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German Pages 286 Year 2015
Absoluter Wert und allgemeiner Wille
2005-03-07 08-56-41 --- Projekt: T224.pantarei.meyer.gesellschaft / Dokument: FAX ID 01f678195907674|(S.
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Editorial | In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besondere Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat | Prof. Dr. Christoph Hubig, Stuttgart | HD Dr. Volker Schürmann, Leipzig | Prof. Dr. Gerhard Schweppenhäuser, Bozen/Italien | Dr. Michael Weingarten, Marburg | Prof. Dr. Jörg Zimmer, Girona/Spanien | Management | Andreas Hüllinghorst, transcript Verlag
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Edition panta rei |
Lars Meyer Absoluter Wert und allgemeiner Wille Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie
Für Norbert Heitmann (1943–2003)
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft zur Förderung sozialökonomischer Handlungsforschung e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Judith Heckel, Bremen Satz: Lars Meyer, Bremen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-224-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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I NHALT 9
| Danksagung
11 | Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie 11 | Gesellschaftsstruktur und Dialektik 19 | Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus 27 | Überblick über den Argumentationsgang
33 | Subjektivität zwischen Theorie und Gesellschaft 33 | Geist und Gesellschaft von den Anfängen der Neuzeit zu Hegel und dessen Folgen 40 | Die Klassiker der Soziologie: von Comte und Durkheim zu Weber und mit Lukács an die Schwelle einer Kritischen Theorie der Gesellschaft 40 | Die Anfänge der Soziologie und die Soziologien Comtes und Durkheims 45 | Grundzüge und Grenzen des soziologischen Individualismus bei Max Weber 56 | Kapitalismus und Verdinglichung bei Lukács 59 | Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Kritischen Theorie: vom frühen Horkheimer zum späten Adorno 59 | Kultur, Gesellschaft und Ideologie beim frühen Horkheimer 72 | Kritische Theorie in den 1940er Jahren und Soziologie bei Adorno nach 1945
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| Aufgaben und Grenzen der Soziologie Adornos | Individuum und totale Vergesellschaftung | Das Selbstbewusstsein der Gesellschaft zwischen Erfahrung, Deutung und Denken | Ideologie – Falsches Bewusstsein der Gesellschaft | Exkurs: Gesellschaftsstruktur und Ideologie bei Marx
109 | Die Soziologie Adornos 109 | Die Realität der Struktur in der dialektischen Soziologie Adornos – Zu Adornos Phänomenologie der Produktionsverhältnisse 121 | Gegenstand und Mehode der Soziologie Adornos 121 | Begriff und Sache 132 | Erfahrung und Begriff 138 | Exkurs: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zwischen Philosophie und Soziologie 144 | Soziologische Deutung – Die deutende Reflexion als Phänomenologie der Verkehrung 152 | Gesellschaft als Totalität 159 | Deutung als Methode der Kritik 165 | Adornos Kritik der Soziologie 165 | Adornos Kritik an der handlungstheoretischen Soziologie Max Webers 170 | Adornos Kritik an Durkheims strukturalistischer Soziologie
175 | Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung bei Luhmann und Habermas und die durch Marx eröffnete Perspektive der Auflösung 175 | Soziale Differenzierung bei Hegel und Parsons 175 | Hegels Theorie des objektiven Geistes 179 | Soziale Differenzierung bei Parsons 192 | Einheit und Gesellschaftsstruktur in der Theorie von Luhmann als Emergenz von Kommunikation und funktionaler Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme 192 | Der interventionsstaatliche Erfahrungsgehalt der Systemtheorie der Gesellschaft 202 | Aporien des systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffs (Differenzierungskonstrukt und Subjektaporie, Übergeneralisierungszwang und Scheinableitungen) 210 | Die Beobachtungsaporie der Systemtheorie
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221 | Gesellschaftliche Objektivität als Entkopplung von System und Lebenswelt und funktionalistische Vernunft in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas 221 | System und Lebenswelt 224 | Die Erfahrung der Krise des Interventionsstaats und die Hinwendung zur politischen Theorie 228 | Entkopplung von System und Lebenswelt und funktionalistische Vernunft – Der aporetische Auflösungspunkt der Habermasschen Theorie der Moderne 236 | Der ökonomisch-politische Doppelcharakter der modernen Gesellschaftsstruktur aus der Perspektive von Marx 236 | Dimensionen gesellschaftstheoretischer Begriffsbildung bei Marx 240 | Grundbestimmungen des Marxschen Objektivitätsbegriffs im Kontext der frühen Marxschen Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie 247 | Staat, Gesellschaft, Religion – Zur impliziten Kritik der Vorstellung multizentrischer gesellschaftlicher Differenzierung bei Marx
253 | Absoluter Wert und allgemeiner Wille – Preisform und Rechtsform als Strukturprinzipien moderner Gesellschaften 253 | Preisform und absoluter Wert 263 | Rechtsform und allgemeiner Wille
273 | Literatur
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D ANKSAGUNG Ich möchte denjenigen Personen danken, ohne die dieser Text nicht zustande gekommen wäre: Helmut Reichelt, Hanno Pahl, Colin Böttger sowie Melanie Rippe und meinen Eltern Annegret und Norbert Heitmann. Mein Vater hat die Veröffentlichung dieses Textes leider nicht mehr miterleben können. Ihm widme ich dieses Buch.
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E INLEITUNG . E INE KURZE STANDORTBESTIMMUNG DIALEKTISCHER S OZIALTHEORIE Gesellschaftsstruktur und Dialektik Die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ist geprägt von der Ausbreitung und Entwicklung der Arbeitsteilung, die sich als treibende Kraft eines vielschichtigen sozialen Umwälzungsprozesses erweist. Die Industrialisierung der Arbeitsteilung geht ebenso mit der krisenhaften Verbreitung der Geldwirtschaft, der Durchsetzung von Eigentumsasymmetrien und der Zuspitzung von Klassenauseinandersetzungen (›Soziale Frage‹) wie mit der fortschreitenden rechtlich-politischen Emanzipation der Lohnarbeiter einher. Der diese allmähliche Integration der Arbeiterklasse bewerkstelligende Nationalstaat etabliert sich politisch durch Imperialismus nach außen und Interventionismus und Sozialgesetzgebung nach innen. Zugleich bilden sich in dieser Phase eine Fülle neuer Lebensstile, Lebensformen, Weltanschauungen und Wertorientierungen heraus. Begleitet werden diese ambivalenten sozialen Entwicklungen überdies von der Differenzierung der wissenschaftlich-akademischen Fachdisziplinen. So entsteht neben den klassischen Disziplinen der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Theologie, der Rechtslehre und der Politischen Ökonomie eine weitere Teildisziplin: die Soziologie. In ihren französischen und englischen Anfängen bei Comte, Durkheim und Spencer sind deren charakteristische Themen die Entstehung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und des Fortschritts, der soziale Charakter der fortschreitenden Individualisierung oder das Verhältnis von sozialer Differenzierung und sozialer Integration. Im Unterschied zu den ihr vorausgehenden spezialisierten Fachdisziplinen macht sich die Soziologie den vielschichtigen ökonomischen, juristisch-politischen und sozialen sowie kulturellen Entwicklungsprozess im Ganzen zum Gegenstand eines anti-spekulativ intendierten Erkenntnisfortschritts.
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Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
Die Soziologie ist im Zuge der Herausbildung und Differenzierung ihrer Fragestellungen und ihrer akademischen Etablierung in zwei Lager auseinandergefallen: eine individualistische Handlungstheorie auf der einen sowie einen objektivistischen Strukturalismus auf der anderen Seite (vgl. Ritsert 2000: 13ff.; Vanberg 1975). Während die einen die Begriffe der Gesellschaft und der Struktur als Grundbegriffe ihrer Disziplin, insofern mit diesen eine Art existierender, eigenstrukturierter Überindividualität bezeichnet werden soll, als sinn- weil gegenstandslos ablehnen, insistieren die anderen auf die Existenz eines gesellschaftlichen Zusammenhangs im Sinne einer objektiven, dem individuellen Handeln vorgeordneten Gesellschaftsstruktur.1 Die zu belegende Kernthese der nachstehenden Argumentation lautet, dass der in einem emphatischen Sinne als Gesellschaftsstruktur zu bezeichnende Sachverhalt, die Kernstruktur des sozialen Lebenszusammenhangs, mit der Faktizität einer Verselbständigung von Verhältnissen, einer spezifischen Gestalt der ›Verselbständigung der Produktionsbedingungen gegenüber den Produzenten‹ (vgl. MEW 25: 838), gegeben ist, die sich als identisch mit der politisch-ökonomischen Doppelstruktur moderner Vergesellschaftung erweist. Die krisenhafte Reproduktionsdynamik dieser ökonomischpolitischen Kernstruktur der Gesellschaft realisiert sich im Medium der gesellschaftlichen Strukturprinzipien des Geldes, das die Existenz eines absoluten Werts notwendig voraussetzt, und des kodifizierten Rechts, das seinerseits auf die Existenz eines allgemeinen Willens verweist. Diese Formen der allgemeinen Austauschbarkeit und der kodifizierten allgemeinen Anerkennung der vereinzelten 1 | Die systematische Ablehnung eines emphatischen Strukturbegriffs findet sich traditionell in der Neukantianischen Soziologie bei Max Weber und Georg Simmel. Das im Rahmen der neo-klassischen Ökonomie von Schumpeter formulierte Programm des Methodologischen Individualismus liegt den modernen soziologischen Handlungstheorien vom Zuschnitt der Rational Choice Theorie zugrunde (siehe exemplarisch Coleman 1990, Esser 1993, Weede 1992). Deren paradigmatischen Kern bildet die systematische Reduktion von sozialen Phänomenen, die der Makroebene zuzurechnen sind (Institutionen, nicht-intendierte Folgen des Handelns), auf das intentionale Handeln und die psychischen Dispositionen von monadischen Individuen (›reductio ad hominem‹). Demgegenüber wird ein emphatischer Gesellschaftsbegriff, das bedeutet der Begriff einer den Individuen vorgeordneten Struktur, klassischerweise von Marx, Durkheim, der Kritischen Theorie, zeitgenössisch von Luhmann, aber auch Habermas vertreten.
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Einzelnen als Rechtspersonen kennzeichnen die basalen Gestaltun- Gesellschaftsgen sozialer Einheit, ohne die die Konstitution und Reproduktion struktur und struktureller, sowohl voneinander als auch in sich selbst differen- Dialektik zierter ökonomischer und politischer Herrschaftszusammenhänge undenkbar wären. Diese Auffassung müsste dem zeitgemäßen sozialwissenschaftlichen Verstand in doppelter Hinsicht als Provokation erscheinen. Denn zum einen deuten die Begriffe des absoluten Werts wie des allgemeinen Willens auf Erkenntnisgegenstände hin, die sich jenseits des monadisch eingekapselten Bewusstseins einzelner, sprach- und handlungsfähiger Individuen formieren und die somit auf die Existenz einer Sphäre genuiner Gesellschaftlichkeit verweisen; in den Formen des Geldes und des Rechts erscheint die Einheit der besonderen Einzelnen in selbständiger Gestalt. Zum anderen dürfte die diesen Formen der gesellschaftlichen Objektivität im Hinblick auf die Struktureigenschaften der modernen liberal-kapitalistischen Gesellschaft zugesprochene Exklusivität dem weitverbreiteten, sich in Kategorien einer multizentrischen gesellschaftlichen Differenzierung bewegenden Denken zuwiderlaufen. Und auch die kommunikationstheoretische Variante der soziologischen Differenzierungstheorie, wie sie von Habermas ausgeführt wurde, die zwar ihrerseits grundsätzlich am strukturbildenden Dualismus von Ökonomie und Politik festhält, dürfte sich an dieser Auffassung stoßen, insofern nämlich das Recht im Rahmen der nachstehenden Argumentation jenen Platz besetzt, der in der Theorie des kommunikativen Handelns dem Phänomen der ›Macht‹ zugewiesen wird. Die Bestimmung der beschriebenen Konstellation als das eigentliche Objekt der gesellschaftstheoretischen Reflexion fällt dabei mitnichten einem in letzter Konsequenz subjektiven theoretischen Erkenntnisinteresse anheim, sondern, so die These weiterhin, die Gesellschaft selbst präsentiert sich einem sozialtheoretischen Bewusstsein, das seinen Entstehungskontext auszuweisen in der Lage ist, immer schon in dieser Weise. Dem muss die gesellschaftstheo retische Reflexion Rechnung tragen: will die Soziologie/Gesellschaftstheorie ihr objektives Telos nicht unterlaufen und ihren theoriekonstitutiven Gegenstand verfehlen, dann muss die Theorie als Theorie ihren Gegenstand als eine existierende politisch-ökonomische Objektivität konzipieren. Insofern diese Einheit und Objektivität des gesellschaftstheoretischen Gegenstandes nicht verabsolutiert und ontologisiert werden darf, muss die Struktur der Gesellschaft zugleich als Resultat des sozialen Handelns wie als dessen Voraussetzung gedacht werden. Die Existenz des vereinzelten einzelnen Nutzenmaximierers (›homo
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Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
oeconomicus‹) erscheint somit nicht länger als eine anthropologische Bestimmung des Menschen überhaupt, sondern als eine wesentliche Erscheinungsform der verselbständigten Struktur der Gesellschaft. Und auch die Freiheit und Gleichheit von Rechtsperson und Staatsbürgersubjekt offenbaren so ihren historisch-strukturellen Kern. Das strategisch-rationale wie auch das politische Individuum sind gleichermaßen Produkte der Neuzeit. Schließlich sind auch die individualistischen Gestalten von Moral und Glauben nur als Bestimmungen des qua Einbindung in den politisch-ökonomischen Verkehrungszusammenhang als Bourgeois und Citoyen gedoppelten Menschen zu denken. Diese nachmetaphysische Denkbewegung einer genuin gesellschaftlich konstituierten Individuierung wurde, im Zuge der vom Denken Thomas Hobbes’ aus betrachtet nunmehr über dreihundertfünfzig Jahre andauernden Herausbildung theoretischer Selbstreflexionsformen der Gesellschaft, seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Linie der dialektischen Gesellschaftstheorie geleistet. Diese Linie reicht von Marx bis in den ›Westlichen Marxismus‹ zur Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno. Im Zentrum der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie von Marx steht das der materialistischen Geschichtsauffassung konträre Programm, »die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen« (MEW 25: 839; Hvm). 2 An anderer Stelle hat Marx sein Wissenschaftsprogramm der Darstellung wie folgt charakterisiert: »Die Arbeit, um die es sich handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben«. 3 Marx spricht auch von »the first attempt at applying the dialectical method to Political Economy« (MEW 31: 378). Die »dialektische Entwicklungsmethode« (MEW 31: 313) ist dabei selbst unexpliziert geblieben. Erschwerend kommt bei der Lektüre des Kapitals hinzu, dass Marx angibt, die Methode in den Schriften seit 1859 zunehmend versteckt zu haben (vgl. MEW 30: 207).4 Die jüngeren Rekonstruktionsbemühungen um die Kritik der politischen Ökonomie ha2 | Die Marxsche Ökonomiekritik hat es dabei »mit der gewordnen, auf ihrer eigenen Grundlage sich bewegenden bürgerlichen Gesellschaft zu tun« (MEW 42: 164). 3 | Marx an Kugelmann, 22. Februar 1858 (zit. nach Reichelt 1999: 14). ›Ökonomische Kategorien‹ sind die realen Formen der Ware, des Geldes, Profits, Zinses, Arbeitslohns etc. 4 | Zum Verstecken der Methode siehe Reichelt 1996, Backhaus 1998.
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ben jedoch überzeugend gezeigt, dass Marx mit seiner Ökonomie- Gesellschaftskritik das Ziel verfolgt, die Realität des Systems der politischen Öko- struktur und nomie auf dem Wege eines genetischen Nachvollzugs der Logik ei- Dialektik ner stufenweise und schließlich gesetzmäßig sich reproduzierenden Verselbständigung des ökonomischen Werts nachzuweisen.5 Die ausgewiesenen strukturellen sozialökonomischen Mechanismen greifen demnach nachweislich und konstitutiv durch das bewusstintentionale Handeln hindurch. Sie produzieren die Vereinzelung der Individuen ›hinter deren Rücken‹ und produzieren das Bewusstsein der Individuen, das die Gestalt einer sich selbstverabsolutierenden Subjektivität hat, als ein ›notwendig falsches‹. Der im Rahmen der wert- bzw. kapitaltheoretischen Analyse rekonstruierte strukturelle Prozess der Verselbständigung des Werts – des nachweislichen inneren und notwendigen Zusammenhangs jener besagten ›ökonomischen Kategorien‹ im Kontext eines eigendynamischen Systems ineinander greifender Kapitalkreisläufe – ist die Bedingung der Möglichkeit der Herausbildung einer differenzierten und autonomen Ich-Identität. Der Marxsche Gedanke eines Ineinandergreifens von Individualisierung und Strukturbildung wird in der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno aufgegriffen.6 Insbesondere die dialektische Theorie der Gesellschaft, wie sie von Adorno v.a. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgetragen wurde, legt diese Marxsche Theorie zugrunde, verfolgt jedoch in materialer Hinsicht ein anderes, umfassenderes Programm als die Marxsche Ökonomiekritik: die Kritische Theorie Adornos zielt darauf ab, die historische Entwicklung sozialer Phänomene wie soziale und bürokratische Organisationen, soziale Konflikte, Familienstrukturen, Massenkultur, die Bildung sozialer Gruppen, ferner die Entwicklung kollektiver Verhaltensweisen und sozialer ›Wertorientierungen‹ und Normen sowie die Dynamik der Individualisierung mit der Einsicht zusammenzubringen, dass das von Marx analysierte System der politischen Ökonomie seinem eigenen Begriff nach allein als expandierendes zu existieren vermag. Die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft verläuft in dieser Hinsicht aus der Sicht der Soziologie Adornos historisch über eine Reihe intermediärer sozialer Instanzen, die den engeren Horizont der monetär-ökonomischen und rechtlich-politischen Handlungsformen überschreiten.7 Infolge einer Explikation struktu5 | Siehe Backhaus 1997, 1998, 2000; Heinrich 2001; Reichelt 1996, 1999, 2002; kritisch dazu Haug 2003a, 2003b; Rakowitz 2004. 6 | Programmatisch in Horkheimers Aufsatz Traditionelle und Kritische Theorie (vgl. Horkheimer 1937).
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reller Vermittlungen erweist sich die Autonomie bzw. Eigenlogizität sowohl des Individuums als auch spezifischer historischer sozialer Phänomene (›Gruppe‹, ›Institution‹, ›Organisation‹ etc.) als ›Schein‹. Kurzum: Adornos Soziologie ist Theorie der Moderne. Ihr Programm ist der Nachweis, dass sich die Formen und Inhalte institutionellen und sozialen Wandels sowie der Individualisierung zunehmend nach Maßgabe der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Verwertungsprozesses, als Momente eines objektiven Irrationalisierungsprozesses bilden. Mit einem solchen dynamischen Begriff der Gesellschaft unterscheidet sich die Adornosche Konzeption deutlich vom Basis-Überschau-Schema im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung. Das gesellschaftstheoretische Denken der Kritischen Theorie der Gesellschaft, wie es von Adorno insbesondere seit Mitte der 1950er Jahre vorgetragen wurde, rekurriert explizit und systematisch auf die Kategorien der dialektischen Philosophie Hegels. Die Hegelsche Philosophie stellt für Adorno den elaboriertesten kategorialen Rahmen für die theoretische Analyse gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge dar. Adorno hat nachdrücklich die Strategie verfolgt, die spekulativen Kategorien und Denkfiguren der Hegelschen Philosophie in ihren gesellschaftlichen Grund ›zurückzuübersetzen‹. Adornos Auffassung zufolge sind die philosophischen Theorien, Theoreme und Kategorien auf einen ihnen immanenten, sich selbst undurchsichtigen gesellschaftlichen Erfahrungsgehalt hin zu lesen, nämlich den verselbständigten Reproduktionszusammenhang des Kapitalismus selbst. Unter diesem Gesichtspunkt liest Adorno explizit die Theorien etwa von Kant und Husserl und eben auch die spekulative Philosophie Hegels. 8 Hegels Philosophie gilt Adorno dabei als das ›dämmernde kritische Bewusstsein der Gesellschaft von sich selber‹: »Die Hegelsche Selbstreflexion des Subjekts im philosophischen Bewußtsein ist in Wahrheit das dämmernde kritische Bewußtsein der Gesellschaft von sich selber. Das Motiv des Widerspruchs, und damit das einer dem Subjekt hart, fremd, zwangvoll gegenübertretenden Wirklichkeit […] gilt allgemein als das Gesamt7 | In den während der 1950er Jahre erschienenen Soziologischen Exkursen wird das Phänomen der sozialen ›Gruppe‹ als Beispiel für die Existenz von »Zwischeninstanzen« (SE: 115), durch die sich die Individuen in die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs einfügen, angeführt. 8 | Diese Programmatik betont Adorno sowohl in seiner Vorlesung über Kant (1959) als auch in der Metakritik der Erkenntnistheorie (vgl. A 5).
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prinzip seiner Philosophie. Nach ihm trägt die dialektische Methode Gesellschaftsihren Namen. Aber gerade es erheischt die Übersetzung in die gei- struktur und stige Erfahrung, die es ausspricht. […] Unausweichlich also die Fra- Dialektik ge, woher Hegel eigentlich das Recht nahm, was immer dem Gedanken begegnete, und den Gedanken selbst, dem Prinzip des Widerspruchs zu beugen« (A 5: 313). Die Kategorien der Hegelschen Philosophie sind nach Auffassung Adornos rückzuübersetzen in die mit dem kapitalistischen Strukturzusammenhang gegebene Logik der Verkehrung jener ökonomischen Strukturgesetze der Gesellschaft, die sich durch das bewusste Handeln der vereinzelten Einzelnen und die Dynamik des von ihnen geschaffenen und ihnen gegenüber verselbständigten institutionellen Zusammenhangs hindurch reproduziert. Diesen Sachverhalt kann Adorno mit Recht als ›Verdinglichung‹ bezeichnen, oder in philosophischer Terminologie ausgedrückt: die ›Einheit‹ der Individuen tritt diesen in ›entfremdeter‹ Gestalt gegenüber, wo bei sich die ›Entfremdung‹ – das existierende ›Allgemeine‹ – allein in Gestalt der ›Einzelheit‹ der besonderen Individuen, d.h. als Prozess der Vereinzelung, zu reproduzieren vermag. In der dialektischen Sozialtheorie wird das Allgemeine nicht als Substanz vorgestellt, sondern als Bewegung der beständigen Vermittlung der verselbständigten Einheit der Gesellschaft durch das Einzelne und Besondere gedacht. Die dialektische Theoriebildung wird forciert als Darstellung einer objektiven Verkehrungsstruktur, in der die sich im sozialen Handeln individuierenden und individualisierenden Individuen einen immer dichter werdenden gesellschaftlichen Zwangszusammenhang produzieren.9 Die DeTranszendentalisierung des Allgemeinen nimmt hier eine abschlusshafte Form an, denn es sind die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie, die den sozialen Wandel antreiben und es ist nicht die Durchsetzung eines universalgeschichtlichen Makrosubjekts im Sinne einer ›instrumentellen Vernunft‹. Dieser spezifische, dialektische Begriff der Gesellschaft impliziert eine ebenso spezifische Form der Kritik an konkurrierenden wissenschaftlichen Paradigmen. Die Kritik der objektiven Verkehrungslogik des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs wird in den soziologischen Schriften Adornos, analog zur Konzeption der Marxschen Ökonomiekritik, ideologiekritisch ergänzt, insofern den 9 | Wird Gesellschaft als rein symbolischer Zusammenhang gefasst, dann kann der Vorgang der gesellschaftlichen Individuierung als lediglich intersubjektiv vermittelter Vorgang ausgewiesen werden. Der soziologische Rekurs auf einen dialektischen Begriff der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem erscheint dann zugleich als unsinnig.
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Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
Kategorien der Sozialtheorie keine bloße ›Wahlverwandtschaft‹ mit sozialen Interessen attestiert wird, im Sinne etwa der Wissenssoziologie Mannheims oder Schelers, sondern sie vielmehr als Gestalten eines ›notwendig falschen Bewusstseins‹ ausgewiesen werden. So werden die struktur- und handlungstheoretischen soziologischen Formen der Selbstreflexion der Gesellschaft analog zur Marxschen Kritik der klassischen Ökonomen und der Vulgärökonomen als falsche Reflexionsformen betrachtet, die den gesellschaftlich erzeugten Schein der Unmittelbarkeit nicht als einen ›notwendigen Schein‹ zu durchschauen vermögen. Das konstitutive ideologische Moment der Theorie besteht demzufolge darin, dass der mit der Selbstverabsolutierung von neuzeitlicher Subjektivität gesetzte Schein der Autonomie und Unabhängigkeit des Individuums nicht als ein solcher durchschaut, sondern unkritisch vorausgesetzt wird. Dabei schließt die an der Marxschen Kritik der nationalökonomischen Autoren ebenso wie an der Hegelschen Kant-Kritik geschulte Adornosche Kritik soziologischer Theoriebildung einen spezifischen, über die Argumentation von Marx hinausgehenden sozialtheoretischen Begründungsmodus mit ein. Analog seiner de-ontologischen Interpretation der Philosophie liest Adorno auch die konkurrierenden soziologischen Paradigmen auf ihren Erfahrungsgehalt hin. Im Positivismusstreit werden Handlungstheorie und Strukturtheorie so als sich selbst undurchsichtige Artikulationen der Erfahrung verselbständigter Gesellschaftlichkeit dargestellt, die die Wirklichkeit der Gesellschaft verfehlen. Noch in ihrer spezifischen Einseitigkeit und Gegensätzlichkeit stellen individualistische und kollektivistische Soziologie demnach Erfahrungsgehalte des historischen Modus kapitalistischer Vergesellschaftung dar.10 Dialektische Sozialtheorie, wie sie in der Marxschen Ökonomiekritik und in der Kritischen Theorie vorliegt, ist Theorie realer Ver10 | Adorno hat demgegenüber den Marxschen Theorietypus als ›Konstitutionstheorie‹ der Ökonomie charakterisiert. Marx gehe es »nicht um die Deskription der Marktgesellschaft, sondern es wird nach den Konstituentien der Erfahrung gefragt und eine Kritik dieser Kategorien des Wirtschaftens gegeben. Dieser Ansatz ist der tiefere; der Ansatz der es ermöglicht, daß von der Realität mehr zum Ausdruck kommt, geht vom Konstitutionsproblem aus. Es geht darum, ob die Konstituentien der Totalität ergriffen werden können« (B: 512). Insofern Adorno Sozialtheorie als Selbstreflexion einer realen Verselbständigung begreift, bewegt er sich auf der meta-theoretischen Ebene des ›Begriffs des Begriffs‹ bzw. einer ›Reflexion der Reflexion‹.
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selbständigung. Geht es Marx in seiner Ökonomiekritik noch allein um die theoretische Rekonstruktion der Gesetze der Verselbständigung, so fragt Adorno mit seiner Konzeption der Soziologie nach der sozialen Wirklichkeit dieser Gesetze. Zugleich aber erlaubt die Soziologie Adornos qua ihres meta-theoretischen Reflexionsniveaus über die Kritik der Soziologie noch ein Weiteres: die Formulierung und Selbstbegründung eines nicht-reifizierenden Begriffs der Einheit und Struktur der Gesellschaft, d.h. der Wirklichkeit der Struktur als einer politisch-ökonomischen Doppelstruktur, deren Strukturprinzipien – Bewegungsformen – allein in den Formen des absoluten Werts und des allgemeinen Willens auszumachen sind; also die Präzisierung und wissenschaftskritische Rückversicherung des mit der Kritik der politischen Ökonomie anvisierten gesellschaftstheoretischen Strukturbegriffs.
Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus Einmal von dem grundsätzlichem Argument abgesehen, dass es, laut Adorno, letztlich die Struktur des soziologischen Objekts selber sei, die zu dessen ›dialektischer Selbstreflexion‹ nötige (vgl. A 8: 179, vgl. auch E: 69f.), lassen sich sowohl dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Gesellschaft als auch dem gegenwärtigen Stand ihrer gesellschaftstheoretischen Selbstreflexion weitere gute Gründe für den Rekurs auf eine dialektische Theorie der Gesellschaft entnehmen. Durch die Soziologie verlaufen noch immer die tiefen Gräben zwischen Gesellschaftstheorie und empirischer Forschung sowie zwischen Strukturtheorie und Handlungstheorie.11 Angesichts dieser unter ihren eigenen Voraussetzungen scheinbar unauflöslichen Gegensätze verlegt sich die Soziologie mittlerweile, korrespondierend mit den Wahrheitsbegriffen konstruktivistischer oder poststrukturalistischer Philosophie, auf einen Pluralismus ihrer Ansätze und Methoden (vgl. Barlösius et. al. 2001: 22ff.). Ziel ist weniger eine möglichst gegenstandsadäquate und empirische Forschungen anleitende Gesellschaftstheorie, sondern praktiziert wird vielerorts ein forschungsstrategischer Pragmatismus, der seine Aufgabe in der Bereitstellung von Steuerungs-, Rationalisierungs- oder Integrationswissen sieht.12 Damit einhergehend steht universalistisch ori11 | Eine gute Übersicht über den derzeitigen Stand soziologischer Theoriebildung findet sich bei Joas/Knöbl 2004: 726ff.
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Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus
Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
entierte Gesellschaftstheorie gegenüber dem Anspruch von ›Theorie mittlerer Reichweite‹ (vgl. Merton 1967) eher niedrig im Kurs (vgl. Müller 2001: 54ff.). So setzt sich gegenwärtig, indem vielerorts die ›Krise der Soziologie‹ konstatiert wird, eine lange Tradition soziologischer Selbstunzufriedenheit fort.13 Gegenwärtig finden sich Befunde hinsichtlich des Standortes der Soziologie wie etwa der, die Soziologie stehe »mit dem Rücken zur Wand, weil sie sich ihres Grundbegriffs unsicher geworden ist […]« (Bude 2001: 66). Die Nutzung ihrer vermeintlich »letzte[n] Chance« (DGS 2003) sieht die Soziologie jedoch offenbar an anderen Orten angesiedelt als auf der Ebene einer aufgeklärten, auf die Re-Thematisierung ihrer Grundbegriffe gerichteten Grundlagenforschung.14 Dabei stößt die soziologische bzw. gesellschaftstheoretische Kategorienbildung auf einen hochdynamischen Gegenstand. Dieser verändert sich in einer Art und Weise, mit der sich die Diskrepanz zwischen Gesellschaftsentwicklung und den etablierten Kategorien und Methoden der soziologischen Erkenntnisproduktion stetig zu vergrößern scheint. Im Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung stehen die vielzitierten Mega-Trends der ›Globalisierung der Wirtschaft‹ sowie die ›Transformation‹ und ›Krise‹ des National- und Wohlfahrtsstaats.15 Mit der Restrukturierung des ›globalen Kapitalismus‹ haben sich in den vergangenen dreißig Jahren stetig zunehmende und weitge12 | Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) versteht seine Aufgabe folgendermaßen: »Die Arbeiten am MPIfG richten sich auf eine empirisch fundierte Theorie der Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung vor dem Hintergrund der Internationalisierung und ökonomischen Globalisierung« (siehe in der Selbstbeschreibung des Profils des MPIfG, unter: www.mpi-fg-koeln.mpg.de/; Hvm). 13 | Siehe die deutsche Diskussion der letzten Jahre; die Diskussion der Sektion ›Soziologische Theorie‹ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, unter: www.soziologie.de, ebenso die Diskussion in der Zeitschrift von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) herausgegebenen Zeitschrift Soziologie, an der sich u.a. namhafte Vertreter des Fachs wie Dirk Baecker und Hartmut Esser beteiligt haben (vgl. Soziologie, Heft 4/ 2002ff., Horst Kern, Die Wiederkehr der Soziologie, unter: www.unigoettingen.de/de/text/210.html). 14 | Der gegenwärtige stattfindende Diskurs über die Krise des eigenen Faches geht in der BRD einher mit der De-Institutionalisierung der Soziologie. 15 | Einen Einblick in die Themenfelder des aktuellen sozialen Wandels liefern die Beiträge in Beerhorst/Demirovic/Guggemos 2003.
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hend unbestrittene quantitative ökonomische Eigentumsasymmetrien herauskristallisiert. Das ›goldene Zeitalter‹ des sogenannten Fordismus und Wohlfahrtstaats hat sich angesichts dessen sowie angesichts zunehmender Krisen als ebenso kurzlebig wie auf bestimmte Teile der kapitalistischen Zentren beschränkt erwiesen. Zugleich erhält der kapitalistische Weltmarkt seit Ende der 1980er Jahre hinsichtlich der Erweiterung von Absatzmärkten sowie den Möglichkeiten der ›Internationalisierung der Produktion‹ neue Impulse durch die bürgerliche Restauration in den so genannten postkommunistischen Gesellschaften des ehemaligen sozialistischen Staatenblocks. Der Begriff des industriellen Kapitalismus hat infolgedessen noch nie eine annähernd vergleichbare empirisch-historische Wirklichkeit wie beim gegenwärtigen Entwicklungsstand privater Eigentumsverhältnisse gehabt. Im Zuge der Restrukturierung des ›globalen Kapitalismus‹ erschließt sich das Kapital neue Verwertungsquellen und bringt neue Produktionszweige hervor. So werden etwa ›die Natur‹ und ›das Wissen‹ in Gestalt der ›Life Industries‹ oder im Zuge der Kommerzialisierung des Internets (›E-Business‹) und der damit verbundenen Reformulierung des Urheber- und Patentrechts in einem kaum geahnten Ausmaß zum Gegenstand von privaten Eigentumsverhältnissen.16 Die Hoffnungen eines neuen ›goldenen Zeitalters‹ haben im Zuge der Krise der New Economy, insofern etwa der so genannte ›Neue Markt‹ de facto in Gänze verschwunden ist, seit der Jahrtausendwende allerdings eine Bruchlandung erlitten. Mit der Restrukturierung des kapitalistischen Weltmarkts verändert sich die Arbeitsorganisation in spezifischer Weise, wenngleich mit den Formen des post-tayloristischen Managements (›Indirekte Steuerung‹, ›Wissensmanagement‹) keineswegs die innerorganisationalen Herrschaftsstrukturen oder gar die »Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und vom Produkt« (Denninger 1973: 146) verschwinden. Der Wandel der Arbeitsorganisation mittels Strategien des post-tayloristischen Managements führt zur ›Subjektivierung der Arbeit‹ und zu ihrer ›Entgrenzung‹. Die ›Subjektivierung‹ und ›Entgrenzung‹ der Arbeit – die ›Erosion des Normarbeitsverhältnisses‹ – gehen ihrerseits mit der Veränderung familiärer Identitäten und Lebensformen einher. Nicht zuletzt nehmen 16 | »Mit diesem Kommodifizierungsschub entsteht ein ›ökologischer Kapitalismus‹ und ein ›Wissenskapitalismus‹, der das Management von Naturressourcen und die Aneignung ›intellektuellen Eigentums‹ zu einem zentralen Gegenstand unternehmerischer Verwertungsstrategien macht […]« (Hirsch 2002: 104).
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Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus
Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
individuelle Pathologien in diesem Prozess offenbar eher zu als ab.17 Die so nur grob skizzierten ökonomischen Transformationsprozesse wurden seit den 1970er Jahren politisch forciert, und sie werden flankiert von einem Wandel staatlicher Institutionen. Neuere Begriffe wie jene des ›aktivierenden Staats‹ oder der ›Governance‹ (›institutionelle Steuerung‹) kennzeichnen eine Entwicklung, die bspw. mit der Privatisierung bzw. Teilprivatisierung (›Public-Private-Partnership‹) von Bildung, sozialer Sicherung oder Wissenschaft dem Kapitalismus neue Reproduktionsmöglichkeiten erschließt. Zu den Strategien der ›Aktivierung‹ zählt ebenfalls, dass die StaatsbürgerInnen per Gesetz in die sogenannte ›Eigenverantwortung‹ gezwungen werden. Die Verzahnung der Individuen mit den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen wird dabei durch deren post-tayloristische Restrukturierungsstrategien (vgl. Engemann 2003: 131ff.) keinesfalls aufgelöst.18 Das Prinzip der institutionell forcierten Selbstorganisation gesellschaftlicher Akteure erweist sich als probates Mittel zeitgemäßen Regierens. Die Restrukturierung staatlicher Institutionen wird nunmehr immer seltener nach Maßgabe normativ-demokratischer Kriterien begründet, sondern offensiv von der Existenz kapitalistischer Sachzwänge abhängig gemacht. Hatte Hegel den vorindustriellen Kapitalismus mit einem um sich schlagenden wilden Tier verglichen, das es mittels staatlicher Gewalt zu bändigen gelte (vgl. Negt 1974: 46f.), so ist zumindest das politische Bewusstsein in der heutigen Situation in Bezug auf die Eigendynamik der Ökonomie um einiges auf- und abgeklärter. Bildung, Familie oder Migration werden gegenwärtig unter Verweis auf die Alternativlosigkeit des politischen Handelns stetig widerspruchsloser und konsequenter unter dem Kosten-Nutzen-Gesichtspunkt für die nationale Ökonomie restrukturiert. Erkämpfte soziale und politische Freiheitsgewinne (Gleichstellung der Geschlechter, Soziale Sicherung, Asylrecht, Reformuniversität) erweisen sich als nationalökonomisch – standortpolitisch – dysfunktional und werden staatlicherseits eingeschränkt bzw. verwertungskonform restrukturiert.19 17 | Siehe dazu etwa die gewerkschaftliche Kampagne ›Arbeit ohne Ende‹ oder die Arbeiten in Heide 2002. 18 | Zu denken ist auch an überwachungsstaatliche Implikationen des ›Nationalen Wettbewerbsstaats‹ (Hirsch 2002). Stichworte sind hier etwa Biometrik, Genetischer Fingerabdruck, Lauschangriff, Rasterfahndung, Überwachung im öffentlichen Raum, Offenlegungspflichten im Zuge der Bewilligung von staatlichen Transferleistungen etc.
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In welchem Verhältnis steht diese in groben Zügen skizzierte Dynamik der gesellschaftlichen Individuierung zu den konkurrierenden Gesellschafts- und Strukturbegriffen der Soziologie? Die Moderne wurde in der Gesellschaftstheorie, von ihren Anfängen bei Comte bis in die Gegenwart in der soziologischen Systemtheorie, wenngleich auch mit erheblich unterschiedlichen systematischen Implikationen, als ›System‹ ausgewiesen. Gesellschaft ist auch für Adorno unter Rekurs auf Marx wesentlich ›System‹. Und dieses ›System‹ ist Adorno zufolge in sich bestimmt als das Ineinandergreifen einer strukturell notwendigen und insofern objektiv gesetzmäßig verlaufenden Expansion des Tauschverhältnisses und einer damit korrespondierenden politisch-institutionellen Zwangsindividualisierung der Individuen (›Verwaltete Welt‹). Das mit dem fordistischen Interventionsstaat erreichte Niveau der sozialen und institutionellen Differenzierung der kapitalistischen Gesellschaft und die damit einhergehenden Gestalten der Individualisierung begreift Adorno als ›Totalität‹. In deren Begriff liegt die beständig fortdauernde Dynamik der Expansion gesellschaftlicher Verkehrungslogik, oder: die ›totale Vergesellschaftung‹.20 Insofern die jüngere Entwicklung sozialer Institutionen und Organisationen – die Restrukturierung des Weltmarkts und die Transformation des National- bzw. Wohlfahrtsstaats im Sinne einer Ökonomisierung von Lebensbereichen und politisch induzierter und kanalisierter, auf ökonomische Funktionalität zielende Individuali19 | Auch die multiplikatorische Funktion großer Teile der Massenmedien – mitunter einflussreiche Medienunternehmen, die selbst Teile international agierender Konzerne sind – bei der Sprengung wohlfahrtsstaatlicher ›Klassenkompromisse‹ und der individualistischen Unterminierung von Solidaritätsbeziehungen und emanzipierter Anerkennungsverhältnisse zum Zwecke der Senkung des nationalen Lohnniveaus (›Standortpolitik‹) muss dabei erwähnt werden. 20 | In den Soziologischen Exkursen heißt es bereits Mitte der 1950er Jahre, dass »es auch insofern immer mehr Gesellschaft [gibt], als das Netz der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen immer enger gesponnen wird. In jedem Einzelnen wird immer weniger Unerfaßtes, von der sozialen Kontrolle Unabhängiges geduldet […]. Soziologie ist von Anthropologie durch den emphatischen Begriff der Gesellschaft insofern abzugrenzen, als der Gegenstand der Anthropologie selbst weithin von der Gesellschaft abhängt; mit anderen Worten, was die traditionelle Philosophie als das Wesen der Menschen dachte, wird durch und durch bestimmt vom Wesen der Gesellschaft und ihrer Dynamik« (SE: 35).
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Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus
Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
sierungsprozesse – sich relativ bruchlos in den kategorialen Horizont der Kritischen Theorie einzufügen scheint, scheint überhaupt kein größerer logisch-systematischer argumentativer Aufwand zu betreiben zu sein, um die Frage nach dem Recht und der Leistungsfähigkeit der Kritischen Theorie der Gesellschaft, wie sie von Adorno skizziert wurde, zu rechtfertigen. Unterstützt wird dieser Befund darüber hinaus dadurch, dass der Soziologie des 20. Jahrhunderts sachliche Grundentscheidungen zugrunde liegen, die angesichts der historischen Erfahrung des gesellschaftlichen Wandels fragwürdig werden: die Soziologie jenseits der Kritischen Theorie hat sich, wie alle anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch, bekanntlich vom objektiven Klassenbegriff und damit zugleich von einer Strukturtheorie des Kapitalismus verabschiedet. 21 Dies gilt gleichermaßen für handlungstheoretisch-hermeneutische, post-strukturalistische oder neo-institutionalistische Ansätze.22 Der objektive 21 | Ulrich Beck etwa spricht vom Klassenbegriff als einem ›ZombieBegriff‹. Die soziologische Rede vom ›Kapitalismus‹ bezeichnet demnach einen ›Kapitalismus ohne Klassen‹. Gemäß dem Dualismus von Strukturtheorie und Handlungstheorie lassen sich dabei die handlungstheoretische Vorstellung eines ›Kapitalismus ohne Strukturen‹ sowie die strukturtheoretische Vorstellung der Existenz von ›Strukturen ohne Klassen‹ unterscheiden. Der Begriff der Klasse bzw. Klassenstruktur meint demgegenüber bei Marx und in der Kritischen Theorie den einzigartigen struktrellen sozialen Vorgang, dass ein gesellschaftlich produziertes Mehrprodukt über den Austausch von konkurrierenden privaten Produzenten angeeignet wird. Demzufolge fallen Systembildung und Verselbständigung im Kontext der Konstitution einer eigendynamischen und sachzwanghaften »Produktion um der Produktion willen« (MEW 23: 618) zusammen. 22 | Auch ›Poststrukturalistische Soziologien‹ verzichten auf einen emphatischen Strukturbegriff. Sie gehen davon aus, »dass Gesellschaft nicht aus ›Letztelementen‹ wie z.B. Individuen oder auch einzelnen Handlungen besteht, die miteinander Verbindungen eingehen. Vielmehr entstehen die einzelnen ›Elemente‹ erst in einem Beziehungsgeflecht« (Stäheli 2000: 9). Die post-strukturalistische Überwindung der StrukturHandlungs-Problematik durch die Konfrontation des Gegensatzes von Handlung und Struktur mit einem »radikal Anderen« (ebd.: 59.), die Ersetzung des »für die soziologischen Theorien zentrale[n] Dualismus von Struktur/Handlung (agency) […] durch ein Interesse an Subjektivierungstechniken, heterogenen Subjektivitäten und das Fehlschlagen von Identifikationsprozessen« (ebd. 16) trägt m.E. wenig zur theoretischen Auflösung des soziologischen Problems der Einheit und Dynamik von ge-
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Gesellschaftsbegriff wird mittlerweile hauptsächlich in der Linie der von den Klassikern Weber, Simmel, Durkheim ausgehenden soziologischen Differenzierungstheorie vertreten. Die Theorie sozialer Differenzierung ist heute weitgehend soziologischer Konsens. Sie wurde in ihrer strukturalistischen Variante von Parsons formuliert und v.a. in der bundesdeutschen Soziologie nach dem Positivismusstreit von Luhmann und Habermas konstruktiv aufgenommen.23 Habermas und Luhmann vertreten gleichermaßen die Auffassung, dass die Moderne und ihre etwaigen Differenzierungen als ein reales System der Gesellschaft zu begreifen sind. In den Theorien von Habermas und Luhmann wird die Dynamik des Kapitalismus unter funktionalistischen Vorzeichen analysiert. Insbesondere mit der analytischen Verarbeitung der Auflösung des fordistisch-interventionsstaatlichen Arrangements haben jedoch offenbar beide Theorien Schwierigkeiten. Denn die Dynamiken und Konfliktlinien der Gesellschaft, wie sie sich gegenwärtig darstellen, scheinen kaum noch sinnvoll mit den harmonistischen und statischen Grundbegriffen der am Wohlfahrtsstaat der 1950er Jahre orientierten Differenzierungstheorie in Einklang zu bringen sein. Habermas verzichtet seit Längerem darauf, die angegebenen Transformationsprozesse von Staat und Ökonomie in den Kategorien seiner Theorie des kommunikativen Handelns zu untersuchen. Er rekurriert stattdessen auf polit-ökonomische Globalisierungstheorien.24 Und auch an der Syssellschaftlichen Realstrukturen und der Frage nach der Logik der Konstitution und Reproduktion von Strukturen durch das (bewusst-intentionale) Handeln der Individuen hindurch bei. 23 | Zum Anspruch der Formulierung einer Theorie der sozialen Differenzierung im Anschluss an Weber vgl. Schwinn 2001 sowie Schluchter 2000. 24 | Auch seitens des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wird heute konstatiert, dass eine den ›Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus‹ Rechnung tragende Gesellschaftstheorie gegenwärtig nicht zur Verfügung stehe. Der Annäherung an eine solche Theorie hat sich ein ›Arbeitskreis Gesellschaftstheorie‹ angenommen, der sich die »Sichtung und Diskussion neuerer Entwürfe der Gesellschaftstheorie« zur Aufgabe gemacht hat, mit dem Ziel, »langfristig in die Lage zu kommen, ein die unterschiedlichen empirischen Projekte des Hauses umfassendes Theorieprogramm für das Institut für Sozialforschung zu entwerfen« (siehe unter www.ifs.uni-frankfurt.de/forschung/arbeitskreise.htm). Eine wie auch immer gestaltete Rückkehr zum gesellschafstheoretischen Programm Adornos ist diesen Formulierungen zufolge also ausgeschlossen. Allerdings wird der Soziologie Adornos an anderer Stelle offensichtlich
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Die Krise der Soziologie und die Krisendynamik des Kapitalismus
Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
temtheorie Luhmanns scheinen erhebliche Modifikationen nötig zu sein, um die Dynamik des Kapitalismus zumindest deskriptiv einholen zu können. Dies wurde schon bei Luhmann selbst deutlich. Zu denken ist hier an Luhmanns Einführung der Unterscheidung von ›Inklusion/Exklusion‹ als mutmaßliche ›Meta-Codierung‹ der ›funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft‹, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass die Reproduktion weltgesellschaftlicher Strukturzusammenhänge auch dann möglich ist, wenn immer weniger Individuen an der Reproduktion der Teilsysteme aktiv teilhaben und bestenfalls passiv von deren Eigendynamik betroffen sind. Aber auch in den systemtheoretischen Diskussionen um den Luhmannschen Begriff der ›Weltgesellschaft‹ wurde das Konzept einer funktional differenzierten Weltgesellschaft kritisch aufgegriffen (vgl. Willke 2000). Die Konzeption einer kritischen Theorie der Gesellschaft, wie sie von Adorno skizziert wurde, scheint nach dem Straucheln und dem wiederholt erklärten Scheitern der Soziologie und angesichts der historischen Entwicklung des Kapitalismus unter konzeptionellen Gesichtspunkten gegenwärtig der fruchtbarste Anknüpfungspunkt für eine gegenstandsadäquate sozialwissenschaftliche Strukturanalyse zu sein. Und dieser Befund ist nicht nur dem methodenpluralistischen Status Quo des soziologischen Diskurses entgegenzuhalten, sondern auch der provokanten These vom ›Tod der Kritischen Theorie‹, wie sie aus dem Lager der Philosophie zu vernehmen ist25 , wenngleich diese These auch im Hinblick auf die Institutionalisierung des dialektischen Denkens zweifelsohne zutreffen mag. In der nachstehenden Argumentation greifen angesichts eines solchen Befundes mehrere Motive ineinander. Im Zentrum steht die grundsätzliche Frage nach den Voraussetzungen, Implikationen, Anforderungen und Möglichkeiten von Gesellschaftstheorie überhaupt. Insofern geht es im Folgenden auch um einen Beitrag zur soziologischen Grundlagenforschung. Dabei soll sich zeigen, dass die kritische Theorie Adornos ein meta-theoretisches Reflexionsniveau erreicht hat, das zu einer weitreichenden Kritik der zeitgenössischen differenzierungstheoretischen Gesellschaftsbegriffe führt und wichtige Begründungsperspektiven einer adäquaten Bestimmung des gesellschaftstheoretischen Objektbereichs eröffnet.
durchaus Aktualität zugebilligt (siehe Honneth unter: www.goethe.de/ hs/bue/alemaz/adthm.doc). 25 | Siehe Peter Sloterdijk in Die Zeit, Nr. 37/1999.
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Überblick über den Argumentationsgang Die Argumentation der vorliegenden Arbeit verläuft vierstufig. Zunächst geht es in einer rekonstruierenden Auseinandersetzung mit den soziologischen Spätschriften Adornos, im Kern der Positivismuskritik Adornos, um das Problem der Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse als Gegenstand der Theorie sowie um die Explikation des Adornoschen Theorie- und Methodenverständnisses und seines Gesellschaftsbegriffs. In einem ersten Schritt (Kapitel 1) wird der ideengeschichtliche und historisch-institutionelle Horizont der Soziologie Adornos aufgefächert. Hierbei wird herausgearbeitet, dass sich Adornos Begriff der Gesellschaft kaum hinreichend verstehen lässt, wenn nicht die Entwicklung des Gegenstands- und Methodenverständnisses in der Soziologie sowie die der Kritischen Theorie zugrunde liegende historische Entwicklung des Kapitalismus in die Interpretation mit einbezogen werden. Vor diesem Hintergrund werden einige zentrale Gedankengänge und Denkfiguren der Soziologie, wie sie von Adorno nach 1945 vorgetragen wird, zusammengetragen. Im Zentrum steht dabei die Rekonstruktion des Zusammenhangs von Erfahrung und Theoriekonstruktion, wie er von Adorno vorgetragen wird. In einem nächsten Schritt (Kapitel 2) werden einzelne Motive der Soziologie Adornos vertieft. Es geht hierbei um den Objektivitätsbegriff, das Methodenverständnis und die Kritik der Soziologie. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass in der bisherigen Diskussion übersehen wurde, dass sich bereits in der Soziologie Adornos ein Ansatz zur Überwindung des in der Soziologie etablierten und als problematisch und unzureichend empfundenen Mikro-Makro-Dualismus findet, der sich um die Begriffe der ›Erfahrung‹, ›Deutung‹ und ›Totalität‹ kristallisiert.26 Diese Rekon26 | Habermas hat noch in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass der Status zentraler Theoreme und Argumentationszusammenhänge der Adornoschen Soziologie ungeklärt seien. Habermas schreibt in Bezug auf seine eigene bzw. eine mögliche Fortentwicklung der Argumentationen des Positivismusstreits: »Zwei der angeschlagenen Motive sind freilich unbearbeitet liegengeblieben: der Versuch, dem dialektischen Begriff der Totalität einen Platz in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zu sichern, und das Bemühen, Typen der nichtrestringierten Erfahrung in alternativen Formen der sozialwissenschaftlichen Forschung nachzuweisen. Diese Motive habe ich liegen lassen können, weil sich für mich bisher die Notwendigkeit für eine Rekonstruktion der Grundbegriffe der Hegelschen Logik nicht ergeben hat« (Habermas 1982: 9). Angesichts der
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Überlick über den Argumentationsgang
Einleitung. Eine kurze Standortbestimmung dialektischer Sozialtheorie
struktion hat v.a. den für die Soziologie Adornos zentralen Zusammenhang von Erfahrung und Theoriekonstruktion zu explizieren. Der Erfahrungsbegriff wurde in der Adorno-Rezeption zwar als zentral angesehen, auf der Ebene der Gesellschaftstheorie wurde die Rolle der Erfahrung bislang nicht systematisch expliziert. 27 Es zeigt sich in diesem Zusammenhang auch, dass Adorno analog zum Verfahren der Marxschen Ökonomiekritik einen doppelten Modus der Kritik verfolgt. So begreift Adorno die Gesellschaft als Totalität und das bedeutet als ein reales System verselbständigter Gesellschaftlichkeit. Zugleich formuliert Adorno eine Kritik der Soziologie, in der sich diese als sich selbst undurchsichtige Artikulation der Erfahrung von Verselbständigung erweist. Die Explikation des Zusammenhangs von Erfahrung und Theoriekonstruktion bildet den Hintergrund der weiteren Argumentation. Dieser Problemhorizont bildet die erste Achse eines gesellschaftstheoretischen Koordinatenkreuzes, das im dritten Teil (Kapitel 3) aufgespannt wird. Hier geht es darum, das Problem der theoretischen (Selbst-)Reflexion sozialer Verselbständigung mit dem von Hegel aufgeworfenen Problem der Trennung von Staat und Gesellschaft eingehender zusammenzudenken. Dies wird in Abgrenzung gegen handlungstheoretische sowie systemtheoretische Entwürfe gesellschaftlicher Differenzierung dargelegt. So erklärt sich unmittelbar die Auswahl der diskutierten Theoretiker. Die Theorien und Theorieentwürfe von Habermas und Luhmann können aus verschiedenen naheliegenden Gründen sinnvoll gewählt werden. Erstens weil sie zwei einander entgegengesetzte Varianten von objektiver sozialer Differenzierung anbieten, zweitens sind sie gleichermaßen einflussreiche Vordenker sowohl der Soziologie und Gesellschaftstheorie als auch der Politikwissenschaft sowie schließlich drittens ihre über fünfundzwanzig Jahre dauernde Kontroverse der Nachfolgestreit des Positivismusstreits in der deutschen Soziologie oben beschriebenen historischen und ideengeschichtlichen Gemengelage sollte auch aus Sicht der Theorie des kommunikativen Handelns eine solche Rekonstruktion als überfällig, zumindest jedoch als dringend angebracht eingeschätzt werden. Auch Honneths konfliktheoretische Überlegungen, die er im Rahmen seiner Theorie der Anerkennung entfaltet, tragen wenig zu einem Verständnis der Eigendynamik der Reproduktion der Gesellschaftsstruktur bei. 27 | Ich knüpfe hierbei an die Arbeiten von Tichy 1977; Bonß 1983; Thyen 1989; Breuer 1992; Negt 1995; Schiller 1995; Ritsert 1983, 1988, 1998b, 2000; Schweppenhäuser 1996; Backhaus 2000 und Reichelt 2002 an.
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und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftstheorie überhaupt ist. Überlick über Es handelt sich gewissermaßen um die Fortsetzung des Positivis- den Argumenmusstreits unter differenzierungstheoretischen Voraussetzungen. tationsgang Es lässt sich m.E. vor dem Hintergrund der Adornoschen Kritik der Handlungs- und Strukturtheorie zeigen, dass beide Theorien auf eine Vorstellung von Objektivität rekurrieren, die sie nicht konsistent entwickeln können. In beiden Fällen verfehlt die differenzierungstheoretische Begriffsbildung die per se verselbständigte Realität der Struktur, wie sie in der Wirklichkeit der Gesellschaft vorgefunden wird. In den einschlägigen differenzierungstheoretisch begründeten Systembegriffen handelt es sich wesentlich um die Artikulation der Erfahrung von Verselbständigung und nicht um den Begriff von Objektivität. Die Eigenlogizität und Eigendynamik der Gesellschaftsstruktur bleibt für diese Theorien ein Buch mit sieben Siegeln. Die differenzierungstheoretische Reifizierung gipfelt im Luhmannschen Begriff der ›Funktionalen Differenzierung‹, der sich als schlechte Spekulation erweist, sowie in einer von Habermas mit dem Begriff der ›funktionalistischen Vernunft‹ prätendierten objektivistischen Vernunftmetaphorik. Die Differenzierungstheorien bewegen sich in einem unauflösbaren Dilemma: nur unter der Voraussetzung, dass sie den Strukturzusammenhang der Gesellschaft in verkürzter Weise als Gegenstand formulieren, indem sie gerade den Verselbständigungs- und Zwangscharakter, die Irrationalitäten und die Krisenhaftigkeit dieser Gesellschaft zum Akzidens erklären, können sie eine funktionalistische Begriffsbildung einführen, die eine harmonistische Konzeption von Gesellschaftsstruktur erlaubt, welche sich aber in der Auseinandersetzung mit der erfahrenen Wirklichkeit immer wieder als problematisch oder gar aporetisch erweist. Es lässt sich schließlich zeigen, dass das Marxsche Objektivitätsverständnis, auch schon das des jungen Marx, sich deutlich von der differenzierungstheoretischen Verfahrensweise abhebt. Marx kritisiert schon früh den reifizierenden Charakter des Organizismus der Hegelschen Staatstheorie und gelangt im Anschluss daran auf der Ebene der politischen Ökonomie zu einem Gegenstandsverständnis, das explizit die Verselbständigung von Verhältnissen thematisiert und von dort aus zugleich der nationalökonomischen Theoriebildung ›Begriffslosigkeit‹ im Hinblick auf ihren Umgang mit ihren Gegenständen vorwirft. In diesem Zusammenhang konzipiert Marx das ›System der bürgerlichen Ökonomie‹ als ein Moment eines Dualismus, in dem der bürgerliche Staat den zweiten Pol bildet. Dabei geht Marx in impliziter Entgegensetzung gegen jegliches reifizierendes Differenzierungsdenken zum einen davon aus, dass das verselbständigte Auseinandertreten von bürgerlicher Gesell-
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schaft und politischem Staat ein notwendiges Verhältnis bezeichnet und dass zum anderen überhaupt erst im Zuge der Vollendung dieses Auseinandertretens sich bestimmte, zeitgemäß gesprochen, ›zivilgesellschaftliche‹ oder ›kulturelle‹ Formen der Integration herausbilden. Dies lässt sich v.a. an der Art und Weise nachvollziehen, in der Marx die moderne, säkularisierte Gestalt der Religion entwickelt.28 Mit der Explikation des Marxschen Gegenstandsverständnisses eröffnet sich die Perspektive hin zu der grundsätzlichen Frage, wie sich der Dualismus von politischem Staat und kapitalistischer Ökonomie in der Wirklichkeit darstellt, d.h., wie die politisch-ökonomische Doppelstruktur in nicht-reifizierender Weise als Objekt der Theorie konstruiert werden kann. Dies schlägt den Bogen zum vierten und letzten Argumentationsschritt (Kapitel 4): die theoretische Bestimmung der ›Einheit‹ der Gesellschaft. Diese existiert gemäß jenem strukturellen Dualismus doppelt, nämlich in den Struktur28 | Denn tatsächlich existiert kein ›Religionssystem der Gesellschaft‹. Weder hat das religiöse Zusammenleben der Menschen, also der als Bourgeois und Citoyen notwendig gedoppelten Individuen der modernen Gesellschaft, eine objektive Eigenstruktur, noch existiert die religiöse Einheit der Individuen als objektives, insofern gesellschaftliches Vermittlungsprinzip, sondern die religiöse Entäußerung des Bewusstseins existiert nirgendwo anders als in den Köpfen der gläubigen Individuen. Alle hierbei denkbaren Herrschaftsgestalten der religiös motivierten Interaktion (auch Institutionen wie Kirche etc.) sind immer schon persönlicher und niemals sachlicher Natur. Es existieren hier allein Gruppenbildung und unmittelbare Integration, also keine genuine gesellschaftliche Individuierung und erst recht keine Funktionalität und Prozessualität im Sinne einer allgemeinen, sich über die Köpfe der Beteiligten durchsetzenden objektiven Strukturgesetzmäßigkeit (wie z.B. das ›Wertgesetz‹ etc.). Die religiösen Handlungszusammenhänge enthalten letztlich somit keine Strukturmerkmale, die mit den Formen von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlich-bürokratischem Rechtsstaat vergleichbar wären, und die somit dazu brauchbar wären, den ›essentialistischen‹ Rekurs auf eine objektivistische funktionalistische Begriffsbildung zu legitimieren. Im Gegenteil: die moderne, zwanglos-individualistische, nämlich private Gestalt der Religion setzt jene Vereinzelung voraus, die Resultat der verselbständigten Doppelstruktur ist. Erst im säkularisierten Staat kann das Individuum frei entscheiden, ob es eine religiöse Abstraktion vollziehen will oder nicht. Bei der Betrachtung der gegenständlichen Welt als Wert oder Eigentum und der Anerkennung des Anderen als Rechtsperson verhält es sich exakt umgekehrt.
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prinzipien des Geldes und des Rechts. Es soll deutlich werden, wie Überlick über die jeweilige eigentümliche gesellschaftliche Qualität der Struktur- den Argumenprinzipien als Objekt der Theorie ausgewiesen werden kann. Ich tationsgang schließe hier an das von Backhaus und Reichelt im Rahmen ihrer Marx-Rekonstruktion aufgeworfene Problem der Objektbestimmung in der Nationalökonomie an und expliziere die Frage nach der Realität der gesellschaftlichen Einheit an der Form des modernen Rechts.29 Auf diesem Wege soll der von mir aufgeworfenen These von der ökonomisch-rechtlichen Kernstruktur, im Sinne einer objektiv existierenden gesellschaftlichen Einheit als Grundlage gesellschaftlicher Verselbständigung, die ihrerseits auf den Strukturprinzipien des absoluten Werts und des allgemeinen Willens als extraordinärer sozialer Realitäten gründet, Nachdruck verliehen werden. Die ökonomische und rechtliche Form der Einheit bildet die Grundlage aller internen Verselbständigungsschritte innerhalb der Sphären von Ökonomie und Staat.30 Dies wirft, über die damit gegebene Frage nach der jeweils internen Verselbständigungslogik der Sphären hinaus, die Frage nach dem Zusammenhang beider Verselbständigungsbewegungen auf. Dies ist allerdings nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit, sondern verweist auf die Rekonstruktionsbemühungen um die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie.31 Der nachstehende Text trägt seinem Selbstverständnis nach dazu bei, Grundlagen einer nach wie vor fälligen Gesellschaftstheorie in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Sozialtheorien zu erarbeiten. Die vor diesem Hintergrund vorgetragenen Argumentationsschritte sind nicht zu verwechseln mit der Darstellung des Gegenstandes selbst. Das Votum für dialektische Ansätze der Sozialtheorie speist sich aus der Reflexion auf die Möglichkeiten der Selbstbegründung von Sozialtheorie überhaupt. Hier zeigt sich, dass und inwiefern der Gegenstand selbst die Reflexion zur Dialektik drängt. In dieser Begründungslinie liegt dann das Programm der dialektischen Darstellung der politisch-ökonomischen Struktur von Verselbständigung ebenso wie die selbstbewusste Deutung der sozialen Erscheinungsformen der Selbstrealisierung dieser Struktur.
29 | Die Entwicklung der Preisform liegt der werttheoretischen Begründung der Kapitaltheorie zugrunde, die Rechtsform der Staatstheorie, insofern diese formtheoretisch betrieben werden soll. 30 | Diese Aussage impliziert die konstitutionstheoretische Frage, wie logisch-systematisch von den ökonomischen Handlungskategorien zur gesetzmäßigen Struktur der Produktionsverhältnisse zu kommen ist. 31 | Siehe hierzu Meyer 2004.
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S UBJEKTIVITÄT
ZWISCHEN
T HEORIE
UND
G ESELLSCHAFT
Geist und Gesellschaft von den Anfängen der Neuzeit zu Hegel und dessen Folgen Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzieht sich ein mehrdimensionaler transitorischer Entwicklungsprozess des Handelns und des Bewusstseins. Existiert im Mittelalter noch eine enge Verbindung zwischen einem im religiösen Glauben zentrierten Weltbild einschließlich eines dementsprechend religiös geprägten Selbstverständnisses der Menschen und jenen starren, ebenso persönlichen wie hierarchischen Herrschaftsverhältnissen, so beginnt sich diese Konstellation im Spätmittelalter zunehmend aufzulösen. In einem historisch parallel verlaufenden Prozess beginnen sowohl das einheitliche Weltbild – im Zuge v.a. der Spätscholastik – als auch die feudalen Herrschaftsverhältnisse zu zerfallen. Ausgehend von jener im Humanismus geforderten Trennung von Glauben und Wissen, im Sinne einer ›humanen‹, sich auf die Antike berufenden nicht-theologischen Bildung, bilden sich so einerseits verschiedene Bewusstseinsstrukturen – dies sind die sich als autonom setzenden Weltbezüge der Wissenschaft, Moral und Kunst, die sich einer übergreifenden Integration unter dem Dach der Religion sperren –, andererseits bilden sich gleichzeitig nunmehr genuin soziale Institutionen. Zunächst ist hierbei vorrangig an die Herausbildung frühkapitalistischer Wirtschaftszusammenhänge zu denken, in denen sich die Handelnden losgelöst von den tradierten ständisch-feudalen Bindungen nunmehr als freie und gleiche, rational und strategisch handelnde Individuen begegnen. Hinsichtlich der Transformation von Bewusstseinsstrukturen, auf dem Gebiet des so genannten Geistigen also, findet sich die allmähliche Differenzierung von Erfahrungswissenschaft, Moral, Kunst sowie: Philosophie und Sozialtheorie. Die Dezentrierung und Differenzierung nunmehr konstitutiv profaner Bewusstseinstrukturen
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Subjektivität zwischen Theorie und Gesellschaft
lässt sich am spezifischen Charakter der geistig-kulturellenen Gebilde der Renaissance ablesen. Der Begriff der Renaissance bezeichnet bekanntlich die ›Wiedergeburt‹ jener antiken Bewusstseins- und Reflexionsformen; auf breiter Ebene seit dem 16. Jahrhundert und dabei im Medium des für die Neuzeit konstitutiven Prinzips der Subjektivität, dessen verschiedene Erscheinungsformen eine veränderte Wahrnehmung der Welt anzeigen. Dieses Prinzip der Subjektivität – als der Kern des neuzeitlichen Individualismus – findet sich in sämtlichen sich voneinander differenzierenden Bewusstseinsstrukturen wieder. In den Naturwissenschaften schlagen sich Profanisierung und Subjektivierung in dem Anspruch der rationalen und empirischen Begründbarkeit von Aussagen nieder, im Kontext der Scholastik bereits im 13. Jahrhundert bei Roger Bacon, im Kontext des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert vor allem bei Kopernikus, Kepler und Galilei. Im Bereich der Kunst ist zu denken an den individualistischen und subjektivistischen Charakter der Malerei und Bildhauerei (Michelangelo, da Vinci) sowie an die neuartigen Formen der Dichtung (Tasso, Shakespeare), Musik (Palestrina) und Architektur (Bramante). Im 16. Jahrhundert werden diese durch Humanismus und Renaissance hervorgerufenen Entwicklungen in ambivalenter Weise von der Reformation begleitet. Zwar zollt auch die reformierte Kirche dem Individualismus insofern Tribut, als sie die unbedingte Mittlerstellung der Kirche zwischen Mensch und Gott preisgibt. Jedoch bleibt die reformierte Religion in vielfacher Hinsicht den postulierten Prinzipien der wissenschaftlichen Vernunft gegenüber skeptisch. Die Spannungen zwischen protestantischer Religion und einer aus religiösen Bindungen befreiten Wissenschaft hinsichtlich der Hoheit über die Weltdeutung materialisiert sich unmittelbar in den Biographien von Keppler und Galileo. Dennoch bereitet der Protestantismus insgesamt der späteren Phase der Aufklärung den Boden, indem er letztlich doch den Alleinherrschaftsanspruch in den verschiedenen Bereichen des Wissens relativiert und indem er dadurch, dass er die Gewissensfreiheit des Einzelnen hervorhebt, der Enttraditionalisierung Vorschub leistet. Die mit dem Beginn der Neuzeit einsetzende Dynamik der Säkularisierung und Enttraditionalisierung, die Herausbildung rudimentärer Differenzierungen ökonomischer und politischer Institutionen, geht einher mit der Entstehung eines traditionellen Bindungen entrückenden Bürgertums (zunächst v.a. Kaufmannsgeschlechter), das fortan jene genuin weltlichen Dynamiken des Kapitalismus forciert. Mit der Ausdehnung des Handels (und des Vertrages) wird zudem zunehmend römisches Recht rezipiert, wenngleich dieses
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zunächst nur eine sehr beschränkte Geltung erlangt. In dieser Anfangszeit der bürgerlichen Gesellschaft findet sich sodann eine komplementäre Entwicklung von fürstlichem Absolutismus und der Dynamisierung kapitalistischer Zusammenhänge. In dieser üblicherweise als ›Merkantilismus‹ bezeichneten Phase findet eine staatlich forcierte Dynamisierung des Außenhandels statt, infolge derer sich die Durchsetzung kapitalistischer Tauschverhältnisse im Inneren der neu entstehenden Nationalstaaten vollzieht. Wichtig für diese frühe Phase der Modernisierung ist dementsprechend auch das politische Ereignis des Westfälischen Friedens (1648), durch den sich das Prinzip der national- bzw. territorialstaatlichen Souveränität durchsetzt und das zugleich den Beginn des säkularisierten Staates der Neuzeit kennzeichnet. In den kulturellen und institutionellen Kontext der Spätrenaissance bzw. des Absolutismus fallen nun auch die Anfänge der neuzeitlichen Sozialtheorie, namentlich in Gestalt des Vernunftrechts und des damit inaugurierten sozialphilosophischen Individualismus. So werden die geistigen und sozialen Umbrüche dieser Zeit zunächst reflektiert in den Sozialtheorien von Machiavelli, Grotius oder auch Morus, am prägnantesten und folgenreichsten jedoch in Hobbes’ pro-absolutistischer Streitschrift über die Ordnung der Gesellschaft durch den allmächtigen und unumstößlichen ›Leviathan‹. Dieser politische Zustand wird bekanntlich ausgegeben als Resultat der Auflösung eines im Urzustand der Menschheit anzunehmenden Krieges vereinzelter Einzelner, deren Gleichheit wesentlich die der Fähigkeit ist, einander zu töten.1 Hobbes naturalisiert und ontologisiert den bürgerlichen Reproduktionszusammenhang und konstruiert einen Urzustand freier und gleicher Einzelner, die sich aus Vernunft dazu entschließen, ihrer anarchischen Konkurrenz durch die Delegation der Ordnungsmacht an den fortan unanzweifelbaren Leviathan ein Ende zu bereiten. Über dieses sich in der frühen individualistischen Sozialtheorie geltend machende Prinzip der Subjektivität und Individualität hinaus, finden subjektivistische Theoriekonzeptionen weiterhin auch in der zwischen Renaissance und Aufklärung angesiedelten Epoche des Barock einen geistesgeschichtlichen Ausdruck, hier v.a. in der rationalistischen Philosophie von Descartes und dessen Leitidee des ›Cogito‹ sowie in den sich daran anschließenden Philosophien etwa von Spinoza, Leibniz (›Monadologie‹) und Wolf. Die Phase der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist sowohl durch eine Präzisierung und Differenzierung des naturwissenschaftlichen, 1 | Zu Hobbes siehe auch Macpherson 1973, Kapitel II.
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Subjektivität zwischen Theorie und Gesellschaft
philosophischen und sozialtheoretischen Wissens als auch durch die beschleunigte Ausdehnung der institutionellen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge bestimmt. Ende des 18. Jahrhunderts findet ein beträchtlicher Schub der Institutionalisierung und damit der Durchsetzung jenes Prinzips der Subjektivität und Individualität statt: durch die Kodifizierungen infolge der bürgerlichen Revolutionen in Nordamerika und Frankreich sowie durch die Institutionalisierung von Wissenschaft und Kunst. Parallel dazu entwikkelt sich der Kapitalismus vom Merkantilsystem zum Handels- und Manufakturkapitalismus weiter. Es entsteht ein Verhältnis von politischen Institutionen und bürgerlicher Gesellschaft, das epochebildenen Charakter hatte und gemeinhin als ›Liberalismus‹ gilt. Im Zuge der Aufklärung werden auf dem Gebiet der ›Geistesentwicklung‹ zunächst in der Philosophie bzw. Erkenntnistheorie seit dem späten 17. Jahrhundert in England der Empirismus (Locke, Berkley, Hume) und, von der englischen Aufklärung beeinflusst, in Frankreich die aufklärerischen politischen Ideen von Montesquieu, Voltaire und Rousseau formuliert. Der Pfad der sozialphilosophischen Reflexion in der Phase der Aufklärung zieht sich in der Traditionslinie des Vernunftrechts von Locke über Rousseau bis Kant. Gegen Hobbes begreift Locke den Staat als Schöpfung der Eigentümer, dessen oberster Zweck der Schutz des Eigentums sei.2 Ebenfalls im Unterschied zu Hobbes fordert Locke die prinzipielle Austauschbarkeit der Regierung. Am Vorabend der Französischen Revolution versteht Rousseau hingegen den politischen Körper als eine Einheit – die volonté générale –, die grundsätzlich von der Summe der Willen aller Einzelnen zu unterscheiden sei und deren Ausgestaltung Resultat einer radikalen Selbstgesetzgebung aller Menschen sein soll (vgl. Rousseau 1762), womit Rousseau einen zentralen Aspekt des modernen Demokratiebegriffs begründet. Den Höhepunkt der Aufklärung bilden jedoch die drei Vernunftkritiken von Kant. Kant formuliert die Kritik dreier verschiedener Gestalten der Vernunft, die ihrem Gegenstandsbereich nach, der ideellen und institutionellen Differenzierung des modernen Wissens (Wissenschaft, Moral, Kunst) entsprechend, die Momente der ›reinen Vernunft‹, der ›praktischen Vernunft‹ sowie der ›Urteilskraft‹ unterscheidet (vgl. Habermas 1998: 200). Es ist die ›Kritik der reinen Vernunft‹, in der Kant die ›kopernikanische Wende‹ in der Philosophie zu vollziehen beansprucht, indem er die Rolle des Subjekts bei der Konstitution der sinnlichen Erscheinungen erstmals systematisch problematisiert und hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit von Wissen2 | Zu Locke siehe auch Macpherson 1973, Kapitel V.
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schaft (Metaphysik) und Wahrheit überhaupt erörtert. In der Dimension der ›praktischen Vernunft‹ geht es Kant um die ethischmoralischen Implikationen des individuellen Handelns, die normativen Orientierungsprinzipien des ›freien Willens‹ (›kategorischer Imperativ‹). Zugleich ist Kant im Rahmen seiner praktischen Philosophie noch im Naturrecht befangen, insofern er nicht systematisch zwischen Staat und Gesellschaft unterscheidet; und auch die mit dem Manufakturkapitalismus sich durchsetzende Lebensform des Lohnarbeiters gilt Kant noch nicht als Teil der Gesellschaft im engeren Sinne. Gemäß der dritten und abschließenden Kritik soll das ästhetische Urteil schließlich das einer uneingeschränkten Subjektivität sein, die sich in ihren Urteilen weder an Ansprüchen wissenschaftlicher Wahrheit noch moralischer Richtigkeit orientiert. Parallel zur englischen und kontinentalen Philosophie der Aufklärung bildet sich in England in konstruktiver Abgrenzung gegen die ökonomische Lehre der Physiokraten, Kameralistik und Naturrecht die klassische Politische Ökonomie. Ihre Essenz findet sich in den Arbeitswerttheorien von Smith und Ricardo. Der insbesondere mit dem Namen Adam Smith in Verbindung gebrachte wirtschaftspolitische Liberalismus (›Unsichtbare Hand‹, ›Wohlfahrtssteigerung durch allgemeines Optimierungshandeln‹, ›freier Markt‹) ist in diesem Zusammenhang zu verstehen als politische Antwort auf den Etatismus des Absolutismus und Merkantilismus. Das liberale Credo gilt gleichsam seit seinen Anfängen nicht den Lebens- und Reproduktionsbedingungen des Proletariats, sondern dem Zusammenhang der konkurrierenden Produzenten. Die Arbeitswertlehre Ricardos erwies sich hingegen in umgekehrter Richtung als politisch brisant, als sie die Linksricardianer zu der Forderung motivierte, dass die Arbeiter als Produzenten des Werts auch den Anspruch auf den von ihnen produzierten Reichtum geltend machen könnten. Den Wendepunkt im Verhältnis von Geist und Gesellschaft markiert die Philosophie Hegels. In ihr erreicht die Moderne ein bis dato unerreichtes Selbstverständnis. In Hegels spekulativem System der Philosophie drückt sich die Erfahrung der mannigfaltigen Gleichzeitigkeit der Subjektivität und Objektivität des Seins aus. Gemäß der Differenzierung von Bewusstseins- und Sozialstrukturen konstatiert Hegel dabei verschiedene Abstufungen des Seins3: den 3 | Hegel konzipiert seine Philosophie in der Einleitung zu seinem System, der Phänomenologie des Geistes, als ein ›überbietendes Bewusstsein‹, das sowohl den Gegenstand präzisier zu fassen als auch noch die Genese konkurrierender theoretischer Entwürfe auszuweisen in der Lage ist (siehe Hegel, Werke Bd.3).
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›subjektiven Geist‹ (Seele, Bewusstsein), den ›objektiven Geist‹ (Recht, Moral, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) und den ›absoluten Geist‹ (Kunst, Religion, Philosophie). In seiner praktischen Philosophie bringt Hegel dabei den gegebenen institutionellen Nexus der modernen Gesellschaft insofern ›auf den Begriff‹, als er in seiner Rechtsphilosophie als Erster systematisch zwischen politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft unterscheidet. Das sachliche Problem ist hier das der ›Entzweiung‹ oder der ›Positivität‹ (vgl. ebd.: 203) der sozialen Wirklichkeit. Gemäß dieser Unterscheidungen integriert Hegel dementsprechend kritisch die individualistischen Gestalten von Vernunftrecht, Moraltheorie sowie die Politische Ökonomie. In der Rechtsphilosophie hat Hegel das Ideal der Reformulierung und Reetablierung der antiken Sittlichkeit, das er früher noch, auch im Geiste der Dichtung Hölderlins, eingefordert hatte, angesichts der Erfahrung der Universalität der Entzweiung aufgegeben. Stattdessen stellt er die im Bereich der sozialen Institutionen gegebenen Entzweiungen/Differenzierungen als weltgeschichtliche Durchgangsstationen des sich selbst realisierenden Makrosubjekts der Vernunft dar (vgl. Hegel, Werke Bd. 7). Hegel anerkennt und reflektiert damit den Umstand, dass das ›Prinzip der Subjektivität‹ als solches selbst nicht dazu hinreicht, die auseinandergetretenen Momente des Bewusstseins zu (re)integrieren und konzipiert die Institutionalisierung individueller Freiheitsrechte als Verwirklichung der Vernunft. Hegels Philosophie, einst in den Rang einer preußischen Staatsphilosophie aufgestiegen, fällt bereits kurze Zeit nach Hegels Tod in Ungnade, namentlich durch die Kritik Schubarths, der insbesondere Hegels praktische Philosophie als unvereinbar mit dem preußischen Staat ansah. In der unmittelbaren Nachfolge Hegels, in der Linie des Linkshegelianismus, dessen paradigmatischer Kern grundsätzlich in der Auflösung der Hegelschen Spekulation in Sozialtheorie liegt, formuliert zunächst Feuerbach eine geschichtsphilosophisch inspirierte Religionskritik, die im Protestantismus die letzte Stufe eines weltgeschichtlich fortschreitenden Prozesses der Auflösung religiöser Entfremdungen sieht. Vor diesem Hintergrund fordert er die Aufhebung dieser letzten Stufe der religiösen Selbstentfremdung des Bewusstseins in Gestalt eines universellen Republikanismus (Preußen) und der Praktizierung der Empathie (Liebe) im Sinne einer Religion des ›Alltagslebens‹. Im kritischen Anschluss an Feuerbach synthetisiert Marx in seinem Hauptwerk, dem Kapital, schließlich zentrale Aspekte der Feuerbachschen Kritik des religiösen Bewusstseins mit den Sachproblemen der klassischen Arbeitswerttheorien.4 Marx konzipiert so den Zusammenhang des moder-
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nen Systems der politischen Ökonomie als einen objektiven Zusammenhang der Formen der ökonomischen respektive politischen Selbstentfremdung, welcher mittels eines Verfahrens der ›Kritik durch Darstellung‹ (›dialektische Entwicklungsmethode‹ etc., vgl. Reichelt 2002) begrifflich offen zu legen ist. Den historischen Erfahrungshintergrund der Konzeption und Ausformulierung der Marxschen Kapitalismustheorie bildet die Erfahrung der kapitalistischen Krisen, der Industrialisierung der Arbeitsteilung, der Verelendung und der ausbleibenden Erfolge der proletarischen Revolutionen. Mit der industriellen Revolution werden außerdem die Produkte des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebs schließlich zur wichtigen Produktivkraft. Der unter der Fahne des Liberalismus prolongierte Prozess der Industrialisierung geht insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also in der Zeit nach dem Erscheinen des Marxschen Kapitals, einher mit der Entstehung der Kapitalgesellschaften (Konzerne), der imperialistischen Expansion der Industriezentren und schließlich einer zunehmend sich enger gestaltenden Verknüpfung von wirtschaftlichen und politischen Eliten um die Jahrhundertwende (›Monopolkapitalismus‹). Erst die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und die damit verbundenen theoriegeschichtlichen Folgen in der Zeit nach Hegel und der industriellen Revolution führen zur weiteren Ausdifferenzierung der institutionalisierten Sozialtheorie und damit schließlich auch zur bis heute existierenden Soziologie. Die Entwicklungen von Theorie und Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts ziehen eine Fülle von Reaktionen nach sich. So ist zunächst ganz allgemein die Durchsetzung des Neukantianismus als ein Resultat der Konsolidierung der akademischen Wissenschaften gegenüber der linkshegelianischen Tradition anzusehen. Insbesondere in den Sozialwissenschaften ist der individualistische Gegenstands- und Wissenschaftsbegriff überaus folgenreich gewesen: einerseits in Gestalt des wirtschaftswissenschaftlichen Marginalismus, also der Grenznutzentheorie und dem Methodologischen Individualismus der österreichischen Schule der Nationalökonomie bei Menger und Schumpeter, der sich ideengeschichtlich gegen jegliche Form objektiver Arbeitswerttheorie in Stellung bringt und politisch deutlich liberale, gegen die Forderungen der sich organisierenden Arbeiterschaft und den Steuerungsanspruch des Staates gerichtete Implikationen hat. Andererseits beeinflusst diese »marginalistische Revolution« (Heinrich 2001: 62) ihrerseits maßgeblich die Entstehung einer neukantianisch orientierten Soziologie in Deutschland, 4 | Siehe genauer unter Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit.
