwirkenden „Übergang vom Unendlichen zum Endlichen", 2 in seinen Veränderungen und seinem Wachsen wird gleichsam Held des Bildungsromans. Und dies wiederum soll zum Indiz und vorgreifenden Modell für eine konkret in der Zeit und Geschichte zu verwirklichende Totalität des Weltsinnes werden, die freilich in der Situation der Gegenwart um 1802, dem Erscheinungsjahr des Ofterdingen, nur utopisch-allegorisch sich äußern kann. 1

In einem Brief an Clemens Brentano vom August 1802: „Dagegen gestehe ich Dir, daß ich Novalis' Heinrich von Ofterdingen nach seinem ganzen Wesen recht mittelmäßig, ja elend finde, wenn gleich manches Einzelne schön ist (...). Das dummgelehrte Bauerngeschwätz allenthalben, das Märchen endlich mit seiner Langweiligkeit, wenn man es nicht errathen kann, und mit seiner Unbedeutendheit, wenn man es nicht weiß!" (C, 41). 2 So Novalis in Briefen an L. Tieck (23.2.1800), Ν IV, 322; und an Caroline Schlegel (27.2.1799), Ν IV, 281. Zur Zitierweise vgl. oben Kap. 1, Anm. 3.

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Zur Symbolik um die Kronenburg Ein wichtiges, aber nicht das einzige, Gestaltungsmedium dieses im Roman erhobenen Anspruchs auf Welt-Bildung nun ist der Mythos vom .Goldenen Zeitalter'. 3 Dieser Mythos erzählt, daß in einer vorhistorischen Zeit die Menschen in harmonischem Einklang mit sich selbst, mit der Natur und den Göttern gelebt haben, ohne Todesfurcht und in ewigem Frühling. In der folgenden Zeit gingen diese Zustände verloren, in der Gegenwart sind sie vielleicht verborgen, aber in der Zukunft werden sie wiederkehren. Die Romantik hat diesen triadischen Geschichts-Mythos aus der Antike und vielen anderen Quellen übernommen und fur die eigene Zeit so nachdrücklich wiederbelebt, daß man nahezu schon von ,dem' romantischen Mythos schlechthin sprechen kann. Man muß sich allerdings klar machen, daß zwischen der Bezeichnung einer poetisch umgebildeten, utopischen Welt der Zukunft als .neues goldenes Zeitalter' und den traditionell mit dieser Idee verbundenen mythischen Vorstellungen, gerade bei Novalis, ein sehr reflektierter und spannungsreicher Zusammenhang besteht. Die Motive dieses ,Goldenen Zeitalters' sind Symptome, aber keinesfalls Träger einer Wiederkehr der alten und zugleich des Anbruchs neuer Zeit. Und sie sind dies zunächst nur in der Welt des Romans, sollen aber, über die .polare Spannung' 4 zur historischen, zeitgenössischen Realität hinweg, auch in dieser korrespondierende Kräfte erregen. So liegt, ohne alles heilsgeschichtliche a priori, s für den Heinrich von Ofterdingen ein konstitutives Strukturelement des gesuchten Romansinnes 3

Zur antiken Fassung dieses Mythos vgl. R.v.Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 1, S. 29; zu seiner weiteren Ausgestaltung, Veränderung und Aufnahme in der Romantik vgl. grundlegend H.-J.Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. 1965; ich gebe den Mythos wohlgemerkt stark verkürzt und vereinfacht wieder. 4 Vgl. H.-J. Mahl, S. 309; vgl. auch unten S.85. 5 M.Elchlepp (A.v.A.s Geschichtsdichtung ,Die Kronenwächter', Diss. 1966) geht in ihrer ausführlichen ATrowenwe'cAier-Interpretation auch auf das Verhältnis Arnims zu Novalis ein. Trotz vieler treffender Einzelbeobachtungen, v.a. zum Augsburg-Kapitel (S. 79-107), hält sie starr an der These fest: „Die wahre Geschichte ist Heilsgeschichte" (171). „Je nach der Harmonie oder dem Widerstreit des menschlichen Handelns mit dem göttlichen Willen erscheinen in der Geschichte .Vollendung' oder .Untergang' (S. 84). Vgl. dazu 55

darin, daß die Spuren des Mythos, die Symbole des .Goldenen Zeitalters' prinzipiell überall im Roman aufbrechen. Hier zeigt sich sogleich ein klarer Unterschied zu Arnim. Denn wenn auch der spätere, problematische Romantiker sich noch immer dieser Symbolik bedient, so ist es doch bedeutsam, daß sie bei ihm ganz gezielt auf bestimmte Räume konzentriert erscheint. Hier kann daher eine genauere Untersuchung der Symbolik in den Kronenwächtern einsetzen, die am Ende dieses Kapitels wieder zu Novalis zurückführen wird. Der wichtigste dieser symbolhaltigen Räume nun ist die Kronenburg. Dem, der in sie einzudringen vermag, bietet sich das folgende, überraschende Bild: Da sangen die Vögel in ewigem, sichern Frieden und die Blumen schienen keinen Winter zu kennen, die Erde schuf sie in einer Fülle von Kiaft wie nirgend sonst; Fruchtbäume an Glasstäben der Glasmauer aufgebunden, standen in voller Blüte, große, bunte Schmetterlinge flatterten hier wie eine Herde. (579)

Die Aufhebung der Jahreszeiten, die Durchdringung menschlichen Wohnens mit Pflanzen und Tieren - wenig später wird erzählt, daß ein Löwe und ein Kind hier friedüch zusammenleben —, die .Fülle' und ,Kraft' der Natur, all das weist auf eine bruchlose Ubereinstimmung von Mensch und Natur hin. Gleichzeitig aber muß man sehen, daß Arnim hier, wie regelmäßig in seinen Dichtungen, dem Wunderbaren in der Erscheinungsform seiner Symbole eine rational-naturgesetzliche Erklärung mitzugeben sucht. Es handelt sich ja um ein aus Glas bestehendes Gebäude, das wie ein Treibhaus eine von Klima und Jahreszeit unabhängige Vegetation ermöglicht. Das, so wird sich noch genauer zeigen, betrifft zwar die weitere Funktion dieser Symbole im Roman, nicht aber ihre unmittelbare Bedeutung. Der Zusammenhang des Goldenen Zeitalters ist ja noch weiter durchgeführt. Wie es auch das .kindliche Zeitalter der Menschheit' genannt wird - „Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter" unten Kap. 6, S. 123. Da M. Elchlepp auch Novalis diese „Identität von Dichtung und wahrer Geschichte" (299) unterstellt, kommt sie zu scheinbaren Gemeinsamkeiten (vgl. S. 371 und 394), die keinem der beiden Autoren gerecht werden. Vgl. dazu unten den Abschnitt Arnim und Novalis, S. 82 ff.

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schreibt Novalis in Blütenstaub (Ν II, 457) - so ist auch die Kronenburg von Kindern bewohnt. Und schließlich sind auch die Menschen hier in fragloser Übereinstimmung von Gefühl und Vernunft in dieser Vollnatur ihrer Umwelt zu Hause. So spricht Martins Lied von des „Herzens Macht" bei dem Kinde in der Kronenburg: „Er ist so sicher in Kräften / So herrlich von Angesicht, / So glücklich in allen Geschäften" (542); die Fürstin nennt den Helden ihrer Erzählung „glorreich in sich" (578); Anton vermag, selbst noch ein Kind, unter dem Einfluß der Kronenburg-Sphäre, gefühlsmäßig und gegen den Rat der Kronenwächter handelnd, das Richtige zu treffen (vgl. 654 f). Und deutlich sind von hier aus auch die Parallelen zu erkennen zu Berthold in seiner Kindheit, als er von den Tieren beschützt und geleitet (vgl. 527 u. 537), unbewußt Zugang zu einem Raum eigentümlicher Sinnfülle erhält (vgl. 538). Schließlich erfährt auch der König im Hausmärchen, von Tieren und Kindern geführt, im Waldesinnern, dJi. im unberührten Wesenskern der Natur wie der eigenen Seele, den Sinn seiner Existenz. Diese Korrespondenzen sind unübersehbar. Genauso deutlich aber ist auch, wie sich dieser mythische Raum von allem anderen im Roman abhebt. Nie z.B. wird die Kronenburg selbst, unmittelbar, sei es personal-szenisch, sei es im Erzählerbericht dargestellt; um so intensiver dagegen ist sie mittelbar präsent, als immer von neuem identisch wiederkehrender Inhalt verschiedener, voneinander unabhängiger Personenerzählungen.6 Wohl nichts in diesem Roman ist daher so genau beschrieben wie sie. Aber auch diese genaue Beschreibung vermittelt im ganzen den Eindruck eines im wörtlichen Sinne ,ou-topischen', nirgends angesiedelten Ortes: so führt der Weg zur Kronenburg einmal ins Waldesinnere, dann ins Gebirge, dann wieder durch .unterirdische Gänge'(758); andererseits liegt das Schloß nicht nur im, sondern dem optischen Eindruck nach geradezu unter Wasser, wenn es ,wie ein Schatten in der Mitte von Wellenschaum' erscheint (578); und an wieder anderer Stelle wird erzählt, daß der gläserne Turm „wie ein Gewölk erscheint" (1043), und daß das „Schloß erschienen und in den Wolken verschwunden" sei(654), so daß der Eindruck entsteht, als schwebe es geradezu in der Luft. 6

So in Martins Lied (539 ff), in der Erzählung der Fürstin (577 ff), in Maximilians Bericht (654 0 , der Bemerkung Grünewalds (716) und schließlich, in der von ihm selbst erzählten Jugendgeschichte Antons (758).

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Selten ist in der Romantik die Trennung von Bild und Wirklichkeit des Mythos klarer und konsequenter dargestellt worden als in den KronenwächternΡ Dem entspricht eine ebenso klare Auffassung des Mythos bei Arnim: „ganz unwahr" sind für ihn die Mythen und Sagen, sofern sie eine vergangene oder gegenwärtige Wirklichkeit aussagen (vgl. II, 671); eine tiefe und unverzichtbare Wahrheit aber enthalten sie als bildhafte Projektionen der allgemeinen, in einem Volke lebendigen Bedürfnisse, Wünsche und Überzeugungen: Mythische Zeit ist die Gewohnheit der Menschen, was sie allgemein geltend fühlen, doch im Einzelnen anschauen zu wollen, sowohl in Zeiten wie in Namen. (G, 245)

So kann er zu bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden mythischen Vorstellungen sagen: „Die Völker glauben die Götterherkunft, die sie wünschen" (G, 249), oder das .Mythische' in den Kindermärchen geradezu auf die erzieherische, z.B. abschreckende Absicht der Eltern zurückführen (vgl. G, 245). Legitim und notwendig erscheint es ihm dann folgerichtig, mythische Büder und Geschichten als Ausdruck der „liebsten Gedanken" eines Volkes (11,671), die dann auch in der Wirklichkeit geschichtsbildend waren oder wieder werden können, in seine Dichtung aufzunehmen; sinnlos aber ist es, aus diesen Bildern, Gegenständen oder Geschichten auf eine ihnen, wie ein Abbild dem Urbild, entsprechende Wirklichkeit zu schließen. Arnims Auffassung 7

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Schon das müßte gegenüber allen Thesen .mythischer Wahrheit' bei Arnim mißtrauisch machen. In der Forschung hat v.a. H.G. Hemstedt (Symbolik der Geschichte bei L.A.v.A. Diss. 1956) diese Auffassung vertreten, der Mythos enthalte für Arnim „eine ewig gleiche metaphysische Substanz" (131), die auch „alles Vergangene und Zukünftige bereits enthält. Es gibt nur Allgegenwart" (158). Arnims Mythos-Auffassung steht einer solchen „Vorformung alles Historischen im Mythischen" (S. 103) klar entgegen. B.Haustein (Romantischer Mythos und Romantikkritik in Prosadichtungen A.v.A.s, Diss. 1974.) hat z.B. dargestellt, wie Arnim regelmäßig gegenüber J. u. W.Grimm eine aufklärerisch-rationalistische Mythen-Auffassung vertritt. In seinen Dichtungen aber, die nach Haustein sämtlich dem Schema der .Erbsünde' folgen, rekurriere Arnim „auf eben die in der theoretischen Auseinandersetzung mit Grimms in Frage gestellten ,UrWahrheiten' der Mythen", und versuche „keineswegs (...), den irrationalen Charakter mythischer Wirklichkeitsdeutung grundsätzlich zu kritisieren" (32): „Die mythischen Mächte sprechen jedenfalls das erste und das letzte Wort" (S. 86). Tiefer kann meines Erachtens Arnim kaum mißverstanden werden.

und Behandlung des Mythos ist also deutlich analog zu sehen zu der oben dargestellten Bedeutung des Traumes: beiden gegenüber allein verbindlich ist die Realität. Und genau wie dort ist es nicht nur sinnlos, sondern geradewegs gefährlich, sich an die vermeintlich .höhere Wahrheit' der traumhaften oder mythischen Bilder zu halten, statt an das, was die Wirklichkeit des Tages bzw. der Gegenwart fordert. Was geschieht, wenn einzelne Gruppen und ihre begrenzten Interessen sich als das mythisch legitimierte Subjekt der Geschichte verstehen, wenn sie ein mythisches Schema unmittelbar in der Realität durchzusetzen suchen, d.h. wenn sie glauben, einen Sinn der Geschichte bereits als eine runde Wirklichkeit zu besitzen, das macht der Umschlag des Mythos im Handeln der Kronenwächter sichtbar. Daß aus dem Machtanspruch, den sie aus dem Besitz der Krone als einem mythischen Gegenstand, und aus der vermeintlich realen .Wiederkehr des Königs' ableiten, nur ein verbrecherisches Handeln folgen kann, ist bereits sichtbar geworden. Ebenso ergeht es ihrem Betrug und Selbstbetrug, bereits, wenn auch gleichsam inselhaft, im goldenen Zeitalter, dem „wunderbarsten Fleck der Erde" (748), ja in einem wahren „Paradies" (745) zu leben. Mit äußerster Krassheit entlarvt Arnim diese Perversion mythischer Wahrheit im Kontrast der Kronenwächterburg Hohenstock gegenüber der eigentlichen Kronenburg. Auch hier durchdringt die Natur den menschlichen Lebensbereich, aber auf eine abstoßende, geradezu kranke Weise - die Stelle ist zugleich ein Beispiel für Arnims von Fragen und Forderungen geleiteten und nicht einen vorgegebenen Zusammenhang der Realität reproduzierenden .Realismus': „Drei alte fette Hunde, deren Haar vom steten Liegen abgerieben war, bellten von den schmutzigen Polsterstühlen", im Hintergrund sieht man „den geschundnen, blutigen Körper eines Haasen", und wenig später wird berichtet, „die Rosse lägen im Hofe (...), die Hunde heulten und bissen aus allen Ecken, und die Enten stürmten die Küche". (740/742)

Ebenso ist Hohenstock ein Ort, an dem die Kinder gewaltsam festgehalten, geschlagen und wie Hasen gehetzt werden (745). Das in der ursprünglichen Harmonie von Mensch und Umwelt ruhende Selbstvertrauen des Handelns ist hier zu Zanksucht, Überheblichkeit oder gar Wahnsinn verkommen. Und noch krasser zeigt sich die Perversion 59

einer Macht, die sich selbst für mythisch legitimiert erklärt, wenn das Glasschloß, als Symbol einer von jedem Punkte aus auf ihren Sinn die Krone — durchsichtigen Welt, im Schloß Hohenstock gewaltsamhinterhältig wiederholt werden soll. Denn Hohenstock ist völlig von „geheimen Gängen durchzogen", denen man „alle Schönheit und Regelmäßigkeit aufgeopfert" hat (741). Die Transparenz des Sinnes soll hier durch totale Kontrolle erzwungen werden. Gerade die fehlende „Schönheit und Regelmäßigkeit" aber macht erst eigentlich auf den Kontrast zur Kronenburg aufmerksam. Erst jetzt, also erneut retrospektiv, tritt die Idee eines „harmonischen Daseins" als solche, von ihrem mittelalterlichen Realitäts-Substrat befreit hervor. Die Verwechslung und Vermischung von Bild und Realität, Sinn und täuschendem Besitz des .Goldenen Zeitalters', von idealem Zweck und historischer Bedingtheit, schließlich auch die daraus erwachsende Verfuhrung, verbrecherisch zu handeln, weil man die ursprüngliche Legitimität noch und für immer zu besitzen und die Zukunft „töricht" zu beherrschen meint (vgl. 1040), all das wird korrigiert. Und völlig folgerichtig handeln ja auch die .echten Kronenwächter', also die, welche die durch den Stockgrafen begründete Tradition fortsetzen, die Hoffnungsträger im ursprünglichen mythischen Sinn, jetzt ganz explizit immer wieder gegen ihren Mythos, wenn sie, wie Bertholds Vater und später Anton, den veijährten Anspruch aufgeben, sich von der Vorzeit abwenden und die Krone anderen auszuliefern suchen.8 So enthalten die Mythen in den Kronenwächtern keine überhistorische Gesetzmäßigkeit, sondern sind umgekehrt selbst den Gesetzen der Geschichte unterworfen, nach denen nichts wiederkehrt, nichts bleibt, und nichts sich genau so erfüllt, wie es geplant war. Auch der Sinn der mythischen Büder und Geschichten ist ja für Arnim immer historisch zu verstehen: es sind Überzeugungen, Werte und Zwecke, 8

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ein vergleichbares Motiv findet sich in der 1818 erschienenen Erzählung Seltsames Begegnen und Wiedersehen, deren Held vielleicht nicht zufällig .Stauffen' heißt. Dort wird in einer eingeflochtenen Szene das, an den Kyffhäuser-Mythos erinnernde, .Konservieren eines abgestorbenen Geschlechts', an das sich die Hoffnung einer Auferstehung knüpft, nicht nur naturwissenschaftlich und aus dem Wunschdenken des Volkes zugleich erklärt, sondern von dem letzten Vertreter dieses Geschlechtes auch bewußt beendet: „er selbst wolle in der Erde zerstört werden, und so sollte es auch den Seinen ergehen, bis Deutschland wieder befreit sei" (II, 779).

die vom Volk oder von einzelnen Schichten in ihm getragen werden, und die daher mittelbar auch in der Geschichte wirken. Dann ist es für die Tätigkeit und Wirksamkeit des Einzelnen sinnvoll und notwendig, diese mythischen Vorstellungen als Ausdruck von etwas noch Unerfülltem in der Geschichte ernst zu nehmen; sinnlos und gefährlich aber ist es, sich ihren Sinn-Figuren vorbehaltlos hinzugeben. Das hat Folgen für die Roman-Konzeption, die ja um eben diese Fragen kreist. Wenn der Mythos im Roman einerseits in Widersprüche aufgelöst, andererseits als unmittelbare Wahrheit krass vernichtet wird, wenn auch zugleich die historische Realität, die der Mythos zu erklären beansprucht hatte, tief widersprüchlich ist, dann bedarf es einer neuen, verläßlichen Sinn-Instanz, die beidem gegenüber eine verbindliche Orientierung ermöglicht. Einen solchen, den ursprünglichen Kronenwächter-Mythos ablösenden, neuen und zugleich .tieferen' „Mittelpunkt" (vgl. G. 402) des Romans bildet für den Ersten Band ganz offenkundig:

Das Hausmärchen Auch hier erkennt man zunächst ein zentrales romantisches Motiv: den ,Weg nach Innen' als Symbol eines Erkenntnis-Anspruchs, der zugleich in die Tiefe der Natur wie der Geschichte, und ebenso in die der eigenen Seele zielt. So begegnet z.B. der Held im fünften Kapitel des Heinrich von Ofterdingen9 auf seinem Weg ins Erdinnere zuerst der Urgeschichte der Natur, dann der Welt menschlicher Geschichte in Gestalt des Grafen und schließlich sich selbst. Auch der König im Hausmärchen dringt anfangs ins unberührte Innere der Natur ein, begegnet dort einer Gestalt, die ihm ganz explizit .Geschichte' vor Augen fuhrt, und erfährt schließlich seine eigene, persönliche Krise und Aufgabe. Aber bei Arnim hat, in krassem Gegensatz zu Novalis, dieser Weg nach Innen zunächst nichts Heilsames. Im Gegenteil, er scheint geradezu die negativen Seiten im Charakter des Königs freizusetzen: apathische Trauer, Zorn, Lust, Wut und Stolz bestimmen sein Verhalten, ein Eigensinn der sich zugleich als Schwäche gegenüber der öffentlichen 9

Vgl. ΝI, 252-266.

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Verantwortung äußert. Von diesen Affekten beherrscht, ihnen gegenüber unfrei, vermag er auch das zunächst inhaltsleere, rätselhaft Wunderbare des silbernen Vogels nicht zu würdigen. Das Waldesinnere, dessen »dunkle Räume' deutlich der ,Wut im Herzen' korrespondieren, wird so für den König zu einer phantastisch-gefährlichen,,giftfarbigen' Seelenlandschaft. Erst die Todesgefahr bereitet die Einsicht vor: „Er betete zum erstenmal, (...) in Finsternis und Wildnis kam der Geist des Herrn über ihn", und mit ihm die „Hoffnung zu himmlischen Quellen" (689). Das aber bleibt noch zu sehr bloßes Empfinden, zu unbestimmt. Auch der Kern dieses Erlebnisses, das Gefühl menschlicher Endlichkeit, ersetzt noch keineswegs die verlorene Orientierung. Auch als der König die Hütte tief im Wald erreicht, verwandelt sich die Krise zunächst nur. Das .Schweigen' des Alten und der .Schlaf des Königs bewahren deutlich noch das Rätselhafte der Situation. Sehr kunstvoll macht Arnim aber gerade durch dies, gleichsam explizite Fehlen deutlich, daß Verständigung und Einsicht notwendig und auch möglich, aber noch nicht eingetreten sind. Ein dargestellter Mangel, dann ein produktives Mißverständnis, ausgelöst durch ein Kunstwerk, bereiten die Wende vor. Nicht zufällig ist es dabei eine Geschichts-Dichtung, eine geistige Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen, die der König - historisch falsch, aber moralisch richtig - auf sich selbst bezieht, und die seine Selbstbesinnung auslöst. Der erste Höhepunkt des Hausmärchens ist so nichts anderes als die Stimme des Gewissens, die sich bei dem König regt, ein Erwachen seines politischöffentlichen Ethos, für das er nun sogar zu sterben bereit ist: „ich habe mein Volk und meine Krone lange vergessen, möge ein Würdiger mir folgen, der es treuer bewacht." (692) Das nun folgende hängt deutlich von dieser ethischen Wende ab. Man kann hier an Bertholds Traum und Schatzfund und die Sentenz vom .Schlafen' und .Wachen' erinnern, die diese Textstelle eingeleitet hatte. Das Hausmärchen zeigt hier auch dafür die Lösung: Nur dem im öffentlichen Interesse Tätigen, ethisch Geleiteten, wird die Welt des eigenen Innern und ebenso die der Wirklichkeit, „in der wir zu wachen meinen" (548), nicht zu solch verführerisch-gefährlichem Irrgarten, wie sie sich dem König im ersten Bild, Innen- und Außenwelt identifizierend, gezeigt hatte. Vielmehr war er, von einem Traum in einen anderen überwechselnd, in eine Sphäre der Dichtung, Geschichte und 62

des Mythos eingetreten, um endlich aus beidem, zugleich ,in beidem', bei klarem ethischem Selbstbewußtsein zu .erwachen'. 10 So verdichtet sich das bisherige, rätselhafte Geschehen jetzt für den König zu „wunderbarer" Führung. Da er seine Pflicht kennt, kann er sich den mythischen Mächten im Märchen anvertrauen und, von einem Kinde geleitet, die „wunderbarsten Wege" gehen (693). Aber indem er dies tut, tritt er folgerichtig auch wieder aus der .Innenwelt' der Seele wie der Wirklichkeit heraus. Das Ethos will sich in der Realität der Außenwelt bewähren, und das Mythische muß handelnd in sie übersetzt werden. Entsprechend läutern sich beim König, wie er in die Sphäre der politischen Auseinandersetzungen zurückkehrt, das Traumhafte, die Ahnungen, mythisch-poetischen Bilder, aber auch seine Ängste, Leidenschaften und Hoffnungen zu .ernstlichem Nachdenken'(vgl. 693), „Besonnenheit", „sicherer Klugheit" (694) und „sichrer Mäßigung" (696). Seine Augen öffnen sich nicht nur den politischen, sondern ineins damit, und im Hausmärchen besonders betont, auch den sozialen Mißständen: „Die Klage der Unschuld ist Eure Musik und das Brot der Armen drückt Eure Tische nieder" (695). Gerade wenn sie ethisch erneuert werden soll, darf legale Macht nur auf soziale Gerechtigkeit gegründet sein; daher ist es durchaus folgerichtig, wenn der König unmittelbar fortfährt: „Ich habe Euch meine königliche Gewalt übergeben, mir bleibt nur mein ritterliches Herz" (695). Es ist offenkundig, daß der König sich nicht auf seine ererbte Legitimität beruft, sondern allein auf die Instanz, welche ihm der vorhergehende Weg nach Innen eröffnet hatte: die Forderung seines Gewissens. Zwar verschmilzt im Hausmärchen die mittelalterlich-ritterliche Tugend des Königs mit dem an ihm demonstrierten, aufklärerischpersönlichen Gewissens-Ethos, aber das letztere hat dabei eindeutig die Führung. Außerhalb dieses Kontextes drückt Arnim seine Überzeugung entsprechend klarer und auch zeitgemäß-abstrakter aus: Vertrau dem Wort in deiner Seele Das dir nicht eigen, du bist sein.

(789)

10 Der König ist damit zugleich im Sinne von Dichtung und Geschichte, nur daß dieser Sinn auf das politische Handeln übertragen werden muß (vgl. dazu unten Kap. 6), einer von denen, „die im Geist erwachten von den Träumen, die sie hinüber geleiteten" (519). 63

Das ist, so scheint mir, eine aufschlußreiche Formulierung. Denn diese Stimme des Gewissens ist nicht nur jeder Führung von außen - „auf Menschen sollst du nicht vertrauen" (ebd.) — vorgegeben, sie ist offensichtlich auch der willentlichen Verfügung jedes einzelnen übergeordnet: „du bist sein". Man erkennt hier, frei und bildhaft eingekleidet, dem .Geist', nicht dem Wortlaut nach aufgenommen, im Grunde nichts anderes, als den kategorischen Imperativ Kants. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft wird ja z.B. das Gewissen ein „wundersames Vermögen in uns" 1 1 genannt; so ist es durchaus naheliegend, daß der wunderbare Weg nach Innen eben auf diese Macht des Gewissens stößt. Ist sie doch zugleich für den König nichts anderes, als die Stimme der Allgemeinheit in ihm, die „Seele des Volkes", welche ihn „gelenkt hatte" (698). Sein Handeln läßt sich bis in alle Einzelheiten hinein als Ausdichtung des bekannten Kantischen „Grundgesetzes" verstehen: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.12

Und dieser Begründung des autonomen Ethos entspricht auch, so sehr Arnim oft beides identifiziert, die primäre Bedeutung, die es gegenüber der Religion beansprucht.13 Auch dies kommt im Hausmärchen klar zum Ausdruck, wenn es heißt: „Wer mit Mut dem Rechte dienet, / Ist erfüllt von Gottes Macht" (696). An anderer Stelle schreibt Arnim noch krasser: „Gott kennt das Herz und kann es nicht regieren, / Doch seines Thuns ist jeder Herr und Meister" (20,193). 14

11 I.Kant, Werke in zwölf Bänden, hg. von W.Weischedel, Bd.7, S.223; Kant spricht auch vom .Geist' seines moralischen Gesetzes, im Gegensatz zum .Buchstaben' als der .Gesinnung des moralisch Guten' (vgl. Bd. 7, S. 192 i.d. Anm.), bzw. als .dem belebenden Prinzip im Gemüte' (Bd. 10. S.413). Eine schon frühe Bekanntschaft Arnims mit zumindest Grundzügen der Kantischen Philosophie ist durch den von J. Knaack herausgegebenen Aufsatz Über Freiheit undNothwendigkeit (J. Knaack, S. 114 ff) belegt. 12 I.Kant, Bd. 7, S.140. 13 Vgl. I. Kant, Bd. 7, S. 254 ff (Über das Dasein Gottes). 14 Vgl. auch die aufschlußreiche Stelle in einem Brief an Bettina vom 14.7.1809: „Jeder soll für sich erst thun, was recht ist; braucht Gott seinen Arm, so wird ihm auch die Ueberzeugung und Einsicht nicht fehlen, die auch von Gott kommen" (B, 307).

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Auch das ist von zentraler Bedeutung für den Roman im ganzen. Arnims Religionsauffassung ist deutlich theistisch geprägt: „Gott (...) ordnet die Welt in Zuversicht auf uns" (18,99). ls Dann kommt alles darauf an, daß Glauben „im sittlichen Handeln" geschieht, und Tugend „das Vereinigen dieser inneren Gesinnung mit der äußeren Welt sei".16 Gegen Ende der Gräfin Dolores wird entsprechend wiederholt erklärt, daß „unser Glaube eine Religion des Lebens",sei, daher „Tätigkeit dieses Lebens", „Tätigkeit für andre" fordert: „Ich kann dieses Leben nicht jenem aufopfern." (491/492) Der exemplarische Weg des Königs im Hausmärchen führt also einerseits nach Innen, zur Entdeckung des unbedingten moralischen Gesetzes unseres Handelns, zum allgemein Verbindlichen im Subjekt, andererseits genauso notwendig von da wieder nach Außen: in die Welt des Tages, den Widerstand des Lebens hinein. Wo dies nicht der Fall ist, wo eine ,Innenwelt' sich verschließt, da ist für Arnim das schlechthin Böse am Werk: Je tiefer wir in uns versinken Je näher dringen wir zur Hölle (...) In uns ist Tod! Die Welt ist Gott! Ο Mensch laßnicht vom Menschen los!

(408; gleichlautend 23,21)

Auch der Versuch, in mythischen Schemata zu leben, stellt, soviel wird jetzt sichtbar, ein solches ,Sich-Verschließen' einer geglaubten .Innenwelt' der Geschichte dar. Er ist dann ganz folgerichtig für Arnim 15 Die Natur ist für Arnim z.B. keinesfalls näher an Gott als der Mensch, und sie ist ihm in erster Linie als Gegenstand menschlicher Praxis bedeutsam. Vgl. den folgenden Brief an Bettina, vom 6.2.1808: „Ich wollte die Natur suchen, an der keine Menschenhände sichtbar sind, wo Gottes Hand alles gemacht haben soll (...). Und ich sah alle Ufer der Ströme und das Land zwischen den Bergen, und ich sähe in die Berge, wo sie herkamen, wo die Wege sich verloren, und alles war voll Menschenwerk, die Bäume waren von Menschenhand gesäet, die Steine gesammelt, die Flüsse gelenkt, und ich sähe Gottes Hand in der Hand des Menschen, der sein Ebenbild ist - verachte den Menschen nicht und was er geschaffen: denn was ganz menschlich ist, das ist auch ganz göttlich, und das ist das Gesetz, was mehr ist als die Übertretung." (B, 82). Auch hier, der Einfluß Herders ist unverkennbar, steht Arnim auf dem Boden der Aufklärung. 16 zitiert bei U. Ricklefs, S. 29.

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nicht nur moralisch verwerflich, sondern bedeutet eine politisch-historische, ja geradezu eine kreatürliche Gefahr. Das erste zeigt das Handeln des Kronenwächterbundes, das zweite Bertholds .zweites Leben'. Es beruht ja auf dem Versuch, in einer Art magischem Handeln die Regeneration seines Lebens, also eine unter der Oberfläche des Vergehens scheinbar verborgene, zyklische Zeit, eine mythische „in sich geschlossene Bewegung"17 real herbei zu zwingen. Im Gegensatz dazu nun geht das ethisch geleitete Handeln des Königs im Hausmärchen zwar bruchlos mit der Führung durch mythische Mächte zusammen. Auch der Handlungs-Rahmen im Hausmärchen folgt im Ganzen gleich zweimal dem mythischen Schema einer .Wiederkehr'.18 Aber dabei zeigt sich zugleich eine klare Umkehrung der Prioritäten. Nicht das Handeln des Königs folgt dem mythischen Modell, sondern dieses wird umgekehrt auf das ethische Prinzip des Handelns zurückgeführt. Sein Inhalt, die Legitimität der Macht, verwandelt sich in ein Postulat und wird aus der ethischen Autonomie heraus neu begründet. Dann wird, in einem zweiten Schritt des Denkens und Handelns, das Mythische folgerichtig verlassen. Es ist bezeichnend, daß der König sich nach seiner , Rückkehr' in die Welt der Geschichte da mühsam durcharbeiten muß, wo er .mythisch geleitet' wunderbare Wege gefunden hatte. Und die bildhaft-unbewußten Wünsche und Überzeugungen werden jetzt begrifflich eindeutig ausgesprochen, wenn der König weiß, daß „gleichsam eine Seele semes Volkes unbewußt sein Schicksal gelenkt hatte"(698). Erst jetzt kommt es bezeichnenderweise auch im Hausmärchen zu einem Sinnbild des .Goldenen Zeitalters', aber ganz konsequent als reine Allegorie, also in der Weise einer bewußten, nachträglichen Einkleidung eines begrifflich fassbaren Sinnes in ein klar als künstlich erkennbares, fiktives Substrat: Der König meinte, von seinen .mythischen' Erlebnissen, er müsse wohl geträumt haben. Darum waren alle sehr überrascht, als sie wirklich beim Aufgange des dritten Tages in einer grünen Fläche, die von

17 Nach H. Blumenberg (Wirklichkeitsbegriff and Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel, S.29), u. vielen anderen Autoren, ein Kennzeichen mythischen Denkens. Vgl. z.B. E.Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, S. 129 ff. 18 Vgl. z.B. M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr. 1953.

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hohen Eichen umgeben war, eine wunderbare Kapelle erblickten, die aus hochstämmigen, weiß blühenden Rosenbüschen geflochten, von Epheu umrankt, ein Kreuz Uber der Erde bildete. (...) Und (...) den Bau vieler Bienen, welche in ihrem Wachs die Kapelle im kleinen nachgebildet hatten. (698/699)

Natur und Geschichte, Kunst, staatliche Macht und Religion sind hier sinnbildlich zu einer harmonischen, von .gleichem Maß regierten' Einheit zusammengewachsen. Aber dieses Bild, auch darin zeigt sich die Grenze zu jedem mythischen Geschehen, hat nur vorausdeutende Funktion. Es bezeichnet ein Seinsollen, kein Sein. Daher kann es auch nicht, ebensowenig wie das gereinigte Herrscher-Ethos des Königs, den Verrat und neuerlichen Fall des Reiches verhindern. Denn, so unbedingt die Forderungen des Gewissens gegenüber der Außenwelt sind, und so legitim, ja notwendig es ist, nicht nur die kollektiven Wünsche der Mythen aufzunehmen, sondern auch mit der Phantasie neue Wunsch- und Leitbilder zu entwerfen, die Wirklichkeit läßt sich weder verzaubern, noch durch den Anspruch des Subjekts bezwingen. Es bedarf eines Vermittlers zwischen diesen Instanzen, deren jede ohne die anderen „leer" wäre (vgl. G, 242/243). An das kurz aufscheinende und wieder vergehende, durch und durch allegorische Bild eines .Goldenen Zeitalters' schließt sich daher ganz folgerichtig eine zweite Allegorie an: die der Vögel. Sie ist noch klarer auflösbar als die erste. Den Hinweis gibt ein Satz gegen Ende des Hausmärchens, daß die Vögel „nur wie Gedanken zu betrachten" seien (708). Es handelt sich in der Tat um nichts anderes, als um eine Allegorie des .Geistes', bzw. .geistiger Arbeit': die von der .Erde' - man vergleiche das Begriffspaar in Dichtung und Geschichte - unabhängigen Vögel, in der Luft, dem Medium des ,Geistes' als ,Atem' zuhause, können nur eben diese Bedeutung haben. 188 ,Geist', so viel wird aus dem Ort dieser Allegorie in der Textsequenz deutlich, setzt das ethisch begründete Selbstbewußtsein voraus.19 Er ist dann, dieses Selbstbewußtsein einschließend, aber weiter und konkreter fassend, die dem Menschen verliehene Fähigkeit, ja .lebendige 18aVgl. auch die hilfreichen Vögel: 537,578 und 1035. 19 Aufschlußreich ist der enge Zusammenhang von .Herz' und ,Geist' als Ausdruck unbedingten Selbstbewußtseins in der Wendung: „Mein Herz gibt' keinem Diamanten / Mein Geist der Eiche wenig nach" (11,395). Zu Arnims Geist-Begriff vgl. unten Kap. 6, S. 123 ff.

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Kraft', den moralischen Forderungen zu genügen: Energie, „Thätigkeit ist ja der Geist" (23,219). So regt der silberne Vogel den König zu seinem Handeln an, der goldene muß später den Sänger im wörtlichen Sinne .beleben', damit er sein historisches Lehrgedicht schreiben kann. Auch die kleinen Vögel erziehen und üben den Knaben zu sittlich-verantwortlicher Tätigkeit. Und wie früher der Sänger, so sind jetzt die Vögel dichtend, lehrend, vorstellend und mahnend für den jungen König die Stimme der Allgemeinheit im Geiste des Einzelnen. .Geistige Arbeit' vermittelt so zwischen den kollektiven Wünschen und Überzeugungen und dem Anspruch des Einzelnen. Dabei wird auch die klare Trennung von nur-bildhafter .mythischer Realität', hier also die Gestalten des Alten und seiner Söhne, und deren Umsetzung in reale, geistige Wirksamkeit unter neuer Perspektive aufgenommen. Diese Trennung markiert nichts geringeres als der Tod: die Vögel sind lebendig, während ihre ,realen' Entsprechungen tot sind. Auch als der König sich erinnert, wie er unbewußt intuitiv mythisches Bild und ethisch-geistige Wirklichkeit identifiziert hatte, so „schauderte ihm, als ob er (...) über die Grenzen des Lebens hinübergestiegen gewesen, aber durch Warnung in dessen Mitte wieder zurück getreten sei" (700). Nicht auf einen Besitz mythischer Gegenstände oder eine Wiederholung mythischer Schemata kann es ankommen, sondern auf ein .geistiges' Verstehen ihres Sinnes und darauf, diesen Sinn im Handeln immer wieder neu zu realisieren. So erklärt sich auch der zunächst paradoxe Vorgang, daß gerade dadurch, daß er dem Vogel, also dem .Geiste', seine „Freiheit" gibt (vgl. 700/701), der König auch eine diesem korrespondierende Wirklichkeit zum Leben erwecken kann, eben den Sänger, der sich an das mythische Geschehen nur noch wie an einen „Traum" erinnert. Ganz in diesem Sinne beschäftigt sich das .Geistige' im Bilde der Vögel, obwohl es aus der Vorzeit, diese nach ihrem Tode überliefernd, hervorgewachsen ist, in erster Linie mit Gegenwärtigem. Und in den letzten Zeilen des Hausmärchens wird diese Lehre an die Zuhörer weitergegeben: „Doch die Zeit will neue Taten (...) daß wir ahnden, wie zu enden / Das Beginnen dieser Zeit." (709) Erst in diesem Rahmen gewinnt dann auch das kleine Stück zwar rückwärtsgewandter, aber im Unterschiede zum Mythos klar begrifflicher, insofern auch die Allegorie des .Goldenen Zeitalters' aufhebender 68

Utopie seine Bedeutung, mit dem das Hausmärchen endet: „Das Land war frei, der König weise, die Kirche wurde vollendet" (709). Es zeichnet sich also, durch das gesamte Hausmärchen hindurch, eine klare Linie des Weges nach Innen und wieder nach Außen ab: er führt vom Mythos zum Ethos, von da einerseits zur widersprüchlichen und widerständigen Wirklichkeit, andererseits zur allegorischen Uminterpretation der mythischen Motive, zur .Arbeit des Geistes' und schließlich zur Utopie. Und im Verfolgen dieses Weges wird das Hausmärchen zugleich zu einer Art Legende, einer beispielhaften Erzählung vorbildlicher Tugenden: unbedingtes Gewissensethos, aber auch Besonnenheit, kluge Mäßigung, Besserung statt Rache, Mitleid und Gerechtigkeit, klare Erkenntnis des politisch Notwendigen und Möglichen, Aufopferung des individuellen gegenüber dem allgemeinen Wohle. An anderer Stelle hatte Arnim deutlich vergleichbare Forderungen als „Herrscherweisheit" so formuliert: Die Freiheit ehren, wo sie sich entfaltet, Gewalt zu hemmen, wo sie sich erfrecht, im eignen wie im fremden Sinn die Zeiten zu erkennen und des Einzelnen Zusammenhang im Ganzen; Vergangenes nicht vergessen, Zukunft ahnen, mit vielen zu bedenken, was für alle soll geschehen, vor allem aber Wahrheit zu verstehen, zu ertragen bis zur eigenen Vernichtung! (18,20)

Es ist unverkennbar, daß Arnim hier wie dort nicht nur „Herrscher"Tugenden, sondern alles richtige, politische Verhalten im Auge hat. Wenn, wie oben angenommen, die Kronenwächter, zumindest rahmenhaft, als eine Art politischer Bildungs-Roman zu verstehen sind, dann ist mit dem Hausmärchen in der Tat ein „Mittelpunkt" gesetzt, und alles, „was in dem Buche vorkommt, wird immer in gewisser Beziehung darauf stehen" (G,402). Eine Reihe solcher Bezüge sind schon sichtbar geworden. Andere, vor allem zum Nachtrag und zu Dichtung und Geschichte, werden sich noch zeigen. Am nächsten aber liegt der ganz unmittelbare Kontext des Hausmärchens, der ja ebenfalls einen ,Weg nach Innen' beschreibt:

Das Symbol des Brunnens Dieses Symbol ist schlechthin beispielhaft für Arnims vielschichtigen und die Widersprüche geradezu aufsuchenden Erzählstil. So ist eS 69

bereits bezeichnend, daß er das Hausmärchen ausgerechnet von den Kronenwächtern für Berthold erzählen läßt. Beide stehen in offenkundigem Gegensatz zu dessen Gedankenwelt. Die Kronenwächter scheinen es fur sich zu beanspruchen, ganz ebenso wie sie die Krone zu besitzen meinen. Gerade darum werden sie beidem nicht gerecht. Sie folgen dem Schema, klammern sich an materielle Kontinuität und verfehlen den Sinn. Denn um diesen Sinn zu verstehen, muß man, das wurde immer wieder deutlich, die .mythische' Identifikation von Bild und Sinn zerbrechen, ihre Verkehrungen aufsuchen und einsehen, ja sie geradezu .töten'. Damit ist bereits das Verständnis des Brunnen-Symbols vorbereitet. Denn auch Berthold lebt, wenn auch vorwiegend passiv-leidend, in unangemessenen, mythischen Identifikationen. Sein von der Wirklichkeit entfremdetes Gefangensein in einer Weltsicht und Erlebnisform, die auf kreisförmige Wiederkehr des Gleichen hofft, wird gerade durch das Symbol des Brunnens schneidend auf seine Falschheit hin durchsichtig gemacht. Sein Brunnenbau ist so eine leere, schematische Wiederholung des kindlichen Schatzfundes und zugleich des Weges nach Innen im Hausmärchen. Dabei ergibt sich ein analoger Kontrast wie der von Kronenburg und Hohenstock. Auch Berthold sucht „Gaben himmlischer Gnade" zu erhalten (670), deutlich analog dem König, der auf dem Weg nach Innen zu „himmlischen Quellen" findet (689). Aber Berthold ist nicht bereit, auch nicht fähig, die ethischen Voraussetzungen dafür zu erbringen, ohne die eine Wiederbelebung des mythisch verheißenen Sinnes nicht nur unmöglich, sondern geradezu schädlich und verwerflich ist. Egoismus, schiefe Liebesbeziehungen, Lügen und Mißverständnisse, bedenkenlos genutzte Macht des Reichtums, Entfernung von seinen Mitbürgern, Stolz sich nicht abschrecken zu lassen, das sind die Qualitäten, die durch den Bau des Brunnens sichtbar freigesetzt werden. Erst jetzt kommt durch den Tod des Bergmanns die Schuld in Bertholds Leben, von der er sich nie mehr wird befreien können. Erst bei seinem Tode hört ganz folgerichtig der Brunnen zu fließen auf (vgl. 794). Aber dies ist nur eine Ebene dieses Symbols. Die zweite steht in polarem Gegensatz dazu. Denn gerade durch den Bergmann erhält der Brunnen auch einen Bezug auf Luther und die Reformation. Berthold selbst muß daran denken, 70

wie diesei fromme Bergmannssohn für die Sehnsucht der Welt nach tiefer Erkenntnis sein Leben daran setze, eine Quelle des Glaubens zu entdecken, nachdem aller andrer Glaube, wie er bisher gebraucht, als getrübt befunden worden. (680)

Das erinnert sowohl an die oben gesehene, ideale ,Aufhebung' des tätigen Einzelnen im Fortschritt der Geschichte und in der „Umbildung der Welt" (1038), als auch an die Charakterisierung Luthers im Augsburg-Kapitel, die ebenfalls mit dem Bilde eines nach allen Seiten fließenden Wassers begonnen hatte: Wie ein Gebirge Ströme nach Osten und Westen sendet, so vereinigte der Mann ein Entgegengesetztes, was sonst nirgends gefunden wird: Demut und Stolz, Bewußtsein seiner Bahn und Hingebung an andrer Rat, helle Verständigkeit und blinden Glauben; noch war das Volk nicht reif, sich solch einem Manne nachzubilden, aber seine Gegner lernten bald so viel von ihm, wie seine Anhänger. (651)

Man sieht deutlich, daß von allen Gestalten des Romans Luther dem Ethos Arnims am nächsten kommt. Er ist „die Stimme unsres Volkes, die Stimme Gottes" (648). So wird dann auch der Brunnen zum Symbol der Reformation in ihren Anfängen, eben im Sinne eines vorbildlichen Weges nach Innen, der zugleich in allgemeiner, belebender Tätigkeit nach außen wirkt. Aber auch der Widerspruch zwischen den beiden bisher definierten Bedeutungs-Ebenen ist aufschlußreich. Er führt eine dritte Ebene allgemeiner, historischer Gesetzmäßigkeit ein. Jede politische Tat hat notwendig ambivalente Folgen, auch wenn sie in bester Gesinnung unternommen wurde. Arnim sah, wie das nächste Kapitel zeigen wird, durchaus, daß die Reformation den Zerfall des deutschen Reiches wesentlich beschleunigte und noch jahrelang zumindest einer der Gründe für die vielen Kriege auf deutschem Boden war. Daß in der Geschichte, wie im Leben des Einzelnen, aus Gutem Böses und aus Bösem wieder Gutes werden muß, ist einer seiner Lieblingsgedanken.20 Symbolisch kommt diese Ambivalenz darin zum Ausdruck, daß der Bergmann 20 Dieser Gedanke prägt bezeichnenderweise gerade die Revolutions-Novelle Maria Metiick Blainville. In der Päpstin Johanna formuliert Arnim einmal das Paradox: „Viel Götter gibt es und nur einen Teufel (...) Ein Gott nur lebt und viele viele Teufel" (19,376/377).

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zugleich mit der „Quelle des Glaubens" auch das „Unheil" mit „zu Tage fördern" muß (680).21 So symbolisiert der .überkochende Kessel'(681) sowohl die durch die Reformation freigesetzte, teilweise zerstörerisch sich auswirkende Energie, als auch die befreiende Beendigung eines unerträglich gewordenen Zustandes des religiösen und kulturellen Zwanges (vgl. 648 ff). Aber das ist schon nicht mehr ganz passend. Eine andere, vierte Bedeutung liegt viel näher, sie bezieht sich auf die französische Revolution. Für Arnim und seine Zeitgenossen lag es in der Tat nahe, zwischen beiden, das Gesicht Europas nachdrücklich verändernden Ereignissen eine Analogie herzustellen.22 Arnim selbst hat einmal die französische Revolution ,die weltliche Reformation' genannt.23 Wie in den Kronenwächtern für ihn die Reformation im Bedürfnis des ,Volkes' begründet ist (vgl. 648, 649, 680), so hatte er einst die Revolution „die größte Volksbewegung unserer Zeit" genannt. Und wie er eine Hauptwirkung der Reformation darin sieht, daß auch ihre Gegner von ihr lernen, so hatte ihn gerade diese Notwendigkeit produktiver Auseinandersetzung mit der französischen Revolution sein Leben lang beschäftigt: der .Geist' dieser Bewegung kann geschlagen werden, er wird endlich doch siegen. (...) Was die Revolution wollte muß allgemein werden und was menschlich an ihr war muß untergehen. (...) Die Reformation, ich meine die weltliche, muß beendigt werden.

Das eröffnet eine weitere, sozusagen fünfte Bedeutungs-Ebene dieses Brunnen-Symbols; auch Arnims eigenes Denken, seine eigene, so lange vergeblich erhoffte, politische Aktivität und Wirkung scheint damit angesprochen. Denn daß der Brunnen aufhört zu fließen kann auch als schmerzlich-einsichtiges Symbol für die allgemeine wie persönliche Stagnation in Arnims unmittelbarer Gegenwart begriffen werden. Dann bleibt nur die Hoffnung auf eine von der Ruhe erzwungene Klärung 21 In Der tolle Invalide von 1818 wird der umgekehrte Umschlag vom Bösen zum Guten geradezu mit einem Zitat aus den Kronenwächtern bezeichnet, wenn es heißt: „Der schwarze Bergmann hat sich durchgearbeitet" (vgl. II, 753). 22 Vgl. z.B. J. Knaack, S. 40 ff. 23 Vgl. J.Göres (Hg.), Was soll geschehen im Glücke. Ein unveröffentlichter Aufsatz A.v.A.s, in: Jb. d. Dt. Schillergesellschaft 5 (1961), S. 201. 24 Vgl. ebd., S. 199-201.

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und innerliche Vorbereitung neuer Aktivitäten. Wie genau sich dieser Gedanke mit dem Bilde des überfließenden und wieder sammelnden Brunnens verbunden hat, macht schließlich das folgende, vermutlich recht späte Gedicht Zum Abschiede deutlich: Freilich ein schöneres Leben, es strebt nach aussen zu fliessen Um zu tränken die Flur, schlangelnd weiter und weit. Doch das Bedürfnißes zieht den Quell zum Brunnen zusammen. Sammle dich selber für dich, Leben sammelnd in dir.

(23,211)

Ott Nachtrag Mythen, für Arnim aus dem „Zusammenhang der anerkannten Gedanken in der äußren Welt" (G,248), bzw. aus „der allgemeinen Meinung im Volke" hervorgegangen (G, 273), dürfen keine irgendwie geartete a-priori-Wahrheit beanspruchen. Diese gilt es überall und mit aller Radikalität aufzulösen, eben um den im Mythos enthaltenen ,Meinungs-Sinn' freizulegen. In der Päpstin Johanna spricht Arnim z.B. radikal desillusionierend über den Zusammenhang von .Kindheit' und .Goldenem Zeitalter' (19,146 ff): „Der Kindheit Jahre heißen goldne Zeit,/Das Paradies wird frech hineingelogen"; nach dieser krassen Negation aber erkennt er, daß in dieser Mythisierung der Kindheit nur eine rückprojizierte, scheinhafte Wunscherfullung von etwas hergestellt wird, was man real entbehrt: „Es mag wohl eine schöne Kindheit geben / Ich sah sie nie, doch könnt ich sie wohl ahnen,/Mit aller Welt ein allgemeines Leben,/Eh noch getrennt die ernsten Lebensbahnen,/ Die Welt in Lust und Schrecken neu / Das Herz so liebevoll und doch so frei". Aber dies hat nur als bewußtes Wunschbild seine Berechtigung und Bedeutung. „Ich möcht zurück die bunten Jahre drängen,/Mir selber eine Jugend zu bereiten." (19,146) Auch in den Kronenwächtern, soviel hat die bisherige Untersuchung gezeigt, werden mythische Motive aufgenommen, in ihrem unmittelbaren Sinnanspruch radikal negiert, auf ein neues, ethisches Prinzip bezogen, nur um in einer dann möglichen, neuen Interpretation ihren eigentlichen, wunschbildhaften Sinn preis zu geben. Und dieser neue Sinn ist ebensosehr in sie hineingestaltet, wie in ihnen entdeckt. De.r Nachtrag spricht diesen Vorgang außerordentlich deutlich aus: 73

Es spiegelt sich die Ewigkeit / In engster Gegenwart, / Und rückwärts die Vergangenheit / Erscheint von höchster Art, / Wie ein verlornes Paradies / Seh ichs vor meinem Blick. (1037)

Man kann auch hier eine bildhafte Einkleidung von Gedanken erkennen, die sich folgerichtig aus dem oben dargestellten, im Grunde Kantischen Gewissens- und Vernunft-Ethos Arnims ergeben - wobei es natürlich auch jetzt nicht um genaue, inhaltliche Entsprechungen, sondern nur um eine gemeinsame Grundstruktur des Denkens gehen kann: Eben weil das moralische Gesetz vorgegeben ist, kann der endliche Mensch auch der Existenz des .höchsten Gutes', d.h. der,ewigen Glückseligkeit', die ja unverkennbar hier bei Arnim gemeint ist, als eines Postulats der praktischen Vernunft, jederzeit gewiß sein. Insofern spiegelt sie sich in der Tat „in engster Gegenwart", und alle Mythen von ,Goldenen Zeitaltern' und .verlorenen Paradiesen' sind immer nur Rückprojektionen dieses je gegenwärtigen Postulats, bzw. der gegenwärtigen Hoffnungen und des gegenwärtigen Glaubens. Das aber ist nur der erste Gedankenschritt: das ,Ewige', unbeschadet seiner Transzendenz, also obwohl nur seine Existenz gewiss ist, nicht aber, was es an sich ist, und obwohl es in Raum und Zeit nicht erfahren werden kann, beflügelt gleichwohl das menschliche, sittliche Handeln: „Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen."25 Dies ist für Kant der einzig erkennbare Weg, auf dem Gott in die endliche Welt und ihre Geschichte hineinwirkt, ein Gedanke, der deutlich wieder zu erkennen ist, wenn Arnim sagt: „Das Mächtigste in Gott ist Zeit" (19,212), oder wenn er im selben Gedicht des Nachtrags schreibt: „Das Ewge will nicht zeitlich sein / Das in der Zeit erblüht." (1036) Diese Verbindung von Ethos, Glauben, Geschichtssinn und mythologischem Interesse nun eröffnet deutlich eine zukunft-gerichtete, in letzter Konsequenz utopische Funktion. Schon in seinem Aufsatz Von Volksliedern hatte Arnim die idealistische Philosophie ganz in diesem Sinne als ,Morgentraum der Tätigkeit' gesehen: Ob sich etwa die Welt ausruht zum Außerordentlichen? Das Spekulieren, was so ernsthaft genommen wird, macht es wahrscheinlich; denn dies ist der

25 I. Kant, Bd. 7, S. 241. 74

Traum der Tätigkeit, nur der Morgenträume sind wir uns bewußt. (...) Was ich hoffe ist kein leerer Traum; die Geschichte hat es so oft bewährt, wie das reine Streben der Menschen in gewissen Perioden siegend und singend hervortritt. 26

So ist es nur folgerichtig, daß auch das Gedicht im Nachtrag mit einem neuen „Frühlingsland" des .Goldenen Zeitalters' endet, in dem die Welt den menschlichen Wünschen und Hoffnungen antwortet: Des Herzens Stimme schallt zurück Aus jeder Nachtigall, Die in dem Garten sucht ihr Glück In weißer Blüten Fall, Ο dieser Schnee, er ist so heiß Und dieser Duft so süß, Wer's Frevel nennt, ich sag es leis, Dies ist das Paradies.

(1038)

Auch die anderen Motive des Goldenen Zeitalters kehren im Nachtrag der Kronenwächter wieder: Anton entspricht nun ganz und gar jenem vollen, ,seiner Befähigung mächtigen' Menschenbild, das dort entworfen worden war; sein Drachenkampf27 erinnert deutlich an den Kampf des Königssohnes am Ende des Hausmärchens (vgl. 709); und nach seinem Tode sollen drei ,Kinder' die Kronenburg wieder in Besitz nehmen (vgl. 1045). All das aber setzt nicht nur die Negationen und Uminterpretationen des Mythos im ganzen, vorhergehenden Roman voraus, auch dessen Historisierung mußte sich erst mit den anderen, eine reale Welt darstellenden Erzählsträngen der Kronenwächter treffen, damit diese „praktische Hermeneutik" des Mythos28 in seine utopische Wiederbelebung münden kann. „Nichts erringen wir als die Zukunft" (779) - mit diesem Satz hatte die Erzählung von 3ertholds erstem und zweitem Leben' 26 A.v.A., C. Brentano, Des Kanben Wunderhorn. Winckler Dünndruckausgabe, S. 873/874; vgl. auch B.42: „In den ersten Flammen des Frühlings brennt mir noch aller Transzendentalismus wie ein Freudenfeuer rein auf." 27 Nach E.Bloch ein klassisches Beispiel für das in Mythen und Archetypen nicht flxierbare Utopische, das hier bei Arnim in der Tat völlig dominiert (vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, S. 186 und 181 ff). 28 K.Kerenyi, Vorwort, zu: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, S.XII; zur Hermeneutik der Utopie vgl. E. Bloch, Bd. 1, S. 5,129 ff, 203 u.p.