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deren Protagonisten Tönnies, Simmel und Max Weber sind und die sich nicht nur von Marx abgrenzt, sondern auch von der Tradition der strukturalistischen französischen Soziologie des 19. Jahrhunderts von Comte und Durkheim, sowie Spencer in England und Pareto in Italien. Mit dem Übergang vom Liberalismus des 18. Jahrhunderts zum Industrialismus und Bürokratismus des 19. Jahrhunderts findet die Ausweitung der rationalen Formen von Wissenschaft und Recht ebenso wie die Produktion jener kulturellen Werte in den entpersonalisierten, insofern objektivierten Gestalten der Massenkultur und des Kulturbetriebs, einschließlich der Tendenz zur Zweckgebundenheit der Kunst und zur Perfektion der künstlerischen Technik, nach Maßgabe der Reproduktionserfordernisse der bürgerlichen Ökonomie statt. Diese Entwicklungstendenzen schlagen sich in der um die Jahrhundertwende in Simmels Philosophie des Geldes (vgl. Simmel 1989) vorgetragenen Zeitdiagnose ebenso nieder, wie die Tendenzen der fortschreitenden administrativen Organisation und Einbettung gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge zum Leitthema der Zeitdiagnose Max Webers geworden sind. Diese geistigen und sozialen Entwicklungen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, in deren Kontext sich noch die anti-hegelianischen und anti-sozialistischen Philosophien Schopenhauers, Kirkegaards, Nietzsches und später die geschichtsphilosophische Synthese von Weber und Marx bei Lukács einreihen, bilden den Hintergrund einer sich auf die Kritik der politischen Ökonomie von Marx zurückbesinnenden und durch die Fragestellungen Webers und Lukács’ inspirierte Wende in der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie, die sich Mitte der 1930er Jahre manifestiert in Max Horkheimers Unterscheidung von ›traditioneller‹ und ›kritischer Theorie‹.
Die Klassiker der Soziologie: von Comte und Durkheim zu Weber und mit Lukács an die Schwelle einer Kritischen Theorie der Gesellschaft Die Anfänge der Soziologie und die Soziologien Comtes und Durkheims | Die Tradition des genuin soziologischen Denkens geht zurück auf die Erfahrung der fortschreitenden Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft, die sich gegen den ›alten‹, feudalen Staat abgrenzt und eine eigene, in verschiedener Hinsicht krisenhafte Entwicklungsdynamik aufweist. Die Soziologie nimmt dabei die soziale Entwicklung als Ganze in den Blick, d.h. die krisenhafte Dynamik zwischen Staat, Politik und bürgerlicher Gesell-
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schaft, sowie das Verhältnis des Einzelnen zu dieser Dynamik und die in diesem Prozess sich herausbildenden individuellen, intersubjektiven und institutionalisierten ›kulturellen‹ Lebensformen. Der Krisenprozess, auf den die Soziologie reagiert, ist jedoch zunächst in erster Linie jener der Gegenübersetzung der eigendynamischen ökonomischen Sphäre gegen den absolutistischen Staat. Es kristallisiert sich dabei das Problem der Entstehung der freien Lohnarbeit und der Integration des sich entwickelnden Proletariats in die bürgerliche Gesellschaft, den kapitalistischen Arbeits- und Produktionsprozess und damit auch das Problem der prekären materiellen Reproduktionsbedingungen der lohnarbeitenden Klasse heraus. Insbesondere der Prozess der Industrialisierung erweist sich im 19. Jahrhundert als wenig harmonischer Vorgang, sondern als ständige krisenhafte Ausweitung der Gesamtproduktion, die die Reproduktionsbedingungen des Proletariats gefährdet und damit zugleich die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft zum Problem werden lässt. Die Soziologie hat nun, Habermas zu Folge, sowohl eine kritisch-progressive als auch eine restaurativ-traditionalistische Wurzel; sie verfolgt somit sowohl einen oppositionellen als auch stabilisierenden Anspruch. »Soziologie als Krisenwissenschaft ist«, so Habermas, »gleichermaßen aus dem Geist der Revolution wie der Restauration entsprungen« (Habermas 1963d: 295). In der nachrevolutionären Phase treten die verschiedenen Auffassungen in Frankreich deutlich zutage, ablesbar am Disput zwischen St. Simon und De Bonald. So plädiert St. Simon für die systematische Selbstorganisation der Wirtschaft, De Bonald hingegen für die Unterordnung der Wirtschaft unter die alten Obrigkeitsverhältnisse (vgl. ebd.). Die Ausdifferenzierung der Soziologie und Gesellschaftstheorie verläuft parallel zur Entwicklung des institutionellen Nexus der modernen Gesellschaft. Zunächst ist es Comte, der eine holistische Soziologie mit deutlich konservativ-reaktionären Implikationen entwickelt. Dieser soziologische Strukturalismus wird von Durkheim aufgegriffen und weiterentwickelt und wird im soziologischen Neukantianismus individualistisch konterkariert, sodass die Soziologie infolgedessen in zwei Lager zerfällt. Der individualistische Pfad wird am konsequentesten bei Max Weber ausgeführt, der zugleich eine existentiell-individualistische Zeitkritik formuliert. Schließlich findet sich bei Lukács die Synthese der Weberschen Zeitkritik und der Marxschen Fetischismuskritik. An diesen Pfad knüpft die Kritische Theorie an. Bei Comte sind die Spannungen zwischen der sich auflösenden feudalen Ordnung und der fortschreitenden Herauskristallisierung
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der bürgerlichen Gesellschaft und deren allmählicher Industrialisierung gegenwärtig. In Comtes Denken schlägt sich die Spannung von Industrie und Adel nieder. Zugleich konterkariert Comte St. Simon und die früh-sozialistischen Ideen etwa Fouriers. 5 Comte begreift eine ›positive‹ Soziologie als Höhepunkt der Geist- bzw. Wissenschaftsentwicklung nach Astronomie, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie als eigentliche Vollendung des wissenschaftlichen Denkens.6 Diese Selbsteinschätzung korresponidert mit Comtes Drei-Stadien-Gesetz, in dem er drei Entwicklungsstadien, die der Einzelne, die Gesellschaft und die Wissenschaft gleichermaßen gesetzmäßig zu durchlaufen haben, unterscheidet: Religion, Metaphysik und (positivie) Wissenschaft. Gegenstand von Comtes Soziologie sind die objektiven, gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen den sozialen Phänomenen. Allein deren durch die ›positive‹ Soziologie forcierte Erkenntnis erlaubt, so Comtes Vorstellung, eine gesicherte Vorhersage und rationale Planung der Dynamik des gesellschaftlichen Fortschritts. Comte teilt die Soziologie in zwei Teildisziplinen: ›soziale Statik‹ und ›soziale Dynamik‹. ›Soziale Dynamik‹ ist die Theorie der Bedingungen und Konsequenzen des Fortschritts. Insbesondere parallel zur Entwicklung des Geistes durchläuft hiernach auch die Gesellschaft notwendig jene drei angegebenen Stadien. Die neue, moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Fortschritt, der nunmehr als notwendige Bedingung und Ziel sozialen Zusammenlebens aufgefasst wird. Fortschritt wird dabei selbst noch als Produkt von Ordnung aufgefasst. ›Ordnung‹ bildet sich ihrerseits, als die wesentliche Implikation der Möglichkeit dauerhaften gesellschaftlichen Fortschritts, im Übergang zur Moderne, also mit der Auflösung der feudalen Herschaftszusammenhänge und religiös-metaphysischen Weltbilder. Insbesondere im Übergang von der vor- zur nachrevolutionären Gesellschaft ist die Dynamik der Gesellschaft jedoch in politisch und moralisch krisenhafte Entwicklungen eingebettet, die der notwendigen Herstellung von Ordnung entgegenwirken. ›Soziale Statik‹ ist als Teildisziplin der Soziologie die Theorie der sozialen Ordnung. In seiner ›sozialen Statik‹ kommt Comte zu dem Ergebnis, dass neben der Familie (als Institution) v.a. Arbeitsteilung, Eigentum (Klassen) und eine gegen den Individualismus intervenierende 5 | Siehe zum Folgenden Comte 1968. Zur Soziologie Comtes vgl. auch Negt 1974. 6 | Comte begründet hierbei eine anti-spekulative, an den Methoden der Erfahrungswissenschaften orientiere Soziologie. Auch Durkheims Methodologie ist diesem Paradigma verpflichtet.
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Regierung die wichtigsten Voraussetzungen sozialer Ordnung darstellen. Zentrale Instanz der gesellschaftlichen Ordnungsbildung, weil wirksamer als politische Regulierung des Handelns, ist jedoch, nach Comte, die Moral: als deren wesentlichen Inhalt bestimmt er den Grundsatz, dass sich die Lohnarbeiter mit ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung abfinden und sich so ihrem Schicksal fügen sollen. Diese Moral, so die strategische Überlegung Comtes, soll einen Individualismus – die Interessenorientierung der Lohnarbeiter – verhindern, der die Institutionen in Chaos zu überführen und den Fortschritt zu unterminieren droht. Im Anschluss an Comte ist auch noch bei Durkheim die Frage nach einer integrativen Moral für die durch Klassenkämpfe charakterisierte Industriegesellschaft zentral. Durkheims Ziel ist eine positive Wissenschaft der Moral, der es gelingen soll, einen Maßstab ›moralischer Gesundheit‹ gegenüber den ›Pathologien‹ der Gesellschaft (überbordener Individualismus) herauszuarbeiten.7 Durkheims Fragestellung richtet sich in dieser Hinsicht gegen den mit der Ausweitung der Arbeitsteilung verbundenen Individualismus. Das zentrale Problem, dem sich das Denken Durkheims widmet, ist das eines ausgewogenen Verhältnisses von ›Differenzierung‹ und ›Integration‹, also wie Individualismus und Ordnung gleichzeitig aufrechterhalten werden können. Die Lösung sieht er in der Durchsetzung einer bestimmten, für die Moderne prototypischen Gestalt der Solidarität, die er aus einer geschichtsphilosophischen Betrachtung entwickelt. Durkheim vergleicht in seiner Betrachtung die Moralentwicklung ›primitiver‹ und ›moderner‹ Gesellschaften. Dabei nimmt er die jeweilige Rechtsentwicklung als Indikator für die Existenz verschiedener moralischer Integrationsmodi. In ›primitiven Gesellschaften‹ findet sich ein Zustand der Empathie der Einzelnen durch Gleichartigkeit. In ihnen können keine individuellen Abweichungen von den tradierten Normen geduldet werden. Jede Abweichung wird als Bedrohung des Lebenszusammenhangs im Ganzen ausgelegt. Die Bestrafung erfolgt durch ein repressives Recht. Da die Rechtsverletzung durch den Einzelnen die Gesellschaft im Ganzen angreift, soll die Strafe den Normalzustand, die Integrität der Gesellschaft, wieder herstellen, indem es den Einzelnen zur Normenbefolgung zwingen will. Hieran liest Durkheim eine ›mechanische Solidarität‹, die den ›Stammesmenschen‹ mit dem Kollektiv verbindet, ab. Die Spielräume, eine individuelle und autonome Identität auszubilden, sind dem entsprechend eingeschränkt. Mo7 | Siehe zum Folgenden Durkheim 1977 sowie Müller/Schmidt 1988: 481ff.
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derne, arbeitsteilige und differenzierte Gesellschaften sind demgegenüber durch individualistische Handlungen und Handlungsorientierungen gekennzeichnet, was die Frage nach der Qualität ihres Zusammenhalts aufwirft. Es existiert Empathie trotz Verschiedenheit. Durkheim begreift Arbeitsteilung als Quelle einer eigenständigen Solidarität, einer ›organischen Solidarität‹ sui generis zwischen individualistischen Einzelnen. Grundsätzlicher Ausdruck dessen ist restitutives, oder ›wiedergutmachendes‹ Recht, wie es in den Formen des freien Vertrags und des Zivilrechts gegeben ist. Im Zivilrecht sind Normverletzungen Sache zwischen den Vertragspartnern, es geht demnach nicht unmittelbar und notwendig um die Bestandsbedingungen der Gesellschaft im Ganzen. Das repressive Recht ist in arbeitsteiligen Gesellschaften zwar auch vorhanden, es ist jedoch von geringerer Bedeutung. Nach Durkheim hat die Moderne nun grundsätzlich eine Tendenz zur Durchsetzung ›organischer Solidarität‹. Es existieren jedoch ›pathologische Formen der Arbeitsteilung‹, die diese Durchsetzung unterminieren und verhindern. Solche ›Anomien‹ stellen sich dar als Verhinderung von Solidarität durch Klassenkämpfe und Wirtschaftskrisen. Sie resultieren zum einen daraus, dass die außervertraglichen Bedingungen (›nicht-vertraglichen Elemente‹, das sind informelle/normative Dinge, kodifizierte Normen und Mechanismen der Konfliktregelung) des Vertrages nicht hinreichend entwickelt sind. Zum anderen führen sowohl der generelle Zwang Arbeitsverträge zu schließen, als auch durch übermäßige Wirtschaftsmacht der Unternehmen bedingte Diktate von Vertragsinhalten, zur Unterminierung von Solidarität. Als Lösung fordert Durkheim die Durchsetzung der organischen Solidarität. Die Beseitigung von ›Pathologien‹ und die Verallgemeinerung der ›organischen Solidarität‹ hätte hierbei politische Implikationen, nämlich die Veränderung rechtlicher Institutionen, etwa in Gestalt der Abschaffung des Erbrechts zur Sicherung der Chancengleichheit und die Durchsetzung einer dementsprechenden Sozialisation (Erziehung). Durkheims Untersuchungen zum Verhältnis von Arbeitsteilung und Moral8 werden vor dem Hintergrund eines positivistischen, ge8 | Durkheim formuliert hierbei eine holistische Soziologie, die arbeitsteilige und durch die Existenz von sozialen und politischen Institutionen charakterisierte Gesellschaften, »in denen die organische Solidarität überwiegt« (Durkheim 1977: 237), als Gesellschaften begreift, die »aus einem System verschiedener Organe [bestehen], von denen jedes eine Sonderrole ausübt, und die ihrerseits aus differenzierten Teilen bestehen« (ebd.).
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gen Spekulation und Verstehende Methode gerichteten Wissenschaftsbegriffs formuliert. 9 Das zentrale Postulat der soziologischen Methode Durkheims findet sich in der ›Regel‹, die besagt, dass Gegenstand der Soziologie ›soziale Tatsachen‹ sind, die mittels einer systematischen wissenschaftlichen Begriffsbildung nach dem Vorbild der Naturwissenschaften wie Dinge zu behandeln seien. Dabei wird angenommen, dass ›soziale Tatsachen‹ einen überindividuellen Charakter aufweisen, der sich wesentlich im Zwangscharakter »kollektiver Zustände« (Durkheim 1984: 109), sozialer Normen und Institutionen, manifestiert. Durkheim verweist konkret u.a. auf »Rechtsnormen, Moralgebote, religiöse Gebote, Finanzsphäre usw.« (ebd.: 107). Den irreduziblen Charakter ›sozialer Tatsachen‹ hält Durkheim in deren formaler Definition fest: »Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt« (ebd.: 114).10 Die zweite basale ›Regel‹ besagt, das die Soziologie zwischen ›Normalem‹ und ›Pathologischem‹ unterscheiden muss; sie muss also ein Normalitätskriterium sozialer Entwicklung bestimmen: dieses ist der ›Durchschnittstypus‹. Die Aufgabe der Soziologie besteht für Durkheim darin, im sozialen Wandel das ›Durchschnittliche‹ bzw. den ›Normalzustand‹ zu ermitteln und Partei dafür zu ergreifen, diesen zu erhalten. Grundzüge und Grenzen des soziologischen Individualismus bei Max Weber | Die neukantianische Soziologie nimmt nun gegenüber der französischen, gegen den Individualismus gerichteten strukturalistischen Soziologie, die sich vorrangig im Verhältnis von Ökonomie, Staat und Moral bewegt, insbesondere den Zusammenhang von Kultur – geistig-kultureller Entwicklung im weitesten Sinne – und Gesellschaft in den Blick. Mit der industriellen Revolution 9 | Zu den methodologischen Grundsätzen der Durkheimschen Soziologie vgl. Durkheim 1984. 10 | An anderer Stelle betont Durkheim, dass sich der objektive Charakter der ›sozialen Tatsachen‹ daran zeige, dass sie »durch einen bloßen Willensentschluß nicht veränderlich« (Durkheim 1984: 126) seien. So unterstreicht er, »daß die sozialen Erscheinungen diese Eigentümlichkeit besitzen. Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gußformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (ebd.).
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verschärfen sich soziale Gegensätze, die Lohnarbeit wird ausgeweitet, es bildet sich eine Eigendynamik des Kredits (›Finanzkapital‹), die Wissenschaft wird zur systematischen Produktivkraft, der Konsum von den bürgerlichen Schichten greift allmählich auf die geistig-kulturellen Bewusstseins- bzw. Lebensformen über. Zugleich wird dieser Prozess von der Auflösung des liberalen ›Nachtwächterstaats‹ begleitet, wie dies am virulentesten in der Verstaatlichung von Industriezweigen oder der staatlichen Kontrolle des Finanzwesens (inkl. Notenbank) wird. Die Erfahrungen der Auswirkungen der Dynamik der ›Geldwirtschaft‹ auf die Kultur wird bei Simmel in der Philosophie des Geldes (1900) facettenreich verarbeitet (vgl. Simmel 1989). Simmel nimmt die Eigendynamik der Geldwirtschaft und die damit sich ausdehnenden Prinzipien der Rationalität in Wissenschaft, Recht, Technik gegenüber der Bedeutung individueller Persönlichkeitsentfaltung und der Rolle des Gefühls wahr und kritisiert das in diesem Zusammenhang sich vollziehende Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur (vgl. Lichtblau 1997). Und auch in der Zeitkritik Max Webers werden die an den Krisen des Individuums – vornehmlich dessen ambivalent sich gestaltender Individualisierung – ablesbaren Konflikte der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft unverhohlen in Form einer »existentiell-individualistischen Gegenwartskritik« (TkH I: 333) entfaltet. Es ließe sich vor diesem Hintergrund zunächst verallgemeinernd festhalten, dass entgegen der Ansicht, Soziologie sei im Wesentlichen eine spezifische Methode (siehe Simmel), die Soziologie durchaus einen anderen Gegenstand als die Ökonomie, also einen eigenen Objektbereich und eine eigene Fragestellung für sich geltend machen kann: nämlich die Dynamik des historischen Zusammenhangs von Individuum und gesellschaftlichen Institutionen im weitesten Sinne.11 Darüber hinaus entwickelt die Soziologie andere Methoden als die Ökonomie, obgleich sie später im Zuge ihrer stärker empirisch-statistischen Fortbildung ähnlichen Formalisierungsund Mathematisierungstendenzen unterliegt wie schon die Ökonomie vor ihr. Hatten Comte und Durkheim die Soziologie nach dem Vorbild der Erfahrungswissenschaften durchführen wollen, so differenziert sich die soziologische Methodologie um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts bei Weber und Simmel im Sinne einer 11 | Selbstverständlich müssen sich soziologischer Individualismus und Strukturalismus dabei die Frage gefallen lassen, ob sie die kapitalistische Wirtschaft oder den politischen Staat in soziologischen Kategorien angemessener begreifen können als die sich dafür jeweils zuständig wähnenden Spezialdisziplinen.
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genuinen geisteswissenschaftlichen, maßgeblich von Dilthey und Rickert inspirierten aus. Mit dem geisteswissenschaftlichen Konzept des psychischen Verstehens bei Dilthey wird der Grundstein für die fruchtbare Tradition einer genuin sozialwissenschaftlichen Hermeneutik seit Simmel und Weber gelegt. Gemäß dieser methodologischen Divergenzen zwischen strukturalistischer und historisch-verstehender Soziologie unterscheiden sich auch die ausgewiesenen Gegenstände: so sind dies für Durkheim jene außerhalb des Bewusstseins existierenden ›sozialen Tatsachen‹ und für Weber das sinnhaft-rationale soziale Handeln. In der französischen Tradition wird die Dynamik der Gesellschaft dementsprechend als ›System‹ (Comte) oder ›Organismus‹ (Durkheim) ausgewiesen; in der deutschen Tradition wird Gesellschaft im Kontext einer »Soziologie ohne Gesellschaft« (SE: 16; Tyrell 1994) nominalistisch als bloßer ›Name‹ für die historisch-dynamische Gestalt der ›Rationalisierung‹ (Weber) oder die ›Wechselwirkung‹ (Simmel) sozialer Handlungen ausgewiesen. Resultat dieses Entwicklungsprozesses sind ›zwei Soziologien‹ (Vanberg), die sich durch ein entgegengesetztes Gegenstands- und Methodenverständnis auszeichnen und die im frühen 20. Jahrhundert gleichermaßen institutionalisiert sind: individualistische und kollektivistische. 12 Max Weber formuliert seine Theorie vor dem Hintergrund eines fortgeschrittenen gesellschaftlichen Institutionalisierungsprozesses und vor dem Hintergrund einer damit einhergehenden Differenzierung von Ökonomie und Soziologie. In der neukantianischen Soziologie Webers finden sich sowohl ein spezifisches Gegenstandsverständnis und eine spezifische Fragestellung als auch eine eigenständige Methodologie. Neben Aspekten der strukturalistischen Theorie von Durkheim bildet Webers Soziologie einen zentralen methodologischen und inhaltlichen Bezugspunkt der in den 1930er Jahren entstehenden Kritischen Theorie, insbesondere der Soziologie Adornos. Webers Gegenstands- und Methodenverständnis speist sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Quellen. Dazu gehören die erkenntnis- und wertphilosophischen Grundkonzeptionen des Neukantianismus bei Rickert, die »marginalistische Revolution« (Heinrich 2001: 62) in der nationalökonomischen Neo-Klassik sowie der im Werturteilsstreit zutage getretene Problemhorizont. Weber greift Rickerts Unterscheidung von ideographischer Geistes- und nomothetischer Naturwissenschaft ebenso auf wie Rickerts erkennt12 | Die integrativen Paradigmen werden erst seit den 1970er Jahren formuliert. Die Kritische Theorie geht, wie sich zeigen wird, einen anderen Weg.
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Die Klassiker der Soziologie: von Comte und Durkheim zu Weber und Lukács
Subjektivität zwischen Theorie und Gesellschaft
nistheoretisch begründeten Wirklichkeitsbegriff, nach dem die Welt der Erfahrungsgegenstände als ›heterogenes Kontinuum‹ aufzufassen ist, dem keine Eigenstruktur zuzuerkennen sei. Im Zentrum der Rickertschen Kulturtheorie steht ihrerseits die Frage nach der Existenzweise der das menschliche Handeln, Denken und Empfinden leitenden Werte. Rickert konstruiert ein geschlossenes und hierarchisches ›System der Werte‹13 , auf das sich Weber, obzwar ausgehend von einem »Faktum der Werte« (Schluchter 1988: 194), kritisch bezieht bzw. von dem er sich deutlich abgrenzt.14 Über diese systematischen und thematischen Bezüge zu Rickert hinaus hat Weber bei der Entwicklung seiner Soziologie den Wind des seit etwa 1870 einsetzenden Paradigmenwechsels in der ökonomischen Werttheorie, der Grenznutzentheorie (Gosschen, Walras, Menger, Jevons), im Rücken. Schließlich ist Weber in das um die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik entstandene Handgemenge des so genannten ›Werturteilsstreits‹ verwickelt. In einem solchermaßen individualistisch geprägten Klima erhebt Weber den Anspruch, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zu betreiben. Weber begnügt sich in dieser Hinsicht keineswegs mit der Erkenntnis dessen, was an Individualität im Handeln ausgewiesen werden kann, sondern er visiert die objektiven Implikationen – konkret historisch soziale Kontexte, die dem Einzelnen nicht zwingend bewusst zu sein brauchen – individueller Handlungsmotivationen an, obgleich dieser Wirklichkeit nach Weber niemals eine Eigenstruktur zugeschrieben werden darf. In diesem Zusammenhang fordert Weber strenge ›wissenschaftliche Objektivität‹: zwar könne der Wissenschaftler nach Maßgabe subjektiver Präferenzen und zeitgeschichtlicher Erfordernisse die Gegenstände der Erkenntnis auswählen, jedoch habe er sich in der Analyse solcher Gegenstände unbedingt dem Prinzip der Verfahrensobjektivität zu beugen. Zur Analyse von sozialen Handlungen und Handlungszusammenhängen entwickelt Weber das heuristische Instrument des Idealtypus. Die vom Theoretiker gebildeten Idealtypen sollen die Funktion einer systematischen Beschreibung von Wirklichkeit erfüllen. Dieser Wissenschaftsbegriff bzw. diese Begriffsstrategie bildet den Hintergrund von Webers materialen Untersuchungen der Entstehung und Dynamik der modernen Gesellschaft. In der Vorbemerkung zu den religionssoziologischen Aufsätzen 13 | Zu Rickerts Konstruktion des ›Systems der Werte‹ siehe Wöhler 1999. 14 | Siehe im weiteren Verlauf der Argumentation die Ausführungen zum ›Polytheismus der Werte‹ in der Zeitdiagnose Max Webers.
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(1920) resümiert Weber sowohl seine zentrale Fragestellung als auch die damit im Zusammenhang stehende inhaltliche Bestimmung dessen, was er als ›Okzidentalen Rationalismus‹ bezeichnet und dessen Entstehung sein vorrangiges wissenschaftliches Interesse gilt. Der von Weber prätendierte Begriff des ›Okzidentalen Rationalismus‹ umfasst inhaltlich den im 19. Jahrhundert erreichten Stand der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung: »die moderne Naturwissenschaft, […] den systematischen Fachbetrieb der organisierten Wissenschaften […], […] die für den Markt produzierten Druckerzeugnisse der Literatur und den mit Theatern, Museen, Zeitschriften usw. organisierten Kunstbetrieb; die harmonische Musik, […] die wissenschaftlich systematische Rechtslehre, die Institutionen des formalen Rechts und eine Rechtssprechung durch juristisch geschulte Fachbeamte, die moderne Staatsverwaltung mit einer rationalen Beamtenorganisation, die auf der Grundlage gesatzten Rechts operiert; ferner den berechenbaren Privatrechtsverkehr und das gewinnorientiert arbeitende kapitalistische Unternehmen […], das über eine rationale Buchführung verfügt, formell freie Arbeit unter Effizienzgesichtspunkten organisiert und wissenschaftliche Erkenntnisse für die Verbesserung von Produktionsanlagen und Betriebsorganisation nutzt; schließlich […] die kapitalistische Wirtschaftsethik« (TkH I: 225f.). Zentrales Thema der Weberschen Soziologie ist bekanntlich die Genese dieser zunächst spezifisch in Europa, dann in Nordamerika, auftretenden mehrdimensionalen Differenzierung der Wert- und Handlungsorientierungen. Überdies widmet sich Weber der Analyse der Binnendynamik des ›Okzidentalen Rationalismus‹, die sich als Konflikt von »Persönlichkeit und […] Lebensordnungen« (Hennis 1987: 59ff.) begreifen lässt. Weber beschreibt »die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft und des europäischen Staatensystems und deren Entfaltung seit dem 18. Jahrhundert als Vorgang der Rationalisierung« (TkH I: 299f.). Er versteht unter jener historisch-institutionellen Dynamik, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter funktionalistischen Vorzeichen als ›Modernisierung‹ verstanden wird, einen Vorgang der universellen Rationalisierung, in dem das ›durch Weltbildrationalisierung entstandene kognitive Potential gesellschaftlich wirksam wird‹, und zwar als mehrdimensionaler Prozess: in den Dimensionen von sozialen Bewegungen, kulturellen Handlungssystemen (Wissenschaft/Technik, Recht/Moral, Kunst/Erotik) und dem »Königsweg der Rationalisierung« (ebd.), der Institutionalisierung zweckrationalen Handelns (als Staat und Wirtschaft) (vgl. ebd.). ›Modernisierung‹ als ›Rationalisierung‹ bezeichnet im weitesten Sinne so zunächst den Vorgang der »institutionellen Verkörpe-
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rung und motivationalen Verankerung kulturell entwickelter Bewußtseinsstrukturen« (TkH I: 299). Weber konzipiert »Modernisierung als eine Fortsetzung des universalgeschichtlichen Entzauberungsprozesses« (TkH I: 332f.), und zwar als Entzauberung religiös-metaphysischer Weltbilder, die sich in den Dimensionen von Kultur und Gesellschaft ›materialisiert‹. Hinsichtlich der Ausdifferenzierung verschiedener kultureller Wertsphären geht Weber davon aus, dass im Okzident eine ›Weltbildrationalisierung‹ stattfindet, die »zur Entstehung moderner Bewußtseinsstrukturen«, d.h. zu einem »dezentrierten Weltverständnis« und zur »Ausdifferenzierung kultureller Wertsphären (Wissenschaft, Moral, Recht, Kunst)« (Bogner 1990: 54; Hvm) führt. Die Vorstellung der Entstehung unterschiedlicher Wertsphären beinhaltet die Ausdifferenzierung von Ideen und die darauf aufbauende, gewissermaßen eigengesetzlich verlaufende ›Rationalisierung von Symbolsystemen‹ in Form von deren Reproduktion nach je eigenen (Wert-)Maßstäben der Wahrheit, Richtigkeit, Schönheit, Authentizität. So zerfällt das einstmals geschlossene religiöse Weltbild in die Bewusstseinsstrukturen von Wissenschaft/Technik, Recht/Moral, Kunst/Erotik. Das Verhältnis der Sphären zueinander wird dabei als heterogen vorgestellt, insofern die Religiosität keine Einheit stiftet, d.h., die sinnstiftende Einheit metaphysisch-religiöser Weltbilder zerfällt, während die Religion zur Privatsache des Individuums wird und auch das Prinzip der Subjektivität als solches keine über- und einbegreifende Einheit des Bewusstseins darstellt. Gesellschaftliche ›Modernisierung‹ im engeren Sinne ist demgegenüber für Weber, analog zu Marx, in ihrem Kern identisch mit der Ausdifferenzierung von kapitalistischer Wirtschaft (rationale Betriebsführung) und modernem politischem Staat (Verwaltung); sie setzen einander wechselseitig voraus und rekurrieren beide auf das formale Recht als fundamentales Organisationsmittel. Nach Habermas ist insbesondere dieser Zusammenhang Wirtschaft, Recht und Staat für Weber das »zentrale erklärungsbedürftige Phänomen« (TkH I: 227). Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von kultureller und gesellschaftlicher Rationalisierung hat sich Weber mit den kulturellen Implikationen der Herausbildung des ›rationalen Gewerbekapitalismus‹ wiederholt, auch noch im Rahmen seiner religionssoziologischen Schriften, auseinandergesetzt. Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Gesellschaft im Prozess fortschreitender Rationalisierung liefert Weber auf der Folie einer kritischen Abgrenzung gegen den Historischen Materialismus. Seine These lautet dabei, dass Marx und Engels, indem sie die Entwicklung der Produktivkräfte als wesentliche Voraussetzung der moder-
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nen Gesellschaft ausgewiesen haben, einer Monokausalität verfallen seien, die es zu korrigieren gelte. Gemäß dieser Frontstellung geht es Weber darum, die unverzichtbaren kulturellen Voraussetzungen des modernen Rationalisierungsprozesses zu explizieren. Weber präsentiert infolgedessen ein »zweistufige[s] Modell zur Rekonstruktion des Modernisierungsprozesses«, das »die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Bewußtseinsstrukturen und der Implementierung dieser, zunächst auf der kulturellen Ebene vorhandenen, Bewußtseinsstrukturen auf der gesellschaftlichen Ebene [erklärt]« (Bogner 1990: 53f.). Dieser Gedanke entspricht der berühmten Protestantismusthese, nach der die Herausbildung des für die Moderne konstitutiven kapitalistischen Arbeits- und Produktionsprozesses – der ›rationale Gewerbekapitalismus‹ im Gegensatz zum ›Händlerkapitalismus‹ – Resultat der produktiven Synthese eines mit den protestantischen Sekten begründeten ethisch-religiösen Selbstverständnisses und zweckrationaler ökonomischer Handlungsorientierungen zu begreifen ist. Dabei erfasst diese Verbindung zunächst die Gewerbetreibenden (und die politischen Eliten), dann aber auch die Arbeiter. Schließlich lösen sich Gewinnstreben und Arbeitsethik im Prozess der fortschreitenden Rationalisierung stetig von jenen durch die protestantische Ethik gestifteten wertrationalen Handlungsorientierungen ab. Die religiös gestiftete Arbeitsethik wird so zu einer profanen, »bürgerliche[n] Berufsethik« (Weber 1920: 150) fortgebildet, bis zu einem Punkt, an dem die wertrationalen Bindungen vollends aufgelöst sind und Arbeit als bloßer Zwang erfahren wird. In seiner Zeitdiagnose untersucht Weber schließlich die Eigendynamik der zweckrationalen Rationalitätsentwicklung, die sich mit fortschreitender Rationalisierung von ihren wertrationalen Grundlagen ablöst und zunehmend in Konflikt mit der religiösen Ethik gerät. Die andere Seite fortschreitender gesellschaftlicher Rationalisierung zeigt sich dabei im Phänomen der Bürokratisierung, die Weber als Verlust von Freiheit darstellt. Webers Zeitdiagnose, die er in der Zwischenbetrachtung der Wirtschaftsethik entfaltet, enthält zwei nebeneinander stehende Momente der Gegenwartskritik, die sich als Thesen des Sinn- und Freiheitsverlustes charakterisieren lassen. 15 Weber analysiert den Prozess der Rationalisierung als eine ›Dialektik der Rationalisierung‹ (vgl. TkH I), in der die für den Prozess der gesellschaftlich-kulturellen Rationalisierung konstitutive Differenzierung autonomer 15 | Ich orientiere mich hier an der Argumentation von Habermas (vgl. TkH I: 320ff.).
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Wertorientierungen in die Verselbständigung von Rationalisierung umschlägt, sodass das aus traditionalen Bindungen etc. entlassene Individuum immer enger in ein Korsett konkurrierender Weltdeutungen und Handlungsorientierungen geschnürt wird. Der These vom Sinnverlust liegt eine lose gehaltene Konzeption von Wertsphären und Lebensordnungen zugrunde, mit der Weber die Erfahrung der Eigendynamik der Rationalisierung begrifflich einzuholen versucht. Die Entstehung und Entwicklung verschiedener, voneinander differenzierter und miteinander konkurrierender ›Lebensordnungen‹ ist das zentrale Moment, welches jene ›Dialektik der Rationalisierung‹ bewirkt. Insofern Bewusstseins- bzw. Rationalitätsstrukturen, also reine ›Ideen‹ (›Weltbilder‹), für sich betrachtet werden können, stellen sie ›kulturelle Wertsphären‹ dar. Von den ›Ideen‹ lassen sich sodann ›Interessen‹ unterscheiden. Weber geht davon aus, dass soziales Handeln wesentlich durch ›materielle‹ und ›ideelle Interessen‹ motiviert wird. Solche Interessen und nicht Ideen bestimmen das Handeln, wenngleich Ideen durchaus die Weichen für die Richtung des interessengeleiteten Handelns stellen (vgl. Weber 1920: 414). Gegenüber den reinen ›Ideen‹ begründet der Besitz von inneren und äußeren, ideellen und materiellen Gütern ›Interessen‹. Aus der Synthese von ›Ideen‹ und ›Interessen‹ gehen institutionalisierte Wertsphären bzw. ›Lebensordnungen‹ hervor, das sind ›Ordnungen, die legitimen Güterbesitz regeln‹16 und an deren Imperative sich das Handeln wiederum orientiert. Anders ausgedrückt: die Ideen verbinden sich mit spezifischen gesellschaftlichen Interessen, sodass es »zur Implementierung des auf der kulturellen Ebene entstandenen Rationalitätspotentials […], d.h. zur Verkörperung der Rationalitätsstrukturen in den gesellschaftlichen Institutionen« (Bogner 1990: 54) kommt. Diese Interessen ergeben sich in erster Linie »aus Problemen der wirtschaftlichen Reproduktion und des politischen Machtkampfes« (ebd.). Es darf im Zusammenhang mit der Entstehung von Lebensordnungen nicht übersehen werden, dass nicht alle Wertsphären sich zu Lebensordnungen fortbilden und dass Wertsphären und Lebensordnungen desselben Inhalts offenbar durchaus parallel existieren können (vgl. auch Schwinn 2001: 351). Das Individuum bewegt sich dementsprechend zwischen ›Ethos‹ und ›Ordnung‹, im Sinne innerer und äußerer Gestalten der Wertsphären (vgl. Schluchter 1988: 107). Tendenziell kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Interessencharakter der Lebensordnungen potentiell die Entfaltung 16 | Zu den Lebensordnungen vgl. auch Schwinn 2001: 153ff. sowie Wöhler 1999.
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der Eigengesetzlichkeit von Ideen bedroht. Es gibt mehrere solcher Lebensordnungen, die den Besitz an ideellen und weltlichen Gütern regeln und in die sich das Individuum hineingesetzt vorfindet: vor allem Wissenschaftsbetrieb (Wissen), Kunstbetrieb (Kunst), Ökonomie (Reichtum), Politik (Macht), hedonistische Gegenkulturen (Liebe). Die interne Rationalisierung der verschiedenen Lebensordnungen verläuft durchaus asynchron. Ebenso stellt sich das Ineinandergreifen der voneinander unterschiedenen Lebensordnungen als diskontinuierlich dar. Es geht Weber um die Spannungen zwischen Religion und Lebensordnungen sowie zwischen den Lebensordnungen selbst (vgl. Wöhler 1999: 198f.); denn die »zu eigenständigen kulturellen Wertsphären ausdifferenzierten Bewußtseinsstrukturen« werden in prekärer Weise »in entsprechend antagonistischen Lebensordnungen verkörpert« (TkH I: 320). Dieser Antagonismus ist allein schon angesichts der handlungstheoretischen Grundjustierung der Weberschen Theorie nicht als objektiver Konflikt zu verstehen, sondern als ein Gegensatz, der sich in der zwischen wertrationaler und interessen- bzw. ordnungsgeleiteter Handlungsorientierung des Einzelnen manifestiert: »Differenziert wird nicht ein ›Gesellschaftssystem‹, sondern die Persönlichkeit, indem ihr verschiedene Möglichkeiten der Orientierung und Sinnstiftung eröffnet werden. Die Einheit ist durch das Subjekt gegeben, das als einzige Instanz für die Entwicklung von Sinn und Werten und als Adressat von deren Geltungsansprüchen in Frage kommt, und zwar so, daß ihm prinzipiell alle zugänglich sind. Im modernen differenzierten Ordnungsarrangement partizipieren die Individuen an allen Bereichen: Politik, Kunst, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Erotik. Dies ist nur dann möglich, wenn jedes Subjekt ein Sensorium für alle diese Sphären hat, nicht im Sinne einer gleichentwickelten Sensibilität für alle Werte, aber doch einer Empfänglichkeit für die Eigenheiten dieser Unterscheidungen« (Schwinn 2001: 445). Ist die erste Phase der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Wertsphären und Lebensordnungen noch durch Spannung zwischen ›religiöser Brüderlichkeitsethik‹ auf der einen Seite und den Sphären von Politik, Erotik, Kunst, Wissenschaft, Bürokratie und Wirtschaft auf der anderen Seite bestimmt, so setzt mit der endgültigen Ablösung der Sphären von der Religion und deren Marginalisierung eine Konkurrenz zwischen den Sphären ein (vgl. Schimank 1996: 61ff.), in der diese »einander durch die Verabsolutierung unvereinbarer Handlungsorientierungen immer wieder und zunehmend ins Gehege kommen« (ebd.: 62). Indem etwa eine Wertorientierung keine Rücksicht auf andere nimmt, kommt es dazu, dass »die multiplen Spannungen das gesell-
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schaftliche Ganze gleichsam zentrifugalen Kräften aussetzen, die sich in wechselseitigen negativen Externalitäten manifestieren« (ebd.: 63). Der Interpretation von Habermas zu Folge entsteht ein ›selektives Muster der Rationalisierung‹ schließlich dann, wenn mindestens eine Wertsphäre nicht hinreichend bearbeitet wird, nicht hinreichend institutionalisiert wird oder aber die Rationalität einer Lebensordnung die anderer Lebensordnungen überformt; bspw. insofern Bürokratie allumfassend herrscht, also tendenziell »einen für die Gesamtgesellschaft strukturbildenden Effekt« (TkH I: 329) hat. Die These vom Sinnverlust besagt zunächst, dass angesichts dessen, dass die einzelnen Wertsphären/Lebensordnungen im Prozess fortschreitender Rationalisierung der Teilsphären gegeneinander Deutungshoheit beanspruchen, keine einheitliche, gewissermaßen transzendierende und insofern versöhnte Weltdeutung mehr zustande kommt. Die Erfahrung der Welt bleibt ambivalent und vieldeutig. Im Geiste des Nihilismus Nietzsches speist sich dieses Zeitbewusstsein Webers aus der Erfahrung entbundener und gegeneinander verselbständigter Bewusstseinsstrukturen – und der damit verbundenen Ohnmacht des Einzelnen – ohne Aussicht auf eine einheitsstiftende Macht. Im Zuge der Fortbildung von Wertsphären zu Lebensordnungen können sich diese Deutungskonflikte als Konflikte der Handlungsorientierung materialisieren. Indem die konkurrierenden Deutungsmächte der einzelnen Wertordnungen dem Individuum bewusst werden, führen sie zugleich zu Wertkonflikten. Das Individuum kann sich gegenüber der äußeren, sozialen oder inneren Natur nach Maßgabe verschiedener Wertorientierungen je verschieden verhalten. Diese Möglichkeit ist konstitutiv für die »Freiheitsgrade eines dezentrierten Weltverständnisses« (TkH I: 334). Rationalisierung wird dann problematisch, wenn mit der Durchsetzung von gegeneinander verselbständigten Lebensordnungen Motivationskonflikte und Orientierungsprobleme für das Handeln des Einzelnen entstehen. Es können im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der ›Freiheitsgrade‹ Probleme entstehen: dann nämlich, wenn verschiedene Wertsphären konkurrierend auf dieselben institutionellen Bereiche durchschlagen (wenn bspw. Kunstproduktion allein unter ökonomischen Gesichtspunkten stattfinden sollte). Habermas folgert dementsprechend, die kognitiven, normativen, expressiven Momente dürfen sich nicht so weit »zu antagonistischen Lebensordnungen verselbständigen«, dass die »Integrationsfähigkeit des Persönlichkeitssystems überfordert« werde und es »zu Dauerkonflikten zwischen Lebensstilen« (ebd.) komme (siehe auch Habermas 1998). Denn auf diese Weise »wird der Wertkonflikt auch
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zum Problem der Möglichkeiten und Grenzen der Integration heterogener Geltungsansprüche in eine einheitliche Lebensführung« (Wöhler 1999: 198f.), oder anders: es kommt zur ›Wertkollision‹ (vgl. Schluchter 1988: 106f.). Weber sieht so in der Gestalt der antagonistischen Lebensordnungen einen neuen Polytheismus heraufziehen; die Einheit der Weltdeutung und des Handelns kann weder innerhalb noch oberhalb der Sphären und Ordnungen, sondern allein noch in der individuellen Biographie hergestellt werden. Weber appelliert dementsprechend an den heroischen Mut des Einzelnen, Identität in einer gelungenen Biographie herzustellen, also die Wertkonflikte auszuhalten und die etwaigen Handlungskonflikte zu meistern. Gegenüber dieser These des Sinnverlustes nimmt sich die These vom Freiheitsverlust noch weitaus drastischer aus. Die mit ihr inaugurierte Kritik bewegt sich innerhalb der Sphäre der Rationalisierung zweckrationaler Handlungsorientierungen. Weber thematisiert hierbei die Loslösung von Wirtschaft und Bürokratie von ihren wertrationalen Grundlagen und die Folgen für das Individuum. Die Entstehung einer weltlichen Berufsethik bis hin zum puren Arbeitszwang ist das eine. Das andere ist die Tendenz zur Bürokratisierung.17 Dabei sieht Weber in der Bürokratisierung durchaus auch eine Antwort auf »die desintegrativen Tendenzen des ›Polytheismus‹ der ›Wertsphären‹« (Schimank 1996: 66). Allerdings erweist sich diese im Hinblick auf die Handlungschancen der Einzelnen als ambivalent: so garantiert die ›bürokratische Herrschaft‹ zwar einerseits den Fortbestand verschiedener, insbesondere kultureller Wertordnungen und Wertorientierungen, jedoch geschieht dies um den Preis der zunehmenden Abhängigkeit des Einzelnen von den formalen Organisationen, die sich in alle gesellschaftlichen Bereiche ausdehnen (vgl. ebd.: 66f.). 18 Die ›Vergesellschaftung der Kultur‹ verdankt sich auf der Höhe der Weberschen Zeitdiagnose also weniger der Dynamik der Ökonomie als noch der Eigendynamik der Bürokratie. Die antagonistische Dynamik der Rationalisierung von Lebensordnungen kann Ende des 19. Jahrhunderts demzufolge in ihren selektiven, entdifferenzierenden Tendenzen nur stillgestellt werden, indem der selbstbestimmten Realisierung individueller Handlungsorientierungen – der individuellen Ausbalancierung ›antagonistischer‹ Wert- und Handlungsorientierungen – erhebliche Grenzen gesetzt werden. 17 | Zur Einschätzung von Webers Diagnose des Schwundes der Individualität vgl. kritisch Haferkamp 1989. 18 | Das ist Webers berühmtes ›Gehäuse der Hörigkeit‹.
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Die Konzepte von Sinn- und Freiheitsverlust verweisen insgesamt auf den prekären Status der Weberschen Zeitdiagnose. Weber versucht in ihr die Eigendynamik der Rationalisierung zu fassen. Zugleich geschieht dies unter handlungstheoretischen Voraussetzungen, d.h., ohne dass Weber ein Gesellschaftsbegriff für die Durchführung einer solchen Diagnose, in der die Erfahrung der Eigendynamik gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse thematisiert und untersucht werden könnte, zu Verfügung steht. Aus diesem Grunde sieht sich Weber gezwungen, die in seiner Gegenwartsdiagnose herausgearbeiteten Ambivalenzen des von ihm als Rationalisierung beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess als bloßes ›Schicksal‹ zu konstatieren. Kapitalismus und Verdinglichung bei Lukács | Die von Weber – und bereits bei Simmel – herausgearbeitete thematische Trias der Soziologie (Kultur, Individuum, Gesellschaft) leitet gleichermaßen die seit den 1930er Jahren formulierten Strukturtheorien des sozialen Handelns bei Horkheimer und Parsons an. Es ist jedoch zunächst Lukács, der, indem er die neukantianische Rationalisierungstheorie Webers mit der linkshegelianischen Kritik der sozialökonomischen Entfremdung bei Marx zusammendenkt, eine eigenwillige gegenwartstheoretische Synthese entwickelt. Lukács greift die von Weber artikulierte Zeitdiagnose, flankiert von der Kenntnis der Kulturkritik Simmels, auf. Der von Weber als Rationalisierung beschriebene Prozess der ›Modernisierung‹ wird von Lukács unter Rückgriff auf die Marxsche Theorie des Warenfetischismus als universell fortschreitender Prozess der Verdinglichung des Bewusstseins interpretiert.19 Systematischer Ausgangspunkt der Argumentation ist dabei die Form der kapitalistischen Warenproduktion. In ihr findet ›Produktion um der Produktion willen‹ statt. Infolgedessen wird die Verwertung des Werts zum Telos und das Bedürfnis zum Akzidens der sozialökonomischen Entwicklung. Das Kapital muss, um sich zu verwerten, die Arbeit in Regie nehmen. Unter der Voraussetzung, dass Arbeit zur Ware geworden und damit von den Produktions- und Subsistenzmitteln getrennt ist, kann sie in den Produktionsprozess integriert und rationalisiert werden. Die Tätigkeit des einzelnen Lohnarbeiters wird berechenbar (›Taylorsystem‹) und kontrollierbar, von den jeweils besonderen Eigenschaften des Einzelarbeiters wird abstrahiert. Zugleich wird die Arbeitsteilung im Prozess ihrer Rationalisierung beständig intensiviert und erweitert. Diesen Pro19 | Zu Lukács’ Konzeption von ›Verdinglichung‹ siehe bei Dannemann 1997 sowie TkH I: 476, 481.
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zess beschreibt Lukács als ›Verdinglichung‹: die Lohnarbeiter stiften ihren Zusammenhang nicht selbst, sondern sie finden ihren Zusammenhang in objektivierter Weise, gewissermaßen als Subjekt, und sich selbst als atomisiertes Objekt vor. Die Akte der Arbeit sind somit wesentlich Akte der ›Selbstobjektivierung‹ (vgl. Lukács 1970). Jedoch bleibt diese Logik der Verdinglichung nicht auf den Arbeiter beschränkt, sondern betrifft mit fortschreitender Arbeitsteilung im Prinzip alle, die als Träger einer Teilfunktion in die Arbeitsteilung integriert sind. Das ›mechanisierte‹, selbstobjektivierende, weil an Prinzipien der rationalen Regelung orientierte Dasein erstreckt sich letztlich auf alle Gruppen und Schichten, die in diesen Prozess der Arbeitsteilung direkt und indirekt integriert sind: Angestellte, Kapitalbesitzer, Juristen und Richter. Dieses am Arbeitsprozess abgelesene Phänomen der Verdinglichung sozialer Beziehungen sieht Lukács auch in außerökonomischen Bereichen der Gesellschaft walten: auch in der Kunst, Wissenschaft, Religion oder Philosophie identifiziert Lukács jene für den Sachverhalt der Verdinglichung konstitutiven Objekt- bzw. Fetischverhältnisse. Das Grundmodell für diese ist wie gesehen die Ware. Sie ist die zentrale ›Gegenständlichkeitsform‹ der modernen, kapitalistischen Gesellschaft. Nach ihrem Muster werden letztlich die natürlichen, normativen und subjektiven Weltbezüge als objektivierende Einstellung zur inneren und äußeren – natürlichen und sozialen – Welt konstituiert. Von dieser Warte aus interpretiert Lukács den Prozess der gesellschaftlichen und kulturellen Rationalisierung als universellen Prozess der Verdinglichung und damit als Prozess der »Durchkapitalisierung der Gesellschaft« (TkH I: 481). Dieser Befund liegt schließlich der Revolutionstheorie von Lukács zugrunde, nach der dem Proletariat eine privilegierte Stellung hinsichtlich der Möglichkeit der Einsicht in die Zusammenhänge der Verdinglichung zuerkannt wird, und die so das Proletariat als revolutionäres Subjekt begründen soll. Zwar ist die ›Verdinglichung des Bewusstseins‹ nach Auffassung Lukács’ für alle, Kapital und Arbeit, gleichermaßen gegeben, doch die Proletarier können die ›Verkehrung‹ dadurch, dass sie sich als Objekt der Herrschaft wahrnehmen20 besser nachvollziehen als die Kapitalisten (vgl. Lukács 1970: 289ff.), denen sich ihre Verdinglichung bestenfalls in Zeiten der Krise andeutet. Aufgrund der durch die Theorie forcierten Möglichkeit der Einsicht in ihre besondere historische Lage – und letztlich des Vertrau20 | V.a. aufgrund der Erfahrungen, die sie im Arbeitsprozess machen, bspw. ihrem an der zeitlichen Quantifizierung der Arbeit, in der diese als Objekt gesetzt ist, ablesbaren Dasein als Ware.
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ens auf die kommunistische Partei – soll der Kapitalismus revolutioniert werden. Lukács’ ›Philosophie der Praxis‹ erweist sich mit der Grundkonzeption von Rationalisierung als Verdinglichung als eine der wichtigsten Inspirationen der Kritischen Theorie. Dennoch sind die Übergänge zwischen beiden nicht unbedingt fließend, denn Lukács formuliert die Webersche Zeitdiagnose in Marxschen Kategorien; er liest Marx von Weber her (vgl. ebd.: 6). Die Kritische Theorie geht jedoch auf Marx zurück und liest von dort aus die dynamische Entwicklung der Moderne durch Webers Fragestellung hindurch. Hat bereits Weber im Rahmen seiner Lehre vom Idealtypus die gegebenenfalls qualitativ verschiedenen Objektbeziehungen (Individuum, Natur, Gesellschaft) – also v.a. den jeweils spezifischen Charakter gesellschaftlicher, normativer oder innerpsychischer Einheit und Objektivität – nicht zum Gegenstand einer genetischen Entwicklung gemacht, sondern vorausgesetzt und unter die generalisierte Kategorie der Rationalität subsumiert, so teilt auch das Verdinglichungstheorem von Lukács diese Generalisierungstendenz: Lukács stellt, mit Rekurs auf die Marxsche Theorie des Warenfetischs, alle von Weber beschriebenen Rationalisierungsphänomene unter dem Gesichtspunkt der Verdinglichung dar (vgl. TkH I: 481). Damit geht aber auch Lukács das Spezifische der Tauschform verloren, das Adorno als ›objektive Begrifflichkeit‹ ausweist und das den Kern des Gesellschaftsbegriffs der Kritischen Theorie bildet.21 Lukács hat nicht berücksichtigt, was Adorno wiederholt herausgehoben hat: dass nämlich der Wertbegriff des Neukantianismus seinerseits bereits vom ökonomischen Wertbegriff abstrahiert sei (vgl. E: 134), sodass sich sagen lässt, dass Lukács auf halbem Wege stehen geblieben ist. Lukács übersetzt Webers Rationalitätskonzeption mit Marx und übergeneralisiert dabei den genuin ökonomischen Vorgang der Verdinglichung, womit ihm zugleich das Besondere dieses Vorgangs verloren geht. Adorno denkt Verdinglichung demgegenüber unmit21 | Adorno bewegt sich damit ganz offensichtlich hinsichtlich der Sachproblematik in der ökonomischen Wert- und Geldtheorie auf einem Niveau, das die neo-klassische Ökonomie durch den sich immer wieder als aporetisch erweisenden (siehe Amonns und Schumpeters, aber auch Simmels Einschätzungen) Befreiungsschlag der Grenznutzentheorie verfehlt. Den programmatischen Äußerungen Adornos (siehe Sohn-Rethel 1965) ist zu entnehmen, dass er ein einigermaßen klares Bewusstsein darüber gehabt haben muss, dass der makroökonomische Wert – das ist für Adorno das einheitsstiftende Prinzip der Gesellschaft – in seiner Genese entwickelt werden muss.
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telbar mit Marx als Wertgegenständlichkeit (Tausch). Deren Expansion liegt, so ist Adorno zu verstehen, im Begriff der Reproduktion von Struktur – dem versachlichten Charakter der Produktionsverhältnisse –, die die objektivierenden ästhetischen, normativen, erotischen oder psychologischen Weltbezüge zu ihren Inhalten macht. ›Subsumtion‹ meint folglich das In-Form-Gießen zum Zwecke der Reproduktion verselbständigter Gesellschaftlichkeit, das kraft der inneren und notwendigen Dynamik der Tauschgesellschaft seinem Begriff nach immer schon ›totale Vergesellschaftung‹ ist. Die als ›Rationalisierung‹ und ›Verdinglichung‹ beschriebenen Phänomene erweisen sich so als Vorderseite einer fortschreitenden strukturellen, durch die Produktionsverhältnisse gesetzten Verkehrung, aus deren eigentümlicher Gestalt schließlich die spezifischen subjektivistischen und objektivistischen theoretischen Reflexionsformen der Moderne – der moderne Wissenschafts- und Wahrheitsbegriff – als sich selbst undurchsichtige Reflexionsformen dieser sich blind durch das individuelle Handeln durchsetzenden strukturellen sozialökonomischen Verkehrung abgeleitet werden können.
Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Kritischen Theorie: vom frühen Horkheimer zum späten Adorno Kultur, Gesellschaft und Ideologie beim frühen Horkheimer | Die Begriffe des ›okzidentalen Rationalismus‹, der ›Moderne‹ und der ›Modernisierung‹ bezeichnen gleichermaßen die Konstitution eines mit der dynamischen Dualität von Vereinzelung und Institutionalisierung gegebenen, historisch neu- und einzigartigen Gegenstandsbereichs, mit dessen Konstitution zugleich spezifische Formen seiner Selbstreflexion entstehen: moderne Philosophie, moderne Kunst, schließlich Sozialtheorie im weitesten Sinne (Naturrecht, Politische Ökonomie, Staatswissenschaften, Soziologie). Damit drängen sich verschiedene Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Theorien zur Gesellschaft auf: wie fassen sie das Verhältnis von Individuum und Institution und wie reflektieren sie ihre eigene Verwicklung mit dem Gegenstand? Existiert theoretische Reflexion unabhängig von der Struktur ihres Gegenstandes, oder geht dieser selber noch konstitutiv in sie ein? Wenn ja, wie hängen dann beide genau zusammen? Es sind offensichtlich Fragen dieser Art, die auch den jungen Horkheimer umtreiben und die er mit dem paradigmatischen Entwurf einer Kritischen Theorie der Gesellschaft beantworten will. Die Kritische Theorie fragt seit den 1930er Jahren zunächst nach der
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Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Kritischen Theorie
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Funktion der Kultur für die Vermittlung eines psychologischen Individuums und einer kapitalistischen Ökonomie. Horkheimer vertritt im Kontext seines Programms der Kritischen Theorie der Gesellschaft einen an Marx anknüpfenden Begriff der Ideologie sowie einen spezifischen diesem zugrunde liegenden Begriff der Gesellschaft. Das von Horkheimer in den 1930er Jahre formulierte Programm wird im Zuge der Erfahrung des Faschismus von Horkheimer aufgegeben und erst nach 1945 von Adorno konstruktiv wieder aufgegriffen. Gegenüber der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, die Horkheimer der Kritischen Theorie als Fundament zugrunde legen will22, sieht sich die Kritische Theorie in der Zeit ihrer Entstehung sowohl einem veränderten institutionellen wie auch ideengeschichtlichen Entwicklungsstand gegenüber. Jay schreibt hinsichtlich der Entwicklungen, die zwischen Junghegelianismus und Kritischer Theorie liegen: »Die fast hundert Jahre, die inzwischen vergangen waren, hatten […] enorme Veränderungen bewirkt und damit weitgehend andere Voraussetzungen für die theoretische Arbeit geschaffen. Waren die Linkshegelianer die unmittelbaren Nachfolger der klassischen deutschen Idealisten gewesen, so trennten die Frankfurter Schule von Kant und Hegel immerhin Schopenhauer, Nietzsche, Dilthey, Bergson, Weber, Husserl und viele andere, von der Systematisierung des Marxismus selbst gar nicht zu reden. Die Kritische Theorie hatte sich folglich gegen eine ganze Phalanx von Konkurrenten zu behaupten, die Hegel aus dem Felde geschlagen hatte. Und natürlich konnte sie sich ihrem Einfluß nicht durchweg entziehen« (Jay 1973: 65). Diesem zweifelsohne zutreffenden Urteil, dem im Einzelnen weiter nachzugehen wäre, ließe sich eine für die Formulierung der Kritischen Theorie wesentliche theoretische Entwicklung hinzufügen: die durch Freud begründete Psychoanalyse, die neben der Marxschen Theorie den zweiten zentralen Referenzpunkt der frühen Kritischen Theorie bildet. 23 Die Bedeutung der Psychoanalyse für die frühe Kritische Theorie erschließt sich vor dem Hintergrund der Fragestellung Horkheimers in den 1930er Jahren. Auch die Frage nach der Rolle der Soziologie Max Webers für den jungen Horkheimer ist eigentlich bereits an der Fragestellung Horkheimers selbst ablesbar, nämlich die auch Horkheimer antrei22 | Siehe die Arbeiten Materialismus und Moral (1933), Zum Problem der Wahrheit (1935) oder Traditionelle und Kritische Theorie (1937). 23 | Vgl. hierzu Jay 1973: 113ff.; Honneth 1985: 29ff. Adorno nimmt seit den 1950er Jahren eine zunehmend differenzierte und reservierte Position gegenüber der Psychoanalyse ein (vgl. A 8: 86ff.).
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bende Frage nach dem Verhältnis von Individuum, Kultur und Gesellschaft. Horkheimer vermittelt mit seinem Begriff der Kultur – im Kontext der Fragestellung der neukantianischen Soziologie – die Erkenntnisse der Marxschen Kapitalismuskritik und der Psychoanalyse. Es geht Horkheimer um die Frage, wie die Reproduktionszwänge des Systems und die Motivation des Einzelnen zusammenhängen, also wie ›Integration‹ des Individuums in den Herrschaftszusammenhang der Gesellschaft bzw. die Reproduktion von Gesellschaft durch das Handeln psychologischer, ebenso bedürftiger wie zur Reflexion fähiger Individuen stattfindet; wie also das Antriebspotential der ›Subjekte‹ und die strukturellen Unterdrückungsverhältnisse ineinander greifen. Horkheimer sperrt sich gegen eine »dem utilitaristischen Denken verpflichtete Trivialpsychologie, die als Motiv allein den ›wirtschaftlichen Egoismus‹ zulässt« (Honneth 1985: 30). Die auf Freud zurückgehende psychoanalytische Theorie liefert Horkheimer gegenüber einem solchen ökonomischen Reduktionismus den Schlüssel zu all jenen psychischen Motiven, die sich über das strategische Handeln hinaus in sozialen Handlungen niederschlagen (vgl. ebd.). Die Integration der Psychoanalyse soll, laut Honneth, dazu dienen, den »individuellen Prozeß der Triebsozialisation, durch den hindurch sich ein gesellschaftliches System der Naturbeherrschung zur sozial akzeptierten Einheit eines Lebenszusammenhangs integriert« (ebd.: 32) zu analysieren. Horkheimer knüpft kritisch an Fromm an, der die Familie als funktional für die Reproduktion des Wirtschaftsprozesses begreift, indem in ihr systemische Zwänge direkt in Sozialisation übersetzt werden: »das Erziehungsverhalten der Eltern, das den äußeren Zwang der Gesellschaft innerfamilial abbildet, fixiert die psychosexuelle Entwicklung des Kindes auf der Stufe, die in das sozial geforderte Verhaltensschema passt; die Triebanteile dagegen, die über das in der Familie prämiierte Äußerungsspektrum hinaustreiben, werden künftig sublimiert und verdrängt – die libidinösen Strebungen des heranwachsenden Subjekts sind also in die gesellschaftlich gewünschten Handlungsbahnen hineingewachsen« (ebd.: 33). Diese Interpretation wurde auch als »Theorie der totalen Sozialisation« (Dahmer nach ebd.: 34) charakterisiert. Horkheimer sei, so Honneth, allerdings vorsichtig gegenüber einer Theorie, die »weder der individuellen Bedürfnisdisposition einen libidinösen Überschuß noch dem sozialen Handeln eine sozialisatorische Eigenständigkeit gegenüber den ökonomischen Systemzwängen zugesteht« (ebd.) und entwickelt, um den Zusammenhang von Ökonomie und Identitätsentwicklung zu explizieren, eine spezifische Theorie der Kultur (vgl. ebd.).
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Subjektivität zwischen Theorie und Gesellschaft
Die Ausformulierung der Theorie der Kultur, die sich im Laufe der 1930er Jahre mehrmals verändert, vollzieht sich vor dem Hintergrund der Erfahrung der Veränderungen, die das frühe 20. vom späten 19. Jahrhundert trennen. Der Durchführung jenes Programms, das die Unterscheidung von Traditioneller und Kritischer Theorie und damit ein spezifisches Selbstverständnis der Kritischen Theorie einbegreift, liegt ein historischer Erfahrungshorizont zugrunde, welcher sich vom Weberschen unterscheidet. Vor dem Hintergrund der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie kommt die Kritische Theorie zu einem radikaleren Gesellschafts- und Wissenschaftsbegriff als die Soziologie vor ihr. Jay, der, wie gesehen, auf die veränderte ideengeschichtliche Konstellation verweist, verweist zugleich auf »die eingetretenen konkreten Veränderungen in den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnissen« (Jay 1973: 65). Einige zentrale Aspekte dieser Veränderungen sind: die zunehmende Konzentration des Kapitals seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (›postliberaler Kapitalismus‹; ›Monopolkapitalismus‹ anstelle des ›Konkurrenzkapitalismus‹), die Russische Revolution 1917 (Planwirtschaft und Bürokratisierung) und das Ausbleiben proletarischer Revolutionen in Europa (stattdessen Universalisierung des industriellen Lohnarbeitsverhältnisses), das Scheitern der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, die Machtübernahme der Nationalsozialisten (›Staatskapitalismus‹), der wirtschaftspolitische Interventionismus in den USA (›New Deal‹) und die damit verbundene Ausweitung einer fordistischen Gesellschaftsordnung in Gestalt der Massenproduktion (›Fordismus‹) und Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses (›Taylorismus‹), die Entstehung großer Interessenorganisationen (Gewerkschaften statt Revolution), staatlicher Bildungsanstalten und der Kleinfamilie (einschließlich der Auflösung der Homogenität der Familie, dadurch, dass Sozialisation von außerfamiliären Instanzen übernommen wird), Massenkonsum und Massenkultur (Massenmedien), wissenschaftliche Gesellschaftsplanung und ›administrative research‹ und schließlich eine in den USA prototypisch verlaufende Entstehung einer ›formierten‹ Gesellschaft (Konsumideologie, Anti-Kommunismus). Aus dem Spannungsfeld dieser institutionellen Transformationsprozesse, dem überlieferten Theoriebestand und den praktisch-politischen Intentionen ergeben sich ab den 1930er Jahren sowohl Parsons’ ›Grand Theory‹, als auch das Programm der Kritischen Theorie.24 Der Auffassung Horkheimers zufolge, die sich seiner 1931 ge24 | Zu Parsons vgl. Abschnitt S. 179ff. dieser Arbeit.
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haltenen Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialforschung25 entnehmen lässt, haben sich Sozialphilosophie und Soziologie verstärkt der Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaft, Individuum und Kultur gewidmet: es ist die »Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil usf.« (H 3: 32; Hvm). Horkheimer selber begreift die Phänomene der modernen Kultur als vermittelnde Instanz – als ›Kitt‹ – »zwischen dem System der gesellschaftlichen Arbeit und der individuellen Motivbildung« (Honneth 1985: 36). Laut Honneth (ebd.: 36ff.) hat der Begriff der Kultur in dieser Phase noch eine durchaus ›lebensweltliche‹, ›sozialintegrative‹ Bedeutung, während Horkheimer in seinen darauf folgenden Arbeiten einem »funktionalistischen Reduktionismus« erliege, indem er nunmehr auf die gewissermaßen »verhaltenssteuernde« Bedeutung von institutionalisierten »kulturellen Einrichtungen« (ebd.: 37) für die Durchsetzung und Reproduktion jener »sozial verselbständigten Zwänge der ökonomischen Reproduktion« (ebd.: 36) abhebt. Horkheimer habe, so Honneth, »den handlungstheoretischen Begriff der Kultur, den er in seinem Antrittsvortrag im Blick zu haben scheint, in den institutionentheoretischen Begriff des ›kulturellen Apparats‹ transformiert« (ebd.: 37). 26 Dieser Befund speist sich aus der Interpretation von Horkheimers Ausführungen zu Autorität und Familie (1936). Diese kreisen um die Fragen, wie die spezifischen »Handlungsweise[n] der Menschen« (Horkheimer 1936: 168) und die ›Festigkeit‹ der Gesellschaftsformation zustande kommen. Auch hier wird nun grundsätzlich die institutionell-kulturelle Vermittlung zwischen Individuum und Wirtschaftsstruktur als wesentlich gedacht. Die für die Stabilität der gesellschaftlichen Institutionen wichtige Anpassung der Subjekte wird nunmehr, nach 25 | Siehe hierzu Max Horkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in H 3: 20ff. 26 | Honneth sieht diesen ›Begriff der kulturellen Institution‹ in allen Werken der 1930er Jahre sich durchhalten. Er charakterisiert diese Position folgendermaßen: »die Institutionen der Kultur sind also auf das individuelle Triebpotential durchgreifende Stabilisierungsfaktoren im gattungsgeschichtlichen Vervollkommnungsprozeß der gesellschaftlichen Naturbeherrschung« (Honneth 1985: 38).
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Darstellung Horkheimers, im Wesentlichen durch die »sozialisierende Funktion von Bildungseinrichtungen« (Honneth 1985: 37) vollzogen. Auf der Höhe dieser Argumentation, so Honneth (vgl. ebd.: 36f.), habe Horkheimer allein noch die institutionelle Seite der Kultur (Familie, Schule, Kirche, Kunstanstalten) im Auge, deren Eigendynamik er zwar durchaus angemessen erfasse, mit deren Verabsolutierung gegenüber der lebensweltlichen Dimension der Kultur unterliege Horkheimers Kulturbegriff jedoch einem ›funktionalistischem Reduktionismus‹, also einem selektiven und damit verkürzten Begriff der Kultur, der die sozialintegrativen Aspekte der Kultur ausblendet. Über diese inhaltliche Bestimmung des Kulturbegriffs hinaus ist auf das Verhältnis von Ökonomie, Kultur und Individuum auf dieser Stufe des Horkheimerschen Denkens zu verweisen. Horkheimer begreift die Dynamik der Ökonomie als ›Tiefenstruktur‹, ›Motorik‹, der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: »Den ökonomischen Prozess als bestimmende Grundlage des Geschehens aufzufassen, heißt, alle übrigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrem sich verändernden Zusammenhang mit ihm betrachten und ihn nicht in seiner isolierten mechanischen Form, sondern ihn in Einheit mit den freilich durch ihn selbst entfalteten spezifischen Fähigkeiten und Dispositionen der Menschen zu begreifen« (Horkheimer 1936: 168; Hvm). Es wird hier noch eine relative Äußerlichkeit von Kultur und Ökonomie konstatiert. Zugleich richtet Horkheimer sich jedoch immer schon gegen diejenigen, die von einer vollständigen Autonomie der Kultur ausgehen und verweist auf die bloß ›relative Autonomie‹ der Kultur: in den herrschenden Theorien werde Kultur »wesentlich als eine den Individuen gegenüber selbständige und übergeordnete Einheit betrachtet. Sie als dynamische Struktur, das heißt als abhängige und zugleich besondere Sphäre im gesellschaftlichen Gesamtprozess aufzufassen, entspricht im Gegensatz dazu keiner kontemplativen Stellung zu Geschichte« (ebd.: 172). Beide Aspekte des Horkheimerschen Kulturbegriffs zusammengenommen, lässt sich sagen, dass Horkheimer in dieser Phase die relative Autonomie der kulturellen Institutionen im Wesentlichen als funktional für die Reproduktion von Individuum und Produktionsverhältnissen interpretiert. Laut Honneth existiert in der Kritischen Theorie in den 1930er Jahren überdies allerdings noch ein weiterer, dritter Kulturbegriff, der eine weitere ›Reduktion‹ darstelle (vgl. Honneth 1985: 40ff.). Dieser werde in Adornos und Löwenthals kulturkritischen Arbeiten der 1930er Jahre entfaltet. Deren »Ziel« sei »die ideologiekritische Entschlüsselung des gesellschaftlichen Gehalts der Kunstwerke« (ebd.: 41). Somit würde Horkheimers Kulturtheorie schließlich durch eine »materialistische Lite-
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ratur- und Musiksoziologie« (ebd.) ersetzt. Diese Charakterisierung macht allerdings offenbar nur dann Sinn, wenn die faktische Entwicklung der kulturellen Phänomene selbst berücksichtigt wird: die Entstehung der Kulturindustrie. Steinert hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass deren Entwicklung letztlich den erfahrungsmäßigen Hintergrund der Arbeiten Adornos bildet (vgl. Steinert 1998). Der Wandel des Kulturbegriffs der frühen Kritischen Theorie, mit dem sie sich immer schon deutlich von einem simplen Basis-Überbau-Schema unterscheidet (vgl. Brandt 1981), ist nicht abzulösen von der historisch-institutionellen Transformationsdynamik der geistig-kulturellen Lebensformen – also der allmählichen Subsumtion des kulturellen Lebenszusammenhangs unter die systemischen Logiken staatlicher und kapitalistischer Organisationszusammenhänge. Dieser gesellschaftstheoretische Argumentationsstrang der 1930er Jahre, der vor dem Hintergrund der Erfahrung der immensen Dynamik des Anwachsens von Vergesellschaftung verläuft, wird flankiert von einem ideologiekritischen Pfad. Es fällt dabei insgesamt auf, dass die materialen Arbeiten Horkheimers sich in den 1930er Jahren sogar weniger der Analyse der kulturellen Entwicklung als der Entwicklung der Wissenschaft widmen. Die zentralen Aspekte des Ideologiebegriffs der Kritischen Theorie lassen sich an Horkheimers Aufsatz Bemerkungen über Wissenschaft und Krise aus dem Jahre 1932 ablesen. Horkheimer betrachtet dort die Wissenschaft unter zwei Gesichtspunkten: Wissenschaft ist zum einen Produktivkraft und zum anderen ›Reflex‹ der Struktur der Gesellschaft selbst. In der ersten Hinsicht verweist Horkheimer auf den objektiven Zweck der Wissenschaft, Natur zu formalisieren um sie dann in Gestalt der kapitalistischen Produktivkräfte bzw. in einer ihnen adäquaten technologischen Form umzusetzen (vgl. auch H 3: 282). In der zweiten Hinsicht begreift Horkheimer die für die Wissenschaften konstitutiven Gestalten der Selbstverabsolutierung als durch die Struktur der Gesellschaft selbst bedingt: »der Begriff des Bewußtseins an sich als des angeblichen Erzeugers der Wissenschaft, ferner die Person und ihre aus sich selbst die Welt setzende Vernunft, das ewige, alles beherrschende Naturgesetz, das sich gleichbleibende Verhältnis von Subjekt und Objekt, der starre Unterschied zwischen Geist und Natur, Seele und Leib und andere kategorische Bildungen mehr« (H 3: 43); all dies sind nach Horkheimer »ungeklärte, starre und fetischhafte Begriffe«, die »durch Einbeziehung in die Dynamik des Geschehens zu erhellen wären« (ebd.): »Die Wurzel dieser Mängel […] liegt keineswegs in der Wissenschaft selbst, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen, die ihre Entwicklung hemmen und
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mit den der Wissenschaft immanenten rationalen Elementen in Konflikt geraten sind« (ebd.). Die Gesellschaft aber, als Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Reflexion überhaupt, ist für Horkheimer ein Zusammenhang der objektiven Verselbständigung und Verkehrung, der sich dem wissenschaftlichen Bewusstsein in den Akten seiner Konstitution, indem sich der wissenschaftliche Verstand im Akt seiner Konstitution zugleich selbstverabsolutiert, als dessen notwendiger Grund jedoch selber noch entzieht. Die moderne Wissenschaft, so lässt sich Horkheimer verstehen, verdankt sich der Selbsterfahrung eines Subjekts, deren gesellschaftlichen Implikationen es sich noch in den Akten seiner wissenschaftlichen Selbstbestimmung – d.h. in der systematisch abstrahierenden Reflexion seiner vorfindlichen Weltbezüge – entzieht. Der wissenschaftliche Verstand nimmt so seine Weltbezüge und deren Differenzierung als überhistorisch und naturwüchsig. Dieser ›doppelte Kritikbegriff‹, nach dem die Formen des Bewusstseins aus der Struktur der Gesellschaft selber zu entwickeln sind, liegt offensichtlich auch der bereits im amerikanischen Exil verfassten Abhandlung über Traditionelle und kritische Theorie (1937) zugrunde (vgl. Backhaus 2000: 19f.).27 In diesem gemeinhin als Geburtsurkunde der Kritischen Theorie ausgewiesenen Text laufen die in den vorausgegangenen Arbeiten ausgelegten Fäden unübersehbar zusammen. So steht die Ausführung des Ideologiebegriffs im Zentrum der Argumentation Horkheimers. Charakteristisch für das freie Subjekt und das theoretische Bewusstsein sind deren ›Selbstverabsolutierung‹, d.h., dass sie sich selbst als autonom gegenüber der Gesellschaft – also als voraussetzungslos und autark – wahrnehmen. Im Falle der Wissenschaft impliziert die ›Selbstverabsolutierung‹ ebenso, dass die Gegenstände der Erkenntnis ihr 27 | Der doppelte Kritikbegriff umfasst zum einen die Kritik des Bewusstseins als Nachvollzug der Genese der Selbstverabsolutierung des Bewusstseins aus der Struktur der Gesellschaft selbst. Zum anderen meint Kritik bei Marx und in der Kritischen Theorie die Darstellung der ökonomischen Kategorien selbst. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Horkheimer im Kontext seines Rekurses auf die Kritik der politischen Ökonomie weder auf die Realität der ökonomischen Kategorien eingeht, noch die wissenschaftlichen Implikationen des Begriffs der Darstellung überzeugend zu extrapolieren vermag. Vielmehr scheint Horkheimer mit dem Programm der ›Darstellung‹ einen widerspiegelungstheoretischen Bedeutungsgehalt zu verbinden, also die Vorstellung, dass die dialektische Theorie die dialektische Struktur ihres Gegenstandes begrifflich abbilde.
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als von der Gesellschaft unabhängig existierend erscheinen – Horkheimer spricht dementsprechend von der »sozialen Bedingtheit von Tatsachen sowie von Theorien« (Horkheimer 1937: 29) – und dass sie sich gegenüber den jeweils anderen Disziplinen des Korpus der modernen Wissenschaften autonom wähnt. Diese Art der Selbstwahrnehmung rechnet Horkheimer dem Typus der ›traditionellen Theorie‹ zu. Den Typus der ›traditionellen Theorie‹ sieht Horkheimer weiterhin durch den systematischen Anspruch gekennzeichnet, ein widerspruchsloses System von Sätzen zu formulieren, das gegenüber der Erfahrung hypothetischen Charakter hat (vgl. ebd.: 12ff.). Fluchtpunkt eines solchen Denkens ist ein möglichst geschlossenes universales System der Wissenschaft. Dieses theoretische Selbstverständnis erkennt Horkheimer gleichermaßen in den Natur- wie den Sozialwissenschaften (bspw. bei Tönnies, Weber, Durkheim) wieder. Gegenüber dieser Rekonstruktion des Selbstverständnisses oder soziologisch gesprochen der ›Binnenperspektive‹ der erfahrenden, denkenden und handelnden Individuen geht es Horkheimer nun überdies darum, die gesellschaftlichen Implikationen dieser Selbstverabsolutierungen, ihre ›Notwendigkeit‹, zu thematisieren, womit er sich deutlich gegen den auf Weber zurückgehenden wissenssoziologischen Gedanken einer etwaigen ›Wahlverwandtschaft‹ von gesellschaftlichen Interessen und Ideen abgrenzt. Denn Horkheimers Kritik der ›Ideologie‹ als eines ›notwendig falschen Bewusstseins‹ – Horkheimer spricht von »falsche[m] Selbstbewußtsein« (ebd.: 20) – ist konstitutiv verknüpft mit dem genuin materialistischen Anspruch, dass die Tatsache der Selbstverabsolutierung des Bewusstseins mit der Struktur der Gesellschaft selbst zusammenzubringen ist; oder programmatisch formuliert: dass die Selbstverabsolutierung des Denkens aus der spezifischen Seinsweise der Struktur der Gesellschaft selbst zu explizieren ist; dass die Handlungen und Selbstwahrnehmungen des Einzelnen wie die Reflexionen des Theoretikers als Momente des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zu dechiffrieren sind. In diesem Anspruch macht sich der ›doppelte Kritikbegriff‹ von Marx geltend, nach dem es mit der Einsicht in die Logik der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Verkehrung zugleich möglich sein soll nachzuvollziehen, wie sich spezifische Bewusstseinsformen bilden. Der Begriff des ›notwendig falschen Bewusstseins‹ beinhaltet demnach selber noch den Nachweis, dass die individuellen, sich als ein an-sich autonomes Erstes verstehenden Gestalten des Handelns und Denkens von Gesellschaftlichkeit durchsetzt sind. Dieser Begriff der Ideologie korrespondiert mit dem der Deutschen Ideologie
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bei Marx.28 Marx verfolgt dort das Programm der ›Ableitung‹, d.h. der genetischen Entwicklung, von Vorstellungen aus der Struktur der Gesellschaft.29 Marx selbst entfaltet dies – im Sinne eines Nachweises – erst in seiner Ökonomiekritik, indem er aufzeigt, dass die ökonomischen Theorien einem mit der Produktionsweise konstitutiv verbundenen ›Schein der Zirkulation‹ aufsitzen, auf dessen Höhe sich die gesellschaftliche Struktur notwendig durch die aus dem Austausch hervorgehenden Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen der handelnden Individuen hindurch reproduziert. Marx entwickelt, wie sich individuelle Reflexionsverhältnisse im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Verselbständigung des Werts als Charaktermasken – ›Funktionsträger‹ – konstituieren und dass die bürgerlichen Ökonomen lediglich der Binnenperspektive der Zirkulationsteilnehmer aufsitzen, denen im Handeln die strukturelle Dimension der Konstitution von gesellschaftlicher Gegenständlichkeit, Wertverselbständigung und strukturellen Verhältnissen (Arbeitswert, Produktionsverhältnisse) und damit die objektiven Implikationen der allgemeinen, reziproken und egalitären intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen zwischen vereinzelten Individuen selber nicht bewusst sind. In der Binnenperspektive der Beteiligten existieren allein Interessen, Geld, sinnliche Gegenstände, Eigentum, Recht usw. Deren Unmittelbarkeit erweist sich für Marx als ›gesellschaftlich notwendiger Schein‹. Die bürgerlichen Theorien verdolmetschen allein die Binnenperspektive der handelnden Individuen durch die theoretischen Abstraktionen in Konstruktionen und Begriffssysteme, die gerade die objektiven Implikationen des Handelns verfehlen. Indem sie das individuelle Handeln nicht als gesellschaftlich strukturiertes denken können und es stattdessen, analog zur Binnenperspektive der Beteiligten, als ein Erstes und Konstitutives setzen, formulieren sie, so Marx, den ›Schein‹ der Zirkulation – also den Schein der Unmittelbarkeit – als ein ›Sein‹. Das Denken abstrahiert somit offensichtlich zugleich auch konstitutiv von seinen eigenen gesellschaftlichen Implikationen, dass es die Selbstinterpretation eines bestimmten sozialökonomischen Vorgangs gesellschaftlicher Individuierung ist. Nun setzt die frühe Kritische Theorie jedoch ›traditionelle Theorie‹ und Philosophie nicht lückenlos gleich. Denn der Tenor der 28 | Zur nicht-explizierten Bezugnahme des frühen Horkheimers auf die Thesen über Feuerbach und die Deutsche Ideologie siehe Blank 2002: 63ff. 29 | Vgl. zu den folgenden kursorischen Bemerkungen ausführlicher Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit.