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geschlossen. Auch das Hausmärchen Schloß mit einer Art von utopischvorscheinendem Entwurf. Umgekehrt vollendet aber auch ganz entsprechend der Nachtrag, ineins mit dessen Wiederaufnahme, zugleich die Negation des Mythos. So findet sich gleich zweimal die Notiz: „Anton zerstört Hohenstaufen und die Kronenburg" (1040 u. 1050). Die Krone soll weggetragen, zerteilt und zerbrochen werden (vgl. 1042 u. 1045). Und Anton macht sich einerseits auf, „seine allegorische Welt aufzusuchen" (1038), andererseits erzählt der Nachtrag auch von seinem Tod (vgl. 1045). Dem entspricht ein weiteres, ebenfalls die bisherigen Tendenzen fortsetzendes Moment. Der Nachtrag enthält die utopische ZukunftsDimension des Romans nicht nur als bildhaft-vorscheinende, „uneigentliche Antizipation des Besseren",29 sondern auch als begrifflichen, politischen Entwurf: „ein freies Land" (1035), „den Frieden (...) mitten im werbenden Kampf höherer Entwicklung" (1039), „eine Zeit, welche durch ihr Bestreben zum Allgemeinen alle besonderen Ansprüche aufhebt" (1050). Dies sind zwar nur Umrisse, aber sie zeigen doch deutlich die Tendenz, jene politischen Werte, welche die Darstellung historischer Positionen und Bewegungen, ebenso die Anspielungen auf Arnims eigene Gegenwart bestimmt hatten, nun in eine Zukunft hinein zu verlängern, die auch diesen Gegenwartshorizont selbst übersteigt. So zeichnet sich als ein mögliches Ende dieses vielschichtigen und aspektereichen Romans so etwas wie eine „geistesverklärte" (1045), in ihren politischen Inhalten .liberale Utopie' ab: 30 Freiheit, Einheit, 29 Vgl. E. Bloch, Bd. 1, S. 169, 187, 201 f, über die utopische Funktion gerade der Allegorie, sowie S. 213 ff, zur notwendigen „Endlichkeit", den „überblickbaren Antizipationsabstand" der Utopie. 30 Zur Einordnung vgl. K.Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 191 ff: gerade die Werte der Kultur, des Ethos, der Evolution stehen bei Arnim im Mittelpunkt; er bemüht sich allerdings deutlich um ihre Konkretion. Die Notiz: „Die Umbildung der Welt (...) begründe den Frieden, in welchem zugleich alle Elemente des Krieges bedingt sind" (1038) lä'ßt sich vielleicht verstehen als Idee einer vertraglichen, verfassungsmäßigen, durch .Bedingungen' festgelegten Neutralisation der Elemente des Krieges, durch die dann erst der ,ewige Frieden' gesichert wäre. Auch das würde an entsprechende Gedanken Kants erinnern (vgl. I.Kant, Bd. 11, S.191 ff: Zum ewigen Frieden). Dem entspräche zugleich Arnims immer wiederholte, politische Zentralforderung der .Öffentlichkeit' und seine gerade in den Kronenwächtern durchgeführte Verurteilung alles .Geheimen'. In der Schrift Zum ewigen Frieden formuliert auch Kant

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Öffentlichkeit, , Frieden im werbenden Kampf höherer Entwicklung', Dominanz des Allgemeinwohls, das sind die Inhalte, die als das Ziel einer „Umbildung der Welt" (1038) am Ende stehen. Bezeichnenderweise aber fehlt jede Forderung nach Gleichheit und ebenso nach Individualität. Schließlich tritt noch eine weitere, wesentliche Bedeutungsebene der Kronenwächter im Nachtrag besonders sichtbar hervor. Schon früher hatte sich immer wieder gezeigt, wie Arnim, als der Autor des Romans, sozusagen mit zu dessen Welt gehört, daß er mitten zwischen den Bedeutungen steht und mit deren Entwicklung mitgeht. Dann ist der Schritt nicht groß vom Erzählen einer Geschichte zum Verdichten der eigenen Hoffnungen, für die Gegenwart, in der Form eines utopischen Zukunft-Entwurfs. Und dieser enthält dann zugleich die idealisierte Lösung der Probleme, die der Kunstberuf gegenüber Zeit und Geschichte aufgibt. Arnim hatte schon immer die von ihm so eindeutig in den Mittelpunkt gestellte, allgemein kulturelle, volks-pädagogische Aufgabe des Kunstberufes unter utopischen Vorzeichen gesehen, als „Kunst und Erfindung der neuen Welt";31 am nachdrücklichsten in seinem Plan zu einer „Sprach- und Singschule" von 1802 (vgl. C,38) und in seinem Aufsatz Von Volksliedern. Im Nachtrag nun ist genau diese Hoffnung unlöslich mit der politischen Utopie verschmolzen. Erst von da erhält diese ihre eigentümliche Färbung:

als „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts" die Maximen: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt sind unrecht', und: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen" (Bd. 11, S. 145 und 250). 31 Des Knaben Wunderhorn, S. 875; vgl. auch: „Die Kategorien waren nicht meine schlechtesten Träume. (...) Aber keine Zeit thut etwas für sich selbst, sondern um eine neue zu erzeugen, darum ist auch mein Wirken nicht für diese Zeit oder für eine Zeit überhaupt oder für einen Volksgeschmack, oder wie man es so verlangt, sondern für jene innere Welt in mir die wechselnd mit jedem Augenblick, die Zeit aus der Ewigkeit den Punkt aus dem Raum hervorzieht und aufdeckt und das ist die Kunstwelt" (aus dem Nachlaß hg. von D.Streller, Arnim und das Drama, Diss. 1956, S. 110). Zur utopischen Dimension in Arnims Auffassung von Kunst, Kunstberuf und Kunstwelt vgl. auch die Formulierungen im Volkslieder-Aufsatz: „Einheit der Freude" (S. 877), „Gesundheit künftiger Zeiten" (S. 883), der Dichter „sammelt sein zerstreutes Volk (...) singend zu einer neuen Zeit" (886).

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So verbindet sich die Sehnsucht des gebildeten, isolierten Künstlers „nach öffentlichem Berühren mit der Gesinnung des Volkes" mit der des politisch engagierten Intellektuellen: Ein freies Land, damit nicht etwa längst anerkannte Begriffe, sondern das wirklich Schwankende, noch Unsichere in allem Werdenden, ins Gegenwärtige zur Eingebung, zum allgemeinen Kunstgefühl sich fördern. (1035)

Wobei .allgemeines Kunstgefühl' letztlich nichts Geringeres meint, als daß die ganze Wirklichkeit, auch die politische und gesellschaftliche, in ihrem Leben und in ihren Veränderungen nicht nur differenziert und sensibel begriffen, sondern auch tätig gefördert werden soll. Dann läßt sich die utopische Vollendung der Geschichte auch sehen, als Ein neuer Tag, vom Geist der Kunst durchdrungen - des Künstlers ewig schaffende Verklärung ist's, was den Frieden begründet, mitten im werbenden Kampf höherer Entwicklung. (1039)

Dabei macht freilich schon der Ort dieser Sätze im Roman deutlich, daß für Arnim die Kunst keinerlei,schon jetzt' antizipierende Funktion dieser zukünftig erhofften Vollendung haben kann; ebensowenig wie sie erlösende oder verkündende Bedeutung hat. 32 Gerade um solche Verwechslungen von Bild und Realität, unendlichem Postulat und historischer Bedingtheit war es ja im Roman immer wieder gegangen. „Der Kunstberuf greife ein in die Umbildung der Welt, nur sie begründe den Frieden" (1038). Nur da also, wo die Kunst konkret, politisch, gesellschaftlich verändernd und .umbildend' wirksam ist, kommt die Welt dem in der Kunst dargestellten, .verklärenden' Vorentwurf näher. Verbindlich bleibt die historische Wirklichkeit. Das wird sich gerade an dem zentralen Sinn-Symbol der Kronenwächter noch einmal in aller Deutlichkeit erweisen. 32 Daher scheint mir A.Hoermanns (Symbolism and Mediation in A.s View of Romantic Phantasy, in: Monatshefte 54, 1962) These zu kurz gegriffen, Arnims Phantasie und Symbolik sei ^elf-mediating' (S. 213). Man muß genau unterscheiden zwischen verkürzendem, poetischem Bild und erhoffter, auf eine zukünftige Verwirklichung zielender, und daher sich an der Realität .brechender' Bedeutung der Symbole. Analoges gilt für M. Elchlepps Urteil: „Die Dichtung offenbart die höhere Welt und erlöst den Menschen aus seiner Befangenheit im irdischen Schein" (S. 63).

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Das Symbol der Krone Auch dieses Symbol, vielleicht noch mehr als das des Brunnens, ist bezeichnend für Arnims Schreibweise. Es durchläuft einen so vielschichtigen Bogen von Bedeutungen, daß es am Ende geradezu an eine barocke Allegorie erinnert. Man denke z.B. an die Allegorie der Krone in Andreas Gryphius' historischem Trauerspiel Carolas Stuardus von 1657 bzw. 1663.33 Dabei zeigt sich freilich sofort auch der ganze Unterschied. Die Vieldeutigkeit steht hier wie dort unter ganz verschiedenen Vorzeichen. Wird bei Gryphius eine Seinsordnung angesprochen, die der Dichter hinter dem Bühnen-Geschehen und zugleich hinter der historischen Gestalt ganz wörtlich ,ent-deckt', so kommt bei Arnim im Ganzen der Allegorie ein bloßer Denkzusammenhang ins Bild. Nicht die Hierarchie der Bedeutungsschichten ist ausschlaggebend, sondern die Folgerichtigkeit, mit der eine aus der anderen hervorgeht. Und am Ende steht nicht ein Wissen, sondern eine Frage, die der Dichter mit diesem Bild, aus nur sich selbst verantwortlicher Einsicht heraus, an die Wirklichkeit seiner Zeit richtet. Zunächst einmal ist die Krone ein historischer, in Quellen der Geschichte bezeugter Gegenstand. In einer zweiten, unmittelbar mit der ersten verbundenen Bedeutungsebene aber ist sie ein .echtes' mythisches Symbol, ein „selbständiger Träger der Macht der Mythe",34 nicht Sinnbild, sondern, zumindest noch im Mittelalter, geradezu Voraussetzung der Macht und Legalität des Königs bzw. der Einheit des Reichs. In dieser Bedeutung wird sie im Hausmärchen für Augenblicke sichtbar (vgl. 696 u.709),und der ursprüngliche KronenwächterMythos erscheint zunächst geradezu wie ein Versuch der „Exegese des Symbols".35 Aber wie alles Mythische in den Kronenwächtern kann auch die Krone selbst, als mythischer Gegenstand, keinerlei Sinn beanspruchen. Ein solcher Anspruch wird gleich mehrfach vernichtet, z.B. wenn die Krone unter dem Einfluß der Kronenwächter zu einem teuflischen Gegenstand verkommt (vgl. 579/580 u. 582/583), aber auch wenn sie verloren, zerbrochen oder zerteilt wird (vgl. 1042-1045): Das Bild der 33 Vgl. A.Gryphius, Trauerspiele. Bd. 1, Hg. v.H.Powell, v.a. S.49f,bzw. 136f. 34 A. Jolles, Einfache Formen, S. 125. 35 Vgl. J.J. Bachofen: „Der Mythos ist die Exegese des Symbols" (Oknos, S. 8).

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staatlichen Einheit im Roman darf nicht mit einem Garanten dieser Einheit in der Wirklichkeit verwechselt werden. Ganz folgerichtig geht jeder neue Sinn, welcher der Krone verliehen wird, nicht von einem Sein, sondern von einem Seinsollen aus; er ist zum Beispiel deutlich politisch-moralischer Art, wenn der Abschnitt Das Rätsel der Krone im Nachtrag beginnt: „Sie hat die Eigenschaft zu verschwinden, wenn ein Böser sie tragen will" (1045). Zusammen mit dieser auf moralische Werte gegründeten Neuinterpretation wird auch die empirisch nachvollziehbare, sinnliche Seite des Symbols verändert, einem neuen Sinn angepaßt: Das Symbol wird zur Allegorie. Dann ist es - ein weiterer Schritt — offen für utopische Bedeutungen. Entsprechend findet sich die Krone erst im Nachtrag ausführlich erwähnt. Und wie nahezu alles in dieser Utopie ist auch die neue Bedeutung der Krone präzise gegenwartsbezogen. Das Gedicht „Kronenritter, Kronenritter!" (1040-1430) 3 6 stellt z.B. allegorisch-durchsichtig einen Vorgang dar, in dem die Krone, nach Revolution und Befreiungskrieg .zerbrochen', als ein neuer ,Bund' von König, Adel und Volk wieder erneuert wird: Nein, ein Wunder anzuschauen, Wo sein Schwert hat eingehauen, Sind Rubinen ausgeflossen, Um die Krone schön entsprossen, daß sie fester im Gewinde Ritter und auch Volk verbinde.

(1042/1043)

Genau wie beim Brunnen-Symbol nun entstehen auch hier aus dem Zusammenhang verschiedener Bedeutungs-Ebenen neue Sinn-Dimensionen. Im Grunde stellt ja die bisher gesehene Bedeutungs-Entwicklung des Kronen-Symbols — von der Historie zum Mythos, zum Ethos, zur Utopie, und alles immer auf Historisches zurückbezogen — eine Art Abbreviatur des ganzen Romans dar; wie ja auch um die Krone 36 Es erinnert deutlich an jene Reihe von Gedichten politisch-allegorischer Art, die unter der Uberschrift Lieder aus einem ungeschriebenen Roman (22, 152-211) aus dem Nachlaß herausgegeben wurden. Dort dichtet Arnim häufig die Insignien der Macht, wie Szepter, Reichsapfel, Schwert und wiederholt die Krone allegorisch aus. Regelmäßig sind Verhältnisse der eigenen, jüngsten Vergangenheit und Gegenwart das Ziel der sinnbildlichen Aussage.

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letztlich dessen gesamtes Geschehen kreist. Dann wird sie ganz konsequent zum Symbol eines in der Geschichte zu suchenden, und auch zu verwirklichenden, Sinnes und Zweckes schlechthin. Die Arbeit des Geistes ist nichts anderes, als die Suche nach diesem Sinn, und des Bemühen, ihn allgemein wirksam bzw. wirklich zu machen. 37 Ganz ebenso suchen die Hoffnungsträger im Roman nach der Krone und wollen sie ins Volk tragen, also ganz wörtlich .allgemein' machen: Die Auflösung ist endlich, daß die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde. So löst sich die Frage: ein Teil des Menschengeschlechtes arbeitet immer im Geiste bis seine Zeit gekommen. (1040)

Auch von hier aus ergibt sich zugleich eine politisch-aktuelle Dimension. Denn wie Arnim die nationale Einheit nur unter einer liberalen Verfassung sinnvoll erschien, und „Verfassungen (...) in dem Geiste des Volkes begründet" (II, 846), also auf .geistiger Volks-Tätigkeit' beruhen müssen, so wird die Krone im Nachtrag deutlich zusammengesehen mit jener „allgemeinen belebenden Kraft", ohne die Arnim jede Verfassung „zu einer leeren Form" werden sieht (774). Aber diese politische Konkretion ist bereits nur noch ein Aspekt der viel grundsätzlicher im Symbol der Krone vorgestellten Notwendigkeit eines Sinnes oder Zwecks in der Geschichte, das heißt einer GeschichtsTeleologie, die Anspruch auf Wirklichkeit erhebt. Dieser Sinn der Geschichte, wie er alle auf ihn gerichteten Entwürfe und Aktivitäten erst rechtfertigt, so greift er zugleich notwendig immer über sie hinaus, bedeutet gerade ihre Aufhebung, auch dann, wenn sie seine Wirklichkeit mit aller Kraft fördern. So ist es ganz konsequent, wenn es von

37 Es ist bemerkenswert, daß J.G.Herder, im 9.Buch der Ideen, an das sich die Kronenwächter wiederholt anzulehnen scheinen, zweimal das Bild der .Krone' in einem auch im Roman relevanten Sinne gebraucht: „Religion und Sprache, Künste und Wissenschaften, ja die Regierungen selbst können sich mit keiner schönern Krone schmücken als mit diesem Palmzweig der sittlichen Fortbildung in menschlichen Seelen'; und: „Das Samenkorn aus der Asche des Guten ging in der Zukunft desto schöner hervor (nach ,Verirrungen' der geschichtlichen Kontinuität, z.B. nach Revolutionen, H.V.G.) und, mit Blut befeuchtet, stieg es meistens zur unverwelklichen Krone" (Bd. 13, S. 351 und 353). 81

Anton am Ende heißt: „Im Vertrauen auf die Krone stirbt er" (1045). Die Spannung des gesuchten Sinnes zur jeweils möglichen Realität ist, selbst in utopischer .Verklärung', unaufhebbar. Arnim und Novalis Die am Anfang dieses Kapitels aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der Kronenwächter zur Romantik läßt sich nun exemplarisch und umrißhaft klären, sofern zumindest zu einem wichtigen Autor der Romantik Gemeinsamkeiten und Gegensätze sichtbar werden. Auch für Novalis hat die symbolische Wiederbelebung des Mythos38 einen geschichtsteleologischen Sinn: „Es ist die Urwelt, die goldene Zeit am Ende". „Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poetisch". (N 1,345 u. 347)39 Aber wie Arnim sieht auch er zugleich den unaufhebbaren Abstand dieses Sinnes zur Realität: „Das Ziel des Menschen ist nicht die goldne Zeit" (Ν II, 269). „Man kann die Poesie nicht gering genug schätzen." (N 1,335). Das folgende Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon von 1798/1799 könnte so geradezu auch über Arnims Kritik am pervertierten Mythos des Kronenwächter-Bundes oder über Bertholds ,zweitem Leben' stehen: Auf Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisierten- auf ihre Identisierung - auf dem Glauben an wahrhafte, vollst [ändige] Repräsentation und Relation des Bildes und des Originals-der Erscheinung und der Substanz (...) kurz auf Verwechslung von Subj[ekt] und Obj[ekt] beruht der ganze Aberglaube und Irrtum aller Zeiten, und Völker und Individuen."(N 111,397)

Entsprechend ist auch Novalis' Symbolik fließend, vieldeutig, noch viel stärker als die Arnims auf ständige Verwandlung angelegt. 38 In den .Berliner Papieren' zum Heinrich von Ofterdingen findet sich ein deutlich analoger Entwurf wie der zum Kronenwächter-Mythos (vgl. 844 f): „Natürlicher Sohn von Friedrich dem 2ten - das hohenstaufische Haus - das künftige Kaiserhaus. Der fehlende Stein in der Krone. Schon in Pisa findet er des Kaisers Sohn. Ihre Freundschaft (...) Cyane trägt den Stein zum Kaiser" (Ν 1,348; vgl. Susanna und die Krone, 1040 und 1043). 39 Vgl. H.-J.Mähl, S. 274: die Idee einer „Wiedergewinnung des Naturstandes auf höherer Bewußtseinsebene, einer Vereinigung der glücklichen Einfalt der Kindheitsepoche mit den geistigen und kulturellen Errungenschaften der menschlichen Vernunftentwicklung".

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Und dieser Analogie der Symbolbehandlung entspricht, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutsamkeit der Geschichte, ein weithin gemeinsamer Intentions-Rahmen beider Autoren: Auch für Novalis sollen subjektiv-allgemeines Postulat, erinnerter und interpretierter Mythos, bildhaft vorentwerfende Utopie, belehrender Zusammenhang analogiefähiger Zeitpunkte aus der Geschichte — „die entferntesten und verschiedenartigsten Sagen und Begebenheiten verknüpft. Dies ist eine Erfindung von mir" (Ν 1,345) — und dies alles synthetisierendes Symbol sich wechselseitig steigern und durchdringen. Und folgerichtig soll auch für Novalis diese seine ,freie Geschichte' auf die eigene Zeit bezogen sein, vom .Unendlichen zum Endlichen' übergehen, und der Dichter so nicht nur der vorwegnehmende Verkünder, sondern auch der tätige Förderer der .neuen goldenen Zeit' werden.40 Dieser umfassende Anspruch einer romantischen Dichtung, welche auf die „Umbildung der Welt" (1038) zielt, ist auch bei Arnim noch deutlich vorhanden. Aber er legt alle die eben genannten Elemente der dichterischen Intention enger aus: das Postulat vollendeter Geschichte ist näher an seine ethischen Voraussetzungen gerückt, das Ethos selbst ist präziser politisch-moralisch geworden und das politische Interesse national und parteilich; der Mythos ist als Sondererzählung gleichsam eingerahmt, in seinen überkommenen Umrissen treuer bewahrt und entschlossener historisch interpretiert; die Historie ihrerseits präsentiert Arnim räumlich und zeitlich detaillierter, Bezüge und Analogien werden umständlicher hergestellt; das Thema der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen setzt sich rigoroser durch; daher steht auch die Utopie bei ihm stärker unter dem Aspekt historischer Zukunft und ist mit genaueren,zeitbedingten Inhalten und Forderungen erfüllt. So ist schließlich auch Arnims .poetische Synthese' noch hypothetischer als die des Novalis, nicht aus der spekulativen Zusammenschau wissenschaftlicher, philosophischer, religiöser Theoreme gewonnen, sondern vielmehr rückbezogen auf Erfahrungen, Überzeugungen, Wünsche und persönlichen Glauben, wobei Hoffnung und Zweifel sich die Wage halten. Denn die Phantasie steht bei Arnim nicht .schwebend' zwischen und über den Gegensätzen, indem das empirische Ich des 40 Vgl. dazu exemplarisch W.Malsch, ,Europa'. Poetische Rede des Novalis, v.a. S.96 und 160 ff.

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Dichters sich zum transzendentalen zu erheben sucht. Es ist das historische, empirisch bedingte Ich des Autors, das spricht, und das zwischen den Antagonismen seiner Dichtung wie seiner Zeit stehen will. Es ist bemerkenswert, wie im Verhältnis der beiden Autoren die graduellen Übergänge der Intention, je mehr man sich dem Werk selbst nähert, zu einem nahezu konträren Resultat führen: Für Novalis steht im Heinrich von Ofterdingen die sich entwickelnde Synthese immer und von Anfang an im Mittelpunkt. In den Kronenwächtern präsentiert sie sich als peripherer Kommentar: die einzelnen Elemente verdichten sich zu jeweils eigenen Zusammenhängen, eigenen Ebenen; erst wenn diese erkannt sind, lassen spannungsvolle und stets von Abweichungen mitgeprägte Bezüge eine Bedeutungsentwicklung im Ganzen zu. Der Fluchtpunkt dieses Bedeutungsflusses ist für Novalis die .Apotheose der Poesie'. Bei Arnim ist er sozusagen mehrfach geteilt, die Tendenzen streben auseinander: der eine Strang fuhrt zur politischen, nationalen Utopie; auch wenn diese als „ein neuer Tag, vom Geist der Kunst durchdrungen" bezeichnet wird (1038), ist ,Kunst' hier nur noch vergleichender Ausgangsbegriff, bzw. partielle Voraussetzung für Arnims Ideal .geistiger Tätigkeit'. Auf die gesellschaftliche Wirkung der Kunst kommt hier alles an, und ,Kunst' heißt im Grunde .Kultur'. Ein zweiter, und für die Kronenwächter der wichtigste Erzählweg aber führt zur offenen, in ihren konkreten Bedingtheiten anerkannten Realität. Wenn der dritte zur Geschichts- und Dichtungstheorie führt, so ist dies in erster Linie ein theoretisches Aushalten bzw. auch Produktiv-Machen der unaufhebbaren Widersprüche, und der Anspruch aufweitführende und-versöhnende Wirkung der Dichtung enthält zugleich das Eingeständnis, zumindest im Augenblick keinen realen Boden zu haben. Bei Novalis ist die dichterische Welt in sich evident, von einer stetigen Energie des Sinnanspruches zusammengehalten, um dann als Ganze in wechselnder Weise auf Realität bezogen, bzw. auch der Realität entgegengesetzt zu werden. Bei Arnim ist genau dieser Gegensatz in die Dichtung selbst aufgenommen, und die Dichtung nicht nur auf Realität bezogen, sondern dieser von Anfang an unterstellt. Das Symbol der Krone z.B. geht von der Historie aus, erhält seine Bedeutungsdimensionen in steter Auseinandersetzung mit ihr und kehrt wieder zur Historie zurück: auch in seinem letzten Sinnanspruch ist es von der 84

Spannung zur bedingten Realität in seinem Bild-Kern geprägt, wenn die Krone zerbrochen und verloren werden muß. Das Symbol der Blume im Heinrich von Ofterdingen dagegen wächst aus sich heraus in immer neue Bildfelder hinein, seine Verwandlungen, auch die kontrastiven, verdanken sich der Phantasie bzw. der Spekulation des Dichters. Sie sind jeder Realität immer schon voraus. Bei Arnim dagegen werden diese Verwandlungen der Symbolik von der Auseinandersetzung mit wechselnden Realitäten gleichsam erzwungen. Der weltfiihrende Anspruch dichterischer Phantasie steht bei Novalis nie in Frage, bei Arnim ist er eigentlich schon nicht mehr als nur das: die Frage, ob die Realität ohne die phantasiegenährte Hoffnung auf eine Totalität des verwirklichten Sinnes „ohne Verzweiflung" (518) zu ertragen sei. Novalis sucht den Realitätsbezug, die Überwindung des Gegensatzes von Sinnanspruch und Realität durch eine Art .symbolische Persuasio': Die „Wunderkraft der Fiktion", das .Erregende', .Reizende' — z.B. auch in der „Annahme (...) das goldne Zeitalter ist hier" (N 111,421) - ein „geläufiger Ausdruck" für das „Unendliche" (Nil, 545), „Realisierung des Idealism" (Ν 111,384), all das soll die konkrete Verwirklichung des von der Phantasie Vorweggenommenen in der außergeschichtlichen Realität hervorlocken. Von der anderen Seite, der empirisch-realen her, entspricht dem eine bewußt „idealistische Bearbeitung der Geschichtsdaten" (N 111,586), „Idealisierung des Realism" (N 111,384), Romantisierung, „Qualitative Potenzierung" des Niederen, Gewöhnlichen, Endlichen (Ν II, 545). So will der Dichter, und soll das Publikum, zwar in beiden Sphären zugleich mit vollem Bewußtsein leben, aber für die Dichtung bedeutet das einseitig die .Ausbildung ihrer polaren', also einer der Realität polar entgegengesetzten .Sphäre': „ich realisiere die goldne Zeit - indem ich die polare Sphäre ausbilde" (N 111,384). Das Widersprüchliche der Realität wird von Novalis nur aufgenommen um .synthetisiert' zu werden. Arnim sucht es bewußt, denn er nimmt eher das Scheitern seines Sinn-Anspruches in Kauf, und ist auch bereit dies darzustellen, als daß er ,den Frieden heucheln' würde, wo er ,ihn doch nicht geben kann'. So kann es für Arnim auch nicht jene antizipierende Funktion der Poesie geben, die für Novalis eme ,innere Gegenwart' des .Goldenen Zeitalters' ermöglicht, als eine jede zeitliche Bedingtheit aufhebende, 85

ästhetische Erlebnisform.41 „Nur" die „Umbildung der Welt" kann für Arnim „den Frieden" bringen (vgl. 1038). Und das letzte Wort, auch in der Welt des Romans selbst, hat die Wirklichkeit. Es ist daher ganz folgerichtig, daß die Darstellung des Historischen für Arnim so entscheidendes Gewicht erhält. Gerade von hier aus läßt sich nochmals Zusammenhang und Gegensatz der beiden .romantischen' Dichter exemplarisch zeigen. Denn bei beiden zielt die Dichtung nicht nur auf Realität; diese Realität, und als ein wesentlicher Teil von ihr die Geschichte, ist für beide auch auf Dichtung angewiesen. Novalis skizziert das in den Fragmenten von 1799/1800 einmal so: Dei Roman ist aus Mangel der Geschichte entstanden. Er setzt für den Dichter und Leser divinatorischen, oder historischen Sinn und Lust voraus. Er Bezieht sich auf keinen Zweck und ist absolut eigentümlich. Die Geschichte mußimmer unvollständig bleiben. [...] Der Roman ist gleichsam die freie Geschichte - gleichsam die Mythologie der Geschichte. (Mythologie] hier in meinem Sinn, als freie poetische Erfindung, die die Wirklichkeit sehr mannigfach symbolisiert). (N 111,668)

Man sieht, wie Novalis den Gegensatz von .unvollständiger', aber vorgegebener Geschichte zur autonomen, sinnstiftenden Dichtung in der .freien Geschichte' des Romans aufheben will, einer Geschichte, aus der Freiheit des Postulats deduziert und in dichterischer Freiheit dargestellt; und das Ergebnis dieser Aufhebung wäre eine .neue Mythologie, welche die Wirklichkeit sehr mannigfach symbolisiert'. Das Empirische um seiner selbst darzustellen, ist dann gar nicht mehr nötig. Auch für Arnim ist die Geschichte unvollständig, und .Dichtung'

41 Vgl. H.-J. Mahl, S.329: der doppelte Aspekt, daß „neben der scheinbar eindeutigen geschichtsphilosophischen Markierung des goldenen Zeitalters als eines endzeitlichen, im Dreitakt der Geschichte zu verwirklichenden Zukunftszieles zugleich auf eine Aufhebung aller klaren zeitlichen Strukturen, auf eine jederzeit mögliche .Gegenwärtigkeit' tendiert wird, die die Erhebung des Menschen über sich selbst und seinen Eintritt in ein .höheres Leben' zur Aufgabe der Dichtung macht" (329). Wo Arnim von einer .anderen' oder .höheren Welt' spricht, welche in der Phantasie zugänglich ist (vgl. z.B. 11,449, 11,796 und 111,63), da handelt es sich um bloße Bilder, allerdings um notwendige, die in .wirkliche Tätigkeit' übersetzt werden müssen, um ,Träume', aus denen es ,im Geist' zu .erwachen' gilt (vgl. 519).

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allein kann deren Sinn und Ziel, zumindest subjektiv verbindlich, sichtbar machen. Aber wo Novalis die faktische Historie und den Gegensatz des freien dichterischen Sinnentwurfs zu ihr im .mannigfachen Symbol' aufzuheben beansprucht, da bleibt Arnim mit allen Postulaten, Entwürfen und Bildern innerhalb der fragmentarischen und stets widersprüchlichen Realität. Er entwickelt als tragende Struktur seiner Dichtung genau den Gegensatz von ,freier Geschichte' und .unvollständiger Geschichte', den Gegensatz von Dichtung und Historie, den Novalis zur Kontinuität einer neuen Mythologie zu vermitteln sucht. Damit aber nähern sich die Kronenwächter ganz folgerichtig einer literarischen Gattung, für die nun in der Tat diese Grenze von Dichtung und Geschichte produktiv geworden ist.

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5. Die Kronenwächter

als historischer Roman

Den historischen Rahmen des Romans führt erst die zweite Einleitung Waiblingen ein. Von Anfang an wird dadurch deutlich, daß das Historische zwar eine entscheidende, alles andere zusammenhaltende Ebene ist, daß aber zugleich die anderen, dichterischen Zusammenhänge ihr gegenüber ein starkes Eigenrecht beanspruchen.

Der Geschichtsraum Der Erzähler von Waiblingen scheint alles, was in Dichtung und Geschichte gesagt worden war, bereits wieder vergessen zu haben, und ebenso Mythos, Symbolik und Phantastik nur als ,das Seltsame' zu verstehen. Die Welt, die er anspricht, ist genau der Erfahrungsraum des späteren Helden: das Schwabenland, Waiblingen, Augsburg; und in den Wendungen „alter Kriegsmann", „des Schlafes entwöhnt", „ewige Wacht" und „enge Winkeltreppe des Turmes" (522) klingt bereits etwas von Zwang und Abgeschlossenheit der Burg Hohenstock und der Kronenwächter-Welt an. Auch auf die Art und Weise, wie diese Ebene des Historischen hier gesehen ist, gibt Waiblingen von Anfang an drei wichtige Hinweise: die Metapher von ,Bild' und ,Rahmen', dann das Bekenntnis zu einem spezifisch aktuellen Interesse an jener Zeit, in der sich „mit unvorhergesehener Gewalt der spätere und jetzige Zustand geistiger Bildung in Deutschland entwickelte" (520); vor allem aber ist es die ausgesprochen räumliche Anschaulichkeit selbst, welche diesen Roman von seinem Beginn an charakterisiert. Als erste „Quelle", aus welcher der Erzähler „diese Zeit in aller Wahrheit der Geschichte kennen zu lernen" sucht (520), wird nicht zufällig eine Karte genannt. Dann folgt 88

die räumlich-anschauliche Beschreibung Schwabens; die Perspektive verengt sich auf den „Schauplatz unsrer Geschichte", und dieser wieder klärt sich zum „Bühnen"-Raum des Turmes, wo wenig später die ersten Szenen des Romans zu sehen sein werden. In der Tat muß man sich in diesem Roman im ganzen .Geschichte' räumlich vorstellen: Waiblingen, ehemalige Pfalz der Hohenstaufen, dann freie Reichsstadt, jetzt Besitz der Grafen von Württemberg, Augsburg, mehrmaliger Ort von Reichstagen, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, schließlich Hohenstock als Bild des heruntergekommenen Mittelalters — die wesentlichen Schauplätze des Romans erscheinen als Schnittpunkte verschiedener historischer Zusammenhänge, die von ihnen aus in alle Richtungen auseinanderlaufen und so zusammen, ganz wörtlich-anschaulich, einen historischen Spannungsund Wirkungs-Raum entwerfen. Erst im letzten Teil des Romanfragments, nach Brunnenbau, Hausmärchen und Besuch auf Hohenstock, als Berthold und Waiblingen in den Krieg Ulrichs I. von Württemberg mit dem .Schwäbischen Bund'(1519/1520) hineingezogen werden, bestimmt eine historische Ereignisfolge die fiktive Geschichtsdarstellung. Gerade in diesem Übergang aber manifestiert sich eine sehr klare historische Sicht, die auch vorher schon die Auswahl der in den Roman aufgenommenen Ereignisse bestimmt hatte: denn die verräumlichte Geschichtsdarstellung der letzten Lebensjahre Maximilians in den Kronenwächtern ist eindeutig beherrscht von der Konflikt-Konstellation der Kaiser- und Reichs-Interessen gegenüber der ständig wachsenden Macht der Fürsten; wobei beide mit dem seinerseits wachsenden Einfluß des in den Städten zuerst zum Selbstbewußtsein gekommenen Bürgertums zu rechnen haben. Der Krieg von 1519/20 ist dann nichts anderes als ein Glied in der langen Kette jener Auseinandersetzungen — für den Zweiten Theil ist z.B. auch ein Eingehen auf den ,Schmalkaldischen Bund' und vor allem auf die Bauernkriege vorgesehen welche sich im Grunde bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein zogen und schließlich das sich Durchsetzen der, oft absolutistischen, Territorialstaaten herbeiführten. Das in den Kronenwächtern an Geschichte Entworfene gehört also, folgt man dieser Perspektive über die Romangrenze hinaus, wesentlich zur Vorgeschichte des Zustandes, den erst die Napoleonischen Kriege in Deutschland erschütterten aber nicht beseitigten. Und Arnims unmittelbare Gegenwart sah sich nachdrücklich 89

an seine Fortdauer gebunden. Auch daß die Reformation diesen Prozeß der Emanzipation der .Reichsstände', später der Territorialstaaten, und ebenso den Aufstieg des Bürgertums wesentlich beschleunigte, entspricht dieser Sicht einer Vorgeschichte der eigenen Gegenwart. Und es paßt ebenso in dieses Bild, daß z.B. das Fortleben der Staufischen Reichsidee lange Zeit der Politik Maximilians einen gewissen Widerstand leistete, und daß generell in dieser Zeit der Einfluß des niederen Adels, der ja ebenfalls von den Kronenwächtern verkörpert wird, rapide zurückging. Gerade in den Bauernkriegen, auf die der Zweite Theil eingehen sollte — „Anton (...) wird ein leidenschaftlicher Verfechter der Bauernfreiheit" (1040) — wurde dieser Einfluß so gut wie beseitigt. Wie genau Arnim diese historischen Verhältnisse im Blick hatte, zeigen die Notizen desNachtrags: Die Kronenwächter erwarten töricht aus dem Bauernaufruhi ihr Aufkommen, sie begünstigen ihn, können ihn aber nicht lenken. (...) Die Grafen von Stock und die übrigen Edelleute suchten auf diesem Wege ihre Ansprüche gegen die größeren Fürsten und den Kaiser geltend zu machen. (...) In der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Bauernaufruhr hat sich alles geändert, im ersten waren sie noch fremder Absicht Untertan, beim zweiten arbeiten sie schon für sich. (1040 u. 1051)

Die Zeichen der Geschichte So unbestreitbar diese historische Großperspektive der Kronenwächter im ganzen vorhanden ist, so wenig kommt sie freilich unmittelbar zur Darstellung. Von Bertholds ersten Entzifferungsversuchen an der Waiblinger Chronik, wo er z.B. von der Auseinandersetzung der Weifen mit den .Waibling'-Staufern erfährt, über die vielfältigen Eindrücke in Augsburg bis zu seinem Tod in Lorch, an der Begräbnisstätte der Hohenstaufen, immer hat die entlang seinem Lebensweg dargestellte Geschichte etwas Beiläufiges, in einzelne Züge zerfasertes, Anekdotisches. Es spielt z.B. der Umstand, daß Maximilian gerade als Hochzeitsgast eingeführt wird (619 f), auf dessen ja in der Tat bedeutsame Heiratspolitik und Begründung späterer Erbansprüche an. Aber der Leser muß dieses Wissen mitbringen, vom Roman selbst wird es nicht vermittelt. Die Beschreibung von Maximilians Helm wird Arnim zum „Zeichen, daß er diesmal die Nachfolge im Reich für seinen 90

Sohn (!)Karl vermitteln wollte" (620), die Possen, welche Maximilians Narr anstellt (vgl. 636), verweisen einmal auf die Spannungen zwischen Reichspolitik und Fürsten-Interessen, das anderemal auf die, in der Tat für Maximilians letzte Regierungsjahre bezeichnenden Auseinandersetzungen in Nord-Italien.1 Geschlossener dagegen, denn sie hängen unmittelbar mit den politisch-moralischen Ideen des Romans zusammen, sind die Charakterisierungen historischer Personen. Im Hinblick auf Luther ist das bereits sichtbar geworden. Im Vordergrund steht im Roman freilich die Gestalt Maximilians. Er wird zwar so gut wie nur indirekt, in Gesprächen und anhand von anekdotischen Einzelzügen beschrieben. Aber im ganzen ergibt sich so doch ein abgerundetes Bild eines gütigen, weisen, selbstkritischen und weitsichtigen, aber doch auch seine politischen Möglichkeiten Uberschätzenden Staatsmannes: die Idee des notwendigen historischen Fortschritts, die Förderung des Bürgertums und der Städte, Eindämmung adliger und fürstlicher Selbstherrlichkeit, antiklerikale, die Kirche vom Papst befreiende Politik - all das findet im Kontext des Romans offene Zustimmung. Aber das sich ankündigende Absolutistische daran, ebenso das mutli-nationale Denken, vor allem aber die Tendenz, gewachsene Traditionen einer abstrakten Staatsräson unterzuordnen, werden ebenso deutlich abgelehnt: „Volkssitte läßt sich nicht wie ein Wams umschneidern" (635). Und die utopische Vision von Treitssauerwein (vgl. 635 ff), den Arnim als ein .mögliches' Sprachrohr Maximilians verstanden wissen wollte (vgl. G 402/3), kann der Erzähler, wie deutlich sichtbar, nur noch ironisch würdigen. Noch deutlicher wird die politische Wertung seines Standes im persönlichen Charakter Herzog Ulrichs I. von Württemberg gespiegelt. Wenn dieser in krassem Gegensatz zu Maximilian als jähzornig, gewalttätig, selbstsüchtig und politisch kurzsichtig geschildert wird, wobei Arnim seine Quellen z.T. bewußt ins Negative interpretiert, 2 so stehen 1

Eine ausführliche Zusammenfassung der historischen Details, jeweils mit den von Arnim benutzten Quellen verglichen, gibt A. Wilhelm (Studien zu den Quellen und Motiven von A.v.A.s Kronenwächtern. 1955). Für das Verständnis des Romans ist dies ein äußerst hilfreicher Kommentar. Die Gesamtdeutung Wilhelms allerdings, Arnim schaue „im Geiste, jenseits von Raum und Zeit (...) das Ganze und darin die ewige Ordnung der Welt" (11), ist zu undifferenziert. 2 Vgl. A.Wilhelm, S.89ff.

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gleich mehrere historische Dimensionen dahinter: zum einen kommt diese Charakteristik der historischen Persönlichkeit recht nahe, im Gegensatz etwa zu der patriotischen Verzeichnung in Wilhelm Hauffs Lichtenstein, zum anderen zeichnet sich im offenkundigen Kontrast von Maximilian zu Ulrich sehr deutlich erneut der Gegensatz von Kaiser und Fürst allgemein ab; schließlich aber spielt Arnim damit, wie A.Wilhelm nachweist,3 deutlich auch auf den zeitgenössischen König von Württemberg, Friedrich I. an. Und zwar verbindet Arnim im Bedeutungsraum seines Romans mit dem Hinweis auf jenen despotischen Fürsten und langjährigen Verbündeten Napoleons, unter dem Württemberg 1806 Königreich geworden war, noch eine weitere Absicht. Denn im gleichen Jahr hatte Friedrich die alte, im Kern auf die ,Landesordnung' von 1495 zurückgehende, immer wieder umkämpfte und erneuerte Verfassung aufgehoben, und trotz ständiger Forderungen und Versprechungen zeit seines Lebens nicht erneuert. Gerade während der Abfassung der Kronenwächter lehnten die ,Landstände' in Württemberg einen Verfassungsentwurf Friedrichs ab, und erst unter dessen Nachfolger, Wilhelm I., wurden am 25. September 1819 diese Verfassungskämpfe in Württemberg vorläufig beendet. Für Arnim, dessen politisches Hauptinteresse gerade der Verfassungsfrage galt, und der die Forderung nach nationaler Einheit stets mit der nach einer liberalen Verfassung zusammensah, mußte sich dies alles wie von selbst mit den Themen und Gedanken semes Romans verbinden. Auch hier also gehen zeitgeschichtliches Engagement und historisches Interesse unlösbar zusammen. Diese Beispiele zeigen bereits, daß das Historische in den Kronenwächtern durchaus eigenes Interesse und einen eigenen Zusammenhalt besitzt.4 Auch wenn dieser nur vermittelt, zeichenhaft, gegeben wird, so ist doch die Struktur dieser zeichenhaften Darstellung eine völlig andere als die der Mythen-, Symbol- und Allegorie-Zusammenhänge und -Prozesse. Zwar ist auch hier die klare Trennung von Bezeichnendem 3 Vgl. A.Wilhelm, S. 102 f. 4 Die Forschung hat das immer wieder bestritten. So z.B. J.Göres (Das Verhältnis von Historie und Poesie in der Erzählkunst L.A.v.A.s Diss. 1956) S. 19/20: „Von einem selbständigen Wahrheitsgehalt der historischen Realität kann hier nicht die Rede sein"; Arnim versuche vielmehr, die „Wahrheit des Geistes" vom „Schein der Fakten" zu befreien.

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und Bezeichnetem zu erkennen: Arnim erzählt bevorzugt scheinbar nebensächliche Ereignisse und Details, die etwas viel Weiteres und Wichtigeres meinen, als sie sind. Aber diese Dinge bilden mit dem, was sie bezeichnen, einen realen Zusammenhang. Wenn z.B. ein kostbares Glas zerbrochen wird (vgl. 636), so gibt dies nicht nur Anlaß zu Gesprächen über die Spannungen in Norditalien und den Wert, den eine kunstvolle Verarbeitung dem Glas gegenüber dem Silber zukommen läßt. Das „venedische Trinkglas" ist ja tatsächlich, als Produkt und Ware, Teil von Handel und Industrie in Norditalien; um den Reichtum den diese begründeten, gingen tatsächlich in erster Linie die Auseinandersetzungen. Ebenso ist Maximilians Bemerkung darüber Teil seiner Politik, die Wirtschaftskraft der ,Kernlande' zu stärken: „das Geld (...) ist das Blut des Staats" (657), wird er später sagen; und Silber-Förderung bzw. -Bearbeitung ist in der Tag eine heimische Industrie.5 So erhält das dargestellte Einzelne, für sich genommen historisch völlig unbedeutend, in Arnims Darstellung symptomatischen, bzw. ,indexikalischen', von Realität zu Realität vermittelnden Wert.6 Bedenkt man, wie auch die Symbolzusammenhänge von Realem ausgingen um nach langen, vielschichtigen Umwegen wieder zur Bezeichnung von Realem zurückzukehren, so erkennt man, wie in diesem indexikalischen, sprunghaft-einschichtigen Wachrufen von historischen Real-Konnexen sich tatsächlich die weitergehende, ja die endgültige Tendenz der Kronenwächter ausspricht. Das führt nun folgerichtig auf einen umfassenderen Intentionszusammenhang, in dem dieses zeichenhaft-räumliche Verfahren der Geschichtsdarstellung steht: Wie alle Zeichen sind auch die der Geschichte offen für, und angewiesen auf Interpretation. Diesen Freiraum sucht Arnim ganz offensichtlich noch zu vergrößern; daß gerade die dichterische Geschichtsbearbeitung „in einem Einzelnen ein Merkzeichen für Jahrhunderte" aufzustellen vermag (C, 235), hatte er schon bei der

5 Handel und Industrie spielen in den Kronenwächtern eine wichtige Rolle, von der Woll- und Leinewebeiei bis zur Baukunst. Detaillierte Hinweise dazu gibt A. Wilhelm. 6 Vgl. zum Begriff .Index' C.S.Peirce, Schriften, hg. von K.O.Apel, Theorie Suhrkamp, S. 363: ein Zeichen, „welches dies kraft einer realen Verbindung mit seinem Objekt ist"; vgl. auch E.Walther, Allgemeine Zeichenlehre, S.62ff.

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Arbeit am Wintergarten bemerkt.7 So beläßt er z.B. die oft erhebliche Distanz zwischen bezeichnendem Ereignis und bezeichneter historischer Wirklichkeit, indem er auf vermittelnde Zwischenglieder verzichtet. Und er reiht dazuhin die punktuellen Vergegenwärtigungen von Geschichte sprunghaft und scheinbar zwanglos aneinander. Auch die Abweichungen von der chronologischen Reihenfolge, etwa daß Ereignisse aus den Reichstagen von 1504, 1510 und 1518 zur Gleichzeitigkeit zusammengezogen werden,8 entspricht diesem Verfahren: entscheidend ist der zeichenhaft verdichtete, räumlich aufgefaßte Wirkungszusammenhang. Noch wichtiger aber ist eine weitere Tendenz dieser Art und Weise, Geschichte zu erzählen: Diese bewußt als interpretiert vorgestellte Geschichte ermöglicht es Arnim, unbeschadet des in seinen Umrissen als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart belassenen „Rahmens der Geschichte", eine „geahndete Füllung", bzw. ein diesem Rahmen kontrastierendes „Bild" (520) herzustellen. Und das heißt im Kontext der Kronenwächter nichts anderes, als eben ein Bemühen, diejenigen Traditionen in der Geschichte aufzusuchen, die in der Folgezeit ganz oder teilweise verschüttet wurden, das „Vergessene und Verborgene (...) wiederbringen" (1025),9 also das hervorzuheben, was nicht oder nicht voll zum Tragen gekommen ist, aber auch der späteren Gegenwart noch hilfreich sein könnte. In diesem Sinne gilt Arnims Interesse

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Zur wissenschaftlichen Kritik an diesem Verfahren vgl. K.G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, S. 131 f; doch ist dort v.a. die Vermischung von symbolischer und indexikalischer Repräsentation gemeint, die Arnim ja in der Tat, manchmal auch spielerisch, vermeidet. 8 Vgl. A.Wilhelm, S.28; der krasseste Anachronismus freilich, nämlich der, Erwin von Steinbach im späten 15. Jahrhundert auftreten zu lassen, zeigt nur, daß diese Romanperson sich, wie oben gezeigt, auf einer anderen RomanEbene bewegt, als der des Historischen. 9 Vgl. den Abschnitt über die .Ahnungen' am Ende Ass Zweiten Theils: „O ihr Ahnungen (...) Ο könnten wir doch auch rückwärts unsern Blick in eurer Kraft wenden und die Welt verstehen lernen, die unsere Erinnerung belastet, könntet ihr das Vergessene und Verborgene uns wiederbringen" (1025); vgl. dazu auch unten Kap.6, S. 132 ff. Es ist bezeichnend, daß Arnim hier, wie auch in der Wendung „die Gewalt der Jahrhunderte fällt wie ein Fels unerwartet, oft unerkannt auf die Brust des Erwachsenen, der gegen sie immer nur ein Neugeborener ist" (575), die dominierende Kontinuität der Geschichte, das bloße Vorhandensein von Traditionen als „Last" empfindet.

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gerade der Epoche der Renaissance und der Reformation, das heißt einer Zeit, in der die „spätere (...) geistige Bildung"(vgl. 520) entscheidende Anstöße erhielt, in der das „Freiheitsstreben der Städte Deutschlands und Italiens eine neue Bildung über Europa führte" (19,388), und in der das Aufblühen von Handel, Industrie und bürgerlicher Selbstbestimmung ein „allmähliches Steigen und Befreien der Städte von Fürsten und herrschenden Geschlechtern" (560) hoffen ließ. Darum ist auch die alte Reichsstadt Augsburg das Zentrum der historischen Ebene dieses Romans. Hier interessiert Arnim die ständischdemokratische Verfassung und die reichsstädtische Unabhängigkeit — die für viele deutsche Städte, darunter z.B. das im Roman genannte Reutlingen, 1803, beim ,Reichsdeputationshauptschluß' und 1815 beim .Wiener Kongreß', also sozusagen gerade eben beseitigt worden war. Arnim wollte hier offenkundig das in der Vergangenheit sichtbar machen, was er in seiner Gegenwart vermißte: das „öffentliche und Gemeinsame" (644) des Lebens und der Willensbildung, den Fortschritt nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Ausgleich und im kulturellen Leben, Verantwortungsbewußtsein für das allgemeine Wohl, das nur bei Leuten zu finden ist, die „wissen, daß sie mit zu regieren haben." (644) Und diese bewußte Wertung wird noch offenkundiger durch den vom Autor deutlich gewollten Kontrast von Augsburg zu Hohenstock. Hier ist das Mittelalter und seine beherrschende Schicht, der landbesitzende, starr am Alten festhaltende Adel — ebenso freilich das Mittelalter-Klischee der Ritter- und Burgen-Romantik — zum Zerrbild ihrer selbst verkommen. Diese Burg ist, gerade im Kontrast zu der reinlichen, weitläufigen und weltoffenen Stadt, ein Inbegriff der Langeweile, eng, schmutzig und stinkend. Es herrschen Willkür, Aushorchung und Heuchelei, Zank und Grobheit, und es wird nochmals eigens angemerkt, „daß die armen Spinnerinnen in Augsburg in ihren Spinnstuben nicht so roh und gemein, so grob und frech sich ausgedrückt hätten, wie diese edlen, ritterlichen Frauen." (743) Aber dieser Kontrast ist nich nur Indiz für Arnims Neigungen, die sich „doch eigentlich mit lebhaftem Anthefl der bürgerlichen Thätigkeit (...) zuwenden" (G,403), in dieser eindeutigen Hochschätzung allerdings nur in ihren vergangenen Formen. Hohenstock steht ja noch in einer zweiten, außerordentlich deutlichen Kontrast-Beziehung. Sein 95

Gegenbild ist nicht nur Augsburg sondern auch die Kronenburg. Erinnert man sich, was dieser Kontrast von Hohenstock zur Kronenburg bedeutet hatte, so erkennt man, daß die jetzt sichtbare, doppelte Raum-Spannung ein zentrales Moment der Bedeutungs-Entwicklung in den Kronenwächtern umschreibt. Im Grunde erzählt der Roman genau dies, daß die „Hoffnung aus früheren Tagen" (521), das Vertrauen auf die „Heimlichkeit der Welt" (519), sich vom „Glanz der Hohenstaufen", der Kronenburg, über das „Bild des Unterganges" (521), Hohenstock, hinweg auf einen neuen „Mittelpunkt" (522), das „allmähliche Steigen" (560) einer „freien Stadt" (644) wendet, um, inzwischen freilich auf „nichts (...) als die Zukunft" (779) gerichtet, an diesem „Bild im Rahmen der Geschichte" (520), an der Sinn-Bewegung im ganzen und an ihren Beispielen im einzelnen, einen Halt für die zukünftigen Hoffnungen auf „ein freies Land" (1035) zu finden. Die im letzten Kapitel untersuchten Tendenzen setzen sich also deutlich in die Auswahl und Darstellung des Historischen hinein fort: die negierende Auflösung, Reinigung und Uminterpretation der .mythischen Geschichte' wäre einseitig, wenn sie nur in Allegorie und Utopie enden würde. Die dabei freigesetzten, zur Klarheit des Bewußtseins erhobenen Hoffnungen suchen sich, auf die Geschichte gewendet, ebenso notwendig einen „Halt (...) in der äußern Welt", wie sie ihren anderen „Halt (...) in der inneren Lebenserfahrung des Dichters" (G, 250) und in deren Projektion in die Zukunft gefunden haben. Aber auch der Abstand beider, also vom Augsburg des Ersten Bandes zur Utopie des Nachtrags ist bedeutsam. Denn zwischen beiden Polen gesuchter Sinngebung im Roman, vom vergangenen Nicht-Mehr-Wirklichen zum zukünftigen Noch-Nicht-Wirklichen gespannt, liegt die ganze Wegstrecke, auch die Verirrungen, welche die Geschichte seit 1519 zurückgelegt hat, ebenso aber auch das ganze Feld teils manifester, teils ungeklärter Widersprüche, offener Entwicklungslinien aber auch zäher Widerstände gegen alle Veränderung, welche die Gegenwart Arnims ihm entgegenstellte. Fast noch klarer als im letzten Kapitel zeigt sich dabei, daß es von hier aus keine Rückkehr zum Mythos gibt. Von einem vorgegebenen, definitiv geschehenden und in der Dichtung,geschauten' Geschichtsverlauf kann keine Rede sein. Die Verbindung zwischen den Hoffnungen auf eine zukünftige „Umbildung der Welt" (1038) und den 96

„Hoffnungen aus früheren Tagen" (521) muß in ,geistiger Arbeit', also in neuer Erkenntnis, welche „die Geschichte zur Wahrheit läutert" (709) erst noch gesucht werden.

Die Kronenwächter und der .andere' historische Roman Damit ist nun auch der Weg frei für eine neue Beurteilung der Kronenwächter als historischen Roman. Ein einseitiges, auf mythische10 und heilsgeschichtliche Wahrheit11 fixiertes Bild von Arnims Roman, demzufolge die Welt der Historie nur „Schein",12 ohne jeden „selbständigen Wahrheitsgehalt"13 wäre, und ebenso eine unangemessene Verengung der Gattung des historischen Romans, ihre völlige und einseitige Orientierung an Walter Scott stand dem in der bisherigen Forschung entgegen. Aber auch das letztere ist nicht länger zu halten: die Romane Walter Scotts stellen keineswegs die .klassische' Form des historischen Romans dar.14 Es ist eher umgekehrt: gerade das in den, vor allem späteren, Romanen Walter Scotts und dann bei seinen Epigonen dominierende Verfahren, Dichtung und Geschichte zu einer, fast immer ideologisch vorgeprägten Schein-Kontinuität zu verschmelzen, führte schon im 19. Jahrhundert regelmäßig dazu, daß die Autoren, welche Geschichte künstlerisch anspruchsvoll, selbstbewußt, kritisch oder zumindest offen für neue Erkenntnisse erzählen wollten, sich mit großer Regelmäßigkeit gegen diesen üblichen historischen Roman abgrenzten. 10 So v.a. H.G.Hemstedt und, wenn auch in kritischer Absicht, B.Haustein. 11 So v.a. J. Göres, E.-L. Offermanns, u.v.a. M.Elchlepp; vgl. auch die Zustimmung V. Hoffmanns(S. 272, 298 ff, 312 ff) zu diesem Arnim-Bild. 12 M.Elchlepp, S.63; vgl. auch S.157: die historische Tatsache „interessiert nicht wegen ihres historischen, sondern wegen ihres allgemeinen, zeitlosen, für menschliche Verhältnisse typischen Gehalts"; ihr Versuch, das Verhältnis der Kronenwächter zum historischen Roman zu klären, ist damit von vorneherein negativ vorentschieden (vgl. S. 300ff). 13 J.Göres, S. 19, vgl. S. 33, 166, 173 u.p.; ähnlich spricht H.Härtl von Arnims „Ablehnung rational-historischer Erkenntnis im Vertrauen auf den Erkenntnisgehalt der dichterischen Fantasie, im Glauben an die Wahrheit der poetischen Imagination" (121). Das Gegenteil beweisen z.B. die von H.R.Liedke herausgegebenen Rezensionen Arnims zu K.L.v. Haller und den ,Oevres historiques de Frederic le Grand'(Jahrb. d . f r . dt. Hochstifts 1963, S.296ff). 14 So v.a. G. Lukäcs, Der historische Roman, S. 26 f; zuletzt vertrat diese These W. Schiffeis, Geschichte(n) Erzählen, 1975, S. 7 ff.