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Ideologiekritik Horkheimers – und später auch Adornos – ist der, dass mit der kopernikanischen Wende Kants ein philosophischer Selbstreflexionsprozess von Subjektivität einsetzt, in dem die Kategorien des philosophischen Bewusstseins wie etwa die des »ewigen ›Logos‹« oder der »Erzeugung« (Horkheimer 1937: 20) relativiert werden. Mit den Theorien von Kant, Hegel, auch noch des Pragmatismus, treibt die philosophische Verabsolutierung von Subjektivität zur Selbstauflösung; in dieser Hinsicht transzendiert bereits die Philosophie selbst den Horizont der ›traditionellen Theorie‹. Fluchtpunkt dieser Reflexionsbewegung wäre das Verschwinden des philosophischen Bewusstseins selbst, das jedoch selber nicht mehr im Medium der Philosophie vollendet, sondern einzig durch ein neues Paradigma, die auf Marx zurückgehende Kritische Theorie, geleistet werden kann. Dieser Begriff der Ideologie kulminiert schließlich in einem Begriff der Theorie, nach dem die Aufhebung der verkehrten Einheit der Gesellschaft zugleich die Aufhebung der spezifischen Gestalten der Theoriebildung impliziert. Der Wahrheitsbegriff der Kritischen Theorie zielt auf die Explikation objektiver Vermittlungszusammenhänge, die das Einzelne als Moment einer es selbst transzendierenden gesellschaftlichen Realität zu denken fähig ist: »Die isolierte Betrachtung einzelner Tätigkeiten und Tätigkeitszweige mitsamt ihren Inhalten und Gegenständen bedarf, um wahr zu sein, des Bewußtseins ihrer eigenen Beschränktheit. Es muß zu einer Konzeption übergegangen werden, in der die Einseitigkeit, welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendig entsteht, wieder aufgehoben wird« (ebd.: 21). Das Pathos der Kritischen Theorie ließe sich so charakterisieren, dass ihr die ›Wahrheit der Theorie die Unwahrheit des Gegenstandes‹ ist, dass also dasjenige, was, mit Hegel gesprochen, sich in der Gestalt des ›Seins‹ präsentiert, letztlich als ›Schein‹ gedacht werden muss, und zwar als ein ›notwendiger Schein‹. Diesen Anspruch verdeutlicht Horkheimer sowohl hinsichtlich der Philosophie als auch der Soziologie. In Bezug auf die Philosophie bedeutet dies: im Zuge der Selbstverabsolutierung des philosophischen Bewusstseins blendet dieses die gesellschaftlichen Implikationen des Verhältnisses von Erfahrung (Objekt) und Erkenntnis (Subjekt) aus. Horkheimer betont gegen die Philosophie die doppelte gesellschaftliche Präformierung der individuellen Erfahrungstatsachen: »Die Tatsachen welche die Sinne uns zuführen sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs« (ebd.: 22). Dem Erkenntnisbegriff der Philosophie liegt die Binnen-
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perspektive des bürgerlichen Subjekts zugrunde, das sich innerhalb des modernen Reproduktionszusammenhangs zugleich als ›aktiv‹ und ›passiv‹ erfährt. Es konstituiert die Gegenstände und nimmt sie zugleich als äußerlich existierende wahr. In der Theorie erscheint dies als Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand. In Bezug auf die Grenzen der soziologischen Theoriebildung grenzt sich Horkheimer gegen das Verstehensideal der Sozialwissenschaften ab: »Die bisherige Geschichte kann nicht eigentlich verstanden werden, verständlich sind in ihr nur Individuen und einzelne Gruppen, und auch diese nicht ohne Rest, da sie kraft ihrer inneren Abhängigkeit von einer unmenschlichen Gesellschaft auch im bewußten Handeln noch weitgehend mechanische Funktionen sind« (ebd.: 28). Kraft dieser Erkenntnis verweist die analytische Aufhebung der sich selbstverabsolutierenden Subjektivität auf eine durchzuführende Phänomenologie der Objektivität, einen zu entwickelnden adäquaten Objektbegriff und letztlich auf eine eigene Theorie dieses Objekts.30 Diesem Konzept der Ideologiekritik korrespondiert ein spezifischer Begriff der Gesellschaft. Wenn Horkheimer wiederholt vom »Lebensprozeß der Gesellschaft« (ebd.: 18, 23) spricht, dann meint er damit den Sachverhalt, dass die Gesellschaft als eine den Individuen vorausgesetzte objektive Struktur erscheint und dementsprechend zu thematisieren ist. Diese Realstruktur ist wesentlich eine des Systems der Politischen Ökonomie. Horkheimer rekurriert dementsprechend auf den ›objektiven‹ Klassenbegriff im Gegensatz zum subjektiven der Soziologie (vgl. ebd.: 39). Hinsichtlich ihres Objekts hält Horkheimer fest, dass die Kritische Theorie nun »einen sich historisch verändernden Gegenstand hat, der bei aller Zerrissenheit doch einer ist« (ebd.: 53); Geschichte ist die Geschichte der Durchsetzung dieser Struktur. Es geht folglich allein um die innere Dynamik der Moderne, »die Idee einer einheitlichen Epoche der Gesellschaft« (ebd.: 42). Horkheimers Gesellschaftsbegriff stellt sich wie folgt dar: der »Unterschied in der Existenz von Mensch und Gesellschaft ist ein Ausdruck der Zerspaltenheit, die den geschichtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens bisher eigen war. Die Existenz der Gesellschaft hat entweder auf unmittelbarer Unterdrückung beruht oder ist eine blinde Resultante wiederstrebender Kräfte, jedenfalls nicht das Ergebnis bewußter Spontaneität der freien Individuen« (ebd.: 22). Horkheimer spricht hinsichtlich der Moderne von den »real weiterbestehenden Widersprüche[n] der menschlichen Existenz« (ebd.: 25), »der Ohnmacht der Individuen vor den von ihnen selbst erzeugten Verhältnissen« (ebd.), einer 30 | Siehe auch hier wieder die Ausführungen unter S. 97ff.
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»unmenschlichen Welt« (ebd.). Diese politisch-ökonomische Struktur ist also ein Verselbständigtes, das als ein Produziertes dem Handeln der Individuen selber noch vorausgesetzt ist und dieses strukturiert. Die mit der Bewältigung von Strukturerfordernissen gelingende Individualisierung produziert immer neue Handlungszwänge (›Sachzwänge‹). Horkheimer visiert demnach einen Begriff der Gesellschaft an, nach dem Gesellschaft wesentlich als gesellschaftlicher, sich konstitutiv im Medium der vorgängigen und verselbständigten Allgemeinheit vollziehender Vorgang der Individuierung und Individualisierung zu verstehen ist. Horkheimer geht vom Stand der post-liberalen Gesellschaft aus, d.h. der Vorherrschaft wirtschaftlicher und staatlicher Eliten im Gegensatz zur Konkurrenzgesellschaft des Liberalismus. Kern der Gesellschaft ist das Kapitalverhältnis (vgl. ebd.: 26ff.) bzw. die »auf Tausch begründete Ökonomie« (ebd.: 42): das »Tauschverhältnis beherrscht infolge seiner Dynamik die gesellschaftliche Wirklichkeit« (ebd.), im Sinne einer »grundlegenden Struktur« (ebd.). Es ist das ökonomische Makrosubjekt, das Kapital als verselbständigtes Verhältnis, als »grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt« (ebd.: 49), »die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, dieses Kernstück der herrschenden Gesellschaftsordnung« (ebd.: 51), das sich historisch in Gestalt der beständigen »Umwälzung der sozialen Verhältnisse« (ebd.: 53) durchsetzt bzw. zur Ausdehnung des Tausches über den gesamten Globus treibt (vgl. ebd.: 44). Die Kritische Theorie ist »Konstruktion des Geschichtsverlaufs als notwendiges Produkt eines ökonomischen Mechanismus« (ebd.: 45). Horkheimer grenzt den Monopolkapitalismus seiner Zeit gegen den Liberalismus ab: im Liberalismus war die »Klasse der Privateigentümer […] gesellschaftlich führend, und die gesamte Kultur jener Zeit ist durch dieses Verhältnis gekennzeichnet« (ebd.: 50). In Folge der mit der Industrialisierung einsetzenden Trennung von ›Eigentum‹ und ›Leitung‹ sowie der Konzentration des Kapitals ändert sich dies. Die Herrschaft wird übernommen von »industriellen Magnaten« (ebd.), die dirigieren, ohne Eigentümer zu sein. »Dieser ökonomische Prozeß«, so Horkheimer, »bringt eine Wandlung der Funktionsweise des juristischen und politischen Apparats sowie der Ideologie mit sich« (ebd.); die Unternehmensleitung erstreckt sich »am Ende auf den Staat und seine Machtorganisation« (ebd.) selbst. »Am Ende steht […] eine nicht mehr von selbständigen Eigentümern, sondern von industriellen und politischen Führercliquen beherrschte Gesellschaft« (ebd.: 51). Eigentum und Profit spielen bei all dem jedoch hinsichtlich der
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Reproduktion des institutionellen Kontextes der Gesellschaft weiterhin die »entscheidende Rolle« (ebd.). Schließlich verschwinden mit diesen Entwicklungen die letzten Reste autonomer Kultur (vgl. ebd.: 52); mit der fortschreitenden Instrumentalisierung und Monopolisierung ist der »Inhalt des Massenglaubens […] ein unmittelbares Produkt der herrschenden Bürokratien in Wirtschaft und Staat« (ebd.), wobei »die relative Widerstandskraft und Substantialität der Kultursphären im Schwinden begriffen ist« (ebd.). Die Kultur wird gegenüber den ökonomischen Handlungsorientierungen insgesamt unbedeutender und dort, wo sie existiert, wird sie gesteuerter (vgl. ebd.). Der Kulturbegriff, den Horkheimer in der Abhandlung über Traditionelle und Kritische Theorie vertritt, nimmt sich weitaus kritischer als in den vorhergegangenen Schriften aus; sodass sich m.E. mit einem gewissen Recht in Anlehnung an die Unterscheidung Honneths von einem vierten Kulturbegriff sprechen ließe: »die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen [sind] keine Zeugnisse eines einheitlichen, selbstbewußten Willens« (ebd.: 28), vielmehr sei »die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit zu erkennen« (ebd.).31 Hierin klingt ein Erfahrungsgehalt an, dessen Deutung Horkheimer, gemeinsam mit Adorno, in die Dialektik der Aufklärung führen wird. Kritische Theorie in den 1940er Jahren und Soziologie bei Adorno nach 1945 | In den 1940er Jahren, vor dem Erfahrungshintergrund der NS-Diktatur – deren Expansion im Zweiten Weltkrieg und der Entstehung der Vernichtungslager –, aber auch des Abwurfs der Atombomben, rückt die Kritische Theorie mit Horkheimer und seinem Umfeld vom Programm der 1930er Jahre ab, und zwar in einer Weise, an der sich die Geister, hinsichtlich der Frage nach der Tragweite des vollzogenen Paradigmenwechsel in der Kritischen Theorie, scheiden werden. Die Theorie des ›Monopolkapitalismus‹ wird zugunsten einer Theorie des ›Staatskapitalismus‹ aufgegeben. Dieser Paradigmenwechsel manifestiert sich in der so genannten ›Rackettheorie‹, also der Vorstellung eines Übergangs von subjektloser gesellschaftlicher Herrschaft zu Elitenherrschaft, und 31 | In seinem 1941 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten Aufsatz Art and Mass Culture argumentiert Horkheimer, dass im Zuge der Industrialisierung der Kultur diese ihre ›relative Autonomie‹ verliere; es entstehe vielmehr eine ›Massenkultur‹. Es verbleiben lediglich einzelne Reservationen (›authentische Kunstwerke‹). Erst Adorno verarbeitet diese Erfahrung in seiner Soziologie angemessen.
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im Begriff des ›Autoritären Staats‹. Die Bücher über den Autoritären Staat und die Dialektik der Aufklärung markieren diesen Wendepunkt publizistisch. Die im Institut für Sozialforschung zwischen Horkheimer und Pollock auf der einen, und den Staatstheoretikern Neumann und Kirchheimer auf der anderen Seite diskutierte Staatskapitalismusthese lässt sich, mit Brandt, auf die ›Formel‹ bringen, »daß der Kapitalismus in seiner neuesten Form imstande ist, das systemsprengende Potential des objektiv auf die Spitze getriebenen Klassengegensatzes zu neutralisieren« (Brandt 1981: 123). »Systematischer Grund« dafür sei »der im Faschismus nur sichtbar gewordene Umschlag ökonomischer in politische Herrschaft […], durch den die herrschenden Klassen, die zunehmend als ›Gangs und Rackets‹ sich zu erkennen geben, (relative) Autonomie gegenüber den ökonomischen Funktionserfordernissen des Systems erlangen« (ebd.). Die nationalsozialistische Herrschaft durchbricht die Systemlogik des Wirtschaftens, wodurch der einstige ›Primat der Ökonomie‹ durch einen ›Primat der Politik‹ (›Befehlswirtschaft‹) ersetzt wird (vgl. ebd.: 137f.). Diese Einschätzung ist nach Auffassung Brandts kennzeichnend für den Paradigmenwechsel der Kritischen Theorie: hatte der ursprüngliche Entwurf die »Form einer historischen Kapitalismustheorie, die an ihren Gegenstand gebunden ist und mit ihm vergeht« (ebd.: 128), so werde dieser Anspruch in den 1940er Jahren aufgegeben, mit dem Resultat, dass: »kritische Theorie […] damit nicht mehr historische Theorie einer historischen Gesellschaftsformation, sondern eine, wie auch immer kritische, Theorie der Gattung und ihrer Geschichte« (ebd.) sei. Dem korrespondiert die Schlussfolgerung Pollocks, dass die Nationalökonomie als Sozialwissenschaft ihren Gegenstand verliere (vgl. ebd.: 138). In der Dialektik der Aufklärung wird der ihr zugrunde liegende historische Erfahrungsgehalt gewissermaßen anti-ökonomistisch als Kulminationspunkt eines gattungsgeschichtlichen Prozesses der Universalisierung des Prinzips einer durch den Typus der instrumentellen Vernunft geleiteten und in ihren Konsequenzen desaströsen Naturbeherrschung ausgewiesen. Die Frage allerdings, an der sich die Geister scheiden, ist die, inwiefern die Kritische Theorie auch in der Analyse des nach-faschistischen Kapitalismus dieser Analyse verhaftet geblieben ist. Während Horkheimer wesentlichen Implikationen der Dialektik der Aufklärung (vgl. A 3) verbunden zu bleiben scheint, ist vor allem die Frage zu beantworten, ob sich diese These auch im Hinblick auf den produktiveren soziologischen Pfad der Analysen der Kritischen Theorie nach 1945 aufrecht erhalten lässt, also der Soziologie Adornos. Adornos gesellschaftstheoretische Entwicklung verläuft zu-
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nächst in Tuchfühlung mit den paradigmatischen Positionen Horkheimers. So sind die musiksoziologischen Arbeiten Adornos in den 1930er Jahren dem Anspruch einer Explikation der gesellschaftlichen Gehalte ästhetischer Äußerungs- und Wahrnehmungsformen verpflichtet, während Adorno in den 1940er Jahren die zentralen Positionen der Staatskapitalismustheorie teilt. 32 Die enge Verbindung beider Autoren ist ohnehin an der gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung abzulesen. Allerdings zeigen sich nach 1945 erhebliche Differenzen zwischen Horkheimer und Adorno, denn während Horkheimer noch mit seiner Kritik der instrumentellen Vernunft dem Paradigma der Dialektik der Aufklärung verhaftet zu sein scheint, so finden sich bei Adorno, entgegen der Rezeption Adornos innerhalb wie außerhalb der Kritischen Theorie, Argumentationsstrategien, die sich offensichtlich kaum mit dem Paradigma einer post-gesellschaftstheoretischen, radikal-vernunftkritischen Geschichtsphilosophie vereinbaren lassen. Denn entgegen der innerhalb der Kritischen Theorie geltend gemachten geschichtsphilosophischen Rückzugsposition33 vertritt Adorno in seinen soziologischen Arbeiten eben jenen ›doppelten Kritikbegriff‹, der ihm von bürgerlicher Seite über den Standardeinwand des ›Ökonomismus‹ hinaus den Vorwurf des ›Irrationalismus‹ (vgl. exemplarisch bei Künzli 1971) eingebracht hat. In den einschlägigen Interpretationen der theoretischen Position Adornos nach 1945, die im Rahmen des Instituts für Sozialforschung selbst vorgelegt wurden, werden die Analysen Adornos durchweg als philosophische Sackgasse ausgelegt. So interpretieren Honneth (1985) und Habermas (1981) Adornos Arbeiten als geschichtsphilosophische Anti-Soziologie. Dubiel (1978) geht davon aus, dass Adorno auch im Hinblick auf die Nachkriegsgesellschaft an dem Befund eines ›Primats der Politik‹ festgehalten habe. Brandt (1981) sieht die Position der Kritischen Theorie vom frühen Horkheimer zum späten Adorno durch eine ›doppelte Reduktion‹ gekennzeichnet, die in der »Auflösung der Einheit von einzelwissenschaftlicher Forschung, Theorie der Gesellschaft und politischer Praxis« (ebd.: 121) bestehe. In einem ersten Schritt der Reduktion werde infolge der Erfahrung des Scheiterns des revolutionären Potentials der Arbeiterklasse und der Integration der Arbeiterklasse in den Faschismus in Abgrenzung gegen Lukács und Korsch der Praxisbezug aufgegeben (vgl. ebd.: 124). In 32 | Siehe die posthum veröffentlichten Arbeiten zur Reflexion über die Klassentheorie und die Thesen über das Bedürfnis (beide in A 8). 33 | Siehe die einschlägigen Arbeiten von Dubiel, Habermas, Honneth.
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einem zweiten Schritt der Reduktion werde vor dem Hintergrund des Staatskapitalismusdiskurses etc. und der Erfahrung des ›administrative research‹ in den 1940ern der Anspruch empirischer Forschung aufgegeben (vgl. ebd.: 127ff.). Resultat sei somit die Reduktion der Kritischen Theorie auf den dünnen Anspruch einer »Gesellschaftstheorie […] in ihrer ideologiekritisch radikalisierten Form« (ebd.: 132), infolge der Aufgabe des Anspruchs der Wissenschaftlichkeit und des Praxisbezugs. Allen angeführten Interpretation ist der, wenngleich auch mitunter bloß implizite, Befund gemein, dass Adorno sich nach 1945 nicht auf das Programm der 1930er Jahre und damit auch nicht auf die Kritik der politischen Ökonomie zurückbesonnen habe. Während Habermas (vgl. TkH I) und andere letztlich die Kritik der instrumentellen Vernunft als den systematischen Endpunkt der Kritischen Theorie zu betrachten scheinen34 , lässt sich Adornos Theorie der ›verwalteten Welt‹ doch gegen die einschlägigen Interpretationen abgrenzen. Ansätze hierzu liefern die Arbeiten von Johannes oder Wiggershaus. Johannes geht davon aus, dass Adorno in seinen Arbeiten der Nachkriegszeit ein als genuin materialistisch zu bezeichnendes Theorieprogramm verfolgt. Die Argumentationen Adornos kreisen, Johannes zufolge, um die ›konstellative‹ Explikation jener ökonomischen Implikationen gesellschaftlich-kultureller Phänomene, ohne dass sich Adorno jedoch explizit mit der Ökonomie auseinandersetzen würde, weswegen Johannes von einem ›ausgesparten Zentrum‹ spricht: »In seinen musikphilosophischen, soziologischen, literaturtheoretischen, philosophischen oder kulturtheoretischen Arbeiten der Nachkriegszeit visierte er immer das ökonomiekritische Zentrum materialistischer Theorie, selten aber thematisierte er es eigens. Was er entwickelte, war eine kritische Theorie mit ausgespartem Zentrum. Insistent den ökonomischen Bedingungszusammenhang gesellschaftlicher und kultureller Phänomene aufzudecken, ohne explizit auf die ökonomischen Probleme einzugehen: so ließ sich kritische Theorie auch ohne fachökonomische Kenntnisse und ohne enge Institutsintegration betreiben« (Johannes 1995: 60). Auch findet sich bei Johannes die in ihrer Wichtigkeit kaum zu unterschätzende Feststellung des in die Adornosche Argumentation konstitutiv eingehenden historisch veränderten Erfahrungsgehalts: »Im 20. Jahrhundert macht die Kulturindustrie […] [der] relativen Unabhängigkeit des Kulturellen von 34 | Siehe allerdings auch Habermas’ (TkH I: 515) Ausführungen über Deutung in der Negativen Dialektik. Erinnert sei hier auch an den Hinweis von Habermas (1982); siehe in der Einleitung der vorliegenden Arbeit.
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den Produktionsverhältnissen ein Ende. Geistige und künstlerische Manifestationen werden unmittelbar den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals unterworfen, die Ideologieproduktion wird profitträchtig und verschmilzt mit der ökonomischen Basis« (ebd.: 61f.). Dieser Sachverhalt trenne Adorno deutlich vom Marxschen Basis-Überbau-Verständnis (vgl. ebd.); und es ließe sich hinzufügen, dass die ökonomische Vergesellschaftung der Kultur, welche die eine Seite ihrer relativen Autonomie darstellt, durch die zunehmende Subsumtion des Kulturellen unter die Imperative der Verwaltung ergänzt wird.35 Über das thematische Spektrum, das Johannes abdeckt36, hinaus, diskutiert Wiggershaus eingehender den Zusammenhang von Bürokratie und Kapitalismus in der Gesellschaftstheorie Adornos, als deren Zentralbegriff Wiggershaus den der ›Verwalteten Welt‹ begreift. Wiggershaus verweist auf eine zentrale Ambivalenz der Adornoschen Gesellschaftstheorie in der post-faschistischen Phase: »wenn in der von Rackets beherrschten bzw. der verwalteten Welt der Primat des Machtprinzips vor den Gesetzen der Ökonomie deutlich zutage getreten war, was bedeutet es dann, wenn Adorno für die jüngste Entwicklung der nachliberalistischen Gesellschaft eine Expansion des Tauschverhältnisses über das gesamte Leben, die Allherrschaft des Tauschprinzips […] diagnostizierte? Wurde denn nicht in dem Maße, in dem Machtverhältnisse nackter hervortraten, das Tauschprinzip in seinem Geltungs- und Wirkungsbereich eingeschränkt?« (Wiggershaus 1987: 66). Wiggershaus beantwortet diese Fragen, indem er feststellt: »Adorno sprach ebenso emphatisch von der Tauschgesellschaft wie von der verwalteten Welt, von der Allherrschaft des Tauschprinzips wie von der Allherrschaft der Organisation und Verwaltung«, und er fragt weiter: »Kam darin eine Unterschiedenheit in der Einschätzung der nachfaschistischen Gesellschaft zum Ausdruck? Wurde damit die Diagnose einer Zunahme direkter Verfügungsmacht auf Kosten wirtschaftlicher vermittelter rückgängig gemacht?« (ebd. 66f.). In seiner Antwort verweist Wiggershaus auf die Funktionalität der Bürokratisierung für die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie: »Was Adorno 35 | Siehe Adornos Aufsätze zur Kultur und Verwaltung, Kulturindustrie seit den 1950ern. 36 | Johannes verweist im Kontext seiner der Rolle der Ökonomie im Denken Adornos gewidmeten Untersuchung zwar auf den essentiellen Status der Kritik der politischen Ökonomie für Adornos Soziologie des post-faschistischen Kapitalismus (vgl. Johannes 1995: 59); was er jedoch nicht sieht ist, inwiefern Adorno eine spezifische Marx-Interpretation inauguriert (vgl. dazu Backhaus 2000; Reichelt 2002).
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mit den auf den ersten Blick miteinander unverträglichen Formeln umkreiste, war die Erfahrung einer zunehmenden Ausweitung des Tauschprinzips, die überlagert war von einer noch rascheren Ausweitung des Verwaltungsprinzips. Verwaltung und Verwertung ergänzten und verstärkten einander. Das Denken in Äquivalenten förderte die Herabsetzung qualitativer Differenzen, minderte damit den Widerstand gegen Verwaltung. Die Verwaltung entfremdete das zur Ware Entfremdete in vielen Fällen noch einmal, unterwarf in anderen Fällen Dinge, Menschen, Vorgänge, die für Verwertungsinteressen uninteressant waren, einem Zugriff, der den gleichen Effekt hatte wie das Zur-Ware-Machen« (ebd.: 67). 37 Adorno habe dies insbesondere an der Entwicklung der Kultur festmachen können: »Indem auch die Kultur zu einer Angelegenheit von Großkonzernen und Verwaltungen wurde, wurde der Zerfallsprozeß [von Familie, Ich und Bildung, L.M.] beschleunigt, die Kultur in Regie genommen und als in Regie genommene in Übereinstimmung einerseits mit dem Profitmotiv, andererseits mit dem Interesse an der Stabilisierung autonomiefeindlicher gesellschaftlicher Verhältnisse standardisiert und homogenisiert« (ebd.: 85f.). Wiggershaus betont überdies die konzeptionellen Unterschiede zwischen Adornos und Horkheimers Ansprüchen an die ›Theorie der Gesellschaft‹: so habe Horkheimer eine Großtheorie anvisiert, während Adorno kein System anstrebte, sondern betont habe, ihm »schwebe ein gesellschaftliches Denken und eine gesellschaftliche Erfahrung vor, die sowenig abschlußhafte Theorie verkündige wie bloß feststelle, was angeblich der Fall sei« (ebd.: 100). Adorno visiert in seinen späten soziologischen Schriften offenbar eine Theorie an, in der sich ein objektiver Gesellschaftsbegriff und ein spezifisches Theorieverständnis verbinden. Ohne die bis hierher angeführten historischen und theoriesystematischen Entwicklungen zu berücksichtigen, ist es meiner Meinung nach kaum möglich, zu einem präziseren Verständnis des systematischen und inhaltlichen Status der Soziologie Adornos zu gelangen. Bis zum letzten Punkt ihrer Entwicklung Ende der 1960er Jahre wird in ihr der Zusammenhang des Begriffs der Gesellschaft 37 | Dies lässt sich untermauern mit einer Textstelle aus Kultur und Verwaltung: »Schwerlich erklärt die immanente Expansions- und Verselbständigungstendenz von Verwaltung als bloßer Herrschaftsform allein den Übergang von Verwaltungsapparaturen älteren Wortsinns in solche der verwalteten Welt; ihren Eintritt in früher nicht verwaltete Bereiche. Verantwortlich sein dürfte die Expansion des Tauschverhältnisses über das gesamte Leben bei zunehmender Monopolisierung « (A 8: 125).
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als ›Totalität‹ und eines spezifischen Begriffs wissenschaftlicher Erfahrung zentral, der sowohl die Selbstbegründung des Totalitätsbegriffs als eines eigenständigen Gesellschaftsbegriffs als auch einen elaborierten Zugriff auf konkurrierende Theorie beinhaltet und erlaubt. Dieser Zusammenhang des sich um den Begriff der Erfahrung kristallisierenden Konzepts sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung mit dem Gesellschaftsbegriff und der Soziologiekritik Adornos, der offensichtlich in der Tradition des ›doppelten Kritikbegriffs‹ von Marx und Horkheimer steht, wurde in der bisherigen Rezeption der Soziologie Adornos nicht thematisiert. Welche Argumentationsmuster lassen sich also dem Spätwerk Adornos entnehmen?
Aufgaben und Grenzen der Soziologie Adornos Individuum und totale Vergesellschaftung | Adorno vertritt eine anti-individualistische, gegen die von ihm als »Sozialnominalismus« (B: 502) bezeichnete handlungstheoretische Soziologie (Weber, Simmel) gerichtete gesellschaftstheoretische Position. Adorno begreift Gesellschaft als existierendes ›System‹, als vorgängige ›Einheit‹ und ›objektive Struktur‹. Zugleich grenzt er sich auch gegen den soziologischen Strukturalismus (Durkheim, Parsons) ab, indem er das System der Gesellschaft nicht nur als Voraussetzung von Individualisierung ausgibt, sondern zugleich als ein im und durch das bewusste Handeln der vereinzelten Individuen hindurch sich konstituierendes und reproduzierendes denkt, sodass sich insgesamt von einer doppelten Frontstellung gegen die erkenntnisleitenden Paradigmen der institutionalisierten Soziologie sprechen lässt. Beide Begriffsstrategien gelten Adorno als einseitige, ›begriffslose‹ Verfahrensweisen, denen dementsprechend die Entwicklung von ›Begriffen‹ objektiver gesellschaftlicher Konstitutions- und Verkehrungszusammenhänge entgegenzusetzen sei.38 Die systematische Abgrenzung Adornos gegen die etablierten Ansätze der Soziologie erschöpft sich in dieser Hinsicht nicht in einem divergierenden Ansatz hinsichtlich der Darstellung des Gegenstandes, sondern erstreckt sich bereits auf das basale Problem der Gegenstandsbestimmung. Adorno reiht sich damit in einen die sozialwissenschaftlichen Diskussionen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart begleitenden Dissens über ihre Gegenstände ein. Der Gegenstandsbereich der Soziologie, den Adorno in pointierter Ge38 | Siehe eingehender in Abschnitt S. 121ff. dieser Arbeit.
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genüberstellung gegen den rein heuristischen Anspruch ›wissenschaftlicher Objektivität‹, wie er im soziologischen Neukantianismus erhoben wird, mit dem Begriff der ›gesellschaftlichen Objektivität‹ charakterisiert, umfasst deutlich mehr als die allgemeinen ökonomischen Sachverhalte und Fragestellungen (im Zentrum die ökonomischen Kategorien Wert, Geld, Kapital, Zins, Bruttosozialprodukt etc.). Die »gesellschaftliche Objektivität« sei vielmehr, so Adorno, der »Inbegriff all der Verhältnisse, Institutionen, Kräfte innerhalb dessen die Menschen agieren […]« (A 8: 199); so hebe »die Reflexion auf Gesellschaft dort an, wo Verstehbarkeit endet« (A 8: 12). Insofern Adorno diese Formen aus einer konstitutionstheoretischen Perspektive thematisiert, gilt ihm der Gegenstand – die ›gesellschaftliche Objektivität‹ – als Verselbständigung.39 Den Gegenstand der Soziologie Adornos bilden die verselbständigten Formen des gesellschaftlich Überindividuellen, deren Zusammenhang sowie deren Verhältnis zum bewusst-intentional handelnden Individuum (vgl. E: 178f.). Dies schließt die aus der rekonstruktiven Perspektive eines teilnehmenden Beobachters bestimmbaren objektiv-institutionellen Implikationen von Bewusstseinsformen, Motivationen, psycho-dynamischen Vorgängen, kulturellen Artefakten, Handlungen, Rationalität, Normen, sozialen Beziehungen, Gruppenbildungen oder sozialen Konflikten ebenso ein, wie die Tatsache, dass selbst die überindividuellen Großgebilde im engeren Sinne – Institutionen und Organisationen – noch an sich selbst auf eine sie übergreifende Eigendynamik verselbständigter Gesellschaftlichkeit verweisen. Mit Adornos theoretischer Untersuchung des so umrissenen Gegenstandsbereichs verbindet sich sowohl ein spezifischer Begriff der Gesellschaft als auch eine einzigartige Form der Thematisierung der soziologischen Selbstreflexionsformen dieser Gesellschaft, in deren Zusammenhang sich handlungstheoretische und strukturalistische Soziologie als Ideologie im strengen Sinne erweisen. Bezogen auf das Verhältnis von Individuum, Institutionen und Eigendynamiken lässt sich eine Fülle von Fragen aufwerfen: in wel39 | Adorno thematisiert somit den Objektcharakter jener gesellschaftlichen Objektivität, die in holistischen soziologischen Konzeptionen allein in der Form des An-Sich-Seins thematisiert wird: als ›soziale Tatsachen‹ (Durkheim), ›Realabstraktion‹ (Habermas) oder ›Emergenz‹ (Luhmann). Die Objektivität der Gesellschaft geht an ihr selbst keineswegs in den Reflexionskategorien des Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand auf. Dies scheint der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Adorno, Habermas und Luhmann zu sein.
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cher Weise sind die Einzelnen und ihre Institutionen in die Objektivität von Verhältnissen eingebunden? Existiert ein innerer und notwendiger Zusammenhang der Momente oder ist die Konstitution und Reproduktion von Rationalität und Institutionen vollkommen willkürlich, also ungerichtet? Handelt es sich also bei dem Verhältnis von Individuen, Institutionen und Eigendynamiken einschließlich ihrer beständigen Veränderung um Momente eines ›Funktionszusammenhangs‹, wie Adorno behauptet, oder ist die Entwicklung von Individuum und Institutionen derart kontingent, dass sie ebenso gut so oder auch anders sein könnte, sodass die individualisierten Individuen auch gut ohne verselbständigte Institutionen existieren könnten? Oder in den Kategorien von ›Statik‹ und ›Dynamik‹ ausgedrückt: bedürfen die Institutionen zu ihrer Reproduktion einer expansiven Dynamik des gesellschaftlichen Ganzen, oder können sie nach eigenem, autonomem Ermessen entscheiden, ob sie bleiben, was sie sind, oder sich anpassen oder verändern? Die Beantwortung dieser Fragen führt auf Adornos Begriff der Gesellschaft als Totalität. In diesem fließen die theoretisch begründete Auffassung, dass die wirtschaftlichen Reproduktionsbedingungen die ›tragende Struktur‹ der Gesellschaft bilden, und die theoretisch aufgeklärte, das bedeutet »unreglementierte Erfahrung« (E: 136; vgl. auch A 8: 342) der Vermittelt- bzw. Determiniertheit der »Einzelmenschen, Einzelinstitutionen, Einzelsituationen« (A 8: 11) durch die eigengesetzliche Dynamik der Reproduktion jener wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse zusammen. Index der fortgeschrittenen Verdinglichung, deren deutende Erschließung sich im Begriff der Totalität manifestiert, ist für Adorno u.a. die Kommerzialisierung der Kultur (siehe Adorno 1969: 147); Adorno spricht von den »objektiven Implikaten der Kunst« (ebd.: 119) sowie den daran ablesbaren Formen der »Pseudo-Individualisierung« (ebd.: 127). Diese Auffassung findet sich Adornos Selbstverständnis zufolge bereits in seinen Schriften der 1930er Jahre, die »getragen« seien »von der Vorstellung einer in sich antagonistischen Totalität, die auch in der Kunst ›erscheint‹ und auf welche die Kunst zu interpretieren ist« (ebd.: 114); vor allem aber in etlichen Arbeiten der Nachkriegsphase, die sich Fragen der Kulturentwicklung widmen.40 Gegen die Analysen Webers kann folglich die ›Autonomie der Kultur‹ mit Adorno bestritten werden: »Was immer eine Kulturkritik, die den Begriff von Kultur ernst nimmt, durch dessen Konfrontation mit 40 | Zu denken ist hierbei an die Arbeiten Kulturkritik und Gesellschaft (1949), Kultur und Verwaltung (1960) oder Résumé über Kulturindustrie (1963).
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amerikanischen Zuständen seit Tocqueville und Kürnberger gegen jene wird einzuwenden haben, man wird, wenn man sich nicht elitär sperrt, in Amerika der Frage nicht ausweichen können, ob nicht der Begriff von Kultur, in dem man groß geworden ist, selber veraltete; ob nicht das, was der Kultur heute der Gesamttendenz nach widerfährt, die Quittung auf ihr eigenes Mißlingen ist, auf die Schuld, welche sie dadurch auf sich lud, daß sie als Sondersphäre des Geistes sich abkapselte, ohne in der Einrichtung der Gesellschaft sich zu verwirklichen« (ebd.: 147). Stattdessen ist die Kultur zum Inhalt und Akzidens der Reproduktion der zur Totalität verselbständigten Verhältnisse geworden.41 Dabei darf dieses keineswegs in einem bloß umfangslogischen Sinne verstanden werden, da es sich um eine Aussage über den qualitativen Vermittlungszusammenhang der Gesellschaft handelt: jener Prozess, welchen Max Weber durchaus kritisch als heteronomen Prozess der ›Rationalisierung‹ und Lukács als Prozess der universellen ›Verdinglichung‹ des Bewusstseins beschreibt, gilt Adorno schließlich als die Vorderseite einer in den ›Tiefenstrukturen‹ der Gesellschaft fortschreitenden Reproduktion einer systemischen Irrationalisierungslogik polit-ökonomischer Provenienz. Im Zusammenhang mit seiner Konzeption von Totalität macht Adorno vom Begriff des Gesetzes soziologischen Gebrauch, um die Eigendynamik der gesellschaftlichen Entwicklung zu thematisieren 41 | Fraglich wäre überdies, ob die Abkapselung der kulturellen Bewusstseinsformen selber noch als Produkt der Verselbständigung der ökonomischen und politischen Institutionen zu begreifen ist. Dies würde bedeuten, dass sich die genuin subjektivistischen Weltbezüge der Wissenschaft, Moral, Kunst, Erotik als – selber noch in ihrer Genese zu thematisierende – Spaltprodukte der Konstitution moderner Subjektivität unter der Form der Charaktermasken (Arbeitsteilung, Konkurrenz und Recht) bilden. Denn: Kultur, ganz gleich ob als ›Wertsphäre‹ oder ›Lebensordnung‹, ließe sich nicht denken ohne die Existenz von Herrschaft, und das bedeutet im Falle der Moderne, dass sie nicht denkbar wäre ohne die Existenz einer nach Maßgabe des Tausches organisierten Produktion eines ökonomischen Mehrprodukts und damit der durch den ökonomischen Zusammenhang gestifteten Vereinzelung. Indem schließlich die Weltbezüge nach Maßgabe der Rationalität massenproduzierter Konsumgegenstände und administrativer Steuerungsstrategien ›subsumiert‹ werden, wird Kultur somit einerseits zunächst käuflich und schließlich selber noch für den Verkauf produziert, während sie andererseits zunächst verwaltet und schließlich zur gezielten Manipulation der Individuen benutzt wird.
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(vgl. E: 245ff.; A 8: 293ff., 356): »Eine dialektische Theorie der Gesellschaft geht auf Strukturgesetze, welche die Fakten bedingen, in ihnen sich manifestieren und von ihnen modifiziert werden. Unter Strukturgesetzen versteht sie Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen. Marxische Modelle dafür waren Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz« (A 8: 356; Hvm). Hier wird zunächst deutlich, dass Adorno nicht von der Existenz überhistorischer Gesetze ausgeht, sondern den Gesetzesbegriff für die Analyse der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung reserviert. Zentral ist die Vorstellung der ›Tendenz‹. Mit dem Gesetzesbegriff sollen gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenzen, die »immanenten Entwicklungstendenzen der Gesellschaft« (E: 250), angegeben werden. Gesellschaftliche Entwicklung wird als gerichteter Prozess, in dem sich die »Bewegungsgesetze« (E: 104) der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur niederschlagen, ausgewiesen: »Die dialektische Bestimmtheit des Einzelnen als eines zugleich Besonderen und Allgemeinen verändert den gesellschaftlichen Gesetzesbegriff. Er hat nicht länger die Form des ›immer wenn – dann‹, sondern die ›nachdem – muss‹; sie gilt prinzipiell nur unter der Bedingung von Unfreiheit, weil den Einzelmomenten in sich bereits bestimmte, aus der spezifischen Gesellschaftsstruktur folgende Gesetzlichkeit innewohnt, nicht erst Produkt ihrer wissenschaftlichen Synthesis ist« (A 8: 323). Adorno grenzt sich in systematischer Weise mit diesem Gesetzesbegriff, indem es ihm um die Eigendynamik der Sache selbst geht, scharf gegen die Gesetzesbegriffe der Soziologie, die allein theoretisch-nominale Gesetze kennt, und die Naturwissenschaften, die mit ihrem Gesetzesbegriff auf die Explikation von ›Kausalität‹ abzielen, ab (vgl. Beier 1977: 152). Der Gesetzesbegriff fragt nach den existenziellen Bestandsbedingungen der Gesellschaft. Adornos Antwort lautet wie folgt: der gesellschaftliche Zusammenhang von Individuum und Institution muss expandieren, um sich zu erhalten. Adorno insistiert darauf, dass »in dieser Gesellschaft […] ein dynamisches Prinzip waltet, daß die kapitalistische Gesellschaft […] sich nur erhalten kann, wenn sie expandiert […], […] daß die kapitalistische Wirtschaft und damit die kapitalistische Gesellschaft in [dem] Augenblick, wo sie stagniert, wo sie sich nicht ausbreitet, in unmittelbarer Gefahr ihres eigenen Untergangs ist, daß im Kapitalismus – das ist geradezu ein Wesensgesetz – das, was ist, sich überhaupt nur dadurch durchhalten kann, daß es sich erweitert und daß es sich ausbreitet« (E: 71f.). Kern dieses Prozesses ist die Reproduktion einer »total gewordenen Wertgegenständlichkeit« (Reichelt 2002: 179; vgl. auch
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E: 245), deren Expansion zugleich als die Reproduktionsbedingung politischer Institutionen anzusehen ist. Dieser Bewegung (vgl. E: 250) wohnt eine Notwendigkeit inne, die sowohl die Ausweitung von Verdinglichung (›Tauschgesellschaft‹) als auch die Ausweitung von Bürokratie (›Verwaltete Welt‹) als ökonomisch induziertes Moment der Realisierung dieser Bewegung impliziert (vgl. A 8: 367f.). Insofern sich die Institutionen nicht qualitativ verändern, wird es zu einer fortschreitenden Verdinglichung kommen, oder umgekehrt: damit sich die Institutionen erhalten können, muss das Prinzip der ›Verdinglichung‹ expandieren. Die Dynamik der Gesellschaft, der permanente Restrukturierungsvorgang des Verhältnisses von Individuum und Institutionen, ist in dieser Hinsicht objektiv strukturiert, ein reales System der Gesellschaft. In der Dynamik der beständigen Restrukturierung von Individuum und Institution schlägt sich eine systemische Eigenlogizität nieder, in der die individuellen und sozialen Einzelphänomene der Reproduktion der Strukturlogik dienen und damit als Momente eines Funktionszusammenhangs bestimmt sind. Indem Individuum und Institutionen sich dadurch erhalten, dass sie sich verändern, reproduzieren sie zugleich immer schon die verselbständigten Bedingungen ihrer Selbstrealisierung. Dies ist m.E. der Kern des Gesellschaftsbegriffs der Kritischen Theorie. Im Begriff der Totalität ist mitgedacht, dass Gesellschaft sich nur in verkehrter und schließlich dynamischer Gestalt reproduzieren kann. Dabei sei, so Adorno implizit gegen Lukács, kein Ende dieses Prozesses abzusehen.42 Die spezifische Erscheinungsweise des Objektbereichs, die Dualität einer allgemeinen, im Medium der Individualisierung vollzogenen Vereinzelung und der eigendynamische Zusammenhang der Institutionen, ist nicht unabhängig zu denken von den diese Momente über- und einbegreifenden Reproduktions- bzw. Bestandsbedingungen der Gesellschaft im Ganzen: dass »in der Gesellschaft ein Vorrang der objektiven Gesetzmäßigkeit herrscht« (E: 253), zeigt sich laut Adorno in der Präponderanz ökonomischer Zwänge gegenüber innerpsychischen Intentionen im Zuge der Identitätsbildung (vgl. ebd.) ebenso wie darin, dass »die objektiv-institutionelle Seite der Gesellschaft gegenüber den Menschen, aus denen sie besteht, sich verselbständigt und sich verfestigt hat« (ebd.). Im Lichte der Existenz einer objektiven Struktur ist das Individuum als ein konstitutiv gesellschaftlich individuiertes zu denken. 42 | Siehe Adornos Äußerung in Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? über die Präponderanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte (vgl. A 8: 363).
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Insofern sich die verselbständigten Verhältnisse allein durch das Handeln der Einzelnen hindurch reproduzieren, stellt die Gesellschaft einen objektiven Vermittlungs- und Funktionszusammenhang dar (vgl. E: 254). Die Kategorie der Vermittlung zielt auf die Gesetztheit der Einzelnen durch das Allgemeine, das seinerseits ein von den Individuen produziertes ist: »Die Autonomie der Sozialprozesse ist selber kein An sich, sondern gründet in Verdinglichung; auch die den Menschen entfremdeten Prozesse bleiben menschlich« (A 8: 563). Die Kategorie der Funktion charakterisiert die Notwendigkeit, dass das Einzelne in der Gestalt der Vereinzelung die Reproduktionsbedingungen des Allgemeinen praktiziert: »Das Ganze erhält sich nur vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen. Generell muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen« (A 8: 10). Gesellschaft gilt Adorno nicht als ›Substanz‹, sondern als ›Vermittlung‹ und ›Funktion‹, d.h., Gesellschaft existiert nicht als Entität in einem substantiellen Sinne, sondern als ›Prozess‹ der beständigen Reproduktion von Verselbständigung durch die Form der Vereinzelung – als objektive Einheit aller besonderen Einzelnen selbst: »Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip. Woraus es sich zusammensetzt, was in ihm aufeinanderprallt, seine ›Eigenschaften‹, sind allemal zugleich Momente der gesellschaftlichen Totalität. Monade ist es in dem strengen Sinn, daß es das Ganze mit seinen Widersprüchen vorstellt, ohne doch je dabei des Ganzen bewußt zu sein. Aber in der Gestalt seiner Widersprüche kommuniziert es nicht stets und durchgängig mit dem Ganzen, sie rührt nicht unmittelbar von dessen Erfahrung her. Die Gesellschaft hat ihm die Vereinzelung aufgeprägt, und diese hat als ein gesellschaftliches Verhältnis teil an seinem Schicksal« (A 8: 55). In der Negativen Dialektik wird die sich selbst verabsolutierende und infolgedessen sich selbst undurchsichtige Subjektivität als notwendiges Moment der Reproduktion gesellschaftlicher Verkehrung dargestellt: »Damit das funktional determinierte Einzelinteresse unter den bestehenden Formen irgend sich befriedige, muß es sich selbst zum Primären werden […]. Solche subjektive Illusion ist objektiv verursacht: nur durch das Prinzip der individuellen Selbsterhaltung hindurch […] funktioniert das Ganze. Es nötigt jeden Einzelnen dazu, einzig auf sich zu blicken, beeinträchtigt seine Einsicht in die Objektivität, und schlägt darum objektiv erst recht zum Übel an. Nominalistisches Bewußtsein reflektiert ein Ganzes, das vermöge der Partikularität und ihrer Verstocktheit fortlebt; buchstäblich Ideologie, gesellschaftlich notwendiger Schein. Das allgemeine Prinzip ist das der Vereinzelung. Sie
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dünkt sich das unbezweifelbar Gewisse, verhext darauf, um den Preis ihres Daseins nicht dessen innezuwerden, wie sehr sie ein Vermitteltes sei« (A 6: 306f.; Hvm). Der Fortbestand von Individualisierung ist gebunden an die Potenzierung von Verselbständigung im Sinne einer konstitutiven und notwendigen Dialektik von Freiheit und Zwang (vgl. Adorno 1964/ 65). Individualisierung vollzieht sich unter der Form der ›Verkehrung‹, deren wesentliches Moment darin besteht, dass die Individuen im Zuge fortschreitender Rationalisierung und Individualisierung eine ihnen immer übermächtiger gegenüberstehende Objektivität produzieren, der sie sich selbst immer ohnmächtiger gegenüber sehen. Die Grenzen der Individualisierung sind durch den Erhalt der Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft selbst gesetzt. Der irreduzible, insofern als objektiv zu bezeichnende Widerspruch lautet folglich: die fortschreitende Versachlichung des Denkens, Handelns etc. liegt im Begriff der Einzelheit des Individuums selbst. Eine gelungene Individuierung ist uno actu Ausdruck der Entäußerung dieses Individuums. Die strukturell induzierten Tendenzen der »wachsenden organischen Zusammensetzung des Menschen« (vgl. A 4: 259ff.) oder des ›Verschwindens des Individuums‹ (vgl. SE) zeigen in dieser Hinsicht folglich alles andere als das Ende von Subjektivität und Vereinzelung als solcher an (vgl. Adorno 1965: 171f.; vgl. SE: 42ff., siehe auch Schweppenhäuser 1986). Auf dieser Höhe seiner soziologischen Argumentation unterscheidet sich Adornos Denken deutlich von der Dialektik der Aufklärung. War dort der Tausch zentral im Hinblick auf die Konstitution von Subjektivität überhaupt, und wurde die ›instrumentelle Vernunft‹ eher intentionalistisch konzipiert als eine sich zur Universalität aufspreizende Zweckrationalität, so argumentiert Adorno später nicht mehr in dieser Weise. Tausch und Zweckrationalität werden vielmehr in einer genuin gesellschaftstheoretischen Perspektive thematisiert als Momente eines zur Totalität verselbständigten gesellschaftlichen Zusammenhangs, namentlich der expansiven Eigendynamik der historischen Durchsetzung ökonomischer Strukturmechanismen. Das ›Subjekt‹, sowohl die Form der Individuierung überhaupt wie auch die Inhalte und Dynamiken von Individualisierungsprozessen, werden nunmehr interpretiert als die Erscheinungsformen einer in kapitalistischem Tausch zentrierten und im Zuge fortschreitender Industrialisierung (Finanzkapital, allgemeine Lohnarbeit, Industrialisierung der Kultur) zunehmend administrativ beeinflussten (Interventionsstaat und Bürokratisierung) verselbständigten Gesellschaftlichkeit. Die zentrale Aussage der Soziologie Adornos auf der Höhe des post-faschistischen Kapitalismus
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ist, dass das Prinzip der Gesellschaft nicht das der ›Naturbeherrschung‹ sei, sondern die im Tausch zentrierte Dynamik der Irrationalisierung und Ausweitung der Institutionen und des rationalen Handelns. Der Tausch als einheitsstiftendes, existierendes Prinzip der gesellschaftlichen Totalität – das »principium synthesis« (Ritsert 1998b: 328) – wird auch als ›objektiver Begriff‹ gefasst43, der sich durch die Dynamik der verselbständigten Produktionsverhältnisse reproduziert. Das Selbstbewusstsein der Gesellschaft zwischen Erfahrung, Deutung und Denken | Nun beschränkt sich Adornos Argumentation allerdings nicht auf die Explikation der inhaltlichen Aspekte seines Gesellschaftsbegriffs. Vielmehr liegt dem Begriff der Totalität sowie dem soziologischen Gesetzesbegriff Adornos als spezifischen gesellschaftstheoretischen Strukturbegriffen ein ebenso spezifisches Theorieverständnis zugrunde, das den Zusammenhang von Erfahrung und Theoriekonstruktion thematisiert und das Adornos Konzept der ›Deutung‹ als Begründung des Totalitätsbegriffs ebenso wie eine spezifische Kritik der Soziologie beinhaltet.44 Ansätze dieses Konzepts einer rationalen Theorie- und Gegenstandsbegründung finden sich embryonal bereits in den 1930er Jahren 45 und Ende der 1940er Jahre46 sowie in den Minima Moralia (vgl. A 4) und den Auseinandersetzungen mit Hegel in den 1950er Jahren (vgl. A 5); v.a. jedoch im Zuge des Positivismusstreits wird dieses Wissenschaftskonzept in den 1960er Jahren von Adorno hartnäckig vertreten. Der Begriff der Totalität wurde bekanntlich von Lukács in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Und auch dort verbindet sich bereits eine methodologische Überlegung mit ihm. Lukács schreibt: »Das Hinausgehen über die Empirie kann […] nur soviel bedeuten, daß die Gegenstände der Empirie selbst als Momente der Totalität, d.h. als Momente der sich geschichtlich umwälzenden Gesamtgesellschaft erfaßt und verstanden werden. Die Kategorie der Vermittlung als methodischer Hebel zur Überwindung der bloßen Unmittelbarkeit der Empirie ist also nichts von außen (subjektiv) in die Gegenstände hineingetragenes, ist kein Werturteil oder Sollen, das ihrem Sein gegenüberstände, sondern ist das Of43 | Den anti-nominalistischen Abstraktionsbegriff thematisiere ich hier nicht weiter. Siehe jedoch Abschnitt S. 253ff. dieser Arbeit. 44 | Vgl. v.a. Adornos soziologische Schriften der 1960er Jahre. 45 | Siehe Neue wertfreie Soziologie (vgl. A 20.1: 13ff.). 46 | Siehe Kulturkritik und Gesellschaft (vgl. A 10.2: 882ff.).
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fenbarwerden ihrer eigentlichen, objektiven, gegenständlichen Struktur selbst« (Lukács 1970: 286f.; Hvm). Lukács verbindet, wie gesehen, Webers Rationalisierungstheorie mit der Fetischkritik von Marx und gelangt zu dem Befund, dass die Geschichte als ein multiples Wuchern von ›Verdinglichung‹ zu begreifen sei. Adorno thematisiert diese Erfahrung weitaus präziser, indem er diese Dynamik als notwendiges Moment der Reproduktion einer verselbständigten Gesellschaftsstruktur ausweist. Wie aber hängen die Erfahrung expandierender Verdinglichung und der Begriff der Totalität zusammen? Wie hängen das ›Hinausgehen über die Empirie‹ und der Begriff der Totalität zusammen? Der zentrale ›methodische Hebel‹ ist für Adorno jener der Entwicklung von ›Begriffen‹ – nämlich Begriffen realer Verselbständigung – sowie der soziologischen Deutung von Einzelphänomenen als Momente der Reproduktion einer eigendynamischen gesellschaftlichen Verkehrungsstruktur. Vor dem Hintergrund des Ideologiebegriffs der Kritischen Theorie lautet die grundsätzliche Frage, ob Gesellschaft und Theorie vermittelt sind, ob Gesellschaft in die Theorie eingeht, oder ob Theorieproduktion von ihrem Gegenstand unabhängig ist (vgl. A 8: 282). Der Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser Frage ist die Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung. Es lässt sich gemäß der Adornoschen Argumentation unterscheiden zwischen dem, was erfahren wird und wie Erfahrungen gemacht werden. Adorno macht im Positivismusstreit geltend, dass der Impuls der Sozialtheorie einen bestimmten Erfahrungsgehalt aufweist: »Die Erfahrung vom widerspruchsvollen Charakter der gesellschaftlichen Realität ist kein beliebiger Ausgangspunkt, sondern das Motiv, das die Möglichkeit von Soziologie überhaupt erst konstituiert« (A 8: 564). Widerspruchsvoll ist die gesellschaftliche Realität insofern sie charakterisiert ist durch die fortschreitende Verkehrung von Individuum und Struktur. Theorien gehen zurück auf die Erfahrung einer realen Systematizität im Kontext der ›Entzweiung‹ von Individuum und Struktur (›Verdinglichung‹). Es ließe sich sagen, dass die Tatsache, diese spezifischen Erfahrungen zu machen für Adorno bedeutet, sich in der verselbständigten Gesellschaft zu befinden; die Erfahrung der Gesellschaft ist die des »Vorrangs der Struktur« (A 8: 357). Das theoretische Bewusstsein muss diese, seine eigenen, objektiven Voraussetzungen begrifflich einholen können (vgl. A 10.2: 748). Es muss sich als Selbstinterpretation des bestimmten Vorgangs gesellschaftlicher Individuierung durchschauen. Insofern jedoch der Ansatzpunkt der Soziologie die Erfahrung der Gesellschaft ist, ist deswegen über die Beantwortung der Frage, was erfahren wird, hinaus
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zu thematisieren, wie die Erfahrung von Objektivität in der Soziologie gemacht und verarbeitet wird. Adorno kritisiert wiederholt scharf die analytische Trennung von Theorie und Erfahrung. Theorie und Erfahrung stünden vielmehr in einer unhintergehbaren »Wechselwirkung« (A 8: 186). Diesem Adornoschen Diktum zufolge findet die Erfahrung der Gesellschaft immer schon im Medium der begrifflichen Reflexion statt. Und diese präformierte Erfahrung liegt der wissenschaftlichen Konstitution der Gegenstände und Methoden unreflektiert zugrunde. Die wissenschaftliche Erfahrung, die das etablierte soziologische Bewusstsein mit seinem Gegenstand macht, tritt ihm, analog der Dialektik der Erfahrung des Bewusstseins in der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, dann als eine neue Gestalt der Gegenständlichkeit (bspw. als ›Emergenz‹, ›System‹ oder ›Organismus‹) gegenüber. Adorno kritisiert dementsprechend zunächst, dass die soziologischen Theorien nicht mehr reflektieren, wie sie zu ihren Fragestellungen kommen; wie also die Konstruktion von Theorien mit der Erfahrung ›vorgeordneter‹ Objektivität zusammenhängt. Auch die Bedeutung der Konstitution spezifischer Begriffe und Denkformen für die Möglichkeit von Erfahrung bleibt ungeklärt. Die analytische Entscheidung, Erfahrung aus der systematischen Selbstbegründung der sozialwissenschaftlichen Kategorienbildung auszuschließen, ist nach Adorno identisch mit der »Verselbständigung der Methode gegenüber der Sache« (A 8: 550), wodurch zugleich die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt stark eingeschränkt wird (vgl. E: 90) und eine präzise Objektbestimmung sowie die »Erkenntnis der Gesellschaft von innen her« (vgl. A 8: 11) verunmöglicht wird. Im Rahmen seiner Positivismuskritik kritisiert Adorno so gleichermaßen die Vorgehensweisen Webers und des Kritischen Rationalismus sowie Durkheims.47 Adorno bestreitet vehement die Möglichkeit, dass das soziologische Bewusstsein, wenn es seine Gegenstände setzt und Fragestellungen formuliert, den Gegenstand – hier: soziales Handeln – als vermittlungslosen aufgreifen kann. Dabei muss der soziologische Nominalismus und Empirismus zugleich immer schon die Allgemeinheit seines Gegenstandes – das rational handelnde Individuum – voraussetzen, die selber nicht aus den Handlungsorientierungen der Einzelnen ableitbar ist.48 Die hand47 | Siehe hierzu Adornos Auseinandersetzungen mit Weber und Durkheim sowie mit dem Kritischen Rationalismus im Kontext des Positivismusstreits in den 1960er Jahren (vgl. A 8). 48 | Insofern der Nominalismus bzw. die soziologische Handlungstheorie über keinen Begriff von Objektivität verfügen, sind sie gezwun-
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lungstheoretische bzw. szientistische Organisation empirischer Sachverhalte sagt nichts über die Wirklichkeit der Phänomene aus. Ähnliches gilt für den Strukturalismus Durkheims. Er fasst seinen Gegenstand zwar als Objektivität, trägt jedoch seine eigenen Kategorien in den Gegenstand hinein und konstruiert infolgedessen den Gegenstand reifizierend und harmonistisch, also falsch. Das bedeutet, dass das positivistische Bewusstsein die ihm konstitutiv zugrunde liegende Erfahrung von Formen überindividueller Einheit und Allgemeinheit mittels ausgeborgter und rein metaphorisch verwendbarer Begrifflichkeiten und Systematiken organisiert, und schließlich seine eigenen, als solche undurchschauten Projektionen für die Sache selbst nimmt (›Reifikation‹). Auf diese Weise verfehlt die Soziologie das gebotene begriffliche Niveau und artikuliert wie unreflektiert und fragmentarisch auch immer Erfahrungen. Resultat der einschlägigen soziologischen Theoriebildungen sind antinomische Reduktionismen (Webers Handlungstheorie) und objektivistische Bebilderungen (Durkheims Organizismus). Adornos gesellschaftstheoretische Argumentation zielt darauf ab, derartige Antinomien zu vermeiden. Sie geht aus von der Einsicht, dass sie selbst eine Organisationsform der Erfahrung von Gesellschaft ist. Die sozialwissenschaftlichen Kategorien und die Methode dürfen demzufolge nicht nach theorieimmanenten Maßstäben, d.h. aus erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Grundsätzen entwickelt werden, sondern sie müssen aus dem Gegenstand entwickelt werden (vgl. E: 123). Ansatzpunkt dafür ist die ›selbstbewusste‹ und ›unreglementierte‹ Erfahrung des theoretisch-abstrahierenden Bewusstseins (vgl. A 6: 48f.; Adorno 1964/65: 28f.): »Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form« (A 10.2: 752). Die Erkenntnis zielt auf die kritische Sensibilisierung für dasjenige an den Phänomenen, »was nicht subjektive Zutat ist« (ebd.), sondern durch das der »Vorrang des Objekts [schimmert]« (ebd.). Adorno betont, »daß die Sache adäquat auszudrücken nicht ein Durchstreichen von Subjektivität bedeutet, sondern daß nur durch die äußerste Schärfung und Anspannung der Subjektivität hindurch die Sache selber überhaupt zum Sprechen gebracht werden kann« (Adorno 1975: 21f.) und er fügt hinzu, »daß es dabei ebenso der Arbeit und Anstrengung des Begriffs bedarf, also daß es nicht bei der blinden Idiosynkrasie bleibe, sondern daß der Gedanke die Erfahrung einhole, einfach deshalb, weil der Gedanke selber ein Element der Erfahrung ist. Erfahrung ohne Gedangen, objektive Institutionen wie etwa Geld und Recht unkritisch voraussetzen.
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ke ist genauso wenig Erfahrung wie Erfahrung ohne Idiosynkrasie eine wäre« (ebd.). Die gesellschaftstheoretische Reflexion, im Sinne einer Erkenntnis der Sache selbst, hat mit der begrifflichen Bestimmung der »strukturelle[n] Beschaffenheit der Gesellschaft als solcher« (A 8: 558) anzusetzen: »Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist« (A 10.2: 748). 49 Im Unterschied zu einer ›Phänomenologie des Geistes‹ muss Objektivität in der ›Phänomenologie der Gesellschaft‹ zwar zunächst ebenfalls als konstituierte begriffen werden, sie kann jedoch nicht restlos in Subjektivität aufgelöst werden, sodass es einer eigenen Theorie der Objektivität, einer Deduktion der systemischen Qualität der Eigendynamik selbst, bedarf. Es bedarf sowohl eines Begriffs der Objektivität als Gegenstand als auch einer Theorie der Eigenstruktur gesellschaftlicher Objektivität. Diese Struktur, die ihrem Begriff nach eine der Produktionsverhältnisse ist, ist dann mit der ›unreglementierten‹ Erfahrung des bewusst-intentionalen Handeln der vereinzelten Einzelnen und den institutionellen sowie außerinstitutionellen Lebens-, Verhaltensund Kommunikationsformen zusammenzubringen (vgl. E: 236ff.). Die selbstbewusste Selbstreflexion der Gesellschaft besteht in ihrem konstruktiven Kern dann in der Reflexionsbewegung der ›Deutung‹ sowie dem Begriff der ›Totalität‹ als begrifflicher Reflexion des in der Deutung zutage getretenen Erfahrungsgehalts. Da die ›Tatsachen‹ sich in der Gestalt des Seins präsentieren, müssen sie in ihrem – objektiven – Gewordensein durchschaut werden: »Das deutende Vermögen ist wesentlich das Vermögen, des Gewordenseins oder der stillgestellten Dynamik in den Phänomenen inne zu werden« (E: 244), »das Moment der gesellschaftlichen Physiognomik [kommt] dem gleich […], das Gewordensein in dem wahrzunehmen, was als ein bloß Seiendes sich präsentiert« (ebd.: 255). Das von Adorno prolongierte Verfahren der Deutung zielt auf die Artikulation des »Schein[s] von Unmittelbarkeit« (Adorno 1969: 120) der Einzelfakten, der sich so als ›gesellschaftlich notwendiger Schein‹ entpuppt. Mit anderen Worten: die als unmittelbare bestenfalls bloß äußerlich verbundenen Momente gehen nicht in ihrer Unmittelbarkeit auf. D.h., die Deutung hebt die Verabsolutierungen des Bewusstseins auf und ermöglicht eine Erkenntnis der Sache selbst, Gesellschaft als Totalität und die mit ihr gegebenen Gesetzmäßigkeiten der Dynamik. Die Deutung dechiffriert die Eingebundenheit 49 | Beier (1977) verweist darauf, dass die Rede vom ›Vorrang des Objekts‹ an dieser Stelle gesellschaftstheoretisch zu verstehen ist.
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der sich als seiend präsentierenden sozialen Phänomene in einen objektiven Verkehrungszusammenhang polit-ökonomischer Natur. Die Momente erweisen sich als Momente eines objektiven, sie überund einbegreifenden ›Funktionszusammenhangs‹, dessen Einheit und Dynamik eine der endogenen Reproduktion von Produktionsverhältnissen ist, der sie innerlich und notwendig verbindet und: der sich durch ihre bewussten Handlungen hindurch realisiert und reproduziert. ›Physiognomik‹ meint: »durch die Versenkung in die Sache der Totalität gewahr werden« (A 8: 315), indem die objektiven Momente am Einzelnen dechiffriert werden. Das Verfahren der Deutung zielt systematisch auf die »Erfahrung des Vorrangs der Struktur« (A 8: 357), durch die sich ›objektive Vermittlungen‹ und insofern auch der »Schein der Unmittelbarkeit« (Adorno 1964/65: 193) dechiffrieren lassen: »Ebensowenig jedoch ist Deutung beliebig. Vermittelt wird zwischen dem Phänomen und seinem der Deutung bedürftigen Gehalt durch Geschichte: was an Wesentlichem im Phänomen erscheint, ist das, wodurch es wurde, was es ist, was in ihm stillgestellt ward und was im Leiden seiner Verhärtung das entbindet, was erst wird. Auf dies Stillgestellte, die Phänomenalität zweiten Grades richtet sich der Blick von Physiognomik« (A 8: 319). Im Zuge der Entwicklung seines eigenen Gegenstands- und Methodenverständnisses knüpft Adorno kritisch an den überlieferten Theoriebestand der Soziologie an: so bezieht er sich auf die handlungstheoretischen Konzepte des Verstehens und des Rationalitätsbegriffs ebenso kritisch-konstruktiv wie auf Durkheims Vorstellung des undurchdringlichen Charakters der ›faits sociaux‹ sowie dem Gedanken einer durch die Existenz vorgängiger gesellschaftlicher Einheit gesetzten Individualisierung. Das erfahrungstheoretisch fundierte Konzept der Deutung und der Begriff der Totalität stellen m.E. eine nicht-eklektizistische Aufhebung des Dualismus von Struktur und Handlungstheorie dar. Das dem Begriff der Totalität zugrunde liegende Verfahren der soziologischen Deutung ist keine verselbständigte Methode. Vielmehr handelt es sich um ein Verfahren, das ›konstellativ‹ (vgl. A 6) über den deutenden Zugriff auf Einzelphänomene – Individuen, Institutionen etc. – sich der Reproduktion des Totalitätszusammenhangs vergewissert, das also sich beständig »an den Gegenstand anschmiegt« (A 8: 332) und infolgedessen in der Lage ist, mitunter qualitative Veränderungen am Gegenstand wahrzunehmen. Das Verfahren der Deutung stellt die existierenden ›Vermittlungen‹ dar, dechiffriert also die Formen der sich selbstverabsolutierenden Gestalten von Individuum, Institution und Theorie als notwendig falsche Bewusstseinsformen, d.h. als Momente einer ihnen inhärenten Realisierung objektiver gesell-
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schaftlicher Verkehrungsstrukturen. Dies bedeutet, dass die apriorische Erfahrung von gesellschaftlicher Einheit und Allgemeinheit – ›gesellschaftliche Objektivität‹ – weder theoretisch geleugnet (Individualismus) noch spekulativ bzw. verdinglichend (Organismusanalogie) vorausgesetzt werden muss, sondern dass die Einzelmomente an sich selbst auf die Existenz eines von ihnen selbst produzierten und ihnen gegenüber verselbständigten kapitalistisch-politischen Gesellschaftskörper verweisen. Der Begriff der Totalität ist in dieser Hinsicht, in Anlehnung an die Argumentation Hegels in der Phänomenologie des Geistes, das Resultat eines ›dialektischen Erfahrungsprozesses‹, in dem die Antinomien des soziologischen Bewusstseins in der Weise aufgehoben werden, dass der Begriff der ›antagonistischen Totalität‹ das adäquate Selbstbewusstsein – in gewisser Hinsicht eben doch das ›fortgeschrittenste Bewusstein‹ (vgl. Adorno 1975: 22) – der historischen ›Gegenständlichkeit‹ des Sozialen ist.50 Es ist diese Systematik, die es m.E. auch erlaubt dem von Adorno inaugurierten Erfahrungsbegriff und den damit verbundenen Konzeptionen von Deutung und Totalität entgegen dem Vorwurf des ›Irrationalismus‹ den Status einer ›Methodologie‹ (vgl. Bonß 1983, Ritsert 1983), zumindest jedoch einen unbestreitbar gutbegründeten und insofern rationalen Gehalt zuzuerkennen. Kern der Kritik Adornos an der Verfahrensweise der Soziologie ist, dass diese die Methode gegenüber der Sache verselbständigt und so einen »Erfahrungs- und Gegenstandsverlust« (Schweppenhäuser 1996: 76) erleidet. Adorno lehnt aus diesem Grunde den theoretischen Systemgedanken strikt ab (vgl. A 8: 359) – auch angesichts der Grand Theory von Parsons (vgl. E: 18) – und apostrophiert seine eigene Theorie als »Antisystem« (A 6: 10) und charakterisiert die Theorie von Marx als »systemähnliche« (A 8: 359). In einem solchen Selbstverständnis theoretischer Reflexion kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass der Anspruch der wissenschaftlich-rationalen Erkenntnis einschließlich der Konzeptionen von Deutung und Dialektik selbst steht und fällt mit der Existenz ihres Gegenstandes, der Expansion objektiver gesellschaftlicher Verkehrungsstrukturen. 50 | Adornos Begriff der ›antagonistischen‹ Totalität entspricht dem Hegelschen ›Selbstbewusstsein‹ auf der Ebene der Gesellschaftstheorie. Die Trennung von Subjekt und Objekt wird als Bewegung durchschaut, obgleich nicht als Gedankenbewegung, sondern als Produktion von Bewusstsein im Medium der Reproduktion objektivierter und irrationaler Institutionen. Mit dem Begriff der Totalität hat Adorno die Erfahrung der Dynamik der Gesellschaft gewissermaßen ›auf den Begriff‹ gebracht.
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Die dialektische Theorie erkennt sich als nunmehr selbstbewusste Selbstreflexion einer auf Bewusstsein verwiesenen, jedoch nicht auf Bewusstsein reduzierbaren, in sich selbst zerrissenen – ›antagonistischen‹ – sozialen Wirklichkeit, die sich sowohl an der Theorie als auch am Individuum sowie den sozialen Institutionen und deren Ineinandergreifen ablesen lässt. Der durch diesen Vermittlungszusammenhang gestiftete Erfahrungsgehalt ist der eigene Entstehungszusammenhang, den Sozialtheorie mitreflektieren muss. Das dialektische Denken hat dies reflektiert, oder mit dem Pathos der Negativen Dialektik: »Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs« (A 6: 396; Hvm). Dialektische Gesellschaftstheorie ist die im Medium eines Begriffs von realer Struktur demaskierte Subjektivität – das Selbstbewusstsein einer endogen sozial-ökonomisch induzierten institutionell vermittelten Individuierung. In einer Formulierung der Minima Moralia heißt es: »Das dialektische Denken widersetzt sich der Verdinglichung auch in dem Sinn, daß es sich weigert, ein Einzelnes je in seiner Vereinzelung und Abgetrenntheit zu bestätigen: es bestimmt gerade die Vereinzelung als Produkt des Allgemeinen. So arbeitet es als Korrektiv gegen die manische Fixiertheit wie gegen den widerstandslosen und leeren Zug des paranoiden Geistes, der das absolute Urteil mit dem Preis der Erfahrung der Sache bezahlt« (A 4: 78). Erst der selbstbewusste begriffliche Blick auf den Kosmos der ›gesellschaftlichen Objektivität‹ erlaubt letztlich überhaupt die Deduktion von »immanenten Entwicklungstendenzen der Gesellschaft« (E: 250), deren Medium die allgemeine Vereinzelung des Individuums und deren sich selbst verabsolutierende Individualisierung ist. Ideologie – Falsches Bewusstsein der Gesellschaft | Vor diesem Hintergrund ist die Soziologie als Ideologie im klassischen Sinne zu begreifen. Mit dem erfahrungstheoretisch begründeten Selbstverständnis theoretischer Reflexion verändert sich die Einschätzung konkurrierender Theorieentwürfe. Der dialektische Erfahrungsprozess, den das ›zusehende Bewusstsein‹ (Hegel) der Kritischen Theorie Adornos durchläuft, schließt ein, dass ihr das Wissen der Soziologie als ›erscheinendes Wissen‹ zugänglich ist, denn: im Erfahrungsbegriff deduziert Adorno auf der Ebene der Soziologie, wie sich Gesellschaft selbst dem Theoretiker präsentiert und wie dieser Erfahrungen macht und verarbeitet, also dass und auf welche Weise die Erfahrung gesellschaftlicher Objektivität in die Theoriekonstruktionen eingeht. Adorno grenzt sich nachdrücklich gegen Weber und Pareto ab, sowie gegen Mannheim und Scheler, also der Wissenssoziologie im
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engeren Sinne. Gegen Weber und Pareto heißt es: »Hat Max Weber den Ideologiebegriff auf den Nachweis einzelner Abhängigkeiten eingeschränkt und auf diese Weise aus einer Theorie über die Gesamtgesellschaft zu einer Hypothese über einzelne Vorfindlichkeiten, wenn nicht gar zu einer ›Kategorie der verstehenden Soziologie‹ reduziert, so hat, mit dem gleichen Effekt Pareto durch die Lehre von den berühmten Derivaten ihn so ausgeweitet, daß er keine spezifische Differenz mehr enthält. Aus der gesellschaftlichen Erklärung des falschen Bewußtseins wird die Sabotage von Bewußtsein schlechthin« (A 8: 467). Grundsätzlich ist Ideologie als »objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein« wesentlich »Rechtfertigung« (A 8: 465). Dabei konstatiert Adorno, dass die Existenz von Ideologie an die Struktur der modernen Gesellschaft gebunden ist; es bedarf, so Adorno, »sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderterer Machtverhältnisse« (A 8: 467)51, umgekehrt heißt es: »Wo bloße unmittelbare Machtverhältnisse herrschen, gibt es eigentlich keine Ideologie« (A 8: 465). Die Existenzbedingung der spezifischen Gestalten der Theoriebildung (Philosophie, Ökonomie, Gesellschaftstheorie im Gegensatz bspw. zur Mythologie) ist ein überindividueller, eigendynamischer Vergesellschaftungsmodus, in dem zugleich das Individuum »unidentisch mit sich selbst« (A 8: 13) ist (›Rollendifferenzierung‹, ›Charaktermasken‹); in dem Individualität immer schon objektiv-institutionelle Voraussetzungen und Implikationen aufweist. Das Programm der Kritischen Theorie ist das der »gesellschaftliche[n] Erklärung des falschen Bewußtseins« (A 8: 467). Das Individuum findet sich in einem Kosmos von Reflexionsverhältnissen, inneren (›Rollendistanzierung‹, Selbstobjektivierung in Gestalt des ›I‹ und ›Me‹ im Sinne Meads) und äußeren (Anerkennungsverhältnisse und Institutionen) Objektivationen vor. Es kann selbst nicht ›wahrnehmen‹, wie es diese Erfahrungen, deren Form und Inhalt, konstituiert, zugleich kann es dies ebenso wenig denken. Zu zeigen, wie das sich als seiend Präsentierende geworden ist und wie es theoretisch erfahren und verarbeitet wird, wäre Aufgabe der Kritischen Theorie. 51 | Auch in einer Auseinandersetzung mit Lukács aus dem Jahre 1949 schreibt Adorno: »Die Marxische Lehre von der Priorität des Seins übers Bewußtsein will aber gerade nicht ontologisch verstanden werden, sondern als Ausdruck eines Negativen, nämlich eben der Vorherrschaft der Verdinglichung, der Produktionsverhältnisse, in welche die Menschen ›unfreiwillig eintreten‹« (A 20.1: 252f.). Er spricht von »jener in den Produktionsverhältnissen gründenden Verdinglichung des Bewußtseins« (ebd.).
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Der Positivismus, egal ob in Gestalt des Individualismus/Nominalismus oder des Kollektivismus/Organizismus, gilt Adorno als Ideologie, ›notwendig falsches Bewusstsein‹ im strengen Sinne. Analog der Hegelschen Kritik an Ontologie und Kantischer Erkenntnistheorie lassen sich den Theorien, jenen verschiedenen Gestalten des ›erscheinenden Wissens‹, Antinomien – unreflektierte und unbegründbare Axiomatiken, Reifikationen etc. – nachweisen. So wird im Individualismus das Einzelne nicht als Einzelheit, sondern als Unmittelbares und Letztes genommen; die Methode wird gegenüber der Sache als selbständige beansprucht, womit dem Prinzip der subjektiven Erkenntnis gegenüber der erfahrungskonstitutiven und theoriestiftenden Vorgängigkeit der Realität des sozialwissenschaftlichen Objekts Priorität eingeräumt wird. Adorno führt sich daran anschließende Aporien am Beispiel Weber aus, der, obwohl Nominalist, in seiner Kategorienbildung gesellschaftliche, also überindividuelle Allgemeinheit – in diesem Falle des strategischzweckrationalen Handelns – voraussetzen muss und gleichzeitig ›Bürokratisierung‹ konstatiert (vgl. A 10.2: 774f.). Dies geschieht allerdings ohne im Sinne der Hegelschen Argumentation in der Phänomenologie diese Erfahrung als neuen Gegenstand zu setzen, denn dann wäre die Erfahrung von Verselbständigung und realer Systematizität als Gegenstand der Erkenntnis zu konstruieren. Und indem das Individuum sich als konstitutiv und notwendig individuiertes reflektierte, geriete es in den dann nahezu unausweichlichen Sog kritisch-dialektischer Selbstbeschreibung, in der die Prinzipien der ›Vermittlung‹ und des ›Begriffs‹ sich als auf Subjektivität irreduzibel erweisen. Auf dieses Moment der Irreduzibilität insistiert auch der soziologische Kollektivismus gegenüber dem Individualismus. An ihm, konkret an Durkheim, kritisiert Adorno, dass er die konstatierte Objektivität reifizierend beschreibe und somit ebenfalls einem Gegenstands- und Erfahrungsverlust unterliege. Überdies könne der – ohnehin falsche – Objektivitätsbegriff nicht an das Handeln der Individuen rückgebunden, also als Verselbständigung gedacht werden. Adorno entwickelt die einschlägigen soziologischen Paradigmen von Struktur- und Handlungstheorie als unkritische und infolgedessen einseitige Verabsolutierungen der Erfahrung der spezifischen Gestalt, in der sich der Gegenstand, die Gesellschaft, als Einheit von »Autonomie und Heteronomie« (Schweppenhäuser 1986: 49) präsentiert. Beide Begriffsstrategien haben Recht und Unrecht zugleich. Unter der Voraussetzung, dass es sich bei ihnen gleichermaßen um Formen der ›traditionellen Theorie‹ handelt, ist der Streit auf ihrer eigenen Grundlage nicht mehr entscheidbar. Die Entwick-
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lung von Theorie stellt sich somit aus der Sicht eines elaborierten Selbstbewusstseins der Gesellschaft – hier: der Kritischen Theorie Adornos – als immer neuer Anlauf dar, die Sachprobleme der Gesellschaftstheorie zu artikulieren, ohne dass dabei allerdings der Gegenstand selbst oder die Logik seiner analytischen Selbstreflexion besser durchschaut würden. In diesem Prozess lassen sich die Theorien, vor dem Hintergrund des Adornoschen Gesellschaftsbegriffs, als Reflexionsformen einer in der Zeit notwendig und insofern gesetzmäßig fortwuchernden Verkehrungsstruktur ausweisen, die allein eine Kritische Theorie der Gesellschaft angemessen zu fassen in der Lage ist. An den Antinomien der vorliegenden Theorien entzündet sich das Bedürfnis, das Verhältnis von Gegenstand und Methode selber noch zu thematisieren, um so zu einer Präzisierung des Objektbereichs zu gelangen. Mit anderen Worten: das undogmatische der Adornoschen Kritik besteht darin, soziologische Theorien bzw. einzelne Theoreme durchaus als Erkenntnisfortschritte anzuerkennen. Dasselbe gilt, wie gesehen, für die idealistische oder pragmatistische Philosophie. Dies schließt selbstverständlich nicht ein, dass diese Bewegung – der theoretischen Arbeit an der Erfahrung der Gesellschaft angesichts einer historischen Dialektik von ›Statik‹ und ›Dynamik‹ der Gesellschaft – notwendig ist, sondern dass es ebenso auch zu Erkenntnisrückschritten kommt. Adorno spricht in diesen Fällen von einer ›Rückbildung des Geistes‹, sodass sich insgesamt sagen lässt, dass Adorno jedenfalls nachdrücklich sehr genau zwischen Fort- und Rückschritten des Geistes zu unterscheiden scheint (vgl. A 8: 360). Adornos soziologische Argumentation schiebt sich den ihr vorausgegangenen Paradigmen in den Rücken. Sie entwickelt einerseits die Genese theoretischer Vorstellungen aus der Struktur der Gesellschaft; andererseits erfasst sie, im Anschluss an Marx, die Wirklichkeit der Struktur. Die dialektische Theorie der Gesellschaft vermittelt dabei zwischen dem Begriff und der Erfahrung von Verdinglichung. Adornos Theorie markiert damit einen Wendepunkt in der Entwicklung der Selbstreflexion der Gesellschaft. Sie erscheint als das Selbstbewusstsein der Gesellschaft. Erst auf der historischen Höhe des Fordismus und des Interventionsstaats ist diese Theorie der Eigendynamik der Moderne zu artikulieren gewesen. Die Frage ist schließlich, ob die Theorien nach Adorno über ihn hinausgegangen oder hinter ihn zurückgefallen sind; wobei das eine wie das andere Urteil zu begründen wäre.52 52 | Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird dies am Beispiel der Differenzierungstheorie erörtert.