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So entstand in immer neuen Versuchen ein .anderer' historischer Roman,15 zu dem meines Erachtens auch die Kronenwächter in wesentlichem Sinne tendieren. Und zwar ergeben sich die deutlichsten Bezüge speziell zu solchen Geschichtsdarstellungen, welche das Ungenügen an einer scheinbar definitiven Geschichte, das Suchen nach verdeckten oder vergessenen Traditionen gerade in der Widersprüchlichkeit und fließend-fragmentarischen Diskontinuität ihrer dargestellten Welt zum Ausdruck bringen. Indem sie ihre jeweilige, über die romanhafte Darstellung erschlossene Geschichte in die Möglichkeits- und Frageform übersetzen und sie darüberhinaus häufig mit bildhaft-vorgreifenden Sinngebungen konfrontieren, soll nicht nur dieses historisch Einzelne, sondern der Raum der Geschichte generell offen werden für neue, zumindest für neu kommentierende Erkenntnisse des Autors wie des Lesers. Anders also, als bei dem auf die Korrespondenz von Erzähler, zentraler Person und kontinuierlicher Handlung aufgebauten RomanTyp Walter Scotts, handelt es sich hier um Raum-Romane. Gerade das macht die Verbindung zu den Kronenwächtern deutlich; nur treten an die Stelle von Arnims extrem zeichenhaftem Verfahren, die Geschichte aus fast punktuellen Einzelheiten zu einem Wirkungszusammenhang zu verräumlichen, andere Erzählformen: z.B. die Spiegelung und Brechung der Ereignisse im Urteil vieler Personen, wie in Th. Fontanes Vor dem Sturm, oder die Kontrastierung jeweils in sich geschlossener, kleinerer oder größerer Historien-Fragmente, wie in A. Döblins Wallenstein. Aber der Weg zu dieser verräumlichenden Form der Geschichtsdarstellung ist deutlich auch bei Arnim angelegt. Auch die räumliche Führung der Personenschicksale verbindet ihn dieser Tradition: Reisen, Raumspannungen und -Zentren, die charakterisierende

15 Vgl. Verf., Der .andere' historische Roman, 1976, v.a. S. 129 ff. und 182 ff; W. Vortriedes verteidigend gemeintes Urteil, das eine wegweisende Interpretation abschließt, die Kronenwächter seien „gar kein historischer Roman" im Sinne von W. Hauffs Lichtenstein und V.v. Scheffels Ekkehard (W.V., Achim von Arnims .Kronenwächter', in: Interpretationen 3, Deutsche Romane, S. 155; wiederholt in: W.V., Achim von Arnim, S. 265), kann geradezu als Aufnahme-Kriterium in diese Gattung gewertet werden. Deren exemplarische Vertreter haben sämtlich von der Forschung dieses Prädikat erhalten.

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Funktion von Bauwerken sind hier wie dort Handlungs- und Bedeutungsträger. Der wechselnde ,Sog' von Räumen, dem Wille und Charakter des Helden nicht gewachsen sind, wurde im historischen Roman vielleicht nie mehr so konsequent der Darstellung zugrunde gelegt wie bei Arnim. Auch die gedankliche Welt der Kronenwächter läßt sich, entsprechend dieser Tradition und unbeschadet ihrer Prozeßhaftigkeit, als ein vielschichtiger, beweglicher und von Widersprüchen erfüllter Raum der Probleme und Positionen begreifen. Und wie im .anderen' historischen Roman gilt auch hier: in dem Maße, in dem dieser Bedeutungsraum sich nach und nach aus zeitlichen Abläufen, Sprüngen, Rückbezügen und Kontrasten aufbaut, soll er zugleich auch wieder auf die Zeit des Autors zurückwirken, in Zeit überführt werden. Am auffallendsten aber ist die analoge Symbolbehandlung in den Kronenwächtern und im .anderen' historischen Roman. In Theodor Fontanes Vordem Sturm von 1878 z.B. ist dem Symbol der Hoffnung .Marie' deren Zerrbild ,Hoppenmarieken' auf eine Weise kontrastiert, die deutlich an die Beziehung Kronenburg-Hohenstock erinnert. Arnims Symbolik ist sogar noch .realistischer'16 als die Fontanes: konsequenter auf die historische Realität gerichtet, der .zerstörenden und schaffenden Hand der Zeit' unterstellt und frei von allem Idyllischen, das gerade in Vor dem Sturm die märchenhaft vorscheinenden Bilder bzw. Geschichten um Marie umgibt. Überraschend ist die Parallele zu Victor Hugos Quatrevingt-Treize von 1874. Dieser Roman erscheint in vielem wie eine, allerdings zur Klarheit bewußten Durchgestaltens und Appellierens erhobene Fortsetzung von Tendenzen, die sich auch schon bei Arnim finden. Freilich zeichnen sie sich bei ihm, verglichen mit Hugo, so diffus und peripher ab, daß sie für einen am bloßen äußeren Aussehen der Romane haftenden Blick kaum zu erkennen sind. Aber die überhöhende und teilweise verzerrende Darstellung historischer Positionen im Bild von Bauwerken, das offen kommentierende Hervortreten des Autors gegenüber historischen Personen, vor allem aber das wichtige Motiv, daß der symbolische Hoffnungsträger gegen seinen Mythos der .Wiederkehr' handelt und im Volke untertaucht, ferner die .gerahmte' Einführung, spätere Aufhebung und begrifflich-ethische Uminterpretation der 16 U. Ricklefs spricht zu Recht von Arnims „Symbolischem Realismus" (S. IV).

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Symbolik des .Goldenen Zeitalters' - „La victoire de lTiumanitä sur Phomme" 17 - schließlich die Zuordnung von uminterpretiertem Mythos, bildhafter aber auch begrifflicher, politisch-konkreter Utopie am Romanende — das sind alles überraschend klar Gemeinsamkeiten. Bei Arnim wie bei Victor Hugo wird der Ausgangspunkt der retrospektiven Geschichtssicht mit einer deutlich vergleichbaren Entschlossenheit noch über die Gegenwart des Autors hinaus in die Zukunft verschoben: „Der Zukunft gehört alle Welterfahrung" (510), „denn nichts erringen wir, als die Zukunft" (779). Auf andere Weise aber eröffnen sich auch zu Alfred Döblins Roman Wallenstein von 1820 „frappante Parallelen".18 Die für Arnim so bezeichnende, von der Erfahrung geleitete, antithetische Symbolik der Geschichte ist bei Döblin extrem gesteigert. Enger als bei den übrigen Beispielen aus der Gattung des .anderen' historischen Romans erinnert hier an Arnim der kompromißlose Kontrast von historischer Realität und deren phantastischer Überhöhung, der gerade auch den Widerspruch von hineinprojiziertem Sinn und widersprüchlichen Tendenzen des erschlossenen Geschichtsraumes sichtbar macht. Erst Döblin verzichtet wieder so wie Arnim auf eine in der Handlung dargestellte Versöhnung der Antagonismen. Auch charakteristische Einzelzüge schaffen Verbindungen, die sich sonst in der Weise nicht leicht finden: der Sinn für das jähe Hereinbrechen der Zeit in das scheinbar Dauernde, andererseits der für eine Flucht aus der Realität in eine mystische Jenseits- und Innenwelt, der gleichwohl historische Dimensionen abgewonnen werden, schließlich auch das bezeichnende Schlußmotiv, daß der Zeitstrom — bei Döblin zugleich die Masse der Menschen, aber mittelbar zeichnet sich das auch bei Arnim ab — über den Tod des Einzelnen hinweggeht, nicht zu vergessen die, beiden Autoren eigene Faszination des Stofflich-Singularen, auch dann, wenn dieses in übergreifenden Bedeutungs-Mustern nicht aufgeht. Man kann sogar noch weiter ins 20. Jahrhundert hinein Analogien feststellen. Auch der historische Roman der Emigration nach 1933 ist häufig dadurch gekennzeichnet, daß er, aus einem Vakuum politischer Enttäuschung und Wirkungslosigkeit heraus, in der Geschichte 17 V. Hugo, Quatrevingt-Treize, Classiques Garnier, S. 432. 18 So W.Muschg über Döblin und Arnim im Nachwort zu A. Döblin, Wallenstein, hg. von W. Muschg, S. 749.

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die verdeckten Traditionen eines Besseren aufspüren und so auf die eigene Gegenwart zurückwirken will. Der historische Roman ist für die Emigration, ebenso wie im Grunde schon für Arnim, ein distanziertengagiertes, „aktuelles Selbstverständigungsmedium",19 das gerade auch die Widersprüche der eigenen Position wie die der Zeitgeschichte zu reflektieren vermag. Und hier wie dort ist die utopische Dimension, und zwar in der Form einer durchaus je gegenwärtig begrenzten Utopie, und als Gegenentwurf zur diskontinuierlichen Geschichte durch diese relativiert, von entscheidender Bedeutung.

Arnims Aporie Schließlich tragen die Kronenwächter auch deutlich das Signum dieses .anderen' historischen Romans: die produktive Akzentuierung der Grenze von Historie und Fiktion. Dem kommt bereits Arnims Auffassung von der Geschichtsdichtung entgegen. Vor allem gegenüber Jacob Grimms ständigen Angriffen auf diese „böse Form" (G.238) 20 des Umgangs mit Geschichte hatte Arnim einerseits immer die Grenze von Dichtung und Historie betont, andererseits aber auch das Recht der Dichtung, Historisches über ihre fiktiven Inhalte vermittelt darzustellen. So schreibt er z.B., „daß jede Dichtung etwas für sich Bestehendes sei, wenn sie auch Beziehungen auf ein gewisses Ereignis habe" (61); an anderer Stelle bemerkt er, daß seine Dichtungen „kein Mensch, der geschichtlichen Sinn hat, für geschichtliche Relationen halten" dürfe (G, 203); oder er erklärt ganz allgemein, „daß es nie ein Gedicht gegeben, das historisch, und keines, das ohne Historie ist" (G, 204). Die beiden Roman-Einleitungen nehmen das Problem ihrerseits auf: „Dichtungen sind nicht Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern" (519); zwei Seiten weiter steht, daß „diese Dichtung (...) sich keineswegs für eine geschichtliche Wahrheit gibt", daß sie aber gleichwohl suche, „diese Zeit in aller Wahrheit der Geschichte aus Quellen kennen zu lernen" (520) und dem Leser anschaulich zu machen. Auch die Einleitung der Kronenwächter also, 19 R.Werner, in: Poetica 9,1977, S.326. 20 Vgl. G, 193, 205, 390, 399 und 457.

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und zwar vor allem Waiblingen, das Vorwort, das sich genau auf die Ebene des Historischen im Roman bezieht, sucht, ähnlich wie z.B. die Vorrede Walter Scotts zu Waverley von 1814 oder die Wilhelm Raabes zu Das Odfeld von 1888, deutlich und von Anfang an sowohl den Spielraum fiktionalen Entwerfern zu sichern, als auch die historische Darstellungsabsicht des Erzählens. Es ist also die Grence von wissenschaftlich-kritischer Geschichte und Dichtung einerseits, das Recht der Dichtung, sie produktiv zu überschreiten andererseits, die Arnim betont, nicht die Belanglosigkeit des Historischen. Und er steht auch darin deutlich in der Tradition des .anderen' historischen Romans. Der Kontrast von räumlicher wie zeitlicher Weite in Waiblingen und punktuell szenischem Romananfang in der Ersten Geschichte, akzentuiert daher auch gleich in der Erzählform selbst die poetologischen Möglichkeiten, die sich aus dieser fruchtbaren Grenze von Historie und Fiktion ergeben, und zwar in einer Weise, die deutlich z.B. an den Anfang von Charles Dickens' A Tale of two Cities von 1859 oder erneut an Wilhelm Raabes Das Odfeld erinnert. Es ist dann nur folgerichtig, daß auch weitere Roman-Strukturen in den Kronenwächtern sich von einer Poetik der Diskontinuität von Fiktion und Historie her begreifen lassen: die dargestellte Geschichte ist genau auf den Erfahrungshorizont einer zentralen, fiktiven Person bezogen. Private Schicksale und historische Verhältnisse bzw. Entwicklungen sind, auch wo sie sich wechselseitig interpretieren, doch für den Leser klar erkennbar auseinandergehalten. Der Kontrast von Historischem und Phantastischem, der ja Arnims .Realismus' des Phantastischen erst ermöglicht, ist nicht zu übersehen. Auch die Sprünge und Rückgriffe in der erzählten Zeit des Romans signalisieren ganz offen, daß es sich hier im Medium des Erzählens um die produktive Auseinandersetzung eines engagierten Subjekts mit Ereignissen einer anderen Zeit handelt. Das ist mehr, als nur ein Versuch, „die vergangene Zeit romanhaft wieder (zu) vergegenwärtigen";21 die „Vermischung von Dichtung und Historiographie" ist für die anspruchsvollen Autoren gerade nicht „das Spezifikum dieser neuen Dichtart" des historischen Romans.22 Aber Arnim verwischt diese 211. Henle, Der historische Roman, Diss. 1952, S. 54. 22 W. Schiffeis, S. 23.

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Grenze auch nicht nach der anderen Seite, so daß hier „Geschichte ein Reflex der Dichtung" wird — was sie, da im Bewußtsein einer Kulturgemeinschaft der Dichtung immer schon vorgegeben, streng genommen niemals sein kann —, und „die Wahrheit der Dichtung über der Wirklichkeit der Geschichte steht".23 Der wirklichkeitsbezogene Sinnanspruch der Dichtung steht vielmehr hier deutlich sowohl in Spannung zur Faktizität der Geschichte, als auch zugleich innerhalb von deren unaufgelösten Widersprüchen und ihrem negierenden Fortschreiten unterworfen. „Denn die künftigen Zeiten werden" gerade auch das „alles (...) in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit". (779) Von dieser produktiven Grenze von Dichtung und Geschichte aus wird freilich auch der, allerdings deutlich nur graduelle, Unterschied der Kronenwächter zur diskontinuierlichen Gattung des .anderen' historischen Romans sichtbar. Was beide verbindet sind die gerade bei Arnim konsequent durchgeführten, diskontinuierlichen Strukturen der erzählten Welt. Was sie aber trennt, das sind die, auf der Kontinuität der historischen Gegenstände beruhenden, kontinuierlichen Voraussetzungen dieser Art, Geschichte zu erzählen. Denn die historischen Romane seit Walter Scott, bei aller sonstigen, z.T. extremen Gegensätzlichkeit, setzen eine Kontinuität der von ihnen erzählten Historie als bereits vergegeben, schon einmal hergestellt voraus. Oft knüpfen sie explizit daran an. Erst danach treten sie kommentarhaft neben sie, wie Scott in Waverley oder z.B. Fontane, oder sie stellen sie radikal in Frage, wie später Brecht, was eine neue Kontinuität nur um so notwendiger erscheinen läßt; oder sie erweisen, indem sie wie z.B. Döblin die vorgegebenen Kontinuitäten in der Darstellung des Romans aufsprengen, immer auch deren lastende Unentrinnbarkeit, zumindest für die Gegenwart, in der Realität. Und dies ist für die von den Romanen provozierte Geschichtserkenntnis von wesentlicher Bedeutung. Denn diese Kontinuität — keine definitive sondern eine durch und durch konventionelle, veränderliche — ist der Halt, den der Leser an der Geschichte des Romans hat, der seine Welt mit der vor ihm ausgebreiteten Erzählung verbindet. Erst der zweite und die weiteren Erkenntnisschritte, welche die diskontinuierlichen Romanstrukturen dem 23 M.Elchlepp, S.348.

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Leser abverlangen bzw. nahelegen, lassen auch diese kontinuierlichen Voraussetzungen als erzählte, interpretierte, interessegesteuert hergestellte .Texte der Geschichte' 14 erkennen. Und wie weit immer die von den Romanen jeweils eröffneten Perspektiven auf andere .Geschichten' diesen Voraussetzungen widersprechen mögen, sie sind ihrerseits auf Kontinuität angelegt, sollen Kontinuität schaffen helfen. Hier, so scheint mir, zeigt sich die Grenze des Arnimschen Romans, ja seiner Dichtungskonzeption. Auch bei ihm setzt die zeichenhaft dargestellte Geschichte, soll sie verstehend realisiert werden, kontinuierliche Zusammenhänge voraus, die als vorgegebene Real-Konnexe im Bewußtsein des Lesers wachgerufen werden: die Entwicklung bürgerlicher Kultur bzw. .geistiger Bildung', die Emanzipation der .Reichsstände' und die Entstehung der Territorialstaaten, das Freiheits- und Konfliktpotential der Renaissance und der Reformation, die liberale Tradition der Städte-Verfassung: dies sind solche erkennbaren, historischen Kontinuitäten. Aber sie betonen entweder vor allem das Moment eines Gegenentwurfes gegen die eigene Zeit oder, wo sie zu dieser vorstoßen, werden sie so verschlüsselt und diffus präsentiert, daß der Leser nur schwer an ihnen einen Halt gewinnen kann, um von da aus in die Geschichtswelt des Romans einzudringen. Aus einem anderen Blickwinkel gesehen heißt das: die historischen Zusammenhänge werden distanziert und sprunghaft wachgerufen, das verbindet die Kronenwächter mit dem .anderen' historischen Roman, und dem Historischen kommt eine tragende Bedeutung zu; aber es ist bezeichnenderweise selbst, da fast nur in seinen Symptomen präsent, vom Roman aus kritisch nicht mehr zu erreichen. Es ist bezeichnend, daß die historischen Real-Konnexe, wie gezeigt, in letzter Konsequenz gerade mögliche Übergänge zwischen einem ,Nicht-Mehr' und einem ,Noch-Nicht' der suchenden Hoffnung des Roman-Autors bilden. Und auch diese entzündet sich, allerdings nur zunächst, an der gleichsam vor- und nach-historisch lebendigen Hoffnung auf eine Wiederkehr des „Glanzes der Hohenstaufen" (521). Entsprechend nehmen schließlich die moralischen Beispiel-Erzählungen, das Phantastische, die symbolischen, allegorischen und allgemein sentenzhaften Partien des Romans, obwohl ihre Bedeutung stets auf historisch-politische Relevanz abzielt,. 24 Zu diesem Begriff vgl. K. Stierle, Text als Handlung, S. 49 ff.

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gleichwohl inhaltlich, im Romangeschehen, so viel Platz ein, daß der „Rahmen der Geschichte" (520) dadurch leicht vergessen oder gar gesprengt wird. So tendieren die Kronenwächter eindeutig zur Gattung des .anderen' historischen Romans ohne sie zu erreichen, ja, wie sich noch zeigen wird, ohne dies eigentlich zu wollen. Ein großer Teil der einseitigen und simplifizierenden Kronenwächter-Rezeption hat vermutlich gleichwohl hier seinen Grund. Denn die Erwartungen und Vorurteile über historische Kontinuitäten — der wahren mythischen Urzeit, des heilen Mittelalters, der nationalen Größe, der allmächtigen Vorsehung, des automatischen Fortschritts wie des fraglosen Wertes alles Bestehenden — sind mächtiger als die auf den ersten Blick frei schwebenden, diskontinuierlichen RomanStrukturen. Die Kontinuitäts- und Sinn-Erwartungen der Leser stoßen daher genau in die Nahezu-Leerstellen der historischen Voraussetzungen vor, welche die Erzählung frei gelassen hat. Aber nicht nur die Ausführung, auch die Intention des Romans scheint dieser Gefahr radikaler Diskontinuität nicht voll zu entgehen, einer Diskontinuität, welche hier, im Gegensatz zu den präziseren Provokationen des .anderen' historischen Romans, nur um so leichter den an sie herangetragenen Kontinuitäten nachgeben muß. Dies, so zeigt alles bisherige, darf man Arnim nicht einfach als Unfähigkeit anlasten. Er konnte ja sehr wohl kontinuierlich oder .realistisch' erzählen. Die Gründe warum er es nicht tat, sind tiefer zu suchen, und hängen meines Erachtens genau mit der eben dargestellten Romanstruktur zusammen. Wilhelm Grimm, der Arnim wiederholt, schon um des Publikumserfolges willen, an Walter Scotts „Geschick" erinnerte, „sich zu beschränken und in der Ausführung mehr ebenmäßig zu sein" (G,519), bemerkt zu Arnims offenkundiger Weigerung, diesem Vorbild zu entsprechen: „Guther Rath hat Dir also nicht gefehlt, guter Wille von Deiner Seite, ihn anzunehmen, auch nicht, es muß also etwas allzu mächtiges sein, was dich dazu treibt" (G, 559). Auch das Abbrechen der Arbeit am Roman hängt meines Erachtens mit dieser Diskontinuität nicht nur der Romanstrukturen sondern auch der in ihnen angesprochenen Historie zusammen, und ist nicht nur mit äußeren Schwierigkeiten zu erklären; obwohl diese gewiß mitsprachen: die politische Entwicklung, die Arnims Erwartungen nahezu 105

konträr davonlief, die gesellschaftliche Isolation, die eben überstandene Krankheit, die finanziellen Schwierigkeiten und der Arbeitsdruck, den sie mit sich brachten. Was Arnim in einem tieferen Sinne in die Diskontinuität und das Abbrechen des Romans .trieb', war meines Erachtens gerade sein Festhalten an einer von der Dichtung geleiteten und zu fördernden „Umbildung der Welt", das keinen breiten und festen Kompromiß zuließ. Es schien ihm keine Kontinuität der Geschichte der Darstellung wert gewesen zu sein, die nicht seinem lethiko-teleologisch begründeten, aus dem Glauben bestätigten, an der Erfahrung gereiften und utopisch verdichteten Sinn-Anspruch genügte. Das, was bloß aufgrund seiner Stärke sich durchsetzte, auch noch dichterisch zu .verklären', dazu gab er sich mit der Zeit immer weniger her. Aber seine Sinn-Erwartung war nicht mehr in einem transzendentalen Subjekt gleichsam vorweg geborgen, sondern mußte sowohl die illusionslos anerkannten Antagonismen der Realität aushalten, als auch an den real sich abzeichnenden, historischen Entwicklungen allein ihre Wirklichkeit finden. Hier aber sah Arnim, und stellt sie dar, nur punktuelle und periphere Übereinstimmungen von Forderung und Realität, keine gerundete, repräsentative Individualität und kein konkretes Subjekt der Geschichte. Er muß allen wichtigen, gesellschaftlichen Gruppierungen seiner Zeit, wie er sie sah, in ihrer möglichen Rolle in der Geschichte mißtraut haben: dem isolierten Intellektuellen, dem zu eng an bloßer wirtschaftlicher Prosperität orientierten Bürger, der Autokratie des Staates, dem eigensinnig restaurativen Adel, und inzwischen auch den unteren Schichten des .Volkes', auf die er zur Zeit des Aufsatzes Von Volksliedern noch seine Hoffnung gesetzt hatte. So bleibt jenes Bewußtsein der Aporie, das sein Werk schon seit langem begleitet: der „Riß in der Welt", wie es in Von Volksliedern25 heißt, der „Abgrund" (11,434), wie ihn der Schluß des Wintergarten anspricht. Freilich, auch die Beiläufigkeit, mit der dort von diesen Dingen gesprochen wird, scheint mir bezeichnend für Arnim. Auch in den Kronenwächtern wird von der Krise des Autors, die sich fraglos in ihnen spiegelt, nicht viel Aufhebens gemacht. Wichtiger ist es, im Sinne Arnims, das Programm des „Kunstberufes" festzuhalten, der „eingreifen" soll „in die Umbildung der Welt", denn 25 Des Knaben Wunderhorn, S. 878.

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nur sie begründe den Frieden (...). Ein neuer Tag, vom Geist der Kunst durchdrungen - des Künstlers ewig schaffende Verklärung ist's, was den Frieden begründet mitten im werbenden Kampf höherer Entwicklung. (1038/1039)

Und wenn Arnim diesen Anspruch gerade in der Aporie seiner Ausführung festhält, so zeigt sich auch darin die in letzter Instanz realistische Maxime seiner Auffassung vom ,Kunstberuf': Wie ist die Kunst zu schwach den Abgrund zu bedecken mit schönem Schein, doch diese Kunst ist schrecklich, die betrügt, die rechte Kunst ist wahr, sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann. (II, 434)

In dieser so konsequent widersprüchlichen Situation ist es ganz folgerichtig sowohl ein Gegenzug als auch eine Fortsetzung der Bedeutungen, welche die Kronenwächter

durchziehen, wenn Arnim dem

Roman die Programmschrift.DzW2fang und Geschichte als wesentliches, ergänzendes Teil mitgegeben hat.

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6. Dichtung und

Geschichte

Die bisherige Interpretation hat gezeigt, daß die Idee der Kronenwächter sich nicht als ein ruhender Sinn, sondern nur als ein unabgeschlossener, gedanklicher Prozeß begreifen läßt. Er bewegt sich deutlich in eine mehrfache Richtung. Die Aufhebung des Sinnanspruches überlieferter Mythen, also deren Negation und zugleich die uminterpretierende Bewahrung ihrer Sinn-Suche, führt einerseits zu Ethos, Allegorie und Utopie, andererseits zu den Zeichen der Historie als Vorgeschichte der eigenen Gegenwart und der gesuchten Zukunft. Strebt so der Roman in die Realität hinein — nicht zufällig endet er de facto in einer offenen, historischen Situation —, so wird andererseits sein Zusammenhang immer abstrakter, subjektiver: das subjektiv-allgemeine Ethos und der persönliche Glaube als letzte Orientierung des Handelns, Entwürfe, Fragen an die Geschichte und Interpretationen ihrer Zeichen: der Vorgang des Geschichte-Erzählens selbst tritt im Grunde fortschreitend zentraler hervor. Die Frage nach der Legitimität dichterischer Geschichts-Erkenntnis steht also hier am Schluß des Romans. Mit ihr die Roman-Einleitung Dichtung und Geschichte, unabhängig davon, wann genau Arnim diese seine wohl wichtigste Programm-Schrift verfaßt hat. Und diese Bedeutung eines Fluchtpunktes der Roman-Konzeption ist, wie bereits am Ende des letzten Kapitels angedeutet, noch in einem weiteren Sinne aufschlußreich: das Nahezu-Scheitern und Abbrechen des Romans läßt zwangsläufig die theoretischen Absichten, Grundlagen und Probleme hervortreten.1 Was nicht mehr zu erzählen war, konnte 1 Vgl. den eingangs zitierten Brief an Goethe: „Die Übersicht seines Planes (des Romans, H.V.G.) wird erst im folgenden Band möglich, doch sagt die Einleitung manches darüber, was mir nicht der Augenblick sondern die Jahre gelehrt haben" (Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 14, S. 152).

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wenigstens in der Reflexion umrissen werden, auch und gerade, wenn der Plan über die Realität des Romans weit hinausreicht. Indem Dichtung und Geschichte also den Roman fortsetzt, freilich gerade dadurch, daß hier dessen erkenntnis-kritische Voraussetzungen und Absichten reflektiert werden, was ja im transzendentalen' Sinn eine Einleitung darstellt, klären sich auch weitere Bezüge zwischen dieser theoretischen Schrift und dem Roman selbst. Deutlich analog ist die Problematik angelegt: die Frage nach Voraussetzungen, Grenzen und Zielen des Handelns in der Geschichte dort, der Erkenntnis von Geschichte hier. Beides ist in Arnims Sinn .geistige Arbeit'. Daher gibt es auch viele, im einzelnen noch zu zeigende, motivische und begriffliche Parallelen: Einleitung und Roman interpretieren sich in hohem Maße wechselseitig, ja die Einleitung ist mehr auf die Erläuterung durch den Roman angewiesen als umgekehrt. Deutlich identisch ist schließlich beider Struktur, nur daß diese hier unmittelbar von der Sprache, dort vom Erzählen getragen wird. Auch in der Einleitung ist außerordentlich konsequent jene Schreib- und Denkweise verwirklicht, die im Fortschritt des Textes das Vorhergehende immer wieder neu interpretiert. Es entstehen jeweils neue Bedeutungen, die sich ihrerseits differenzieren, verändern, in Widersprüche geraten und auf neuer Ebene, oder unter neuer Perspektive, wieder aufgenommen werden. Hier wie dort geht es um die ständige Auseinandersetzung eines persönlich begrenzten Ich mit einer fließenden und widersprüchlichen Wirklichkeit. Auch dies ist schlechthin charakteristisch für den Gedankenweg, der in den Kronenwächtern gleichsam aufgeschrieben wurde: an die Stelle der Mythen von Geschichte soll nicht ,ein' Mythos der Geschichte treten, diese soll nicht ihrerseits zu einer singularen, aus sich heraus substanzhaft lebenden Wesenheit verdichtet werden.2 Geschichte ist für Arnim ein Konstrukt: widersprüchlich, vieldeutig, unabgeschlossen, angewiesen auf und offen für Erkenntnis.3

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Zu einer solchen .Emanation der Geschichte aus sich selbst', als einer Grundvorstellung des Historismus im 19. Jahrhundert vgl. E. Rothacker, Einleitung in die Geistes Wissenschaften, S.37ff; zur neueren Diskussion und Kritik dieser Auffassung vgl. z.B.: Geschichte - Ereignis und Erzählung. Hg. von R. Kosellek u. W.D. Stempel, Poetik und Hermeneutik 5,1975. 3 Das nähert seine Gedanken, trotz der bildhaften Verkürzungen, in denen sie vorgetragen werden, einer kritischen Tradition des Historismus. Wir werden

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Natur und Geschichte Der Anfang der Einleitung, damit auch der des Romans, hat daher etwas beinahe Zufälliges. Es beginnt wie in einem Brief. Aber schon dies ist geschichtstheoretisch bedeutsam: Der historische Augenblick, in dem der Dichter Achim von Arnim im ländlich einsamen Wiepersdorf diese ersten Sätze schreibt, in dem er über Dichtung und Geschichte nachzudenken beginnt, ist das notwendige, erste und letzte Fundament alles Weiteren: „Der Zusammenhang der geistigen Welt geht im Subjekt auf'. 4 Geschichte ist eine aus rückschauenden Differenzierungen gewonnene Dimension der Gegenwart. Daher erscheint dieser von Frieden und Leben erfüllte Augenblick zugleich wie eine ahnende Vorwegnahme jener Einheit der Geschichte, die es nach Arnims Überzeugung trotz aller Widersprüche und .Sprünge der Welt' zu verwirklichen gilt. So fügt sich die „Einsamkeit der Dichtung" zunächst bruchlos in die Pastorale des Feierabends auf dem Lande ein. Und dieser selbst geht über in den Entwurf einer naturwüchsig sinnvollen Tätigkeit: daß den Bedürfnissen und Bestrebungen des Einzelnen die Gesetzmäßigkeit der Natur ebenso antwortet, wie beiden das gewachsene Recht einer harmonischen Gemeinschaft. Ganz ebenso wie am Anfang des Romans, beim Leben auf dem Turm, an seinem Ende, wenn Turmuhr und Herzschlag zusammenklingen, und einen Augenblick lang beim Lob der Landleute (vgl. 748), leben die Menschen hier widerspruchsfrei ,in die Zeit hinein'; und in diesem gleichen Rhythmus von menschlicher Lebenszeit und Naturzeit ist jede Tätigkeit erfolgreich: „Die Sonne und der Pflüger kennen einander und tun beide vereint das Ihre zum Gedeihen der Erde" (517). Daher kann auch der Schritt von der zyklischen Zeit im Ablauf der Tages- und Jahreszeiten zur geschichtlich-linearen, die der Mensch sich selbst gestaltet, im Folgesatz bruchlos vollzogen werden. Die natürliche Geborgenheit des Menschen wandelt sich zu .festem', .sicherem Fortschritt', 5 die fraglose Korrespondenz von Naturgesetz und im folgenden versuchen, dies an zwei Wurzeln der Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts, der Differenz der Kantischen und der Herderschen Position zu klären. 4 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 191. 5 Arnim sieht seit je in der Natur auch eine „Welt der Bewegung als Gegenstück

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gesellschaftlich handelndem, menschlichem Subjekt geht über in die „unbewußte Weisheit" eines allgemein anerkannten Rechtszustandes. Freilich erhält diese Beziehung von gewachsenem, in der Erfahrung und den Gewohnheiten des Volkes begründetem Recht 6 und organischem Naturgesetz jetzt,unter der Perspektive historischen Fortschritts, aber auch, wie sich gleich zeigen wird, Vergehens, unterschwellig bereits eine moralische Dimension: es gilt, dem harmonischen Gleichklang von menschlicher Tätigkeit und Erden-Rhythmus ,treu zu bleiben'; die .Weisheit' kann offensichtlich nicht im .Unbewußten' verharren, sie muß sich bewußt ,zur Erde wenden', und aus dieser neuen Dimension können ganz konsequent auch zeitliche, ja epochale Einschnitte hervorgehen. Der Widerspruch des Folgesatzes ist daher in den inneren Spannungen des Vorhergehenden bereits angelegt: „Die Zerstörung kommt von der Tätigkeit, die sich von der Erde ablenkt und sie noch zu verstehen meint" (517). Der historisch-typologische Überblick, den dieser Satz voraussetzt, drängt den Sprecher, das Subjekt der Aussage, unweigerlich in die Retrospektive. So schwingt in dem scheinbar überzeitlichen Gegensatz ,der Erde zugewandter, fest fortschreitender Tätigkeit' und derer die .zerstört', nicht nur ein moralisches sondern bereits auch ein zeitliches Element mit, das im folgenden klar hervortreten wird. Was „Erde" hier heißt, ist aus dem vorhergehenden zu ersehen: jenes allgemeinen Ausdrucks äußerer Ruhe", und so auch eine ursprüngliche Verbindung zur „schönen Freude eines Menschenlebens" (11,25: aus Hollins Liebeleben, wobei der Sprecher, Hollins Gegenspieler Odoardo, deutlich Arnims eigener Meinung Ausdruck gibt). Aufschlußreich für Arnims Naturauffassung ist auch der oben zitierte Brief an Bettina vom 6.2.1808 (B, 81 f), vgl. oben Kap.4, Anm.15, S. 65. 6 Hier sind, neben dem später zu besprechenden Einfluß Herders, deutlich auch Gedanken aus F.C.v. Savignys 1814 erschienener Schrift Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung zu erkennen. Aber der „klare, naturgemäße Zustand" des Rechts (S. 9), sein „organischer Zusammenhang (...) mit dem Wesen und Charakter des Volkes" (S. 11), auch das „richtige Ebenmaß der beharrlichen und der fortbewegenden Kräfte" (!,S.32) in der historischen Entwicklung, all das hat für Arnim viel stärker Wunschbild-Charakter als für Savigny; daß die Geschichte „den lebendigen Zusammenhang mit den ursprunglichen Zuständen erhalten" könne (S. 117), ist für ihn, wie der Gedankengang in Dichtung und Geschichte im ganzen zeigt, nicht so fraglos gewiß wie für Savigny, und an die Stelle des Vertrauens auf „innere, still wirkende Kräfte" (S. 14) tritt der radikale Zweifel an der Arbeit des Geistes.

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es ist die natürliche Basis der Geschichte, ihr einfaches Geschehen, an dem die ganze menschliche Gemeinschaft teilhat; das bedeutete bisher, wie gesehen, auch eine organische Harmonie des historischen Fortschreitens. Jetzt aber, wenn eine Störung dieses Verhältnisses nur auch als möglich angesehen wird, hat sich der Begriff differenziert: er meint immer noch das Geschehenssubstrat aller Geschichte, aber das Organische daran ist zugleich erkenntnismäßig abstrakt und moralisch zur Forderung geworden. Es beginnt jener unaufhaltsame Prozeß der .Entfremdung' von Erde und Geist, der später zur ,irdisch entfremdeten Wirklichkeit' führen wird. Und diese ,Entfremdung' zeigt sich von Anfang an als ein Weg des Wünschens, Denkens und der Erfahrung, nicht als ein realer historischer .Abfall' von einer .heilen' Vorzeit. Der Roman unterstreicht diese Differenzierung. Denn völlig analog jener .zerstörenden Tätigkeit', die ja, zumindest teilweise und aus der Retrospektive gesehen, ein unberechtigtes Festhalten, ein grundloses Sich-geborgen-Glauben bedeutet, ist auch das Handeln des Kronenwächterbundes .zerstörerisch', sofern er noch im Sinne von Zuständen zu wirken glaubt, die bereits abgestorben sind,7 und sich eine mythische Legitimation anmaßt, die es garnicht gibt. Auch Bertholds mit der Restauration seines .zweiten Lebens' einsetzender, zeit- und gemeinschaftsferner Egoismus ist in diesem Sinne .zerstörerisch'. In deutlicher motivischer Entsprechung zu Dichtung und Geschichte endet daher auch sein erstes Leben und beginnt später sein endgültiges Scheitern jeweils mit einem .Erdbeben' (vgl. 589 u. 766). .Zerstörerisch' aber ist ebensosehr das radikale Gegenteil dieser Haltung, also jede nach einem konstruierten, abstrakten, selbstgerechten Gesetz 7

Es ist bezeichnend, daß Arnim im Roman den „unauflöslichen Zusammenhang der Geschlechter und Zeitalter" (Savigny, S. 113) auch als „Last" und ins Böse verkehrt darstellt, daß er den Gedanken einer „Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart", für Savigny „auf keine Weise vermeidlich" (S. 113), im Handeln des Kronenwächter-Bundes grotesk verzerrt, und daß er schließlich auch den Folgesatz Savignys: „er (der übermächtige Einfluß der Tradition, H.V.G.) wird uns verderblich seyn, solange wir ihm bewußtlos dienen, - wohlthätig, wenn wir ihm eine lebendig bildende Kraft entgegensetzen" (S. 113), zu einem nahezu unüberwindlichen Gegensatz ausbildet. Denn, wie er am Beispiel Waiblingens im 16. Jahrhundert, aber auf seine eigene Gegenwart bezogen, zeigt: diese „allgemeine, belebende Kraft fehlte" (774) und muß ,im Geist' prinzipiell neu begründet werden.

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verfahrende, die .feste und sichere' organische Entwicklung verletzende Umgestaltung von Verhältnissen, die dazu noch nicht reif sind. Das Beispiel dieser Haltung im Roman ist Maximilian-Treitssauerwein und im letzten Teil des Buches auch Berthold selbst, wenn er die Stadt ,in seine Hoffnungen zwingen' will. Und deutlich ist gerade von hier aus schließlich der Blick auf die französische Revolution. 8 Eine klare Verbindung zwischen all diesen, z.T. weit auseinanderliegenden Motiven und Gedanken des Romans bzw. der Einleitung schafft das Bild des ,messens': Wie das ,Maß' des Pflügers und das der Sonne einander entsprechen und die .unbewußte Weisheit' das Rechte als das „Angemessene" zu begründen weiß, so „regieret" in der allegorischen Mitte des Hausmärchens, der Allegorie eines .Goldenen Zeitalters', „gleiches Maß (...) von dem Turme bis zur Schwelle" (699),® nachdem schon vorher das ethisch vorbildliche, rechte Handeln an der „sichren Mäßigung" (696) zu erkennen gewesen war. Auch Berthold hat in seiner Jugend „das Rechte", die richtigen Proportionen seines Hauses - der Bau leitet kontinuierlich von der feudalen Herkunft zum bürgerlichen Leben über — „aus seltener innerer Einsicht getroffen" (562), was aber gegenüber dem allein verläßlichen, rational-methodischen Vorgehen bereits eine Ausnahme darstellt. Aber, um ein Gegenbeispiel zu zeigen, Maximilian ebenso wie der Berthold des Dritten Buches haben ihre „Plane zu weit gemacht, so daß sie nirgends recht passen wollten" (635). Geradezu pervertiert aber wird das Verhältnis organischer Korrespondenz von Mensch und Umwelt im Bilde des .Gleichmaßes', wenn der Ehrenhalt als Sprecher der Kronenwächter erklärt: „Im Kriege macht der Mensch sein Schwert zum Maßstabe der Welt und mißt alles nach seiner Elle von vorne durch" (743). Hier wird im Grunde der Krieg zum .Goldenen Zeitalter' hypostasiert, ein deutlicher Hinweis auf Arnims prinzipielle Position: wo immer begrenzte Interessen sich zum Subjekt der Geschichte erklären, da entsteht jene 8

Dabei ist allerdings bemerkenswert, daß sie hier, wie eigentlich immer bei Arnim, mit ihrer restaurativen, Jahrhundertelangen'Gegenbewegung zusammengesehen und in ein und dasselbe Bild gefaßt wird. Entsprechend wird die neue Perspektive des folgenden auch die historische Notwendigkeit dieser .zerstörenden Kräfte* zeigen. 9 Zur mythischen Tradition des .messens' vgl. E.Cassirer, Bd. 2, S. 110 und 140 ff; auch hier zeigt sich Arnims Bestreben, das mythische Motiv allegorisch und moralisch umzuinterpretieren.

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„Tätigkeit, die sich von der Erde ablenkt und sie noch zu verstehen meint", und die nur noch auf Zerstörung gerichtet sein kann. Daß dabei, bzw. bis dahin, in erster Linie typologisch gedacht, also von einem Modell auf historische Erscheinungen geschlossen wurde, macht der Folgesatz deutlich. Denn von nun an dominiert eine historische Perspektive. Die anfangs als unproblematisch gegenwärtig eingeführte Pastorale, Zug um Zug mit Differenzierungen erfüllt und Widersprüchen kontrastiert, wird jetzt folgerichtig als etwas längst Vergangenes behandelt; ihr schließlicher Sinn einer Rück-Projektion gegenwärtiger Wunschbilder kündigt sich an.10 Die Jahrhunderte der Zerstörung' dagegen erhalten jetzt, unbeschadet ihrer bisherigen, moralischen Verwerflichkeit, gleichwohl etwas Unvermeidliches, ja sie werden retrospektiv selbst, zumindest potentiell, ein Element der ,fest fortschreitenden' Entwicklung, die sie gewaltsam zu verhindern oder zu beschleunigen, in beiden Fällen selbstsicher zu lenken gesucht hatten. Das neue Bild einer ,Wiederbesiedelung' hilft die nun auftretenden Probleme entfalten. Der Gedanke, daß die Richtigkeit und Angemessenheit längst vergangener Gebräuche auch späteren Zeiten noch als Vorbild dienen können, wendet sich ausgleichend gegen die vorhergegangenen Zerstörungen. Aber der Versuch, diese wiedergefundenen Traditionen als .unvergängliche Gabe dieser Erde' zu betrachten, erscheint, wenn auch zunächst nur andeutungsweise, bereits wieder als eine unangemessene Erstarrung. Der Folgesatz gibt dieser Relativierung Ausdruck. Neue Gegensätze tun sich auf: .Gaben der Erde' steht gegen ,Werke des Geistes', die behauptete .unvergängliche' Vorbildlichkeit einer bestimmten Vorzeit gegen den Sinnanspruch noch „früherer Jahrhunderte", Unverstand, hervorgegangen aus engem Zweckdenken kontrastiert einer ebenfalls verurteilten „sinnlosen Verehrung" des Vergangenen. „Das Rechte will da errungen sein" (517) — das klingt geradezu erbittert, und der neuerliche Kontrast sorgsam konservierender und übermütig ihre Tradition verschleudernder Zeiten hat etwas Skeptisches.11 10 Genauso sind für Arnim alle „Strahlenbilder fleckenloser Vollendung (...) aus der Vergangenheit" (634) bewußt retrospektive Konstruktionen („aufstellen" nennt er es ebd.), welche eben aus der gedanklichen Entfremdung von Ideal und Realität resultieren. 11 Man kann auch hier eine verdeckte Kritik Arnims an Savigny erkennen, der

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Die hermeneutische Kehre In dieser Situation, das schafft die Verbindung zum Folgenden, ist es die Aufgabe des Geistes, will er ,das Rechte erringen', aus gegenwärtiger Sicht und Verantwortung heraus die Vergangenheit auf ihre Rechtsvorstellungen und Sinnentwürfe hin zu erforschen. Aber diese Aufgabe scheint nahezu unlösbar. Geradezu verzweifelt werden die Bedingungen der .Arbeit des Geistes' jenem nun schon fernen Archetypus des ,Pflügens' gegenübergestellt. Von der dort entworfenen, natürlichen Geborgenheit und organisch vorgegebenen, allgemein anerkannten ,Maßstäben' des Handelns kann keine Rede sein. Auch die .friedliche Einsamkeit der Dichtung' enthüllt sich jetzt geradezu als ein Selbstbetrug.12 „Geisteswerke (...) müssen in sich den Zweifel dulden, ob böse oder gute Geister den Samen ins offene Herz streuten" (518), mit dieser äußersten Illusionslosigkeit wird die Situation des Dichters bezeichnet. 13 Und von da her erhält auch die Situation des in Zweifel und Widersprüche verstrickten Romanhelden, folgend der Analogie von Erkenntnis und politischem Handeln zwischen ja wiederholt Recht und Kunst analog gesehen hatte (vgl. S.45f, 49/50,125). „Jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so sein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört" (S. 118): dieses Verhalten kann angesichts der Widersprüche und Spannungen, die Arnim sieht, nicht genügen. ,Das Rechte erringen' kontrastiert deutlich Savignys Tendenz, es sich ,νοη selbst' herausbilden zu lassen. 12 Was ja auch Arnims wiederholt geäußerter, recht unromantischer Auffassung von der „leeren Einsamkeit" (1036; vgl. III, 146: „Wie viel mir Einsamkeit verhieß, Es war nur Wintergraus"), ja der „namenlosen Angst (...) vor dem Leben eines ganz einsamen Menschen" (273) entspricht. 13 Der ,Zweifel' ist für Arnim ein immer wieder zentrales Motiv: „Herrschen nicht und auch nicht dienen / Zweifel war mein Weltgeschick" (276) heißt es in der Gräfin Dolores. In der Anrede an meine Zuhörer von 1812 schreibt Arnim über sich selbst: „Als ich heranwuchs an das Maß, das mir Gott unwandelbar gestellt hat, da (...) sah (ich) mich weiter um (...) und zweifelte mehr" (11,448). Sehr ähnlich zu dem zitierten Satz aus Dichtung und Geschichte klingt eine Stelle in Die Gleichen, in der sich die schließliche, moralische Überlegenheit des Sprechers ankündigt: „Hör Freund, du weißt wohl nichts von der Beklemmung / Wenn sich der Zweifel fürs Gewissen ausgibt" (20,161). Dabei zeigt sich zugleich erneut die spezifisch ethische Dimension in Arnims ,Geist'-Begriff.

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Einleitung und Roman, ein Moment der Unentrinnbarkeit und schonungslosen Selbstanalyse. Was nun kommt, bezeichnet, indem es diese Analogie noch verstärkt und vertieft, nichts geringeres als den Angelpunkt in Arnims Geschichts- und Dichtungs-Theorie. Er will offensichtlich die radikale Erkenntniskrise als Voraussetzung eines neuen Anfangs herausarbeiten: Zweifel, Unsicherheit, „Vergänglichkeit", Kommunikationslosigkeit, Unverstand oder Desinteresse der „Zeitgenossen" wie der „geistigen Welt" — erst wenn der „Arbeiter auf geistigem Felde" diese Formen der Verzweiflung, die „härteste aller Prüfungen" durchgestanden hat, öffnet sie ihm das Tor zu einer neuen Welt. Indem er diese geistige Welt gleich der umgebenden als nichtig und vergänglich aufgibt, da fühlt er erst, daß er nicht hinaus zu treten vermag, daß sein ganzes Wesen nicht nur von ihr umschlossen, sondern daß sogar außer ihr nichts vorhanden sei, daß kein Wille vernichten könne, was der Geist geschaffen. (518)

Unübersehbar ist erneut die Parallele zum Leben Bertholds. War es doch gerade dessen Lebensproblem, daß er das ,zu-Nichts-werden' seiner Pläne und Erwerbungen erst im Augenblick seines Todes auszuhalten und als etwas förderliches, als Ausdruck „der zerstörenden und schaffenden Hand der Zeit und des Menschen" (591) anzuerkennen vermochte. Auch die Ratgeber-Gestalten und das Hausmärchen hatten in immer neuen Spiegelungen diese Forderung des ,in die Zeit und die Welt hinein Sterbens' umkreist. Aber gerade das Hausmärchen hatte dabei auch auf die unbedingte, sittliche Grundlage aller ,geistigen Arbeit' als einer öffentlich nützlichen und belebenden Tätigkeit geführt. Ähnlich ergeht es Anton im Nachtrag·. Anton wird Protestant und wieder über den Protestanten hinaus. Mit der Zweifelhaftigkeit der Tat kommt ihm der geistige Zweifel, aber doch eben dadurch vergeistigt. (1039)

Deutlich bedingen sich hier äußere Unsicherheit und innere Krise wechselseitig, und indem der Mensch dieser Frage selbst folgt, entdeckt er in ihrer Konsequenz ein .geistiges Prinzip', daß seine Entscheidung zugleich rechtfertigt als auch übersteigt. Schließlich heißt es von Anton, ebenfalls im Nachtrag, sogar: „Im Vertrauen auf die 116

Krone stirbt er" (1045), was nichts anderes bedeutet, als daß die Gewißheit eines letzten Zweckes in der Geschichte auch noch dem Tod als tiefster Krise und .härtester aller Prüfungen' für den tätigen Einzelnen einen Sinn zu verleihen vermag. Meines Erachtens müssen solche Analogien unbedingt herangezogen werden, will man diese entscheidende Stelle in Dichtung und Geschichte angemessen verstehen. Die Verzweiflung der Geschichtserkenntnis führt hier zu einer doppelten „hermeneutischen Kehre":14 der .geistige Arbeiter', wie er an beiden verzweifelt, erkennt, daß er weder aus der .umgebenden', noch aus der .geistigen Welt' heraustreten kann, und der weitere Kontext von Einleitung und Roman vertieft diesen Gegensatz zur Kreatürlichkeit, Zeitlichkeit, gesellschaftlichen Bindung einerseits, zur Freiheit, Geistigkeit, ethischen Selbstbestimmung des Menschen andererseits. Wo beides eingesehen ist, da eröffnet sich, analog zu Antons .Vertrauen auf die Krone', auch ein neuer, nur .zeichenhafter' Bezug .aller schaffenden Kräfte' auf eine „höhere", also nur komparativ transzendierende, nicht absolut transzendente „Ewigkeit", d.h. auf Sinn und Ziel der Geschichte. Freilich überlagern sich hier verschiedene, z.T. gegensätzliche Denktraditionen, und die bÜdhafte Sprache Arnims zieht verschlungene Denk-Wege in einzelne Begriffe wie ,Geist' und .Ewigkeit' zusammen: Eine große, z.T. wörtliche Nähe nun scheint auf den ersten Blick, vor allem auch von den vorhergehenden Sätzen der Einleitung her, zu Herder zu bestehen. Im ersten Kapitel des IX. Buches der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit finden sich fast alle hier von Arnim vorgebrachten Gedanken schon angesprochen: die „Erziehung des Menschengeschlechts' im graduellen Übergang von der Natur zur Kultur, die Idee organischer, .fest fortschreitender' Entwicklung, aber auch die Einsicht in die „Unvollkommenheit unsres irdischen Daseins, indem wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden", ls das Bewußtsein der Störungen, Verwirrungen aber auch .Verjüngungen' kontinuierlicher Entwicklung, wie das der menschlichen Zeitlichkeit:

14 So zu Recht U. Ricklefs, S. 188; vgl. aber unten Anm. 25. 15 J.G.Herder, Bd. 13, S.351.

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Ganz und ewig kann ohnedies kein Menschendenkmal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Äeit errichtet war und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält. (...) So wäre es einem guten Geist sogar widrig, wenn die folgenden Geschlechter solche mit toter Stupidität anbeten und nichts eigenes unternehmen wollten. 16

Nicht nur der Sinn dieser Stelle, geradezu auch der Wortlaut wird von Arnim übernommen. Herders Formulierung, daß in der unauflöslichen „Kette der Bildung (...) zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet", 17 kehrt abgewandelt auch bei Arnim wieder. Und deutlich verwandt ist auch der Satz aus Dichtung und Geschichte: „der Geist liebt seine vergänglichen Werke" (518), und Herders Bild: „der Allweise (...) dichtet keine abgezognen Schattenträume; in jedem seiner Kinder liebet und fühlt er sich mit dem Vatergefühl." 18 Dennoch läßt sich Arnims Geschichtsdenken von Herder aus in entscheidenden Punkten nicht verstehen. Zwar weist auch für Herder die Kontinuität der natürlichen wie der .geistigen Kräfte' dem einzelnen Menschen seinen Platz und einen Sinn seiner begrenzten Tätigkeit zu: „Wo und wer du geboren bist, ο Mensch, da bist du, der du sein solltest".19 Und daraus folgt für Herder eine schließliche, aber schon jetzt erfahrbare Einheit des zeitlichen mit dem heilsgeschichtlichtranszendenten Geschichtsziel: „daß der Zweck unsres jetzigen Daseins auf Bildung der Humanität gerichtet sei (...). Wir können dieses Zwecks so sicher sein als Gottes und unsres Daseins".20 Aber bei Arnim liegt letztlich doch nicht die Kontinuität einer

16 J.G. Herder, Bd. 13, S. 352/353; zu parallelen Stellen in den Kronenwächtern vgl.779: „Daß ein Geschlecht vergehe..."; 517: es werden „Werke des Geistes früherer Jahrhunderte als unverständlich und unbrauchbar aufgegeben, oder mit sinnloser Verehrung angestaunt"; vgl. auch Herder, Bd. 13, S. 353: „denn alle sind wir hier nur in einer Werkstätte der Übung", und Arnim 535: die „tiefere Einsicht", daß alles „lauter Nichts und nur zu meiner Übung" vorhanden ist. 17 J.G.Herder, Bd. 13, S.352; vgl. Arnim 518: „Das Verschwiegene ist darum nicht untergegangen, töricht ist die Sorge um das Unvergängliche". 18 J.G. Herder, Bd. 13, S. 350. 19 ebd. 20 J.G.Herder, Bd. 12, S. 189. 118

„reinen Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen, Triebe" 21 zugrunde, sondern eine klare Diskontinuität, ein Dualismus von ,Geist' und ,Natur', das Ausgehen von der subjektiven Erkenntnis und ihrer Krise, nicht von einer vorgegebenen Kontinuität des historischen Geschehens, schließlich ein Begriff von der .Freiheit des Geistes', die diesen als von jedem ,Erdelement' (vgl. 589) prinzipiell unabhängig und jedem .Willen' vorgegeben erkennt (vgl. 518). So gesehen ergibt sich, unter der Decke der Bilder Herders, eine diesen ganz entgegengesetzte, freilich ihrerseits bildhaft verkleidete, Nähe zum Ausgangspunkt der Geschichtsphilosophie und -teleologie bei Kant, und folgerichtig auch zu einer selbstbewußt-kritischen Tradition des Historismus: Auch Arnim geht wie Kant davon aus, daß einerseits zwar die Vernunft für die menschliche „Freiheit des Willens" a priori gesetzgebend ist: das „Wort in deiner Seele" ist „dir nicht eigen, du bist sein" (789). Der Mensch kann also ganz wörtlich aus dieser .geistigen Welt nicht heraustreten', bzw. mit den Worten Kants: „Wir sind zwar gesetzgebende Glieder (...) eines Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben".22 Andererseits aber sind, wiederum nach Kant, „die menschlichen Handlungen, ebensowohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt". 23 Auch aus dieser empirischen, kreatürlichen Natur-Gesetzlichkeit kann der Mensch .nicht heraustreten'. Wenn also trotz aller irdischen Bedingtheit der ,Geist' etwas zu .schaffen' vermag, was .unvergänglich' ist, was „kein Wille vernichten könne" und was nicht verschwiegen oder verboten werden kann, so zum einen, weil er sich eben seiner unbedingten ethischen Grundlage gewiß ist, wie der König im Hausmärchen, zum anderen weil er von dieser Selbstbestimmung aus auch ein letztes Ziel der Natur und Geschichte einzusehen vermag, wie Anton im Nachtrag: „alle schaffenden Kräfte", der Natur wie der menschlichen Kultur, die guten wie die bösen, werden so zu „Zeichen der höheren Ewigkeit" (518). Erst 21 J.G.Heider, Bd. 14, S. 145; vgl. auch den Anfang des S.Kapitels des 5. Buches der Ideen (Bd. 13, S. 189 ff) und den Übergang von Kapitel 1 und 2, im 15. Buch (Bd. 14, S.212ff). 22 I.Kant, Bd.7, S.204/205. 23 I.Kant, Bd. 11, S. 33: der Anfang der Abhandlung Idee zu einer allgemeinefi Geschichte in vieltbürgerlicher Absicht.

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in diesem letzten, aber keineswegs absolut transzendenten Ziel sind alle Tätigkeiten des Geistes vereinigt. Und die Existenz dieser .höheren Ewigkeit' folgt aus der Sicherheit der ,geistigen Welt' nur, weil das Selbstbewußtsein des Geistes in dessen sittlicher Freiheit seine Grundlage hat. Man kann dann weitere, bildhafte Einkleidungen der Kantischen Ethiko-Teleologie erkennen. Schon die Stringenz mit der für Arnim aus dem „geistigen Zweifel" sich die ,Vergeistigung des Zweifels' als entscheidender, formaler Denkschritt einer Neubegründung des richtigen Handelns ergibt, erinnert an Kant. 24 Auch dessen teleologische Folgerung scheint Arnim zu teilen: Das moralische Gesetz (...) bestimmt uns (...) und zwar a priori, einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht, und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt. (...) Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (...) annehmen (...), nämlich es sei ein Gott. 2 5

Versteht man, wie im Nachtrag, .höhere Ewigkeit' als ,ewige Glückseligkeit', was ja auch in Dichtung und Geschichte erst einen Zusammenhang zur naturgegebenen, glücklichen Geborgenheit des Anfangs ergibt, wobei die Denkbewegung des Textes über Krise und Neuansatz hinweg sich in den Gedanken fortsetzt, daß dieses neue, ,ewige Glück' konsequent ,nicht zeitlich' ist, aber ,in der Zeit erblüht', so erkennt man die spezifisch utopische Wendung, die Arnims Geschichtsdenken geradezu notwendig nimmt. Schon der Ausdruck „träumende Freude und Sorge" weist darauf hin. Auch für Kant entspricht ja der Annahme einer ,moralischen Weltursache', bzw. geht ihr voraus, die Verpflichtung, das .höchste Gut' praktisch zu verwirklichen: eine 24 Vgl. die Stelle in Arnims Theoretischer Untersuchung, daß „der Verstand nur dann Uberzeugung fühlt, wenn er von der Wahrheit, die er sucht, selbst wahr gemacht wird" (G, 242). Der Kontext .Verstandes-Tugend' läßt erkennen, daß Arnim hier, wie in Dichtung und Geschichte auch, mit Verstand nur das menschliche Vermögen meinen kann, das bei Kant .Vernunft' heißt. Es scheint mir dann genau der Kantische Gedanke wiedergegeben, daß rein aus der Stringenz der Fragestellung heraus in der Vernunftkritik (ein Suchen derjenigen .Wahrheit', die den suchenden .Verstand' .wahr macht'), eine subjektiv-allgemeine, rein formale Wahrheit, also „eine bloße gesetzgebende Form der Maxime" erschlossen wird, welche diese Kritik erst legitimiert, d.h. welche dem freien Willen „zum Gesetz dienen kann" (Kant, Bd. 7, S. 138). 25 I. Kant, Bd. 10, S. 576/577; vgl. S. 573 ff.