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Exkurs: Gesellschaftsstruktur und Ideologie bei Marx
Exkurs: GesellschaftsDie von Marx in der Kritik der politischen Ökonomie entwickelte struktur und Theorie des »ökonomische[n] Bewegungsgesetz[es] der modernen Ideologie Gesellschaft« (MEW 23: 15) liegt dem Gesellschaftsbegriff der Kriti- bei Marx schen Theorie zugrunde. Noch die späten soziologischen Schriften Adornos eint mit der Position des frühen Horkheimer der nachdrückliche Rekurs auf einen Begriff der Klasse im Sinne der Marxschen Ökonomiekritik. Den Begriff der Klasse, wie er bei Marx vorund der Kritischen Theorie zugrunde liegt, hebt Adorno wiederholt gegen den ›soziologischen‹ Klassenbegriff ab (vgl. exemplarisch A 8: 358f.). Bei der Entwicklung seines Klassenbegriffs setzt Marx, im Anschluss an Engels Argumentation in den Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie (vgl. MEW 1: 499ff.), seine Analyse der Nationalökonomie an der Untersuchung der eigentümlichen Gestalt der modernen Arbeit an (vgl. Backhaus 2000). Aus deren Betrachtung deduziert Marx strukturelle Momente der kapitalistischen Ökonomie, insofern die Arbeit sich als spezifisches Produktionsverhältnis konstituiert. Dieses ökonomische Produktionsverhältnis, die genuin gesellschaftliche Teilung der Arbeit, stellt das gesellschaftliche, insofern objektive Strukturmoment moderner Gesellschaften schlechthin dar. Es unterscheidet sich als Gestalt struktureller gesellschaftlicher Verselbständigung und Verkehrung generell von jeglichen anderen Formen von ›Macht‹, ›Herrschaft‹, ›Autorität‹ oder ›sozialer Kontrolle‹.53 Auch lassen sich die strukturellen Implikationen des Produktionsverhältnisses nicht reduzieren auf soziologische Kategorien etwa der ›sozialen Ungleichheit‹, der ›sozialen Schichtung‹, des ›sozialen Status‹ oder der ›Chancengleichheit‹. Schon gar nicht bezeichnet schließlich der Begriff des Produktionsverhältnisses einen normativen Begriff der ›Gerechtigkeit‹ und ›Ungerechtigkeit‹ des sozialökonomischen Zusammenhangs. Eine ethische Interpretation der Marxschen Darstellung verfehlte deren Sinn ebenfalls gänzlich. Marx analysiert das Produktionsverhältnis in den Pariser Manuskrip53 | Adorno betont diesen zentralen Unterschied positivistischer und kritischer Soziologie: »In der Soziologie freilich nehmen gemäß ihrem umfangslogisch klassifikatorischen Wesen die tragenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die sozialen Bedingungen der Produktion, weit dünner sich aus als jenes konkret Allgemeine. Sie werden neutralisiert zu Begriffen wie Macht oder soziale Kontrolle. In solchen Kategorien verschwindet der Stachel und damit, möchte man sagen, das eigentlich Soziale an der Gesellschaft, ihre Struktur« (A 8: 365).
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ten. Er bedient sich dabei einer der Hegelschen Tradition entstammenden Terminologie, die in der Verwendung von Kategorien wie ›Entfremdung‹, ›Verkehrung‹, ›Vergegenständlichung‹ zum Ausdruck kommt, und bedient sich offenbar zentraler mit dieser Terminologie verbundener Denkfiguren, um die Spezifik des kapitalistischen ökonomischen Zusammenhangs begrifflich-theoretisch einzuholen. Angesichts der verbreiteten Fehlinterpretationen und Missverständnisse der sachlichen Bedeutung des allein im Kontext des Begriffs der ›Produktionsverhältnisse‹ verstehbaren Begriffs der ›Klasse‹, wie er in der Marxschen Ökonomiekritik entwickelt wird und wie ihn die Kritische Theorie verwendet, scheinen einige konkretere Hinweise angemessen zu sein. In den 1844 verfassten Pariser Manuskripten stellt Marx die moderne Ökonomie als ›entfremdete Arbeit‹ dar. Dieser Begriff bezeichnet qualitative gegenüber bloß quantitativen Eigentumsasymmetrien. Er thematisiert das objektive Verhältnis der sogenannten Revenuen (Einkommensarten) zueinander, ausgehend von der Gestalt der Lohnarbeit. Diese qualitative Struktur der modernen Eigentumsverhältnisse apostrophiert Marx später auch als den Sachverhalt der »Verselbständigung der Produktionsbedingungen gegenüber den Produzenten« (MEW 25: 838; Hvm), oder als »Verselbständigung der Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit« (MEW 25: 833; Hvm). In den Pariser Manuskripten arbeitet Marx unter dem Begriff der ›entfremdeten Arbeit‹ wesentliche Aspekte dieser verselbständigten Arbeits- bzw. Produktionsbedingungen heraus. Der Begriff der ›Entfremdung‹, wie ihn Marx verwendet, hat grundsätzlich keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche, somit objektive Bedeutung und meint zunächst die »Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln und vom Produkt« (Denninger 1973: 146). Marx arbeitet verschiedene Momente dieses Verhältnisses heraus: die ›entfremdete Arbeit‹ produziert Gegenstände, die ihr nicht gehören und ihr als ›fremde Macht‹ – als ›fremdes Eigentum‹, Kapital – entgegentreten; je mehr sie produziert, über desto weniger verfügt sie selbst, die Art und Weise, wie sie Gegenstände produziert wird ihr vorgegeben etc.: »Die Vergegenständlichung erscheint so sehr als Verlust des Gegenstandes, daß der Arbeiter der notwendigsten Gegenstände, nicht nur des Lebens, sondern auch der Arbeitsgegenstände, beraubt ist. […] Die Aneignung des Gegenstandes erscheint so sehr als Entfremdung, daß, je mehr Gegenstände der Arbeiter produziert, er um so weniger besitzen kann und um so mehr unter die Herrschaft seines Produkts, des Kapitals, gerät. […] Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so
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ärmer wird er selbst […], um so weniger gehört ihm zu eigen« (MEW 40: 512; Hvm). Was Marx hier schildert, ist zunächst nichts anderes als eine in sich gegenläufige Bewegung auf der Ebene der ökonomischen Reproduktion selbst. Formal gesehen besagt sie: Arbeit findet nur statt, wenn sie einem fremden Eigentum zu dessen Vermehrung dient, oder anders ausgedrückt: die Existenz des Arbeiters als Arbeiter hängt von der Vergrößerung des fremden Eigentums ab. Der Arbeiter produziert in seiner bewussten Tätigkeit zugleich eine ihm ›entfremdete‹ Wirklichkeit, eine ›verkehrte Welt‹. Der Vorgang der ›Vergegenständlichung‹ ist dementsprechend kein bloßes Naturverhältnis, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis. »Die Entäußrung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußern Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt« (ebd.). Arbeit ist dementsprechend nichts anderes, als die Produktion von ›Gegenständlichkeit‹ unter der Form der ›Verkehrung‹; de facto als ›Wertgegenständlichkeit‹ (Geld) und ›fremdes Eigentum‹ (Kapital). In systematischer Hinsicht ist der Marxschen Darstellung der ›entfremdeten Arbeit‹ zu entnehmen, dass sie in einer rekonstruktiven Perspektive aufzeigt, inwiefern der spezialisierte Einzel- bzw. Teilarbeiter in der Beschränktheit seiner Einzelarbeit auf den Eigentümer der Produktionsmittel und Organisationsbedingungen verweist. Die ihrer Form nach allgemeine Existenz des arbeitenden Nicht-Eigentümers, also des Lohnarbeiters, verweist auf die ebenso allgemeine Existenz des nicht-arbeitenden Nur-Eigentümers. Marx schreibt: »Wir gingen aus von einem nationalökonomischen Faktum, der Entfremdung des Arbeiters und seiner Produktion. Wir haben den Begriff dieses Faktums ausgesprochen: die entfremdete, entäußerte Arbeit. Wir haben diesen Begriff analysiert, also bloß ein nationalökonomisches Faktum analysiert. Sehn wir nun weiter, wie sich der Begriff der entfremdeten, entäußerten Arbeit in der Wirklichkeit aussprechen und darstellen muß. Wenn das Produkt der Arbeit mir fremd ist, mir als fremde Macht gegenübertritt, wem gehört es dann? Wenn meine eigne Tätigkeit nicht mir gehört, eine fremde, eine erzwungne Tätigkeit ist, wem gehört sie dann? Einem andern Wesen als mir. Wer ist dies Wesen? Die Götter?« (MEW 40: 518). Es sind, Marx zufolge, zweifelsohne nicht die ›Götter‹, sondern »nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über den Menschen sein« (MEW 40: 519): »Das fremde Wesen, dem die Arbeit und das Produkt der Arbeit gehört, in dessen Dienst die Arbeit und
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zu dessen Genuß das Produkt der Arbeit steht, kann nur der Mensch selbst sein« (MEW 40: 518). Weiterhin: »Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst« (MEW 40.: 519f.; Hvm). Der Nicht-Eigentümer ist also in seiner Tätigkeit auf sein Gegenteil verwiesen. Es ist zunächst die Binnenperspektive des Arbeiters, aus der sich die ›Verhältnismäßigkeit‹ gesellschaftlicher Produktion ergibt. Im Kontext der Analyse der ›entfremdeten Arbeit‹ verweist Marx aber auch auf die ebenfalls zu schildernde Perspektive des Eigentümers (vgl. auch MEW 40: 513). Resümierend schreibt Marx: »Wir haben bis jetzt das Verhältnis nur von seiten des Arbeiters, und wir werden es später auch von seiten des Nichtarbeiters betrachten« (MEW 40: 519). Diese Analyse holt Marx allerdings erst im Kapital nach. Dort entwickelt er, wie sich dem Kapitalisten die Struktur der Verkehrung in dessen Binnenperspektive präsentiert: dieser muss, um sich zu reproduzieren, beständig die Quelle des Profits reduzieren (vgl. MEW 23; auch MEW 42: 601f.). Der Eigentümer bewerkstelligt dies, indem er den Arbeitsprozess beständig rationalisiert und optimiert, um sich unter den Bedingungen der Konkurrenz reproduzieren zu können. Der Charakter der Herrschaft im Produktionsverhältnis ist also selber noch zwiespältig: einerseits kommandiert der Eigentümer den Arbeiter, andererseits ist jedoch auch der Wille des Eigentümers kein letzter Grund, da auch er innerhalb der Konkurrenz zur Rationalisierung, zum Optimierungshandeln, genötigt wird. Selbst der Kapitalist hängt in seiner Existenz als Eigentümer von ihm selbst äußerlich existierenden Reproduktionsbedingungen ab. Bei der Reproduktionsbedingung der Wertvergrößerung handelt es sich de facto um einen Reproduktionszwang, der letztlich »unabhängig vom Bewußtsein« (MEW 13: 8f.) der Individuen existiert, sich somit auch nicht auf das persönliche Interesse und Wollen der Produzenten reduzieren lässt. 54 Dieses so geschilderte Produktionsverhältnis deutet auf die Existenz einer ökonomischen Realstruktur mit eigener Gesetzmäßigkeit hin, weil die Bedingungen der Reproduktion dieses Verhältnisses sowohl überindividuell als auch gerichtet sind: denn die Reproduktion des Verhältnisses ist gebunden an das Wachstum des Wertprodukts, also des gesellschaftlichen Reichtums überhaupt. 54 | Historisch sei verwiesen auf das Verhältnis von Reallohnentwicklung und Bruttosozialprodukt.
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Die gesellschaftliche Struktur des Produktionsverhältnisses lässt sich somit insgesamt auch wie folgt charakterisieren: es handelt sich bei den Produktionsverhältnissen um einen gesellschaftlichen Sachverhalt, der sich auch in Hegelschen Kategorien als »innere Vermittlung der Gegensätze in sich« begreifen lässt. Diese unterscheidet sich von einer »›bloß äußerliche[n]‹ (kontingente[n]) Beziehung« (Ritsert 1997: 154). Mit einem »Verhältnis der ›inneren Vermittlung‹ muß zudem […] mehr als eine polare Gegensatzbeziehung gemeint sein« (ebd.: 155). Unter Rekurs auf Adorno formuliert Ritsert: »Ein Verhältnis […] der ›inneren Vermittlung gegensätzlicher Bestimmungen‹ weist […] (mindestens) zwei syntaktische Grundeigenschaften auf: […] [1.] Es gibt eine strikte Ausschlußbeziehung, ein Gegensatzverhältnis […] zwischen den beiden Momenten. Sie sind Entgegengesetzte […]. [2.] Dennoch stehen sie (logisch) gleichzeitig in einem Einschlußverhältnis […] zueinander« (ebd.). Adorno schreibt: »Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selber« (A 5: 257). Ritsert interpretiert dies wie folgt: »Daß sich die dialektische Vermittlung ›durch die Extreme hindurch‹ ereignet, spielt […] auf den Grundgedanken an, daß die Pole zugleich einander (oder wenigstens Bestimmungen ihres Gegenteils) enthalten. Es geht ihm [Adorno; L.M.] dabei nicht um logische Bedingungen der Möglichkeit der Deduktion von Folgerungen aus Prämissen, sondern um die Konfiguration von Aussagen bzw. um die Konstellation tatsächlicher Relationen und Momente gemäß dem ›Prinzip der Dialektik‹« (Ritsert 1997: 157). Im Begriff des ›Produktionsverhältnisses‹ wird die Struktur der Wirklichkeit in spekulativen Denkkategorien artikuliert; es handelt sich um eine begriffliche Rekonstruktion eines in der Binnenperspektive gesetzten Erfahrungsgehalts. Diese so gefasste Bewegung hat konstitutiv überindividuellen Charakter und lässt sich, soziologisch gesprochen, in den ökonomischen Institutionen bzw. im institutionalisierten strategischen Handeln selbst spezifizieren: es handelt sich um etwas, das sich offenbar mit gutem Recht als ›reale Vermittlung‹, ›objektives Verhältnis‹, ›objektive Bewegung‹ begreifen lässt, obgleich dabei vorausgesetzt ist, dass es sich lediglich mittelbar um den Begriff der Sache handelt und nicht unmittelbar die Sache selbst im Sinne einer wie auch immer subtilen Vorstellung von philosophischer ›Widerspiegelung‹. Dieses so beschriebene Verhältnis ist in gesellschaftstheoretischer Hinsicht qualitativ völlig anders als bspw. die ›Dialektik von Herr und Knecht‹ zu betrachten. Herr und Knecht ermangeln der differentia spezifica eines gesellschaftlichen Strukturverhältnisses und damit jener »eigentümliche[n] Logik des eigentümlichen
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Gegenstandes« (MEW 1: 296), die sich im Prinzip der ›objektiven Vermittlung‹ manifestiert: zwischen ihnen existiert kein ökonomischer Zusammenhang – sie tauschen nicht, haben also keine Revenuen –, sie finden sich in ihrer jeweiligen Besonderheit nicht abhängig von endogen gesetzten Existenzbedingungen vor. Während Kapitalist und Arbeiter sich allein in einer solchen Dynamik als Charaktermasken reproduzieren können, bleibt der mittelalterliche Bauer auch außerhalb seiner Beziehung zum Lehnsherrn, was er ist. Die Dynamik der persönlichen Herrschaft beinhaltet weder eine Form der inneren Verwiesenheit der Momente noch eine übersubjektive Notwendigkeit (objektive Reproduktionsbedingungen, ›Sachzwänge‹). Der Unterschied zwischen der Gestalt leibhaftiger, persönlicher Herrschaft und der spezifischen Gestalt des Produktionsverhältnisses, der ›subjektlosen Herrschaft‹ verselbständigter und versachlichter Produktionsbedingungen, ist jener berüchtigte ›ums Ganze‹, das ja, laut Adorno, als solches das ›Unwahre‹ sein soll. Unwahr ist es deswegen, weil die historische Gestalt der Verselbständigung und gesellschaftlichen Vermittlung (von Individuum und Institution) den in diesen Verhältnissen befangenen Individuen als natürliche Gegebenheit – ›zweite Natur‹ – erscheint. Das systemische Moment aber ergibt sich gerade auch aus der Notwendigkeit der Bewegung des Allgemeinen, die das Einzelne vollziehen muss, um sich als Einzelnes, als ›Charaktermaske‹, zu erhalten. Es handelt sich bei der Objektivität dieser Bewegung um einen kontrafaktischen Zusammenhang, der als solcher nicht empirisch konstatiert, sondern allein denkend erfasst werden kann. Jedoch kann er, wie dargelegt, aus der spezifischen Gestalt der Empirie und auch den vorhandenen theoretischen Reflexionsformen dieser Empirie deduziert werden. Im Kapital entwickelt Marx dann, dass der Arbeitswert den Systemzusammenhang stiftet und dass die Dynamik des Systems aus der Logik der über die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozess sich vollziehenden Produktion und Reproduktion dieses Arbeitswerts hervorgeht. Der Arbeitswert ist die zentrale Strukturkategorie der Kritik der politischen Ökonomie. Seine Existenz muss nachgewiesen werden können und zwar ausgehend von der Wirklichkeit der Ökonomie, also der Frage nach dem Verhältnis von Tausch (Geld) und Revenuen (Produktionsverhältnisse). Das Programm der Pariser Manuskripte lautet, dass die »Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen« (MEW 40: 511) sei; es ist dies folglich jenes Programm, das in der Wertformanalyse eingelöst wird (vgl. Backhaus 2000). Der theoretische Nachvollzug dieses Zusammenhangs von Produktionsverhältnissen, also Revenuen, und
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Austausch ist dann der Nachweis der Realität des Systems (vgl. Reichelt 2002). Mit dem Nachweis der Genese der ökonomischen Kategorien verfolgt Marx im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie zugleich das Ziel, die Bewusstseinsformen der theoretischen Ökonomie und somit die Selbstreflexionsformen des Gegenstandes als ›notwendig falsches Bewusstsein‹ zu entwickeln. Dieser Anspruch kennzeichnet den systematischen Höhepunkt der Entwicklung und Durchführung des Programms der Marxschen Ideologiekritik, wie Marx es bereits seit seiner frühen Auseinandersetzung mit Hegel verfolgt. Inspiriert durch die Religionskritik Feuerbachs verfolgt Marx zunächst eine ›Kritik des Rechts‹ und eine ›Kritik der Politik‹, also der »Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten« (MEW 1: 379). Die rechtlich-politischen Formen der ›Entfremdung‹ sollen durchschaut und schließlich praktisch abgeschafft werden. Dieses Programm einer Kritik der Politik im weitesten Sinne wird fortgebildet zu einer Kritik der Ökonomie. Bereits im Kontext der Deduktion des Produktionsverhältnisses in den Pariser Manuskripten ist eine spezifische, ebenfalls noch von Feuerbach inspirierte Kritik der Nationalökonomie enthalten. Marx wirft der Ökonomie vor, dass sie Kategorien »äußerlich« aufgreift; dass »sie unterstellt, was sie entwickeln soll« (MEW 40: 510). Sein Gegenprogramm ist das der Formentwicklung (vgl. Backhaus 2000: 25), dass also die einander entgegengesetzten Formen von Arbeitslohn und Kapital in ihrer Genese entwickelt werden sollen. Die Kategorien müssen somit in der Marxschen Programmatik aus dem Geldsystem entwickelt werden. Jedoch kristallisiert sich erst in den Folgeschriften ein ideologiekritisches Programm heraus, das es letztlich erlaubt, das Programm der Kritik der politischen Ökonomie umfassend zu formulieren: dass die unkritische Verfahrensweise selber noch aus der Struktur der modernen, kapitalistischen Ökonomie als eine Gestalt des ›notwendig falschen Bewusstseins‹ entwickelt werden kann. Die entscheidenden theoretischen Voraussetzungen dieser Marxschen Argumentationsstrategie finden sich in den Thesen über Feuerbach und der Deutschen Ideologie. In den Thesen über Feuerbach grenzt sich Marx selber noch ideologiekritisch gegen die Religionskritik Feuerbachs ab. 55 Den Kern der religionskritischen Argumentation Feuerbachs bildet folgender Gedanke: Feuerbach begreift das religiöse Bewusstsein als eine Form der ›Entfremdung‹ des Bewusstseins. Demzufolge tritt sich der 55 | Zum gewandelten Verhältnis zu Feuerbach ab 1845 siehe Heinrich 2004a.
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Mensch selbst in der Religion in ›verkehrter Gestalt‹ gegenüber; er entäußert sein Gattungswesen, d.h. seine substantielle Einheit mit anderen Menschen. Die Verkehrungsstruktur des religiösen Bewusstseins beinhaltet: die Menschen projizieren Gott. Ihre eigene Vorstellung tritt ihnen im Bewusstsein als außer ihnen existierend entgegen. Sie können die Vorstellung nicht als menschengemachte, also von ihnen selbst produzierte durchschauen. Schließlich glauben die Menschen, sie seien selber noch Produkt des ›religiösen Wesens‹. Feuerbachs Programm lautet, dass Theologie in Anthropologie aufzulösen sei: der Mensch soll sein Gattungswesen erkennen; er soll erkennen, dass er sich in der Gestalt des religiösen Bewusstseins auf sein eigenes ›gegenständliches‹ Wesen bezieht. Fluchtpunkt dieser Theorie ist demzufolge die Forderung nach einer ›Revolution des Bewusstseins‹. Es soll eine Emanzipation durch Negation des Göttlichen in Gestalt der Liebe und des Republikanertums hervorgebracht werden (vgl. Feuerbach 1975a: 212ff.; Feuerbach 1975b: 234ff.). Die Menschen sollen ihr Gattungswesen unmittelbar – ›sinnlich‹ – praktizieren. Diese geforderte ›sinnliche Praxis‹ entspricht der praktischen Reformulierung des Hegelschen Selbstbewusstseins. Unter seiner Voraussetzung können die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang erstmals selbstbewusst herstellen. Laut Feuerbach ist eine geschichtliche Dynamik zu erkennen, die dahin führt, die Schranken der religiösen Entfremdung allmählich zu überwinden. Das Christentum, der Protestantismus im Preußischen Staat (vgl. ebd.), kennzeichnet den ›Kulminationspunkt‹ dieser geschichtlichen Entwicklung. Die Feuerbach-Kritik von Marx (vgl. MEW 3: 5ff.) richtet sich auf die Frage nach dem Grund der religiösen Entäußerung und zwar letztlich nicht des Menschen überhaupt, sondern des Individuums (s.u.). Analog der Verfahrensweise der bürgerlichen Ökonomen greift Feuerbach aus der Sicht von Marx die religiöse Selbstentfremdung gewissermaßen ›äußerlich‹ auf; er zeigt nicht, wie es zu ihr kommt. Feuerbach begreife zwar das religiöse Bewusstsein als Selbstentfremdung, jedoch blende er das Entscheidende aus: die Sichselbstungleichheit der ›weltlichen Grundlage‹. Von einer solchen kann Marx in Folge der Pariser Manuskripte offensiv sprechen. Sie soll selber noch als Voraussetzung der religiösen Selbstentfremdung dargestellt werden. Das Marxsche Programm lautet: die spezifische Gestalt des ›entfremdeten‹ Bewusstseins muss aus der spezifischen, historischen Struktur der Gesellschaft selbst entwickelt werden. Es muss dabei, mit Stirner gegen Feuerbach (vgl. Heinrich 2004a), vom ›wirklichen Menschen‹ ausgegangen werden. In der Deutschen Ideologie heißt es dann dementsprechend: »es wird von
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den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt« (MEW 3: 26; Hvm). Die ›Verdopplung des Bewusstseins‹ muss schließlich aus der Zerrissenheit der ›weltlichen Grundlage‹, also des ›wirklichen Lebens‹ entwickelt werden. Dementsprechend lautet die Marxsche Kritik in den Thesen über Feuerbach, dass Feuerbach das bürgerliche Individuum verabsolutiere. Er verkehrt demnach das bürgerliche Individuum zum Individuum schlechthin. Dabei muss, nach Marx, das Individuum, einschließlich seiner individuellen Bewusstseinsformen Religion, Philosophie etc., als Produkt bestimmter historischer Verhältnisse begriffen werden. Das bedeutet aber letztlich, dass es der Ideologiekritik im emphatischen Sinne allein um das religiöse Bewusstsein als eine Bewusstseinsform des Individuums geht, demnach auch allein um die privatisierte Religion. Feuerbach verabsolutiert und ontologisiert das religiöse Bewusstsein, wie es als ein Moment sich selbstverabsolutierender und damit genuin bürgerlicher Subjektivität – deren differentia specifica eben die der ›verdinglichten‹ Selbstbeziehung ist – gesetzt ist. 56 In der Deutschen Ideologie führt Marx dieses ideologiekritische Programm fort. Der Mangel der Philosophie besteht für Marx darin, dass Theorien, hier Hegel und Feuerbach, sich selbst undurchsichtige Reflexe einer ›wirklichen Verkehrung‹ sind. Theorie – der Hegelsche Idealismus und der Materialismus Feuerbachs – kann keine Angaben machen über die Genese ihrer eigenen Konstrukte. Sie ist nicht in der Lage, ihr eigenes Denken und dessen Inhalte zu thematisieren. Dagegen wird mit dem Begriff der Ideologie – dem ›notwendig falschem Bewusstsein‹ – die These vertreten, dass den Produzenten von Bewusstseinsformen nicht bewusst ist, dass ihre Bewusstseinsformen mit der Gesellschaft und deren Entwicklung zusammenhängen. Sie sitzen einem »Schein der Selbständigkeit« (MEW 3: 27) der Bewusstseinsformen auf. In verschiedener Weise – »Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie« (MEW 3: 26) – verabsolutiert sich das Bewusstsein selbst, d.h., es abstrahiert von seiner eigenen Genese, also von seinem Zusammenhang mit dem »Lebensprozeß« (ebd.) der Gesellschaft. Marx verfolgt in seiner Argumentation eine Doppelstrategie: zum einen die Darstellung des Arbeitsprozesses als Antrieb der Geschichte und zum anderen die 56 | Bereits in der Einleitung zu Hegel, 1843 schreibt Marx: »Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind« (MEW 1: 378).
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Darstellung des Niederschlags dieses Prozesses in den Theorien. Das Resultat dieser Darstellungsprozesse findet sich formelhaft im Basis-Überbau-Postulat, nach dem »verselbständigte Verhältnisse« eine »Idealistische Superstruktur« (MEW 3: 36) hervorbringen. Die ›Basis‹ wird auch in der Deutschen Ideologie als ›verkehrte Welt‹ bestimmt: die Menschen produzieren ihren gesellschaftlichen Zusammenhang; er verselbständigt sich und erscheint ihnen in entfremdeter Gestalt. Der Kommunismus beseitigt diese Verkehrung: »Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist« (MEW 3: 70f.). Die Individuen verkehren auf der Höhe der realen gesellschaftlichen Verkehrung entsprechend nicht unmittelbar, sonder als Träger von Charaktermasken, oder wie es später heißen wird, als »Personifikationen ökonomischer Verhältnisse« (MEW 23: 99) als ›Strukturfunktionäre‹; d.h., sie arbeiten, aber sie arbeiten innerhalb von ›Verkehrsformen‹. Die damit gegebene Verdopplung des Individuums als Besonderes (Intentionen, Bedürfnisse, Interessen) und zugleich Allgemeines (Charaktermaske) muss in ihrer Genese entwickelt werden können. Dieses Programm löst Marx in der Ökonomiekritik ein. Die Basis-Überbau-These in der Deutschen Ideologie wurde im Zusammenhang mit dem Gedanken der Theorie als ›Reflex‹ und dem für sie charakteristischen ›Schein der Selbständigkeit‹ formuliert: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein« (MEW 3: 27). Im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie wiederholt Marx dies im Zusammenhang mit den zentralen Argumentationsfiguren (MEW 13: 7ff.). Er suggeriert dabei, dass es sich bei der These von Basis und Überbau bereits um gesicherte Erkenntnis handelt. Stattdessen besteht das eigentliche Programm, das er dann auch konsequent verfolgt, in dem Nachweis des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Realität einerseits sowie der Explikation des damit verbundenen Einblicks in die Genese der ›verkehrten‹ Bewusstseinsformen selbst andererseits. Die These, dass das ›gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt‹, harrt ihrer ökonomiekritischen Einlösung im Kontext des Kapitals. Michael Heinrich schreibt: »Was Marx im ›Kapital‹ als Fetischismus und Mystifikation bezeichnet, sind Verkehrungen, die nicht aufgrund einer Manipulation der Herrschenden entstehen, sondern aus der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und den diese Struktur beständig reproduzierenden Handlungen entspringen« (Heinrich 2004b: 180). Ideologie bedeutet nach Marx, dass sich die Formen
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des Bewusstseins als ›notwendig falsches Bewusstsein‹ bilden. Ideologiekritik erfordert dementsprechend, dass die theoretischen Positionen in ihrer Genese nachvollzogen werden. Dabei hängen das Bewusstsein der Produktionsagenten und der Theoretiker zusammen. Die sich selbst verabsolutierende und damit zugleich sich selbst undurchsichtige Subjektivität, deren Strukturvermittlung Marx im Kontext seiner ›dialektischen Darstellung ökonomischer Kategorien‹ nachweist, wird in den ökonomischen Theorien in verschiedener Hinsicht unkritisch der Theoriebildung zugrunde gelegt. Oder anders ausgedrückt: Marx rekonstruiert im Kapital die strukturellen Voraussetzungen von Subjektivität sowie den Modus der wissenschaftlichen Verdopplung dieser Subjektivität. In der Durchführung seines Programms der ›dialektischen Entwicklung ökonomischer Kategorien‹ zeigt Marx, dass die Ökonomen einem mit der Produktionsstruktur selbst gegebenen Schein der Unmittelbarkeit aufsitzen. Marx zeigt, dass der gesellschaftliche Zusammenhang den – immer schon als Charaktermasken – handelnden Individuen in bestimmter, nämlich ›verkehrter‹ Weise erscheint. Marx entwickelt den inneren und notwendigen Zusammenhang der sozialökonomischen Erscheinungen und zeigt, wie sich dieser Schein in den Theorien reflektiert. Er dechiffriert die gesellschaftlichen Implikationen der nationalökonomischen Verfahrensweisen, entwickelt demnach selber noch, was die Ökonomen tun, und das ist, so Marx, nicht mehr, als dass sie den ›Schein als Sein‹ formulieren; die Ökonomen durchschauen das Einzelne nicht als Vereinzeltes, indem sie die Binnenperspektive der sich selbstverabsolutierenden Subjektivität unkritisch voraussetzen. Der Schein umfasst sowohl, dass die Verhältnisse unabhängig existieren – Fetischcharakter, Versachlichung (vgl. MEW 13: 21) –, als auch dass der Zusammenhang der Einkommensarten – oder was dasselbe ist: der Zusammenhang der ›ökonomischen Kategorien‹ – verschleiert ist, dass es sich den Beteiligten so darstellt, als wären sie unmittelbare Produkte ihrer selbst. Diesen Aspekt thematisiert Marx in der retrospektiven Perspektive in den Ausführungen über die »Trinitarische Formel« (MEW 25: 822ff.). An einem Beispiel lässt sich der Zusammenhang der Binnenperspektive der Beteiligten und der ökonomischen Theoriebildung aufzeigen: die Ökonomie muss beantworten können, wie sich das wirtschaftliche Gesamtprodukt (›Wertschöpfung‹) herstellt. Sie behauptet, dass es die Kombination der Produktionsfaktoren – Arbeiten, Boden, Maschinen – ist, aus dem das Gesamtergebnis hervorgeht. Das Gesamtprodukt ist jedoch immer schon Wertprodukt; das Resultat des Prozesses sind Arbeitslohn, Profit, Rente. Die Ökonomen führen somit die monetäre Einkom-
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mensart (Lohn, Rente, Profit, Zins) auf einen naturalistischen Ursprung (Maschinen, Arbeit, Boden) zurück. Marx begreift dies als einen fundamentalen Kategorienfehler. Die Frage nach dem Zusammenhang von stofflichen Produktionsfaktoren und Wertsummen ist Marx zufolge eine falsche Fragestellung; denn Maschinerie als stofflich-technologisches Produktionsmittel kann bspw. kein Wachstum einer Wertsumme stiften, und auch der Boden stiftet nicht die Grundrente. Theoreme, in denen solche Zusammenhänge konstruiert werden, verdolmetschen die Binnenperspektive der ›Produktionsagenten‹, sind somit Verwissenschaftlichungen der Binnenperspektive, in diesem Falle des Kapitalisten. In den Theorien über den Mehrwert kann Marx somit völlig zu Recht hinsichtlich der theoretischen Konstrukte der Ökonomen darauf insistieren, dass die ›Vorstellungsweise aus den realen Verhältnissen selbst entspringt‹ (vgl. MEW 26).
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D IE S OZIOLOGIE A DORNOS Die Realität der Struktur in der dialektischen Soziologie Adornos – Zu Adornos Phänomenologie der Produktionsverhältnisse In den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, nach den Erfahrungen des deutschen Faschismus, der Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeiten im us-amerikanischen Exil und schließlich der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung in die Bundesrepublik, setzt sich Adorno intensiv mit der Philosophie des Deutschen Idealismus auseinander. Die Vorlesungen und Aufsätze aus dieser Zeit belegen dies eindeutig. Mit dem in dieser Phase gewonnenen philosophischen Rüstzeug bestückt, reformuliert Adorno die Grundprobleme und Grundbegriffe der Gesellschaftstheorie; dies insbesondere seit Mitte der 50er Jahre. Hierbei nimmt die Soziologie Adornos jenen gesellschaftstheoretischen Faden auf, den Horkheimer bereits zwei Jahrzehnte zuvor zu spinnen begonnen hatte, der jedoch durch die Erfahrung und Verarbeitung des Faschismus in den 40ern in den Hintergrund geraten war. 1 Aus der Zusammenführung dieser beiden Stränge geht schließlich jene Begrifflichkeit hervor, mit der Adorno die Auseinandersetzung mit der klassischen Soziologie und Gesellschaftstheorie von Comte bis Weber ebenso wie mit dem Kritischen Rationalismus bestreitet. 2 Horkheimer selbst hält sich nach 1945 und insbesondere im Positivismusstreit im Hinter1 | Vgl. hierzu die einschlägige Staatskapitalismus-Diskussion sowie die Dialektik der Aufklärung. Vgl. auch Bolte/Türcke 1994: 45ff.; Brandt 1981: 126ff. sowie 135ff. 2 | Die kritische Verwendung der spekulativen Begrifflichkeit hat m.E. die Funktion eines Mediums der Vermittlung von Marxscher Ökonomiekritik und der Analyse soziologischer Gegenstände. Siehe hierzu auch Abschnitt S. 78ff. dieses Buches.
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Die Soziologie Adornos
grund. Der Auffassung Gerhard Brandts (vgl. Brandt 1986: 299ff.) zufolge bleibt Horkheimers Verhältnis zu seinem eigenen, in den 30er Jahren prolongierten materialistischen Programm der ›kritischen‹ im Gegensatz zur ›traditionellen‹ Theorie und damit auch sein Verhältnis zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie mindestens ambivalent, schwankend zwischen kantischen Motiven, Festhalten und Revision der Marxschen Kapitalismuskritik. Stand die 1947 von Horkheimer und Adorno gemeinsam veröffentlichte Dialektik der Aufklärung noch im Lichte der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus, so wendet sich Adorno seit den frühen 1950er Jahren verstärkt einer eigenständigen und erneuten Auseinandersetzung mit gesellschaftstheoretischen Problemstellungen zu, die sich unter zunehmender Verwendung spekulativer Begrifflichkeiten und Denkfiguren vollzieht und von der Warte der Kritik der politischen Ökonomie aus vorangetrieben wird. 3 Es stellt sich in diesem Zusammenhang vorrangig die Frage, ob sich Adornos Rekurs auf die spekulative, vorrangig Hegelsche Terminologie hinsichtlich der Formulierung gesellschaftstheoretischer Sachprobleme und deren analytischer Einlösung aus der ihrerseits auf Marx zurückgehenden Perspektive der Kritischen Theorie aufrechterhalten lässt. Adorno hat diesen Anspruch selbst explizit erhoben (vgl. A 8: 289f., 321f.). Maßgeblich für Adorno ist jedenfalls, die idealistischen Begriffe nicht im Zuge geschichtsphilosophischer Spekulation zu verwenden, sondern ihre Berechtigung allein für moderne, kapitalistische Gesellschaften zu reservieren (vgl. A 8: 9). 4 Zwar hat Adorno keine ausgeführte Theorie der modernen Gesellschaft hinterlassen (vgl. Breuer 1992), jedoch hat er einen reflektierten Zugang zur Konzeption eines tragfähigen Gesellschaftsbegriffs entwickelt. Dieser Zugang reflektiert auf einzigartige Weise den Zusammenhang von Erfahrung und Theoriekonstruktion und mündet seinerseits in dem Begriff der Gesellschaft als Totalität. 5 Dieser Gesellschaftsbegriff ist konstitutiv für das Programm einer ›kritischen Theorie der Gesellschaft‹, wie es von Adorno in der Phase 3 | Der Frage nach möglichen geschichtsphilosophischen Implikationen der Gesellschaftstheorie des späten Adorno gehe ich im Folgenden nicht nach. Ich gehe jedoch davon aus, dass Adorno mit seinen soziologischen Schriften seit spätestens den 1950er Jahren nicht erkenntnisleitend dem Horkheimerschen Paradigma einer geschichtsphilosophisch gerahmten ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ folgt. 4 | Vgl. auch SE: 8, 28; E: 54f., 73, 140. 5 | Siehe zur Rekonstruktion dieser Argumentationsstrategie eingehender die folgenden Abschnitte dieses Kapitels.
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des post-faschistischen Kapitalismus und insbesondere im Zuge des Positivismusstreits vorgetragen wurde. Mit dem Begriff der Totalität wurde im Positivismusstreit ein heuristischer Zweck assoziiert. Dies gilt sowohl für die umfangslogische Interpretation des Totalitätsbegriffs seitens jener Vertreter des Kritischen Rationalismus wie etwa Hans Albert (vgl. A 8: 293) als auch für Habermas, wenn dieser Adornos Totalitätsbegriff missversteht als ›Vorgriff auf einen universellen Sinnzusammenhang‹ (vgl. Habermas 1963b: 161). Als Totalität kann Gesellschaft jedoch allein aufgefasst werden, insofern in sozialen Handlungszusammenhängen bestimmbare Momente existierender Einheit und Objektivität auszumachen sind. Insofern Totalität in einer groben Annäherung gedacht wird als eine über- und einbegreifende Einheit, oder ein Strukturganzes, postuliert Adorno deren Existenz für die Gesellschaft selbst (vgl. E: 103). Diese Totalität bezeichnet die innere und objektive Vermittlung aller Einzelphänomene – einschließlich der theoretischen Formen der Selbstreflexion der Gesellschaft – durch eine sie übergreifende funktionale Einheit der sozialen Einzelmomente, die sich durch die bewussten Handlungen der vereinzelten Einzelnen hindurch realisiert 6 : »Nichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in jener Totalität hätte. Sie ist allen einzelnen Subjekten vorgeordnet, weil diese auch in sich selbst ihrer contrainte gehorchen und noch in ihrer monadologischen Konstitution, und durch diese erst recht, die Totalität vorstellen. Insofern ist sie das Allerwirklichste. Weil sie aber der Inbegriff des gesellschaftlichen Verhältnisses der Individuen untereinander ist, das gegen die Einzelnen sich abblendet, ist sie zugleich auch Schein, Ideologie […]. Gleichwohl ist sie […] den Fakten […] als deren Vermittlung […] immanent. Totalität ist, provokatorisch formuliert, die Gesellschaft als Ding an sich, mit aller Schuld von Verdinglichung« (A 8: 292). Obwohl von ihnen konstituiert, erscheint die Einheit der Individuen als unabhängig von ihnen existierend. Mehr noch: sie tritt ihnen gegenüber als ›objektiver Zwang‹, der das Handeln der Individuen strukturiert. 7 Die Reproduktion von verselbständigter 6 | Vgl. zu dieser Problematik grunssätzlich auch Breuer 1992; Ritsert 1998, 2001. Bemerkenswert ist, dass diese formalen Bestimmungen des Totalitätsbegriffs bereits in Adornos früher Auseinandersetzung mit Husserl auftauchen. Die »Bestimmung der umfassenden Ganzheit gegenüber der darunter befaßten Einzelheiten« wird in Zusammenhang gebracht nicht mehr mit der Vorstellung der ›Ganzheit des Systems‹, sondern registriert als »Strukturganzheit, [...] Struktureinheit oder Totalität« (A 1: 352; Hvm).
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Die Realität der Struktur in der dialektischen Soziologie Adornos
Die Soziologie Adornos
Struktur ist die objektive Bedingung der Möglichkeit von Individuierung und Individualisierung, wobei sich jedoch das einzelne Individuum in seiner Einzelheit, so Adorno, zugleich als unabhängig von der Objektivität der Gesellschaft existierend wahrnimmt. Obwohl die Parallelen zur konstitutionstheoretischen Fragestellung des Deutschen Idealismus, insbesondere zu Hegel, virulent sind, so sind doch auch die Unterschiede unübersehbar. Denn die von den Individuen als solchen unterschiedenen sozialen Entitäten bzw. ›Erscheinungen‹ lassen sich letztendlich nicht analog den ›sinnlichen Erscheinungen‹ in der Hegelschen Kant-Kritik (vgl. Hegel, Werke Bd. 3: 107ff.) in die Reflexionslogik subjektiver Wahrnehmungen auflösen. Vielmehr sind sie qua ihrer realen Überindividualität selber noch Voraussetzung von Individuierung, in deren Medium sich die verselbständigte Objektivität reproduziert. Für das Gegenstands- und Methodenverständnis der Soziologie im Unterschied zur Philosophie bringt dies die fundamentale Schwierigkeit mit sich, dass die Soziologie einerseits dazu genötigt wird, auf Vorstellungen objektiver sozialer Einheit und Struktur zu rekurrieren, andererseits jedoch ihre Begriffe, Kategorien und Methoden angesichts der Existenz einer überindividuellen Einheit der Individuen nicht erkenntnistheoretisch begründen kann. Es ist, der Argumentation Adornos zufolge, deswegen ein Begriff der Struktur zu bilden, der sich allein aus einer Phänomenologie objektiver sozialer Erscheinungen selbst zu speisen vermag. Dementsprechend heißt es bei Adorno: »Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimmbar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung« (A 10.2: 748). Welche systemischen oder nicht-systemischen Qualitäten den ausweisbaren Phänomenen der ›gesellschaftlichen Objektivität‹ beizumessen sind, ist schließlich eine selber noch theoretisch zu klärende, die Ausführung des Gesellschaftsbegriffs betreffende Frage. Dem Begriff der Totalität, mit dem Adorno auf der Ebene der Gesellschaftstheorie die Existenz eines realen Systems der Gesellschaft bezeichnet, geht in der Argumentation Adornos in systematischer Hinsicht der Marxsche Begriff der Klasse voraus. Adorno verweist wiederholt darauf, dass der Rekurs auf den Marxschen Klassenbegriff für die Begründung der Soziologie unverzichtbar sei (vgl. exemplarisch A 8: 359; E: 42f.). Der Begriff der Klasse bezeich7 | Habermas spricht später von ›systemischen Imperativen‹ (vgl. TkH I, II), um die Eigendynamik polit-ökonomischer ›Handlungssysteme‹ zu bezeichnen.
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net bei Marx weder eine Verteilungskategorie noch ein Bewusstseinsphänomen, sondern stellt einen emphatischen Strukturbegriff dar. Die spezifische Existenzweise von sozialen Klassen deutet auf die Existenz einer objektiven gesellschaftlichen Struktur hin.8 Diese ökonomische Struktur wird von der Kritischen Theorie als ›tragende Struktur‹ (vgl. A 8: 31) der Vergesellschaftung ausgewiesen. Ihre Reproduktion wird als das Telos, der Motor gesellschaftlicher Dynamik überhaupt aufgefasst. Die ökonomische Klassenstruktur bildet das basale Moment der Produktionsverhältnisse, wie diese für Adorno auf der Höhe des spätkapitalistischen Modus der Vergesellschaftung identisch mit der Verdopplung, oder soziologisch gesprochen der ›Differenzierung‹ der Gesellschaft in bürgerliche Gesellschaft und politischen Staat gegeben sind: »Die gegenwärtige Gesellschaft weist, trotz aller Beteuerungen des Gegenteils, ihrer Dynamik, des Anwachsens der Produktion, statische Aspekte auf. Sie rechnen den Produktionsverhältnissen zu. Diese sind nicht länger mehr allein solche des Eigentums, sondern der Administration, bis hinauf zur Rolle des Staats als des Gesamtkapitalisten« (A 8: 363; Hvm; vgl. auch A 8: 367f.). Mit der Existenz von Produktionsverhältnissen lassen sich verschiedene Momente gesellschaftlicher Einheit und Überindividualität bestimmen. Bei der Durchsicht seines soziologischen Spätwerks lässt sich erkennen, dass Adorno in der Auseinandersetzung mit den ihm vorausgegangenen und konkurrierenden Entwürfen der Gesellschaftstheorie immer wieder solche sozialen Phänomene benennt, deren ausweisliche Existenz den von ihm anvisierten objektiven Gesellschaftsbegriff zu tragen in der Lage ist.9 Adorno verweist auf jene sozialökonomischen Sachverhalte, die darauf hindeuten, dass in modernen, liberal-kapitalistischen Gesellschaften objektive und überindividuelle soziale Phänomene – Institutionen und gesellschaftliche Dynamiken – zu erkennen sind, die den grundsätzlichen Rekurs auf die Vorstellung einer Gesellschafts8 | Siehe zum Klassenverhältnis als Strukturphänomen grundsätzlich Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit. 9 | Vgl. hierzu insbesondere den Lexikon-Artikel Gesellschaft aus dem Evangelischen Staatslexikon (1965), die Schriften über ›Sozialwissenschaftliche Objektivität‹ (1965) und Durkheim (1967), die Negative Dialektik (1966) sowie das Postscriptum (1966), den Aufsatz zu Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968), die Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (1968) und schließlich die Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie (1968), die Einleitung in den Positivismusstreit (1969) sowie die Dialektische Epilegomena (1969).
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struktur nicht nur rechtfertigen können, sondern einen solchen Rekurs unbedingt erforderlich machen. Aus Adornos Texten lassen sich demgemäß verschiedene ›Indizien‹ für die Existenz einer gesellschaftlichen Realstruktur extrapolieren (vgl. A 10.2: 593; E: 66; A 8: 231). Es handelt sich hierbei grundsätzlich um die Beschreibung objektiver, entpersonalisierter Zwangsprinzipien, Adorno spricht von »Zwangsmechanismen« (A 10.2: 162), unter deren Vormacht sich das rationale Handeln von Subjekten bzw. Individuen und damit deren Vereinzelung überhaupt vollzieht (vgl. A 8: 11f.; E: 144). Solche strukturellen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, die sich an der Erfahrung des »Zwangscharakter[s] der Gesellschaft« (A 8: 270) oder der »Undurchsichtigkeit und schmerzhafte[n] Fremdheit des Sozialen« (A 8: 240) im Sinne der Objektivität der Struktur zeigen, lassen sich unmittelbar an der »Gewalt von Eigentumsverhältnissen« (A 8: 251), also den Produktionsverhältnissen, spezifizieren.10 Adorno begründet seinen um die Strukturlogizität von Produktionsverhältnissen zentrierten Begriff von gesellschaftlicher Objektivität also qua Explikation von Formen der Einheit und Objektivität, die sich in der Wirklichkeit der Gesellschaft selbst bestimmen lassen. Die existierenden Formen der Einheit und Objektivität der Gesellschaft sollen nicht in den Gegenstandsbereich hinein-, sondern aus ihm herausgelesen werden. So lässt sich Gesellschaft in ihren basalen sozialökonomischen Institutionen zunächst als an sich strukturierte Objektivität begreifen. Diese Objektivität weist an sich selbst ebenso konstitutiv dynamische wie widersprüchliche Momente auf. Die Existenz objektiver Sach- bzw. Reproduktionszwänge ist überdies der zentrale Hinweis auf die mögliche Existenz von Strukturgesetzmäßigkeiten. Als Konsequenz einer solchen Bestimmung der Objektivität der Struktur ergibt sich die fundamentale gesellschaftstheoretische Einsicht in die Notwendigkeit, dass mit der Existenz von gesellschaftlicher Objektivität der Vorgang der Individuierung als ein genuin gesellschaftlicher Vorgang zu denken ist, dass also ›Individuation‹ sich nicht primär handlungstheoretisch konzipieren lässt, sondern als konstitutiv im ›Medium‹ der vorgängigen Allgemeinheit sich vollziehender Vorgang zu begreifen ist. Dem Adornoschen Gegenstandsverständnis liegt die Annahme zugrunde, dass die Theorie mit einem bereits ›an sich strukturiertem‹ (vgl. A 10.1: 38) Objekt konfrontiert ist. In der Einleitung in den Positivismusstreit versichert Adorno, so »gewiß das Objekt der 10 | Hinweise finden sich auch in Adornos Lexikonartikel zum Stichwort ›Gesellschaft‹ (vgl. A 8: 9ff.)
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Soziologie, die gegenwärtige Gesellschaft, strukturiert ist, so fraglos trägt sie mit ihrem immanenten Rationalitätsanspruch unvereinbare Züge« (A 8: 337; Hvm). In der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie heißt es auch, die empirischen Sozialforscher würden »die Methode in ein in sich bereits strukturiertes Material hereingetragen« (E: 155; Hvm). Schließlich sei es die »in der Sache liegende Struktur […], um derentwillen man eigentlich das Ganze unternimmt« (E: 157; Hvm). Ritsert hat die Frage nach der Strukturiertheit des Objekts in einem philosophischen Kontext beschrieben. Er hebt mit einer Spitze gegen den sozialphilosophischen Neukantianismus hervor: man müsse »nach Hegel davon ausgehen, daß es in der Welt da draußen (im Objektbereich) Strukturen gibt, die dem Geist (Mustern des Denkens und Sprechens) entsprechen. Mit anderen Worten: der Objektbereich kann nach dieser Grundauffassung nicht als schlechthin ungeordnetes, etwa als völlig chaotische Mannigfaltigkeit unverbundener Einzeldinge und Geschehnisse, aufgefaßt werden. Er ist schon als Objektbereich strukturiert […]« (Ritsert 2001: 27). Übertragen auf die Soziologie lässt sich sagen, dass insofern von Gesellschaft als einem vorgängigen Ganzem – vom »Vorgeordnete[n] der Gesellschaft« (E: 88) – gesprochen wird, der Objektbereich der Soziologie nicht mehr als ›heterogene Mannigfaltigkeit‹ unzusammenhängender Einzeldaten vorgestellt werden kann. Das neukantianische ›Erfahrungsobjekt‹ weist vielmehr an sich selbst bereits bestimmbare Momente der Einheit und Strukturiertheit auf. Und es ist die Aufgabe der Theorie, die Erfahrung dieses Sachverhalts begrifflich einzuholen und ihn somit nicht individualistisch zu verklären oder funktionalistisch zu ontologisieren. In dieser Grundkonstellation stellt sich das Problem der gesellschaftlichen Einheit und Objektivität in besonderer Weise dar. Die dem vereinzelten Individuum gegenüberstehende gesellschaftliche Objektivität ist wesentlich durch die Existenz von Institutionen gekennzeichnet. Institutionen sind dem Verständnis Adornos zufolge im strikten Gegensatz zum Gegenstandsverständnis Max Webers zu begreifen als »dinghafte, vergegenständlichte Formen […], die man nicht unmittelbar in Handeln auflösen kann […]« (E: 178). Die Produktionsverhältnisse, wie sie von Marx expliziert werden, gelten Adorno dabei als prototypische institutionelle Phänomene (vgl. ebd.).11 11 | In letzter Konsequenz sei der Tausch – als Zentrum der ›institutionellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft‹ – durch das Produktionsverhältnis vermittelt: »Das Tauschverhältnis ist in Wirklichkeit präfor-
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Institutionen sind nach Auffassung Adornos generell nicht aus sich selbst heraus zu begreifen, sondern als ›Vergegenständlichungen von Arbeit‹ (vgl. A 8: 17) zu dechiffrieren. Bezüglich der strukturellen Implikationen von Institutionen betont Adorno, dass es sich bei diesen »nicht um unmittelbares Handeln handelt, sondern […] um geronnenes Handeln, um in irgendeiner Gestalt geronnene Arbeit handelt und um etwas, was dem unmittelbaren gesellschaftlichen Handeln gegenüber sich verselbständigt hat« (E: 178f.). Die Selbständigkeit der Institutionen, insofern sie als von Menschen produzierte zu begreifen sind, ist jedoch, so Adorno, zugleich auch ›Schein‹: »Angesichts der Tatsache, daß noch die übermächtigen sozialen Prozesse und Institutionen in menschlichen entsprangen, wesentlich vergegenständlichte Arbeit lebendiger Menschen, hat die Selbständigkeit des Übermächtigen zugleich den Charakter von Ideologie, eines gesellschaftlich notwendigen Scheins, der zu durchschauen und zu verändern wäre. Aber solcher Schein ist fürs unmittelbare Leben der Menschen das ens realissimum« (A 8: 17; Hvm; vgl. auch A 8: 369f.). Jener mit der Gestalt des Auseinandertretens von Individuum und Institutionen an sich strukturierte gesellschaftstheoretische Objektbereich enthält eine weitere wesentliche Bestimmung, insofern dieser nicht nur als Differenz von Individuum und Institution gesetzt ist, sondern in dieser Dualität immer schon als dynamischer vorgefunden wird. Gesellschaft ist für Adorno »wesentlich Prozeß« (A 8: 9).12 Und diese objektive Dynamik kennzeichnet kein Nullsummenspiel, sondern eine Bewegung, die allein als sich beständig ausdehnende existiert. Adorno betont in der Vorlesung von 1968, »daß die kapitalistische Gesellschaft, wenn Sie sie einmal als einen solchen Prototyp denken, sich nur erhalten kann, indem sie expanmiert durch die Klassenverhältnisse: daß eine ungleiche Verfügung über die Produktionsmittel stattfindet, das ist der Kern der Theorie« (B: 506). Zugleich konstatiert Adorno, dass die Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte subsumieren: »Die Produktionsverhältnisse haben um ihrer schieren Selbsterhaltung willen durch Flickwerk und partikulare Maßnahmen die losgelassenen Produktivkräfte weiterhin sich unterworfen. Signatur des Zeitalters ist die Präponderanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte, welche doch längst der Verhältnisse spotten« (A 8: 363). 12 | Insofern diese Eigenschaft eine des gesellschaftstheoretischen Objekts ist, lässt sich mit Backhaus festhalten: »Der Stoff ist kein toter, mechanischer, sondern ein in sich strukturierter und bewegter [...]« (Backhaus 1997b: 438; Hvm).
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diert« (E: 71f.). Des Weiteren heißt es explizit, dass das Kapital, »um sich zu erhalten, sich ausdehnen muß« (A 8: 335). Bereits in den 1950er Jahren betont Adorno den sozialökonomischen Kern der Dynamik der Entwicklung der Gesellschaft: »Visiert der Begriff der Gesellschaft die Beziehungen von Menschen im Rahmen der Erhaltung des Lebens der Gesamtheit, als Tun eher denn als Sein, dann ist er wesentlich ein dynamischer Begriff. Allein schon, daß tendenziell am Ende eines jeden Zyklus gesellschaftlicher Arbeit ein größeres Sozialprodukt übrigbleibt, als zu dessen Anfang gegeben war, involviert ein dynamisches Moment« (SE: 28). Die bürgerliche Gesellschaft, so heißt es in der Negativen Dialektik, »muß, um sich selbst zu erhalten, sich gleichzubleiben, zu ›sein‹, immerwährend sich expandieren, weitergehen, die Grenzen weiter hinausrücken, keine respektieren, sich nicht gleich bleiben« (A 6: 35; Hvm, vgl. auch A 6: 13). In diesem Zitat klingt an, was Adorno als subsumtionslogischen Fluchtpunkt dieser dynamischen Gesellschaft sieht: die totale Vergesellschaftung (vgl. SE: 35f.; A 20.1: 167). Und diese endogene Expansionsdynamik verläuft zugleich nicht reibungslos, sondern ist konstitutiv durch die Tendenz zur Krise gekennzeichnet (vgl. A 8: 324, 366). Die objektive Dynamik vollzieht sich im Medium von Institutionen, d.h., in ihrer Dynamik verändert sich die Gesellschaft in Gestalt eines krisenhaften Expansionsprozesses und bleibt doch dieselbe. Bereits nach dem hier Entwickelten weist die gesellschaftliche Entwicklung an sich selbst gegenläufige Momente auf. Der Rationalisierungsprozess erscheint nach Adorno zugleich als Irrationalisierungsprozess (exemplarisch z.B. in A 10.2: 774f.). Moderne Gesellschaftlichkeit lässt sich grundsätzlich bestimmen als unmittelbare Einheit von »Rationalität und Irrationalität« (A 8: 296). Die Explikation von Aspekten der Widersprüchlichkeit der Vergesellschaftung macht einen Kernpunkt der Adornoschen Rechtfertigung seines Objektivitätsbegriffs aus. Solche »objektive[n] Widersprüche« (A 8: 306) seien der Struktur der Gesellschaft nicht äußerlich, sondern konstitutiv für sie und lassen sich an verschiedenen konkreten Momenten festmachen. So existieren etwa mannigfaltige Verkehrungen von Zwecken und Mitteln: Bedürfnisse erweisen sich auf der Höhe der bürgerlichen Ökonomie als bloße Akzidentien einer Produktion um ihrer selbst willen (vgl. A 8: 361f.; B: 506f.). Das Bedürfnis gilt Adorno als etwas, »was heute gleichsam vom ökonomischen Interesse mitgeschleppt wird« (A 8: 221). Letzterer Gedanke findet sich auch in der bekannten Formel vom ›Mitschleifen des Gebrauchswerts‹ (vgl. A 4). Hierbei zeigt sich ferner, dass die Bedürfnisse nicht nur nach
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Maßgabe ökonomischer Kriterien befriedigt werden, sondern dass sie darüber hinaus noch ihrem Inhalt nach von der gesellschaftlichen Produktionsweise hervorgebracht werden (vgl. auch A 8: 365). Auch noch die nicht von der Hand zu weisenden Tendenzen zur Bürokratisierung fallen für Adorno unter die strukturinduzierte Verkehrung von Mitteln und Zwecken (vgl. A 8: 124f.). Die irrationalen Momente des bürgerlichen Reproduktionsprozesses zeigen sich ferner daran, dass der allgemeine Austausch von Äquivalenten allein auf der Basis von Klassenstrukturen vonstatten geht, also asymmetrische Eigentumsverhältnisse voraussetzt bzw. diese reproduziert. Adorno betont, dass die von ihm ausgewiesenen Momente und Bestimmungen gesellschaftlicher Objektivität keineswegs in den Gegenstand hinein projiziert wurden, sondern existierende Formen der Überindividualität bezeichnen. Diese Einsicht in die Existenz der Objektivität der Struktur wird u.a. durch die ›immanente Kritik‹ liberaler Beschreibungen des Gegenstandes erreicht: »Die kritische Theorie der Gesellschaft, welche diese in ihrer Einheit deduzierte, hat weniger ihre eigene Systematik ans Objekt herangetragen als dessen systematische Konzeption von sich selbst aufgegriffen und mit der von ihr gedeckten Realität konfrontiert. Nachgewiesen wurde der Widerspruch von Begriff und Sache: daß es in der Gesellschaft, nach der Doktrin des Liberalismus, mit rechten Dingen zugehe und doch nicht mit rechten Dingen; daß die Waren nach ihren Äquivalenten getauscht werden und dennoch der Mehrheit der Menschen der Ertrag ihrer Arbeit vorenthalten wird« (A 20.1: 166; Hvm).13 Die Tauschgesellschaft existiert ausschließlich auf der Basis der Ungleichheit, die mit der Klassenstruktur gegeben ist: »Die Erfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde […]« (A 10.2: 637). Mit der konstitutiven Einheit, Dynamik und Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Reproduktionszusammenhangs ist dessen subjektloser, entpersonalisierter und insofern anarchischer »Zwangscharakter« (E: 144) gesetzt (vgl. A 8: 14, 294). Die moderne Gesellschaft hat, so Adorno, kein steuerndes Zentrum (vgl. A 8: 583). Sie 13 | Noch im Positivismusstreit heißt es eindeutig: »Die Behauptung der Äquivalenz des Getauschten, Basis allen Tausches, wird von dessen Konsequenz desavouiert. Indem das Tauschprinzip kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen sich ausdehnt, verkehrt es sich zwangvoll in objektive Ungleichheit, die der Klassen. Prägnant lautet der Widerspruch: daß beim Tausch alles mit rechten Dingen zugeht und doch nicht mit rechten Dingen« (A 8: 307; Hvm).
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sei eine »erzwungene Einheit« (A 10.2: 619f.): die »Einheit des Systems rührt her von unversöhnlicher Gewalt« (A 5: 273). Die Tatsache, dass die Reproduktion der Gesellschaft in Gestalt des abstrakten, objektiven Zwangs auf die Individuen stößt, ist ein wesentliches Indiz für die Gesetzmäßigkeit der Struktur. In ihrer zwanghaften Objektivität ist Gesellschaft undurchsichtig und ›unverstehbar‹ (vgl. A 8: 11f.), und dennoch ist sie in den rationalen Handlungen der Individuen konstitutiv präsent. So reproduziert jede Handlung zugleich einen abstrakten und objektiven gesellschaftlichen Verkehrungszusammenhang, bei dem die produzierte Eigendynamik der Verkehrung wiederum objektive Voraussetzung des sozialen Handelns ist und dieses strukturiert. Das ›Gesetz der Verselbständigung‹, dass also die Struktur der Verselbständigung in sich bestimmt (vgl. E: 60) und in ihre Dynamik gerichtet ist, besteht hierbei schließlich auch darin, dass die Eigenlogizität und Eigendynamik der Verkehrung nicht als ein schlechthin Unabhängiges gedacht werden kann, sondern sich notwendig durch Individuation hindurch vermitteln muss. Adorno entwickelt den Begriff der Gesellschaft dementsprechend als »Relationsbegriff« (E: 62), eine »Relationskategorie« (E: 64, 76) oder »Vermittlungskategorie« (E: 67, 82, 174). In dieser Hinsicht sei die Struktur der Gesellschaft zugleich wesentlich zu begreifen als »Funktionszusammenhang« (E: 55), »Funktions- und Lebensprozeß« (E: 250). Mit der Bestimmung jener konstitutiven Strukturmerkmale des gesellschaftstheoretischen Objekts impliziert der Begriff einer solchermaßen keineswegs bloß vorgestellten, sondern gedachten Struktur ein für moderne Gesellschaften wesentliches Moment: das der gesellschaftlichen Individuierung. Dieses bezeichnet die Einsicht, dass sich die Gestalt der Individuierung und Individualisierung konstitutiv unter der Voraussetzung der Vermittlung durch existierende Formen der Verselbständigung vollzieht. Dies impliziert auch, dass die Realisierung von ›Verkehrsformen‹ (›Charaktermasken‹) und den damit verbundenen rationalen Handlungsorientierungen von der Reproduktion der endogenen gesellschaftlichen Expansionsdynamik abhängt: auch der Wille der Kapitalisten ist gebunden an die von ihm unabhängig existierenden systemischen Reproduktionsbedingungen (vgl. A 8: 369). Dies ist auch gegen jede personalistische Verkürzung der Realität von Produktionsverhältnissen zu betonen. Die spezifischen Formen neuzeitlicher Vereinzelung, Rationalität und Subjektivität konstituieren sich wesentlich vermittels der Vergesellschaftung der Individuen im Medium der an sich struktu-
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rierten Objektivität der Gesellschaft und damit vermittels der Einbindung der Individuen in jene in der eigenlogischen Bewegung des gesellschaftlich Allgemeinen aufgehobenen institutionellen Formen. Es existiert mitnichten eine unmittelbare Form der Individuierung zum Subjekt, sondern vielmehr ist »Individuation […] eine gesellschaftliche Kategorie« (A 8: 324). Diese Figur kennzeichnet einen Kerngedanken der Kritischen Theorie. So sei dieses Ganze »das Allgemeine, die Gesellschaft als Einheit der Monaden« (SE: 47; Hvm), wobei der »Vorrang der Gesellschaft über das Individuum« (ebd.) konstatiert wird. In der Realität der Gesellschaft lassen sich keine unmittelbaren ›Monaden‹ vorfinden, sondern ihre Einheit und Allgemeinheit im ›Medium‹ der verselbständigten gesellschaftlichen Struktur: »Wenn in der Tat die sogenannte ›Massenpsychologie‹ sich durch individuell-psychologische Vorgänge erklärt, so wäre die Behauptung zu ergänzen durch die umgekehrte, daß Inhalt und Gestalt aller Individualität sich der Gesellschaft als einer Struktur mit eigener Gesetzmäßigkeit verdanken. Die Wechselwirkung und Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft zeitigt in weitem Maße die Dynamik des Ganzen überhaupt« (ebd.; Hvm). Und an anderer Stelle heißt es, die »Gesellschaft hat ihm [dem bürgerlichen Subjekt; L.M.] die Vereinzelung aufgeprägt« (A: 55; Hvm). In dieser Hinsicht wird das Individuum noch in den Akten seiner Individuierung und Individualisierung als Strukturfunktionär ausgewiesen. In der Einleitung zum Positivismusstreit hält Adorno pointiert fest, dass »das Individuum […] gegenüber der Gesellschaft aus gesellschaftlichen Gründen sich verselbständigt [hat]« (A 8: 341). Die Realität der Gesellschaft selbst liefert dem theoretischen Bewusstsein somit den objektiven Gegensatz von Individuum und Gesellschaft (vgl. E: 229f.). Der Begriff dieses eigentümlichen sozialen Sachverhalts, die Artikulation des ›Erscheinungscharakters‹ der Objektivität des Sozialen, ist identisch sowohl mit der Überwindung der Bewusstseinsphilosophie als auch mit Vermeidung des sozialwissenschaftlichen Positivismus. Prospektiv: Der von Adorno anvisierte Begriff der Totalität darf vor dem Hintergrund des Adornoschen Verständnisses von gesellschaftlicher Objektivität nicht als heuristischer Holismus missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine essentialistische Systemkonzeption, deren materialer Bedeutungsgehalt jene durch die Einnahme der Teilnehmerperspektive bestimmbaren Momente existierender Einheit und Objektivität konserviert. Gesellschaft als Totalität ist überindividuell sowie ›überintersubjektiv‹ bzw. ›transnormativ‹ und »repressiv« (A 8: 11). Sie ist an sich selbst strukturiert und dabei eine nicht bewusst konstituierte überindividuelle Ein-
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heit der vereinzelten Individuen. Gesellschaft als Totalität ist somit weder auf subjektive Bewusstseinszustände noch auf intersubjektive Konventionen zurückführbar; obgleich sie im bewussten Handeln produziert und als verselbständigte reproduziert wird. Sie kennzeichnet also eine ›hinter dem Rücken‹ der handelnden Subjekte sich konstituierende ›antagonistische‹ gesellschaftliche Realstruktur, die in ihrer krisenhaften Dynamik nur als ein gerichtet Prozessierendes existiert, dessen Einheit und Motorik in der Reproduktion der Produktionsverhältnisse begründet ist. Dieses verselbständigte Allgemeine – die Reproduktionsgesetze der bürgerlichen Ökonomie – realisiert sich allein, indem es sich durch das soziale Handeln und die Restrukturierung des institutionellen Nexus hindurch vermittelt. Mit der Reproduktion verselbständigter Institutionen ist somit zugleich notwendig die Form der Vereinzelung der Individuen impliziert. Das Individuum kann nur es selbst sein, insofern es sich vergesellschaftet, also indem es sich innerhalb der verselbständigten expansiven Bewegung des sich beständig umwälzenden institutionellen Blocks der Gesellschaft ›verwirklicht‹ und sich so in seiner Selbstreproduktion zugleich immer schon ›entäußert‹ (vgl. E: 77f.). Der mit dem Begriff der Totalität der Gesellschaft bezeichnete objektive soziale Strukturzusammenhang kennzeichnet weder eine geistig-psychische noch eine sinnlich-physische Realität. Die Objektivität der Struktur erscheint vielmehr auf den ersten Blick als etwas Phantomhaftes, das eher an eine soziale ›Hinterwelt‹ erinnert. Der philosophiegeschichtliche Anknüpfungspunkt wäre am ehesten Platons Sphäre der Ideen (vgl. Ritsert 2000: 11), nur dass eine solche Zwischendimension als objektiv existierende Sozialität, die sich durch das soziale Handeln und die institutionellen Formen hindurch vermittelt, zu denken wäre. Mit anderen Worten: demjenigen Bewusstsein, das sich an den strikten Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand, Psyche und Physis hält, muss Adornos Totalitätsbegriff der Gesellschaft als gleichbedeutend mit dem erscheinen, was der Begriff der Totalität ursprünglich gewesen ist: Metaphysik.
Gegenstand und Methode der Soziologie Adornos Begriff und Sache | Sozialwissenschaften und Erfahrungswissenschaften unterscheiden sich grundsätzlich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu ihrem Gegenstand. Während sich Natur und Theorie äußerlich zueinander verhalten, das naturwissenschaftlich-technologische Bewusstsein mitunter lediglich Objektivität in seine ver-
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meintlich objektiven Gegenstände hineinprojiziert, stehen die geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Disziplinen in einem weitaus prekäreren Verhältnis zu ihrem Gegenstand. Dieser wird gemeinhin als eine Zwischenwelt zwischen Bewusstsein und Natur vorgestellt: so existiert in der Tradition der praktischen Philosophie etwa von Hegel oder Humboldt die Vorstellung des überindividuellen Sozialen als einer Sphäre des ›objektiven Geistes‹ – wenngleich damit auch immer schon eine Art der Objektivität im Bewusstsein der Einzelnen gemeint ist. Aber auch die Soziologie ist im Wesentlichen Drei-Welten-Theorie, in der die Welt des genuin Sozialen vorgestellt wird als Intersubjektivität von Werten, Normen und Institutionen, im Grenzfall als ›nicht-intendierte Handlungsfolgen‹ (Merton, Popper, Habermas) oder schließlich gar als ›Emergenz‹ von ›Kommunikation‹, ›sozialen Systemen‹ und dem dynamischen objektiven Prinzip der ›funktionalen Differenzierung‹ (Luhmann). Selbst einige radikale Handlungstheoretiker haben ihre zeitweise geäußerte Kritik, es handele sich bei jeglichen Vorstellungen von Überindividualität um ›Reifikationen‹ nicht durchgehalten und sind mittlerweile selber zur Verwendung zumindest der Begriffe der Norm und Institution übergegangen.14 Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu ihrem Gegenstand benennt Adorno in seiner Auseinandersetzung mit dem Positivismus eine schlichte Alternative: »Entweder ist Erkenntnis der Gesellschaft mit dieser verflochten, und Gesellschaft geht konkret in die Wissenschaft von ihr ein, oder diese ist einzig ein Produkt subjektiver Vernunft, jenseits 14 | Siehe hierzu etwa Vanberg, der einst Parsons scharf attackierte (siehe Vanberg 1975), heute jedoch selbst an Coleman anschließt. In seinem Hauptwerk Grundlagen der Sozialtheorie betont Coleman, dass »neu entstehende (emergente) Phänomene auf der Systemebene, […] die von den Individuen nicht beabsichtigt worden sind« (Coleman 1990: 6) den Gegenstand seiner sich um die Konzepte des zweckrationalen Handelns und der Institutionen positionierenden Soziologie bilden. Dies korrespondiert mit der Forderung Poppers, nicht-intendierte Folgen des sozialen Handelns als eigentlichen Gegenstand der Soziologie zu begreifen (vgl. hierzu Dietz 2004). In der zeitgenössischen Handlungstheorie wird der Bereich des Überindividuellen auch als ›Transintentionalität‹ oder ›Aggregation‹ bezeichnet. Dabei wird der Bereich des Überindividuellen als Objektbereich der Soziologie bestimmt, dessen Zustandekommen auf der Grundlage von Webers sinnverstehendem Zugang und des Methodologischen Individualismus durch eine ›Logik der Aggregation‹ erklärt werden soll (siehe bei Esser 1993).
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aller Rückfragen nach ihren objektiven Vermittlungen« (A 8: 282). Es wird nun seitens der einschlägigen Sozialtheorien angenommen, dass die sozialtheoretischen Reflexionen im Gegensatz zu den Erkenntnisakten der Naturwissenschaften stets selbst noch dem Objektbereich zuzurechnen sind; dass sie in der Gesellschaft stattfinden bzw. durch Gesellschaft vermittelt sind. Die sozialwissenschaftliche Theorieproduktion erschöpft sich demnach nicht in Aussagen über ein bestimmtes Forschungsobjekt, sondern sie muss zugleich ihr eigenes Verhältnis zum Gegenstand – und damit sich selbst noch als potentielles Moment des Untersuchungsbereichs – entwickeln können. Die Zirkelproblematik, in der sich die sozialwissenschaftliche Theoriebildung bezogen auf ihr Objekt befindet – also dass sie immer schon das, was sie erklären soll, in sich enthält und voraussetzt –, wird nun allerdings nach Maßgabe des je nach dem differierenden Gegenstandsverständnisses unterschiedlich gefasst. So charakterisiert Habermas mit Schütz den Zirkel in der Weise, dass der hermeneutische Theoretiker eine symbolisch strukturierte Lebenswelt, der er selber angehört (vgl. TkH I: 176), zum Gegenstand hat. Dabei habe »der sozialwissenschaftliche Beobachter keinen privilegierten Zugang zum Objektbereich, sondern muß sich der intuitiv beherrschten Interpretationsverfahren bedienen, die er als Angehöriger einer sozialen Gruppe naturwüchsig erworben hat. Solange sich der Soziologe dieses Umstandes nicht bewußt ist, teilt er seinen Status mit dem eines sozialwissenschaftlichen Laien auf naive Weise und hypostasiert wie dieser die gesellschaftliche Realität zu einem an sich Bestehenden« (TkH I: 182; Hvm). Demgegenüber begreift Luhmann die im Wissenschaftssystem der Gesellschaft ablaufenden Erkenntnis- und Lernprozesse als Form der Selbstbeschreibung des objektiven Zusammenhangs funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung (vgl. Kneer 2003: 304f.). Mit Luhmann: »Was die Soziologie […] tun kann, ist: die strukturellen Bedingungen für ihre Position als Beobachter zweiter Ordnung zu reflektieren. Sie liegen, wie leicht zu sehen, in der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems […]. Soziologie kann in ihrer Gesellschaftsbeschreibung miterfassen, daß sie ihrerseits in der Gesellschaft durch die Gesellschaft ermöglicht wird« (Luhmann 1997: 1123f.). Die sozialwissenschaftliche Reflexion muss klären können, wie sie mit Gesellschaft vermittelt ist, wie Gesellschaft in sie eingeht. Dies schließt ein, dass Theorie ihre pragmatischen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Implikationen, etwa inwiefern sie gegebenenfalls ein Moment gesellschaftlicher Rationalisierung ist oder dass gegebenenfalls Herrschaftsinteressen in sie eingehen, mitdenken muss.15 In der Kritischen Theorie hat die Annahme objektiver
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Präformierungen – der »objektiv-gesellschaftlichen Präformation der vergegenständlichten wissenschaftlichen Apparatur« (A 8: 311) – aber auch noch den spezifischeren Sinn, dass die als positivistisch etikettierten Theorien, dadurch, dass sie sich im weitesten Sinne ›formalsoziologisch‹ zu ihrem Gegenstand positionieren, eine Stellung einnehmen, in der sie jenem von diesem Gegenstand letztlich selber erzeugten ›gesellschaftlich notwendigen Schein‹ aufsitzen und diesen so in ihrer Systematik selber noch ›verdoppeln‹ (vgl. A 8: 317), indem sie ihre eigene Vermitteltheit mit ihrem Objekt ausblenden. Demgemäß schreibt Adorno: »Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkenntnis und dem realen Lebensprozeß; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbständigt und objektiviert hat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funktion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie umgreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt« (A 8: 283). Mit dem Perspektivwechsel, der den gesellschaftlichen Zusammenhang theoretischer Reflexion thematisiert, eröffnet sich schließlich ein weiterer systematischer Aspekt, der in der Regel unterschlagen wird. Es handelt sich hierbei um die Frage, wie Theorie überhaupt ihren Gegenstand konstituiert, als Bedingung der Möglichkeit sowohl einer möglichst präzisen Gegenstandsbestimmung als auch von systematischen Aussagen über diesen Gegenstand.16 Bereits die Frage nach dem Gegenstand gibt in den sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen Anlass zu Auseinandersetzungen. Die Theorie muss deswegen in ihre Reflexion miteinbeziehen können, wie sie ihre Fragestellungen und Grundbegriffe hervorbringt. Die vor diesem Hintergrund zentrale Frage lautet dann: hängt die ge15 | Die postempiristische Wissenschaftstheorie hat diese Kriterien auch noch für die Erfahrungswissenschaften legitimiert (vgl. Ritsert 1998a). Um die Frage nach den sozialen Bedingungen des Wissens hat sich im 20. Jahrhundert die Wissenssoziologie (Max Scheler, Karl Mannheim) formiert. 16 | Habermas z.B. knüpft unmittelbar an Simmels klassische Frage ›Wie ist Gesellschaft möglich?‹ an (vgl. Habermas 1971). Habermas reflektiert jedoch nicht, wie Simmel zu dieser theoretischen Fragestellung gekommen ist, zu der Frage also, wie das theoretische Bewusstsein überhaupt zu einer objektiven Gesellschaftsvorstellung, die dem individuellen Handeln gegenübergesetzt wird, kommt.
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sellschaftstheoretische Gegenstandskonstitution von je subjektiven Präferenzen – bspw. ›Erkenntnisinteressen‹ (Habermas) – ab oder gibt es einen zwingenden, weil theoriekonstitutiven und in dieser Hinsicht objektiven Gegenstand der Theoriebildung? Wie kann die Theorie Gewissheit über ihren Gegenstand und ihr eigenes Verhältnis zu diesem erlangen? Nach Adorno sieht sich die theoretische Reflexion einer realen Verselbständigung gegenüber, deren Eigenlogizität sie allein im Medium der theoretisch-begrifflichen Reflexion zu erreichen vermag. Adorno begreift, analog zu Marx, den Sachverhalt einer realen Verselbständigung von gesellschaftlichen Verhältnissen als objektiven Gegenstand der Theorie. Als das »Zentralproblem und die zentrale Schwierigkeit der Soziologie überhaupt« (E: 229) kennzeichnet Adorno einen spezifisch sozialwissenschaftlichen Sachverhalt: denn ihr Objekt, Gesellschaft, hat ›Doppelcharakter‹ – Gesellschaft ist subjektiv und objektiv zugleich. Es existiert eine »vorgängige Objektivität« (A 8: 289), zugleich wird diese von den handelnden Individuen produziert. So sei es für die Moderne charakteristisch, »daß Subjekt und Objekt in dieser Gesellschaft auseinandertreten, daß die Menschen in einem noch nie dagewesenen Maß Objekte der gesellschaftlichen Prozesse sind, die wiederum aus den Menschen sich zusammensetzen« (E: 229f.). Der hier seitens Adorno angedeutete Prozesscharakter der Gesellschaft stellt keinen intersubjektiv geteilten Sinn- oder Symbolzusammenhang dar, sondern meint die Existenz einer verselbständigten Struktur mit eigener Logizität und eigener Dynamik. 17 Weil nun, so Adorno, »solcher Doppelcharakter aber das Verhältnis sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu ihrem Objekt [modifiziert] [...]« (A 8: 316), kommt es dementsprechend für Adorno entscheidend darauf an, wie Theorie diesen Sachverhalt reflektiert. Dies beinhaltet das Verhältnis von Gegenstand und Methode und im Kern dabei die Art und Weise, wie Soziologie ihren Gegenstand und ihr Verhältnis zum Gegenstand fasst. Adornos Kritik am Positivismus lautet, dass dieser von seiner Verwicklung mit dem Gegenstand absehe und infolgedessen Gesellschaft ›von außen her‹ (vgl. ebd.) betrachte. Der Positivismus gebe im Akt der Verabsolutierung der Methode die Perspektive auf die objektiven Vermittlungen zugunsten einer systematisch-widerspruchslosen Erfassung einer vorgeblichen Unmittelbarkeit von Einzelphänomenen preis. Im Zuge einer solchen Konzeption des 17 | Siehe die Phänomenologie der Verselbständigung in Abschnitt S. 109ff.