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nach der Idee der ,ewigen Glückseligkeit' bestimmte „Glückseligkeit unter der objektiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit". 2 6 N o c h ein weiterer spezifisch Kantischer Gedanke läßt sich hier erkennen: denn der Bezug .aller schaffenden Kräfte' auf die .höhere Ewigkeit', also wohlgemerkt auch der bösen,27

ist ausdrücklich nur ein .zeichenhafter', also nicht nach

Naturgesetzen geordnet und erkennbar, 2 8 auch nicht aus der Freiheit der Vernunft vorweg bestimmt, welches allein das moralische Gesetz ist, d Ji. in Arnims bildhafter Sprache, keinem der Bereiche angehörig, aus denen ,nicht herauszutreten' ist, sondern eben nur .bestimmbar', ,zeichenhaft' verstehbar, für das reflektierende, zwischen Freiheit und Natur,,Geist' und ,Erde' vermittelnde ,Beurteilungsvermögen'. 2 9 Damit ist Arnims „hermeneutische K e h r e " 3 0 klar zu verfolgen: die Einsicht in die sittliche Freiheit und zugleich kreatürliche Bedingtheit des Menschen schreitet fort zur Bestimmung, aber auch kritischen 26 ebd. 27 Vgl. I.Kant, Bd. 10, S . 5 5 I f f . 28 Herder hingegen entwickelt ,die Absichten' der Geschichte „bloß aus dem, was da ist", nicht daraus, „was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wohl sein könnte" (Bd. 14, S.145 und 146). Entsprechend stünde Arnim in der Streitfrage zwischen Herder (vgl. Bd. 13, S.333 ff) und seinem Rezensenten Kant (vgl. Bd. 12, S. 804 ff), ob die Kontinuität der .individuellen' zum Zweck der .allgemeinen Glückseligkeit' notwendig sei, eindeutig auf der Seite Kants. Versteht er doch die erhoffte Zukunft als eine „Zeit, welche durch ihr Bestreben zum Allgemeinen alle besonderen Ansprüche aufhebt" (1050). 29 Vgl. I.Kant, Bd.9, S. 272 und Bd. 10, S.467 ff, v.a. S.492. 30 Es handelt sich also in der Tat um eine „hermeneutische Kehre", wie U. Ricklefs (S. 288) ausführt, aber nicht als „Wende von der Selbstgewißheit des Geistes zur Anerkenntnis seiner endlichen Abhängigkeit" (ebd.), sondern als eine Wende zu beidem: zur Freiheit des Geistes und zugleich zur endlichen Abhängigkeit des kreatürlichen Menschen. Aus keinem kann der .geistige Arbeiter' heraustreten. Auch die Folgerungen Ricklefs' geben meines Erachtens Arnims Gedanken nicht wieder: „Auf ein Drittes bezogen, auf Gott, auf die geistige Welt jenseits der eigenen Verfügbarkeit, löst sich das Problem des Dualismus" (ebd.). Der ganze Kontext zeigt, daß es Arnim nicht auf eine Lösung, sondern auf ein .Aushalten' des Dualismus, ja auf seine fruchtbare Wendung ankommt. „Zeichen" sind keine Lösungen. Die „höhere Ewigkeit" steht hier auch nicht jenseits der eigenen Verfügbarkeit', wenn man ihr legitimerweise „in irdischer Tätigkeit" etc. „zustreben" kann (vgl. 518). Wenig später grenzt Arnim entsprechend eindeutig das transzendent-heilsgeschichtliche Ziel der Taten Gottes mit der Welt von dem allein .verstehbaren', menschlichen Interesse an der Geschichte ab. 121

Einschränkung, eines verläßlichen Zweckes der Geschichte; und der Bezug der historischen Erscheinungen auf diesen Zweck schafft eine neue Basis für die Geschichtserkenntnis. Es zeigt sich auch, in welcher Tradition Arnim mit dieser Überzeugung steht. Es ist die einer retrospektiv — das zentrale Prinzip in Arnims Schreibweise — zu konstruierenden Geschichte, welche „gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat", 31 wohlgemerkt ein Prinzip der Beurteilung, nicht einen Plan des Geschehens;32 wobei es interessanterweise schon Kant scheint, „in solcher Absicht könne nur ein Roman zustande kommen." 33 So nimmt z.B. in F.Schillers Schrift Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte von 1789 der philosophische Geschichtsbetrachter' die Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. 34

In dieser Tradition steht aber auch J.G.Droysen, für den es keine Kontinuität der Geschichte gibt „ohne die Gewißheit der Zwecke und des höchsten Zweckes, ohne die Theodicee der Geschichte." 35 Und gerade eine Krise historischer Erkenntnis führt E.Troeltsch zu der These, daß für die Geschichte „überhaupt Werte und aus ihnen abzuleitende Normen der letzte Halt der Erkenntnis sind. Das Seinsollende ist der Schlüssel zum Sein." 36 Das ist sehr zugespitzt formuliert; aber der Sache nach spricht es genau das aus, was auch Arnim seiner Auffassung von Dichtung und Geschichte zugrundelegt.

31 I.Kant, Bd. 11, S.49. 32 So wendet sich Arnim z.B. regelmäßig gegen „dies Zurechtmachen der Geschichte, der Länderkunde, um Beweis für ein eingebildetes Gesetz zu führen" (G,428). An anderer Stelle schreibt er: „Schrecklich sind mir jetzt alle philosophischen Übersichten der Geschichte und ihrer Tendenzen, ein recht verkehrtes Tasten nach ungelegten Eiern" (G,465). 33 I.Kant, Bd. 11, S.48. 34 F. Schiller, Nationalausgabe Bd. 17, S. 374. 35 J.G. Droysen, Historik, hg. von R. Hübner, S. 346. 36 E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 707.

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„Geist und Erde" Es ist dann nur folgerichtig, daß Arnim eine tiefe Analogie zwischen dieser Lösung der Erkenntniskrise und seinem politisch-öffentlichen Ethos allgemein sieht. So gehört für ihn zum Tugend-Katalog der „Herrscherweisheit" nicht nur die Bereitschaft, „die Freiheit zu ehren, wo sie sich entfaltet", sondern auch die Fähigkeit, „vor allem Wahrheit zu verstehen, zu ertragen bis zur eigenen Vernichtung" (18,20). Nur die unbedingte Grundlage und das gewisse, letzte Ziel, für die Erkenntnis wie für die tätige Beeinflussung der Geschichte, macht sowohl die ,Zweifelhaftigkeit der Tat' wie den .inneren Zweifel' der ,GeistesWerke', jene .härteste aller Prüfungen' erträglich ,bis zur eigenen Vernichtung', und erweist beides, ja ,alle schaffenden Kräfte als Zeichen der höheren Ewigkeit'. Das Folgende zeigt, daß ,höhere Ewigkeit' hier nicht eine heilsgeschichtliche Vollendung bedeutet: „Die Geschicke der Erde, Gott wird sie lenken zu einem ewigen Ziele, wir verstehen nur unsere Treue und Liebe in ihnen" (519), heißt es wenig später. Entscheidend ist vielmehr der utopische Reflex, die irdisch-konkrete Verwirklichung der im Glauben verheißenen, im Selbstbewußtsein des Geistes als ethisches Postulat vorweggenommenen .ewigen Glückseligkeit': „Gott ordnet die Welt in Zuversicht auf uns" (18,99); „und wer nicht sorgt für täglich Brot/Genießt das ewge nie" (1037): das ist Arnims Credo, ganz ebenso wie für ihn Glaube und Erkenntnis sich nicht ausschließen, sondern der Glaube die Erkenntnis fördern muß, denn „unser Glaube ist ohne Wissen nichts" (544). 37 Weil der ,Geist' nun diese ,höhere Ewigkeit' des zu realisierenden Zweckes der Geschichte einerseits als sittliches Postulat, als „Wort in deiner Seele" (789), andererseits als praktische .Tätigkeit' vorwegnimmt, kann er, denn nach Arnim geht er kontinuierlich in die 37 Vgl. parallele Formulierungen, B, 81/82: Wie „Gottes Hand in der Hand des Menschen", die es zu achten gilt, denn „was ganz menschlich ist, das ist auch ganz göttlich", so ist „auch die Natur (...) nur gegen den wahr, der sie kennen will; dieses Lernen in Demuth ist das Glauben ohne Sehen: aber glaubet, so werdet ihr sehen." Ähnlich heißt es am Ende von Halle und Jerusalem: „Ihr sollt sehen in dem Glauben" (16,400). Zur „Welttätigkeit" (491) der Religion vgl. oben Kap.4, S. 65; wo sie fehlt, da kann Religion für Arnim auch „eine neue Art Opium werden" (314).

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Phantasie des Dichters über, der ,Zeit vergessend' in die .höhere Ewigkeit arbeitend sich versenken'. Es ist also gerade das Recht des Dichters, die „höhere Welt (...) in der Phantasie" zugänglich zu machen und auszubilden (vgl. 111,63), „bloße Verstandes-, bloße Phantasietugend ist leer" (G,243). 38 Andererseits aber muß der,Geist'dann geradezu seine .vergänglichen Werke lieben', d.h. gerade die unterdrückten, verschwiegenen, vergessenen, ja ins Böse verkehrten .Zeichen der höheren Ewigkeit' suchen und pflegen. Man erkennt hier deutlich das Bestreben Arnims in den Kronenwächtern wieder, die religiösen, mythischen, traumhaften Wunschbilder, aber auch die historischen .Zeichen' der Geschichte mit seiner selbstbewußt entworfenen, freilich nur in Ansätzen phantasievoll ausgemalten Utopie zu verbinden. Umgekehrt aber gilt auch, daß die .Ewigkeit' als das sittlich Unbedingte, das zum Organ des Göttlichen wie zum Antrieb utopischer Vollendung wird, sozusagen a priori vorgegeben sein muß, um in aller menschlichen .Tätigkeit': auf dem Felde der Erkenntnis, dem Engagement in Gesellschaft und Politik und ganz ebenso in aller Energie des Glaubens präsent sein zu können. Ohne diese Voraussetzung ist alles Bemühen, die .Ewigkeit' zu verwirklichen, ihr entgegen ,zu streben', auch alle .Anwartschaft des Glaubens' vergeblich; mit ihr dagegen erweist sich nicht nur das Recht dieser Aktivitäten des Geistes, sondern auch die Fruchtbarkeit ihres Zusammenwirkens. Ging es bis dahin um die prinzipielle Berechtigung, die .Bedingungen der Möglichkeit' geistiger Arbeit gewissermaßen, so geht es im folgenden um die Art und Weise ihrer praktischen Verwirklichung, wobei der Gedankengang wie von selbst immer näher auf das spezifische Problem der Geschichts-Erkenntnis und -Darstellung führt: Nur das Geistige können wir ganz verstehen und wo es sich verkörpert, da verdunkelt es sich auch. Wäre dem Geist die Schule der Erde überflüssig, warum wäre er ihr verkörpert, wäre aber das Geistige je ganz irdisch geworden, wer könnte ohne Verzweiflung von der Erde scheiden. (518/519)

Entscheidend ist der konstitutive Gegensatz und die nicht weniger konstitutive Wechselwirkung von ,Geist' und ,Erde'. Es überrascht nicht, daß beide Begriffe sehr vieldeutig sind; beachtet man jedoch 38 Vgl. oben Anm.24.

124

die jeweilige Dimension ihrer Anwendung, so läßt sich gleichwohl recht genau erkennen, was gemeint ist: In einem allgemeinen, formalen Sinn bedeutet ,Geist' für Arnim ,bewußte Tätigkeit', das belebende, vor allem das verändernde Prinzip des in die Welt eingreifenden Menschen, ,Erde' dagegen das, obwohl es .unbeweglich zu bleiben' ( 7 7 9 ) scheint, gleichwohl nach seinem eigenen, natürlichen Rhythmus „in ruhiger Folge" (III, 3 4 ) 3 9

wachsende und fortschreitende: die

Natur ebenso wie die allgemeine, nahezu bewußtlos sich vollziehende Geschichte der Allgemeinheit, d.h. des .Volkes'. Dieser Bedeutungsaspekt k o m m t gerade am Anfang von Dichtung

und Geschichte

zum

Ausdruck und wird auch im folgenden niemals aufgegeben. 4 0 Im Hinblick auf das Handeln des Einzelnen, genauer: der Bedingungen dieses Handelns, bedeutet ,Geist' das subjektive, sittlich-religiös begründete Selbstbewußtsein,das was im Subjekt unbedingt und daher 39 Vgl. die Einleitung zu Die Majoratsherren, über ein Menschengeschlecht, das sich „voreilig einer höheren Welt genaht" habe und „durch die Notdurft an die Gegenwart der Erde gebunden werden mußte, die aller Kraft bedarf, und uns in ruhiger Folge jede Anstrengung belohnt" (III, 34). 40 Auch Arnims Geist-Begriff zeigt die für sein Geschichtes-Denken charakteristische Uberlagerung Herderscher und Kantischer Einflüsse, die er bildhaft einkleidet und in der Anwendung ständig variiert. Eine dritte, mystische Dimension, die z.B. in Die Majoratsherren stärker hervortritt, ist für die Kronenwächter nur gelegentlich bedeutsam (vgl. oben Kap. 2, S. 31 f; zur Bedeutungsvielfalt von ,Geist' zur Zeit Arnims vgl. R. Hildebrand, H. Wunderlich in: Deutsches Wörterbuch von J.u.W.Grimm, Bd.IV,l/2, S.2623ff, und K.Rothe, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, S. 154ff). Zunächts scheint Arnim erneut völlig Herder zu folgen, wenn er .Geist' vor allem als „Thätigkeit" (23,219), lebendig wirkende .Kraft' versteht, und den Zusammenhang von .Geist' und .Erde', „die geistige Größe alles Wirklichen" (B, 101) des „Geistes Erdenrecht" (20,377) betont (vgl. dazu v.a. Herders 5. Buch der Ideen, Bd. 13, S. 167 ff). Das Gespräch über „Erde", „Körper" und „Geist" in der Päpstin Johanna (vgl. 19,383 ff) gipfelt in dem Satz: „So ist des Körpers und des Geistes Band, Sie stiegen beide einst aus Gottes Hand" (ebd.). Auch Arnims Auffassung .geistiger Arbeit' läßt sich genau im Sinne Herders verstehen, als „Tätigkeit des menschlichen Geistes (...) die Humanität und Kultur tiefer zu begründen und weiter zu verbreiten" (Bd. 14, S.239). Andererseits aber geht Arnim von einem klaren Dualismus von ,Geist' und ,Erde', Sinn und Faktizität in der Geschichte aus, der erkenntnismäßig retrospektiv und zugleich ethisch-praktisch vermittelt werden muß. Steht Arnim darin in der Nachfolge Kants, so ist auch,Geist' für ihn die .Gesinnung des moralisch Guten'(Bd. 7, S. 192), ,das belebende Prinzip im Gemüte' (Bd. 10, S. 413), welches das unbedingte, jeder Erfahrung vorgegebene, moralische Gesetz als konkrete Triebfeder des Handelns verwirklicht. 125

auch ,ewig' ist, und wodurch nicht nur der Glaube, sondern auch der .Geist' Organ des Göttlichen ist; ,Erde', an anderer Stelle ganz konsequent auch .Fleisch' (vgl. 593), dagegen bezeichnet die Kreatürlichkeit und Zeitlichkeit, der kein Mensch entrinnen kann. Im Hinblick auf die konkreten Erscheinungsformen dieses Handelns ist .geistige Arbeit' zunächst, in einem weit gefaßten Sinne, alle Tätigkeit aus öffentlichethischer Verantwortung heraus, im engeren Sinne aber die Arbeit des Gedankens, des Wortes, der Erziehung, Planung, Überzeugung: zur Förderung der menschlichen Kultur; ,Erde' dagegen ist der Bereich der konkreten, natürlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen Verhältnisse, in denen die Arbeit des Geistes sich realisieren muß. Eine wichtige Dimension dieser Arbeit des Geistes nun ist die Erkenntnis der Geschichte, vor allem dann, wenn sie, wie oben gesehen, auf die Orientierung der Gegenwart hin angelegt ist. Betont das .Geistige' dabei die Dimension der .gedeuteten Geschichte', in deren Mittelpunkt das Postulat eines Zweckes der Einheit und Vollendung der Geschichte steht, so bezeichnet ,Erde' demgegenüber das Geschehen, die Welt der Fakten, auch die „Wahrheit" der „Erfahrungen" (G, 564), die dem geistigen „Bild" erst den gehörigen, festen „Rahmen" geben (vgl. 520). In jeder dieser Dimensionen ist .das Geistige' in der Tat das selbstevidente, voll verständliche Prinzip, die reine Forderung bzw. Theorie, in seinem Kern, wie „alle Theorie", nach Arnim, „moralischer Art" (G.242). Immer aber ist .das Geistige' zu seiner Wirksamkeit, die ja zu seinem Wesen gehört, auf die ,Erde' angewiesen, auf die Welt der Naturgesetze, das in der Zeit Vergängliche, die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse und Zwänge, das Geschehen bzw. die Fakten der Geschichte. An dieser ,Erde' also muß der Geist sich .ausbilden', erfahren werden, sich differenzieren, konkretisieren und so zwangsläufig auch .verdunkeln' — ohne jemals ganz in ihr aufgehen zu können. Denn der .Geist' steht der .Erde' prinzipiell unbedingt gegenüber, und nur seine Fähigkeit, einen über alle Faktizität hinausreichenden, in dieser noch nie jemals .verkörperten' Sinn zu postulieren, macht die ,Last', welche die ,Erde' für Arnim auch sein kann, „ohne Verzweiflung" erträglich. Daß ,das Geistige nie ganz irdisch geworden ist', ,die Geschicke der Erde' den Geist nie .ganz erfüllen können', bereitet zugleich einen neuen Gedanken vor. Bisher analog gesehene Dimensionen des 126

Verhältnisses von .Geist' und ,Erde' treten in eine neue, fruchtbare Spannung. Wenn Arnim z.B. fortfährt: „Die Geschicke der Erde, Gott wird sie lenken zu einem ewigen Ziele, wir verstehen nur unsere Treue und Liebe in ihnen" (519), so unterscheidet er völlig klar die subjektivethische Legitimation der Geschichts-Deutung, welche innerhalb der Grenzen menschlicher Erkenntnis bleibt, von der heilsgeschichtlichmetaphysischen, welche allein im Glauben zugänglich ist. Für beides war bisher der .Geist' das vernehmende Organ, jetzt aber treten menschlicher Geist und „Geist des Herrn" (vgl. 689) auseinander: nur weil wir das erstere wissen, wobei die Wendung „Treue und Liebe" erneut das entscheidende, ethische Element des .Verstehens' betont, können wir das zweite beruhigt glauben. So warnt Arnim ganz folgerichtig auch davor, die irdisch begrenzte Tätigkeit heilsgeschichtlich zu überhöhen, also vor „heiligen Kriegen", „ewigen Frieden und Weltuntergang";41 ganz ebenso, wie er im Roman alle .mythischen' Selbstüberschätzungen verurteilt hatte. Aber dies dient nur der Abwehr falscher Folgerungen. Wichtiger ist eine andere, fruchtbare Konsequenz der Spannung von ,Geist' und ,Erde': Wenn ,das Geistige nie ganz irdisch' ist, so vermag es gerade ein in der ,Erde\ in der Zeit verborgenes Moment des ,noch nicht verwirklichten Geistes' sichtbar zu machen, ein Neues, das sich erst in Spuren abzeichnet und das erst noch aus seiner Verborgenheit heraustreten muß. Arnim nennt es die „Heimlichkeit der Welt", die es zu „allen Zeiten" gäbe, die aber, von den .Zeitgenossen' nicht bemerkt, erst in der Geschichte sichtbar werde (519). Im Grunde wiederholt sich hier die Denkbewegung, die den Anfang von Dichtung und Geschichte wie den Roman im ganzen prägt: vom Grundsätzlichen, Überzeitlichen, Postulathaften in die Geschichte hinein. Und da in dieser Folge notwendig, und im Roman auch ausgeführt, immer schon die Wendung auf eine reale Zukunft enthalten ist, scheint mir auch die eigene Zeit dieser „Heimlichkeit der Welt", gerade im Bilde der Vergangenheit, die in dieser verborgene Zukunft zu sein. 41 Man erkennt deutlich die Gefährdung Bertholds wieder aufgenommen, der glaubt, sein Haus „zu irdisch ewiger Dauer begründet und auferbaut" (589) zu haben. Ahnlich hatte es von den Menschen in Die Majoratsherren geheißen: „jeder richtete sich gleichsam für die Ewigkeit auf dieser Erde ein" (111,34).

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Wie alle Geistes-Werke und -Verkörperungen, alle Zeichen und Spuren, „Eindrücke der Finger an harten Felsen" (519), können auch diese .heimlichen' Antizipationen einer erhofften Vollendung der Geschichte nur retrospektiv und bruchstückhaft erfahren und verstanden werden: „in einzelnen erleuchteten Betrachtungen, nie in der vollständigen Übersicht eines ganzen Horizontes" (519). Was der Geschichte ihre, nur im Rückblick erfahrbare Relevanz gibt, ist von keiner Aktualität der .Zeitgenossen' zu erschöpfen, sondern liegt in ihrem zukünftigen Möglichkeitshorizont. Und umgekehrt: „Was die Gegenwart fordert, was zur Zukunft emporstrebt", 42 kann nur in seinen Spuren in der Vergangenheit angeschaut werden. Nicht zufällig korrespondiert dem Bild aus Dichtung und Geschichte, daß der ,Geist' aus der Vergangenheit, und zwar buchstäblich aus der ,Erde' heraus, ,das Rechte erringen', die ,Heimlichkeit der Welt' freilegen muß, die von Arnim seiner Quelle zugefügte Sentenz vom Ende des Ersten Bandes : „denn nichts erringen wir als die Zukunft" (779). Auf dieses ,Noch-Nicht-Verwirklichte' also arbeitet der ,Geist' zu, wenn er sich, sozusagen von neuem ,zur Erde wendet', in ihm verschmelzen erneut .Geistiges' und .Irdisches'. Der „Wert" der „Heimlichkeit der Welt" bemißt sich ja gerade daran, wieweit sie diese Verbindung vorwegnimmt: denn .Geistiges', die bewußte Energie des Denkens, Wollens und Handelns, und .Irdisches', die volle, reiche Teilnahme an allem Wirklichen zusammen machen die „Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust" (519) aus, die Arnim als den Wert der „Heimlichkeit" bezeichnet. Entsprechend beschreiben auch die Inhalte der Utopie im Nachtrag im Grunde genau eine solche Verschmelzung tätig-bewußter Spontaneität mit dem ruhigen, organischen Fortschritt der ,Erde' zum „werbenden Kampf höherer Entwicklung" (1039). Die wichtigste, die eigentlich konkrete dieser Vermittlungen von ,Geist' und .Erde', daher zugleich eine zentrale, gleichsam abschließende Dimension in Arnims Geist-Begriff ist es, wenn eine möglichst große 42 Vgl. gleichlautend G,36 und in der Gräfin Dolores, 332: „Wir müssen uns bescheiden, nur in der Vergangenheit den Weltplan überschauen zu können, da ordnet der Verstand die chaotische Masse nach seiner besten Weisheit; was aber die Gegenwart fordert, was zur Zukunft emporstrebt, das tritt erst aus dem fruchtbaren Boden heraus und entbehrt noch des Sonnenlichts oder ist davon geblendet."

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Anzahl von Menschen, und insbesondere die unteren Schichten, also ein ganzes ,Volk' von der .Arbeit des Geistes' ergriffen werden: wenn sie versuchen, aus Freiheit und eigener Verantwortung heraus ihre Geschicke selbst zu gestalten. Solche .geistige Bildung' zur „Volkstätigkeit" 43 ist das eigentliche Ziel der Vermittlung von ,Geist' und ,Erde', vergangener .Heimlichkeit der Welt' und utopischer, ,zu erringender Zukunft'. Daher zielt auch die Handlung des Romans genau darauf ab: Die Auflösung ist endlich, daß die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde. So löst sich die Frage: ein Teil des Menschengeschlechts arbeitet immer im Geiste, bis seine Zeit gekommen. (1051)

Der Anspruch der Dichtung „Wir nennen diese Einsicht, wenn sie sich mitteilen läßt, Dichtung" (519): ganz kontinuierlich schließt sich die beginnende Selbst-Reflexion der Geschichts-Dichtung an das eben Gesagte an. Dazu aber kommt sogleich noch ein Weiteres: je näher die Einleitung den spezifisch dichterischen Fragen kommt, um so deutlicher geht das Programmatische in ihr über das im Roman Verwirklichte hinaus. Indem also die Dichtung in Arnims Sinn Bezüge zwischen der historischen Vergangenheit und einem gegenwärtig postulierten, auf zukünftige Verwirklichung angelegten Sinn der Geschichte herzustellen sucht, ist sie „aus Vergangenheit in Gegenwart, aus Geist und Wahrheit geboren" (519). Die Differenz ihres doppelten Ursprungs, .Geist'und ,Erde' bzw. ,Stoff kann und soll nicht verdeckt werden, beides beansprucht sein Recht. Auch der engere Wahrheitsbegriff einer historischwissenschaftlichen Geschichte kann von dem weitergehenden Wahrheits- und Sinnanspruch der Dichtung her zurückgewiesen werden. Nicht daß Arnim diese historische Richtigkeit für belanglos hielte, gerade die spätere Analogie zum „Verkehr mit Zeitgenossen" (519) macht das deutlich, aber sie genügt ihm nicht. Das läßt sich alles noch, zum Teil apologetisch, auf den Roman beziehen, wie er vorliegt. 43 Vgl. Des Knaben Wunderhorn, S. 872, sowie den Schluß des Volkslieder-k\iisatzes: „Es gibt eine Zukunft und eine Vergangenheit des Geistes, wie es eine Gegenwart des Geistes gibt, und ohne jene, wer hat diese?" (S. 886).

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Dann aber, wenn von „heiligen Dichtungen" (519) die Rede ist, wechselt die Perspektive: Nicht mehr was der Roman ist, sondern was nach Arnims Meinung Geschichtsdichtung sein könnte, ist Gegenstand der Reflexion. Und zwar ist es das Idealbild eines wirkenden, von seiner Zeit und der Nachwelt verstandenen Kunstwerks, das die folgenden Sätze beschreiben.44 Dadurch wird zugleich eine neue Verbindung zum Vorhergehenden hergestellt. Denn diese Art lebendiger, zur .geistigen Volkstätigkeit' anregender Dichtung macht nicht nur die .Heimlichkeit der Welt' anschaulich, sie ist ganz wesentlich selbst ein Teil von ihr: Hoffnungsträger gleich der „Liederwonne des Frühlings", wie diese eine vorwegnehmende Druchdringung empirisch-erdnaher, natürlicher und bewußtseinsgesteuerter, .geistiger' Elemente. Daher nimmt die Dichtung nicht nur die kollektiven Tagträume der Mythen als Hoffnungsbilder in ihre erzählte Welt auf; indem sie an ihnen weiterdichtet und neue Entwürfe hinzufügt, wird sie selbst zum ,Traum'. Zugleich aber ist es, das hat gerade der Roman gezeigt, sehr gefährlich, mythisches Bild und historische Wirklichkeit, Traum und Realität einfach zu verwechseln und zu identifizieren. Wir leben nicht ,in der Erde geborgen' und zugleich unmittelbar fraglos ,νοη der Sonne geleitet', wie der Pflüger im Bild des Anfangs von Dichtung und Geschichte, das nun aus der Retrospektive endgültig als ein bloßes Wunschbild erscheint. Die .Erde' vom Anfang ist inzwischen zur „irdisch entfremdeten Wirklichkeit" (518) geworden, der gegenüber der ,Geist' zur letzten, sicheren Orientierung auf sich selbst angewiesen ist. Diese .Entfremdungen' lassen sich also nicht einfach traumgläubig beiseite schieben. Und in der Tat sind ja für Arnim gerade die Träume immer unzuverlässige, aus Bösem und Gutem, Wahrheit und Täuschung gemischte Medien. Gerade hier also kommt es besonders darauf an, „im Geist", das heißt bei klarem ethisch-religiösem Bewußtsein und nicht minder klarer retrospektiver Erkenntnis der ,Erd-Geschichte' „zu erwachen" 44 Diesen Aspekt der Arnimschen Ästhetik, gerade die Wirkungsdimension der Kunst zu betonen, arbeitet v.a. D.Streller (Arnim und das Drama. 1956) heraus: .erscheinen lassen', .erkennbar machen', .anschaulich machen', .kundgeben' sind z.B. seine bevorzugten, dramaturgischen Wendungen (vgl. S.40 u . f f ) .

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(519). Blickt man auf den Roman selbst, so drängt sich - immer der Problem-Parallele von Geschichtserkenntnis in de/ .Einleitung' und politischem Handeln im Roman zufolge — der Bezug zu Bertholds Schatz- und Vorzeit-Träumen auf, die erst im Licht der ethischen Legende im Hausmärchen und ebenso der Selbst- und Zeiterkenntnis seiner letzten Lebensphase zu klarer, wacher Bedeutsamkeit kommen. Nicht minder deutlich muß der Kronenwächter-Mythos, ebenso der vom ,Goldenen Zeitalter' und selbst das zentrale Sinn-Symbol, die Krone, alles nur .geleitende Träume', aus ihrem dumpfen, unbewußten Totalitäts-Anspruch gerissen, ja zerstört, und neu mit Bedeutungen erfüllt werden, um in dieser »geistigen Arbeit' wieder zu .erwachen', bzw. zu „tagen" (vgl. II, 447). Wenn also die „heiligen Dichtungen" bezeichnet werden als „Erinnerungen derer, die im Geist erwachten von den Träumen, die sie hinüber geleiteten" (519), so steht dahinter eben jener Begriff des ,Geistes', der nur sich selbst verantwortlich, nur darin ,ganz verständlich', zugleich aber an der Geschichte der Fakten erfahren, ,in die Schule der Erde' gegangen ist, und der jetzt die wache Prüfungs-Instanz aller alten und neuen Träume bildet. Nur aus dieser mehrfachen Sicherheit heraus kann die Dichtung als „Leitfaden für die unruhig schlafenden Erdbewohner" bezeichnet werden, wobei die Wendung „von heilig treuer Liebe dargereicht" (519) erneut an den ethischreligiösen Mittelpunkt geistiger Arbeit im Sinne Arnims erinnert. Auch von hier aus gibt es eine deutliche Parallele zur Handlung des Romans: der König im Hausmärchen geht tatsächlich durch,Schlaf und erne Art Traum, die Erfahrung von Dichtung, hindurch, um in seiner ethisch fundierten, politischen Aufgabe zu .erwachen', die für ihn unlösbar nicht nur mit dem christlichen Liebes-Gebot, sondern auch mit der Liebe zu der Frau, zu den Armen und zu seinem Volke verschmilzt. Wie nun .Geist' vor allem .Tätigkeit' bedeutet, so ist auch der Wahrheitsanspruch der Dichtung auf ihre Wirksamkeit ausgerichtet. Die höchste Form von Dichtung ist dann für Arnim die, welche über das einzelne Werk hinausreichend, in immer neuem Weiterdichten sowohl ein ganzes „Volk ergriffe" (G, 134/135), als auch darin ganz der „Zukunft angehört" (G, 224). 45 Das erinnert ebenso deutlich an 45 Vgl. G, 135: „Ich würde es als einen Segen des Herrn achten, wenn ich gewürdigt würde, ein Lied durch meinen Kopf in die Welt zu führen, daß es

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die Beschreibung der „Heimlichkeit der Welt", wie es die utopische Dimension solcher Kunstauffassung ankündigt. Wenn daher im Nachtrag „ein neuer Tag, vom Geist der Kunst druchdrungen" (1038), bzw. eine Zeit „allgemeinen Kunstgefiihls" (1035) gefordert wird, so ist dies nur die in die Zukunft projizierte Folge jenes Ideals des in seinen Wirkungen aufgehobenen, in einem Zustand allgemeiner Kultur erst eigentlich verwirklichten Kunstwerks. Die Wahrheit, die so in der lebendigen An- und Weiterbildung der Dichtung hervortreten soll, steht höher als die vom Dichter seinem Werk mitgegebene, bzw. die in ihm gesuchte. Die .wahren Dichtungen' sind dann in der Tat etwas, „was wir suchen, was uns sucht" (519), eine „allegorische Welt", die es „aufzusuchen" gilt (1038). Es ist auch hier ein utopischer Zukunfts-Sinn, der sich in Arnims Hoffnungen auf .wahre', das heißt .Wahrheit wirkende' Dichtungen ausspricht. So können sie freilich bei aller immer wieder neu notwendigen Bindung an die Welt des faktischen Geschehens - „daß je näher wir der Erden / Auch so näher wir dem Himmel" (23,201) - in diesem nicht voll aufgehen. Worauf sie zielen ist eben die „Heimlichkeit der Welt", von der sie selbst ein Teil sind: das zur Wirklichkeit drängende, zu fordernde, erhoffte aber noch nicht Verwirklichte. Wie es im Nachtrag geheißen hatte, daß „das Ewige (...) in der Zeit erblüht" (1036), so meint Arnim auch jetzt eine immanent-utopische Geschichts-Vollendung, wenn er sagt, die wahren Dichtungen „fuhren die irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück." (520)

„Sehen" Im Grunde ist mit der nun folgenden Allegorie vom „Sehen höherer Art", einem Versuch Arnims, Totalitäts-Anspruch und Realitäts-Sinn seines dichterischen Programms in einem Bild zusammenzufassen, der Gedankengang von Dichtung und Geschichte zu Ende. Was noch folgt, ein Volk ergriffe"; G,224: daß die „einzelnen Dichter (...) unbewußt an einem größeren Gedichte fortarbeiten, das die Zukunft zusammenstellen wird"; vgl. ähnlich G,109, 248 ff, 401. Aus diesem Grunde mußte Arnim auch eine absolute Unterscheidung alter Natur- und neuer Kunst-Poesie vehement ablehnen.

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also die Überlegungen zur Leidenschaft und Ruhe beim Schreiben, ist demgegenüber ein Übergang zum Erzählen des Romans selbst. Mit der Schaffens-Psychologie und dem Handwerklichen als Thema tritt auch das erzählende Individuum hervor; ein Prozeß des Vergessens aller weitgreifenden Ansprüche der Dichtung setzt ein,und Wiblingen kann so einfach und unmittelbar beginnen, als sei nichts vorhergegangen. Daß es sich bei den Motiven von „sehen", „Licht" und „Auge" um ein Bild der Erkenntnis, das Ideal einer umfassend , ahnenden' und wissenden, zugleich lebendigen, auf die praktische Gestaltung des eigenen Lebenslaufes wie der geschichtlichen Entwicklung zielenden Wahrheits-Schau handelt, darauf macht einerseits Arnims wechselnder Sprachgebrauch von „wissen" und „sehen", andererseits die Fülle vergleichbarer Beispiele aus diesem Bildbereich in seinen anderen Dichtungen aufmerksam. 46 „Sehen" bedeutet hier meines Erachtens nichts anderes als jenes produktive, Spekulation und Empirie verbindende, die Ganzheit der Geschichte ahnend vorwegnehmende und auf Praxis gerichtete Erkennen, das Novalis und Friedrich Schlegel mit „Divination" bezeichnet hatten, und das sich auch bei ihnen immer wieder mit dem Bild von .Licht' und ,Auge' verbindet. So schreibt Friedrich Schlegel im Gespräch über Poesie : Alles Denken ist ein Divinieren, aber der Mensch fängt erst eben an, sich seiner divinatorischen Kraft bewußt zu werden. Welche unermeßliche Erweiterungen wird sie noch erfahren, und eben jetzt. Mich däucht, wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen wie den Charakter der goldnen Zeit die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. 4 7

46 Vgl. die Sentenzen über .Glauben' und .Sehen' bzw. .Wissen': B, 2; 16,400; 544; das eine mal sagt Arnim ,sehen', das andere mal .wissen'. Eine Reihe der in Arnims Dichtungen außerordentlich verbreiteten Licht-Symbole und -Allegorien untersucht H.Steffen (in: Die Deutsche Romantik, hg. von H. Steffen, S. 180 ff). 47 F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 322; entsprechend kann ja auch die „romantische Poesie (...) durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen ihr Ideal charakterisieren zu wollen" (Bd. 2, S.183). 133

Deutlich im Bildfeld des „sehens" bei Arnim befindet sich auch Novalis, wenn er z.B. in Blütenstaub schreibt: „Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen gleicht dem Auge. Die Objekte müssen durch entgegengesetzte Medien durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen" (N 11,415).

So verlangt Novalis je auch gerade beim Roman, und zwar vom Dichter wie vom Leser „divinatorischen Sinn" (vgl. Ν III, 668). Divination setzt einerseits eine gediegene Bildung voraus, die „so vielseitig, so unterrichtet und vorurteilsfrei" wie möglich sein soll, damit man von einem solchen Menschen hoffen kann: „wie divinatorisch würde sein Blick, wie geschärft sein Urteil, wie erhaben seine Gesinnung werden" (N 11,497). Wenn man bedenkt, daß hier, in Glauben und Liebe, vom König die Rede ist, so sieht man, wie genau Novalis diese Divination auf Praxis bezieht. Andererseits gehört zum ,divinieren' für Novalis nicht nur das Spielerische der Phantasie, sondern gerade auch ein spekulatives Element, das sich an der Historie, wie sie scheinbar definitiv ist, nicht genügen läßt: Die Philosophie ist von Grund aus ant[i] historisch. Sie geht vom Zukünftigen, und Notwendigen nach dem Wirklichen - sie ist die Wissenschaft] des allgemeinen] Divinationssinns. Sie erklärt die Vergangenheit aus der Zukunft, welches bei der Geschichte umgekehrt der Fall ist. (N 111,464/465)

Wie gerade Dichtung und Geschichte zeigt, sind bei Arnim alle diese Aspekte des romantischen Erkenntnisanspruchs erhalten. Das Bild vom „sehen" des „Lichts" korrespondiert der Frage nach dem richtigen Erkennen der Wahrheit, und zwar genau im Sinne einer „sammelnden" Synthese der vielschichtigen „Wahrheit", von der in Dichtung und Geschichte die Rede ist. So orientiert sich auf einer ersten Ebene die „Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern" (519), am Kriterium einer genauen Bezeichnung der historischen Fakten. Auf einer weiteren Ebene beruft sich dagegen jene aus den Zeichen der Vergangenheit „in einzelnen erleuchteten Betrachtungen" herstellbare „Geschichte in ihrer höchsten Wahrheit" auf einen Begriff .innerer Wahrheit', wie ihn z.B. wenig später Wilhelm von Humboldt in Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers von 1821 aufgestellt hat. Denn Humboldt unterscheidet, ebenso wie der Sache 134

nach Arnim, „den inneren ursächlichen Zusammenhang" der Vergangenheit von der „nackten Absonderung des wirklichen Geschehens, welches die „äußere buchstäbliche Wahrheit" ausmacht.48 Aber für Arnim verbindet sich damit zugleich, also eine wieder andere Ebene von Wahrheit ansteuernd, das Interesse an der „Heimlichkeit der Welt", an jener in der ,Erde' verborgenen Potenz des noch nicht verwirklichten Geistes also, welche nur von dessen sittlichem Selbstbewußtsein her sichtbar wird. So sollen gerade die ,sehenden Ahnungen' in einer Reflexion am Ende des Zweiten Theils „das Vergessene und Verborgene wiederbringen" (1025), wenn sie sich zur Vergangenheit wenden.49 Arnim meint also gerade auch diese Wahrheit des Postulats, des Seinsollenden, des Erklärens der Vergangenheit aus der antizipierten Zukunft, wenn Geschichte retrospektiv „aus Vergangenheit in Gegenwart, aus Geist und Wahrheit geboren" ist (519). Gerade hier wird der Zusammenhang des geschichtstheoretischen Gedankens mit dem Bild von „sehen" und „Licht" besonders deutlich, wenn es an anderer Stelle heißt, man dürfe sich, das Postulat zukünftigen .Lichts' retrospektiv auf die Vergangenheit gerichtet, nur aus dieser „Strahlenbilder fleckenloser Vollendung zum Vorbild dieser Gegenwart aufstellen" (634), was ja eben das bewußt konstruierende, .beleuchtende' dieser Erkenntnisform betont. Und schließlich gibt es in Dichtung und Geschichte noch eine vierte Ebene „höchster Wahrheit", welche von einem nur an der faktischen Historie klebenden Blick für „Lüge" gehalten wird, die aber, angesichts der noch unaufgehobenen Antagonismen der faktischen Geschichte, selbst noch als „Lüge eine schöne Pflicht des Dichters ist" (519). Wie die bisherige Interpretation der Kronenwächter immer wieder gezeigt hat, kann damit nur jene aus Glauben, Mythos, Postulat, Erfahrung und Phantasie gewonnene, ,zum Licht verklärende' Wahrheit der Utopie gemeint sein, zu der sich gerade in diesem Roman die geglaubte Wahrheit der Heilsgeschichte mit einer immer wieder erweisbaren Folgerichtigkeit wendet. Wenn Arnim 48 W.v. Humboldt, Werke, hg. von A. Flitner, Bd. 1, S. 585/586. 49 Was dort (vgl. 1025 f) vom ,ahnen' gesagt wird, steht deutlich mit dem .sehen' in Dichtung und Geschichte in Zusammenhang: „Wie sehen wir ahnend so anders in die Welt (...), hoffend und leicht" (1025); „Seher der Zukunft (...) ο könnten wir doch auch rückwärts unsern Blick in eurer Kraft wenden" (ebd.). 135

in der Anrede an meine Zuhörer von 1812 das „höhere Licht" als „die Theorie einer andern Welt" bezeichnet (11,449), so scheint er schon dort diesen Übergang anzusprechen.50 Und das Ende des Zweiten Theils betont genau den neuen Zusammenhang von Ethos und Utopie unter dem Bild von „sehen" und „Licht": „O ihr Ahnungen, wunderbare Seher der Zukunft, eure Sternzeichen leuchten in der unerschöpflichen Tiefe unsres Herzens, ihr seid das Licht" (1025). Gerade diese Wahrheit ist notwendig, um die „irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft zurück" zu fuhren (519/520). Aber andererseits darf auch die Wahrheit der empirischen Geschichte nicht verletzt werden, damit das Zusammenspiel aller Wahrheiten, wie der .Farben' im ,Licht' erkennbar wird: „wer die Geschichte zur Wahrheit läutert, schafft auch der Dichtung einen sichern Verkehr mit der Welt" (520). Dann ergeben sich weitere Bedeutungen: Wie Arnims Rede von den „heiligen Dichtungen" über das jeweilige Kunstwerk hinaus bereits den Vorgriff auf dessen für die Zukunft erhoffte, vollkommene Wirksamkeit mit umfaßte, so enthält sowohl das Bild des , sehens', wie das der Kristallkugel und das der Korrespondenz von ,Auge' und ,Licht' ein Moment utopischer Antizipation, die zugleich Einschränkung ist. Eine neuerliche Parallele von Roman und Einleitung stützt diese Bedeutungsdimension: es gehört nämlich zum Symbol der Krone, als dem Bild eines Sinnes in der Geschichte, daß sie einerseits nicht von jedem gesehen werden kann - „die Krone lag vor mir, aber ich sah sie nicht" (871) —, daß sie andererseits unsichtbar wird, „wenn ein Böser sie tragen will" (1045). Es zeigt sich ein Zirkel, der nicht zu durchbrechen ist, sondern dem man sich nur in geduldiger .Arbeit im Geist' annähern kann: die Erkenntnis des Sinnes der Geschichte, also auch die dichterische Darstellung ihrer „höchsten Wahrheit" (519), ist, wo sie Vollkommenheit beansprucht, an eben die Verwirklichung dieses Sinnes gebunden. Daher muß der ,Geist' notwendig in beiden Richtungen .tätig' sein. Antizipierend ist auch ein weiterer Gedanke, der sich offenbar für Arnim mit dem Verhältnis von „Licht" und „Auge" verbindet. Denn die .Ahnungen' vom Ende des Zweiten Theils sind nicht nur „Seher 50 Vgl. auch die Zueignung: Mein Buch ist „empfangen und gereift am Licht", sowie die meines Erachtens schon auf die Kronenwächter weisende Bemerkung, „daß viele Sagen (...) sich der Zukunft erst enthüllen" (11,445 und 447).

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der Zukunft", die sich zugleich „rückwärts" zur Vergangenheit wenden, „Sternzeichen" im Innern, die in der äußeren Welt ihre Bestätigung suchen, Arnim sagt von ihnen geradezu: „ihr seid das Licht, ihr seid das Auge zugleich und darum seid ihr nicht zu erkennen und zu begreifen mit der Vernunft" (1025). Eine solche, über jede .vernünftige' Trennung hinausgehende Verschmelzung von Zukunft und Vergangenheit, Außen und Innen, objektivem und subjektivem Sinn, „Licht" und „Auge", setzt offenkundig einen Zustand utopischer Vollkommenheit voraus, der die Vernunft nicht mehr braucht: „ein gemeinsames Leben mit aller Welt" (...), „unendliche Verflechtungen", „alle zur Seligkeit" gefuhrt, „unsere Welt unendlich" (1025). Und wie die .Ahnungen', diesen Zustand vorwegnehmend, „Licht" und „Auge" zugleich sind, so kennt Arnim auch das Bild eines aus eigener Kraft leuchtenden Auges, wenn von Anton wenig später gesagt wird: Herrlich glänzen deine Augen, wie ich nimmer sie gesehen, weithinleuchtend über die erschreckte Flur und die Feinde, statt zu streiten, beten demutvoll zu dir und bitten dich um Frieden. (1030)

Man kann, blickt man von hier auf Dichtung und Geschichte zurück, in der Tat verfolgen, wie Arnims Erkenntnis- und Dichtungs-Theorie mit dieser antizipatorischen Funktion der wechselseitig sich erhellenden Sinn-Träger „Licht" und „Auge" zusammenstimmt: Wie das Kunstwerk einerseits Text, andererseits das Gesamt seiner Wirkungen und Auslegungen ist, so ist auch das künstlerische .Subjekt' zugleich das .Ich' des einzelnen Dichters wie die Kultur-Gemeinschaft, aus der das Werk hervorgeht und in die es wieder zurückkehrt: wer erst Dichter war, wird nachher Begeisterung (...) eines dritten, und nur die wenigen, die sich der Begeisterung frei überlassen haben, ohne sie beherrschen zu wollen, die bleiben unverwandelt und kommen (...) zum Urquell des höheren Lichtes, das (...) die Theorie einer anderen Welt ist. (II, 449)

So ist der Künstler bald .produktiv', bald .rezeptiv' tätig, er sammelt die Wahrheit, die er erkennt, aber er ist auch ihre Quelle, sofern er sie darstellt und weitergibt; sein Werk muß ständig erneuert und weitergedichtet werden; und in diesem Prozeß spricht sich zugleich nur jene auf erne utopische „andere Welt" gerichtete Allgemein-Kultur aus, die „wir suchen", die „uns sucht" (519). 137

Bedenkt man, daß Arnim in der Anrede an meine Zuhörer von 1812, aus der das obige Zitat stammt, offensichtlich eine für sein Denken sehr bezeichnende, wortspielhafte Verbindung zwischen der „Begeisterung" des Dichters und Lesers und der „freien Kraft" des ethisch geleiteten „Geistes" herstellt (vgl. 450), so ergibt sich wie von selbst auch ein Übergang zu seiner späteren Geschichts-Theorie in Dichtung und Geschichte. Auch der ,Geist' bzw. das .Geistige' ist ,Licht' und empfangendes wie , strahlendes' ,Auge' zugleich.51 Er ist das einzige Organ, das die Wahrheit in allen ihren ,Farben' zu erfassen vermag, auch die des Glaubens und der religiösen Offenbarung, aber zugleich vermag der ,Geist' auch Wahrheit zu postulieren und zu schaffen, z.B. indem er einen Begriff von Sinn und Ziel der Geschichte entwirft; und dieser selbst ist zugleich nur stellvertretende Antizipation, allerdings die einzig legitime, einer geglaubten und erhofften, wirklichen Vollendung der Geschichte, so daß ,das Geistige', welches .allein voll zu verstehen'(vgl. 518), ganz folgerichtig zu einer Form von ,Licht' wird. Denselben Sachverhalt spricht Arnim am Ende des Zweiten Theils aus: Propheten sprechen oft zu uns aus unserm eigenen Munde, an das Unbedeutende heften sie den Blick mit Ahnungen und wir fühlen ein gemeinsames Leben mit aller Welt. (1025)

An die Stelle dieses „Unbedeutenden" nun tritt in Dichtung und Geschichte die Historie. Das dabei verwendete, eigentümliche Bild des Kristalls für die wissenschaftlich-kritische Geschichte hatte in einem Brief vom 26. November 1811 Wilhelm Grimm gebraucht: Die moderne Geschichte unterscheidet sich wesentlich von der alten dadurch, daß sie erstlich scheidet, hernach das Erworbene zusammenfaßt und hart und fest sich formieren läßt, sie wird crystallartig, helldurchsichtig und scharf. (G.167)

51 Vgl. aus der Zueignung von 1812: (über einen Strauch) „so dankbar ist er diesem Licht der Welt, Das ihn erweckt, und färbt und frisch erhält; Doch mehr als Licht ist ihm mein Aug verwandt, Das seinen Sinn im eignen Licht verstand! (11,445); vgl. auch 22,192: „Der Gedanke 1st das Licht, So regiert er alle Wesen", und 22,194: „wie ein Licht, das nun verschwand, (...) so der Geist sich von euch wandt" (aus dem Gedicht Die Staatsbosheit). 138

Wenn Arnim also genau dieses Bild hier aufnimmt, 52 und wenn er erklärt, diese empirische Geschichte lasse sich mit der Kristallkugel im Auge zusammenstellen, die nicht selbst sieht, aber dem Auge notwendig ist, um die Lichtwirkung zu sammeln und zu vereinen; ihr Wesen ist Klarheit, Reinheit und Farbenlosigkeit. Wer diese in der Geschichte verletzt, der verdirbt auch Dichtung, die aus ihr hervorgehen soll, (520)

so will er ganz deutlich aussprechen, daß sein festgehaltener Anspruch auf umfassende Erkenntnis und deren Verwirklichung nicht auf Kosten der wissenschaftlichen Empirie gehen darf; es ist vielmehr umgekehrt: wer „die Geschichte zur Wahrheit läutert", darf gerade diese Wahrheit historischer Forschung nicht verderben. Zugleich aber macht Arnim auch unzweifelhaft deutlich, daß Interesse und Sinn der Geschichte nicht aus dieser selbst kommen, sondern retrospektiv ihr verleihen werden; weshalb in aller Kraßheit die Geschichte für ihn „nicht selbst sieht". Damit freilich verbinden sich, wie immer bei Arnim, sogleich weitere Gedanken. Eine abermalige Parallele zum Roman macht das sichtbar. Am Ende des Zweiten Theils und am Anfang des Nachtrags wird Anton gerade zu der Zeit mit Blindheit geschlagen, als er handelnd in die „größeren Ereignisse" eingreift, „die sich der Welt nahten": während seine Augen „weithinleuchtend" glänzen, „starrte" er „in eine ewige Nacht", seine Feinde „beten demutsvoll" zu ihm, aber er fühlt sich „verlassen von Gott und von der Welt" (1030). Darin zeigt 52 Es findet sich auch in der Gräfin Dolores, wobei der Kontext des Entwicklungsromans, in einer für Arnim bezeichnenden Weise, die Bedeutung des Bildes deutlich verschiebt: es geht um einen Menschen, der „voll böser Erfahrung (...); die Beobachtung, die in ihm erloschen und ausgestorben, sieht durch die Fügung seiner Kristallinse, die das Unglück verknöchert hat, die ewig fortstrebende, durch alle Geschlechter sich fortbildende Welt in Winkel und Abschnitte geteilt" (43), während es doch für jeden auf eigene Erfahrung des immer Neuen in der Welt ankommt. Das Beispiel zeigt zugleich, daß H. Steffens Frage nach einer einheitlichen ,Figur* (der Antithese „von blendendem, äußerem Glanz und höherem, innerem Licht (...) von Schein und Sein, Sinnlichem und Ubersinnlichem", S. 192) der vieldeutigen, extrem variablen und stets auf Realität bezogenen Symbolik Arnims nicht gerecht werden kann. Sie muß aus dem jeweiligen Kontext und seiner je konkreten Thematik heraus gedeutet werden.

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sich nicht nur von neuem, wie bewußt Arnim das nur ,Vor-Scheinende' dieser Zukunftssymbole herausarbeitet, daß sie bedeutsam sind für die Gemeinschaft der Menschen, nicht per se wirksam für das einzelne Individuum. Das Erblinden wird für Anton geradezu zur Voraussetzung höherer Entwicklung: Komme meiner Verhängnisse Gewaltsamstes - da ich der Sonne nicht mehr kann ins Auge schauen, liegt mir ob, was der Sehende nicht vermag, dem Volk vor den Füßen wegräumen, was es bedrängt. (1034) 53

Erst nachdem er durch die Blindheit hindurch zu neuem Sehen gekommen ist, vermag er die mythische Vorbildlichkeit des Königs im Hausmärchen auf neuer Grundlage zu wiederholen und „dem Genius, der auf ein harmonisches Dasein deutet, zu genügen" (1035). Ein, wie ich glaube, für Arnim charakteristischer Gedanke tritt hier, auf das Problem politischen Handelns bezogen hervor, der in Dichtung und Geschichte in genauer Entsprechung erkenntnistheoretisch reflektiert wird; er hatte sich auch sonst immer wieder im Roman gezeigt: im Scheitern Bertholds und in der Abkehr Arnims vom Bildungsroman, in den Parabeln und Allegorien im Hausmärchen, bei der Charakteristik Luthers und der Reformation, beim Tode Antons ,im Vertrauen auf die Krone', auch in den Sentenzen, welche an die „zerstörende und schaffende Hand der Zeit und des Menschen" (591) erinnern. Die realen Antagonismen und Entwicklungen werden immer, nach Arnims Meinung, die Initiativen des Einzelnen, auch und gerade die besten, zwangsläufig negieren. So sind seine Absichten, Hoffnungen und Pläne „blind" gegenüber der empirischen Realität. Und wo sie dann doch verwirklicht werden, wird es immer anders geschehen, als er vorhergesehen hatte. 54 Analog gilt dann für die Erkenntnis bzw. die Dichtung, daß auch die empirischen Fakten die Postulate und Phantasien des

53 Vgl. das Gedicht in Angelika die Genueserin: „O heil'ge Blindheit in der Liebe Sehnen, (...) Da wird mein Irren eine schöne Wahrheit, Und meine Blindheit eine ew'ge Klarheit" (11,670). 54 Vgl. aus Arnims Drama Woldemar, aus dem auch der oben Kap. 4, S. 69 zitierte, politische Tugend-Katalog stammt, die Stelle: „Daß alles so gedeihen sollte wie ich mir gedacht, ist mir in allem meinem Wirken nie erschienen, zum Ziel gelangte ich wohl oft nach dem ich strebte, doch immer auf dem Wege, den ich nicht geahnt" (18,17).

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engagierten Künstlers, und zwar gerade in ihrem ,licht-verklärten' Totalitätsanspruch, aufheben müssen. Auch sie sind in diesem Sinne „blind". Was erreicht werden kann, ist, „in einzelnen erleuchteten Betrachtungen, nie in der vollständigen Übersicht eines ganzen Horizonts" (519), die Erkenntnis des noch nicht Verwirklichten, der „Heimlichkeit der Welt". Auch wenn das in ihr punktuell und vergangen Angeschaute einmal öffentlich beherrschend werden sollte, wird es doch anders aussehen, als es der .Arbeiter auf geistigem Felde' erwarten konnte. Es zeigt sich also erneut Arnims tendenzieller Realismus: die Erkenntnis muß immer wieder durch krisenhafte Negationen ihrer Ansprüche hindurch, um sich zu erneuern. Nur die „härteste aller Prüfungen öffnet (...) das Tor zu einer neuen Welt" (518). So bleibt auch in dieser abschließenden Allegorie der Dichtung und Geschichte durchziehende Dualismus von .Geist' und ,Erde' bestimmend. Nur wird der Geist bzw. ,das Geistige'jetzt durch ,Licht' und ,Auge', die ,Erde' dagegen durch die .Kristallkugel' ersetzt. Das zeigt nun sofort aufs neue jene utopische Dimension, welche allen zentralen Bildern Arnims zukommt. Denn diese neue Form des Dualismus ist zugleich ein antizipatorisches Bild seiner Aufhebung und Verschmelzung. Das Licht ist ja gerade, nach damals weit verbreiteter Meinung, die höchste, gleichsam .vergeistigte', entmaterialisierte Form der Materie, das Medium, in dem die Natur in Geist überzugehen scheint, während umgekehrt im Kristall sich das Wesen des, nun allerdings .geistig' zu sehenden Lichtes am vollsten und reichsten zu .verkörpern' vermag. So hat sich, entsprechend dem Bildfeld von Dichtung und Geschichte, in der vollkommenen Erkenntnis die .Erde' zur Kristallkugel geläutert und der .Geist' zum Licht materialisiert. Freilich wird gerade von diesem Bild aus nochmals der ganze Abstand von Plan und Ausführung deutlich, der die Kronenwächter im ganzen charakterisiert. Dem reinen und zugespitzten Anspruch gegenüber, in dem die Programmschrift Dichtung und Geschichte gipfelt, zeigt sich der realisierte Roman in seinen Brüchen, Spannungen und seinem unruhigen Fragmentarismus auf eine Weise, die wie von selbst an eine Aporie der Arnimschen Dichtungs-Konzeption denken läßt. Daß sie, bei allem immer wieder klar erkennbaren, tendenziellen Realismus, eben doch im ganzen nicht zu realisieren war, scheint 141

andererseits die Allegorie des ,sehens' selbst mittelbar schon mit zu reflektieren: der Erdball als Kristallkugel im Auge des Dichters schon die bloße Vorstellung hat etwas deutlich .Surrealistisches'. Und das zerbrechliche Medium ruft nur zu leicht erneut die Arnimschen Angst-Bilder vom ,Abgrund\ vom ,Riß' und .Sprung' in der Welt herauf.

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