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Wissenschafts- und Wahrheitsbegriffs (›Beschreibung‹, ›Nominalismus‹, ›Falsifikation‹) verändere sich das Gegenstandsverständnis der positivistischen Theorie, das falsch wird: »die vermeintliche Freiheit in der Wahl des Koordinatenkreuzes schlägt um in die Verfälschung des Objekts« (A 8: 550), oder, wie Adorno an anderer Stelle im Hinblick auf eine konstitutionstheoretische Fragestellung ausgeführt hat: »In dem scheinbaren Belieben, welchen Abstraktionsschnitt durch die Realität man zieht, liegt die Konstitutionsfrage bereits drin« (B: 512). Ein zentraler Aspekt dieser Kritik betrifft die Strategie der positivistischen Sozialwissenschaften seit Comte – »das eigentliche Pseudos« (A 8: 316) –, naturwissenschaftliche Verfahren unreflektiert und unbegründet auf gesellschaftliche Sachverhalte zu übertragen. Denn damit mache sich die positivistische Soziologie einer ›Wiederholung der Verdinglichung‹ (vgl. E: 230; vgl. A 8: 317) schuldig: indem sie Gesellschaft als Subjekt umstandslos so behandelt, als wäre sie bloß Objekt, geht ihr das Spezifische des Subjektcharakters verloren, nämlich dass es sich um ein Verselbständigtes – d.h. ein von Individuen Konstituiertes und ihnen äußerlich Gegenübertretendes und in dieser Hinsicht der Subjektivität der Erfahrungs-, Handlungs- und Denkformen Vorausgesetztes bzw. Immanentes – handelt (vgl. A 8: 316). Der Vorgang der Verdinglichung des soziologischen Bewusstseins besteht im Kern in der Verabsolutierung der eigenen analytischen Kategorien gegenüber der Sache; und zwar sowohl in Sinne des handlungstheoretischen Nominalismus als auch im Sinne der vornehmlich von strukturalistischer Seite praktizierten bewusstlosen Identifikation der eigenen Denkbestimmungen mit der diesen Bestimmungen äußerlichen Objektivität. Vornehmlich der soziologische Nominalismus gilt Adorno als ein »Wissen, das die Struktur seines Gegenstandes der eigenen Methodologie zuliebe verleugnete« (A 8: 549). 18 Unter funktionalistischen Vorzeichen verhält sich das verdinglichende Bewusstsein der Soziologie demgegenüber zu seinen Objekten so, als ob sie wirklich ›soziale Rolle‹ oder ›System‹ bzw. ›Organismus‹ wären. Den Mangel des Organismusbegriffs sieht Adorno darin, dass Gesellschaft, wird sie »nach dem Bild des Organismus« (E: 69) konzipiert, nur als »Ansichseiendes« (ebd.) vorgestellt wird und zwar in der Hinsicht, dass Gesellschaft »als eine Wirklichkeit zweiten Grades hypostasiert wird« (E: 68). Die Objektivität der Struktur wird so zwar konstatiert; sie wird jedoch nicht als konstituierte und durch das bewusst-intentionale Handeln der Indi18 | Siehe zu diesem Aspekt auch Ritsert 1996: 128.
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viduen vermittelte ausgewiesen. Die Struktur wird zugleich in reifizierender, in diesem Falle ›bebildernder‹ Weise artikuliert. So heißt es bei Adorno bezogen auf Durkheim auch: »Die Verselbständigung des Sozialen wird von ihm registriert in eben der Unmittelbarkeit, in der sie dem deskriptiven Beobachter erscheint« (A 8: 253). Der reifizierende sozialwissenschaftliche Verstand verfährt in dieser Hinsicht wie der naive Alltagsverstand, »der seine eigenen Bestimmungen als solche des Objekts zurückspiegelt« (A 8: 220). Adorno grenzt sich von einer solchen Verfahrensweise scharf ab: »die eigentliche Anstrengung einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die Anstrengung einer dialektischen Konzeption von der Gesellschaft, […] besteht darin, eben nicht die Gesellschaft als Subjekt mit der Gesellschaft als Objekt gleichzusetzen« (E: 230). Der Gegenstand der Soziologie muss infolgedessen als Verselbständigung und Verdinglichung gedacht werden; gesellschaftliches Sein wird konstituiert und zugleich als scheinbar unabhängig vom Individuum existierende soziale Faktizität vorgefunden. Das Paradebeispiel für diesen Vorgang ist das Phänomen der Ware: »Das Moment der Ideologie steckt schon im Tauschverhältnis selbst: durch Abstraktion von den spezifischen Verhältnissen zwischen den Menschen und von den Waren selbst – eine Abstraktion, die notwendig im Tausch ist – entsteht falsches Bewußtsein, das als bloße Eigenschaft der Dinge vorspiegelt, was bloße Setzung ist« (Adorno 1964/ 65: 171). Die Marxsche ›Kritik des Fetischismus‹ charakterisiert Adorno sodann wie folgt: »Das Grundmotiv übersetzt ein Hegelsches zurück ins Gesellschaftliche. Was als Seiendes sich gibt, soll als Gewordenes, in Hegelscher Terminologie als ›Vermitteltes‹ begriffen werden. Dem gewordenen Produkt – alldem also, was unter die abstrakte Formel gesellschaftlicher Statik fällt – wird der Schein des An sich entzogen. Anstatt seine geronnene Gestalt hinterher begrifflich auseinanderzulegen, wird sein Begriff aus dem historischen Prozeß selbst deduziert« (A 8: 231). Dementsprechend interpretiert Adorno die Theorie von Marx als »Selbstbewußtsein des Scheins« (Adorno 1964/65: 172), den Historischen Materialismus als »Anamnesis der Genese« (Sohn-Rethel 1965: 139) Verdinglichung bezeichnet in sachlicher wie auch methodologischer Hinsicht den Vorgang des »Abschneidens des Werdenden« (E: 242). Die Gesellschaft präsentiert sich dem Bewusstsein in der Gestalt des An-sich. Der Positivismus setzt die realen Formen der Einheit und Objektivität als Bedingung der Möglichkeit von soziologischer Theoriebildung überhaupt unkritisch voraus. Dies gilt, wie gesehen, gleichermaßen für den handlungstheoretischen Nominalismus wie für den Strukturalismus, der sich mit der reifizierenden
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Systematisierung der Objekte begnügt; exemplarisch in Comtes Ontologisierung der Kategorien der ›Ordnung‹ und des ›Fortschritts‹ (vgl. E: 22; SE: 30), oder in Durkheims ›sozialen Tatsachen‹ und seinem Begriff der Gesellschaft als ›Organismus‹. Demgegenüber sei es, so Adorno, Aufgabe der Kritischen Theorie, »Dinge, die sich als daseiend und dadurch als naturgegeben präsentieren, in ihrem Gewordensein zu begreifen« (E: 245; Hvm). Hier klingt also in einem gesellschaftstheoretischen Kontext jenes Programm an, das Hegel in spekulativer Gestalt formuliert hat: zu zeigen, dass ›Substanz‹ ebenso sehr ›Subjekt‹ ist, was sich zunächst einmal deuten lässt als die Forderung, dasjenige, welches sich dem naiven wie dem theoretischen Bewusstsein in der Gestalt des An-sich-seins präsentiert als ein gleichsam immer schon als Verselbständigtes vorgefundenes wie zugleich konstituiertes darzustellen. Die Institutionen – letztlich die Institution des Individuums selber noch eingeschlossen – und ihre Eigendynamik sind soziale Formen, die im Bewusstsein der Individuen konstitutiv substantiellen Charakter haben. Der Charakter der Substantialität, das bedeutet die Konstitutionslogik des ›Erscheinenden‹, muss selbst noch thematisiert werden. Der Impuls und Ausgangspunkt von Sozialtheorie ist der subjektiv-objektive Doppelcharakter der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist es umso verständlicher, wenn Adorno von der »Objektivität der Struktur« als dem »Apriori der erkennenden subjektiven Vernunft« (A 8: 288) spricht. Würde diese der objektiven Struktur »inne […], so hätte sie die Struktur in ihrer eigenen Gesetzlichkeit zu bestimmen, nicht von sich aus nach den Verfahrensregeln begrifflicher Ordnung aufzubereiten« (ebd.; Hvm). Auf dem Fundament der mit dem Begriff der ›Verdinglichung‹ geleisteten Formulierung des Objektcharakters des sozialwissenschaftlichen Objekts prolongiert die anvisierte dialektische Theorie der Gesellschaft ein ›Verstehen von innen her‹ (vgl. E: 229). Wie aber wäre dies möglich? Nach Adorno ist Gesellschaft, insofern sie dem individuellen Bewusstsein, durch das hindurch sie sich realisiert, als reale Systematizität entgegentritt, der Theorie immanent und zugleich von ihr verschieden. Es stellt sich folglich eine eigentümliche Erkenntniskonstellation ein, in der die Objektivität der Gesellschaft – ihre Einheit und Struktur – zugleich als überindividuell und subjektimmanent konzipiert werden muss: »Weil aber Gesellschaft aus Subjekten sich zusammensetzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert, ist ihre Erkenntnis durch lebendige, unreduzierte Subjekte der ›Sache selbst‹ weit kommensurabler als in den Naturwissenschaften, welche von der Fremdheit eines nicht seinerseits menschlichen Objekts dazu genötigt werden, Objektivität ganz und
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gar in den kategorialen Mechanismus, in abstrakte Subjektivität hineinzuverlegen. […] Kommensurabilität des Objekts Gesellschaft ans erkennende Subjekt existiert sowohl, wie sie nicht existiert; auch das ist schwer mit der diskursiven Logik zu vereinbaren« (A 8: 295; Hvm). Der objektive gesellschaftliche Strukturzusammenhang muss als prinzipiell erkennbar angenommen werden, jedoch ist jeder Erklärungsansatz auszuschließen, der nicht mit der Bestimmung des Doppelcharakters der Struktur und der Thematisierung des Verhältnisses der Theorie zu dieser Struktur anhebt, sondern stattdessen mit der erkenntnistheoretisch-methodologischen Selbstvergewisserung der Erkenntnis bzw. einem empiristischen Wahrheitskonzept (bspw. ›Falsifikation‹) ansetzt. Bei Adorno heißt es bezogen auf sein eigenes Forschungsprogramm, das Interesse, das er verfolge, sei »das an der gesellschaftlichen Objektivität. Sie erst konstituiert die subjektiven Verhaltensweisen. Gerade jene Objektivität bedarf des subjektiven Gedankens, der sie konstruiert; sie ist nicht unmittelbar vorfindlich. Den vergegenständlichenden wissenschaftlichen Methoden entzieht sie sich weithin« (A 8: 570; Hvm). Das gesellschaftstheoretische Objekt existiert in seiner Einheit und Eigenlogizität derart unabhängig vom unmittelbaren Bewusstsein, dass es allein über das Denken erreicht werden kann. Wenngleich der Vorgang einer sich unter der Form des ›Vorrangs der Struktur‹ vollziehenden Individuierung weder anschaulich gegeben ist noch ›widergespiegelt‹ werden kann, so ist eben doch immerhin eines möglich: die Wirklichkeit dieses Vorgangs zu denken. Die dialektische Theoriebildung kann hierbei eine privilegierte Rolle für sich geltend machen. Marx entwickelt im Kapital, dies dürfte Konsens unter den konkurrierenden sich als konstruktiv verstehenden Kapital-Interpretationen sein, die allgemeinen Gesetze der Dynamik der sozialökonomischen Verkehrungsstruktur des Kapitalismus. Adorno begreift die Kategorien und Denkformen der spekulativen Philosophie Hegels als geeignetes Mittel, um den internen Zusammenhang zwischen mannigfaltigen sozialen Phänomen und der von Marx analysierten sozialökonomischen Verkehrungsstruktur rekonstruieren zu können. Es ließe sich selber noch deduzieren, inwieweit soziale Phänomene dem Begriff dieser Dynamik entsprechen, inwiefern das ›Einzelne‹ das ›Allgemeine‹ – die gesellschaftliche Objektivität – tatsächlich vorstellt. 19 Das Phänomen der Gesellschaft kann demzufolge in nicht-reifizierender Weise als eine in sich bestimmte objektive Vermittlungsstruktur erfasst 19 | Siehe hierzu ausführlicher Abschnitt S. 144ff. dieser Arbeit.
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werden. Es lässt sich ein Begriff ›existierender Allgemeinheit‹ (vgl. Ritsert 1988: 207ff.), d.h. realer Verselbständigung und Verkehrung, entwickeln, insofern das ›Einzelne‹ und ›Besondere‹ als ein vereinzeltes und damit strukturell vermitteltes dechiffriert werden kann, dessen autonome Selbstwahrnehmung sich als ein mit der Existenz der verselbständigten Struktur gesetzter ›Schein‹ erweist.20 Der Anspruch der Formulierung von Begriffen in einem emphatischen, d.h. Hegelschen Sinne meint die selbstbewusste Reflexion der Form und Dynamik gesellschaftlicher Individuierung. Eine solche begriffliche Deduktion ist dabei, wie sich noch zeigen wird, überhaupt der einzig mögliche Nachweis der objektiven Strukturiertheit der erfahrungsimmanenten gesellschaftlichen Objektivität und damit der Realität des Systems. Die dialektische Theoriebildung hängt dabei unauflöslich von ihrem Gegenstand ab: »Pochen demgegenüber die Positivisten darauf, daß die Dialektiker, im Gegensatz zu ihnen, keine bindenden Verhaltensregeln soziologischer Erkenntnis anzugeben vermöchten und deswegen das Aperçu verteidigten, so supponiert das Postulat jene strikte Trennung von Sache und Methode, welche die Dialektik angreift. Wer der Struktur seines Objekts sich anschmiegen möchte und es als ein in sich Bewegtes denkt, verfügt über keine davon unabhängige Verfahrungsweise« (A 8: 332). Die dialektischen Reflexionsformen aber erweisen sich als die bisher geeignetesten Mittel zur selbstbewussten Selbstreflexion des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs. Der Prozess- und Vermittlungscharakter von Individuum und Gesellschaft nötigt der Sache nach zur Dialektik (vgl. A 8: 179; vgl. E: 68ff.). Allerdings kehrt sich der Wahrheitsbegriff der spekulativen Philosophie Hegels im Zuge ihrer gesellschaftstheoretischen Reformulierung um: denn anders als in Hegels Phänomenologie des Geistes lässt sich das Allgemeine angesichts der Irreduzibilität gesellschaftlicher Objektivität nicht als die Reflexionsbewegung des Ichs konzipieren, sondern das individuierte Individuum erweist sich als Produkt der überindividuellen und sich durch das bewusste Handeln hindurch durchsetzenden sozialökonomischen Strukturgesetze der Gesellschaft.21 20 | In den Minima Moralia heißt es: »Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen« (A 4: 13). 21 | Vgl. zur gesellschaftstheoretischen Umkehrung der idealistischen Konstitutionsproblematik auch A 10.2: 744f.
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Die subjektiv-objektive Wirklichkeit des soziologischen Gegenstandes – die etwaige Realität des Systems – kann nicht aus einer sich selbst erkenntnistheoretisch-epistemologisch genügenden Begrifflichkeit entwickelt werden. Die Vermittlung, also die Art und Weise wie Gesellschaft in die Erkenntnis eingeht, wie Begriff und Sache notwendig und innerlich zusammenhängen, muss Theorie – Adorno zufolge – deswegen selbst noch entwickeln: »Wissenschaft postuliert einen kohärenten immanenten Zusammenhang und ist Moment der Gesellschaft, welche Kohärenz ihr versagt« (A 8: 300). Allein aus diesem Grunde fallen die erkenntnistheoretisch-methodologische Begründung der Soziologie und der Verlust des Gegenstandes zusammen. Umgekehrt betont Adorno: »zur Objektivität der Wissenschaft hilft allein Einsicht in die ihr innewohnenden gesellschaftlichen Vermittlungen […]« (ebd.). 22 Mit der Einsicht in die Vermittlung, damit also, dass Theorie sich selbst als abhängig von ihrem Gegenstand begreift, eröffnet sich zugleich die Möglichkeit der Erkenntnis der Sache als solcher. Zur Begründung eines emphatischen Begriffs der Gesellschaft ist deswegen zu deduzieren, wie Gesellschaft in die Erkenntnis eingeht. Die Gesellschaft – die in ihrer Eigenlogizität zu erkennende ›Sache‹ – erscheint als Verselbständigte zuallererst in der Erfahrung des Bewusstseins, oder präziser noch: als Erfahrung einer dem Bewusstsein vorgängigen Einheit und Objektivität der Gesellschaft. Zugleich ist diese Erfahrung selber noch in einem mitunter immer schon rational präformierten Bewusstsein aufgehoben. Adorno formuliert programmatisch, dass die Erfahrung der Gesellschaft nicht szientistisch artikuliert, sondern begriffen werden soll: »Will man nicht doch schließlich die Soziologie mit naturwissenschaftlichen Methoden vermengen, so muß der Begriff des Versuchs auch auf den Gedanken sich erstrecken, der, gesättigt mit der Kraft von Erfahrung über diese hinausschießt, um sie zu begreifen« (A 8: 556). Den Fluchtpunkt der Argumentation Adornos bildet die Strategie, eine dem Gegenstand angemessene Gestalt der Selbstreflexion zu prolongieren, indem eine ›unreglementierte‹ Erfahrung des Vorrangs der Struktur in den Kategorien der spekulativen Philosophie verarbeitet wird. Struktur meint hierbei, wie gesehen, jenes System 22 | So heißt es in der Einleitung in die Soziologie: »Die Möglichkeit, die Methode aus der Sache zu schaffen, durch die Versenkung in die Sache, die hebt natürlich den Grundsatz der Trennung von Methode und Sache bereits auf. In Wahrheit ist die Methode im weitesten Maß durch den Gegenstand vermittelt, und es kommt entscheidend darauf an, daß die Soziologie dieser Vermittlung innewird« (E: 121; Hvm; vgl. auch ebd.: 123).
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der politischen Ökonomie, dessen Systemform Marx mit der dialektischen Darstellung der objektiven Gesetzmäßigkeiten der Dynamik theoretisch dargestellt hat. Im Gegensatz zur bloßen Artikulation der Erfahrung von Gesellschaftlichkeit in Gestalt handlungstheoretischer oder funktionalistischer Kategorien beansprucht die dialektische Theorie der Gesellschaft, die Eigendynamik struktureller gesellschaftlicher Verkehrung denken zu können. Damit wäre sie zu verstehen als die gegenstandsadäquate Selbstreflexion des Modus der strukturellen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft und damit adäquates Selbstbewusstsein jener gesellschaftlichen Eigendynamik und Eigenlogizität, welche zugleich als Resultat und Voraussetzung des bewusst-intentionalen Handelns der Individuen zu verstehen ist. Inwieweit auch immer sich am Ende der von Adorno in spekulativen Kategorien entfaltete Begriff der Gesellschaft als überzeugend herausstellen mag, so kann die ihm vorausgehende Reflexion des Verhältnisses von Erfahrung und Begriff doch etwas Bemerkenswertes leisten: nämlich wider den Methodologischen Individualismus respektive »Sozialnominalismus« (B: 502)23 die jeglicher genuin gesellschaftstheoretischer Programmatik vorausgesetzte Entwicklung der Notwendigkeit einer solchen Programmatik einschließlich der Entwicklung der Kriterien für die Durchführung eines solchen Programms. Hinsichtlich des Programms der ›dialektischen Gesellschaftstheorie‹, wie es bei Marx und Adorno vorliegt, bewegt sich die basale Reflexion des Verhältnisses von Erfahrung und Begriff auf der systematischen Ebene einer Entwicklung des »Begriff[s] des Begriffs« (E: 47). Erfahrung und Begriff | Im Common Sense der sozialwissenschaftlichen Theorien wird das vortheoretische Alltagswissen von den analytischen Abstraktionen des wissenschaftlichen Wissens unterschieden. Berühmte Beispiele hierfür sind etwa Max Webers Unterscheidung von Werturteil und Methode oder Luhmanns Beobachtungen erster und zweiter bzw. dritter Ordnung. Das Faktum der Erfahrung – hier: die Erfahrung von Gesellschaft – wird dabei nicht systematisch in der Selbstreflexion des Vorgangs der analytischen Abstraktion mitreflektiert. Überhaupt »stellt der Begriff [der Erfahrung, L.M.] in der Soziologie keine gesicherte, gefestigte Kategorie, sondern ein vergleichsweise amorphes Gebilde dar […]« (Nowo23 | Unter den Begriff des Sozialnominalismus subsumiert Adorno all jene Theorien, die in einer Perspektive der ›reductio ad hominem‹ Gesellschaft in die Subjektivität und das Handeln der Einzelnen auflösen.
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sadtko 2001: 77). In der hermeneutisch-interpretativen Tradition der Soziologie etwa wird das Moment der Erfahrung – als kommunikative (›universe of discourse‹) – eher der Lebenswelt zugeschlagen. Adorno nimmt eine umgekehrte Position ein. Er fragt nicht nach einer von der Theorie unterschiedenen und dieser vorgängigen Logik der Alltagserfahrung, sondern nach dem konstitutiven Zusammenhang von gesellschaftlicher Erfahrung und Theoriekonstruktion und nimmt deren ausweisliche Einheit als Grundlage sowohl seiner Kritik der Soziologie als auch der Selbstbegründung seines eigenen gesellschaftstheoretischen Objektivitäts- und Gesellschaftsbegriffs. Dieser erfahrungstheoretische Ansatz stellt in dieser Hinsicht sowohl ein sozialwissenschaftliches Novum wie Unikum dar.24 Es lässt sich gemäß der Adornoschen Argumentation unterscheiden zwischen dem, was erfahren wird, und der Art und Weise wie Erfahrungen gemacht werden. Nach Adorno verdankt sich moderne Sozialtheorie konstitutiv einer für die Moderne prototypischen Erfahrung, nämlich eben jener Erfahrung, dass die Individuen »Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses sind, den sie doch als Subjekte in Gang halten« (A 8: 358) und der Erfahrung der im Prozess des Wandels beider Momente gegenwärtigen Formen der subjektlosen Herrschaft, d.h., des »Zwang[s] des Allgemeinen hinter den Sachverhalten« (A 8: 357). 25 Alles in allem verdankt sich die spezifische Gestalt der soziologischen Theorie der »Erfahrung des Vorrangs der Struktur« (ebd.), der Erfahrung der Gesellschaft als einer von den Individuen unabhängigen und ihnen vorgängigen Struktur mit eigener Dynamik (vgl. auch A 8: 564). Das Bewusstsein macht die Erfahrung der Diremtion von Individuum und Institutionen bzw. die Erfahrung des Charakters der realen Systematizität dieses Zusammenhangs. Im Unterschied zur sinnlichen Erfahrung, mit der die Erkenntnistheorie beschäftigt ist, speist sich die soziologische Erfahrung aus der Erfahrung der Gesellschaft im angegebenen Sinne. Dieser ›Erfahrungsgehalt‹ (vgl. A 5: 295f.) kennzeichnet einen historischen Kern, der allein dort aufzufinden ist, wo eine Gesellschaft mit institutionellen Strukturen und eigener Dynamik sowie einem autonomen und allgemeinen Individuum vorliegt, also in der kapitalistisch-bürokratischen Gesellschaft der Neuzeit. Diese Konstellation, die Adorno als ›Verdinglichung‹ aus24 | Zur ungeklärten Bedeutung von Erfahrung in der Soziologie vgl. Nowosadtko 2001. 25 | Es ist stets im Hinterkopf zu behalten, dass sich dieses Allgemeine bestimmen lässt: die Objektivität der Struktur ist kapitalistischer Natur.
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weist (vgl. A 8: 316), muss Theorie begrifflich einholen können: »Denn Gesellschaft ist der Erfahrung immanent […]. Nur die gesellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzudenken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt« (A 10.2: 748; Hvm). Entscheidend ist deswegen über die Beantwortung der Frage hinaus, was erfahren wird, zu thematisieren, wie die Erfahrung von Objektivität in der Soziologie gemacht und verarbeitet wird. In Adornos soziologischem Gegenstands- und Methodenverständnis schlägt sich der Erfahrungsbegriff der Phänomenologie des Geistes von Hegel nieder (vgl. Kirchhoff 2004: 84ff.; vgl. Düver 1978: 83ff.). In Adornos Argumentation kehren Aspekte der Hegelschen Kant-Kritik nunmehr auf der Ebene der Gesellschaftstheorie wieder. Adorno geht mit Hegel davon aus, dass die Erfahrung der Gegenstände des Bewusstseins immer schon begrifflich vermittelt ist. Es ließe sich folglich von einer Dialektik von Erfahrung und Begriff auf der Ebene der Soziologie Adornos sprechen: »die Theorie [kann] weder mit begriffsloser Erfahrung noch mit erfahrungsfreien Begriffen arbeiten« (Linduschka 1981: 113). Im Zuge der Einbeziehung der Erfahrung in die Selbstbegründung der Theorie stellt sich, laut Adorno, notwendig eine Zirkelproblematik ein: »Zu visieren wäre die Wechselwirkung von Theorie und Erfahrung. Unvermeidlich dabei der Zirkel: keine Erfahrung, die nicht vermittelt wäre durch – oft unartikulierte – theoretische Konzeption, keine Konzeption, die nicht, wofern sie etwas taugt, in Erfahrung fundiert ist und stets wieder an ihr sich mißt. Der Zirkel ist nicht zu verschweigen; keineswegs jedoch mangelnder Besinnung, unklarem Denken zur Last zu legen. Bedingt wird er dadurch, daß in der Trennung von Erfahrung und Begriff selbst Willkür steckt. Einem möglichst sauberen Instrumentarium zuliebe werden unreflektiert die beiden Momente arbeitsteilig einander entgegengesetzt. Aber keines von ihnen wäre ohne das andere« (A 8: 186; Hvm). Zentral ist hierbei die Feststellung, dass sich die Theorie nicht der Rückversicherung in Erfahrung entledigen kann, ebenso wie sich die Erfahrung nicht als unvermittelte, vortheoretische Alltagserfahrung denken lässt. Diese Dialektik von Begriff und Erfahrung bildet auch die Grundlage der Adornoschen Kritik am Positivismus. Adorno greift die positivistische Vorstellung eines Unterschieds von wissenschaftlichem und vorwissenschaftlichem Bewusstsein radikal an: »Die gängige und akademisch attraktive Unterscheidung des Wissenschaftlichen und Vorwissenschaftlichen […] hält nicht stand. […] Das als vorwissenschaftlich Klassifizierte ist nicht einfach, was
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durch die […] selbstkritische Arbeit der Wissenschaft noch nicht hindurchgegangen ist oder sie vermeidet. Vielmehr fällt darunter auch alles an Rationalität und Erfahrung, was von den instrumentellen Bestimmungen der Vernunft ausgeschieden wird. Beide Momente sind unabdingbar ineinander« (A 8: 299f.; Hvm). Bereits die vermeintlich vorwissenschaftliche Erfahrung der Gesellschaft ist theorievermittelt – d.h. rational präformiert, theoretisch unterfüttert – und konstituiert somit eine ›Wahrnehmung‹ des Gegenstandes, die sich auf die Theoriebildung auswirkt und selbst noch kritisch zu hinterfragen ist. Die Entwicklung von Theoriekonstruktionen setzt immer schon rational unterfütterte Erfahrungen voraus. Statt nun jedoch die Frage zu thematisieren, wie Erfahrungen gemacht werden, wie sie überhaupt und konstitutiv in die Theoriebildung eingehen und wie die Inhalte bzw. Konstituentien von Erfahrung zu bestimmen sind, abstrahieren positivistische bzw. szientistische Theorien von ihrer eigenen, gewissermaßen apriorischen Erfahrung und verselbständigen so ihre Kategorien und Methoden gegenüber dem erfahrungskonstitutiven Gegenstand (vgl. A 8: 550).26 Indem aber die Theorie gesellschaftliche Erfahrung aus ihrer Selbstreflexion und ihrer Gegenstandskonstitution ausgrenzt, werden ihr Theoriebegriff sowie je nachdem ihr Gesellschaftsbegriff oder ihr Begriff des Individuums notwendig deformiert, d.h. einseitig und damit falsch. Damit aber deformiert der Positivismus zugleich seine Erfahrung der Gesellschaft. Mit der Verselbständigung des Begriffs gegenüber der Sache beschneidet sich die positivistische Soziologie selbst der Möglichkeit von Erfahrung. Adorno hebt diesen antinomischen Charakter des soziologischen Positivismus hervor, d.h., »daß der herrschende Empirismus paradoxerweise Erfahrung abschneidet« (E: 249). Die Pointe der Argumentationsstrategie Adornos besteht sodann in der Programmatik einer Verteidigung der Erfahrung gegen den Empirismus: »Uns lockt es, die Erfahrung gegen den Empirismus zu verteidigen, einen minder eingeschränkten, minder engen und verdinglichten Begriff von Erfahrung der Wissenschaft zuzubringen« (A 8: 545), an anderer Stelle fordert Adorno gar die »Rebellion der Erfahrung gegen den Empirismus« (E: 91). Die Theorie der Gesellschaft muss, Adorno zufolge, Erfahrung konstitutiv in sich aufnehmen: »Wissenschaft, welche die vorwis26 | In der Einleitung in die Soziologie spielt Adorno auf die CaféhausSituation an, d.h. darauf, dass ›die Positivisten‹ in einem außerwissenschaftlichen Diskussionskontext weit mehr von der Gesellschaft und deren Objektivität wissen, als sie es als Wissenschaftler wissen lassen (vgl. E: 212).
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senschaftlichen Impulse nicht verwandelnd in sich aufnimmt, verurteilt sich nicht weniger zur Gleichgültigkeit als die amateurhafte Unverbindlichkeit« (A 8: 300). Dem positivistischen Bewusstsein gilt Adornos erfahrungstheoretische Argumentationsstrategie und der daran anschließende, letztlich de facto wohlbegründete Rekurs auf die dialektische Theorie, als ›Irrationalismus‹ (vgl. Künzli 1971).27 Adorno kehrt diesen Vorwurf um, wenn er postuliert: »So gewiß ohne wissenschaftliche Disziplin kein Fortschritt des Bewußtseins wäre, so gewiß paralysiert die Disziplin gleichzeitig die Organe der Erkenntnis. Je mehr Wissenschaft zu dem von Max Weber der Welt prophezeiten Gehäuse erstarrt, desto mehr wird das als vorwissenschaftlich Verfemte zum Refugium von Erkenntnis« (A 8: 300; Hvm).28 Bereits in der Binnenperspektive des vermeintlich naiven vorwissenschaftlichen Bewusstseins wird die Gesellschaft nicht nur rational erfahren, sondern schon dort lässt sich der ›Vorrang der Struktur‹ explizieren bzw. wird die Erfahrung der Gesellschaft immer schon gemacht. So postuliert Adorno: »Menschenwürdige Erkenntnis beginnt zum Unterschied vom in Wahrheit vorwissenschaftlich stumpfen Registrieren damit, daß der Sinn für das geschärft wird, was an jedem sozialen Phänomen aufleuchtet: er, wenn irgend etwas, wäre als das Organ wissenschaftlicher Erfahrung zu definieren. Die etablierte Soziologie treibt diesen Sinn aus: daher ihre Sterilität« (A 8: 315f.; Hvm). Im vermeintlich Vorwissenschaftlichen ist gerade jene Sensibilisierung für gesellschaftliche Objektivität möglich, die die verabsolutierte Methode im Zuge ihrer Verabsolutierung aus sich ausschließt. Die reflexive, soziologisch gesprochen: an die Binnenperspektive des handelnden Individuums 27 | Der Vorwurf des ›Irrationalismus‹ findet sich bei Hans Albert und seitens des Marxismus-Leninismus, siehe bei Leske 1980. 28 | Die Erfahrung des Vorrangs der Struktur findet nicht nur unmittelbar statt, sondern ist in der Regel medial vermittelt. Im Zeitalter der ›Arm-Chair-Soziologie‹ wird die Struktur auch etwa bei der Lektüre von journalistischen Texten, soziologischen Klassikern und empirischen Untersuchungen oder auch literarischen Texten erfahren. Und zwar, wie geschildert, immer schon vermittelt durch alles, was dem theorietreibenden Individuum an Rationalität im Hinterkopf herumgeistert. Überdies erfahren die Theoretiker und Theoretikerinnen die strukturellen Reproduktionszwänge der Gesellschaft, indem sie am gesellschaftlichen Verkehr teilnehmen, natürlich auch am eigenen Leib. Das zu entwickelnde Gespür für gesellschaftliche Objektivität speist sich also aus verschiedenen Quellen.
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ansetzende Sensibilisierung für die Sache als solche setzt die Emanzipation von den etablierten soziologischen Methoden voraus. Wenn Adorno sich wiederholt auf das ›Vorwissenschaftliche‹ als ›Refugium‹ beruft, dann visiert er ein Verhältnis von Erfahrung und Begriff an, das unterhalb der etablierten Gestalten verdinglichender Soziologie ansetzt (siehe oben im Zitat; vgl. E: 90). Oder anders formuliert: Adorno visiert ein Bewusstsein an, dass die Antinomien der Gegenstands- und Methodenbegriffe der positivistischen Soziologien aufhebt, indem die Erfahrung der Gesellschaft selbstbewusst gemacht und verarbeitet wird. Adorno behauptet, die fundamentalen positivistischen Erkenntnis- und Erfahrungsrestringuierungen überwinden und infolgedessen den Objektcharakter des Objekts und dessen Eigenlogizität adäquat formulieren zu können. Das zentrale Diktum der Adornoschen Theorie der Gesellschaft besteht in der Auffassung, dass sie als selbstbewusste Selbstreflexion gesellschaftlicher Individuierung konstitutiv die Erfahrung des Vorrangs der Struktur verarbeitet und ihre Aussagen demgemäß in einer umfassenden, das bedeutet ›unreglementierten‹ Erfahrung der Dynamik von Objektivität rückzuversichern weis. Vor diesem Hintergrund ist auch Adornos Selbstverortung in den Kontext der phänomenologischen Soziologie zu lesen (vgl. E: 91f.). Die kritische Analyse der Gesellschaft bleibt hinsichtlich der Verwendung ihrer Methoden und Kategorien auf die beständige Rückversicherung in den ›Fakten‹ angewiesen. Das bedeutet, dass die Theorie darauf angewiesen ist, sich in der Analyse der permanenten Veränderung ihres Gegenstandes stets aufs Neue zu legitimieren. Mit anderen Worten: die Theorie bedarf der permanenten Gegenwartsdiagnose, in der sie sich der dynamischen Struktur ihres Gegenstandes ›anschmiegt‹ (vgl. A 8: 332), mit dem Gegenstand auf »Tuchfühlung« (E: 91) geht. Allein auf diesem Wege lässt sich nachweisen, dass die Vorgängigkeit der Struktur nicht in den Gegenstand gelegt wird, dass es sich also um reale Vermittlungen – einer von den Individuen im Handeln reproduzierten Objektivität – und keine bloße Reifizierung handelt. Adorno beansprucht so die Realität der objektiven Strukturiertheit der Gesellschaft reflektieren zu können, die sich dem Bewusstsein der anderen Theoretikerinnen und Theoretiker entzieht. Die einschlägigen Objektivitätsformeln (›Totalität‹, ›gesellschaftliche Objektivität‹, ›Verselbständigung‹) sind zu verstehen als Ausdruck eines selbstbewussten Erfahrungsprozesses, das soll heißen einer sich selbst durchsichtigen Reflexion der Erfahrung gesellschaftlicher Individuierung. Sie sind das Produkt der begrifflich aufgeklärten Reflexion der Wahrnehmung spezifischer »Organe der
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Erkenntnis« (A 8: 300), die Adorno systematisch auszubilden beansprucht. Diese theoretischen Organe entsprechen einem spezifischen ›Sinn‹ für gesellschaftliche Objektivität als einem »Organ wissenschaftlicher Erfahrung« (A 8: 315f.). Die gesellschaftliche Erkenntnis »bedarf […] des theoretischen Vorgriffs, eines Organs für das, was die Phänomene prägt und zugleich von ihnen verleugnet wird« (A 8: 195). Adornos erfahrungstheoretische Selbstbegründung der Kritischen Theorie bildet das Fundament seiner weiteren inhaltlichen gesellschaftstheoretischen Theoriebildung. Adorno grenzt sich gerade mit dem Anspruch der theoretischen Selbstreflexion von Verdinglichung gegenüber jeglicher Theorie bewusst und mit Nachdruck ab, wenn er schreibt: »kritische Theorie orientiert sich trotz aller Erfahrung von der Verdinglichung, und gerade indem sie diese Erfahrung ausspricht, an der Idee der Gesellschaft als Subjekt, während die Soziologie die Verdinglichung akzeptiert, in ihren Methoden sie wiederholt und dadurch die Perspektive verliert, in der Gesellschaft und ihr Gesetz erst sich enthüllte« (A 8: 317; Hvm). Die Strategie der kritisch-reflektierten Sensibilisierung für die ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹ verweist dabei letztlich auf das Ziel, das sich mittels des Einzelnen und durch dieses hindurch realisierende Gesetz der Verselbständigung nachzuweisen. Erst die Explikation solcher Zusammenhänge legitimiert den Begriff der Totalität als ›adäquaten‹ Begriff der Realität des Systems. Den Nachweis der Existenz des ›Vorrangs der Struktur‹ konzipiert Adorno unter Rekurs auf ein Verfahren der soziologischen ›Deutung‹. Exkurs: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zwischen Philosophie und Soziologie | Adorno greift im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gegenstand und Methode in der Gesellschaftstheorie Aspekte der Hegelschen Kant-Kritik auf. Adorno knüpft, wie bereits hervorgehoben, mit seiner Begründung des soziologischen Theoriebegriffs an den Erfahrungsbegriff der Phänomenologie des Geistes von Hegel an. Mit Hegel geht Adorno von der Untrennbarkeit von Begriff und Erfahrung aus. Hegels erkenntniskritische Argumentation läuft darauf hinaus, nachzuweisen, dass die Philosophen – auch noch Kant – im »natürlichen Bewusstsein« (Hegel, Werke Bd. 3: 414) befangen geblieben sind, das bedeutet, dass sie die Gegenständlichkeit der sinnlichen Erfahrungsgegenstände nicht vollends als Gegenständlichkeit einer Gedankenbewegung durchschaut haben, in der sich das Bewusstsein als dieselbe Denkbewegung durchschauen lässt, die einmal als ›Ich‹ und einmal als ›Gegenstand‹ erscheint.29 Hegel zeigt dabei, dass
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das Bewusstsein im Fortschreiten seiner Reflexion Erfahrung mit dem Gegenstand macht, die es als neuen Gegenstand formuliert. Das ›erscheinende Bewusstsein‹ der Philosophie substantialisiert so seine eigene Gedankenbewegung, d.h. die Reflexion seines eigenen Erfahrungsprozesses. Hegel treibt dieses Bewusstsein – vornehmlich die Kantische Verstandesphilosophie – schließlich über sich selbst hinaus zu der Einsicht, dass es die Wahrnehmung bei der Erfahrung der Gegenstände stets nur mit ihrer eigenen Gedankenbewegungen zu tun hat. Diese Stufe der Reflexion bezeichnet Hegel als ›Selbstbewusstsein‹, oder mit Adorno: »Reflexion der Reflexion« (A 5: 313). Denn Hegel hat gewissermaßen selber noch abgeleitet, wie die Kantische Reflexionsphilosophie ›funktioniert‹. Zugleich gelangt Hegel auf diesem Wege zu einem präziseren Gegenstandsverständnis.30 Zwar existiert nun auch auf der Ebene der Gesellschaftstheorie jener Sachverhalt, dass das Bewusstsein es mit einer immer schon begrifflich vermittelten Erfahrung einer von den Individuen konstituierten Objektivität zu tun hat, doch handelt es sich bei dieser Verselbständigung um eine gesellschaftliche Eigenlogizität, die irreduzibel ist, sich nicht auf das bewusste Handeln der Individuen reduzieren lässt, sich aber zugleich immer schon durch dieses hindurch realisiert – »Totalität ist, provokatorisch formuliert, das Ding an sich mit aller Schuld von Verdinglichung« (A 8: 295), so Adorno. Die an der gesellschaftlichen im Gegensatz zur sinnlichen Objektivität erfahrbaren ›Eigenschaften‹ – Widersprüche und Eigendynamik – lassen sich nicht in Bewusstsein auflösen, sondern verweisen auf eine sich eigengesetzlich entwickelnde gesellschaftliche Realstruktur. So grenzt sich Adorno gegen das wissenschaftliche Prinzip der Widerspruchslosigkeit, das ja bis in die ›Transzendentale Dialektik‹ bei Kant reicht, ab: »Wer die Erfahrung des Vorrangs der Struktur über die Sachverhalte sich nicht verbauen lässt, wird nicht, wie meist seine Kontrahenten, Widersprüche vorweg als solche der Methode, als Denkfehler abwerten und sie durch die Einstimmigkeit der wissenschaftlichen Systematik zu beseitigen trachten. Statt 29 | Zu Hegels Argumentationsstrategie in der Analyse des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes vgl. Liebrucks 1964, Bd.5. 30 | Liebrucks widmet sich dann in Sprache und Bewußtsein der genetischen Entwicklung des Auseinandertretens der bewusstseinsimmanenten Momente des ›natürlichen Bewusstseins‹ (Subjekt-Objekt-Spaltung). Seiner Argumentation zufolge bildet sich das ›natürliche Bewusstsein‹ über die Sprache; sinnliche Erfahrung hat für Liebrucks einen intersubjektiven Kern.
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dessen wird er sie in die Struktur zurückverfolgen, die antagonistisch war, seit es Gesellschaft im nachdrücklichen Sinne gibt […]« (A 8: 357). Das bewusst-intentionale Handeln des Individuums und seine philosophischen, ökonomischen oder soziologischen Reflexionsformen sind dementsprechend selber kein Letztes, sondern strukturell vermittelt. Das vergesellschaftete Individuum macht und verarbeitet in seinen Theorien mittels Begriffen die Erfahrung der Objektivität der Gesellschaft. Ähnlich wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes die konkurrierenden Philosophien der Ontologie und Reflexionsphilosophie als verschiedene ›Stellungen des Gedankens zur Objektivität‹ thematisiert, behandelt Adorno auf der Ebene der Gesellschaftstheorie Nominalismus und Strukturalismus als verschiedene Stellungen des Gedankens zur gesellschaftlichen Objektivität. Die spezifischen Gestalten der Theorie – hier Strukturtheorie und Handlungstheorie – sind letztlich aus der Struktur der Gesellschaft selbst abzuleiten, wobei Handlungstheorie und Strukturtheorie gleichermaßen sich selbst undurchsichtige, einseitige Abstraktionen darstellen.31 Die verschiedenen, einander entgegengesetzten Paradigmen machen Erfahrung mit gesellschaftlicher ›Einheit‹, ›Allgemeinheit‹, ›Eigenlogizität‹ und ›Eigendynamik‹, ohne zu durchschauen, dass und wie sie mit diesen Formen der gesellschaftlichen Objektivität vermittelt sind. Gleich dem philosophischen Bewusstsein im Kontext der Analyse der sinnlichen Erscheinungen konstruiert das soziologische Bewusstsein die Erfahrung, die es mit dem Gegenstand macht, unkritisch als Gegenstand. Dabei deformiert die Verselbständigung der eigenen Kategorien gegenüber der Sache, die Selbstverabsolutierung von Subjektivität im Sinne des Horkheimerschen Begriffs der ›traditionellen Theorie‹, zugleich die Erfahrung. Mit dem im Diskurs der Soziologie stiefmütterlich behandelten Vorgang der Erfahrung hat es demnach auf der Höhe der gesellschaftstheoretischen Reflexion eine eigentümliche Bewandtnis. Denn Erfahrung und Begriff stehen in einem anderen Verhältnis als dies in der Sphäre des philosophischen Bewusstseins der Fall ist; wenngleich die Dialektik von Erfahrung und Begriff unter formalen Gesichtspunkten zweifelsohne dieselbe sein mag. Die gesellschaftliche Objektivität ist als solche stets nur gegenwärtig in der Form einer immer schon begrifflich vermittelten Erfahrung. Die Erfahrung ist die der Gesellschaft. Die Momente der Erfahrung und des Begriffs 31 | Siehe Adornos Auseinandersetzungen mit Durkheim und Max Weber unter Abschnitt 165ff. dieser Arbeit.
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sind dabei variabel: die verdinglichende Verselbständigung des Begriffs gegenüber der erfahrungskonstitutiven Sache – also dem konstitutiven Doppelcharakter des Gesellschaftlichen – führt bis an die Grenze der Auflösung von gesellschaftlicher Erfahrung überhaupt. Die ›unreglementierte‹ Erfahrung der Gesellschaft erfordert demgegenüber ein begriffliches Medium, das sich als unvereinbar mit dem Methodenideal der etablierten Soziologie erweist. Denn im diametralen Gegensatz zur etablierten Soziologie setzt die dialektische Gesellschaftstheorie an der ›Sache selbst‹ an, also der Art und Weise, wie Gesellschaft erfahren wird, wie sie sich dem theoretischen Bewusstsein präsentiert und wie sich begrifflich-reflexiv verarbeiten lässt. Am Ende ist die Dialektik von Erfahrung und Begriff somit selber noch zu begreifen als Resultat der Existenz einer objektiven, gesellschaftlichen Verkehrungsstruktur. Der Theoriebegriff der Kritischen Theorie unterscheidet sich damit deutlich vom Selbstverständnis der Sozialwissenschaften. Denn Theorien sind für Adorno Selbstinterpretation einer spezifischen historischen Gestalt der gesellschaftlichen Individuierung, die sich im Medium eines dem Bewusstsein undurchsichtigen Sachverhalts der Verdinglichung vollzieht. Nichts Anderes als die Erfahrung des historischen Dualismus von Individuum und Institutionen, die Erfahrung realer Systematizität und universeller Vereinzelung wird demnach in den Theorien auf verschiedene, faktisch in paradigmatischer Hinsicht gegensätzliche Weise verarbeitet. So ist es »die gesellschaftliche Objektivität selber, welche nicht nur die subjektiven Verhaltensweisen, sondern auch die wissenschaftlichen Fragestellungen determiniert« (A 8: 238). Wenn Theorien nicht unabhängig von ihrem historisch-spezifischen Gegenstand existieren, sondern ausschließlich Organisationsformen gesellschaftlicher Erfahrung sind, dann ist Theorieentwicklung – Ideengeschichte – nichts anderes als analytische Arbeit an der Erfahrung. In Theorien wird die Erfahrung der veränderten Dynamik der Gesellschaft zum Anlass genommen, im Anschluss an das ihnen Vorausgedachte zu neuen, möglicherweise präziseren Theorien zu gelangen. Dabei hat die soziologische Selbstreflexion der Gesellschaft allerdings nach Adorno eine bestimmte Grenze nicht überwinden können. 32 Adorno jedoch beansprucht offenbar für sich, ein ›überbietendes Bewusstsein‹ im Sinne der Phänomenologie Hegels zu entwickeln, insofern er erstmals sowohl die gesellschaftliche Genese philosophischer und so-
32 | Ein Vorwurf, den später auch Luhmann an die Soziologie, Adorno eingeschlossen, richten wird.
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ziologischer Theoriekonstruktion thematisiert, als auch den Einblick in die Realität des Systems der Gesellschaft ermöglicht. Analog zu Hegels Argumentation in der Phänomenologie des Geistes hat Adorno auf der Ebene der Gesellschaftstheorie gezeigt, wie sich der Gegenstand den Theorien präsentiert, dass und v.a. allem wie sie Erfahrungen – einer vorgängigen und de facto existierenden Objektivität – machen, und wie sie Erfahrungen verarbeiten. Bezogen auf die Kritik am sozialwissenschaftlichen Positivismus lässt sich Adornos Argumentation somit zu Recht mit dem Anspruch einer »Reflexion der Reflexion« (Reichelt 2004: 24) charakterisieren. In dieser Hinsicht ist der soziologische Positivismus – Nominalismus ebenso wie Strukturalismus – ›erscheinendes Wissen‹. Er verkennt den Erfahrungsgehalt seiner Kategorien. Stattdessen setzt er sich seine eigenen Abstraktionsbewegungen als Gegenstand, den er dann als ›das Wahre‹ im Sinne der Hegelschen Analyse der Formen der ›Wahrnehmung‹ und des ›Verstandes‹ nimmt, gegenüber. Der Positivismus unterschreitet somit die Ebene des Begriffs im Hegelschen Sinne, also des Selbstbewusstseins von Erfahrung. Oder mit Adorno: »Der Positivismus ist die begriffslose Erscheinung der negativen Gesellschaft in der Gesellschaftswissenschaft. In der Debatte animiert Dialektik den Positivismus zum Bewußtsein solcher Negativität, seiner eigenen« (A 8: 350). Der ›Lernprozess‹, den das Bewusstsein vom sozialwissenschaftlichen Verstand zum Begriff der Gesellschaft durchläuft, besteht darin, die eigenen Begriffe als Reflexionsformen der Erfahrung eines letztlich nicht in Bewusstsein auflösbaren Doppelcharakters der Gesellschaft zu begreifen. Die Form der Allgemeinheit kann selber nicht in Bewusstsein aufgelöst werden. Diese reale gesellschaftliche Allgemeinheit ist im Kern die einer im Tausch zentrierten wirtschaftlich-staatlichen, eigengesetzlichen Verselbständigung. Diese Systematizität bildet den objektiven Gegenstand der Theorie, der einer eigenen Theorie bedarf.33 Schließlich ist das einzelne Individuum in der Form seiner Vereinzelung selber noch als Produkt von Verselbständigung zu begreifen, oder präziser noch: die Struktur darf keineswegs substantialistisch vorgestellt werden, sondern muss als eine sich in der Gestalt der rationalen Vereinzelung erhaltende gedacht werden. Der ›allgemeine Begriff‹ der Eigenlogizität dieser Verselbständigung lässt sich bei Marx im Kapital nachlesen. Marx selbst schildert die Verhältnisse seinem eigenen Verständnis nach nur soweit sie ihrem Begriff entsprechen (vgl. MEW 23: 12). Marx verweist zugleich 33 | Zum Problem der Bestimmung der Formen der Einheit der Gesellschaft siehe Kapitel 4 dieser Arbeit.
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darauf, »daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist« (MEW 23: 16). Der Gegenstand der Gesellschaftstheorie bzw. Soziologie ist der objektive, eigendynamische Verkehrungszusammenhang von Individuum – Individualisierung – und Institutionen. Dies beinhaltet die historische Entstehung und Restrukturierung sozialer Phänomene wie ›soziale Normen‹, ›sozialer Konflikte‹, ›Organisationen‹, ›familiärer Lebensformen‹, ›sozialer Gruppen‹ etc. Wie hängen diese mit der Reproduktionsdynamik der Produktionsverhältnisse zusammen? Die Explikation und Analyse der historischen Dynamik der gesellschaftlichen Verkehrungsstruktur bedarf eines soziologischen Verfahrens, das mit der Forderung der Sensibilisierung für die ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹ korrespondiert. Das von Adorno in diesem Kontext inaugurierte Verfahren der Deutung kann im Hinblick auf die Frage nach der Realität des Systems Beweischarakter für sich beanspruchen. Es bewegt sich in systematischer Hinsicht an den Schnittstellen von Strukturtheorie und Handlungstheorie sowie Gesellschaftstheorie und qualitativ-empirischer Sozialforschung bzw. soziologischer Gegenwartsdiagnose. Im Prozess der Deutung erweisen sich historische Einzelphänomene als Bestandteile der Reproduktion einer verselbständigten kapitalistischen Systemlogik. Adornos Begriff der Gesellschaft ist schließlich jener der Totalität. Dieser besagt, dass individualisierte Individuen und die ihnen gegenüberstehenden Institutionen als Funktionsträger bzw. funktionale Momente und in dieser Hinsicht als Manifestationen objektiver Strukturgesetzmäßigkeit zu begreifen sind (vgl. A 8: 356). Die wesentliche historische Entwicklungstendenz der Gesellschaft ist der sich »ausbreitende Warencharakter« (E: 247). Diese Bewegung kennzeichnet das Telos der gesellschaftlichen Entwicklung. Die permanente historische Restrukturierung von Individuum und Institutionen (im weitesten Sinne) hat die Funktion, diese Dynamik zu realisieren. Noch die ›Verwaltete Welt‹ ist Resultat dieses Ur- und Endzwecks der Vergesellschaftung (vgl. A 8: 367f.). Berechtigung wie Notwendigkeit dialektischer Theoriebildung erschließen sich auf der Ebene der Gesellschaftstheorie. In ihr ist die selbstbewusste Verarbeitung der ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹ möglich, das bedeutet, dass mittels ihrer die objektiven, historischen Implikationen von Subjektivität theoretisch eingeholt werden können: »Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jegli-
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chen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlaßt zur Dialektik. Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken« (A 6: 148).34 Dieser Begriff der Dialektik eint die Negative Dialektik und genuin soziologische Untersuchungen wie Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, wo es heißt: »Dialektik, die mit der schmerzhaften Erfahrung von deren Vorherrschaft [der objektiven Gesetze, L.M.] sich vollgesogen hat, verherrlicht sie nicht, sondern kritisiert sie ebenso wie den Schein, das Einzelne und Konkrete bestimme hic et nunc bereits den Weltlauf« (A 8: 356). Hatte Adorno in der Hegelschen Dialektik noch das »dämmernde kritische Bewußtsein der Gesellschaft von sich selber« (A 5: 313) ausgemacht, so vollendet die materialistische Dialektik den Prozess der Selbstreflexion der Gesellschaft: denn erst sie »beseitigt den Schein einer irgend naturhaft-transzendentalen Dignität des Einzelsubjekts und wird seiner und seiner Denkformen als eines an sich Gesellschaftlichen inne […]« (A 8: 295). Soziologische Deutung – Die deutende Reflexion als Phänomenologie der Verkehrung | Bei den individualistischen und kollektivistischen Theorieentwürfen der bis in die 1960er Jahre entwikkelten positivistischen Soziologien handelt es sich, Adorno zufolge, um einseitige Verabsolutierungen und sich selbst undurchsichtige Verarbeitungen von Erfahrung einer realen Objektivität der Gesellschaft, die sich immer schon als entzweite darstellt: als Gegensatz von Handlung und Struktur. Adorno möchte deswegen die einschlägigen handlungs- und strukturtheoretischen Antinomien der Soziologie in einem Begriff der Gesellschaft (im Sinne des Hegelschen ›Selbstbewusstseins‹), der die Realität gesellschaftlicher Individuierung zu erfassen vermag, aufheben. In diesem Begriff soll – über die Marxsche Entwicklung des ›allgemeinen Begriffs‹ der Struktur dieser Gesellschaft hinaus – die historische Form und Dynamik gesellschaftlicher Individuierung zum ›Selbstbewusstsein‹ gelangen. 34 | Die Soziologie sieht sich ihrem Objekt gegenüber, als ihrem »Gegenstand, der Gesellschaft, in der zwischen Besonderem und Allgemeinem kein rein logisches Verhältnis, sondern ein realer Antagonismus waltet« (A 9.2: 134; Hvm). Und somit postuliert Adorno bezogen auf die Methode bzw. den Begriff selbst: »Der dialektische Widerspruch drückt die realen Antagonismen aus [...]« (A 8: 308).
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Dazu bedarf es eines theoretisch-systematischen Zugriffs auf die Phänomene, der in Erfahrung und nicht in Erkenntnistheorie fundiert bzw. rückgekoppelt ist. Denn: »Es gibt heute«, so Adorno, »eine Perversion des Bewußtseins, eine Verkehrung des Ersten und des Zweiten, die so weit geht, daß das, was wir eigentlich als das Bestimmende unseres Lebens in jedem Augenblick erfahren, – daß wir das aus lediglich erkenntnistheoretischen und unterdessen bereits automatisierten Motiven uns ausreden lassen und es behandeln, als ob es eine metaphysische Subreption wäre […]« (Adorno 1964/65: 29). Adorno sieht sich mit seinem erkenntniskritischen Anspruch, »daß diese Erfahrung selber in der engsten Tuchfühlung mit den Fakten bleibt« (E: 91) durchaus in der Nähe der phänomenologischen Soziologie von Schütz oder Luckmann (vgl. auch E: 91f.). Adorno sieht im Szientismus der Durkheimschen methodologischen Forderung, ›soziale Tatsachen‹ wie Dinge zu behandeln, und in Webers Begriffstrategie des Sinnverstehens zwei Varianten des soziologischen Positivismus, also zwei Varianten, in denen die Methode bzw. die Begriffe und Kategorien gegenüber der erfahrungskonstitutiven Sache verselbständigt werden, was dann wiederum in beiden Fällen ein verkürztes Gegenstandsverständnis und einen Verlust von Erfahrung mit sich bringt.35 Adorno spielt hierbei Weber und Durkheim gegeneinander aus. So kritisiert Adorno den verabsolutierten sinnverstehenden Zugang mit Durkheim als unzureichend: »Tatsächlich ist Handeln innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als Rationalität, weitgehend objektiv ebenso ›verstehbar‹ wie motiviert. Daran hat die Generation von Max Weber und Dilthey zu Recht erinnert. Einseitig war das Verstehensideal, indem es ausschied, was an der Gesellschaft der Identifikation durch den Verstehenden konträr ist. Darauf bezog sich Durkheims Regel, man solle die sozialen Tatsachen wie Dinge behandeln, prinzipiell darauf verzichten, sie zu verstehen. Er hat es sich nicht ausreden lassen, daß Gesellschaft auf jeden Einzelnen primär als Nichtidentisches, als ›Zwang‹ stößt. Insofern hebt die Reflexion auf Gesellschaft dort an, wo Verstehbarkeit endet« (A 8: 11f.). Den Bereich des Objektiven und die Art und Weise, wie sich dieser durch soziale Handlungen vermittelt und sich gegenüber ihnen verselbständigt, könne allerdings auch Durkheim nicht zureichend fassen: »Bei Durkheim registriert die naturwissenschaftliche Methode, die er verficht, die Hegelsche ›zweite Natur‹, zu der Gesellschaft den Lebendigen gegenüber ge35 | Dies auch gegen Ritsert (1988), der Adorno ein positives Verhältnis zur Strategie des soziologischen ›Erklärens‹ unterstellt.
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rann. Die Antithesis zu Weber indessen bleibt so partikular wie dessen Thesis, weil sie bei der Nichtverstehbarkeit sich beruhigt wie jener beim Postulat der Verstehbarkeit« (A 8: 12). Die Objektivität der Gesellschaft muss, Adorno zufolge, selber noch mit dem rationalen Handeln der Individuen zusammengebracht werden. Sie darf nicht in reifizierender Weise stillgestellt werden, sodass sich eine paradoxe Erkenntniskonstellation einstellt: »Statt dessen wäre die Nichtverstehbarkeit zu verstehen, die den Menschen gegenüber zur Undurchsichtigkeit verselbständigten Verhältnisse aus Verhältnissen zwischen Menschen abzuleiten. Heute vollends hätte Soziologie das Unverstehbare zu verstehen, den Einmarsch der Menschheit in die Unmenschlichkeit« (ebd.). Mit dem Programm einer genetischen Explikation einer objektiven Verkehrungsstruktur befindet sich Adorno in einer doppelten Frontstellung gegenüber der handlungs- sowie der strukturtheoretischen Variante des soziologischen Positivismus. Der eigentliche Gegenstand – also reale Verselbständigung, d.h. genuin gesellschaftliche Individuierung – fällt durch diese Trennung hindurch. Und die analytische Zusammenführung beider Begriffsstrategien führt keineswegs zur Wiederergreifung des erfahrungs- und theoriekonstitutiven Gegenstandes. Adorno verfolgt nun selbst in seiner Soziologie ein als systematisch einzustufendes Verfahren der soziologischen Analyse, wenngleich auch nicht im Sinne des positivistischen Verständnisses von Methode. Das Einzelne, so lässt es sich Adornos Ausführungen im Positivismusstreit entnehmen, muss auf seine strukturellen Vermittlungen hin untersucht werden, und zwar in einer Weise, die keine methodologisch bedingte Vorentscheidung über die gesellschaftliche Qualität von Phänomenen trifft. Die faktische gesellschaftliche Vermitteltheit von sozialen Phänomenen, die sich als autark gerieren, soll in nicht-verdinglichender Weise – und somit als reale Objektivität der Vermittlung – erfasst und ausgewiesen werden können. Dies soll auf dem Wege einer soziologischen Deutung vollzogen werden. Das von Adorno inaugurierte Verfahren der Deutung zielt dementsprechend auf die Explikation des ›Vorrangs der Struktur‹, wodurch zugleich die Relativierung des Scheins der Unmittelbarkeit von Einzelmomenten erfolgt. Adorno begreift die »Dimension der Deutung« als »ein wesentliches, ein zentrales Moment der Soziologie« (E: 244). So seien »soziale Phänomene zu deuten als Ausdruck von Gesellschaft, so etwa wie man ein Gesicht als den Ausdruck dessen deuten darf, was darin an Psychischem sich abspielt« (ebd.). Die Perspektive der Deutung entspricht somit, formal gesprochen, der Forderung, am Einzelnen das Allgemeine aufzuzeigen. Die Reflexionsbewegung der Deutung
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zielt darauf ab, die im Kontext der deutenden Analyse an Einzelphänomenen spezifizierbaren Momente der Transpersonalität und Transintersubjektivität offen zu legen sowie die Aufgehobenheit von Institutionen und Organisationen in der abstrakt-endogenen Eigendynamik einer verselbständigten Gesellschaftsstruktur aufzuzeigen. In dieser Hinsicht scheint es durchaus angemessen, das Verfahren der Deutung als eine ›nicht-triviale Verbindung von Struktur- und Handlungstheorie‹ zu interpretieren. Das Programm der Deutung bildet einen eigentlich unübersehbaren Schwerpunkt des soziologischen Spätwerks Adornos.36 In der Auseinandersetzung über Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißt es, »die Kontroverse« sei »wesentlich eine über die Deutung« (A 8: 356). In dem Diskussionsbeitrag zu ›Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?‹ von 1968 insistiert Adorno darauf, »daß die Vormacht der Totale, die zwar abstrakt ist, aber dem allgemeinen Begriff in einem gewissen Sinn sich auch entzieht, nur in der Erfahrung des Einzelnen und in der Deutung dieser Erfahrung des Einzelnen getroffen werden kann« (A 8: 587; Hvm). Auch im Positivismusstreit weist Adorno dem Begriff der ›Deutung‹ eine exponierte Stellung zu. Er begreift ihn hier als das begriffliche Vehikel mittels dessen es überhaupt möglich wird, den Begriff der Totalität nicht heuristisch zu denken, sondern ihn als adäquaten Ausdruck der Erfahrung einer realen Verselbständigung zu begreifen. Die Deutung dechiffriert die Allgegenwärtigkeit einer objektiven Verselbständigung im ›Faktischem und Einzelnen‹: »Daß ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine handfeste Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist, daß es jedoch nur soweit erkannt werden kann, wie es in Faktischem und Einzelnem ergriffen wird, verleiht in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht. Sie ist die gesellschaftliche Physiognomik des Erscheinenden. Deuten heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden. Die Idee des ›Vorgriffs‹ auf Totalität, die allenfalls ein sehr liberaler Positivismus zu billigen bereit wäre, reicht nicht aus: sie visiert die Totalität in Erinnerung an Kant als ein zwar unendlich Aufgegebenes und Verschobenes, aber prinzipiell durch Gegebenheiten zu Erfüllendes, ohne Rücksicht auf den qualitativen Sprung zwischen Wesen und Erscheinung in der Gesellschaft. Ihm wird Physiognomik gerechter, weil sie die Totalität, die 36 | Adorno verweist darauf, dass bereits den musikkritischen Arbeiten der 1930er Jahre ein soziologischer Anspruch der Deutung von Phänomenen als Momente einer ›antagonistischen Totalität‹ zugrunde liegt (vgl. Adorno 1969: 113f.).
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›ist‹ und keine bloße Synthesis logischer Operationen darstellt, in ihrem doppelschlächtigen Verhältnis zu den Fakten zur Geltung bringt, welche sie dechiffriert. Die Fakten sind nicht identisch mit ihr, aber sie existiert nicht jenseits von den Fakten. Gesellschaftliche Erkenntnis, die nicht mit dem physiognomischen Blick anhebt, verarmt unerträglich« (A 8: 315; Hvm). Die ›Physiognomik des Erscheinenden‹ zielt darauf ab, die Verstrickung sozialer Phänomenen in die Reproduktion des verselbständigten gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs offen zulegen. Das Verfahren der Deutung hat somit im Hinblick auf die Frage nach der Existenz eines realen Systems der Gesellschaft Beweischarakter. Es legitimiert den Rekurs auf die spekulativen Kategorien als die adäquateste Reflexionsform realer gesellschaftlicher Systemzusammenhänge. In der Vorlesung von 1968 sagt Adorno: »Der Satz Hegels, daß das Wesen erscheinen müsse, hat durchaus auch für die Soziologie, durchaus auch für ihre Methoden, soweit sie der Analyse des Wesens gelten, seinen Sinn, das heißt, es ist ganz müßig und ganz leer, von ›dem Wesen‹ oder von ›wesentlichen Gesetzen der Gesellschaft‹ zu reden, wenn diese Gegensätze nicht in den Phänomenen durch deren Interpretation selber sichtbar gemacht werden; wenn nicht dieses Wesen eben in den Phänomenen aufgedeckt wird« (E: 41). Die soziologische Verwendung spekulativer Kategorien synthetisiert Theorie und Empirie: den Begriff der realen Verselbständigung – ›Wesen‹ – und die qualitative Analyse gesellschaftlichen Wandels – ›Erscheinungen‹. So heißt es auf die soziologische ›Phänomenologie‹ rekurrierend: »Ich möchte dabei auch das Moment an Wahrheit, das in der Phänomenologie steckt, gar nicht unterschlagen. Wer nicht den Blick dafür hat, wie in einzelnen sozialen Phänomenen Wesentliches aufgeht, wer nicht einzelne ›faits sociaux‹ als Chiffren von Gesellschaftlichem zu erblicken und zu lesen versteht, der sollte nach meiner Auffassung von Soziologie, von dieser Wissenschaft die Hände lassen und sollte lieber ein Sozialfachmann werden, oder wie man das nennen will, ein Soziologe ist er nicht. Er ist aber auch genausowenig ein Soziologe, wenn er sich damit begnügt, und wenn er derartige Wesenseinsichten nicht überprüft vor allem an den Bedingungen, den in einem wesentlichen Maß geschichtlichen Bedingungen, unter denen das Phänomen entstanden ist und die dann das Phänomen so vielfach ausdrückt und ausspricht« (E: 41f.; Hvm). Adorno hat selbst wiederholt darauf hingewiesen, dass das Konzept der Deutung ein Ineinandergreifen – eine »Wechselwirkung« (E: 46) – von Gesellschaftstheorie und qualitativ-empirischer Analyse darstellt (vgl. A 8: 316; auch A 8: 212; ebenso E: 46). Dieses Ver-
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fahren erfüllt das zentrale Kriterium, sich der etablierten, »billigen Antithesis« von »formalsoziologischer Begriffslehre […] und begriffsloser Empirie« (SE: 31) zu ›entledigen‹. 37 Theorie meint hier grundsätzlich das Bewusstsein von der Struktur der Produktionsverhältnisse – deren Begriff – und der in ihrem Begriff liegenden Eigendynamik, wodurch auch das Individuum als ein immer schon durch die Objektivität der Verhältnisse individuiertes und individualisiertes gedacht werden muss. Demgegenüber meint Empirie die Selbstwahrnehmung und den Wandel historischer Individuen und Institutionen – ›individueller‹ und ›kollektiver Akteure‹ (Coleman) –, die sich in ihren Handlungskontexten als wandelbare Einheit wahrnehmen, die wenngleich auch durch Objektivität (›Sachzwänge‹) affiziert, so doch prinzipiell in ihrer Substanz als unabhängig auffassen.38 Mit dem Konzept der Deutung beansprucht Adorno, die objektive Vermittlungslogik am Einzelnen aufzuspüren: »Das Glück der Deutung heißt nämlich: die Kraft, sich nicht von dem Schein der Unmittelbarkeit verblenden zu lassen, sondern, indem man des Werdens in dem Gewordenen inne wird, über den bloßen Schein hinaus zu kommen […]« (Adorno 1964/65: 193). Insofern jedoch die strukturelle Vermitteltheit der Einzelmomente entlarvt werden kann, ist der ›Schein‹ ihrer Selbständigkeit selber noch als ein ›gesellschaftlich notwendiger‹ zu interpretieren. Es handelt sich wesentlich um einen Schein, der konstitutiv mit der Durchsetzung der gesellschaftlichen Verkehrungsstrukturen gegeben ist. Die Deutung dient damit, komplementär zur erfahrungstheoretischen Explikation des Verhältnisses von Begriff und Gegenstand, auch dem insistierenden Nachweis der Unmöglichkeit eines verabsolutierten handlungstheoretischen Objektverständnisses. Die Strategie der soziologischen Deutung impliziert einen empirisch fundierten Schritt der Selbstrelativierung einer sich selbstverabsolutierenden Subjektivität. Diese Relativierung ist jedoch nicht wie jener von Adorno konstatierte implizite Relativismus Hegels im Medium der Spekulation befangen, sondern sie expliziert den objekti37 | Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung vgl. grundsätzlich SE: 106ff.; A 8: 196ff., 538ff. Der Vorwurf von Brandt (1981), die Kritische Theorie Adornos würde sich in ihrer späten Phase auf Ideologiekritik reduzieren, erscheint damit im Übrigen als gegenstandslos. 38 | Der ›Schein der Unmittelbarkeit‹ bezeichnet die Wahrnehmung des Individuums, dass es die Institutionen etc. wegdenken könnte und trotzdem erhalten bleiben würde. Und umgekehrt: es könnte sich selbst wegdenken und die Institutionen wären immer noch da.
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ven Grund, in diesem Falle die historischen Implikationen von Subjektivität. Oder anders: die soziologische Deutung Adornos lässt sich auch verstehen als Resultat einer ›immanenten Kritik‹ des sozialwissenschaftlichen Verstandes als eines ›erscheinenden Wissens‹, aus der sich ein anderer, nunmehr sachgerechterer Zugriff auf die soziale Wirklichkeit ergibt. Diese Perspektive impliziert zugleich die Kritik am soziologischen Holismus, denn dieser verfehlt letztlich die Realität jener Objektivität, die er sich zum Gegenstand macht. Auch er ›schneidet die Genese ab‹: indem er die mit dem Begriff der ›sozialen Tatsache‹ und der Vorstellung eines sich differenzierenden ›Organismus‹ die Objektivität des Sozialen weder als eine spezifisch politisch-ökonomisch bestimmte noch als immer schon verselbständigte (also als Einheit von Entäußerung und Vergegenständlichung) begreifen kann, verfährt er ganz im Sinne der frühen Marxschen Hegel-Kritik ›mystifizierend‹ und ›positivistisch‹ zugleich. 39 Diese Konzeption der Deutung lässt sich des Weiteren scharf vom Begriff der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik in der Linie der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas abgrenzen. Autoren wie Habermas oder Oevermann haben Adornos Motiv der Deutung zwar aufgegriffen, jedoch in entgegengesetzter Richtung zum Anspruch Adornos reformuliert: ihnen geht es um die handlungstheoretische Explikation von ›implizitem Regelwissen‹ der ›sprachlichen Handlungskoordinierung‹40 oder um die Dechiffrierung ›latenter Sinnstrukturen‹ von symbolischen Äußerungen.41 Der Anspruch Adornos, das Allgemeine, Überindividuelle im Handeln zu rekonstruieren, wurde hier formalisiert und in einem handlungstheoretischen Kontext entfaltet. Die Erfolgschancen der Forderung von Habermas, dass ›rekonstruktives Verstehen‹ und ›Beobachten‹ für die Analyse sozialer Wirklichkeit zu kombinieren seien, lassen sich angesichts einer für den ›Vorrang der Struktur‹ sensibilisierten Erfahrung skeptisch einschätzen. Denn in der Zusammenführung von Momenten, denen der objektive Zusammenhang durch ihre Trennung verlorengegangen ist, dürfte dieser ausgeblendete Zusammenhang kaum wieder zum Vorschein kommen. Die doppelte Verselbständigung der Methode gegenüber dem Gegenstand wird auf diesem Weg nicht durchbrochen. Mit dem Begriff der Deutung hebt Adorno hingegen beide Zugänge auf. Adornos ›nicht-triviale 39 | Siehe eingehender auch unter S. 236ff. dieser Arbeit. 40 | Siehe den ›rekonstruktiven Ansatz‹ bzw. die ›rationale Rekonstruktion‹ bei Habermas 1984: 363ff. 41 | Siehe in Oevermanns Ansatz einer ›Objektiven Hermeneutik‹ (vgl. Oevermann 2002).
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Verbindung von Strukturtheorie und Handlungstheorie‹ (Habermas) greift zurück auf die spekulative Philosophie Hegels.42 Die selbstkritische, erfahrungsfundierte gesellschaftstheoretische Rekonstruktion spekulativer Kategorien erweist sich in dieser Hinsicht als weit weniger eklektizistisch als der Anspruch, Strukturtheorie und Handlungstheorie ›verknüpfen‹ zu wollen. Denn sie leistet in erster Linie das, was der Positivismus nicht zu leisten vermag: die deontologische und entnaturalisierte Einsicht des Individuums in seine eigenen und vorgängigen historisch-gesellschaftlichen Vermittlungen.43 Adorno bringt seine eigene, quer zu Weber und Durkheim stehende Position pointiert in der Formel Gesellschaft sei ›Verstehbar und Unverstehbar in eins‹ (vgl. A 8: 12, 295) zum Ausdruck. Die Formel konserviert Adornos Auffassung von Gesellschaft als spezifischer Form der Individuierung. Adorno visiert damit einen dialektischen Gesellschaftsbegriff an, der Webers Sinnverstehen und Durkheims opake, undurchdringliche ›faits sociaux‹ aufhebt.44 In der Einleitung in den Positivismusstreit hat Adorno den Ertrag seiner erfahrungstheoretisch begründeten Synthese von Soziologie und Philosophie, Strukturtheorie und Handlungstheorie, Gesellschaftstheorie und empirischer Analyse mit dem Gedanken eines dialektischen Sinnbegriffs apostrophiert: »Soziologie hat es nur peripher mit der subjektiv von Handelnden verfolgten Zweck-Mittel-Relation zu tun; mehr mit den Gesetzen, die durch solche Intentionen hindurch und wider sie sich realisieren. Deutung ist das Gegenteil subjektiver Sinngebung durch den Erkennenden oder den sozial Handelnden. Der Begriff solcher Sinngebung verleitet zum affirmativen Fehlschluß, der gesellschaftliche Prozeß und die soziale Ordnung sei als 42 | Siehe im Übrigen bereits explizit in der Einleitung der Minima Moralia (A 4: 13ff.). 43 | Im Hinblick auf das Verhältnis von Gegenstand und Methode bei Adorno ist die Deutung zu verstehen als Selbstreflexion der Gesellschaft, insofern diese Verselbständigung ist – also des spezifischen Vorgangs der genuin gesellschaftlichen Individuierung. Jenseits der Erfahrbarkeit eines »Zwang[s] des Allgemeinen hinter den Sachverhalten« (A 8: 357) – also der »Erfahrung des Vorrangs der Struktur« (A 8: 357) – wird die Reflexionsbewegung der Deutung sinnlos. Im Kontext einer Analyse, die den Objektbereich zunächst auf den Bereich des Symbolischen reduziert, läuft die Denkbewegung der Deutung ihrem eigenen Begriff nach ins Leere. 44 | Dies wird z.B. in der Einleitung in die Soziologie deutlich (vgl. E: 132).
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ein vom Subjekt her Verstehbares, Subjekt-Eigenes mit dem Subjekt versöhnt und gerechtfertigt. Ein dialektischer Sinnbegriff wäre kein Korrelat des Weberschen sinnhaften Verstehens, sondern das die Erscheinungen prägende, in ihnen erscheinende und in ihnen sich verbergende gesellschaftliche Wesen« (A 8: 320). »Gesellschaft, das Verselbständigte«, so Adorno, sei »nicht länger verstehbar; einzig das Gesetz von Verselbständigung« (A 8: 295). Gesellschaft als Totalität | Adorno verfolgt mit dem Verfahren der Deutung, wie gesehen, das Ziel, an Einzelphänomen objektive Strukturmomente zu explizieren. Diese Explikation soll sich als tragfähiges Fundament eines anti-nominalistischen und anti-harmonistischen sozialwissenschaftlichen Strukturbegriffs erweisen. In diesem Zusammenhang formuliert Adorno seinen Gesellschaftsbegriff: den der Gesellschaft als einer – ›antagonistischen‹ – Totalität. Eine genauere Durchsicht des Spätwerks Adornos zeigt deutlich, dass die Begriffe der Erfahrung und der Deutung mit der gesellschaftstheoretischen Verwendung eines Bündels spekulativer Kategorien einhergehen. Im Zentrum stehen dabei die Begriffe ›Einheit‹, ›Vermittlung‹, ›Widerspruch‹, ›Wesen‹ und ›Erscheinung‹, ›Allgemeines‹, ›Besonderes‹, ›Einzelnes‹, ›Schein‹, auf die Adorno im Zusammenhang mit dem zentralen Begriff der Gesellschaft als ›Totalität‹ rekurriert. Adorno bedient sich hierbei im Kontext der Gesellschaftstheorie offensiv und offensichtlich ganz bewusst der spekulativen Begrifflichkeit der idealistischen Philosophie. Adornos Totalitätsbegriff der Gesellschaft nimmt, insofern in ihm die Objektivität der Struktur als Resultat und Voraussetzung des sozialen Handelns konserviert wird, eine Sonderstellung unter den vielfältigen Objekt- bzw. Gesellschaftsbegriffen ein. Am Besten ist er in den soziologischen Aufsätzen der späten 1960er Jahre, insbesondere in der Abhandlung zur Einleitung in den Positivismusstreit, nachzuvollziehen. Aus einer Anmerkung der Herausgeber im Quellenverzeichnis des Sammelbandes zum Positivismusstreit lässt sich entnehmen, dass diese Adorno aufgrund allseitiger Unkenrufe gebeten haben, seine ›dialektische Konzeption‹ präziser zu explizieren.45 Vor diesem Hintergrund ist es empfehlenswert, Adornos Text als Verteidigungsschrift seines eigenen Totalitätsbegriffs zu lesen.46 Diese Verteidigungsstrategie verfolgt Adorno, indem er ver45 | Siehe z.B. die Ausgabe in der Sammlung Luchterhand, Neuwied und Berlin, 1972, S.343. 46 | Es sei nur am Rande darauf verwiesen, dass Adorno den Aufsatz offenbar dazu nutzt, Formulierungen zu präzisieren, die Anlass zu Miss-
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sucht, den gesellschaftstheoretischen Rekurs auf den Begriff der Totalität sowie auf weitere zentrale Begriffe und Denkfiguren der spekulativen Philosophie über die Reflexion des Verhältnisses von Theoriekonstruktion und Erfahrung zu begründen. Es ist bemerkenswert, dass in der bisherigen Rezeption nur unscharf oder gar nicht auf dieses offensichtlich für die Kritische Theorie Adornos zentrale Problem eingegangen wurde. Im Übrigen wird auch in der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie seitens Adornos hervorgehoben, dass er das Problem der erfahrungstheoretischen Begründung des Totalitätsbegriffs im Positivismusstreit viel stärker hätte geltend machen sollen (vgl. E: 66). Adorno verweist seine Zuhörerinnen und Zuhörer an der Stelle auf die Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, die ihrerseits auf institutsinterne Seminare des Instituts für Sozialforschung zurückgehen, die ihrem Selbstverständnis nach intendiert waren, »als Übung zur Entwicklung jenes bösen Blicks, ohne den kaum ein zureichendes Bewußtsein von der contrainte sociale zu gewinnen ist« (A 8: 177). Adorno verfolgt mit dem Totalitätsbegriff das Ziel, einen erstmals meta-theoretisch hinreichend reflektierten Begriff der Gesellschaft zu formulieren. Die Verwendung der Kategorie der ›Totalität‹ sowie jener anderen spekulativen Kategorien verdanken sich der auf dem Wege der ›Physiognomik‹ geleisteten, für Adorno programmatischen ›Rückübersetzung‹ der spekulativen Philosophie. Denn die Wahrheit des Idealismus, zumal des Hegelschen, ist laut Adorno, dass die Erfahrung des Vorrangs der Struktur – d.h. der realen Selbständigkeit des Sozialen – in spekulativer Gestalt verarbeitet und zur Ontologie der Großsubjekte des ›Geistes‹, der ›Vernunft‹ usw. umgeformt wurde. Dies kennzeichnet den Erfahrungsgehalt der Hegelschen Theorie über den Erfahrungsgehalt in der Hegelschen Theorie.47 Vor diesem Hintergrund formuliert Adorno das Programm der gesellschaftstheoretischen Rückübersetzung der spekulativen Philosophie in ihren gesellschaftlichen Grund, in der eine unreglementierte und ihrer selbst bewusste – also selbstbewusste – Erfahrung im Medium eines Begriffs realer Verselbständigung mit spekulativen Kategorien begrifflich aufgehoben wird. Die Legitimität wie die Notwendigkeit des Rekurses auf die spekulative Begrifflichkeit in der Gesellschaftstheorie betont Adorno in seiner eigenen Kritik verständnissen gegeben hatten. So ist bspw. in den Soziologischen Exkursen noch die missverständliche Formulierung von der Gesellschaft als einer »Art Gefüge von Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen« (SE: 22) zu lesen. 47 | Siehe zu dieser Unterscheidung auch Negt 1995; Reichelt 2004.
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am Idealismus: »Gesellschaftlich ist die Idee eines objektiven, ansichseienden Systems nicht so schimärisch, wie es nach dem Sturz des Idealismus dünkte und wie der Positivismus es beteuert. Der Begriff großer Philosophie, den jener für überholt erachtet, verdankt sich keinen vorgeblich ästhetischen Qualitäten von Denkleistungen, sondern einem Erfahrungsgehalt, der eben um seiner Transzendenz zum einzelmenschlichen Bewußtsein willen zu seiner Hypostasis als Absolutes verlockte. Zu legitimieren vermag sich Dialektik durch Rückübersetzung jenes Gehalts in die Erfahrung, aus der er entsprang. Das ist aber die von der Vermitteltheit alles Einzelnen durch die objektive gesellschaftliche Totalität. Sie war in der traditionellen Dialektik auf den Kopf gestellt mit der These, die vorgängige Objektivität, das Objekt selbst, als Totalität verstanden, sei Subjekt« (A 8: 289f.; Hvm).48 In diesem Kontext ist an die Äußerung von Habermas zu erinnern, nach der nicht einzusehen sei, warum die Grundbegriffe der Hegelschen Wissenschaft der Logik explizit gesellschaftstheoretisch rekonstruiert werden sollten (vgl. Habermas 1982: 9). Die Gründe dafür liegen in der Sache selbst: es ist sowohl in einer allgemeinen Hinsicht die spezifische Erkenntniskonstellation in der Soziologie, in der das theoretische Bewusstsein als ein durch seinen Gegenstand vermitteltes zu begreifen ist, und in der sich das positivistische Bewusstsein als unzureichende Selbstreflexion dieses Verhältnisses ausweisen lässt, als auch die Phänomenologie der Verselbständigung, d.h. die unreglementierte Erfahrung des Vorrangs der Struktur, die zur Dialektik nötigt: »Von ihrem Gegenstand«, so Adorno, »wird Soziologie zur Wiederentdeckung von Dialektik genötigt« (A 8: 179). Adornos gesellschaftstheoretischer Rekurs auf den Totalitätsbegriff fällt nun seinerseits zusammen mit dem systematischen Bemühen, Formen objektiver Einheit und Struktur in der Wirklichkeit der Gesellschaft selbst zu explizieren. Adorno bezweckt damit den Nachweis, dass der Gesellschaftsbegriff weder als ein bloßer ›Name‹ einzuführen ist, noch nach einem allein subjektiven Maßstäben genügenden Wahrheitsanspruch bewertet werden kann. Der Gegen48 | Auch in der Negativen Dialektik findet sich dieselbe Programmatik. Auch dort wird betont, »daß das Objekt der geistigen Erfahrung an sich, höchst real, antagonistisches System sei, nicht erst vermöge seiner Vermittlung zum erkennenden Subjekt, das darin sich wiederfindet. Die zwangshafte Verfassung der Realität, welche der Idealismus in die Region von Subjekt und Geist projiziert hatte, ist aus ihr zurückzuübersetzen« (A 6: 22; Hvm).
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stand, soll dieser nicht verfehlt werden, muss in einer ganz bestimmten Weise konzipiert werden: die Einheit des Objekts ist keine des Begriffs, sondern wird als existierende in Gestalt der historisch fortgeschrittenen Durchsetzung der Eigenlogizität von Produktionsverhältnissen vorgefunden, die sich an historisch-sozialen Einzelmomenten deduzieren lässt. Adornos materiale soziologische Spätschriften können insgesamt in verschiedener Hinsicht als Durchführungen einer deutenden Analyse sozialer Phänomene gelesen werden, die die Explikation der strukturellen ›Vermitteltheit‹ von Einzelphänomenen (Subjektives, Intersubjektives, Organisationen, Institutionen) anvisiert, wie diese sich aus der Binnenperspektive der Beteiligten nicht unmittelbar ergibt und somit einer an der Binnenperspektive ansetzenden analytischen Deduktion bedarf. Dabei geleitet die ›unreglementierte‹ Erfahrung des Vorrangs der Struktur in den Akten der soziologischen Deutung zum Begriff der Totalität. Die Bedeutungsverschiebung der gesellschaftstheoretischen Verwendung des Totalitätsbegriffs ist damit eindeutig. So heißt es: »Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie. […] Die Interpretation der Fakten geleitet zur Totalität, ohne daß diese selbst Faktum wäre. Nichts sozial Faktisches, das nicht seinen Stellenwert in jener Totalität hätte. Sie ist allen einzelnen Subjekten vorgeordnet, weil diese auch in sich selbst ihrer contrainte gehorchen und noch in ihrer monadologischen Konstitution, und durch diese erst recht, die Totalität vorstellen. Insofern ist sie das Allerwirklichste« (A 8: 292; Hvm). Der Begriff der Totalität ist folglich weder umfangslogisch noch heuristisch zu interpretieren, sondern er zielt auf die historische Essentialität von struktureller Vermittlung und Verkehrung zwischen Individuum und Gesellschaft.49 Die konstruktive Richtung des Adornoschen Gesellschaftsbe49 | Dem positivistischen Selbstverständnis gilt Adornos Totalitätsbegriff dann natürlich selber noch als vorwissenschaftliches Relikt (vgl. A 8: 294). Auch Habermas betrachtet den Totalitätsbegriff zumindest nur als heuristisches Mittel im Sinne eines »hermeneutischen Vorgriff[s] auf Totalität« (Habermas 1963b: 161). Adorno hat sich im Positivismusstreit gegen ein solches Verständnis nachdrücklich abgegrenzt: »Die Idee des ›Vorgriffs‹ auf Totalität, die allenfalls ein sehr liberaler Positivismus zu billigen bereit wäre, reicht nicht aus: sie visiert die Totalität in Erinnerung an Kant als ein zwar unendlich Aufgegebenes und Verschobenes, aber prinzipiell durch Gegebenheiten zu Erfüllendes, ohne Rücksicht auf den qualitativen Sprung zwischen Wesen und Erscheinung in der Gesellschaft« (A 8: 315).
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griffs lässt sich kursorisch skizzieren: anzusetzen ist an der Struktur, die als solche bestimmbar ist. Ihre Wirklichkeit ist eine der Produktionsverhältnisse, d.h. des Dualismus von Staat und Kapital (vgl. A 8: 363). Die ›tragende Struktur‹ der Gesellschaft ist die ökonomische Klassenstruktur (vgl. Breuer 1992: 78). Deren eigendynamische Reproduktion unterliegt nach Auffassung Adornos immanenten Gesetzmäßigkeiten, wie dem Wertgesetz, dem Akkumulationsgesetz und dem Gesetz des Falls der Profitrate (vgl. A 8: 356). Im Begriff der Produktionsverhältnisse liegt als zentrale Reproduktionsbedingung der Klassenstruktur der sich »ausbreitende Warencharakter« (E: 247). 50 Adornos These lautet dementsprechend, dass die historische Reproduktion der Produktionsverhältnisse sich als ›immanente Entwicklungstendenz‹ der gesellschaftlichen Dynamik im Ganzen identifizieren lässt (vgl. E: 245ff.). Es ist im Wesentlichen das universell gewordene Wertgesetz – das ›Wesen‹ –, dessen faktische Durchsetzung alle Momente als Momente einer Einheit – als ›Erscheinungen‹ – konstituiert. Individuelle Handlungen und institutionelle Strukturen werden im Prozess der fortschreitenden Reproduktion von Produktionsverhältnissen immer vollständiger und bruchloser in die sozialökonomische Verkehrungsstruktur eingebunden (vgl. A 8: 14). Fluchtpunkt der Entwicklung ist ein »virtuell sich abdichtende[s] System« (A 8: 342); ein »Zustand universaler Vermittlung, der Verdinglichung aller Beziehungen zwischen Menschen« (ebd.), oder wie es in einem eingängigen Schlagwort Adornos heißt: die »totale Vergesellschaftung« (SE 23, 35; A 20.1: 167). Und hinter dieser Tendenz zur ›totalen Vergesellschaftung‹ steht mitnichten die ›instrumentelle Vernunft‹, hinter dieser Expansion der Gesellschaft stehen vielmehr die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie. Der Begriff der Totalität enthält dabei einen gegenwarts- bzw. zeitdiagnostischen Kern. Adorno begreift die moderne Gesellschaft als eine fortgeschrittene und fortschreitende Durchsetzung verselbständigter ökonomischer (›Tauschgesellschaft‹) und administrativer (›Verwaltete Welt‹) Mechanismen, in deren Kontext die Kultur, in ihrer vollen Bandbreite von der Kunst und der Wissenschaft über die Öffentlichkeit bis zum Sport, zunehmend zu Inhalten der Reproduktion des ökonomisch-bürokratischen Komplexes subsumiert wird51 , in der Organisationen und Bürokratien sich ihrerseits zum Zwecke 50 | Den Nachweis der Notwendigkeit der expansiven Dynamik entwickelt Marx im Kapital. 51 | Siehe etwa das Résumé über Kulturindustrie (vgl. A 10.1: 337ff.) oder Kultur und Verwaltung (vgl. A 8: 122).
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der Reproduktion des Kapitals bilden und verselbständigen 52 und in der die individuelle Selbstwahrnehmung, individuelle ebenso wie kollektive Verhaltensweisen und Lernprozesse, Familienstrukturen, der Wandel von Institutionen und Organisationen im Wesentlichen nach Maßgabe der Reproduktion der gegenüber den handelnden Akteuren verselbständigten systemischen Mechanismen restrukturiert werden 53: die »Einheit des Systems rührt her von unversöhnlicher Gewalt. Die vom Hegelschen System begriffene Welt hat sich buchstäblich als System, nämlich das einer radikal vergesellschafteten Gesellschaft, erst heute, nach hundertfünfundzwanzig Jahren, satanisch bewiesen. […] Die durch ›Produktion‹, durch gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhältnis zusammengeschlossene Welt hängt in allen ihren Momenten von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion ab und verwirklicht insofern in der Tat den Vorrang des Ganzen über die Teile […]« (A 5: 273f.; Hvm). Die Realität des gesellschaftlichen Systems besteht demnach eben allein darin, dass die Einzelphänomene immer vollständiger unter die einschlägige Verkehrung subsumiert werden und sich so als Momente einer objektiven Totalität erweisen: »Denn während Gesellschaft weder aus Einzeltatsachen sich ausabstrahieren noch ihrerseits wie ein Faktum dingfest machen läßt, gibt es kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre. In den faktischen sozialen Situationen erscheint die Gesellschaft« (A 8: 10; Hvm). Adorno verweist dabei darauf, dass selbst »zurückgebliebene Gebiete und gesellschaftliche Formen« (A 8: 14) die Durchsetzung der ›Tauschgesetzlichkeit‹ keineswegs einschränken. Im Gegenteil: »Inmitten der Tauschgesellschaft sind die vorkapitalistischen Rudimente und Enklaven keineswegs nur ein dieser Fremdes, Relikte der Vergangenheit: sie bedarf ihrer« (ebd.). So lebt die Dynamik der 52 | Siehe Individuum und Organisation (A 8: 440ff.). 53 | Auf dieser Hypothese gründet im Übrigen der klassische Vorwurf des Ökonomismus, der sich sowohl seitens der Handlungs- als auch der Differenzierungstheorie erheben lässt. Der Einwand lässt sich im ersten Falle auf dem Wege der Deutung empirisch wiederlegen. Im zweiten Falle lässt sich der Einwand begrifflich ausräumen: denn die Produktionsverhältnisse erweisen sich als einzig theoretisch nachweisbare Gestalt realer Objektivität (siehe auch E: 237). Der differenzierungstheoretische Vorwurf des Ökonomismus an die Adresse der Kritischen Theorie Adornos gründet im Übrigen darin, dass der Begriff der ›Funktionalen Differenzierung‹ als stichhaltig vorausgesetzt wird, was vor dem Hintergrund der Positivismuskritik Adornos keinesfalls unbestritten hingenommen werden muss (siehe Abschnitte 179ff. und 192ff. dieser Arbeit).
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Gegenstand und Methode der Soziologie Adornos
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kapitalistischen Zentren von der Unterentwicklung jener ›nicht-kapitalistischen Räume‹ (vgl. ebd.), ebenso wie sich die unmittelbaren innerfamiliären Interaktionsformen als funktional für die Gesellschaft erweisen: »Eine vom Naturalverband sich herleitende und in ihrer Binnenstruktur nicht durch den Äquivalententausch regulierte Institution wie die Familie dürfte ihre relative Resistenzkraft dem verdanken, daß ohne den Beistand ihrer irrationalen Momente spezifische Produktionsverhältnisse wie etwa die kleinbäuerlichen kaum fortbestehen könnten, die ihrerseits nicht zu rationalisieren wären ohne Erschütterung des bürgerlichen Gesamtgefüges« (ebd.; vgl. auch A 8: 549). Adornos zentraler Vorwurf an die Adresse der Soziologie und Gesellschaftstheorie lautet, dass diese ihren Objektbereich auf »zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Formen, Institutionen, Herrschaftsverhältnisse und Konflikte« (E: 236) beschränke und dadurch von der strukturellen Vermitteltheit dieser Formen ›abstrahiere‹. Letztlich stehe hinter den Institutionen »der Prozeß der realen Selbsterhaltung der menschlichen Gesellschaft […] dieser ganze, gigantische, durch den Tausch zusammengehaltene gesellschaftliche Prozeß überhaupt […]« (ebd.). Die Soziologie sehe dabei gerade »ab von der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion des Lebens der Gesellschaft als Ganzer« (E: 237). Letztlich ist es die »Tendenz des Kapitals«, die hinter der »Entwicklung der Gesellschaft und der spezifisch gesellschaftlichen Formen steht« (E: 239) und Ursachen jener »Naturkatastrophen der Gesellschaft« (E: 241) ist. Die Institutionen etc. erweisen sich schlussendlich als Ausdruck der strukturellen, gesetzmäßig sich realisierenden Bewegung des Kapitals, dessen Reproduktionslogik den ›tragenden Prozess‹ der Gesellschaft als eines universellen Funktionszusammenhangs stiftet (vgl. auch E: 245ff.). Und es ist überhaupt erst dieser »Vorrang der objektiven Gesetzmäßigkeit«, durch den die »objektivinstitutionelle Seite der Gesellschaft gegenüber den Menschen, aus denen die Gesellschaft besteht, sich verselbständigt und verfestigt« (E: 253; Hvm) hat. In ihrer Aufgehobenheit erweisen sich die Momente als eingebunden in eine eigengesetzmäßig verlaufende Entwicklung der sozialökonomischen Struktur. Das bedeutet, dass im intentionalen Handeln, in den Vorgängen der Individualisierung und des institutionellen Wandels sich jenes verselbständigte sozialökonomische Allgemeine durchsetzt und reproduziert. Die Erfahrungen der deutenden Analyse verweisen auf die fortgeschrittene Realisierung verselbständigter Produktionsverhältnisse, auf »die Einzelphänomene, die das Allgemeine ausdrücken« (A 8: 323), die »objektiv-immanen-
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te […] Bestimmtheit des Einzelnen« (ebd.), oder: Gesellschaft als Totalität. Aus ihrer Existenz lässt sich die ›immanente Entwicklungstendenz‹ der gesellschaftlichen Entwicklung – folglich das ›soziologische Entwicklungsgesetz‹ – ableiten, dass die Dynamik der rationalen Restrukturierung von Individuum und Institutionen auch zukünftig primär dem Modus objektiver Irrationalisierung unterliegen wird. Deutung als Methode der Kritik | Im Positivismusstreit fordert Adorno, Erfahrungen im Medium der selbstbewussten und damit in einem emphatischen Sinne begrifflichen Reflexion aufzuheben: am unmittelbaren Einzelnen wird die Erfahrung von dessen objektiver Vermitteltheit durch die verselbständigte sozialökonomische Strukturdynamik gemacht.54 Die im Medium der Deutung des Einzelnen vollzogene ›unreglementierte‹ Erfahrung der Gesellschaft dechiffriert das Einzelne als Moment einer gesellschaftlichen Totalität, deren tragende und antreibende Struktur der Reproduktionsprozess kapitalistischer Produktionsverhältnisse ist. In dieser Hinsicht lässt die Deutung gewahr werden, dass sich die im Begriff des Kapitals liegende Eigendynamik eine historische Wirklichkeit nach ihrem Ebenbild schafft, dass sich die objektiven Gesetzmäßigkeiten realiter in den historischen Gestalten der Individualisierung und des institutionellen Wandels niederschlagen. Das Handeln und die Institutionen werden (zunehmend) strukturiert, ohne dass sie in ihren Inhalten determiniert wären. Sozialer Wandel wird in dieser Hinsicht begriffen als eine Form strukturierter Kontingenz. Das Konzept der Deutung korrespondiert in gewisser Hinsicht mit dem geflügelten Begriff der ›immanenten Kritik‹. Diese destruiert den Schein der Unmittelbarkeit und Selbständigkeit von Einzelphänomenen, indem sie deren strukturellen Implikationen aufzeigt. Als prominentestes Beispiel des Ertrags einer ›immanenten Kritik‹ wäre die Einsicht zu nennen, dass der bürgerliche Tauschvorgang, der als Äquivalenzverhältnis erscheint, faktisch immer schon durch die Produktionsverhältnisse vermittelt ist. Aber auch Institutionen wie Öffentlichkeit oder Bürokratie werden von Adorno unter diesem Gesichtspunkt thematisiert: so sollen etwa Organisation bzw. Bürokratie ihrem eigenen Begriff nach Mittel sein, werden je54 | Bereits mit den Minima Moralia war Adorno angetreten, Erfahrung in Gestalt einer Enzyklopädie der Verkehrung zu sammeln. Adorno verweist hier darauf, dass er sich in den Ausführungen an der Methode Hegels orientiert, insofern er auf die Explikation von Momenten der Vermitteltheit von Subjektivität/Individualität aus ist (vgl. A 4: 14).
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doch aus gesellschaftlichen Gründen verselbständigt oder gar zum Selbstzweck (vgl. A 8: 125). Es ist stets die Binnenperspektive der Beteiligten, die Unmittelbarkeit individueller Selbsterfahrung und ›sozialer Tatsachen‹, an die Adorno anknüpft, um deren, bildlich gesprochen, eingebauten Relativismus theoretisch-begrifflich zu überwinden und ihre Verwobenheit mit der Struktur – den dynamischen Gesetzmäßigkeiten – der Produktionsverhältnisse aufzuspüren. Auf diese Weise lässt sich der Schein der Subjektivität und Unmittelbarkeit als Schein erfassen. In den Vorlesungen der 1960er Jahre bringt Adorno wiederholt Beispiele, an denen er die Vermittlung von Einzelphänomenen durch die Reproduktionsdynamik verselbständigter Verhältnisse veranschaulicht bzw. die Eigendynamik der ›Besonderung‹ des ›Einzelnen‹ aus der Dynamik des verselbständigten ›Allgemeinen‹ – den ›Strukturgesetzen‹ – gewissermaßen ableitet, oder richtiger: deduziert. Die Gesellschaftlichkeit vermeintlich autonomer Einzelphänomene, ihr historischer Gehalt, d.h. ihre Eingebundenheit in den expansiven Prozess der Vergesellschaftung, führt Adorno auch in der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie an etlichen Beispielen vor. So verweist er darauf, »daß etwa ein protzenhaft imponierendes Gebäude, die Imitation eines Florentinischen Palastes, wie Sie sie in Manhattan in hellen Haufen finden können, in Wirklichkeit nichts anderes sei als das Überleben von Festungen, von militärischer Ostentation in einer Zeit, in der es eine solche direkte militärische Herrschaft nicht mehr gibt, wo aber dann die Macht und Größe des Kapitals sich eben darin ausdrückt, daß sie sich solcher historisch überholter Mittel bedient, und zwar unbewußt oder nur im Sinn eines kollektiv Unbewußten, eben bedient« (E: 245). Ein weiteres Beispiel aus dem Argumentationskontext der Einleitung, an dem das Ineinandergreifen von Unmittelbarkeit, objektiver Vermittlung und theoretischer Reflexion sehr deutlich wird, gilt dem Phänomen der Öffentlichkeit, deren Entwicklung Adorno unter dem Gesichtspunkt ihrer Subsumtion unter die Logik der Kapitalverwertung diskutiert. So führt Adorno aus: »Und man muß ebenso wissen, daß der immer mehr mit der entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft sich ausbreitende Warencharakter und vor allem die anwachsende Schwierigkeit Kapital zu verwerten, dazu geführt haben, daß auch die Öffentlichkeit selber manipuliert und schließlich selber monopolisiert worden ist und dann eben als Ware, als ein selber zum Zweck des Verkaufs Hergestelltes und Behandeltes, sich gerade in das Gegenteil dessen verwandelt hat, was ihrem eigenen Begriff eigentlich innewohnt. Wenn man nur die gegenwärtigen Phänomene der Öffentlichkeit
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studiert, ohne dabei mitzudenken, was in ihrem Begriff gemeint war, worin unter welchen Zwängen dieser Begriff sich in sich verändert hat, dann kommt man zu jener völlig müßigen, begriffslosen Bestandsaufnahme, die dem innewohnt, was man heute im allgemeinen mit Kommunikationsforschung bezeichnet; wobei in dem Wort Kommunikation ja schon diese Neutralisierung drinsteckt, daß es so aussieht, als handele es sich um nichts anderes als darum, daß die Einen dem Anderen etwas kommunizieren, sie etwas wissen lassen, unter Absehung davon, daß in den Formen dieser Kommunikation die gesamten Herrschaftsverhältnisse, und zwar geschichtlich konstitutiv bereits enthalten sind« (E: 247f.; Hvm).55 Adorno hat den Vorgang der Erfahrung des Vorrangs der Struktur des Weiteren wiederholt in körperlichen Metaphern gefasst. Er betont, »daß man Gesellschaft […] – ich möchte sagen auf der Haut – zu spüren bekommt« (E: 65), »daß im Sinne von Durkheim Gesellschaft unmittelbar da fühlbar wird, wo es weh tut« (ebd.). Adorno verweist auf »die Totalität, in der wir leben und die wir auf jeden Schritt und in jeder unserer sozialen Handlungen fühlen können« (E: 77). Demgemäß wird auch das Leiden der Individuen in einem gesellschaftstheoretischen Kontext thematisiert. Adorno visiert ein entpsychologisiertes Verständnis des individuellen Leidens an. Denn das Leiden der Einzelnen erweist sich als bedingt durch die Reproduktionsdynamik der Gesellschaft. Es geht Adorno vorrangig um dieses strukturell induzierte Leid (vgl. A 6: 29). Adorno thematisiert das Leiden der Individuen im Rahmen eines deutenden Zugriffs, in dem das individuelle Leid auf die Dynamik der Struktur selbst zurückgeführt wird. Das Leiden erscheint somit als ein objektiv vermitteltes bzw. verursachtes, insofern allein scheinbar unmittelbares und persönlich-psychisch verursachtes.56 55 | Adorno knüpft mit seinem Beispiel explizit an Habermas an, der sich mit einer Arbeit zum Thema des Strukturwandels der Öffentlichkeit habilitiert hatte. Den Ausführungen Adornos lässt sich ein Vorwurf an Habermas entnehmen, insofern dieser nicht mit den in der Wirklichkeit vorfindlichen deformierten Gestalten der Kommunikation ansetzt, sondern den Gegenstand handlungstheoretisch idealisiert. Im Hinblick auf eine Theorie der Lebenswelt sei weiterhin darauf verwiesen: »Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Umgangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins verschwindend Geringfügige hinein entziffern, das Erstarrte und Verstummte zum Sprechen bringen, dessen Nuancen ebenso Spuren von Gewalt sind wie Kassiber möglicher Befreiung« (A 8: 193f.).
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Das System der kapitalistischen Ökonomie produziert die objektiven Bedingungen und Grenzen für das Gelingen der Individualisierung der Individuen, dergestalt etwa, dass den Individuen die durch das System aufgezwungenen Reproduktionsbedingungen streitig gemacht werden oder persönliche Bedürfnisse und Präferenzen um der konkreten Integration in die Arbeitsteilung willen zurückgestellt werden müssen. Hier zeigt sich für Adorno die Bestimmung des Individuums als eines Funktionsträgers, also als eines in seiner Einzelheit vollkommen allgemeinen. Adorno konstatiert, »daß die unmittelbarste Erfahrung, die man macht und die man mit Gewalt nur sich ausredet, eben die von dem Eingespanntsein in die objektive Tendenz ist« (Adorno 1964/65: 28f.). Er verweist auf den »Stellensuchenden […], der in dem Augenblick, in dem er eine Arbeit zu finden hofft, die nun wirklich seiner eigenen Bestimmung und seiner eigenen Fähigkeit gemäß ist, selbst in den Zeiten der glorreichen Vollbeschäftigung sofort auf Granit beißt und der dann also sofort etwas tun muß, was eigentlich gar nicht seine Sache ist, – also diese Erfahrung […] ist doch zunächst einmal überhaupt die primäre; wenn es so etwas wie Unmittelbarkeit gibt, dann ist es diese Erfahrung« (ebd.: 29). Dies jedoch bedeutet, dass die unmittelbare Erfahrung immer schon die des Vorrangs der Struktur ist. Derselben Logik der strukturellen Verursachung folgt auch das Leiden des Einzelnen an der Erfahrung der eigenen Austauschbarkeit, dass also der Einzelne in seiner Einzelheit sich im Arbeitsprozess als völlig austauschbar erfährt: »Die absolute Fungibilität und Ersetzbarkeit eines jeden Menschen, auch unter formaler Freiheit, die heute, in der gegenwärtigen Gestalt der Arbeitsorganisation, unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse, erreicht ist, – daß also jeder Mensch durch jeden anderen und damit eigentlich überhaupt ersetzbar ist; das Gefühl infolgedessen der Überflüssigkeit […] und Nichtigkeit eines jeden einzelnen von uns für das Ganze: das ist die in der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung heute liegende Begründung jenes Gefühls auch unter formaler Freiheit« (Adorno 1965: 170f.). Auch indem dem Einzelnen die Reproduktion durch Arbeit versagt bleibt, zeigt sich der Vorrang der Gesellschaft: »Wenn man etwa auch in bestimmte soziale Situationen kommt, wie die eines Menschen, der einen Job suchen muß und der dann so ›auf Granit beißt‹, daß alle Türen ihm sich automatisch ver56 | Der Rekurs auf die Leidenserfahrung der sich individualisierenden Individuen dient dabei keineswegs der Begründung einer normativen Kritik des Kapitalismus, sondern der Begründung eines Begriffs realer Verselbständigung (vgl. Kirchhoff 2004).
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schließen, oder der sich Geld borgen muß in einer Situation, in der er nicht Garantien dafür beibringen kann, daß er das in einiger Zeit zurückgeben kann, und der dann zehn-, zwanzigmal in einer bestimmten automatisierten Weise dem ›Nein‹ begegnet, und [dem] gesagt wird: ›Ja, er sei eben nur das Exemplar einer allgemein verbreiteten Gesetzmäßigkeit‹, und so weiter – das sind alles auch […] unmittelbare Indizes für das Phänomen der Gesellschaft« (E: 65f.; Hvm). Adorno führt für den Sachverhalt des ›Vorrangs der Struktur‹ weitere Beispiele an, wie die staatliche Niederschlagung von Massenbewegungen (vgl. E: 82) oder die Schwierigkeiten politischer Bildung (vgl. E: 88). Erwähnenswert ist ein Sachverhalt aus der politischen Sphäre. Adorno verweist darauf, »wie sehr […] Freiheit, die uns so erscheint, als ob es lediglich eine Qualität der Subjektivität wäre, als ob über ihre Möglichkeit im subjektiven Bereich allein befunden werden könnte; wie sehr diese Freiheit von dem Objektiven abhängt, wie weit wir überhaupt fähig sind, durch das, was wir als subjektiv formal Freie tun, die übermächtig strukturierte institutionelle Wirklichkeit zu bestimmen. Nur in diesem Zusammenhang beschwöre ich all die Erwägungen über den Verfall der politischen Sphäre und die politische Ohnmacht der Einzelnen herauf […]« (Adorno 1964/65: 282; Hvm). Die Freiheitsgrade des Individuums hängen konstitutiv von der Eigendynamik der Institutionen ab. Überdies leitet diese Passage über zum Bereich des Institutionellen. Denn obzwar konstitutiv überindividuell, erweisen sich auch die Institutionen nicht als Letztes gesellschaftlicher Herrschaft, sondern als selbst noch in der Dynamik der Gesellschaft aufgehoben. In der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie argumentiert Adorno gegen Webers Gegenstands- und Methodenverständnis, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht auf soziales Handeln reduzieren lasse, sondern wir es wesentlich mit Institutionen zu tun haben, die sich ihrerseits nicht in subjektiven Sinn auflösen ließen und eher den Durkheimschen ›sozialen Tatschen‹ entsprächen (vgl. E: 177ff.). Die objektiven Einzelinstitutionen, von Individuen konstituiert und ihnen gegenüber verselbständigt, sind nach Adorno zu begreifen als Momente der objektiven Eigendynamik des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs: »Ein gesellschaftliches Phänomen wie die moderne Organisation läßt sich ohnehin bloß bestimmen nur in seiner Stellung im gesamtgesellschaftlichen Prozeß […]« (A 8: 441); »Organisation ist ein durch und durch Geschichtliches. Sie empfängt ihr Leben bloß aus der geschichtlichen Bewegung« (A 8: 443). Im Prozess ihrer Restrukturierung erweisen sich die Institutionen und Organisationen zunehmend als irrational, in-
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dem sie etwa nicht als Mittel fungieren, sondern sich verselbständigen und sich darin selber noch als durch die geschichtliche Dynamik Aufgehobene erweisen. Adorno kritisiert, dass entgegen der Auffassung der etablierten Soziologie auch die fordistische Gesellschaft – als »wissenschaftliches Zeitalter, wissenschaftliche Gesellschaft oder das, was sich als Industriegesellschaft versteht« (E: 222) – wesentlich durch »das Eigengewicht der Produktionsverhältnisse« (ebd.) bestimmt ist. Diese Tendenz der Irrationalisierung sei nicht zurückzuführen auf politische Machtverhältnisse oder ähnliches, sondern folgt aus der objektiven Gesetzmäßigkeit der Reproduktion verselbständigter gesellschaftlicher Reproduktionsbedingungen selbst: »Die Irrationalität von Institutionen, die irrationalen Momente in unserer Gesellschaft – ich habe ihnen das an der Familie gezeigt, ich könnte ihnen das sicher an den Armeen ebenso zeigen und an den Kriegsausgaben, die ja die Funktion haben, daß sie rein ökonomisch das Funktionieren des Systems garantieren, während sie gleichzeitig auf dessen Vernichtung hintreiben, und man könnte das wohl auch ähnlich an der Funktion der Kirchen zeigen – sind selber zu verstehen nur als Funktionen der fortbestehenden Irrationalität« (E: 223). Adorno formuliert programmatisch: die »objektive Ableitung der Irrationalität, […] die rationale Ableitung der Irrationalität, wäre ein Kernstück gerade der heute fälligen Soziologie« (E: 224). Adorno hat die materiale Ausführung seines Programms einer Kritischen Theorie, die auch und wesentlich für sich beanspruchen kann, empirisch gehaltvoll zu sein, selber nur selektiv und exemplarisch geleistet. Das Programm einer kritisch-systematischen Zeitdiagnose im Sinne der von Adorno skizzierten Kritischen Theorie der Gesellschaft erweist sich aber auch heute noch als ebenso aktuell wie undurchgeführt. 57 57 | Zu denken wäre bspw. an die Deutung der Veränderung familiärer Lebensformen und innerfamiliärer sozialintegrativer Rationalisierungsprozesse unter dem Gesichtspunkt, dass diese angetrieben und begrenzt werden durch Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, also der Restrukturierung der Arbeitsteilung und staatlicher Fürsorgesysteme. Ein systematischer Anknüpfungspunkt hierfür wäre u.a. der Beitrag zu ›Familie‹ in den Soziologischen Exkursen (siehe SE: 116ff.). M.a.W.: innerfamiliäre Diskurse wären nicht aus sich selbst heraus als ›Rationalisierung der Lebenswelt‹ zu begreifen, sondern es wäre deutlich zu machen, inwiefern den Beteiligten der normative Diskurs über die Gestaltung des familiären Zusammenlebens mitunter selber noch strukturell aufgenötigt wird.
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Adornos Kritik der Soziologie
Adornos Kritik der Soziologie
Adornos Kritik an der handlungstheoretischen Soziologie Max Webers | Angesichts der anvisierten Auseinandersetzung mit den hermeneutischen und funktionalistischen Varianten der Differenzierungstheorie der Gesellschaft erscheint es sinnvoll, einige zentrale Motive der Adornoschen Kritik der mit dem Entwurf einer Kritischen Theorie der Gesellschaft konkurrierenden handlungs- und strukturtheoretischen Ansätze der Soziologie herauszustreichen. Adornos Kritik der soziologischen Theorien erweist sich dabei als konstitutiv mit der Reflexion des Zusammenhangs von Erfahrung und Theoriekonstruktion verwoben. Die seitens Adornos prolongierte systematische Reflexion auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher Erfahrung und gesellschaftstheoretischer Theoriekonstruktion hat demnach eine doppelte Funktion: Sie soll sowohl den Totalitätsbegriff der Gesellschaft stützen als auch die soziologischen Theorien auf einer sehr grundsätzlichen Ebene kritisieren. Auf die Frage nach ihrem Gegenstand hat die Soziologie grundsätzlich zwei verschiedene Antworten parat. So wird zum einen davon ausgegangen, der Gegenstand der Soziologie sei das sinnhafte soziale Handeln vereinzelter Individuen, während zum anderen überindividuelle gesellschaftliche Großgebilde, soziale Strukturen etc. als Antwort favorisiert werden.58 Ersteres Gegenstandverständnis verbindet sich originär mit dem Namen Max Weber und dem aus seiner Begründung der Soziologie hervorgegangenen Nominalismus, während sich ein zweites, der nominalistischen Konzeption konträres Gegenstandsverständnis in der strukturalistischen Traditionslinie von Comte, Spencer und Durkheim findet. Adorno handelt im Prinzip alle diese Theoretiker ab, vordringlich orientiert er sich hinsichtlich seiner Kritik des soziologischen Gegenstands- und Methodenverständnisses jedoch an Weber und Durkheim (vgl. E: 132). Adorno geht im Zuge der Reflexion des Zusammenhangs von Erfahrung und Theoriekonstruktion davon aus, dass jeder Soziologie resp. Gesellschaftstheorie die Erfahrung des Vorrangs der Struktur immanent ist (vgl. E: 90f.; vgl. A 8: 564) und dass sich diese Erfahrung – und damit die Struktur des Gegenstandes – in der Ausformulierung der soziologischen Theorien niederschlägt. So heißt 58 | Eine dritte, neuerdings zunehmend vertretene Variante sieht, wie bereits erwähnt, in den sogenannten ›nicht-intendierten Handlungsfolgen‹ den eigentlichen Gegenstand der Soziologie (siehe auch Esser 1993: 19ff. sowie Dietz 2004).
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es etwa über Durkheim, sein »Begriff der sozialen Tatsache und ihres dinghaften Charakters geht auf seine eigene Erfahrung von der Gesellschaft zurück« (A 8: 248). Fraglich ist generell, wie Erfahrungen in den einschlägigen soziologischen Theorien im Einzelnen gemacht und verarbeitet werden. Charakteristisch für den soziologischen Positivismus ist für Adorno, dass dieser die Methode gegenüber dem Gegenstand verselbständigt: »So legitim Methode als Gegenmittel gegen unkritisches Drauflosdenken bleibt, sie wird selbst zum Falschen, sobald sie, bestimmbar, der Wechselwirkung mit dem Gegenstand sich entäußert und sich nach ihren eigenen Maßstäben unverrückbar einrichtet, anstatt in dem sich zu reflektieren, worauf sie geht« (A 8: 264; Hvm). Die Verselbständigung der soziologischen Kategorien zeichne verantwortlich für einen ›monströsen‹ Charakter der Kategorien, in dem sich der unbegriffene Gegenstand selbst niederschlägt: »Der von der Methode gering geschätzte Inhalt kehrt verzerrt wieder in Monstrositäten, ohne die keine Theorie jenes Typus auskommt und ohne den sie kaum zum Faszinosum würde« (ebd.; Hvm). Adornos Kritik der Soziologie verfolgt die Strategie, einerseits die Schwachstellen und damit den monströsen Charakter verstehender und strukturalistischer Theorie aufzuspüren und diese als falsche ›Reflexe‹ auf die Wirklichkeit darzustellen. Es gelte zu verdeutlichen, inwiefern »in den verschiedensten Methoden Grundstrukturen der Gesellschaft zum Ausdruck« (E: 143) kommen, d.h., dass »in den methodischen Problemen, die die Soziologie stellt, immer auch sachliche Dinge sich durchsetzen« (E: 139). Andererseits versucht Adorno ebenso, realistische Momente herauszustreichen und festzuhalten, in denen die Theorien etwas von der Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Anforderungen an deren theoretische Reflexion treffen. In dieser Hinsicht ist Adornos Auseinandersetzung mit der Soziologie analog seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie alles andere als dogmatisch. Im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Soziologie Max Webers streicht Adorno verschiedene Aspekte heraus, in denen sich innerhalb der Ausformulierung der Weberschen Theorie die unausweichliche Erfahrung gesellschaftlicher Objektivität geltend macht, so z.B. im zentralen Stellenwert des Begriffs der Zweckrationalität (vgl. A 8: 86), dem Begriff der Deutung (vgl. E: 179f.) oder der logischen Verknüpfung der Idealtypen (vgl. E: 200ff.) und der Bürokratisierungs-These (vgl. A 10.2: 774f.; vgl. A 8: 124f.). Adorno zielt in seiner Kritik an Weber darauf ab, auszuweisen, inwiefern sich die reale Struktur der Gesellschaft bis in die Spitzen der handlungs-
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theoretischen Theoriekonstruktion durchsetzt. In der Vorlesung zur Adornos Kritik Einleitung in die Soziologie von 1968 hebt Adorno im Zusammen- der Soziologie hang mit seiner Kritik an Weber hervor, dass »die Strukturiertheit der Sache selbst, des Objekts, sich so durchsetzt, daß dann in diesen operationell definierten Begriffen [den Idealtypen, L.M.] etwas von der objektiven Struktur durch ihre eigene strukturelle Bestimmtheit sich durchsetzt, was nach den Spielregeln dieser Art von Wissenschaft eigentlich gar nicht der Fall sein darf« (E: 208; Hvm). Adorno sucht in dieser Hinsicht also bei Weber nach denjenigen »Dingen, die seiner eigenen offiziellen Methodologie widersprechen« (E: 201), v.a. insofern, als Weber zu diesen Widersprüchen vom Gegendstand selbst gedrängt wird. Webers Soziologie erfüllt für Adorno prototypisch das Kriterium einer »Soziologie ohne Gesellschaft« (SE: 16; A 8: 57) und wird subsumiert unter die Kategorie des »Sozialnominalismus« (B: 502). Adorno urteilt eindeutig: Weber »ist ein Nominalist, also traut er dem Begriff keine objektive Bedeutung zu […]« (E: 177; vgl. auch E: 207). Die Objektivität, die es nach Weber geben kann, ist allein eine der Methode. Erst die begrifflichen Systematisierungen der Theorie bringen Strukturen in das ansonsten heterogene und insofern strukturlose Kontinuum der sozialen Wirklichkeit. Die begrifflichen Ordnungsschemata entwickelt Weber v.a. in seiner Wissenschaftslehre. Die Webersche Objektivitätsauffassung zieht sich zusammen in der Lehre vom Idealtypus. Adorno betont, dass der heuristische Stellenwert der Weberschen Idealtypen zu registrieren sei (vgl. E: 201). Er kritisiert jedoch, dass in der Lehre vom Idealtypus mehr zum Ausdruck komme als die ordnende, subjektive Vernunft des Theoretikers, dass Weber über sein eigenes erkenntnistheoretisches und methodologisches Verdikt hinausgetrieben werde. Dies demonstriert Adorno an Webers Herrschaftssoziologie. So deuteten die im Kontext der idealtypisch konstruierten Herrschaftssoziologie analytisch ausgewiesenen Übergänge zwischen Idealtypen auf objektive, historische Zusammenhänge hin (vgl. E: 207). Adorno ist nun weiterhin der Auffassung, dass der Begriff der Rationalität es Weber erlaube, sich von der Psychologie abzugrenzen. Adorno zeigt auf, dass Webers Ansatz der soziologischen Deutung, indem in ihm die Kategorie der sozialen Rationalität ins Zentrum gerückt würde, anti-psychologische Konnotationen beinhalte. Zugleich schlügen sich in der Zentrierung der handlungstheoretischen Kategorien um den Begriff der Rationalität die Strukturmerkmale der Gesellschaft in der Theoriekonstruktion selber nieder. Indem Weber »die Deutung eigentlich beschränkt hat auf Rationalität, also auf eine rationale Zweck-Mittel-Relation, die in diesem subjek-
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tiven Handeln soll festzustellen sein; und da ja Rationalität selber, wie die Psychologie uns lehrt, nichts anderes ist als Realitätsprüfung, so reicht in diesem Begriff der Deutung die gesellschaftliche Objektivität, an der sich das subjektive Handeln jeweils zu orientieren hat, hier, durch diese sehr geniale Vermittlung, durch den Rationalitätsbegriff, in die subjektiv konzipierte Soziologie von Max Weber seht tief hinein« (E: 179).59 Im Zusammenhang mit seiner Herausbildung der ›Kategorien der verstehenden Soziologie‹ räumt Weber in seiner Rationalitätskonzeption der Kategorie der Zweckrationalität eine exponierte Stellung ein. Der Argumentation Adornos zufolge spiegelt sich in dieser genuin handlungstheoretischen Konstruktion der Idealtypenlehre selbst noch nichts Geringeres als die Erfahrung der Struktur der Gesellschaft. Im Postscriptum von 1966 heißt es: »Auch wo das Individuum individuell, doch im Sinne Max Webers gesellschaftlich handelt, ist das Organ solchen Handelns, die ratio, wesentlich gesellschaftliche, nicht psychologische Instanz. Darum hat die Webersche Verstehenslehre den Begriff der Zweckrationalität ins Zentrum gerückt« (A 8: 86). Adorno vertritt hier also die Auffassung, dass sich in der Konstruktion der handlungstheoretischen Kategorien nichts Geringeres als die Erfahrung des Vorrangs der Struktur niederschlägt. Für Adorno selbst wäre die Allgemeinheit des zweckrationalen Handelns, welche die Bedingung der Möglichkeit der Formulierung soziologischer Handlungstheorien überhaupt ist, ein Hinweis auf die Existenz einer ›verselbständigten‹ Gesellschaftsstruktur. Und es wäre Aufgabe einer Theorie der Gesellschaft, die Allgemeinheit des zweckrational-strategischen Handelns aus der Struktur der Gesellschaft abzuleiten. In einer seiner letzten Arbeiten, den Marginalien zu Theorie und Praxis, vertieft Adorno die Stoßrichtung dieser Kritik, indem er darauf hinweist, wie sich innerhalb Webers Rationalitäts- und Rationalisierungstheorie die Verkehrung von Zwecken und Mitteln bzw. die Verselbständigung der Mittel gegenüber den Zwecken zeigt. Insbesondere in den Tendenzen zur zunehmenden Bürokratisierung schlägt die ›Irrationalität‹ der verselbständigten Struktur in einer Weise durch, der sich auch Weber in seiner Gesellschaftsanalyse nicht versperren konnte. Zu Beginn seiner Kritik streicht Adorno die strukturellen Implikationen der verabsolutierten Handlungstheorie heraus: »Wie bekannt, heißt Rationalität, das Zentrum der gesam59 | Adorno begreift den Begriff der Rationalität als Schlüsselbegriff der Weberschen Theorie. Die Form der Rationalität ist für Adorno eine zentrale Schnittstelle zwischen Handlung und Struktur (vgl. E: 141).
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ten Arbeit Webers, bei ihm vorwiegend soviel wie Zweckrationalität. Adornos Kritik Sie wird definiert als Relation zwischen angemessenen Mitteln und der Soziologie Zwecken […]. Ihre Allgemeinheit, die Weber zupaß kam, weil sie ihm die Abhebung von Psychologie gestattete, hat sie über ihren unmittelbaren Träger, den einzelnen Menschen hinaus erweitert. Das emanzipierte sie, wohl seit es sie gibt, von der Zufälligkeit individueller Zwecksetzung. Das sich selbst erhaltende Subjekt der ratio ist in seiner immanenten, geistigen Allgemeinheit ein real Allgemeines, die Gesellschaft« (A 10.2: 774f.; Hvm). Nun habe Weber jedoch sein handlungstheoretisches Rationalitätskonzept selbst nicht durchhalten können und auf eine monströse Begrifflichkeit rekurriert: »Weber hat, als getreuer Schalltrichter seiner Klasse, das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität auf den Kopf gestellt. Wie zur Rache schlägt bei ihm, wider seine Intention, die Zweck-Mittel-Rationalität dialektisch um. Die von Weber mit offenem Schauder prophezeite Entwicklung der Bürokratie, der reinsten Form rationaler Herrschaft, in die Gesellschaft des Gehäuses ist irrational. Worte wie Gehäuse, Verfestigung, Verselbständigung der Apparatur und ihre Synonyma indizieren, daß die damit bezeichneten Mittel sich zum Selbstzweck werden, anstatt ihre Zweck-Mittel-Rationalität zu erfüllen« (ebd.; Hvm). Dieser hier beschriebene Zusammenhang der Zweck-Mittel-Verkehrung, d.h. der Verselbständigung der Mittel gegenüber den Zwecken, ist nach Auffassung Adornos ein konstitutives Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Sie enthält in all ihrer Rationalität zugleich ein konstitutives Moment von Irrationalität, insofern sie reale Verselbständigung sein soll. Adorno reflektiert dies dementsprechend in seiner methodologisch konnotierten Kritik, die Gesellschaft sei »verstehbar und unverstehbar in eins« (A 8: 295), bzw. »hebt die Reflexion auf Gesellschaft dort an, wo Verstehbarkeit endet« (A 8: 12). Bezogen auf Weber heißt es demgegenüber: »Weber erkannte so durchdringend wie für seine Konzeption konsequenzlos, daß die von ihm beschriebene und verschwiegene Irrationalität aus der Bestimmung von ratio als Mittel, ihrer Abblendung gegen Zwecke und gegen das kritische Bewußtsein von ihnen folge. Die resignative Webersche Rationalität wird irrational gerade dadurch, daß, wie Weber in wütender Identifikation mit dem Angreifer postuliert, ihrer Askese die Zwecke irrational bleiben. Ohne Halt an der Bestimmtheit der Objekte, entläuft ratio sich selbst: ihr Prinzip wird zu einem schlechter Unendlichkeit« (A 10.2: 775; Hvm). Adorno sieht hier bei Weber etwas wirken, was er auch, wie sich noch zeigen wird, gegen Durkheim geltend gemacht hat: indem die reale Struktur des Objekts in die Analyse einbricht, kommt es zur ›Identifikation mit dem Angreifer‹. Die Erfahrung des
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Vorrangs der Struktur kann nicht selbstbewusst gemacht und verarbeitet werden. Und dennoch hebt Adorno ein Moment der Weberschen Theoriekonzeption hervor, das sich bei Durkheim nicht findet, nämlich das bei Weber zumindest implizit vorhandene Programm, nach dem an die Handlungsorientierungen der Einzelnen anzuknüpfen sei. Weber »hat also sozusagen die Reduktion der Institutionen auf Menschliches ungewollt, implizit dadurch vollzogen, daß er die Forderung aufgestellt hat, man müsse alles Soziale verstehen können, und hat dabei sehr folgerecht eben des Mediums sich bedient, das tatsächlich den Subjekten und den objektivierten, vergegenständlichten Institutionen […] gemeinsam ist, eben, Rationalität« (E: 141; Hvm). Adornos Kritik zufolge muss Webers Theorie gelesen werden als krampfhafter Versuch, die Gesellschaftsstruktur aus dem Bewusstsein und damit auch aus der Erfahrung zu verbannen. Dabei zeigt Adornos Argumentation, dass dieses Weber bis in die subtilsten wissenschaftstheoretischen Erörterungen hinein misslungen ist. Webers ›Immunisierung gegen Erfahrung‹ ist demnach in der Weise janusköpfig, dass sie letztlich nur das eigene theoretische Bewusstsein beruhigt, am Ende aber vor ihrem eigentlichen Gegenstand doch nur analytisch resignieren kann. Die Inkonsistenz der reinen Handlungstheorie bei Weber kann nun allerdings von Adorno zugleich als Hinweis auf die Notwendigkeit des Rekurses auf einen objektiven Begriff der Gesellschaft gelesen werden. 60 Adornos Kritik an Durkheims strukturalistischer Soziologie | Adorno stellt seiner Explikation des ambivalenten Verhältnisses von Handlung und Struktur in der handlungstheoretischen Soziologie Max Webers die Explikation des ebenso ambivalenten Charakters der Konstruktion von Individuum und Gesellschaft in der strukturalistischen Soziologie Durkheims an die Seite. Allerdings stellen sich die Defizite bei Durkheim in diametral entgegengesetzter theoretischer Richtung dar. Durkheims Theorie sei, so Adorno, durch eine grundsätzliche Paradoxie gekennzeichnet, insofern Durkheim zwar die Existenz von gesellschaftlicher Objektivität voraussetze, diese jedoch nicht als durch das Handeln der Individuen vermittelte denken könne: »Die Unmöglichkeit, das, was seiner Begierde nach Begründung der Eigenständigkeit der Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methode sozial dünkt, zum principium individuationis zu vermitteln, nötigt ihn zum spekulativen Gewaltstreich 60 | Dies kennzeichnet m. E. deutlich die Stoßrichtung der Argumentation in der Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie.
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der Hypostase des kollektiven Bewußtseins. Er war dadurch dem heu- Adornos Kritik te zur fast ausschließlichen Herrschaft gelangten Hauptstrom des der Soziologie Positivismus soweit überlegen, wie er die Phänomene gesellschaftlicher Institutionalisierung und Verdinglichung, die bei jenem hinter den nachträglich als statistische Elemente aufbereiteten Menschen zurücktreten, unvergleichlich viel nachhaltiger hervorhob« (A 8: 250; Hvm). Am Ende seiner Auseinandersetzung mit Durkheim schreibt Adorno: »Weder wahr noch bloß unwahr ist Durkheims Soziologie; vielmehr schiefe Projektion der Wahrheit auf ein Bezugssystem, das selbst in den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang fällt« (A 8: 279). Was führt Adorno zu dieser Einschätzung, Durkheim teile v.a. mit jeder anderen bürgerlichen Theorie ein ›Desinteresse an Erfahrung‹ (vgl. A 8: 265)? Anders als Adorno selbst ist Durkheim, analog der ›bürgerlichen‹ Theorie überhaupt, nicht mehr daran interessiert, was, d.h. welcher Erfahrungsgehalt, ihn überhaupt dazu bewegt, auf eine Vorstellung sozialer Objektivität zu rekurrieren. Diese unkritische Haltung gegenüber der eigenen, theoriekonstitutiven Erfahrung führt, nach Adorno, dazu, dass die Erfahrung der Gesellschaft unreflektiert verarbeitet wird, dass die Konstituiertheit und Eigenstruktur der ›Vormacht des Allgemeinen‹ vergessen wird und die Struktur in einem affirmativen und harmonistischen Begriff gesellschaftlicher Objektivität gerinnt. In dieser Hinsicht vollzieht die strukturalistische Theoriebildung die »Wiederholung von Verdinglichung« (E: 67). Deutlich ablesen lässt sich dies an der Unfähigkeit Durkheims, Rationalität und Struktur in seiner theoretischen Konzeption zu vermitteln. Adorno attestiert Durkheim in diesem Zusammenhang folglich einen einseitigen Begriff gesellschaftlicher Individuierung. Durkheims Fassung von Individualisierung als eines genuin gesellschaftlichen Vorgangs bleibt auf halbem Wege stehen: »Wohl hat Durkheim, anders als die empirischen Forscher, doch im Einklang mit der großen philosophischen Überlieferung, erkannt, daß das Individuum selbst eine soziale Kategorie, daß es durch Gesellschaft vermittelt ist. Daß aber diese Vermittlung wiederum auch des Vermittelten bedarf; daß die kollektiven Gebilde ohne individuellen Gegenpol so wenig wären wie dieser ohne gesellschaftlich Allgemeines, verleugnet er krampfhaft. […] Die abstrakte Negation der gängigen Ansicht von der Gesellschaft als einem Agglomerat von Individuen wird zur gleichermaßen abstrakten Affirmation des ihnen Vorgeordneten. Er mildert sie eben nur peripher durch die Einsicht, Individuation selber sei kollektiv bedingt. Durkheim bietet im wissenschaftlichen Bereich ein eindringliches Modell dessen, was die
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Die Soziologie Adornos
Freudsche Psychologie Identifikation mit dem Angreifer nennt. Vermutlich sog seine Schule aus solchem Bodensatz von Monomanie ihre sektenhafte Attraktionskraft« (A 8: 251; Hvm). Adorno kritisiert hier, dass Durkheim zwar das Individuum als ein durch vorgängige gesellschaftliche Allgemeinheit individuiertes begreift, dass er aber nichts darüber auszusagen vermag, wie sich gesellschaftliche Objektivität aus den rationalen sozialen Handlungen ergibt.61 Mit dieser Kritik benennt Adorno ein konstitutives Merkmal funktionalistischen Denkens überhaupt. Durkheims Objektivitätsbegriff der Gesellschaft ist gebunden an seinen Begriff der ›faits sociaux‹. 62 In ihm drückt sich nach Adorno die Erfahrung des ›Vorrangs der Struktur‹ aus. Das im Begriff der ›sozialen Tatsachen‹ ausgesprochene anti-konstitutionstheoretische Postulat der Unverstehbarkeit ist, Adorno zufolge, abstrahiert von der Erfahrung des Zwangscharakters der gesellschaftlichen Dynamik als der fundamentalen Bestimmtheit des Objekts selbst: »Durkheims Begriff der faits sociaux ist durchaus aporetisch: er transponiert Negativität, die Undurchsichtigkeit und schmerzhafte Fremdheit des Sozialen für den einzelnen, in die methodische Maxime: du sollst nicht verstehen. […] Dabei verkörpert sich in der Doktrin von den faits sociaux ein Erfahrenes. Was dem Individuum gesellschaftlich widerfährt, ist ihm tatsächlich soweit unverständlich, wie das Besondere nicht im Allgemeinen sich wiederfindet: nur eben wäre diese Unverständlichkeit von der Wissenschaft zu verstehen, anstatt daß diese sie als ihr eigenes Prinzip adoptierte« (A 8: 240; Hvm). Ebenso wie Adorno Webers Soziologie zugute hält, dass sie das Programm der Dechiffrierung von Institutionen enthält, so hebt er den anti-nominalistischen Charakter der Durkheimschen Soziologie positiv hervor: »Ungeschmälert bleibt sein Verdienst, daß er, wenngleich vergebens, durch seine Lehre vom Kollektivbewußtsein so energisch die Soziologie wider den vulgären Nominalismus impfte« (A 8: 255). Adorno kann an Durkheim genauso wie an Webers Aporien seine eigene ›objektivistische‹ Perspektive des Objektbereichs bestätigen, ohne dabei jedoch zu vergessen, dass dieser Objektbereich als Gegenstand der Theorie in Erfahrung fundiert sein muss, dass also der ›Zwangscharakter‹ der Produktionsverhältnisse, den die Erfahrung preisgibt, nicht durch die Methode nivelliert wer61 | Dies verbindet später auch Luhmann mit Durkheim. 62 | Luhmann wird später den Begriff der ›Kommunikation‹ für die konstitutiv soziale, jenseits von Psyche und Physis angesiedelte Seinsweise der Gesellschaft einführen.
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den darf, und dass der spezifische Charakter des Objekts mit dem Adornos Kritik rationalen Handeln der Subjekte vermittelt werden muss. Durkheim der Soziologie jedoch sei auf halber Strecke stehen geblieben: »Es ist nämlich so, daß Durkheim, der das Unverstehbare im ›Chosisme‹ geltend macht, der also sagt, daß Soziologie eigentlich dort ihren wahren Gegenstand fände, wo Verstehbarkeit aufhöre, damit ein Moment der Vergesellschaftung getroffen hat: nämlich die institutionelle Verselbständigung des vom Menschen gemachten gegen die Menschen; nur, daß er dieses Moment hypostasiert hat […]« (E: 139f.; Hvm). Insofern dies zutrifft, hat Durkheim, Adorno zufolge, die Gesellschaft »mystifiziert« (A 8: 252). So heißt es auch: »Indem die Methode sich desinteressiert an gesellschaftlicher Erfahrung, die nicht dem von ihr gesetzten Begriff der sozialen Tatsache genügt, wird übergegangen zum Phantasma von der schlechthinnigen Selbständigkeit des Kollektiven« (A 8: 265; Hvm). Es lässt sich festhalten: die Erfahrung des »höllenhafte[n], zwangshafte[n] Charakter[s] des Ganzen« (E: 144) ist keineswegs bloß eine subjektive, idiosynkratische Marotte des kritischen Denkens. Vielmehr ist die Erfahrung vorgängiger gesellschaftlicher Objektivität offensichtlich jeglicher Theoriekonstruktion immanent: Verbietet soziologische Theorie es sich handlungstheoretisch, ein gesellschaftlich Allgemeines zu denken, so wird sie doch in verschiedener Hinsicht genötigt, Objektivität vorauszusetzen und zu konstatieren (z.B. als Präponderanz des zweckrational-strategischen Handelns oder als ›Bürokratisierung‹). Verbietet soziologische Theorie es sich strukturalistisch, das überindividuelle Allgemeine als ein immer schon verselbständigtes zu denken, indem sie in agnostizistischer Weise auf den Anspruch auf dessen rationale Ableitbarkeit verzichtet, so verdrängt sie die Wirklichkeit des Allgemeinen. In beiden Fällen ist also die ›Vormacht des Allgemeinen‹ in gleichermaßen prekärer Weise in den theoretischen Denkformen omnipräsent. Beide Varianten der soziologischen Theoriebildung, Handlungstheorie und Strukturtheorie, sind, indem sie je nachdem eine Seite der Verselbständigung, das soziale Handeln oder die Struktur, verabsolutieren, nicht in der Lage, das reale Verhältnis von Rationalität, Institutionen und gesellschaftlicher Eigendynamik kategorial einzuholen. Infolgedessen sind beide Paradigmen nicht mehr in der Lage, der Erfahrung der virulenten Vormacht des Strukturellen zumindest problemorientiert gegenüberzutreten. Im Gegenteil: beide Theorieentwürfe bringen die konstitutive Differenz von Begriff und Sache auf je unterschiedliche Art zum Verschwinden. Der ›gesellschaftliche Lebenszusammenhang‹ entschwindet dadurch dem Be-
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griff, dass der Begriff im einen Fall als Eigenschaft der Sache selbst genommen wird, oder dass im anderen Fall die Methode in der Weise verselbständigt wird, dass sie das Objekt selbst zum Verschwinden bringt. Das Beharren auf der Notwendigkeit der kritischen Reflexion des Verhältnisses von Begriff und Erfahrung begründet demgegenüber das Programm, das zu einer dialektischen Gesellschaftstheorie treibt. Die dialektische Theorie der Gesellschaft muss ›Verstehbares‹ und ›Unverstehbares‹, Individuum und Gesellschaft, Handlung und Struktur miteinander vermitteln können (vgl. E: 142), das bedeutet, eine sich im Medium der rationalen Motivierung vollziehenden Individuierung und Individualisierung unter den Vorzeichen der Durchsetzung verselbständigter Strukturen denken können. Im Gegensatz dazu bedeutet soziologische ›Verdinglichung‹, dass die existierenden Widersprüche als objektive Grundlage jeglicher Vorstellung von Objektivität und Rationalität durch Analogiebildungen ›mystifiziert‹ respektive aus methodischen Gründen ›weggedeutet‹ (vgl. E: 18) werden und dass dabei Individuum und Gesellschaftsstruktur allein äußerlich aufeinander bezogen werden können. Insofern demgegenüber die Theorie mit einem kritischen Bewusstsein ausgeht von »einer objektiven Struktur der Gesellschaft« (E: 143) mit den angegebenen Bestimmungen und auf deren konstitutiver und konstituierender Vermitteltheit mit den rationalen Handlungen vereinzelter Individuen insistiert, sieht Adorno in einer solchen Konzeption zumindest »eine größere Konsequenz des Gedankens« (E: 142).
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M ONSTROSITÄTEN DIFFERENZIERUNGSTHEORETISCHER B EGRIFFSBILDUNG BEI L UHMANN UND H ABERMAS UND DIE DURCH M ARX ERÖFFNETE P ERSPEKTIVE DER A UFLÖSUNG Soziale Differenzierung bei Hegel und Parsons Hegels Theorie des objektiven Geistes | Hegels praktische Philosophie besetzt einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie der politischen Philosophie und Gesellschaftstheorie. Hegel unterscheidet als erster Theoretiker systematisch zwischen politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft, seine Theorie gilt damit als Ausdruck eines elaborierten Selbstbewusstseins der sich herausbildenden modernen Gesellschaftsstruktur (vgl. Habermas 1963a und 1985a; Luhmann 1987; MEW 1).1 Der Hegelsche Holismus in der praktischen Philosophie ist der erste systematische Gegenentwurf zum Atomismus der ihm vorausgegangenen Naturrechts- und Vertragstheorien von Hobbes bis Kant. Hegel überführt die klassische politische Philosophie in Gesellschaftstheorie und zwar unter Einbindung auch der klassischen Politischen Ökonomie.2 In Hegels Rechtsphilosophie fließen die moralphilosophischen, ökonomischen und staatsrechtlichen Fragestellungen zu der bis dato einzigen entfalteten dialektischen Theorie der Gesellschaft zusammen. 1 | Habermas verweist auf Thomas Paine, bei dem sich zumindest implizit die Unterscheidung bereits vor Hegel findet, nämlich Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Habermas 1963a: 100f.). 2 | »Hegels Rezeption der Nationalökonomie in ihren fortgeschrittensten Gestalt der englischen Klassiker von James Steuart bis Adam Smith und (in der Rechtsphilosophie von 1821) David Ricardo hat in der zeitgenössischen Philosophie des deutschen Idealismus keine Parallele« (Riedel 1970: 816). Insbesondere die pessimistischen Töne, die Hegel in der Rechtsphilosophie anschlägt (vgl. § 244, § 246, § 248), verdanken sich dem Einfluss der Theorie Ricardos (vgl. hierzu auch Riedel 1970).
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Monstrositäten Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, wie sie in der differenzierungs- Rechtsphilosophie zum Ausdruck kommt3 , ist eingebettet in Hegels theoretischer Stufenkonzeption des Geistes. Den Gegenstand der Praktischen PhiBegriffsbildung losophie bzw. Gesellschaftstheorie Hegels bildet die ›Sphäre des objektiven Geistes‹, der »Lebenszusammenhang der Institutionen« (Habermas 1966: 155). Die ›Objektivität‹ dieses Geistes besteht, der Rechtsphilosophie zufolge, aus einem Konglomerat von sozialen Prinzipien – Normen und sozialen Lebensformen (vgl. Ritsert 2001: 46ff.) –, die als Formen existierender Vernunft im Bewusstsein der handelnden Subjekte, objektiv existent und wirksam sind. Die Sphäre des objektiven Geistes umfasst dabei all jene Normen, Handlungsorientierungen und sozialen Zusammenhänge, die sich als relativ stabil in der Zeit herausstellen. Innerhalb dieser Konstellation trennt Hegel bezogen auf die Moderne explizit zwischen politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Deren Wirklichkeit wird im Rahmen der Rechtsphilosophie eine Präponderanz gegenüber den anderen Momenten des ›objektiven Geistes‹ zugesprochen: als wesentliche Gestaltungen der ›Sittlichkeit‹ stellen sie die Objektivität allgemeiner Prinzipien vor, die die Willkür und Besonderheit der einzelnen Subjekte – den Bestimmungen ihres abstrakten Rechtsbewusstseins und ihrer Moral – vollständig übergreifen. Das Subjekt ist – als vernünftiges und freies – in ihnen unlösbar verklammert. Dieser Hegelschen Konzeption liegt ein spezifischer Erfahrungsgehalt zugrunde. Hegel entwickelt seinen Gesellschaftsbegriff einerseits mit dem Wind der französischen Revolution im Rücken, andererseits hat er die fortschreitende Auflösung der feudalen Herrschaftsverhältnisse in England vor Augen. Wobei nicht übersehen werden darf: Hegel schreibt zum einen vor der industriellen Revolution und geht zum anderen in diesem Zusammenhang auch in der Rechtsphilosophie noch von Ständen und nicht von ökonomischen Klassen aus (vgl. Habermas 1966: 167f.; auch Riedel 1970: 818). 4 Die französische Revolution kennzeichnet den Beginn einer Bewe3 | Die Trennung von Staat und Gesellschaft wird allein schon in der Gliederung der Rechtsphilosophie deutlich, ist aber auch § 157, § 182ff., § 256, § 260f. zu entnehmen. Die exponierte Stellung von Staat und Gesellschaft bei Hegel innerhalb dessen Konzeption des objektiven Geistes lässt sich vielleicht auch schlicht der Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als Not- und Verstandesstaat entnehmen. 4 | Im Gegensatz zur Auffassung von Schnädelbach, dass Marx bei Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft ›nur noch abschreiben mußte‹ (vgl. Schnädelbach 1999), ist darauf zu insistieren, dass Marx und Hegel sich in diesem Punkt erheblich unterscheiden.
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gung der Kodifizierung, die Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Code Civil erstmals bürgerliche Freiheitsrechte umfassender institutionalisiert.5 Diese Erfahrung ist wesentlich dafür, dass Hegel die Trennung von Staat und Gesellschaft ›auf den Begriff‹ bringen kann. So hält auch Riedel fest: »Hegel [geht], unter dem Eindruck der geschichtlichen Erfahrung der Französischen Revolution, davon aus, daß ihre Entzweiung [jene von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, L.M.] als Prinzip der Differenz anzuerkennen und theoretisch zur Geltung zu bringen sei« (Riedel 1970: 815; Hvm). Hegel löst sich angesichts des historischen Erfahrungshorizonts endgültig vom Ideal eines sozialen Lebenszusammenhangs analog der antiken Polis, das er in seinen Jugendschriften noch nachdrücklich verfolgte.6 Die Trennung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft, letzteres von Hegel vorgestellt als ein ›System der allseitigen, ökonomischen Abhängigkeit‹, wird von Hegel als notwendig und unhintergehbar anerkannt, wobei der politische Staat als notwendiges gesellschaftliches Korrelat zur bürgerlichen Gesellschaft gedacht wird, insofern in ihm die in der bürgerlichen Gesellschaft noch mangelhaft realisierte Vernunft zu sich selbst, d.h. zu einer eigenständigen und entwickelteren Gestalt der ›Sittlichkeit‹ findet. Die Hegelsche Konzeption der Theorie des objektiven Geistes und deren begriffliche Ausgestaltung in der Rechtsphilosophie kann nun vor dem Hintergrund des Adornoschen Theoriebegriffs als Ausdruck der Hegelschen Verarbeitung der Erfahrung gesellschaftlicher Objektivität verstanden werden. Die Rechtsphilosophie muss in einer solchen Hinsicht in de-ontologischer Weise als Reflexionsform der ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹ gelesen werden, die Hegel als Zeitzeuge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der sich aus dieser ergebenden bürgerlichen Revolutionen im Gegensatz zu seinen Vorgängern in einzigartiger Weise möglich gewesen ist. Die bei Hegel im Medium seiner idealistischen Philosophie getroffene Unterscheidung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft wird vor allem tradiert bei Marx, Lorenz von Stein und in Teilen der westlichen, an Marx anknüpfenden Theoriebildung (z.B. in der so genannten ›Staatsableitungsdebatte‹, aber auch bei Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns). In Deutschland wird der staatstheoretische Diskurs erst nach 1945 wieder auf5 | Die Freiheit und Gleichheit der Rechtspersonen gilt zunächst natürlich ausschließlich unter den männlichen Erwachsenen. 6 | Vgl. zur Entwicklung der praktischen Philosophie beim jungen Hegel v.a. die Arbeit von Eichenseer 1989.
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Soziale Differenzierung bei Hegel und Parsons
Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
genommen (vgl. Luhmann 1987).7 Im Zuge der staatstheoretischen Diskurse, die unter den Voraussetzungen der sich formierenden fordistischen Nachkriegsgesellschaften stattfinden, wird die von Hegel getroffene Unterscheidung für historisch überholt erachtet. 8 Eine sicherlich v.a. in den Diskussionen der 1970er Jahre auch deutlich gegen die Hegel-Marxsche Tradition gerichtete Maßnahme. Das Hegelsche Modell wird – und das ist ein sachlicher Grund, um es abzuwickeln – als Anachronismus abgestempelt, indem die Begriffe der ›Trennung‹ respektive ›Entzweiung‹, ›Verdopplung‹ – allesamt Begriffe, die denselben Sachverhalt ausdrücken – empiristisch im Sinne des Nachtwächterstaats der liberalen Ära umgedeutet werden, sodass im Anschluss an eine solche Prämisse gesagt werden kann, dass diese Trennung von Staat und Gesellschaft eben der gesellschaftlichen Realität des 19. Jahrhunderts - also Hegels Zeit – entspräche. 9 Entgegengestellt wird dem Verdopplungsmodell dann dem makrotheoretischen Selbstverständnis entsprechend häufig ein harmonistisches Modell sozialer Differenzierung. Dieser Paradigmenwechsel wird motiviert von der Erfahrung verschiedener historischer Entwicklungen. So sei die Moderne insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Staat und Ökonomie hinaus nach und nach funktional differenziere und beständig neue Teilsysteme (Religion, Politik, Wissenschaft etc.) hervorbringe. Auch sei spätestens mit der Institutionalisierung und Durchführung des Interventionsund Sozialstaatsprinzips das Differenzierungsmodell die adäquate Formulierung für die Realität liberal-kapitalistischer Gesellschaften.10 Mit dem Sozial- bzw. Interventionsstaat werde der Staat 7 | Diese Diskussionen bewegten sich zwischen den Positionen von Forsthoff und Abendroth. 8 | Im Zuge der Nachkriegsdiskussionen hat sich seit den 1970er Jahren insbesondere Böckenförde mit der Aktualität der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auseinandergesetzt (vgl. Böckenförde 1973, 1991). 9 | Die Parallele zur Fehldeutung des Marxschen Kapitals als historische Darstellung der englischen Kapitalismusentwicklung drängt sich hierbei auf. Es handelt sich jedoch beim Kapital genau wie bei der Rechtsphilosophie um die Entwicklung allgemeiner Bestimmungen. 10 | Auch bei Habermas findet sich im Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990: 22f. sowie 26f.) diese Auffassung wieder. Es geht ihm dort explizit um die Überwindung des Hegel-Modells. In seinem Philosophischen Diskurs der Moderne (vgl. Habermas 1985a: 13, 50) hatte Habermas sich noch positiver zu Hegel geäußert.
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schließlich ›unter die Gesellschaft subsumiert‹ (vgl. z.B. Katz 1989: 20f.); es finde eine »Verstaatlichung der Gesellschaft« und eine »Vergesellschaftung des Staats« (Habermas 1990: 23) statt. Den theoretischen Hintergrund jener Argumente, mit denen das mit der Hegelschen Rechtsphilosophie inaugurierte Problem der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf die eine oder andere Weise relativiert wird, bildet die Gesellschaftstheorie von Parsons. Soziale Differenzierung bei Parsons | Die zeitgenössischen differenzierungstheoretischen Begriffe der Gesellschaft gehen insbesondere auf die seit Mitte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogene soziologische Theoriebildung von Parsons zurück. Dass die Entwicklung des durch Parsons begründeten gesellschaftstheoretischen Funktionalismus zusammenfällt mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen, welche die us-amerikanische Gesellschaft nach dem New Deal ab 1930 durchläuft, dürfte kaum zufällig sein. In den USA vollzieht sich in Folge der weltwirtschaftlichen Krisendynamik der 1920er Jahre spätestens seit den frühen 1930er Jahren ein Restrukturierungsprozess ökonomischer und politischer Institutionen, der in ein spezifisches gesellschaftlich-politisches Arrangement mündet. Die charakteristischen Merkmale dieses so genannten ›New Deals‹ sind: fordistisch-tayloristische Produktionsweise, Integration der Arbeiterklasse bei steigenden Löhnen und Sozialversicherungssystemen – also wohlfahrtsstaatlich befriedeter Klassenkonflikt bei zugleich weitgehend ›durchkapitalisierten Verhältnissen‹ (Massenkonsum).11 Zu den weiteren Merkmalen gehören ein sich zunehmend ausdifferenzierendes Rechtssystem, keynesianische Globalsteuerung und fiskale Umverteilungspolitik nach innen, ebenso wie ein System fixer Wechselkurse (›Bretton Woods‹, 1944) und – nach 1945 – die Blockkonfrontation nach außen. Es lässt sich insgesamt von einem ›Primat der Politik‹ sprechen. Mit der planungseuphorischen, global gesteuerten Einrichtung der Gesellschaft geht die Etablierung der bürgerlichen Kleinfamilie und der staatlichen Bildungs- und Forschungssysteme einher. Stilisiert ließe sich hinsichtlich dieses gesellschaftlichen Zustandes von einer Gleichzeitigkeit von individualistischer Stratifikation (Zweckrationalität, Entscheidungsfreiheit) und ideologisch-kulturellem Konformismus weiter Teile der Gesellschaft (Massenkultur, Religion, 11 | Der ›New Deal‹ diente in dieser Hinsicht ebenso der Reproduktion von ökonomischen Klassenstrukturen wie er die Revolution der Arbeiterklasse zugunsten von deren Integration vermied.
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Anti-Kommunismus, Konsumideologie) in einer stark durch relativ stabile soziale Großorganisationen (Unternehmen, Verwaltungen, Parteien, gesellschaftlichen Organisationen) geprägten Gesellschaftsformation sprechen. Unter diesen fordistisch-interventionsstaatlichen Voraussetzungen findet eine neue Art soziologischer Theoriebildung statt. Insbesondere Parsons formuliert vor diesem historischen Erfahrungshintergrund seit den späten 1930er Jahren ein wirkungsmächtiges Theoriekonzept.12 Parsons’ gigantischer Anspruch der Formulierung einer allgemeinen Gesellschaftstheorie, die in der Lage ist, alle sozialen Phänomene systematisch erfassen zu können (›Grand Theory‹), hängt zugleich mit dem handfesten wissenschaftspolitischem Ziel zusammen, die Soziologie in den USA als eigenständige Disziplin zu etablieren (vgl. Korte 1995). Die Diskurshoheit der Parsonsschen Theorie hält sich von den 1940ern bis in die 1970er Jahre, wo sie sich einer harschen Kritik seitens radikaler individualistischer Theoretiker (etwa Homanns) ausgesetzt sieht. Die kritische Weiterentwicklung Parsonsscher Theoriekonzepte, die insbesondere in der bundesdeutschen Soziologie stattfindet, fällt zusammen mit der Krise des Fordismus und der Restrukturierung der Weltwirtschaft seit Ende der 1960er Jahre. 13 Wie keine soziologische Theorie zuvor bewegt sich Parsons’ Theoriebildung im Spannungsfeld von Handlungstheorie und Strukturtheorie. Leitmotiv der Parsonsschen Theorie ist die Erklärung des Zustandekommens und die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Parsons setzt dabei mit der Begründung eines genuin soziologischen Handlungsbegriffs an. Zugleich sieht er die Notwendigkeit der Integration einer Konzeption von Gesellschaftsstruktur. Dabei 12 | Parsons’ Entwicklung der soziologischen Differenzierungstheorie verläuft seit den späten 1930er Jahren zugleich, auch das sollte nicht übersehen werden, parallel zur Entwicklung der Kritischen Theorie. 13 | Es wäre sicherlich sinnvoll, die werkimmanente Entwicklung des Parsonsschen Denkens systematisch unter dem Gesichtspunkt zu untersuchen, inwiefern sich in der Entwicklung soziologischer Kategorien veränderte historische Dynamiken geltend machen. Es sei hier weiterhin darauf hingewiesen, dass es nach dem Ende des Faschismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Blockkonflikt gekommen ist. Der Generalkonsens der unter den fordistisch-interventionsstaatlichen Voraussetzungen herausgebildeten Gesellschaftstheorie von Parsons über die Kritische Theorie, Habermas sowie die Systemtheorie und selbst noch des Neo-Institutionalismus besteht in einem expliziten Anti-Kommunismus.
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vermag Parsons den Übergang von der Handlungstheorie zur Strukturtheorie jedoch nicht mehr konsistent zu entwickeln. Dieses systematische Defizit ist als Hintergrund neuerer Formulierungen der Differenzierungstheorie bei Habermas und Luhmann zu registrieren. Parsons’ handlungstheoretisches Theorieprogramm ist strikt anti-utilitaristisch und anti-individualistisch ausgerichtet. Als zentrales Bezugsproblem wird das so genannte ›Hobbessche Problem der Ordnung‹ ausgewiesen. Parsons sieht mit der Hobbesschen Konstruktion des Naturzustandes die Frage begründet, wie sich unter der Voraussetzung reziproker strategischer Vereinzelung ein geordneter Zusammenhang der Handlungen bilden kann.14 Dieses Hobbessche Problem und seine Parsonssche Lösung beschreibt Ritsert wie folgt: »An die Tradition der ›utilitaristischen‹ Theorie der Gesellschaft […] richtet er [Parsons, L.M.] die Frage: Wie können selbstinteressierte Einzelne, die zwar Mittel überlegt (rational) zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen, überhaupt einen gesellschaftlichen Zusammenhang herstellen und aufrechterhalten, wenn ihre heterogenen Zwecksetzungen weder innere Verbindungen aufweisen, noch von höherrangigen Vernunftprinzipien her kritisiert werden können? Parsons’ Antwort […] lautet im Telegrammstil: Nur in dem Maße, wie ein System allgemeiner Kulturwerte (common values) von den Mitgliedern einer Gesellschaft verinnerlicht wird, kommt es zu einer stabileren sozialen Ordnung (social integration)« (Ritsert 2000: 44). Der originären Fassung der Parsonsschen Handlungstheorie liegt somit zunächst die Kritik an der Verabsolutierung des anthropologischen Menschenbilds des Utilitarismus zugrunde, nach dem die Einzelnen ›Gratifikation‹ erreichen und ›Deprivation‹ vermeiden wollen. Es stellt sich für Parsons die Frage nach der ›Motivation‹ zur geordneten Handlungskoordinierung, denn strategisches Handeln allein reicht nach seiner Auffassung nicht aus, um ›soziale Ordnung‹ herzustellen, um also Konflikte und Desintegration dauerhaft zu vermeiden. Parsons vertritt, unter Rekurs auf die Individualismuskritik der soziologischen bzw. nationalökonomischen Klassiker (A. Marshall, Pareto, Weber, Durkheim) die Auffassung, dass es gemeinsam geteilter Werte und Normen bedarf, damit egoistische Einzelne dauerhaft ihre Handlungen koordinieren. Dementsprechend konzipiert Parsons im Rahmen seiner so genannten ›voluntaristischen Handlungstheorie‹ soziales Handeln als ein Ineinandergreifen von 14 | Siehe hierzu die Darstellung des ›Problems der Ordnung‹ bei Joas/Knöbl 2004: 50ff.
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zweckrational-strategischen Handlungsorientierungen und sozialen Werten und Normen. Unter der Bedingung kontingenter Handlungsoptionen werden Präferenzen durch Wertorientierungen präformiert (vgl. Habermas 1981: 33). Mit dieser Konzeption der soziologischen Handlungstheorie verarbeitet Parsons eine zentrale Problematik der Kantischen Moraltheorie (vgl. Münch 1979, Habermas 1981: 32). 15 Kern dieser Moraltheorie ist die Formulierung des ›Kategorischen Imperativs‹, in der die Wertbindung des Handelns artikuliert wird. So lautet der ›Kategorische Imperativ‹ bekanntlich: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz wird« (Kant, Werke Bd. 7: 50). 16 Diese ›kategorischen Imperative‹ unterscheidet Kant von bloß ›hypothetischen Imperativen‹, mit denen die Kontingenz und Wandelbarkeit der zweckrationalen Mittelwahl beschrieben wird.17 In seiner Formulierung des ›kategorischen Imperativs‹ bzw. in der Unterscheidung von ›kategorischem‹ und ›hypothetischem Imperativ‹ artikuliert Kant den in der Binnenperspektive der beteiligten Individuen immer schon vorgefundenen Doppelcharakter der Handlungsorientierung. Diese ist sowohl bewusst-intentional, in erster Linie strategisch orientiert, als 15 | Ich folge hier der Interpretation von Münch, nach der die »transzendentallogische [...] Argumentation Kants«, auf die Parsons im Spätwerk eingeht, »einen Schlüssel zum Verständnis seiner ganzen Soziologie« (Münch 1979: 389) darstellt. Habermas lehnt diese Interpretation eines ›Kantischen Kerns‹ der Parsonsschen Theorie ab. Er führt allerdings weniger sachliche Gründe für seine Skepsis an, sondern verweist lediglich darauf, dass sich die explizite Auseinandersetzung mit Kant allein beim späten Parsons findet (vgl. Habermas 1981: 47). Grundsätzlich konstatiert aber auch Habermas einen Zusammenhang zwischen dem Kantischen Freiheitsbegriff und der Parsonsschen Handlungstheorie (vgl. ebd.: 32). 16 | In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz« (Kant, Werke Bd. 7: 300). 17 | Zur Unterscheidung von ›hypothetischen‹ und ›kategorischen Imperativen‹ siehe Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten (vgl. Kant, Werke Bd. 7: 41ff.) sowie Psychopedis 1984: 46ff.
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auch an die unbedingte Geltung moralischer Normen gebunden. Und im Handlungsbegriff der Parsonsschen Handlungstheorie scheint sich eben genau diese Unterscheidung zwischen ›hypothetischem Imperativ‹ und ›kategorisch-normativer Verpflichtung‹ wiederzufinden (vgl. Münch 1980: 4). 18 Der Parsonsschen Handlungstheorie liegt somit zunächst Kants Verdienst zugrunde, den normativ-strategischen Doppelcharakter der Handlungsorientierung formuliert zu haben. Mit anderen Worten: In der Binnenperspektive der Beteiligten wird immer schon der Dualismus oder die Differenz von eigennützigem Interesse bzw. Kontingenz/Willkür und der ›Emergenz‹ der Normgeltung, der Sollgeltung moralischer Urteile, vorgefunden. Gegenüber einem verabsolutierten Utilitarismus ist nach Auffassung Parsons darauf zu insistieren, so Vanberg, dass die »soziologische Theorie nicht auf der Linie individualistisch-utilitaristischen Denkens betrieben werden könne, sondern als ihren Ausgangspunkt die Anerkennung der ›Realität sui generis‹ sozialer Werte und Normen zu wählen habe« (Vanberg 1975: 175). Die zentrale theoriearchitektonische Entscheidung besteht dann jedoch in Folgendem: Wie wird die interne Differenzierung der Teilnehmerperspektive, wie sie bereits in der Formulierung des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt, soziologisch thematisiert? Wird die Objektivität und Allgemeinheit der Normgeltung konstitutionstheoretisch erfasst oder lediglich äußerlich aufgegriffen und in objektivistischer Weise bearbeitet? Letzteres scheint bei Parsons der Fall zu sein. Denn zunächst thematisiert Parsons im Rahmen seiner Handlungstheorie nicht, wie die Genese der Sollgeltung von Normen zu denken ist. Die von Parsons prätendierte Einführung des Systembegriffs vollzieht sich sodann unter der Voraussetzung, dass Parsons die von ihm seit den frühen 1950er Jahren 18 | Auch noch im Rechtsbegriff, wie Kant ihn in der Metaphysik der Sitten in verschiedenen Formulierungen entfaltet, spiegelt sich der mit der Geltung der Werte verbundene Doppelcharakter der bewusst-intentionalen Handlungsorientierung wieder. So charakterisiert Kant das »allgemeine Rechtsgesetz« wie folgt: »Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle [...]« (Kant, Werke Bd. 8: 337f.). Zu den Formbestimmungen des Rechts vgl. Abschnitt S. 263ff. dieser Arbeit.
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Soziale Differenzierung bei Hegel und Parsons
Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
anvisierte Theorie sozialer Ordnung nicht befriedigend mit seiner Handlungstheorie vermitteln kann. Die spätere Theorie des ›Handlungssystems‹ sowie der darauf aufbauende Begriff der Gesellschaft sind vielmehr Ausdruck eines konstitutionstheoretischen Defizits: der für die Handlungstheorie charakteristische Dualismus von strategischer Willkür und moralischer Verpflichtung wird in objektivistischer Weise zur Unterscheidung von ›Persönlichkeitssystem‹ und ›Gesellschaftssystem‹ fortgebildet. Unter der Voraussetzung, dass der Übergang von der Handlungstheorie zur Systemtheorie nicht mehr konsistent entwickelt werden kann, ist Parsons genötigt, einen letztendlich reifizierenden soziologischen Gebrauch erfahrungswissenschaftlicher Kategorien zu machen. Die Begründung der soziologischen Systemtheorie trägt somit diesen fundamentalen Kategorienfehler an sich. Parsons macht also insgesamt eine erhebliche Theorieevolution durch: so steht am Anfang der Parsonsschen Theorieentwicklung eine an Kant angelehnte Handlungstheorie (›voluntaristische Handlungstheorie‹) 19, später formuliert er darauf aufbauend seine strukturfunktionalistische ›Theorie des Handlungssystems‹ (vgl. Münch 2003: 56), schließlich formuliert er eine immer formalistischere systemfunktionalistische Fassung der Systemtheorie, wobei er hierbei als erster einen systematischen Gebrauch des Systembegriffs macht (vgl. TkH I: 299).20 Am Ende steht somit der erste systematisch durchkomponierte systemtheoretische Entwurf der Gesellschaftstheorie, der dann in der Soziologie nach Parsons insbesondere in der bundesdeutschen Soziologie gerade im Zuge der Erosion der fordistischen Gesellschaftsdynamik konstruktiv aufgegriffen wird. Der prekäre Übergang von der Handlungstheorie zur Systemtheorie und die daran anschließenden gesellschaftstheoretischen Begriffsbildungen lassen sich präzisieren. Parsons will, wie gesehen, zunächst das Problem der Entstehung sozialer Ordnung lösen. Er formuliert dazu die ›voluntaristische Handlungstheorie‹. Darüber hinaus fragt Parsons aber auch nach der Dynamik bzw. den Bestandsbedingungen empirischer sozialer Ordnungen. Hierbei hat er offenbar die Analyse von überindividuellen Eigenstrukturen der sozialen Ordnung vor Augen. Parsons geht in diesem Zusammenhang zum Strukturfunktionalismus i.e.S. über, in dessen Kontext der Systembegriff in die Gesellschaftsanalyse eingeführt wird. Bezüg19 | Vgl. hierzu im Einzelnen Münch 1979, 1980. 20 | Zu dieser dreistufigen Unterscheidung der Phasen der Parsonsschen Theorieentwickelung vgl. Wenzel 1990: 22ff.
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lich des Gesellschaftsbegriffs soll der Begriff des ›sozialen Systems‹ den geordneten Zusammenhang zwischen den Personen bezeichnen (vgl. Joas/Knöbl 2004: 98). Der Übergang von der Handlungs- zur Strukturtheorie verläuft über einen zunächst nur losen Gebrauch des Systembegriffs im Rahmen der ›Theorie des Handlungssystems‹. Später macht Parsons in Bezug auf ›Persönlichkeit‹ und ›Gesellschaft‹ einen strengen, auf die Kategorien der allgemeinen Systemtheorie rekurrierenden Gebrauch des Systembegriffs (vgl. Habermas 1981: 36f.). Die Begründung dieses systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffs ist selber noch vor dem Hintergrund der funktionalistischen Fortschreibung des Kantischen Gehalts der Parsonsschen Handlungstheorie zu verstehen. So verweist Reichelt auf die methodologischen Implikationen der Einführung des Systembegriffs in die Gesellschaftstheorie: »Hier kann man gewissermaßen wie im Reagenzglas mitverfolgen, wie sich der oft erörterte Bruch zwischen Handlungs- und Systemtheorie bei Parsons vollzieht […]. Denn die Kantische Formulierung des kategorischen Imperativs geschieht aus der Binnenperspektive, wobei dann die wahrgenommene Differenz von Kategorialität des Imperativs und empirischer Motivierung zuerst einmal vergegenständlicht wird als Differenz zwischen dem ›Subsystem kategorische Verpflichtung‹ und dem ›Subsystem zweckrationalem Handeln‹, zwischen Sozialsystem und Persönlichkeit. Dieser Vorgang bildet den Ausgangspunkt des gesamten Denkens von Parsons […]« (Reichelt 2004: 9). Das ›Pseudos‹ dieser Begriffsstrategie besteht darin, dass der Perspektivwechsel und die mit ihm verbundene Einführung der funktionalistischen Begrifflichkeit nicht aus dem Gegenstand entwickelt wird, sondern sich einer bloßen Bebilderung einer in der Binnenperspektive der Beteiligten vorfindlichen Differenzierung, die eigentlich als eine wirkliche Unterscheidung zu fassen und in ihrer Genese zu thematisieren wäre, verdankt und diese zur Voraussetzung hat. Im Kontext der Unterscheidung von ›Sozialsystem‹, ›Persönlichkeitssystem‹ und schließlich auch ›Kultursystem‹ werden diese ›Systeme‹ explizit allein analytisch unterschieden. Denn Parsons geht davon aus, dass die Momente realiter durcheinander vermittelt sind (vgl. Joas/Knöbl 2004: 98f.). Die prekäre Einführung des Systembegriffs in die Analyse der Struktur der sozialen Ordnung liegt der weiteren Theoriebildung zugrunde, bei der es Parsons vor allem um die Analyse des ›Sozialen Systems‹ geht. Im Hinblick auf die Struktur des Gesamtsystems der Gesellschaft, d.h. des ›Sozialen Systems‹, formuliert Parsons seinen Gesellschaftsbegriff: den der ›funktionalen Differenzierung‹. Diesem
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Gesellschaftsbegriff liegt zum einen das aus der Kybernetik stammende Konzept des ›grenzerhaltenden Systems‹ zugrunde, nach dem sich ›Systeme‹ gegen ihre ›Umwelt‹ und andere ›Systeme‹ abgrenzen. Zum anderen speist sich der Gesellschaftsbegriff aus der Einführung des berühmten AGIL-Schemas. Das AGIL- oder auch ›Vier-Funktionen-Schema‹ wird aus der Beobachtung der Problemlösungsstrategien von Kleingruppen gewonnen. Das AGIL-Schema umfasst die Funktionen der ›Adaption‹ (Anpassung), des ›Goal Attainments‹ (Zielerreichung), der ›Integration‹ (Integration von Untereinheiten) und der ›latency‹ (Strukturbewahrung). Auf der Ebene des ›Sozialen Systems‹ werden die vier Funktionen erfüllt durch das Wirtschaftssystem (Anpassung an die Umwelt), das politische System (Zielerreichung), das Gemeinschaftssystem (etwa Familie) (Integration) sowie das Soziokultursystem (bspw. Wissenschaft und Religion) (Erhaltung kultureller Muster im Sinne des Beitrags von Wertbindungen zur Strukturerhaltung). Die Subsysteme der Gesamtgesellschaft, d.h. des ›Sozialen Systems‹, werden ihrerseits wiederum nach Maßgabe der basalen Kriterien der funktionalen Differenzierung analysiert. Die Differenzierung des ›Sozialsystems‹ beinhaltet so die Differenzierung der Teilsysteme in stabile Untereinheiten, die selbst noch nach Maßgabe des AGIL-Schemas analysiert werden können. Stabile Handlungszusammenhänge konstituieren sich demnach stets dadurch, dass die angegebenen Funktionen auf verschiedenen Ebenen der Systemdifferenzierung erfüllt werden. Im Kontext seiner Theorie der sozialen Ordnung geht es Parsons also um die »eigenen Imperative der Bestandserhaltung« (TkH II: 354f.) des ›Sozialsystems‹, wobei jedes Teilsystem gemäß dem ›Vier-Funktionen-Schema‹ unter dem Gesichtspunkt seiner notwendigen Funktionen und jede Funktionen wiederum nach ihren Funktionen usf. betrachtet werden kann. 21 Diese analytische Differenzierung des ›Sozialen Systems‹ erweist sich, je nachdem welche Gesellschaft zum Gegenstand gemacht wird, als mehr oder weniger ›plausibel‹ bzw. ›angemessen‹. Diesen Sachverhalt charakterisiert Luhmann folgendermaßen: »Die Frage, wie weit das getrieben werden kann, ob auch ein Sechzehntelsystem wiederum in vier Boxen zerlegt werden kann, ist eine praktische Frage an die erreichbare Komplexität des Systems, an die erreichbare Komplexität der Handlungswirklichkeit. Lohnt es sich? 21 | Die Einheit und Objektivität der Teilssysteme wird von Parsons nicht aus dem Gegenstand entwickelt, sondern konstruiert und damit ›erschlichen‹.
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Kommt es dazu? Ist genügend Material vorhanden, damit solche Untersysteme in immer größerer Verfeinerung gebildet werden können? Darüber braucht man kein endgültiges Urteil zu fällen, das lässt die Theorie gewissermaßen offen und überlässt es der sozialen Realität, das heißt man muss nachsehen, ob sich und in welchen Gesellschaften sich ein Spezialsystem für Wirtschaft oder Politik bildet oder nicht« (Luhmann 2002: 27). Mit dem Konzept der Differenzierung der Teilsysteme voneinander und in sich selbst drängt sich Parsons die Frage nach der jeweiligen Einheit und dem Zusammenhang der Systeme auf. Im Zuge der weiteren Ausformulierung seiner Theorie entwickelt Parsons auf der Grundlage der soziologischen Reformulierung des AGIL-Schemas deswegen eine soziologische Theorie der ›Austausch‹- bzw. ›Kommunikationsmedien‹. Parsons bestimmt, ausgehend von der Analyse der gesellschaftlichen Funktion des Geldes, das er als ein solches ›Medium‹ ausweist, gemäß der internen Differenzierung des ›Sozialen Systems‹ weitere ›Medien‹ wie ›Macht‹, ›Einfluss‹ und ›Wertbindung‹, mittels derer die Teilsysteme der Gesellschaft sowohl ihren internen Austausch sowie den Austausch untereinander organisieren (Kritisch dazu siehe Joas/Knöbl 2004: 122ff.).22 Die mit der Einführung des Medienkonzepts formulierte Theoriekonstruktion erlaubt es, ›soziale Ordnung‹ nicht mehr primär als Resultat einer normativen Integration des sozialen Handelns zu verstehen, sondern die Reproduktion der Ordnung an entnormativierten mediengeleiteten Interaktion festzumachen (vgl. Wenzel 2002: 433ff.). Wesentlich bleibt, dass Parsons eine Strukturtheorie der Ordnung des sozialen Handelns anvisiert und eine Denkbewegung von der Handlungstheorie über die Theorie des Handlungssystems zur Systemtheorie im engeren Sinne vollzieht. Dass und in welcher Weise im Einzelnen er diese nicht konsistent durchkomponieren konnte, ist hier nicht weiter auszuführen (vgl. dazu Habermas 1981; TkH II; Luhmann 2002). Entscheidend ist vielmehr, dass im Zentrum ein formalistischer Begriff der Gesellschaft steht, d.h. eine auf hohem Abstraktionsniveau angesiedelte objektivistische, harmonistische und mechanistische Vorstellung von Gesellschaft, in deren Grund22 | Die Darstellung der Entwicklung der so genannten ›Kybernetischen Kontrollhierarchie‹ und der ›Conditio humana‹ beim späten Parsons muss an dieser Stelle unterbleiben. Siehe dazu Münch 1979, 1980. Wenzel (1990: 437ff.) verweist darauf, dass Parsons in dieser Phase gegenüber seinem bis dato vertretenen ›Analytischen Realismus‹ zur Reifikation seiner analytische Kategorien, also zur Identitfikation von Theorie und Gegenstand, neigt.
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konzeption sich deutlich die Dynamik der fordistischen und nationalstaatlich zentrierten – insbesondere der amerikanischen – Gesellschaft zu spiegeln scheint (vgl. auch Münch 1980).23 Der Ordnung der Gesellschaft werden systemische Implikationen attestiert, wobei die Differenzierung von Teilsystemen als notwendige Implikation der Bestandserhaltung der gesellschaftlichen Ordnung konzipiert wird.24 Der Parsonssche Begriff der Gesellschaft kennt, analog zu Durkheim, keine strukturellen Klassenlagen, keine Systemkrisen, keine systemisch induzierten Pathologien und keine soziologische Konstitutionsproblematik mehr und erfüllt somit die wesentlichen Kriterien der positivistischen Theoriebildung, wie sie von Adorno entwickelt wurden. 25 Und es ist offenbar die spezifische fordistische Dynamik jenes realen Systems der politischen Ökonomie und der damit inaugurierten institutionalisierten Gestalten gesellschaftlicher Organisation, die den spezifischen Gesellschaftsbegriff der ›sozialen Differenzierung‹ im Sinne einer Homologie von sozialen Teilsystemen provoziert. Parsons thematisiert nicht mehr die Frage nach den historischen Voraussetzungen seines Theorems sozialer Differenzierung. Und er fragt ebenso wenig danach, ob sich die von ihm ausgewiesenen Strukturisomorphien der Handlungssysteme sowie die generelle harmonistische Konzeption von gesellschaftlicher Reproduktion von der Sache selbst her begründen lassen. 26 Stattdessen trägt er auf der Grundlage seines prekären Paradigmenwechsels von der Handlungs23 | Münch attestiert der Parsonsschen Theorie einen ›american bias‹, der sich bspw. an der Bedeutung, die Parsons der Kultur für die Reproduktion der Gesellschaft beimisst, zeige. Münch will jedoch den analytischen Gehalt vom ›american bias‹ grundsätzlich getrennt wissen (vgl. Münch 1980: 46). 24 | Mit der Einführung des AGIL-Schemas wird eine Strukturisomorphie der ausgewiesenen Subsysteme konstatiert, die sich faktisch, d.h. gemessen an der Binnenperspektive, nicht nachweisen lässt. Diese Desensibilisierung wird später von Parsons mit dessen Konzept der Interaktionsmedien zementiert. 25 | Adorno hat wiederholt den Harmonismus der Parsonsschen Theorie kritisiert (vgl. E: 18; A 8: 297). 26 | Kritik am Harmonismus der Parsonsschen Gesellschaftstheorie findet sich auch bei Dahrendorf 1962. Festzuhalten ist des Weiteren, dass die Arbeiten von Lockwood, die Habermas zu dessen berühmten zweistufigen Gesellschaftsbegriff inspiriert haben (vgl. zuerst bei Habermas 1973), den Hintergrund hatten, konflikttheoretische Überlegungen in das Parsonssche Konzept zu integrieren.
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zur Systemtheorie ein aus einem völlig anderen Kontext geborgtes Theoriekonzept in den Gegenstand, die Gesellschaft, hinein; d.h., er macht und organisiert die Erfahrung der spezifischen Dynamik der Gesellschaft in den analytisch verabsolutierten erfahrungswissenschaftlichen Kategorien. Parsons setzt nicht an der Wirklichkeit der Objektivität der Struktur und der Frage nach der Eigenstruktur und Vermittlung dieser Struktur zum handelnden und denkenden Individuum an. Vor diesem Hintergrund lässt sich m.E. Parsons’ Gesellschaftstheorie mit Recht lesen als die mehr oder minder selbstbewusste soziologische Selbstversicherung der amerikanischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert 27, die aber dabei ihren eigenen Entstehungskontext ausblendet und deswegen eines nicht zu leisten vermag: den von ihr konstatierten Systemcharakter der Gesellschaft als Gestalt der strukturellen Verselbständigung polit-ökonomischer Natur zu begreifen und diesen als solchen selber noch in einer nicht-reifizierenden Weise – und das bedeutet wesentlich: in seinem Gewordensein – theoretisch zu entwickeln. Wie ist mit diesem Befund umzugehen? Es lässt sich nun zeigen, dass und wie die Hegelsche Unterscheidung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wie sie zuerst in der Theorie des objektiven Geistes vorgetragen und innerhalb der links-hegelianischen Tradition vor allem bei Marx fortgeführt wurde, innerhalb der an Parsons anschließenden Gesellschaftstheorien von Luhmann und Habermas verflacht wurde. Demgegenüber lässt sich im Gegenzug die These erhärten, dass bereits die frühe Rezeption der Rechtsphilosophie bei Marx eine ernstzunehmende gesellschaftstheoretische Alternative darstellt. Neben dem weiter oben entwickelten Totalitätsbegriff der Gesellschaft – einschließlich dem Programm der begrifflichen Explikation realer Verselbständigung als Objekt der Theorie – bildet die von Hegel anvisierte Unterscheidung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft die zweite wichtige Achse des gesellschaftstheoretischen Koordinatenkreuzes. Es wird sich im Verlauf der folgenden Argumentation zeigen, dass Marx als Erster ein klares Bewusstsein des Verhältnisses von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft als extraordinärer sozialer Realität – im Sinne einer objektiven, verselbständigten Herrschaftsstruktur – entwickelt. Diese Einsicht wurde, wie gesehen, vom sozialwissenschaftlichen Holismus ignoriert. Stattdessen wurde, insbesondere nach 1945, zu einem Differenzierungsmodell der Gesellschaft übergegangen, das 27 | Siehe auch Gouldner 1974. Zum politischen Motivationsgehalt der Parsonsschen Theoriebildung siehe neuerdings Gerhardt 2002.
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Monstrositäten die Einsicht in die aus Hegel zu folgernden Lehren leichtfertig verdifferenzierungs- spielt. theoretischer Diese These lässt sich an den Gesellschaftstheorien von LuhBegriffsbildung mann und Habermas explizieren. Beide Theorien stellen Variationen des differenzierungstheoretischen Denkens dar. Während Habermas das Differenzierungskonzept in der Weise aufgreift, dass er den Systembegriff auf der Grundlage seiner eigenen handlungstheoretischen Grundbegriffe einführt (vgl. Reichelt 1998) und das Differenzierungskonzept enger als Parsons fasst, verfährt Luhmann in gewisser Hinsicht geradezu entgegengesetzt: er essentialisiert und verallgemeinert das Differenzierungskonzept und bemüht sich um eine erkenntnistheoretische Rückversicherung des Paradigmenwechsels von der Handlungs- zur Systemtheorie. Es kann in beiden Fällen aufgezeigt werden, dass die Theorien von Habermas und Luhmann erstens über einen reifizierenden Begriff und damit über ein unzureichendes Verständnis von gesellschaftlicher Struktur als Objekt der Gesellschaftstheorie verfügen und dass in diesem Zusammenhang zweitens ihre jeweiligen Strategien der differenzierungstheoretischen Abwicklung des von Hegel aufgeworfenen Problemhorizonts der Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat wenig befriedigend ausfallen. Die zu erhärtende These lautet, dass der ›zweistufige Gesellschaftsbegriff‹ von Habermas und Luhmanns Konzept der ›funktionalen Differenzierung‹ gleichermaßen sich selbst undurchsichtige und damit gleichsam ›begriffslose‹ Verarbeitungen der Erfahrungen fortgeschrittener Verselbständigung der Produktionsverhältnisse sind. Überdies legt die Tatsache, dass das Denken in Kategorien gesellschaftlicher Differenzierung v.a. bei den Theoretikern in den nord-westlichen Industrienationen nach 1945 populär ist, den Verdacht nahe, dass sich deren differenzierungstheoretischen Gesellschaftsbegriffe der Erfahrung der Krisenlosigkeit der staatsinterventionistischen Phase zwischen 1945 und den späten 60er Jahren verdankt (›Wohlfahrtsstaat‹). Diesem Verdacht wird u.a. im Folgenden nachzugehen sein. Das eigentliche Skandalon besteht dann darin, dass jener durch den Wandel der politisch-rechtsstaatlichen Institutionen seit den 1930er Jahren forcierte kapitalistische Expansionsprozess – der seinerseits über den Fordismus der Zentren über die Globalisierung, soll heißen über die Internationalisierung von Produktionsverhältnissen bis hin zum ›aktivierenden Staat‹ verläuft – von der bundesdeutschen Differenzierungstheorie im Anschluss an Parsons in den Kategorien eines post-kapitalistischen Gesellschaftsbegriffs beschrieben wurde und z.T. auch noch wird. Der auf die Krise des Fordismus folgende Paradigmenwechsel beim
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institutionellen Steuerungsmodus der Gesellschaft seit den frühen 1970er Jahren führt über die ›Krise des Wohlfahrtsstaats‹ seit Mitte der 1980er Jahre zu einem neuen, bis zur ›New Economy‹ und zum ›aktivierenden Staat‹ reichenden Verwertungsschub. Aufgrund ihres konstitutiven Defizits, kapitalistische Ökonomie und soziale Strukturbildung nicht zusammendenken zu können, gerät die Differenzierungstheorie hinsichtlich der Analyse der Dynamik der Gesellschaft in Erklärungsnöte. Dabei hat eher noch Luhmann als Habermas von dem zeitgenössischen Methodenpluralismus profitieren können, während die Differenzierungstheorie insgesamt jedoch zugunsten des Neo-Institutionalismus tendenziell in die Defensive geraten zu sein scheint. Angesichts der Harmonisierung und Ontologisierung fordistisch-interventionsstaatlicher Verhältnisse fällt es der zeitgenössischen Differenzierungstheorie, im Kontext der Erfahrung der kapitalistischen Krisendynamik – oder: einer sich im Spannungsverhältnis von staatlichen Institutionen und kapitalistischer Verwertungslogik vollziehenden Rationalisierung – leicht, vermeintlich qualitative Veränderung in technizistischer Weise daran festzumachen, dass bestimmte Vergesellschaftungsprinzipien, die immer schon als Momente eines allgemeineren Differenzierungsprozesse vorgestellt werden, ›in Führung gehen‹.28 Dies gilt natürlich v.a. für systemtheoretisch inspirierte Theoriebildung. So lässt sich unter Absehung von allen ›statischen‹ Momenten von Vergesellschaftung – also etwa der Existenz von Produktionsverhältnissen usw. – anhand der quantitativen Zunahme von Technisierung, weltweiter Kommunikation etc. von ›Informations‹-, ›Welt‹- oder ›Wissensgesellschaft‹ sprechen.29 Es wird sich demgegenüber in der Auseinandersetzung mit Marx herausstellen, dass sich bereits beim jungen Marx eine Konzeption von Gesellschaftsstruktur extrahieren lässt, die sich sowohl einer qualitativ-kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie verdankt, als auch zu einem adäquaten Verständnis der Objektivität der erfahrungskonstitutiven Wirklichkeit der modernen Gesellschaft führt. Im Folgenden wird damit zugleich explizit der These von Grimm widersprochen, »daß es sich bei der Unterschei28 | Vgl. hierzu gegenwärtig u.a. Willke 1998. 29 | Selbst bei Luhmann lässt sich sehen, dass dieser vor dem Hintergrund eines fordistischen Erfahrungshorizonts von einer egalitären Differenzierung ausgeht, während es ihm später – v.a. seit den ausgehenden 1980er Jahren – zunehmend um die Verselbständigungsdynamik einzelner Teilsysteme zu gehen scheint.
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dung von Staat und Gesellschaft weniger um ein Realphänomen als um eine begriffliche Konstruktion zur Deutung von Realität handelt [...]« (Grimm 1990: 15; Hvm). Die Wirklichkeit dieser Unterscheidung ist nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als der Ausdruck eines strukturell verselbständigten Herrschaftszusammenhangs, der schließlich selbst noch für die als ›soziale‹ bzw. ›funktionale Differenzierung‹ analytisch artikulierte Erfahrung der realen Strukturiertheit der Moderne konstitutiv ist.
Einheit und Gesellschaftsstruktur in der Theorie von Luhmann als Emergenz von Kommunikation und funktionaler Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme Der interventionsstaatliche Erfahrungsgehalt der Systemtheorie der Gesellschaft | Anhand der Auseinandersetzung mit einigen Grundbegriffen der Luhmannschen Systemtheorie der Gesellschaft lässt sich vor dem Hintergrund der Frage, wie die Erfahrung von Gesellschaft theoretisch gemacht und verarbeitet wird, auf etwaige mit der gesellschaftstheoretischen Formulierung der Systemtheorie verbundene Aporien hinweisen. Zu fragen ist im Hinblick auf die von Luhmann inaugurierte Überführung der allgemeinen Systemtheorie in eine Systemtheorie der Gesellschaft (siehe bei Luhmann 1984, 2002) deswegen danach, wie Luhmann seine Objektivitätsvorstellung entwickelt und begründet. Entlang dieser Problematik lassen sich Unzulänglichkeiten des Gesellschaftsbegriffs, wie sie sich unter einem erfahrungs- bzw. ideologiekritischen Gesichtspunkt darstellen, und damit der mitunter ›monströse‹ Charakter systemtheoretischer Aussagen aufzeigen. Im Sinne des undogmatischen Anspruchs Adornos ist eine solche Auseinandersetzung auf dem Wege der Erörterung dessen zu führen, mit dem Luhmann etwas von der Realität der Gesellschaft trifft, ganz gleich in wie verschleierter Form dies auch immer der Fall sein mag, und dem, wo seine Theorie die Realität der Gesellschaft verfehlt. An ihrem eigenen Anspruch gemessen ist Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft zunächst einmal zu verstehen als radikaler Gegenentwurf zur Entscheidung der verstehenden Soziologie, auf einen emphatischen Begriff von Gesellschaft zu verzichten (vgl. Luhmann 1982; vgl. Krause 2001: 87). Luhmann betrachtet sich, offenbar unter Absehung des Gesellschaftsbegriffs von Marx und der Kritischen Theorie, als Pionier auf dem Terrain der Gesellschaftstheorie (vgl. Luhmann 1994). Wenn Luhmann die Begriffe der ›funktionalen Differenzierung‹, ›Codierung‹, ›Autopoiesis‹ etc. auf
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der Ebene der Gesellschaftstheorie einführt, dann visiert er damit die Explikation einer Art objektiver Einheit bzw. Realstruktur an (vgl. Luhmann 1984: 30).30 Luhmann führt die Notwendigkeit eines objektiven Gesellschaftsbegriffs dabei durchaus auf seine eigene Erfahrung zurück. So verweist Horster auf persönliche Äußerungen Luhmanns, aus denen deutlich wird, dass Luhmann eine reale Systematizität des Sozialen, d.h. die Erfahrung einer ohne bewusstes Zutun der handelnden Individuen ablaufenden faktischen Reproduktion objektiver, eigenlogischer und eigendynamischer Institutionen vor Augen hat: »›Geplant wird immer, aber die Effekte sind selten die, die man haben will‹, was auf die Unfähigkeit handelnder Menschen, die soziale Komplexität zu erfassen, zurückzuführen ist. Luhmann gewinnt die Einsicht, dass es Gesetzmäßigkeiten geben müsse, auf deren Basis sich soziale Probleme immer wieder von selbst und ohne menschlichen Eingriff lösen. Sein Forschungsmotiv bei der Entwicklung einer allgemeinen Systemtheorie war es, dieses Regelwerk zu durchschauen, das die Gesellschaft trotz all ihrer Probleme immer erneut stabilisiert, sodass sie weiterbestehen und funktionieren kann. Dass dies geschieht, war ihm nach dem zweiten Weltkrieg durch eigene Anschauung klar geworden. Nun wollte er wissen, wie das geschieht« (Horster 2002: 120). Diese instruktiven Hinweise machen zuallererst deutlich, dass Luhmanns grundlegenden Fragestellungen dem historischen Boden der fordistischen Nachkriegsgesellschaft (der Bundesrepublik) entspringen. Aus nichts Geringerem als seiner ›eigenen Anschauung‹ wird ihm ›klar‹, dass es ›Gesetzmäßigkeiten‹ geben muss, die zum ›Weiterbestehen und Funktionieren‹ dieser historisch ›vorfindbaren‹ gesellschaftlichen Ordnung beitragen. Im Zentrum des Luhmannschen Interesses steht von Anfang an, analog zu Durkheim und Parsons und im Gegensatz zu Marx und der Kritischen Theorie, das Funktionieren der Gesellschaft und nicht die Bestimmung und Analyse ihrer Widersprüche und ihrer Krisenhaftigkeit. Luhmann hat analog zu Durkheim und Parsons von Anbeginn an ein harmonistisches Normalitätskriterium gesellschaftlicher Entwicklung vor Augen. 31 Demgemäß ist Luhmanns Selbstver30 | Es existieren divergierende Auffassungen hinsichtlich der Möglichkeit des ontologischen Status der Systeme im Luhmannschen ›operativen‹ Konstruktivismus. Die Bandbreite der Interpretationen reicht von sozialontologischen bis hin zu radikal konstruktivistischen Auffassungen (vgl. Nassehi 1992). Die vorliegende Interpretation folgt der Auffassung, dass Luhmann einen emphatischen Begriff der Gesellschaft vertritt.
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Monstrositäten ständnis zufolge sein strukturtheoretisches Interesse nachdrücklich differenzierungs- ein bloß analytisches (vgl. Luhmann 1984: 162) im Gegensatz zu eitheoretischer nem konstitutiv kritischen. Begriffsbildung Im Zuge einer grundlegenden systemtheoretischen Annährung an das Objekt der Gesellschaftstheorie ist der analytische Begriff der ›Emergenz‹ bedeutsam. Dieser Begriff soll die essentielle Erfahrung zum Ausdruck bringen, dass sich die soziale Realität nicht unmittelbar auf individuelles Handeln reduzieren lässt (vgl. auch Krause 2001: 123). Während Max Weber vor der überwältigenden chaotischen Mannigfaltigkeit des Sozialen kapitulierte, sucht Luhmann nach deren Eigenstrukturen als ›emergente‹ und somit als vorgängig existierend zu erfahrende Gesellschaftlichkeit.32 Somit lässt sich sagen, dass die Systemtheorie analog der Kritischen Theorie über einen »Gesellschaftsbegriff sui generis« (Willke 2000: 200) verfügt, wenngleich sie, ebenfalls im Anschluss an Durkheim und Parsons, auf eine konstitutionstheoretische Thematisierung von gesellschaftlicher Objektivität verzichtet und, so die hier vertretene These, demgegenüber in ihren Kategorien lediglich die Erfahrung von gesellschaftlicher Verselbständigung metaphorisch zu artikulieren vermag.33 Im Zentrum der Luhmannschen Analyse ›emergenter‹ sozialer Strukturen steht der Begriff der ›funktionalen Differenzierung‹ (vgl. Nassehi 2004). Dieser besagt, dass die Moderne durch die Ausdifferenzierung einer Pluralität objektiver teilautonomer Gesell31 | Die von Luhmann immer wieder vorgebrachte Kritik an der Problematik der Bestandserhaltung im klassischen Strukturfunktionalismus erweist sich als durchaus zweischneidig. Zwar möchte Luhmann nicht länger von vornherein festgeschriebene vermeintliche gesellschaftliche Funktionsnotwendigkeiten bzw. Normalitätskriterien (etwa im Sinne des Parsonsschen AGIL-Schemas) gelten lassen, aber an deren Stelle tritt bei Luhmann das Theorem der ›funktionalen Differenzierung‹ als zwar nicht positiv expliziter, aber gleichsam latenter normativer Bewertungsmaßstab (vgl. dazu Demirovic 2001: 17). 32 | Zum Problem der ›Emergenz‹ siehe auch Heintz 2004. Es fällt auf, dass die SystemtheoretikerInnen zu übersehen scheinen, dass mit dem Begriff der ›Emergenz‹, analog dem Durkheimschen Begriff der ›faits sociaux‹, zunächst lediglich ein Problem, und zwar in szientistischer und in dieser Hinsicht anti-konstitutionstheoretischer Weise (›Verdinglichung‹), artikuliert wird und keineswegs eine inhaltliche Lösung eines soziologischen Sachproblems geliefert wird. 33 | Nowosadtko verweist darauf, dass Luhmann selber über keinen systematischen Begriff der Erfahrung verfügt (vgl. Nowosadtko 2001).
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schaftssysteme gekennzeichnet ist: Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung, Massenmedien, Kunst, Religion. Jedes dieser Teilssysteme verfügt über einen eigenen Modus der ›Einheit‹ (›Kommunikation‹), eigene ›Leitdifferenzen‹ bzw. ›binäre Codierungen‹, ein spezifisches ›symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‹ sowie einen an den je spezifischen Formen der Einheit etc. ausgerichteten Modus der ›Autopoiesis‹ und der ›operativen Schließung‹.34 Die Gesellschaft ist für Luhmann Weltgesellschaft, weil prinzipiell alle ›codierten Kommunikationen‹ global füreinander erreichbar sind. Die Teilsysteme der Weltgesellschaft werden im Hinblick auf die Formen der ›Codierung‹ und ›Autopoiesis‹ als strukturisomorph angenommen. Und ihr Zusammenhang wird zugleich als disponibel ausgewiesen, in der Weise, dass zwar hinsichtlich der Dynamik der funktionalen Differenzierung kein teleologisch-hierarchischer Zusammenhang der Teilsysteme vorliegt, etwa im Sinne eines kausalen ›Primats‹ der Ökonomie oder der Politik, grundsätzlich jedoch auch eine asymmetrische Entwicklung der Binnendifferenzierung von Teilsystemen nicht auszuschließen sei (vgl. Luhmann 1997).35 Luhmanns Erklärung der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt insgesamt allerdings unscharf (vgl. Schimank 2003: 275ff.). Luhmann denkt die Dynamik der Gesellschaft nicht von der Gesamtgesellschaft, sondern von den Binnendynamiken der einander ›interpenetrierenden‹ und ›strukturell gekoppelten‹ Teilsysteme her, wobei, Schimank zufolge, der Gedanke einer solchen ›Ko-Evolution‹ von Luhmann theoretisch nicht näher bestimmt wurde: Luhmann »begreift die Dynamik der modernen Gesellschaft insgesamt als komplexe Wechselwirkung teilsystemischer Evolutionen miteinander. Jedes Teilsystem passt seine internen Strukturen den von den jeweils anderen Systemen erzeugten Umweltereignissen immer wieder im Hinblick darauf an, die Geordnetheit der eigenen Operationen aufrechtzuerhalten. Theoretisch weiter entfaltet wird diese hochinteressante Idee der Ko-Evolution allerdings nirgends« (ebd.: 277). Dieses ›Evolutionskonzept‹, so Schimank weiterhin, diene vor allem dem Zweck, jeglichen Vorstellungen einer gerichteten Entwicklung der Gesellschaft eine Absage zu erteilen: »Man 34 | Zum Charakter der Strukturisomorphie der Teilsysteme vgl. Schimank 2003: 268f. 35 | Ein grundsätzliches Problem der Theorie wird darin gesehen, den Zusammenhang der Subsysteme zu entwickeln. Die Diskussion um den Gesellschaftsbegriff hat sich bisher im Wesentlichen um diesen Punkt gedreht (Tyrell 1978; Schwinn 1995).
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Einheit und Gesellschaftsstruktur in der Gesellschaftstheorie von Luhmann
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weiß nie, was kommen wird; und die wohlüberlegtesten Planungen scheitern. Beides gilt nicht nur auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, sondern auch für jedes einzelne Teilsystem« (ebd.). Mit dieser Stoßrichtung vertritt Luhmann folglich eine der Totalitätskonzeption Adornos diametral entgegengesetzte Position. Denn für Adorno ist, im Anschluss an Marx, der Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur nur in der Form ihrer Ausdehnung möglich, wie auch die beständige Umstrukturierung von Individuum und Institution nach Maßgabe der Reproduktion dieser verselbständigten sozialökonomischen Kernstruktur stattfindet. Die jüngeren Entwicklungen von Individuum und Institutionen im Zuge der ›Globalisierung der Wirtschaft‹ und der ›Transformation des Wohlfahrtsstaats‹ spielen, anerkanntermaßen oder auch nicht, eher dem Rekurs auf die von der Kritischen Theorie bereitgestellten Deutungsmuster in die Hände. Die polit-ökonomische Dynamik der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde allerdings und bezeichnenderweise in der systemtheoretischen Diskussion zum Anlass der Rekonzeptualisierung des Luhmannschen Gesellschaftsbegriffs genommen. Dem Begriff eines ›Primat der Ökonomie‹ hält die Systemtheorie grundsätzlich die Auffassung ›heterogener globaler Funktionssysteme‹ (vgl. Stichweh 2000) entgegen, wobei jedoch hinsichtlich der Lösung von Bestandsproblemen der Gesellschaft durchaus die Ungleichzeitigkeit der Eigendynamik von Teilsystemen – insbesondere ›normativer‹ (Recht, Politik, Religion) und ›kognitiver‹ (Wirtschaft, Wissenschaft, Technik) Provenienz – als Problem benannt wird. So scheint gerade die nach-fordistische Dynamik der Weltwirtschaft und mit ihr der Technik und der Wissenschaft gegenüber jenen ›normativ stilisierten Teilsystemen‹ eine gewisse Schrittmacherfunktion für die Reproduktion der Gesellschaft im Ganzen auszuüben (vgl. Heidenreich 2002: 7). Dies motiviert zugleich dazu, die Weltgesellschaft als Wissensgesellschaft zu begreifen, welche zunehmend von ›kognitiven‹ Lernprozessen abhängt (vgl. ebd.). Darüber hinaus habe Luhmann, nach Ansicht Willkes, der das Konzept der Wissensgesellschaft teilt, mit dem Begriff der Weltgesellschaft vorgegriffen, da erst mit den jüngeren Entwicklungen der Teilsysteme (›Laterale Weltsysteme‹) eine Weltgesellschaft im eigentlichen Sinne sich im Entstehen befände (vgl. Willke 1998). Willke sieht in der gegenwärtigen Dynamik des gesellschaftlichen Wandels erst ein Übergangsstadium von nationalstaatlich zentrierten Funktionssystemen zu globalisierten Funktionssystemen der Weltgesellschaft. Willke nennt »dieses dritte Modell zwischen Nationalgesellschaften und Weltgesellschaft das Modell lateraler Weltsysteme. Das Modell lateraler Weltsysteme postuliert eine Form or-
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ganisierter Sozialsysteme zwischen der modernen, funktional differenzierten und territorial gebundenen Gesellschaft einerseits und einer voll ausgebildeten Weltgesellschaft andererseits. Diese Form ist dadurch gekennzeichnet, dass einige Funktionssysteme, vor allem Finanzsysteme und Ökonomie, aber auch Systeme der Massenkommunikation, des Sports oder Popkultur und in Teilen sogar des Rechts, in globalem Maßstab zusammenwachsen und sich in diesem Prozess der transnationalen Restrukturierung aus ihren Muttergesellschaften herauslösen« (Willke 2000: 203). Nun liegt es nahe, in der Grundkonzeption des Luhmannschen Gesellschaftsbegriffs (›funktionale Differenzierung‹) einen spezifischen historischen Erfahrungsgehalt zu sehen, nämlich den als ›Fordismus‹ bzw. ›Wohlfahrtsstaat‹ bezeichneten Zustand der institutionellen Differenzierung der Gesellschaft, wie dieser sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den kapitalistischen Zentren entwickelt hat. Luhmann verarbeitet offenbar die durch funktionalistische Fragestellungen (Durkheim, Parsons) präformierte Erfahrung der Dynamik des interventionsstaatlichen Kapitalismus in den Kategorien der ›funktionalen Differenzierung‹. Von dieser Warte aus wird zugleich die Entwicklung der Moderne retrospektiv als Durchsetzung des Prinzips der ›funktionalen Differenzierung‹ interpretiert sowie die veränderte Dynamik des post-fordistischen Kapitalismus in Kategorien der ›funktionalen Differenzierung‹ beschrieben. De facto handelt es sich bei jenen von Luhmann konstatierten ›emergenten‹ Dimensionen der ›Kommunikation‹ und ›operativen Schließung‹/›Autopoiesis‹ der vermeintlichen ›Teilsysteme‹ um Momente der historischen Reproduktion des strukturellen Dualismus von Staat und Kapital als der einzigen existierenden Form ›gesellschaftlicher Differenzierung‹. Der Prozess der fortschreitenden ›sozialen Differenzierung‹ besteht im Kern in der internen Differenzierung der ›Sphären‹ des Dualismus von politischem Rechts- und Verwaltungsstaat und kapitalistischer Ökonomie, oder anders ausgedrückt: der empirischen Binnendifferenzierung des kapitalistischen Strukturzusammenhangs. 36 Im Hinblick auf den ökonomischen Erfahrungshorizont ist hier zu denken an die Differenzierung von Produktionszweigen, die Ent36 | Bereits bei Türk heißt es: »Die Gegenthese zur Theorie funktionaler Differenzierung lautet […] nun nicht, daß das ›Teilsystem Wirtschaft‹ das dominante sei [...]. Die Gegenthese lautet vielmehr, daß sich in der spezifischen Verbindung der funktionalen Teilsysteme untereinander die besondere Eigenart der kapitalistischen Produktionsverhältnisse konstituiert« (Türk 1995: 186f.).
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stehung von Interessensorganisationen sowie den harmonistischen Charakter einer weitestgehend weder durch Klassenkämpfe noch durch Krisen charakterisierten ›Marktwirtschaft‹. Hinsichtlich der staatlich-politischen Differenzierungen ist hinzuweisen auf die Differenzierung des Rechtssystems (Privatrecht und Öffentliches Recht; die Schaffung der Konstruktion der juristischen Person), die Institutionalisierung von Prozessen der demokratischen Willensbildung (Parteien, Wahlen, Öffentlichkeit) sowie die generelle Teilung der Gewalten, die Differenzierung von Politikfeldern und Ministerialstrukturen oder die Differenzierung staatlicher Organisationen (Bildung, Wissenschaft). Hinzu kommen etwa die Bildung privater Interessensorganisationen oder die Institutionalisierung der bürgerlichen Kleinfamilie und einer säkularisierten Religion. Im Zuge der institutionellen Differenzierung des Systems der politischen Ökonomie auf der Höhe des Fordismus und des Interventionsstaats drängt sich die Unterscheidung von Recht, Politik, Wirtschaft, Massenmedien, Wissenschaft, Erziehung schließlich Religion und Kunst auf. Allerdings ist mit der Kritischen Theorie, wie gesehen, davon auszugehen, dass diese Differenzierungen selbst noch aus der Reproduktionsdynamik kapitalistischer Strukturzusammenhänge hervorgehen. Wissenschaft und Erziehung, Medien und Kunst erhalten ihre objektiv-überindividuelle Form im Gegensatz zur rein ideellen Existenz kultureller und religiöser Wertorientierungen ausschließlich im Zuge ihrer Einbindung in den institutionellen Kontext des interventionsstaatlichen Kapitalismus. Damit existiert zwangsläufig kein äußerlicher Zusammenhang teilautonomer System wie ›Ökonomie‹ und ›Medien‹ – etwa im Sinne einer ›strukturellen Kopplung‹ –, sondern ein innerer und notwendiger (z.B. ›Kulturindustrie‹).37 Transpersonale Zusammenhänge der ›Kunst‹ und ›Wissenschaft‹ existieren nicht jenseits von Konsum und Verwaltung.38 Oder anders ausgedrückt: in der Wirklichkeit der 37 | Siehe auch Adornos Äußerungen über das Phänomen der Öffentlichkeit in Abschnitt S. 159ff. dieser Arbeit. 38 | Ähnliches ließe sich auch über das vermeintlich ›autopoietische‹, ›eigengesetzliche‹ Erziehungssystem sagen. Das ›System der Erziehung‹ ist ein Produkt des interventionsstaatlichen Kapitalismus. Die partielle Verstaatlichung der Erziehung und damit der basalen Zuweisung von Lebenschancen (von der Grundschule bis zur Habilitation) erscheint historisch als eine existentielle Bedingung der Reproduktion einer differenzierten – kapitalistischen, d.h. unter der Form von Produktionsverhältnissen sich herstellenden – Arbeitsteilung. Selbst private Bildungsorganisationen setzen sowohl die Existenz eines entsprechenden politisch in-
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Gesellschaft werden die teilsystemischen Handlungsbezüge und ›Codierungen‹ als formbestimmte, d.h. in einen polit-ökonomischen institutionellen Kontext eingebundene, vorgefunden.39 Die moderne Öffentlichkeit konstituiert sich im Spannungsfeld von politischer Institutionalisierung kollektiver Willensbildung und kapitalistischem Medienunternehmertum.40 Auch die Verselbständigung des ›Wissenschaftssystems‹ ist ein Moment der sich fortschreitend differenzierenden innersystemischen Arbeitsteilung; politisch organisiert wie verwaltet und systemisch funktional. Dies impliziert weiterhin, dass auch der Wahrheitsanspruch der stitutionalisierten juristischen Status als auch z.B. ›Gemeinnützigkeit‹, d.h. die Nützlichkeit der staatlich anzuerkennenden Institution für die Integration des Einzelnen in den existierenden institutionellen Zusammenhang, voraus. Der Staat gibt dabei den von ihm anerkannten privaten Interessenorganisationen (z.B. Vereine und Verbände) durchaus die Möglichkeit, sich an der bildungspolitischen Willensbildung und der praktischen Erziehung (z.B. Bildungswerke) zu beteiligen. Anders ausgedrückt: es gibt zweifelsohne öffentliche und private Bildungsinstitutionen, jedoch kein aus sich selbst heraus zu begreifendes und autonom ›operierendes‹ Teilsystem der Erziehung bzw. Bildung. Auch verfügt das Erziehungssystem über kein dem Geld oder Recht vergleichbares objektives ›Medium‹. Und auch die andere Seite der Erziehung, die bürgerliche Familie, kann seiner Form und seinem Inhalt nach als eine politisch gestiftete und wesentlich ökonomisch funktionale Institution begriffen werden (siehe hierzu Heinsohn/Knieper 1974). 39 | In der Systemtheorie werden in operativer Hinsicht autonome Teilsysteme unterstellt. Die realen Formbestimmungen und Vermittlungszusammenhänge werden dann als ›strukturelle Kopplungen‹ konstruiert. »Im Rahmen eines Gedankenexperiments könnte man fragen, wieso denn mögliche Leitdifferenzen für Gesundheit und Soziales ebenso wenig an der Spitze gesellschaftlicher Funktionsdifferenzierung stehen wie Gebrauchswertorientierungen. Eine mögliche Antwort ist: Nur solche Leitdifferenzen, die universalisierbare Zugriffe für Akkumulationszwecke erlauben, sind in den letzten zweihundert Jahren Basis funktionaler Teilsysteme geworden (politische Macht, ökonomisches Kapital, Bildungswissen, wissenschaftliche Technologie)« (Türk 1995: 184). Hinzuzufügen ist, dass bereits die Vorstellung homologer ›Codierungen‹ verschiedener Teilsysteme eine unangemessene Verallgemeinerung der an den Formen des Geldes und des Rechts unter technizistischen Vorzeichen gebildeten Einheitsvorstellungen darstellt. 40 | Siehe auch Abschnitt S. 159ff. zu Adornos Äußerungen zur Autonomie der Öffentlichkeit.
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Wissenschaft oder etwa des religiösen Bewusstseins und das Geld nicht als strukturisomorphe ›Medien‹ angesehen werden können, sondern qualitativ verschiedenartige soziale Phänomene darstellen.41 Oder mit Horkheimer: der Wahrheitsanspruch der Theorie müsste selber noch im Kontext gesellschaftlicher Individuierung entwickelt werden. Das theoretische Wissen ist als solches sowohl ›Reflex‹ als auch Moment – ›Funktion‹ – der Arbeitsteilung, d.h. Moment der Reproduktion industrieller Produktionsverhältnisse. In der Binnenperspektive der handelnden Individuen stellt sich der Differenzierungsprozess allerdings durchaus anders dar: bestärkt durch ihre rechtliche, teilwissenschaftliche und politikbereichsspezifische Differenzierung können die jeweiligen institutionellen Teilbereiche von den sich in ihnen bewegenden Individuen als autonom gegenüber den jeweils anderen Bereichen wahrgenommen werden. Das mit der Etablierung des Interventionsstaats gegebene historische Entwicklungsniveau des Systems der politischen Ökonomie und der damit gegebenen Institutionen und Wahrnehmungsformen kennzeichnet schließlich überhaupt die historische Bedingung der Möglichkeit der Formulierung der Systemtheorie, wie sie von Luhmann vorgetragen wurde. Luhmann jedoch abstrahiert von der Formbestimmtheit der Handlungsorientierungen innerhalb der vermeintlichen ›Teilsysteme‹ und verabsolutiert offenbar die Binnenperspektiven der institutionalisierten Sphären, die sich jeweils als autonom wahrnehmen. Die verabsolutierte Binnenperspektive wird dann ihrerseits unter eine objektivistische Beschreibung gebracht. Dabei schließt Luhmann unkritisch an Parsons an (vgl. auch bei Luhmann 2002), insofern er weder den Erfahrungsgehalt der Parsonsschen Theorie noch deren grundsätzliche Konstruktionsprobleme durchschaut und infolgedessen den prekären Paradigmenwechsel von der Handlungs- zur Systemtheorie unreflektiert wiederholt.42 Luhmann relativiert und erweitert dabei das Parsonssche Differenzierungsmodell: er löst für sein Konzept allein die Ebene der Differenzierung des sozialen Systems heraus; zugleich verallgemeinert er das Differenzierungskonzept, wobei er die heterogene Differenzierung der Rationalitätstypen bzw. Wertsphären bei Weber vor Augen zu haben scheint (vgl. Schimank 2003: 267; vgl. Berger 2003: 213). Kennzeichnet der Webersche ›Polytheismus der Werte‹ jedoch einen wesentlich bewusstseinsimmanenten Sachverhalt, so existiert für Luhmann – vermittelt über die Konstruktion 41 | Siehe zur differentia specifica von Geld und Recht Kapitel 4 dieser Arbeit. 42 | Siehe auch Abschnitt S. 179ff. dieser Arbeit.
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der Theorie des sozialen Systems bei Parsons – nun eine ›Polykontexturalität‹ von Teilsystemen. Die für die Soziologien von Weber, Horkheimer und Parsons charakteristische Trias von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit verabschiedet Luhmann dahingehend, dass er allein einen Dualismus von Individuum und Gesellschaft aufrecht erhält (vgl. Luhmann 1980: 17). Die Vorstellung des kulturellen Systems wird dann innerhalb des Gesellschaftssystems wieder eingeführt und zwar in der Weise, dass Webers Vorstellung teilautonomer kultureller Wertsphären/Lebensordnungen (z.B. Kunst, Wissenschaft, Religion) in objektivistischer Weise aufgegriffen und den Systemen Wirtschaft, Politik und Recht an die Seite gestellt wird. Während Parsons noch konsequent das Vier-Funktionen-Schema deduktiv in die Empirie trägt, verfährt Luhmann demgegenüber – zumindest dem eigenen Anspruch nach – induktiv, insofern er beansprucht, teilsystemische Selektionsvorgänge aus dem Objektbereich heraus zu entwickeln. Dies allerdings findet selber noch unter der Voraussetzung der impliziten Entscheidung für eine objektivistische Bearbeitung des Problems der funktionalen gesellschaftlichen Differenzierung statt. 43 So lassen sich strukturisomorphe Einheitsmomente ausweisen, deren Existenz als Resultat der ›funktionalen Differenzierung autopoietischer Teilsysteme‹ interpretiert werden kann. Es lässt sich nun weiterhin eingehender zeigen, dass der mit dem Gesellschaftsbegriff der ›Funktionalen Differenzierung‹ vollzogene Paradigmenwechsel von der Einheit zur Differenz sich in der Ausgestaltung des Differenzierungskonzepts in verschiedener Hinsicht als aporetisch erweist. Zunächst verschiebt sich das vielgescholtene und charakteristisch ›alteuropäische‹ Problem der ›Einheit‹ auf die Ebene der Binnenlogizität der Teilsysteme und leitet so die weitere Ausformulierung der Theoriekonstruktion an. In diesem Kontext zeigt sich, dass Luhmann die ›Einheit‹ als objektive lediglich szientistisch erfassen kann. Infolgedessen muss die Systemtheorie die Objektivität teilsystemischer Strukturen konstitutionstheoretisch ›erschleichen‹, insofern die Genese von existierender Objektivität nicht aus dem Handeln der Individuen und damit als Verselbständigung entwickelt werden kann. Objektivität kann allein in zirkulärer Weise begründet werden, indem die Objektivierung (›Codierung‹, ›Mediatisierung‹, ›Autopoiesis‹) aus einer immer schon in szientistischer Weise vorausgesetzten Objektivität (›Emergenz‹, ›Kommunikation‹) erklärt werden kann bzw. muss.
43 | Siehe hierzu eingehender unten, unter Abschnitt S. 210ff.
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Aporien des systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffs (Differenzierungskonstrukt und Subjektaporie, Übergeneralisierungszwang und Scheinableitungen) | Luhmann unterscheidet grundsätzlich zwischen lebenden Systemen (Natur) und sinnverarbeitenden Systemen (Individuum und Gesellschaft). Dabei unterscheiden sich die sinnverarbeitenden Systeme nochmals entsprechend ihrer verschiedenen Operationsweisen in ›Bewusstsein‹ bzw. ›Gedanken‹ (›psychische Systeme‹) und ›Kommunikation‹ (›soziale Systeme‹) (vgl. Gripp 1995: 55ff.). Luhmanns Gesellschaftstheorie hält auf den ersten Blick eine Fülle von Kandidaten für den Objektivitätsbegriff parat: ›funktionale Differenzierung‹, ›Kommunikation‹, ›Autopoiesis‹, ›Sinn‹, ›System‹ etc. Diese Begriffe sind in der Luhmannschen Konzeption von gesellschaftlicher Objektivität eng miteinander verwoben. Luhmanns Begriff der Gesellschaft ist auf einer allgemeinen Ebene im Wesentlichen durch zwei Aspekte gekennzeichnet, nämlich durch die Form der ›funktionalen Differenzierung‹ bzw. ›Polykontexturalität‹ und damit zusammenhängend der ›strukturellen Kopplung‹ sowie durch das eigentümliche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das sich jedoch als aporetisch erweist. Luhmann vertritt ein horizontales Gesellschaftsbild. Er geht vom Zustand der egalitären Differenzierung objektiv strukturierter Teilsysteme und deren ›struktureller Kopplung‹ aus (vgl. Gripp 1995). Erst auf der Grundlage dieser Begriffsstrategie differenziert er nochmals zwischen verschiedenen Typen von Subsystemen bzw. sozialen Systemen: ›Interaktion‹, ›Organisation‹, ›gesellschaftliche Funktionssysteme‹ (vgl. Krause 2001) und auch ›soziale Bewegungen‹ (vgl. Bechmann 1998). Die einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft verhalten sich nicht äußerlich zur Gesellschaft, sondern in ihren kommunikativen Operationen sind sie der Vollzug der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997: 90). Gesellschaft als objektive, für-sich existierende Einheit existiert also im Kontext ›funktionaler Differenzierung‹ nicht. In diesem Sinne wird die als ›funktional differenziert‹ gefasste Gesellschaft auch als ›polykontextural‹ oder ›multizentrisch‹ bezeichnet. Die Wirklichkeit der Gesellschaft existiert in so vielen Formen, wie es zur Ausbildung von ›Leitdifferenzen‹, also ›teilsystemischen Perspektiven‹, und schließlich zur ›selbstreferentiellen‹ ›operativen Schließung‹ (›Autopoiesis‹) der Teilsysteme kommt. Da jedoch zwischen den Subsystemen keine gemeinsame Identität existiert, sind sie v.a. durch den Mechanismus der ›strukturellen Kopplung‹ miteinander verbunden. Dieser soll darin bestehen, dass die Systeme gleichzeitig ›operativ geschlossen‹ und mit ihrer Umwelt verbunden – im Sinne einer »gleichzeitigen Offenheit
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und Geschlossenheit, d.h. der Simultanverweisung auf Eigenes und Fremdes« (Nassehi 1992: 51) – sind (vgl. Luhmann 1997: 92ff.). So sind bspw. Wirtschaft und Recht durch Eigentum und Vertrag oder Politik und Recht durch die Verfassung ›strukturell‹ gekoppelt. Die zentrale Weichenstellung seiner Theoriebildung nimmt Luhmann vor, indem er auf der Ebene der Gesellschaftstheorie vom Problem der ›Einheit‹ zu dem der ›Differenz‹ übergeht.44 Einen wichtigen Impuls erhält Luhmanns gesellschaftstheoretischer Paradigmenwechsel hierbei aus der Konfrontation des Hegelschen Gesellschaftsbegriffs mit auf Parsons zurückgehenden differenzierungstheoretischen Überlegungen. Luhmanns Verhältnis zu Hegels Gesellschaftsbegriff, insbesondere bezogen auf den Begriff der Verdopplung der Gesellschaft in Staat und Gesellschaft, stellt einen nicht unbedeutenden Aspekt des Paradigmenwechsels von ›Einheit‹ zu ›Differenz‹ dar. Die Unzulänglichkeiten der praktischen Philosophie Hegels fungieren hierbei als Legitimationsgrund, den Paradigmenwechsel vom Problem der ›Einheit‹ zu dem der ›Differenz‹ zu vollziehen. Auch Luhmann sieht, dass es bei Hegel um das Problem der Nachweisbarkeit der Einheit des Sozialen geht45 und dass diese Einheit mehr beinhaltet als intersubjektive Geltung oder Anerkennung. Luhmann selbst meint, Hegel habe diese Vorstellung der Einheit nicht explizieren können (vgl. Luhmann 1987: 67f.) und gewinnt durch einen simplen Umkehrschluss sein eigenes gesellschaftstheoretisches Programm: die Bestimmung der ›Differenz von Identität und Differenz‹ (Luhmann 1984: 26, 554) als Ausgangspunkt der Gesellschaftstheorie. In Hegels Theorie des objektiven Geistes findet sich, wie gesehen, der Begriff einer in der Trennung von Staat und Gesellschaft zentrierten Gesellschaft – Luhmann spricht auch vom ›doppelten Staatsbegriff‹ (Luhmann 1987: 67) –, deren implizite Vorstellung einer übergreifenden Einheit (Vernunft, Recht, Freiheit) und Hierarchie sozialer Phänomene (Familie, Bürgerliche Gesellschaft, Staat) dem differenzierungstheoretischem Denken zuwiderlaufe. Luhmann sieht in der Unterscheidung von 44 | Dies Problem der Einheit gilt sowohl für Hegel und Habermas, welche die Gesellschaft vom Begriff des Rechts und der Vernunft her konstruieren, als auch für den frühen Parsons, der von einer übergreifenden, normativen Einheit der Gesellschaft ausgeht. 45 | Wobei das Programm der Entwicklung dieser Einheit nicht antizipiert wird als Entwicklung der Logik des Auseinandertretens. Es wird nicht gesehen, inwieweit möglicherweise mit der Trennung von Staat und bürgerlicher Ökonomie zwei grundsätzliche Vergesellschaftungsprinzipien benannt werden.
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Staat und Gesellschaft nur ein Denken, das erstmals den Übergang von ›stratifikatorischer‹ zu ›funktionaler Differenzierung‹ registriert habe (vgl. ebd.: 68), ohne dass es diesen Vorgang begreifen würde. Hegel habe als erster den Vorgang der sozialen Differenzierung deskriptiv formuliert, ohne ihn jedoch als Strukturprinzip durchschaut zu haben. Erst im Zuge der Einsicht in die volle Tragweite des Vorgangs der ›funktionalen Differenzierung‹ kann dann überhaupt nur noch die Rede vom ›Wirtschaftssystem‹ und vom ›politischen System‹ sein.46 Das klassische Problem von ›Teil‹ und ›Ganzem‹, der Vorstellung einer sich in sich selbst differenzierenden Einheit also, das Luhmann in den Kategorien von ›System und Umwelt‹ reformuliert und im Begriff der ›funktionalen Differenzierung‹, d.h. der Vorstellung eines Geflechts ›strukturell gekoppelter‹ und ›operativ geschlossener‹ wie ›kognitiv offener‹ ›Teilsysteme‹ zusammenzieht, verweist auf ein Problem der Geldtheorie, nämlich auf das der Einheit der Geldfunktionen sowie das der präzisen Bestimmung dieser Funktionen.47 Auf der Höhe der Gesellschaftstheorie verzichtet Luhmann auf einen Begriff der Einheit von Funktionen. Vielmehr werden die nunmehr funktional differenzierten Teilsysteme als Reproduktions46 | In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Luhmann die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft allein unter dem Gesichtspunkt der ›funktionalen Differenzierung‹ und damit auf der Grundlage des eigenen Gegenstandsverständnisses diskutiert. Dadurch geht ihm eine wesentliche Funktion des Hegelschen Staatsbegriffs verloren, die allerdings Marx gesehen hat. Hegel hat sich ja in der Rechtsphilosophie schon vor Durkheim des Organismusbegriffs bedient. Bei beiden aber hängt diese Vorstellung mit der Auffassung zusammen, dass Gesellschaft nicht individualistisch, d.h. atomistisch bzw. vertragstheoretisch konzipiert werden darf. Und genau dieses Problem sieht Luhmann nicht. Luhmanns Objektivitätsvorstellungen haben die von Marx und Adorno aufgeworfenen Defizite nicht kritisch aufnehmen geschweige denn auf anderem Wege bewältigen können. Die Reflexion auf die zentrale Differenz von Begriff und Sache, Bewusstsein und Gegenstand des Bewusstseins, wird von Luhmann weder in Bezug auf Hegel noch auf Durkheim reflektiert. 47 | Im Kontext der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie lässt sich dieses Problem auflösen. Die Einheit der Funktionen ist nichts anderes als der Wert in der allgemeinen Form – das Prinzip der unmittelbaren allgemeinen Austauschbarkeit, oder: die Preisform –, wobei die Funktionen dechiffriert werden können als notwendige Bestimmungen der Reproduktion des verselbständigten Werts, also des zirkulierenden Kapitalwerts.
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strukturen von teilsystemischer Einheit ausgewiesen, welche sich in einem Geflecht ›struktureller Kopplungen‹ vollzieht. Auffällig aber bleibt, dass Luhmann mit dem Begriff der ›funktionalen Differenzierung‹ ansetzt. Erst vor dem Hintergrund dieser theoriearchitektonischen Entscheidung problematisiert er, wie die Einheit der Subsysteme denkbar sein könnte. Er verfährt damit offensichtlich, wie bereits vor ihm Parsons, insofern prekär, als er den Begriff der Gesellschaft vom Begriff der Differenzierung her denkt und dann das Problem der Einheit auf der Ebene der Spezifizierung von Teilsystemen rethematisiert, wobei fraglich ist, inwiefern Luhmann ›Einheit‹ konstruiert oder aus dem Gegenstand entwickeln kann. Die Zustandsbestimmung der ›polykontexturellen‹, ›funktionalen Differenzierung‹ ist dabei grundsätzlich bereits Ausdruck einer unreflektierten, sich im Medium des funktionalistischen Denkens vollziehenden Verarbeitung gesellschaftlicher Erfahrung. Sie kann insofern als ›Monstrosität‹ im Sinne der Adornoschen Durkheim-Kritik verstanden werden. Die weitere Ausformulierung der Theorie wird durch diese problematische Grundentscheidung angeleitet. Dabei zeigen sich auf der Ebene der Analyse von Subsystemen weitere methodologische (›Scheinableitungen‹ und ›Erschleichungen von Objektivität‹) und sachliche Probleme (›Übergeneralisierung‹ und ›Ontologisierung‹ von Objektivität). Luhmann postuliert im Kontext seines Gesellschaftsbegriffs die absolute, d.h. ›operative‹ Trennung von Individuum und Gesellschaft. Die Form der Sprache wird hierbei gedacht als ›strukturelle Kopplung‹ zwischen ›psychischen‹ und ›sozialen Systemen‹ (vgl. Luhmann 1994: 5ff.). Es existiert ein Verhältnis der ›Interpenetration‹ zwischen ›psychischen Systemen‹ und ›sozialen Systemen‹, innerhalb dessen beide Formen aufeinander verweisen, ohne ihre jeweiligen Elemente – hier: ›Bewusstsein‹ bzw. ›Kommunikationen‹ – und Operationsweisen zu verändern (vgl. Krause 2001: 147). Luhmann löst somit das Konstitutionsproblem vollends auf, indem er, aus der Beobachterperspektive heraus, das ›Subjekt‹ selbst als ›System‹ ausweist. Infolge einer solchen Generalisierung kann aus Sicht der Systemtheorie nicht mehr sinnvoll von einer wie auch immer gearteten Subjekt-Objekt-Problematik ausgegangen werden. Luhmann visiert vor diesem Hintergrund auch nicht mehr die genetische Entwicklung des Vorgangs gesellschaftlicher Individuierung an, sondern postuliert mittels des Systembegriffs, dass Individuen und Gesellschaft vollkommen verschiedene innere Strukturen (›Bewusstsein‹ und ›Kommunikation‹) haben. Dennoch existieren auch in der Systemtheorie beide Operationsmodi nicht unabhängig voneinander. Denn ›Kommunikation‹ bedarf zu ihrer Aufrechterhaltung
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Monstrositäten ›Bewusstsein‹, als ›Umwelt‹ ›sozialer Systeme‹. Somit existiert jedifferenzierungs- doch offensichtlich ein notwendiger Vermittlungszusammenhang, theoretischer dessen soziale Qualität zu explizieren wäre. Begriffsbildung Eine wesentliche Aporie scheint sich in der Folge des Übergangs zum essentialistischen Differenzierungsbegriff für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft abzuzeichnen. Dieser Zusammenhang ließe sich m.E. als ›Subjektaporie‹ begreifen. Auch Krause hält fest, dass das Problem des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft unter konstitutionstheoretischen Gesichtspunkten in der Systemtheorie unlösbar ist: »Kein System ist ein perpetuum mobile. So wie sich soziale Systeme angesichts auf Dauer gestellter doppelter Kontingenz immer wieder konstituieren, der Beteiligung von Aspekten des Menschen bedürfen, so konstituieren sich psychische Systeme immer wieder angesichts sozialer Systeme. Das Henne-Ei-Problem ist nicht lösbar« (ebd.: 39; vgl. auch ebd.: 101). Entgegen seines Gestus der radikalen Subjektkritik setzt Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie vereinzelte Einzelne voraus und zwar bereits mit der allerfundamentalsten Unterscheidung von ›Leben‹, ›Bewusstsein‹ und ›Kommunikation‹. Er greift mit dieser Grundkonstellation schon die spezifische für die Moderne konstitutive Gegenübersetzung von Individuum und Gesellschaft äußerlich auf. Denn offenbar wird auch der wirkliche Vorgang der Vermittlung von ›Subjekt‹ und ›System‹ nicht gedacht, sondern mit der Vorstellung der ›Interpenetration‹ bzw. der ›strukturellen Kopplung‹ lediglich bebildert. Der konstitutionstheoretische Gesichtspunkt fällt damit unter den Tisch. In diesem Zusammenhang ist zur Kenntnis zu nehmen, dass auch die Systemtheorie symptomatischer Weise unkritisch die soziologische Rollenvorstellung übernimmt. Das bedeutet, dass auch bezogen auf das ›Subjekt‹ mit unreflektierten Analogiebildungen operiert wird. Das ›alteuropäische‹ Denken schleicht sich so durch die Hintertür wieder ein, indem das Selbstverständnis des modernen Individuums allein erkenntnistheoretisch angetastet wird, gesellschaftstheoretisch jedoch verschont bleibt. Luhmann organisiert, damit konform gehend, seine eigene Erfahrung von Struktur mit den Begriffen von ›Bewusstsein‹ und ›Kommunikation‹. Er fragt nicht nach der Legitimität dieser Vorgehensweise und konstruiert nachträglich die immer schon vorgefundene Vermitteltheit von vereinzeltem ›Subjekt‹ und Gesellschaft mittels mechanistischer Begrifflichkeiten. Aus diesem Grunde trägt die Systemtheorie der Gesellschaft das Stigma der Sozialtechnologie, das Habermas ihr zugewiesen hat, durchaus zu recht. Zu erinnern ist an dieser Stelle auch an die Habermassche Ahnung hinsichtlich der Herkunft des Luhmannschen Verständnisses von Indi-
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viduum und Gesellschaft: »Der Aktenfluß zwischen Ministerialbehörden und das monadisch eingekapselte Bewußtsein eines Robinson liefern die Leitvorstellungen für die begriffliche Entkopplung von sozialem und psychischem System, wobei das eine allein auf Kommunikation und das andere allein auf Bewußtsein basiert sein soll« (Habermas 1985a: 437). Über diese aporetische systemtheoretische Relativierung des Subjekts hinaus, lässt sich zeigen, dass die seitens der Systemtheorie ausgewiesene Objektivität der Struktur allein in unterkomplexer Weise auf dem Wege der Übergeneralisierung systemtheoretischer Kategorien erfasst wird und dass vor diesem Hintergrund die ›Ableitung‹ der Objektivität der Strukturen zirkulären Charakter hat. Wie konzipiert Luhmann die Genese sozialer Systeme?48 Der Schlüsselbegriff für die Beantwortung dieser Frage ist jener der ›Kommunikation‹. Der Begriff der ›Kommunikation‹ ist der eigentliche, weil basale Objektivitätsbegriff in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie. Luhmann selbst betont, dass der Begriff der ›Kommunikation‹ entscheidend für die Umstellung der Soziologie vom Handlungsbegriff auf den Systembegriff ist (vgl. Luhmann 1994: 3).49 ›Kommunikation‹ zeigt sich dabei als Ausdruck der Vorstellung einer ›dritten Realität‹ neben ›Natur‹ und ›Bewusstsein‹. Ebenso wird deutlich, dass auch die Begriffe ›Gesellschaft‹, ›System‹ und ›Autopoiesis‹ als ›dritte Realität‹ konzipiert werden (vgl. auch ebd.: 1ff.). Gerade in dieser Hinsicht kann man Luhmann zugestehen, dass diese Wirklichkeitsvorstellung der Sache nach in die richtige Richtung weist. Aber trifft dieser Begriff auch die Wirklichkeit – die reale Einheit – gesellschaftlicher Eigenstrukturen? Es hat sich bereits angedeutet, dass Luhmann, infolge seiner subjektiv-analytisch begründeten Entscheidung für ein generalisiertes Differenzierungskonzept, Formen gesellschaftlicher Einheit in den Subsystemen lokalisieren muss. Dabei negiert die generali48 | Auf das Problem der ›doppelten Kontingenz‹ gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Das Problem der ›doppelten Kontingenz‹ im Sinne einer ›chaotischen Mannigfaltigkeit‹ auf der Ebene der unmittelbaren Interaktion löst sich im Prinzip in der Genese des Systems. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert allein, wie Luhmann Einheit begründet. 49 | Siehe auch die ›Definition‹ bei Luhmann 1994: 4. Das Marxsche Gegenkonzept zur ›Kommunikation‹ ist das der ›Wertgegenständlichkeit‹ bzw. des ›makroökonomischen Werts‹, das er als Ausdruck der Bestimmung einer extraordinären Gestalt gesellschaftlicher Wirklichkeit begreift. Siehe auch die Abschnitt S. 253ff. dieser Arbeit.
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Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
sierend verfahrende systemtheoretische Analyse die spezifischen Strukturmomente von Staat und Ökonomie wie sie auch die durch Staat und Kapital vermittelten Institutionalisierungsformen als unabhängig und strukturisomorph konzipiert. In diesem Kontext präsentiert sich der Begriff der ›Autopoiesis‹ als Ausdruck einer Theorie der Strukturbildung. Hier reflektiert Luhmann den Charakter der Eigenlogizität objektiver gesellschaftlicher Strukturen. Allerdings geschieht dies in einer Perspektive, die Objektivität nicht als verselbständigte zu denken vermag, sodass die Genese von Objektivität in Gestalt der Selbstexplikation eines reifizierenden Objektivitätsbegriffs vollzogen werden kann. Die Frage nach der Einheit innerhalb der funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft verweist auf den Vorgang der ›Mediatisierung‹ bzw. ›Codierung‹ von ›Kommunikation‹. Die so genannten ›binären Codes‹ erzeugen die jeweils konstitutive Unterscheidung, d.h. die Einheit des Systems (Recht/Unrecht, Zahlen/Nicht-Zahlen etc.). Deswegen wird auch von ›Leitdifferenzen‹ gesprochen. Der Begriff der ›Kommunikation‹ kennzeichnet demgegenüber die einfachste und damit die emphatische Form der Einheit von Gesellschaftlichkeit als Voraussetzung jeglicher Form von gesellschaftlicher Strukturbildung. Luhmann wird unter theoriearchitektonischen Gesichtspunkten dazu genötigt, den ›Kommunikationsbegriff‹ einzuführen, weil er auf der Ebene der Subsysteme vor dem Hintergrund seines Begriffs ›funktionaler Differenzierung‹ mit dem Problem der ›Emergenz‹, also der überindividuellen Erscheinungsweise von Phänomenen der Einheit und Objektivität und der Frage nach ihrer Ableitbarkeit aus einen basalen Prinzip konfrontiert ist. Die ›Codierung‹ von ›Kommunikation‹ ist schließlich der ›unit act‹ der Systembildung (vgl. Krause 2001: 19). Unter evolutionären Gesichtspunkten stellt es sich so dar, dass die elementare Voraussetzung ›funktionaler Differenzierung‹ in der Differenzierung von verschiedenen Handlungstypen bzw. Kommunikationsformen besteht (vgl. ebd.: 21, 40), die dann in ›Codierung‹ und ›Mediatisierung‹ übergehen und damit die Ausdifferenzierung selbstbezüglicher funktionaler gesellschaftlicher Teilsysteme nach sich ziehen (vgl. ebd.: 154). Luhmanns Argumentation zielt darauf ab, allen Teilsystemen eine identische Strukturlogik nachzuweisen: Mit der »Vorstellung von gesellschaftlicher Differenzierung als einer auf binären Codes beruhenden Autopoiesis von Kommunikationszusammenhängen leistet Luhmann eine theoretische Mikrofundierung der teilsystemischen Strukturdynamiken. Es wird der bei allen ausdifferenzierten Teilsystemen der modernen Gesellschaft gleiche Mechanismus herausgearbeitet, der deren identische oder nicht-identische Reprodukti-
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on, also Strukturerhaltung wie Strukturwandel trägt« (Schimank 2003: 268 f.; Hvm). Luhmann begibt sich förmlich auf die Suche nach ›Mediatisierung‹. Im Zusammenhang mit dem Konstrukt der Differenzierung zeigt sich allerdings, dass Luhmann große Schwierigkeiten hat, die Codierungen in Subsystemen wie z.B. Religion oder Kunst induktiv zu bestimmen, d.h. aus dem Gegenstand selbst zu entwickeln. 50 Luhmann gerät damit in eine theoretische Situation, in der er v.a. mit den Implikationen seiner eigenen theoretischen Monstrositäten kämpft. Luhmanns Theorieentwicklung ist dementsprechend als Ausdruck dieses Kampfes mit seiner eigenen Verdinglichung, die in umfangreichen Reifizierungen in Gestalt der Enthistorisierung und Übergeneralisierung des Medienkonzepts mündet. Indem er alle Gestalten von Weltbezügen und institutionellen Kontexten unter eine einheitliche und konstitutiv reifizierende Beschreibung bringt, blendet er jedoch zugleich qualitative Differenzierungen des sozialwissenschaftlichen Objektbereichs und existierende polit-ökonomische Vermittlungszusammenhänge gleichermaßen aus. 51 Im Zusammenhang mit der Einheit bzw. Eigenstruktur sozialer Systeme führt Luhmann den Begriff der ›Autopoiesis‹ ein. Dies kennzeichnet Luhmanns Antwort auf die Frage nach der Logik von Strukturbildung (vgl. auch Luhmann 1997: 65). Während ›Mediatisierung‹ das jeweilige Prinzip der ›Einheit‹ kennzeichnet, ist der Prozess der ›Autopoiesis‹ hingegen gedacht als Selbstbeziehung, durch welche die eigene Einheit des jeweiligen Systems und damit zugleich die Abgrenzung gegenüber anderen Systemen auf Dauer gestellt wird (›operative Schließung‹). ›Autopoiesis‹ ist wesentlich eine Beschreibung für den Vorgang der Selbsterzeugung – der Reproduktionsweise – von Systemen und deren Elementen. Systeme können dabei ihre Binnendynamik verändern, ohne sich aufzulö50 | Luhmanns Arbeiten über die Religion der Gesellschaft und insbesondere über das Erziehungssystem der Gesellschaft werden häufig sogar von Luhmannanhängern als dessen schwächste angesehen (vgl. stellvertretend für andere Krause 2001). 51 | Siehe Abschnitte S. 97ff. sowie Kapitel 4 dieser Arbeit. Es ist grundsätzlich fraglich, ob die ›Leitdifferenzen‹/›Codierungen‹ oder ›Medien‹ vorgefunden oder konstruiert werden. Zu fragen ist also, wie die ›Codierung‹. – die Einheit – bestimmt wird. Bezüglich des vermeintlichen Religions- oder Erziehungssystems ist schließlich zu fragen, ob hier ein objektiver globaler Strukturzusammenhang der ›Kommunikationen‹ existiert, wie es bei der kapitalistischen Ökonomie der Fall ist. Lässt sich ein objektives Weltreligionssystem vom Gegenstand her nachweisen?
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Monstrositäten sen, ohne also ihre Einheit zu verlieren. Die internen Dynamiken differenzierungs- der verschiedenen funktionalen Teilsysteme wirken sich wiederum theoretischer aufeinander aus, ohne dadurch ihre Grenzen aufzulösen. Begriffsbildung Die theoretische Ableitung der logischen Binnenstrukturierung von Teilsystemen findet unter der Voraussetzung statt, dass die Einheit des Systems selbst in reifizierender Weise vorausgesetzt wird, sodass sich hier kein konstitutionstheoretischer Kontext ergibt, in dem die Genese realer Objektivität mit dem bewussten Handeln der Individuen zusammengebracht würde. Die Aporie lautet hier, dass in zirkulärer und technizistischer Weise Objektivität aus Objektivität abgeleitet wird, sodass m.E. von einer ›Erschleichung von Objektivität‹ bzw. ›Scheinableitung‹ gesprochen werden kann. Denn die Theorie reflektiert in einem konstitutionstheoretischen Scheingefecht allein ihr eigenes Objektivitätskonstrukt. 52 Die Beobachtungsaporie der Systemtheorie | Der erfahrungstheoretisch sensibilisierte Blick auf das Verhältnis von Gegenstand und Methode im gesellschaftstheoretischen Entwurf Luhmanns fördert methodologische Implikationen der aporetischen und reifizierenden Einheits- und Strukturbegriffe der Systemtheorie der Gesellschaft zutage. Es ließe sich hier vielleicht am ehesten von einer ›Beobachtungsaporie‹ sprechen: hierbei geht es um den im Rahmen der gesellschaftstheoretischen Reflexion der Systemtheorie unkritisch vollzogenen soziologischen Perspektivwechsel von der Binnen- bzw. Teilnehmerperspektive zur Beobachterperspektive. Luhmann trifft in Verbindung mit seinem Rekurs auf einen emphatischen Begriff der Gesellschaft bekanntlich eine methodologische Grundentscheidung gegen die soziologische Handlungstheorie und den sinnverstehenden Zugang. Luhmann begründet und spezifiziert diese Frontstellung und damit zugleich seinen Begriff der Gesellschaft jedoch nicht mittels der Reflexion auf das Verhältnis von Theorie und Gegenstand, sondern erkenntnistheoretisch. Die Analyse und damit der Nachweis der tatsächlichen Existenz einer Eigenstruktur der ›emergenten‹ Gesellschaftlichkeit wird paradoxerweise qua Universalisierung eines erkenntnistheoretischen Konstrukts (›Beobachtung‹) angegangen. Dies impliziert die unreflektierte und verdinglichende ›Verwissenschaftlichung der Binnenperspektive‹ durch die systemtheoretische Organisation von gesell52 | Die Vorgehensweise erinnert also an die Marxsche Vorgehensweise im Kapital, wo der Wertbegriff definitorisch eingeführt wird und die Genese von Objektivität – hier der Geldform – ohne Berücksichtigung auf das Handeln der Individuen durchgeführt wird (vgl. Heinrich 2001).
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schaftlicher Erfahrung. Zugleich lässt sich zeigen, dass im gesellschaftstheoretisch durchgeführten Beobachtungskonzept die Binnenperspektive keineswegs überwunden wird. Mit dem eigentümlich aporetischen Charakter des Theorems der ›funktionalen Differenzierung› geht demzufolge ein verkürzter Theoriebegriff einher, der sich an dem unzureichend begründeten Perspektivwechsel der soziologischen Beobachtung ablesen lässt. Luhmanns aporetischer Konzeption soziologischer Beobachtung liegt ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Gesellschaft zugrunde. Das Konzept der soziologischen Beobachtung wird dabei als elabortierteste Form der Selbstreflexion der Gesellschaft ausgewiesen. Allerdings lässt sich zeigen, dass das so gefasste Reflexionsniveau allein um den Preis des Verlustes des Gegenstandes, der Realität der Struktur, zu haben ist. Luhmann diskutiert das Verhältnis von Gesellschaft und deren Selbstbeschreibung in einem wissenssoziologischen Kontext als das Verhältnis der parallel verlaufenden Entwicklung von ›Gesellschaftsstruktur‹ und ›Semantik‹ (vgl. Luhmann 1980). Während die ›Gesellschaftsstruktur‹ die ›operative‹ Ebene realer Systeme darstellt, handelt es sich bei der ›Semantik‹ um einen der Struktur nachgeordneten Modus der ›Beobachtung‹ von Gesellschaft, eine so genannte ›lineare Nachträglichkeit‹ (vgl. dazu Stäheli 1998). Luhmann beansprucht bekanntlich mit seiner Theorie die gesamte soziologische Dogmengeschichte einschließlich der Kritischen Theorie mit einem Geniestreich weggewischt zu haben. Alle ihm vorausgehenden Theorien begreift er als unzureichende Selbstbeschreibungen der Gesellschaft (vgl. auch Krause 2001: 83). Luhmann betrachtet die konkurrierenden soziologischen Theorien, exemplarisch immer wieder Marx, im Kontext der Unterscheidung von ›Gesellschaftsstruktur‹ und ›Semantik‹ als unzureichende Selbstbeschreibungen der Gesellschaft jedoch vor dem Hintergrund seines eigenen Gesellschaftsbegriffs (vgl. Luhmann 1980: 7, 275). Diese Verfahrensweise steht damit im strikten Gegensatz zu Adorno, der den Gegenstand bzw. die basalen gesellschaftstheoretischen Fragestellungen gerade aus den Antinomien der soziologischen Theorien sowie der fundamentalen erfahrungstheoretisch zu begründenden Spannung zwischen Begriff und Sache entwickelt. Zugleich kann Luhmann die einschlägigen soziologischen Paradigmen jedoch, ebenfalls im Gegensatz zu Adorno, in ihrer Unzulänglichkeit selber nicht aus der Struktur, d.h. vor dem Hintergrund der Fragestellung, wie die soziologischen Theorien ihre Kategorien und Methoden konstruieren, wie die Struktur der Gesellschaft den Theorien immanent ist, entwickeln. Somit verhält sich die Systemtheorie in
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dieser Hinsicht genau genommen auch unkritisch zur Handlungstheorie und deren zentralem Objekt und objektiver Voraussetzung, dem allgemeinen Individuum, denn die in der Handlungstheorie immer schon vorausgesetzte Form der Vereinzelung (freie und gleiche, rational handelnde Individuen) wäre selbst aus der Struktur ›abzuleiten‹. Luhmann kann stattdessen die Unzulänglichkeit konkurrierender Theorien allein dadurch bestimmen, dass er diese Theorien an seinem eigenen Gesellschaftsbegriff misst (siehe oben, Luhmanns Hegel-Interpretation). Luhmann reflektiert somit nicht, inwiefern etwa Marx eine adäquate Theorie der modernen Ökonomie formuliert, sondern kritisiert primär, dass Marx das ›Prinzip‹ der ›funktionalen Differenzierung‹ nicht durchschaut habe. Ähnlich dem Problem der ›Emergenz‹ scheint Luhmann somit auch das Verhältnis von Theorie und Gesellschaft eher als Problem erfassen als es tatsächlich lösen zu können, wobei sich auch hier Unschärfen und Inkonsequenzen, u.a. im Hinblick auf die unzureichende Luhmannsche Reflexion auf die politischen Implikationen seiner Theorie, zeigen (vgl. Stäheli 1998). Den inneren und notwendigen Zusammenhang von Gegenstand und Theorie/Methode kann Luhmann im Kontext der Unterscheidung von ›Gesellschaftsstruktur‹ und ›Semantik‹ offenbar nicht entwickeln. Angesichts seines Anspruchs, eine Theorie der Eigenstruktur der Gesellschaft zu formulieren, erscheint es eigentlich überraschend, dass Luhmann seinen Gesellschaftsbegriff mittels des Konzepts der ›Beobachtung‹ unter Rekurs auf ein erkenntnistheoretisches Konstrukt abzusichern versucht.53 Luhmanns Konzept der Beobachtung fällt in den Kontext der ›naturalistischen Epistemologie‹, also von Erkenntnistheorie, nach der die ›Kategorien‹ (›Kognition‹) keinen transzendentalen, wie noch bei Kant, sondern einen organischen Ursprung haben.54 Luhmann geht mit dem Begriff der Beobachtung 53 | Zu Luhmanns eigentümlichen Rekurs auf Erkenntnistheorie vgl. Barben 1996: 45ff., auch Wittenbecher 1999: 63. 54 | Luhmann knüpft an das so genannte ›Formkalkül‹ des Mathematikers Spencer Brown an, offenbar um sich auf diesem Wege nicht auf Hegel einlassen zu müssen. Hegel hat in seiner Kant-Kritik gezeigt, dass die Tatsache, dass die Gegenstände im Bewusstsein als außerhalb des Bewusstseins existierend erscheinen – die Form der ›Gegenständlichkeit‹ der Gegenstände also – als Reflexionsbewegung des Ichs, das sich einmal als Ich und einmal als Gegenstand setzt, zu begreifen ist. Liebrucks hat in seiner ›Philosophie von der Sprache her‹ versucht, die bewusstseinsimmanente Unterscheidung von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ auf sprachtheoretischem Wege als Resultat einer Subjekt-Subjekt-Objekt-Bezie-
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auf einer grundsätzlichen Ebene davon aus, dass ›Beobachten‹ kein spezifisches Phänomen des Bewusstseins ist, sondern ebenso im Falle von ›Großmolekülen‹, ›Amöben‹ oder ›Zellen‹ (vgl. Luhmann 1992: 82) wie auch bei ›psychischen‹ und ›sozialen Systemen‹ stattfindet. Dem Konzept der Beobachtung liegt hierbei die an Parsons anschließende Generalisierung des Systembegriffs im Hinblick auf die Beschreibung nunmehr natürlicher, bewusster und gesellschaftlicher Vorgänge zugrunde. Systembildung und Beobachtungskonstitution fallen dabei zusammen: »Die Ausdifferenzierung eines Systems – ob lebendes, psychisches oder soziales –, seine Schließung gegenüber der Umwelt ist die Geburtsstunde des Beobachters, der dann limitiert, was im und durch das System beobachtet werden kann, wie er umgekehrt das autologische Resultat dieser Beobachtung ist« (Wittenbecher 1999: 59). Luhmann entwickelt, nachdem er das erkenntnistheoretische Beobachtungskonstrukt universalisiert hat, ein Zwei- bzw. DreiStufenmodell des Beobachtens. Die ›Beobachtung erster Ordnung‹ macht intuitiv und naiv Unterscheidungen (›Operationsebene‹, ›Seinsebene‹). Der Beobachter – als ›System‹ – unterscheidet und bezeichnet etwas, ohne die Einheit der Differenz selber sehen zu können. Die ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ beobachtet, dass bzw. wie der Beobachter erster Ordnung Unterscheidungen macht und dass dieser einen ›blinden Fleck‹ hat (z.B. Selbstbeobachtung eines Systems oder ›Theorieebene‹, aber auch ›Kunst‹). Allerdings weist auch er selbst, insofern er unterscheidet, einen ›blinden Fleck‹ auf. Die ›Beobachtung dritter Ordnung‹ kennzeichnet die Ebene der ›Metareflexion‹. Sie fragt »nach der Beobachtbarkeit der Beobachtungen von Beobachtungen« (Krause 2001: 111). Auf dieser Reflexionsstufe kann sich ein Beobachter zweiter Ordnung selbst beobachten. Dieses zunächst formal eingeführte Konstrukt der hierarchischen Beobachtungsstufen findet nun auch in der Formulierung der Gesellschaftstheorie Verwendung. Luhmann verweist auf den hung selber noch in ihrer Genese zu entwickeln. Marx hat das Problem der ökonomischen Formen als Problem ›gesellschaftlicher Gegenständlichkeit‹ gefasst: die ›Wertgegenständlichkeit‹ ist ein Gesetztes, das als An-sich-seinendes erscheint und dessen Gestalt genetisch zu entwickeln ist. Adorno zielt mit dem Begriff der ›Verdinglichung‹ darauf, die Strukturvermitteltheit von ›sozialen Tatsachen‹ zu dechiffrieren. Die ›Gegenständlichkeit‹ der gesellschaftlichen Formen lässt sich bei Marx und Adorno schließlich als Moment realer, in-sich-bestimmter systemischer Verselbständigung entwickeln.
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grundsätzlich anti-ontologischen Seinsstatus objektiv existierender ›sozialer Systeme‹. ›Soziale Systeme‹ existieren zwar ›operativ‹ selbständig, aber niemals unabhängig von Beobachtung. Beobachtung findet immer in der Gesellschaft statt, und sie findet auf verschiedenen Reflexionsebenen statt. So finden in den Teilsystemen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, etwa in Gestalt von sozialen Handlungen und theoretischen Beschreibungen dieses Handelns, statt. Entscheidend ist die Beobachtung der Beobachtung zweiter Ordnung, die systematisch erst von der Systemtheorie geleistet werden kann. Was also sieht die Systemtheorie dort im Hinblick auf sich selbst? Die Systemtheorie sieht, dass sie die höchste Stufe der Selbstreflexion, weil Reflexion der Beobachtung zweiter Ordnung, der Gesellschaft darstellt. Und sie sieht dabei, dass sie die Einseitigkeiten der konkurrierenden Theorien angesichts ›funktionaler Differenzierung‹ durchschaut und selbst eine angemessene(re) Selbstbeschreibung der Gesellschaft darstellt. Luhmanns ›soziologische Aufklärung‹ qua Systemtheorie der Gesellschaft sagt der Gesellschaft, was sie aus der Perspektive ihres elaboriertesten Niveaus der Selbstbeschreibung ist: ein objektiver, harmonischer Prozess der ›funktionalen Differenzierung‹, ohne übergreifendes Sinnkriterium und ohne Telos. Obwohl sich selbst als elaborierteste Selbstbeobachtung der Gesellschaft verstehend, ist die Systemtheorie, insofern sie sich selbst als Beobachtung, welche die von ihr praktizierte Unterscheidung nicht ›sehen‹ kann, begreift (Unmöglichkeit der Letztbeobachtung), durch einen konstitutiven ›Relativismus‹ gekennzeichnet (vgl. Luhmann 1997: 1142; zum ›Relativismus‹ vgl. auch Barben 1996). Lässt sich das erkenntnistheoretische Konstrukt der Beobachtung sinnvoll auf die Analyse der Einheit und Eigenstrukturen der Gesellschaft übertragen, angesichts der Einsicht, dass es in der Gesellschaftstheorie um eine dem Handeln der Individuen vorausgesetzte Realität der Objektivität des Systems und die Möglichkeit der Einsicht in deren Eigenstrukturen geht? Das Luhmannsche Konzept der Beobachtung erweist sich hier als problematisch. Dies betrifft m.E. insbesondere die prekären Implikationen des Wechsels von der soziologischen Teilnehmer- zur Beobachterperspektive. Im Konzept der Beobachtung wird bereits der mit der Binnenperspektive der Beteiligten gesetzte Erfahrungshorizont erkenntnistheoretisch, und zwar in einer objektivierenden Weise, beschrieben. In der analytischen Perspektive der Beobachtung werden die in der Binnenperspektive vorgefundenen Unterscheidungen (›Weltbezüge‹, ›Wertorientierungen‹) analytisch vereinheitlicht und unter eine objektivistische Beschreibung gebracht.
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Die realen, d.h. aus der Teilnehmerperspektive formulierbaren qualitativen Differenzierungen des Objektbereichs sowie die damit verbundenen Konstitutionsprobleme (›Wertgegenständlichkeit‹, ›Allgemeiner Wille‹, ›Verdinglichung‹ im weitesten Sinne) werden damit nicht benannt.55 Im Anschluss daran kann das Konstrukt der Beobachtungsstufen ausgeführt werden. Mit diesem wird eine äußerst künstliche Trennung von Beobachtungsniveaus prätendiert, wodurch der innere und notwendige Zusammenhang von ›Begriff‹ und ›Sache‹ nicht geklärt werden kann. Es wird seitens der Systemtheorie nicht thematisiert, wie die Erfahrung von Objektivität in der Theorie verarbeitet wird, auf welche spezifische Weise Theorie Selbstreflexion der Gesellschaft ist und wie das analytische Bewusstsein die Realität einer konstitutiv von ihm unterschiedenen gesellschaftlichen Objektivität erreichen kann. Mittels der in der Stufenkonzeption der ›Beobachtung‹ rückgekoppelten systemtheoretischen Kategorien kann keine Theorie der Realität der Eigenstruktur des Gegenstandes entwickelt werden. Vielmehr wird lediglich die Erfahrung des Systemcharakters des gesellschaftlichen Zusammenhangs in den Kategorien der Systemtheorie artikuliert bzw. verarbeitet. Insofern sich Luhmann bereits mit der Vorstellung der Differenz von Beobachtung erster und zweiter Ordnung unkritisch gegenüber dem Vorgang der Verselbständigung der Methode gegenüber der Sache sowie der Verfahrensweise, dass die analytischen Kategorien in den Gegenstand hineingetragen werden, verhält, erweist sich das Beobachtungskonzept als prekär. Insofern Luhmann sich als blind gegenüber den Defiziten funktionalistischer Theoriebildung erweist 55 | In der Binnenperspektive findet sich das Bewusstsein in einem Kosmos verschiedener sinnlicher und sozialer Reflexionsverhältnisse und einem spezifischen Selbstverhältnis vor. Theorie hat diese unhintergehbare Erfahrung des sinnlichen, sozialen und individuellen ›Seins‹ als Gegenstand zu formulieren, wobei mögliche feststellbare Differenzen hinsichtlich der sozialen Qualität von bspw. Moral, Recht und Geld begrifflich einzuholen wären. Insofern diese Formen der ›Positivität‹ – seit Kant und Hegel – als konstituierte gedacht werden müssen, vermag es kaum zu überzeugen, die Reflexionsverhältnisse – also das Verhältnis von ›Beobachtung‹ und ›Operation‹ als solches – vorauszusetzen, sie somit zu ontologisieren, anstatt nach ihrer Genese und möglichen Eigenstruktur zu fragen (bspw. im Falle der Produktionsverhältnisse, siehe Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit). Die Systemtheorie der Gesellschaft bleibt hinsichtlich ihres Gegenstands- und Methodenverständnisses offenbar im ›natürlichen Bewusstsein‹ befangen.
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und die Verfahrensweise der Verselbständigung der Methode gegenüber dem Gegenstand schließlich selber noch methodologisch zementiert, um so seinen eigenen Gesellschaftsbegriff als elaborierteste Selbstbeschreibung der Gesellschaft auszuweisen, ließe sich mit Adorno zugespitzt von einer Wiederholung der Wiederholung der Verdinglichung, einer Verdinglichung dritter Ordnung sprechen.56 Die zentrale methodologische Schwachstelle der Systemtheorie der Gesellschaft scheint diese unter systematischen Gesichtspunkten prekäre, weil unmögliche Abstraktion von der Binnenperspektive zu sein. Die Verabsolutierung der soziologischen Beobachterperspektive ist identisch mit dem Verlust des Gegenstandes. Es liegt in diesem Zusammenhang ferner die Vermutung nahe, dass es Luhmann keineswegs gelingt, in klassischen Termini ausgedrückt, die Binnen- bzw. Teilnehmerperspektive vollständig und konsistent zu überwinden, oder umgekehrt: dass die Binnenperspektive allen systemtheoretischen Konstruktionen unreflektiert zugrunde liegt und noch in den Verästelungen der Theoriekonstruktion in einer sich selbst undurchsichtigen Weise präsent ist. In welcher Weise ist die Binnenperspektive in der soziologischen Perspektive unüberwindbar vorausgesetzt? Die erkenntnisleitenden ›Unterscheidungen‹ werden bereits in der Binnenperspektive der Beteiligten bzw. der Theoretiker vorgefunden. Faktisch ist bspw. den Handelnden – auf der Ebene der ›Beobachtung erster Ordnung‹ – bewusst, dass sie wirtschaftlich handeln, dass sie kaufen und verkaufen, Gewinne machen und Zinsen oder Miete zahlen müssen, genauso, wie den Handelnden bewusst ist, dass sie rechtlich 56 | Luhmann greift mit der gesellschaftstheoretischen Vorstellung der ›Beobachtung erster Ordnung‹ das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft äußerlich auf. Hier werden die in der Binnenperspektive vorgefundenen Unterscheidungen unkritisch vorausgesetzt. Mit der Vorstellung der ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ greift Luhmann das Verhältnis von Theorie und Gesellschaft äußerlich auf. Hier bebildert Luhmann die in der Binnenperspektive gesetzten Formen mit den Objektivitätsvorstellungen der ›Kommunikation›, des ›Mediums‹ etc. Mit der ›Beobachtung dritter Ordnung‹ konzipiert Luhmann schließlich die Selbstreflexion von Theorie in objektivistischer Weise. Hier findet eine Selbstlegitimation der systemtheoretischen Kategorien statt, die nicht aus dem Gegenstand, sondern aus der Soziologisierung erkenntnistheoretischer Konstruktionen geleistet wird. Die angesichts anhaltender gesellschaftlicher Dynamik durchgeführte Fortbildung der Systemtheorie besteht infolgedessen darin, dass nicht der Gegenstand, sondern die eigenen verdinglichenden Kategorien reflektiert werden.
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handeln, dass also immer dann Normen zur Disposition stehen, wenn bspw. ein Vertrag geschlossen wird, gegen geltendes Recht verstoßen oder ein Zivilprozess angestrebt wird. Die Einzelnen handeln innerhalb ihrer besonderen Handlungsabsichten und Handlungsziele immer schon im Lichte des rechtlichen Normbewusstseins oder unter der Voraussetzung des Warencharakters der sinnlichen Gegenstände. Das rationale Handeln der Individuen richtet sich unmittelbar an Kategorien wie Geld und Recht und den mit diesen Formen gegebenen Eigendynamiken der institutionalisierten Zusammenhänge aus. Entscheidend ist hierbei, dass die ›emergenten‹ Charaktere der Formen der sozialen ›Einheit‹ und der bewusstintentionale und seinem Begriff nach kontingente Umgang mit diesen ›Formen‹ einen der Binnenperspektive konstitutiv immanenten subjektiv-objektiven ›Doppelcharakter‹ sozialer Handlungen kennzeichnet. Die rechtlichen und ökonomischen Formen der Einheit und Strukturzusammenhänge werden nicht ›beobachtet‹, sondern werden bereits in der Binnenperspektive der Beteiligten vorgefunden.57 Die ideellen und institutionellen Formen des Rechts, der Ökonomie, der Politik, der Familie, der Religion usw. werden bereits in der Binnenperspektive ›unterschieden‹. Und auch die damit verbundenen Formen der Differenzierung und Distanzierung einer modernen Ich-Identität werden in der Binnenperspektive vorgefunden. Oder anders ausgedrückt: die realen Unterscheidungen – ›Diremtionen‹, ›Entzweiungen‹, ›Dualismen‹ – werden in der Binnenperspektive der Handelnden immer schon vorgefunden. Entscheidend ist, wie diese Erfahrung, also das Vorfinden realer Handlungs- und Bewusstseinsformen – soziale ›Entzweiungen‹ und die ›Positivität‹ des Sozialen – sowie die Erfahrung der Eigendynamik des Sozialen, in der soziologischen Theorie reflektiert und artikuliert wird. In der Systematik der Theorie der sozialen Differenzierung bei Parsons wird die in der Binnenperspektive vorgefundene Differenzierung in der Theorie des ›Handlungssystems‹ usw. schematisiert. Luhmann setzt Parsons’ Paradigmenwechsel von der Handlungs- zur Strukturtheorie unkritisch voraus und kann so an die System- bzw. Differenzierungssemantik anschließen. Mit dem Stufenkonzept der soziologischen ›Beobachtung‹ wird der verdinglichenden gesellschaftstheoretischen Semantik (›Kommunikation‹, ›Funktionale Differenzierung‹ etc.) zu deren analytischer Absicherung eine ebenso verdinglichende Erkenntniskonzeption an die Seite gestellt. Das Konzept der ›Beobachtung‹ verschleiert dabei im 57 | Siehe hierzu eingehender die Abschnitte S. 253ff. und 263ff. dieser Arbeit.
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Gegensatz zum Begriff der ›Wertgegenständlichkeit‹/›Verdinglichung‹ qualitative Differenzen im Objektbereich: denn das religiöse oder ästhetische Bewusstsein wird keineswegs in derselben Weise vorgefunden wie das Geld oder die moderne Rechtsgeltung. Bereits mit der kritischen Selbstreflexion in der Binnenperspektive lassen sich grundsätzliche Differenzen zwischen Kapitalismus und Religion bestimmen.58 Die in der Binnenperspektive vorgefundenen sozialen Formen und Weltbezüge/Wertorientierungen werden seitens der Systemtheorie nicht präzise unterschieden bzw. konstitutionstheoretisch thematisiert, sondern – analog zur Parsonsschen Verfahrensweise – in objektivierender Einstellung bebildert. Mit dem methodischen Wechsel zur Beobachterperspektive werden alle Unterscheidungen unter einheitliche, aus völlig anderen Kontexten geborgte ›Semantiken‹ wie jene der ›Komplexität‹, ›Emergenz‹, ›Kommunikation‹, der ›Codierung‹, des ›Mediums‹, der ›Autopoiesis‹ oder des ›Systems‹ gebracht. Die wesentliche Funktion des Beobachtungskonstrukts scheint folglich darin zu bestehen, dass es durch die Einführung der Beobachtung zweiter bzw. dritter Ordnung theoriearchitektonisch ermöglicht wird, mittels des Perspektivwechsels zur Beobachterperspektive die in der Binnenperspektive gesetzten Unterscheidungen – die Objektivität gesellschaftlicher Strukturen – äußerlich aufzugreifen. Die Einführung der verdinglichenden Begriffsbildung – den erfahrungswissenschaftlichen und kybernetischen kategorialen Apparat der Systemtheorie – ermöglicht es, mannigfaltige soziale Phänomene unter eine einheitliche Beschreibung zu subsumieren sowie daran anschließend diesen Gesellschaftsbegriff als höchstes Niveau der Selbstreflexion von Gesellschaft auszugeben. Im Anschluss an Parsons’ Begriff des ›Persönlichkeitssystems‹ fasst Luhmann auch das Individuum bzw. ›Subjekt‹ als ›beobachtendes System‹.59 Die in der Binnenperspektive vorgefundenen Unterscheidungen bzw. Weltbezüge können, indem das Individuum als ›psychisches System‹ naturalisiert wird, als Akte der ›Beobachtung‹ 58 | Auch die normative Geltung moralischer Normen wird bspw. nicht als System identifiziert. Sie könnte systemtheoretisch jedoch zumindest als ›mediatisierte Kommunikation‹ ohne eigene Autopoiesis ausgewiesen werden. Denn die handelnden Individuen orientieren sich faktisch durchaus am ›Code‹ richtig/falsch. 59 | »Die Umstellung von Subjekt auf Beobachter impliziert für den Beobachter einen gleichsam entsubjektivierten objektiven Status« (Krause 2001: 77).
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beschrieben werden. Den historischen und damit zugleich gesellschaftlichen Kern des sich in Unterscheidungen bewegenden Bewusstseins, der faktisch erfahrungs- und theoriekonstitutiv ist, blendet Luhmann aus: das sich von sich selbst unterscheidende und zur Selbstobjektivierung fähige, autonome und vereinzelte, allgemeine freie und gleiche, schließlich seine inneren und äußeren Reflexionsverhältnisse in Theorien reflektierende Individuum der kapitalistischen Moderne. Der in der Binnenperspektive vorgefundene aktive und kontingente Unterscheidungscharakter moderner Individualität wird von Luhmann äußerlich aufgegriffen, somit unkritisch vorausgesetzt, erkenntnistheoretisch stilisiert und technizistisch bebildert.60 Eine solche Verfahrensweise kennzeichnet bei genauerer Nachprüfung also gerade keine nachmetaphysische Reflexionsstufe, sondern eine Bewusstseinsform, die in systematischer Hinsicht hinter Kant und Hegel zurückfällt. Oder anders ausgedrückt: der gesellschaftstheoretische Strukturbegriff, wie er von Luhmann entwickelt wurde, basiert konstitutiv auf der Selbstverabsolutierung von Subjektivität, wie sie von der Kritischen Theorie als notwendige Implikation der Konstitution und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge kritisiert wird. De facto erweist sich damit nicht nur die Erkenntnis der Realität der Gesellschaftsstruktur mittels des analytischen Abstraktionsvorgangs der soziologischen ›Beobachtung‹ als unmöglich, sondern auch die Erkenntnis der Realität subjektiver Reflexionsleistungen.61 Die mit dem Begriff der Beobachtung korrespondierende systemtheoretische Begrifflichkeit ist, analog dem Durkheimschen Organizismus sowie dem Parsonsschen Systembegriff, lediglich die Artikulation der Erfahrung gesellschaftlicher Verselbständigung. Der innere und notwendige Zusammenhang von Vereinzelung und Struktur kann systemtheoretisch nicht entwickelt werden. Die existierenden Formen gesellschaftlicher Einheit und Objektivität werden verfehlt bzw. bestenfalls in reifizierender Weise erfasst. Schon Habermas hat die diesem heimlichen Positivismus der Systemtheorie zugrunde liegende fragwürdige methodologisch-sy60 | Das Konstrukt der dreistufigen Beobachtung scheint keineswegs willkürlich zu sein. Es scheint gesättigt vom Bewusstsein (Binnenperspektive) über die Existenz einer hochsublimierten Selbstreflexionsfähigkeit von ›Subjekt‹ und ›System‹ seit Hegel und Marx zu sein. 61 | Es bedürfte hierzu vielmehr einer Theorie, welche die Eigenlogizität und Eigendynamik der Struktur ›von innen her‹ (Adorno) zu explizieren vermag. Vorrangige Kandidatin ist hier die Kritik der politischen Ökonomie von Marx.
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Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
stematische Pointe hervorgehoben. Seiner Auffassung zufolge bezieht Luhmanns Gesellschaftstheorie ihre Überzeugungskraft aus einer spezifischen Plausibilität, die sich aus ihrer eigentümlichen Nähe zur Binnenperspektive und ihrem gleichzeitigen decouvrierenden Charakter infolge der Erkenntniserträge einer verabsolutierten Beobachterperspektive ergibt: »Mit der Systemtheorie fallen die hermeneutisch verständlich gemachten Phänomene unter eine von Sprache und Selbstverständnis der Aktoren unabhängige Beschreibung. Dieser objektivierende Einstellungswechsel löst einen Verfremdungseffekt aus, der sich mit jeder einzelnen systemtheoretischen Beschreibung eines zuvor aus der Beteiligtenperspektive erschlossenen Phänomens wiederholt. So verdankt Luhmann seinen literarischen Einfluß der verblüffenden Wirkung einer intelligent objektivierenden Übersetzung, die am vertrauten Phänomen die ernüchternde Rückseite sehen lässt« (Habermas 1986: 382). Insofern mit dem Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie zugleich alle Spuren von strukturellen Verkehrungs- und Herrschaftsmomenten ausgelöscht werden, leuchtet es unmittelbar ein, warum diese Theorie sich einer erheblichen Beliebtheit erfreut. 62 Luhmann kritisiert Maturana dafür, dass dieser Gesellschaft als lebendes System konzipiere, da er damit die Grundoperation der Gesellschaft – ›Kommunikation‹ – verfehle. Nun könnte Luhmann danach fragen, ob es unter dieser Voraussetzung, die ja die der Existenz einer dritten, genuin sozialen Realität ist, überhaupt noch sinnvoll ist, auf den erfahrungswissenschaftlichen Begriff der ›Au62 | Die systemtheoretische Reflexion erlaubt es dem Individuum, indem sie dieses qua seiner Selbstobjektivierung gegenüber den realen Charakteren des ihm äußeren Systems desensibilisiert – d.h. gegen die Erfahrung der Realität systemischer Phänomene immunisiert – und zugleich die Verstrickung des Einzelnen in die Produktion und Reproduktion der Objektivität der Struktur(en) ausblendet, sich in einer irrationalen Objektivität besseren Gewissens zurechtzufinden (im Sinne der Adornoschen Durkheim-Interpretation, vgl. A 8: 251). Der Begriff der ›funktionalen Differenzierung‹ entschärft, wie klassischerweise bereits der sozialwissenschaftliche Organizismus vor ihm, die Erfahrung jener ›Gewalt von Eigentumsverhältnissen‹. Die Theorie wird taub für strukturelle Disharmonien. Existierende Verkehrungen werden mitunter bestenfalls als ›Paradoxien‹ rationalisiert. Das Konzept der Beobachtung lässt sich dabei verstehen als immer schon aporetische, weil erkenntnistheoretische Selbstversicherung der sich in verdinglichten systemtheoretischen Kategorien vollziehenden fragmentierten Artikulation einer dementsprechend unbegriffenen Erfahrung.
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topoiesis‹ als Beschreibung einer existierenden gesellschaftlichen Objektivität zurückzugreifen. Diesen Begründungsschritt unterlässt die soziologische Systemtheorie jedoch. Die Konsequenzen scheinen schwerwiegend. Habermas attestiert: »Luhmanns Systemtheorie vollzieht eine Denkbewegung von der Metaphysik zur Metabiologie« (Habermas 1985a: 430). Dieser Befund erscheint insofern als gerechtfertigt, als damit die zentrale Aporie der Systemtheorie der Gesellschaft zutreffend benannt ist: Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft ist Gesellschaftstheorie, die eigentlich gar keine ist. 63
Gesellschaftliche Objektivität als Entkopplung von System und Lebenswelt und funktionalistische Vernunft in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas System und Lebenswelt | Der Versuch der kommunikationstheoretischen Begründung der Kritischen Theorie sowie der Gesellschaftstheorie überhaupt, wie sie von Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt wird, ist wesentlich durch zwei Leitmotive gekennzeichnet: die Verbindung von Rationalitätsund Vernunftbegriff als Basis der Gesellschaftstheorie zum einen, sowie die daran anschließende Integration des Begriffs des ›Systems‹ zum anderen; und zwar letzteres nicht im ›essentialistischen‹ Sinne Luhmanns, sondern unter zunächst allein heuristischen Gesichtspunkten (vgl. TkH II). Es lässt sich zeigen, dass diese Konzeption des einschlägigen Struktur- und Handlungsproblems letztlich, mit Habermas’ Hinwendung zum Problem der realen Verselbständigung, gerade für deren Analyse unbrauchbar ist und zwar aufgrund der handlungstheoretischen und heuristischen Implikationen der Habermasschen Verwendung des Systembegriffs. Vor diesem Hintergrund teilt auch die ›essentialistische‹ Verwendung des Systembegriffs nicht unmittelbar dieselben Aporien wie sie bei Luhmann aufgetreten sind, sondern Habermas wird aufgrund der konstitutiven Verknüpfung von Rationalitäts- und Vernunftproble63 | Luhmanns holistische Konzeption gesellschaftlicher Differenzierung fällt hinter Adorno zurück, der Weber undogmatisch liest und die dort vorhandene Konstitutionsproblematik – gegen Durkheim – registriert. Habermas’ handlungstheoretisch fundiertes Differenzierungskonzept geht demgegenüber von Weber aus und entwickelt von dort aus einen ›zweistufigen‹ Begriff der Gesellschaft, der sich letztlich aber als ungeeignet für die Analyse von Strukturphänomenen erweist.
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Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
matik zu einer objektivistischen Vernunftmetaphorik gedrängt. Im Folgenden sollen kurz einige Grundmotive der in vernunft- und rationalitätstheoretischen Kategorien vorgetragenen System-und-Lebenswelt-Konzeption (›Zweistufiger Gesellschaftsbegriff‹) in Erinnerung gerufen sowie der Bezug zum erfahrungsmäßigen Kern dieser Konzeption hergestellt werden. Daran anschließend wird die aporetische Konstruktion von gesellschaftlicher Objektivität bzw. realer Verselbständigung, wie sie in der Theorie von Habermas zu finden ist, erörtert. Habermas intendiert seine kommunikationstheoretische Begründung der Gesellschaftstheorie als »nachmetaphysisches Unternehmen« (Habermas 1986: 349; Hvm). Das bedeutet, dass die gesellschaftstheoretische Argumentation von Habermas den fundamentalen Anspruch erhebt, jenseits spekulativer bzw. bewusstseinsphilosophischer, d.h. solipzistischer Begründungen zu verlaufen. Zugleich impliziert dieses explizit anti-individualistische Programm den Anspruch einer ›Detranszendentalisierung der Vernunft‹ (vgl. Habermas 2001a). Der Begriff der Vernunft, wie er insbesondere in der idealistischen Tradition von Kant und Hegel geprägt wurde, soll nicht aufgegeben werden, sondern die in der spekulativen Philosophie noch als Makrosubjekt ausgegebene Vernunft soll in der Wirklichkeit der Gesellschaft, d.h. in der Handlungsrationalität von Individuen selbst sowie in sozialen Institutionen lokalisiert werden. Gegenüber den, Habermas zufolge, bei Marx, Weber und der Kritischen Theorie verabsolutierten Begriffen des zweckrationalen, ›erfolgsorientierten Handelns‹ und der ›instrumentellen Vernunft‹ erweitert Habermas selbst den gesellschaftstheoretischen Rationalitätsbegriff um die Begriffe des ›kommunikativen‹, ›verständigungsorientierten Handelns‹ und der ›kommunikativen Vernunft‹ (vgl. Gripp 1984: 86ff.). Gesellschaftliche Integration bzw. Handlungskoordinierung findet damit, nach Habermas, entweder mittels der Erhebung von Geltungsansprüchen im verständigungsorientierten Handeln (›Sozialintegration‹) oder durch über entsprachlichte Steuerungsmedien vermitteltes zweckrationales Handeln (›Systemische Integration‹) statt (vgl. ebd.: 101). Oder in Kategorien der Vernunft ausgedrückt: Die kommunikative Vernunft konstituiert sich in der sprachlichen, verständigungsorientierten Handlungskoordinierung, die instrumentelle Vernunft im technisch-teleologischen Handeln, bzw. im über Steuerungsmedien (Geld und Macht) vermittelten strategischen Handeln, während die funktionalistische Vernunft, wie sich noch zeigen wird, die Eigendynamik der verselbständigten Subsysteme selbst bezeichnet. Die verschiedenen Arten der Vernunft gelangen auf unterschiedliche Art und Weise zur ›institu-
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tionellen‹, sozialen Realität. Die kommunikative Vernunft sedimentiert bzw. verobjektiviert sich in den Institutionen des modernen Rechtsstaats (vgl. auch Bader 1993: 50). Die instrumentelle Vernunft erhält in den sich über Steuerungsmedien ausdifferenzierenden bürokratischen und ökonomischen ›Subsystemen zweckrationalen Handelns‹ zumindest eine einigermaßen selbständige Bewegungsform. Der Begriff der genuin gesellschaftlichen Vernunft wird infolgedessen zunächst in Form eines als Theorie der Handlungsrationalität rekonstruierten doppelten Vernunftbegriffs entwickelt (›kommunikative‹ und ›instrumentelle Vernunft‹ etc.) und dann differenzierungstheoretisch erweitert (›Steuerungsmedien‹). Unter methodologischen Gesichtspunkten wird dem Begriff des ›Systems‹ v.a. dahingehend ein Recht zugesprochen, dass er der Analyse der »funktionale[n] Vernetzung von Handlungsfolgen« (TkH II: 226) dienlich sein soll. Dabei hat der Systembegriff einen rein heuristischen Charakter. Erst mit dem Problem der realen Verselbständigung wird es notwendig, den Systembegriff ›essentialistisch‹ zu verwenden (vgl. Pahl 2004), nämlich als Ausdruck einer verselbständigten ›funktionalistischen Vernunft‹. Hierin deutet sich ein für die Kommunikationstheorie der Gesellschaft wesentlicher Befund über das aus ihrer Sicht ›unvollendete Projekt der Moderne‹ (vgl. Habermas 1985a: 7) an. Denn die Ausdifferenzierung von Subsystemen ist nicht per se schlecht, sondern sie wird überhaupt erst problematisch mit der Störung der symbolischen Reproduktion sozialintegrierter Lebenswelten, was in der Theorie des kommunikativen Handelns auch unter den Begriff der ›inneren Kolonialisierung‹ bzw. ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ gebracht wird. Habermas geht davon aus, dass »jede moderne Gesellschaft, gleichviel wie ihre Klassenstruktur beschaffen ist, einen hohen Grad an struktureller Differenzierung aufweisen« (TkH II: 501) muss. Er geht also davon aus, dass sich Klassenstruktur und Struktur der Differenzierung äußerlich zueinander verhalten. Dabei hat eine »strukturelle Differenzierung der Gesellschaft« nicht »per se unvermeidliche pathologische Nebenfolgen« (TkH II: 488). ›Pathologisch‹ wird der gesellschaftliche Rationalisierungsprozess allein dann, wenn die gesellschaftlichen Steuerungsmedien Geld und Macht ›überbeansprucht‹ werden (vgl. Habermas 1984: 569) und infolgedessen in die Reproduktion der sozialintegrierten Handlungsbereiche eingreifen. Systemdifferenzierung ist also nach Habermas nicht per se mit Vorgängen der objektiven Verkehrung gleichzusetzen, und ›Pathologien‹ lassen sich nur subjektiv bestimmen. Mit anderen Worten:
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das Problem der Eigenlogizität und Eigendynamik monetär-bürokratischer Strukturen ist nicht an den Systemen selbst, sondern allein an der Reproduktionsdynamik der Sozialintegration bzw. der Lebenswelt ablesbar. Und: gesellschaftliche Strukturphänomene kennzeichnen keineswegs per se die Existenz ›struktureller Herrschaft‹, sondern nur ›Vernetzung von Handlungsfolgen‹ und damit ein ›höheres, evolutionär vorteilhaftes Niveau der Systemdifferenzierung‹. Problematisch ist allein die Dynamik der Subsysteme und dies allein insofern sie auf die symbolische Reproduktion der Lebenswelt zurückschlägt. Insofern Habermas jedoch schließlich auch einen Begriff der Verselbständigung anvisiert, ist die ideengeschichtliche Frontstellung klar: der kommunikationstheoretische Begriff der Gesellschaft bzw. jener der Moderne konkurrieren automatisch mit Adornos Totalitätsbegriff und dem Marxschen Begriff des Kapitals. Und auch Habermas selbst ist sich dieser Konkurrenz bewusst, insofern es ihm seinem eigenen Selbstverständnis zufolge um die Auflösung der Defizite der Kritischen Theorie (vgl. Habermas 1985b: 171ff.), sowie um die Ausführung bzw. sinnvolle Reformulierung des Marxschen Problems der ›Realabstraktion‹ geht (vgl. TkH I: 4; Habermas 1986: 378). Die Theorie der gesellschaftlichen Eigendynamik soll demgegenüber in differenzierungstheoretischen Kategorien überzeugender entfaltet werden können. Es lässt sich zeigen, dass Habermas das zunächst heuristisch konzipierte Konstrukt von System und Lebenswelt nicht durchhält, sondern dass sich in seiner Theorie die Struktur des Objekts wiederum durchsetzt. Auch Habermas ist, ebenso wie Luhmann, gezwungen, auf eine Vorstellung von Objektivität bzw. existierender, realer Verselbständigung zurückzugreifen. Deren theoretische Explikation ist jedoch auch unter dem Gesichtspunkt eines kommunikationstheoretisch begründeten Rekurses auf systemtheoretische Mittel nicht möglich. Auch Habermas entwickelt seinen Strukturbegriff nicht aus dem Gegenstand, sondern artikuliert in seinen Strukturkategorien allein die Erfahrung von Verselbständigung und projiziert so seine eigene Objektivitätsvorstellung in den Gegenstand hinein. Bevor dies genauer zu zeigen ist, soll zuvor der fordistischinterventionsstaatliche Erfahrungskern des Habermasschen Verständnisses gesellschaftlicher Objektivität skizziert werden. Die Erfahrung der Krise des Interventionsstaats und die Hinwendung zur politischen Theorie | Habermas zweistufiger Gesellschaftsbegriff entsteht vor dem Hintergrund der Erfahrung der fordistischen Periode nach 1945 bis in die späten 60er Jahre (Vgl.
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auch Postone 1999). Habermas entwickelt seinen eigenen Objektivitätsbegriff im Zuge der Diskussionen um die Krise des Fordismus vor dem Hintergrund der Erfahrung der relativ harmonischen fordistischen Dynamik. Zugleich vollzieht er in dieser Phase, noch bevor er den zweistufigen Gesellschaftsbegriff einführt, den Paradigmenwechsel zum Programm der kommunikations- und handlungstheoretischen Begründung der Gesellschaftstheorie (siehe Habermas 1971). Die für die Theorie des kommunikativen Handelns zentralen Grundbegriffe der ›Sozialintegration‹ und der ›Systemintegration‹ gehen dann explizit aus den krisentheoretischen Erwägungen der frühen 1970er Jahre hervor (vgl. Habermas 1973: 13f.). Vor diesem Hintergrund ist dem Hinweis Postones, Habermas formuliere eine ›Theorie des Fordismus‹, nachdrücklich hinzuzufügen, dass sich wesentliche theoretische Grundentscheidungen gerade auch aus der Erfahrung der Krise des Fordismus speisen, die gemessen wird an der als Normalzustand antizipierten Dynamik des Fordismus. Dementsprechend rechnet Habermas auch zunächst nicht mehr mit der antagonistischen und krisenhaften Dynamik kapitalistischer Vergesellschaftung, sondern geht in keynesianischer Manier davon aus, dass die ökonomische Krisendynamik staatsinterventionistisch entschärft ist.64 Die Krise des Fordismus erscheint ihm daher lediglich als eine politische, nämlich als ›Legitimationskrise‹ und ›Steuerungskrise‹, die aus der Perspektive der Hoffnung auf ›Normalisierung‹ betrachtet wird.65 Es zeigt sich jedoch, dass 64 | Diese unkritische Haltung gegenüber der Krise des Fordismus seitens Habermas stellt auch Bader fest (vgl. Bader 1986: 145). 65 | Die Grundlegung der Kommunikationstheorie der Gesellschaft seit den späten 1960er Jahren (›Habermas II‹) geht einher mit einem spezifischen Kapitalismusverständnis, das in der Formel des ›Spätkapitalismus‹ zum Ausdruck kommt. Diese besagt, grob skizziert, dass es sich beim Kapitalismus der Nachkriegszeit, im Gegensatz zum ›Laissez faire‹ des ›Liberalkapitalismus‹, um einen organisierten, mittels globaler Planung des gesamtwirtschaftlichen Kreislaufs geregelten Kapitalismus handelt. Damit verschiebt sich, dieser Auffassung zufolge, zugleich die Qualität gesellschaftlicher Krisen: nicht mehr ökonomische Krisen gefährden den Bestand der Gesellschaft, sondern es ist nunmehr der Staat, dessen Legitimität als ›Anerkennungswürdigkeit‹ dann in die Krise gerät, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seine sozialen Funktionen der Umverteilung und Wachstumserzeugung wahrzunehmen. ›Legitimationskrisen‹ sind für Habermas ›Identitätskrisen‹. Diese aber bemessen sich an individuellen Kriterien, bspw. auch dann, wenn der Staat/die Politik nicht auf veränderte Wertvorstellungen reagieren. Erst, wenn der Staat de facto an
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sich diese Hoffnung nicht erfüllt, sondern dass tatsächlich die gesellschaftliche Dynamik der Theorie zunehmend entrückt. Die Krise des Fordismus hat sich bis in die 1980er Jahre hinein verschärft, so dass Habermas theoretisch auf diesen Umstand reagieren musste. Dieses spiegelt sich am entscheidendsten in der veränderten Konzeptualisierung von System und Lebenswelt seit Mitte der 1980er Jahre wieder. Habermas steht festverwurzelt in der Tradition der Aufklärung, weswegen er konsequenterweise seine Gesellschaftstheorie handlungstheoretisch und rationalistisch konzipiert und sich damit von vornherein von Marx und der Kritischen Theorie, die gleichermaßen von der Existenz eines vorgängigen und irrational erscheinenden gesellschaftlichen Zusammenhangs ausgehen, unterscheidet. Dies impliziert ein von Marx und der Kritischen Theorie fundamental verschiedenes Gegenstandsverständnis. Auf der anderen Seite nimmt Habermas die Objektivität der Gesellschaft unter der strukturalistischen Form der ›Emergenz‹ wahr. Die konstitutive Erfahrung der Differenz von Handeln und ›Emergenz‹, also Struktur, wird von Habermas sofort in Gestalt der klassischen methodologischen Ansätze von Verstehen und Erklären verabsolutiert. Nur aufgrund dieser Vorentscheidung, d.h., weil Habermas nicht vom Problem der objektiven gesellschaftlichen Struktur ausgeht, stellt sich ihm überhaupt das Problem der Verknüpfung von Struktur und Handlung, das genau genommen bloß Ausdruck einer falschen Fragestellung ist. Die für die Theorie des kommunikativen Handelns charakteristische Verbindung von Struktur- und Handlungstheorie hat zunächst allerdings nur den heuristischen Sinn, den Begriff des Systems analytisch verwenden zu können, um mit ihm analytische Aussagen über die Dynamik von über ›Medien‹ vermittelten strategischen Handlungszusammenhängen machen zu können. Mit der Integration der Beobachterperspektive kann Habermas die über Geld und Macht ausdifferenzierten Subsysteme zweckrationalen Handelns Staat und Ökonomie als Handlungssysteme ausweisen.66 Erst im Zuge der vielstimSteuerungsfähigkeit einbüßt, kann von ›Systemkrise‹ gesprochen werden. Dementsprechend muss die ›Krise des Wohlfahrtsstaats‹ in den 1980er Jahren wohl als eine ›Systemkrise‹ angesehen werden, mit der Habermas nicht gerechnet hat und die ihn theoretisch schlecht vorbereitet trifft. 66 | Habermas übernimmt hierbei auch die Vorstellung klassischer funktionalistischer Prägung – etwa in der Art von Parsons –, dass sich der Bereich der Gesellschaftsstruktur als ›Vernetzung nicht-intentionaler Handlungsfolgen‹ konstituiert, demnach also keine eigene Gesetzmäßig-
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migen Kritik an dieser Konzeption geht Habermas Mitte der 1980er Jahre, offensichtlich auch angesichts der Erfahrung der ›Krise des Wohlfahrtsstaats‹ dazu über, den Begriff des Systems ›essentialistisch‹ zu verwenden. Dieser ›essentialistische‹ Gebrauch des Systembegriffs (vgl. auch Pahl 2004) fällt zusammen mit der Einführung des Begriffs einer nunmehr autonom zu denkenden ›funktionalistischen Vernunft‹ als aporetischem kommunikationstheoretischen Pendant zu dem im Begriff der ›Realabstraktion‹ konservierten Problemgehalt. Diese begriffliche Wendung deutet darauf hin, dass Habermas durch die Erfahrung der post-fordistischen Reorganisationsprozesse in Staat und Gesellschaft, die mit der Zeitdiagnose einer ›Krise des Wohlfahrtsstaats‹ zusammenfällt, genötigt wird, seine Theorie zu verändern. Im Prinzip bricht Habermas an dieser Stelle die Entwicklung seiner Gesellschaftstheorie im engeren Sinne ab. Im Rahmen seiner Rechtstheorie visiert Habermas den Nachweis der immanenten Vernünftigkeit des modernen Rechts an. Hätte Habermas seine rechtstheoretische Arbeit über Faktizität und Geltung (1992) allerdings ernsthaft als gesellschaftstheoretische Fortführung der Theorie des kommunikativen Handelns intendiert, dann hätte er mindestens den Zusammenhang von Recht, ›Systemdifferenzierung‹ – im Sinne der Bestimmung des Rechts als Voraussetzung der ›funktionalistischen Vernunft‹ – ›Entkopplung‹ und ›Kolonialisierung‹ weiter analysieren müssen. Habermas hätte also auch zeigen müssen, wie bspw. kapitalistische Ökonomie und Rechtsnormen bzw. Staatsfunktionen im Allgemeinen zusammenhängen 67 und wie genau diese Zusammenhänge auf die Lebenswelt zurückschlagen. Die Theorie des kommunikativen Handelns hätte mindestens zu einer Krisentheorie des Sozialstaats entwickelt werden müssen. Stattdessen entwickelt Habermas normative, seiner eigenen – prekären – Gesellkeit o.ä. besitzt (vgl. TkH II: 179, 226). Genau genommen handelt es sich beim Konstrukt des ›analytischen Systembegriffs‹ schon um ein contradictio in adjecto. Schließlich setzt ein Begriff von Objektivität – hier der Begriff des Systems – immer schon die Erfahrung von Gesellschaft als eine von den Individuen konstitutiv verschiedene und dennoch allein durch ihr Handeln reproduzierte Entität voraus. Diese wird dann aus methodologischen Erwägungen in der Theorie zurückgenommen. Wenn also von ›System‹ die Rede ist, dann ist immer schon die Erfahrung seiner Realität vorausgesetzt. 67 | Dass Habermas eine solche sachliche Verfahrensweise durchaus als notwendig angesehen hat, zeigt sich noch Anfang der 1970er Jahre (vgl. Habermas 1976: 265).
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Monstrositäten schaftstheorie gemäße und der Idee des demokratischen Wohldifferenzierungs- fahrtsstaats verpflichtete Reproduktionserfordernisse einer liberatheoretischer len demokratischen Kultur (vgl. Habermas 1992: 155ff.). Begriffsbildung Entkopplung von System und Lebenswelt und funktionalistische Vernunft – Der aporetische Auflösungspunkt der Habermasschen Theorie der Moderne | Habermas konzipiert seine Theorie, wie bereits angeklungen ist, als Lösung einer spezifischen Problemlage in der soziologischen Theorie. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist ihrem Selbstverständnis nach konzipiert als der Ort einer ›nicht-trivialen Verbindung von Struktur- und Handlungstheorie‹ (vgl. Habermas 1985b: 180).68 Ihre Grundlage bildet die sprachtheoretische Erweiterung der Handlungstheorie. Daran knüpft sich der zweistufige Gesellschaftsbegriff an. Von diesem Modell aus konzipiert Habermas dann seine Kritik der Moderne. Mit der Krisendynamik der späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahre, die der strukturkonservativen Variante der Differenzierungstheorie (wie sie vor allem von Luhmann vertreten wird) in die Hände spielt, sieht sich Habermas offenbar genötigt, einen Strukturbegriff in seine Theorie zu integrieren. Diesen entwickelt Habermas jedoch nicht aus dem Gegenstand, sondern er bedient sich dessen, was bereits vorliegt, und das ist das differenzierungstheoretische Denken von Parsons. Mit anderen Worten: Habermas nimmt im Rahmen seiner kommunikationstheoretischen Begründung der Gesellschaftstheorie die gesellschaftliche Realstruktur, selbst dann, wenn er von ›Realabstraktion‹ spricht, nicht als ›Verdinglichung‹, sondern vermittels der funktionalistischen Begriffe wahr.69 Er knüpft also unkritisch an die Differenzierungstheorie an, indem er ausblendet, inwiefern deren Begrifflichkeiten und Methoden technizistische Verarbeitungen der ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹ sind. Habermas steht sodann hauptsächlich vor dem theoriearchitektonischen Problem, wie er das Denken in Kategorien sozialer Differenzierung – im Zentrum den Begriff des ›Systems‹ – in sein eigenes 68 | In der Entgegnung, mit der Habermas auf Kritiken an seiner Theorie des kommunikativen Handelns antwortet, weist er darauf hin, dass die Argumentation im zweiten Band der Theorie des kommunikativen Handelns v.a. als Explikation und Weiterentwicklung der Gedanken aus den Legitimationsproblemen gedacht war (vgl. Habermas 1986: 379). 69 | Habermas knüpft mit seinem eigenen gesellschaftstheoretischen Programm der Verknüpfung von Struktur- und Handlungstheorie (vgl. Habermas 1973) an Offes in funktionalistischer Terminologie vorgetragene Krisentheorie des Spätkapitalismus (vgl. Offe 1972) an.
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Konstrukt schlüssig einbauen kann. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum er Parsons’ Medienkonzept sprachtheoretisch rekonstruiert: dieses bildet die wesentliche Grundlage seiner handlungstheoretischen Begründung des zweistufigen Gesellschaftsbegriffs, einschließlich dessen harmonistischer Implikationen. Alles in allem hat dieses Vorgehen aber zunächst einen explizit heuristischen Charakter; Strukturtheorie und Handlungstheorie stellen zwei verschiedene Sichtweisen auf gesellschaftliche Phänomene dar. Nach dieser Auffassung ›gibt es‹, um an die Formulierung Luhmanns anzuschließen, überhaupt keine Systeme, sondern allein ›systemische Integration‹. Rückblickend hat Habermas selbst auf das Motiv verwiesen, dass der zweistufige Gesellschaftsbegriff u.a. dazu dienen sollte, »sozialpathologische Phänomene, also […] das, was in der Marxschen Tradition als Verdinglichung begriffen worden ist« (Habermas 1985b: 180), analysieren zu können. Der handlungstheoretisch entwickelte Systembegriff soll die Kritik der politischen Ökonomie also gesellschaftstheoretisch restituieren, bzw. dasjenige besser leisten können, was Marx intendierte: die theoretische Kritik des industriellen Kapitalismus und des bürgerlich-politischen Staats. Unter der Voraussetzung, dass Habermas nicht vom Problem der Objektivität der Struktur ausgeht, ist es durchaus nachvollziehbar, dass er die deskriptiven Mittel der Systemtheorie der Wertkritik vorzieht (vgl. auch TkH II: 548). Es zeigt sich nun jedoch, dass Habermas diese Theoriekonstruktion nicht ohne weiteres gelingt, sondern diese selbst noch eine Erweiterung der systemtheoretisch inspirierten Argumentationszusammenhänge erforderlich macht, die ihrerseits aporetischen Charakter hat. Denn die Durchführung dieser Programmatik treibt die Theorie des kommunikativen Handelns zur Formulierung gesellschaftstheoretischer Monstrositäten, die sich an dem von ihr bereitgestellten Objektivitätsbegriff nachvollziehen lassen. Es existieren in der Theorie des kommunikativen Handelns zwei emphatische Vorstellungen von gesellschaftlicher Objektivität, ähnlich denen der ›Kommunikation‹ und ›funktionalen Differenzierung‹ bei Luhmann: so wird auf den Begriff des ›Systems‹ rekurriert und zwar auf einen mit ›essentialistischen Konnotationen‹ versehenen Begriff. Damit zusammenhängend wird der Begriff der ›funktionalistischen Vernunft‹ spezifiziert. Wenn dieser Begriff über die Beschreibung der ›kolonialisierenden‹ Effekte der Eigendynamik der Subsysteme hinaus eine objektive, verselbständigte Vernunft kennzeichnen soll, was offensichtlich der Fall ist, dann ergeben sich eklatante Schwierigkeiten. Denn Habermas’ Konstruktion wird in
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dem Moment aporetisch, in dem sie die Realität von Struktur als Gegenstand der Theorie anerkennt; die Kategorien von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ erweisen sich hier als unbrauchbar. Habermas spricht grundsätzlich in abgeschwächter Weise nicht von ›System‹, sondern von ›systemischer Integration‹. Dieser Begriff gilt v.a. der Beschreibung jener nicht-intendierten Handlungsfolgen des über Steuerungsmedien vermittelten zweckrationalen Handelns als einer ›harten‹ Variante objektiver Einheit, d.h. gesellschaftlicher Verselbständigung, und bezeichnet damit die grundsätzlich handlungstheoretischen bzw. analytischen Konnotationen des Systembegriffs. Verselbständigung im emphatischen Sinne wird hingegen konzipiert als ›funktionalistische Vernunft‹.70 Zunächst sind die Steuerungsmedien (Geld und Macht) ohnehin handlungstheoretisch bestimmt, denn in ihnen werden bestimmte Sprachfunktionen symbolisch verkörpert. Das ist für Habermas kein sachliches Problem. Auch nicht, wie dann Wertaufbewahrung funktioniert und welche Voraussetzungen dies hat, nämlich den absoluten, objektiven und somit addierbaren Wert im Gegensatz zum relativen, subjektiven Wert (vgl. Reichelt 1998: 375; vgl. Reichelt 1999: 7f., 10). Problematisch wird allein die »Überbeanspruchung des Geldmediums« (Habermas 1984: 569), also jene Dynamik, die der sozialintegrierten Lebenswelt, in der Handlungskoordinierung vermittels der Erhebung von Geltungsansprüchen – also vermittels aller Sprachfunktionen – stattfindet, den handlungskoordinatorischen Rang abzulaufen droht. Dieser augenscheinlich objektive Vorgang hat offensichtlich für Habermas nichts mit einer Eigenstruktur zu tun, sondern kennzeichnet, der Theorie des kommunikativen Handelns zufolge, lediglich eine willkürliche, zufällige Verselbständigung der Handlungsrationalität der Subjekte. Die so genannte ›Vernetzung nichtintendierter Handlungsfolgen‹ und deren eigentliche Form und Dynamik bedarf also auch keiner allgemeinen Theorie des Kapitals. Strenggenommen kann somit auch der Reproduktionsprozess des Kapitals keine bestimmbare Eigenstruktur haben. Habermas bedient sich dann des technologischen Bildes der ›Entkopplung‹, um den Vorgang der Verselbständigung zu erfassen. Verselbständigung ist hierbei nicht für die Moderne notwendig, d.h. konstitutiv, sondern allein noch ein Problem der willkürlichen Eigendynamik der Subsysteme.71 Das belegen schließlich auch die 70 | Soweit ich sehe, wird das Problem der funktionalistischen Vernunft in der Sekundärliteratur schlichtweg übergangen. 71 | In der Objektivität der Struktur realisieren sich bei Habermas anders als bei Adorno und Marx keine Strukturgesetzmäßigkeiten.
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Äußerungen bei Habermas selbst, nach denen Verselbständigung und Lebenswelt über die ›systemintegrativen Mechanismen‹ – die ›Steuerungsmedien‹ – vermittelt bleiben (vgl. Habermas 1986: 387). Die Kommunikations- bzw. Integrationsmedien werden offenbar als herrschafts- und verselbständigungsneutrale Mittelglieder zwischen Vernunft und Verselbständigung gedacht. Im Zuge jener Eigendynamik der ›Subsysteme‹, die als ›Entkopplung‹ konzipiert wird, tun sich erhebliche Probleme auf. Denn erst hier kommt es, so Habermas in der Entgegnung, dazu, dass »verschieden strukturierte Bereiche der gesellschaftlichen Realität selber […]« (ebd.: 383; Hvm.) entstehen. Nicht die ›Steuerungsmedien‹ konstituieren eine objektive Einheit in der Realität der Gesellschaft, sondern erst die ›Entkopplung‹ des ›Systems‹. 72 Dies hat Konsequenzen für den Zusammenhang von ›Rationalität‹ und ›System‹. Die nunmehr verselbständigte systemische Integration kann nicht mehr als zweckrationales Handeln konzipiert werden, sondern der theoretische Fluchtpunkt ist nun gekennzeichnet durch den Begriff der ›funktionalistischen Vernunft‹, oder anders ausgedrückt: die funktionalistische Vernunft kann nicht mehr in Rationalität aufgelöst werden. Wie lässt sich der Kosmos der verselbständigten Gesellschaftlichkeit also vorstellen? Bemerkenswerterweise soll dafür die »objektive Verkehrung von Zwecksetzung und Mittelwahl […]« 72 | Habermas scheint hier anders zu argumentieren als in der Theorie des kommunikativen Handelns, wo die Bildung von Subsystemen offenbar identisch mit ›Entkopplung‹ gedacht war (vgl. TkH II: 275ff.). ›Entkopplung‹ ist dort nicht per se das Problem, insofern sie mit einer gesteigerten Systemrationalität einhergeht, die nicht in die sprachliche Handlungskoordinierung ›verdinglichend‹ eingreift (TkH II: 488; vgl. auch Bader 1986: 143). So soll jetzt, im Kontext der Argumentation der Entgegnung, der Begriff der Entkopplung einen Vorgang bezeichnen, innerhalb dessen eine »den Systemcharakter der Gesellschaft im ganzen kennzeichnende Dynamik der Abgrenzung gegen eine komplexe Umwelt in die Gesellschaft selbst einwandert« (Habermas 1986: 384, kursiv. i.O.; vergl. auch Habermas 1988: 104), also einen Vorgang der realen Verselbständigung. Demgemäß verschiebt sich die Bedeutung der Systemtheorie, da diese nun nicht mehr allein ›analytisch‹, im Sinne von Parsons, sondern »für die Untersuchung von ›Realabstraktionen‹ eingesetzt« (Habermas 1986: 386; Hvm) werden soll. Und genau dies ist nicht möglich. Denn mit systemtheoretischen Mitteln ist nicht darüber hinaus zu kommen, die Wirkungsweise der Realstruktur bloß zu bebildern, wie dies z.B. im Ausdruck der ›Systemimperative‹ zum Ausdruck kommt. Die Realität des Systems entzieht sich dem Begriff des Systems.
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(ebd.: 388) charakteristisch sein – wie aber kommt es dazu? Laufen die Verkehrungen in Staat und Ökonomie nach derselben Logik ab? Habermas gibt darauf keine Antwort. Er zieht allein eine terminologische Konsequenz für seine eigene Theorie. In dem die Medien jetzt die ›Bestandserhaltungsimperative‹ des Systems selbst vermitteln, können die Subsysteme nicht mehr ohne weiteres als Subsysteme zweckrationalen Handelns konzipiert werden. Damit wird auch der Zusammenhang von Verselbständigung und ›instrumenteller Vernunft‹ hinfällig: jetzt ist im Handeln nämlich eine genuin verselbständigte Vernunft oder, wie sie Habermas bezeichnet, eine verselbständigte ›funktionalistische Vernunft‹ am Werk. So heißt es: »Mediengeleitete Interaktionen verkörpern nicht mehr eine instrumentelle, sondern eine funktionalistische Vernunft« (ebd.: 389). Dieser Äußerung zufolge liegt nunmehr der Schluss nahe, dass die funktionalistische Vernunft in der Handlungsrationalität der Individuen selbst existiert. Dass Habermas dies jedoch nicht so denkt, wird an anderer Stelle deutlich. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1988 hat Habermas das Theorem der funktionalistischen Vernunft präzisiert. Dort heißt es: »Aussichtsreicher als der Versuch, den klassischen Begriff der instrumentellen Ordnung mit modernen Mitteln zu erneuern, ist die Einführung eines Kommunikationsmediums, durch welches verhaltenssteuernde Informationsflüsse hindurchgeleitet werden. Soweit dieses Konzept nach dem Vorbilde des geldgesteuerten Marktverkehrs definiert wird, kann das auf rationale Wahl zugeschnittene strategische Handeln als der zum Steuerungsmedium passende Handlungsbegriff beibehalten werden. Informationen, die beispielsweise über den Geldcode laufen, konditionieren aufgrund einer eingebauten Präferenzstruktur Handlungsentscheidungen, ohne daß dafür anspruchsvollere und riskantere, an Geltungsansprüchen orientierte Verständigungsleistungen in Anspruch genommen werden müßten. Der Aktor nimmt im Grenzfall eine erfolgsorientierte, zweckrationale Einstellung ein. Allerdings hat die Umstellung auf mediengesteuerte Interaktionen für ihn eine objektive Verkehrung von Zwecksetzung und Mittelwahl zur Folge. Das Medium selbst übermittelt jetzt die Bestandserhaltungsimperative des zugehörigen Systems (hier des Marktsystems). Diese Verkehrung von Mittel und Zweck wird vom Aktor, wie Marx gesehen hat, als der verdinglichende Charakter versachlichter gesellschaftlicher Prozesse erfahren. Insofern verkörpern mediengesteuerte Interaktionen nicht mehr eine instrumentelle, in der Zweckrationalität der Entscheidungsträger lokalisierte Vernunft, sondern eine den selbstgesteuerten Systemen selbst innewohnende funktionalistische Vernunft« (Habermas 1988: 82f.). In
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dieser Passage stechen mehrere Aspekte ins Auge. Erstens fallen verschiedene naturalistische Suggestionen auf, v.a. die Begriffe ›verhaltenssteuernd‹, ›konditionieren‹, ›Bestandserhaltung‹. Die Legitimität dieser Begriffe ist unklar. Zweitens wird der Vorgang der Versachlichung im Gegensatz zu Marx nicht mehr an der Form der ökonomischen Gegenständlichkeit festgemacht, sondern auf das ›System‹ als solches zurückgeführt. Drittens ist unklar, wie genau ein ›Steuerungsmedium‹, also etwas, das aus Sprache hervorgeht, die monströse objektive Vernunft des verselbständigten Systems ›übermittelt‹. Viertens ist jedoch entscheidend: die objektive Vernunft existiert nicht im Individuum/Subjekt, sondern im System selbst. Was aber ist sie? Und: wie hängen Vernunft und System zusammen? Dies sind Fragen, auf die die Theorie des kommunikativen Handelns keine Antworten mehr gibt. Das Programm der ›Detranszendentalisierung der Vernunft‹ erscheint unter diesem Gesichtspunkt eher als eine soziologische Re-Transzendentalisierung der Vernunft. Mit anderen Worten: Habermas bricht seine Selbstverteidigung an diesem Punkt ab und der Status, d.h., die Realität der Systeme Staat und Ökonomie bleibt damit weiterhin unklar. Einen Begriff der ›funktionalistischen Vernunft‹ entwickelt Habermas nicht.73 Damit bleibt eine Fülle von Fragen offen: Was ist diese ›funktionalistische Vernunft‹? Woher stammen die ihr zugrunde liegenden objektiven Verkehrungen von Mitteln und Zwecken? Erscheint dieselbe ›funktionalistische Vernunft‹ in Staat und Ökonomie in verschiedener Weise? Wie hängen die jeweiligen Verselbständigungen der Sphären von Staat und Ökonomie zusammen? Wie verhält sich die objektive Vernunft zu den Subjekten – wenn diese ›mediengeleitet interagieren‹ ›verkörpern‹ ihre Handlungen ja die funktionalistische Vernunft? Welche Auswirkungen hat sie auf die Struktur des Subjekts selbst? Wie greifen die systemischen Mechanismen durch die bewusste Handlungskoordinierung (vgl. TkH II: 278)? Wie entstehen ›strukturelle Gewalt‹ und ›Reproduktionszwänge‹ (vgl. ebd.), von denen die Rede ist? Zur Beantwortung der zuletzt aufge73 | Vermutlich lässt sich Habermas wie bereits oben angedeutet überhaupt nur zu seiner essentialistischen Konstruktion des Systems drängen, weil die Krise des Fordismus mittlerweile zur handfest spürbaren Krise des Sozialstaats, die in den Diskussionen der 1980er Jahre ja eine wesentliche Rolle spielte (vgl. auch Habermas 1985), angewachsen ist. Die Dynamik der Subsysteme und ihre damit implizierte Resistenz gegen politische Steuerung musste ihm als wesentlich stärker als ursprünglich vermutet erscheinen.
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Gesellschaftliche Objektivität als Entkopplung von System und Lebenswelt bei Habermas
Monstrositäten differenzierungstheoretischer Begriffsbildung
worfenen Frage ist der Begriff der ›Verständigungsform‹ (vgl. TkH II: 278) zentral. Er benennt eine Präformierung der Lebenswelt durch systemische Mechanismen, durch die sich strukturelle Gewalt vermittelt. Das abschließende Marx-Kapitel der Theorie des kommunikativen Handelns soll entwickeln, wie es zur Eigendynamik der Subsysteme kommt (vgl. TkH II: 488). Aber dabei entsteht nicht vielmehr als eine äußerst zweifelhafte Kritik an der Marxschen Werttheorie (vgl. Pahl 2004) sowie eine empiristische Kritik der Sozialstaatsdynamik, anschließend an das bekannte Problem der ›Verrechtlichung‹. Die Weiterentwicklung der Kategorien der Theorie des kommunikativen Handelns erinnert an das von Adorno in Bezug auf Max Webers Theorie der Rationalisierung skizzierte Problem, dass sich in der subjektivistisch begründeten Theorie wiederum die Erfahrung gesellschaftlicher Objektivität durchsetzt. Oder genauer gesagt: eine m.E. zentrale Aporie bei Habermas, die stark an die von Adorno in Bezug auf Max Weber aufgezeigten Probleme erinnert, besteht darin, dass sich die unter konstitutionstheoretischen Gesichtspunkten ausgeschlossene Frage nach der Vorgängigkeit gesellschaftlicher Objektivität durch die Hintertür doch wieder einschleicht. So soll der Begriff der ›kommunikativen Rationalität‹ den engen Begriff der ›instrumentellen Vernunft‹ überwinden, damit zugleich den bei Weber eher peripheren Typus der Wertrationalität explizieren und schließlich zum Kern der Gesellschaftstheorie gemacht werden. Nun konstruiert Habermas seine Theorie, indem er auf der Grundlage seiner eigenen kategorialen Vorentscheidungen handlungstheoretische Kategorien entwickelt (›kommunikative Rationalität‹ etc.). Diese sind natürlich nicht wie bei Weber als Idealtypen gemeint, sondern sollen existierende Strukturen der Rede bezeichnen, die Habermas mittels ›rationaler Rekonstruktion‹ (vgl. Habermas 1984: 363) zu explizieren versucht. Diese Kategorien kollidieren jedoch mit Habermas’ eigener Erfahrung von Verdinglichung und nötigen ihn dazu, den Begriff der ›instrumentellen Vernunft‹ und die damit zusammenhängende harmonistische Gesellschaftskonstruktion selbst noch funktionalistisch zu übersteigen. Der so gewonnene Begriff der ›funktionalistischen Vernunft‹ soll dann die Funktion eines ›essentialistischen Systembegriffs‹ erfüllen. Angesichts dessen, dass die systemtheoretische Begrifflichkeit gerade aus Interesse am Funktionieren der Gesellschaft und nicht aus Interesse am Begreifen von Krisen und Pathologien heraus entwickelt wurde, erscheint Habermas’ Vorhaben, einen besseren Marx mit systemtheoretischen Mitteln zu formulieren, von vornherein als naiv und zum Scheitern verurteilt. Das bedeutet: wie Weber begründet Habermas seine
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Theorie vom Boden der Handlungstheorie aus. Über Weber hinaus wird die Theorie in vernunftkritischen Terms vorgetragen. In diesem Kontext wird auch das für den zweistufigen Gesellschaftsbegriff konstitutive Medienkonzept aus den handlungstheoretischen Prämissen entwickelt (vgl. Reichelt 1998: 374). Um aber Phänomene gesellschaftlicher Objektivität und realer Verselbständigung zu fassen, muss Habermas auf eine objektivistische Vernunftmetaphorik rekurrieren, deren begriffliche Auflösung seine eigene Theorie jedoch gerade aufgrund ihrer handlungstheoretischen Grundausrichtung nicht mehr hergibt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Erfahrung der Restauration des Kapitalismus in der westlichen Welt nach 1945 und die staatskapitalistischen Gesellschaften nachholender Modernisierung Adorno zu resignativen Begriffen wie der ›totalen Vergesellschaftung‹ oder der ›verwalteten Welt‹ drängten, während Habermas unter der Erfahrung des Fordismus diesen Zustand zum Normalitätskriterium erklärt, sich von Adorno verabschiedet und eine mindestens affirmative und gleichsam prekäre Synthese von Handlungs- und Systemtheorie formuliert. Diesen alles entscheidenden Paradigmenwechsel in der Gesellschaftstheorie vollzieht Habermas Anfang der 1970er Jahre, also zu einem Zeitpunkt, als seine Erfahrung ihn schon skeptischer hätte stimmen können. Bereits der Untertitel des zweiten Bandes der Theorie des kommunikativen Handelns kündigt eine ›Kritik der funktionalistischen Vernunft‹ an. Die Eigendynamik des Überindividuellen wird hierbei in differenzierungstheoretischen Kategorien gefasst. Parallel dazu formuliert Habermas eine hochsubtile Handlungstheorie. Aus ihr gewinnt er die Begriffe des ›verständigungsorientierten Handelns‹, der ›Lebenswelt‹ und der ›Sozialintegration‹. In der These der ›Kolonialisierung‹ registriert Habermas, dass die historischen Eigendynamiken der ›Subsysteme‹ (Staat und Ökonomie) die Dynamik der ›Sozialintegration‹ verändern. Diesen Vorgang bezeichnet er mit dem Bild der ›Kolonialisierung‹. Bei dem Begriff der ›Kolonialisierung‹ handelt es sich, vor dem Hintergrund der Adornoschen Kritik der Soziologie, offensichtlich um eine Metapher für die ›Erfahrung des Vorrangs der Struktur‹. Es ist dabei allerdings überhaupt fraglich, ob Habermas die Wirklichkeit der ›Sozialintegration‹ erfasst oder eben die erfahrene Dynamik der Verselbständigung an seinem eigenen Begriff der ›Sozialintegration‹ misst. In jedem Falle kann Habermas den als ›Kolonialisierung‹ beschriebenen Sachverhalt nicht konstitutionstheoretisch als Vorgang der gesellschaftlichen Individuierung fassen, sondern bloß in verdinglichenden Kategorien und damit rein äußerlich beschreiben. Mit dem Übergang zum
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Monstrositäten Begriff des ›essentialistischen Systems‹ fallen Individuum und Gedifferenzierungs- sellschaft, ähnlich wie bei Luhmann, vollends auseinander. theoretischer Die Wiedergewinnung der Erfahrung im Sinne der ResensibiliBegriffsbildung sierung für gesellschaftliche Objektivität und die damit verbundenen konstitutionstheoretischen Fragestellungen – im Zentrum der Begriff der Gesellschaft als Totalität – hätte vermutlich nichts Geringeres als die programmatische Forderung zur Folge, dass die kommunikationstheoretische Rationalitäts- bzw. Lebensweltkonzeption vor dem Hintergrund eines tragfähigen gesellschaftstheoretischen Strukturbegriffs in der Linie von Marx und Adorno zu formulieren wäre, dass also, anders ausgedrückt, die Theorie des kommunikativen Handelns vom Kopf auf die Füße zu stellen wäre.
Der ökonomisch-politische Doppelcharakter der modernen Gesellschaftsstruktur aus der Perspektive von Marx Dimensionen gesellschaftstheoretischer Begriffsbildung bei Marx | Der gesellschaftstheoretische Diskurs über den möglichen Differenzierungsstatus moderner Gesellschaft fällt durch eine eigentümliche Einseitigkeit auf. Denn thematisiert wird lediglich die jenseits von Hegel verlaufende bürgerliche Linie des impliziten oder expliziten differenzierungstheoretischen Denkens von Spencer über Durkheim, Weber und Simmel zu Parsons bis hin zu Habermas und Luhmann.74 Im Lichte der Diskussionen um die Defizite der Gesellschaftstheorien von Habermas und vor allem Luhmann gibt es heute eine Tendenz, differenzierungstheoretische Fragestellungen in der Linie von Max Webers Zeitdiagnose zu rethematisieren und weiterzuentwickeln (vgl. Schwinn 2001; Schluchter 2000). Die linkshegelianische Tradition der Gesellschaftstheorie wurde indes im Diskurs über das Konzept gesellschaftlicher Differenzierung bisher nicht auf ihre differenzierungstheoretischen Implikationen und ihren möglichen Erkenntnisgewinn thematisiert. Es existiert bisher offenbar noch keine gesellschaftstheoretische Untersuchung, in der Marx oder Adorno differenzierungstheoretisch gelesen werden. Es wird bestenfalls konstatiert (siehe bei Schimank 1996: 69ff.), dass Marx auf der Ebene seiner Ökonomiekritik Binnendifferenzierungen eines Systems untersucht habe. Ansonsten hält sich der seit Max Webers Monokausalismusvorwurfs gegen die Marxsche Geschichtsauffassung verbreitete gesellschaftstheoretische Vorwurf des Öko-
74 | Siehe exemplarisch bei Schimank 1996.
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nomismus gegen Marx und Adorno ebenso hartnäckig wie dogmatisch. In Weiterführung von Hegel wurde die Differenzierung von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft bei Marx als Ineinandergreifen zweier Modi struktureller Vergesellschaftung gedacht. Es geht im Folgenden einerseits darum, zu zeigen, dass Marx den Dualismus von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft als eine notwendige Trennung und eigentliche Form der modernen Gesellschaftsstruktur denkt, die alle weiteren Formen (Moral, Religion, Philosophie usw.) sogar noch in ihrer spezifischen modernen, nämlich individualistischen Form bedingt, womit Marx wesentlich über Hegels Konzeption des objektiven Geistes hinausgeht. Marx macht nunmehr den Begriff der Gesellschaft als verselbständigte Struktur am Dualismus von Politik und Ökonomie selber fest. Es geht andererseits darum, zu verdeutlichen, dass der genuin gesellschaftliche Charakter der ökonomisch-politischen Erfahrungsgegenstände im Laufe der Zeit von Marx immer präziser formuliert werden kann. 75 Dies geschieht maßgeblich infolge der frühen Kritik an Hegel, insbesondere jedoch auch infolge der Kritik der nationalökonomischen Autoren. Es kann in diesem Zusammenhang nachdrücklich betont werden, dass Marx seinen Begriff gesellschaftlicher Objektivität auf dem Wege der kritischen Auseinandersetzung mit den Theorien von Hegel und der klassischen Ökonomie beständig präzisiert. Marx eignet sich die Wirklichkeit wesentlich vermittels ihrer Theorien an. Aus der kritischen Aneignung dieser Theorien ergeben sich seine eigenen Fragestellungen und Programme. Die Entwicklung des Marxschen Verständnisses gesellschaftlicher Objektivität lässt sich hierbei in verschiedenen Etappen nachvollziehen. Marx entwickelt schon früh ein kritisches Bewusstsein über den Zusammenhang gesellschaftlicher Objektivität und deren begrifflicher Verarbeitung. Dies zeigt sich an der in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts entwickelten Kritik an Hegels Verwendung des Begriffs des ›Organismus‹, weiter dem Begriff der Produktionsverhältnisse und der damit inaugurierten Kritik an der nationalökonomischen Wissenschaft in den Pariser Manuskripten 76 , in denen Marx der Nationalökonomie Bewusstlosigkeit über ihren Gegenstand vorwirft, sowie schließlich in den Grundrissen, wo Marx auf der Ebene der Ökonomie einen reflektierten Begriff von ›Organismus‹ und ›System‹ verwendet. 77 Indem Marx schon in der Auseinan75 | Hinsichtlich der Ökonomiekritik findet sich das entscheidende Programm in den Pariser Manuskripten (siehe MEW 40: 511, 521). 76 | Siehe unter Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit.
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dersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und gesellschaftlicher Realität aufwirft – also zumindest implizit den Objektcharakter des gesellschaftstheoretischen Objekts problematisiert – geht er weit über das hinaus, was die bürgerliche Theorie ihm zubilligt: die Selbstreflexion des eigenen Entstehungszusammenhangs der Theorie. Die Entwicklung des Einblicks in die Objektivität ökonomischer Formen, deren Entwicklung schließlich Gegenstand der Ökonomiekritik ist (vgl. MEW 23: 12; MEW 26.2: 162), vollzieht sich dabei durchgängig in den übergreifenden Koordinaten der politisch-ökonomischen Kernstruktur der Gesellschaft. Bevor Marx das Problem des theoretischen Nachweises der Existenz einer objektiven Struktur im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie zu lösen versucht, durchläuft sein Denken verschiedene Entwicklungsstadien, die sich in aller Kürze wie folgt darstellen lassen: das Denken des jungen Marx bewegt sich zunächst in den einschlägigen junghegelianischen Bahnen, wie sie u.a. von Bauer vorgezeichnet waren. Marx emanzipiert sich von der dort prätendierten 77 | In den Grundrissen präsentiert Marx im Anschluss an die dortige Entwicklung des Kapitals als sich ›selbstverwertendem Wert‹ eine reflektierte System- und Organismusanalogie (siehe MEW 42: 203). Marx hat die objektive Struktur des Kapitals als Objektivität in der Wirklichkeit selbst entwickelt und kann von hier aus die nun beispielhafte Analogie zum Organismus schlagen: »Es ist zu bedenken, dass die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich nicht aus Nichts entwickeln noch aus der Luft, noch aus dem Schoß der sich selbst setzenden Idee; sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse. Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andere in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes zugleich Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist das in jedem organischen System der Fall. Dies organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben darin, alle Elemente sich unterzuordnen oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen« (MEW 42: 203). Auch noch im Kapital stimmt Marx der Interpretation seiner Theorie als einer ›reflektierten, gesellschaftstheoretischen Organismusanalyse‹ ausdrücklich zu (vgl. MEW 23: 25). In seinen um 1880 verfassten Randglossen zu Adolph Wagners ›Lehrbuch der politischen Ökonomie‹ greift Marx das Organismusproblem noch einmal auf und spricht von der »bestimmte[n] ›soziale[n]‹ Form des Gebrauchswerts in einem sozialen Organismus, wie z.B. dort, wo Warenproduktion das Herrschende […]« (MEW 19: 374).
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Art der Hegel-Kritik, indem er sich stärker an Feuerbachschen Motiven orientiert. Auf deren Grundlage wiederum vollzieht er in kurzer Zeit eine Denkbewegung von der Feuerbachschen Kritik der Religion über eine eigenständige Kritik der Politik (1843) hin zur Kritik der Ökonomie (1844).78 In der Deutschen Ideologie von 1845/46 folgt dann im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit Max Stirner, die eine Reaktion auf dessen Kritik an Feuerbach in Der Einzige und sein Eigentum darstellt und selber bemüht ist, über Feuerbach hinauszugehen. Hier wird ein geschichtsphilosophischer Gehalt des Marxschen Denkens expliziert, der im Spätwerk jedoch dann nicht mehr verfolgt wird.79 Wesentlich an diesem Text ist jedoch, dass Marx hier erstmals bemüht ist, ein eigenständiges umfassendes gesellschaftstheoretisches Forschungsprogramm zu entfalten. Abgesehen vom Scheitern der geschichtsphilosophischen Entwicklung der ökonomischen Verselbständigung enthält die Deutsche Ideologie im Sinne einer Zusammenfassung der bis dahin entwickelten Marxschen Gedanken im Wesentlichen zwei Dinge, nämlich zum einen eine präzise Unterscheidung des Dualismus von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft als Gestaltungen der Reproduktion einer verselbständigten Gesellschaftlichkeit und der »Idealistischen Superstruktur« (MEW 3: 36) dieser Struktur, jenen ›anderen‹ »Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc.« (MEW 3: 38). Die Deutsche Ideologie impliziert zum anderen das gesellschaftstheoretische Programm, den Staat aus der kapitalistischen Eigentumsstruktur abzuleiten, sowie die Formen des Bewusstseins von der Religion über die Moral bis zur Philosophie als undurchschaute Reflexionsformen der ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsstruktur zu entwickeln. 80 78 | Vgl. zum Zusammenhang dieser Momente beim jungen Marx auch Backhaus 2000: 118ff. 79 | Von den geschichtsphilosophischen Implikationen der Entwicklung des Marxschen Denkens in dieser Phase sehe ich im Folgenden ab (vgl. hierzu Reichelt 1975). 80 | Es geht Marx zunächst darum, in Analogie zur Feuerbachschen Kritik der Religion die Objektivität gesellschaftlicher Institutionen wie Staat, Recht und bürgerlicher Gesellschaft – ihren ›entfremdeten Charakter‹ – als Resultate sozialen Handelns zu dechiffrieren. Dieses Programm ergibt sich bereits aus der Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Marx verbleibt jedoch nicht dabei, denn der Zusammenhang von Staat und Gesellschaft eröffnet eine Perspektive auf die Genese des religiösen Bewusstseins, wie auch auf andere ›Formen des Bewusstseins‹ wie Moral, Philosophie etc. selbst. Marx geht insofern über Feuerbach hinaus, als er die
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Monstrositäten Das gesellschaftstheoretische Programm der Deutschen Ideologie differenzierungs- bildet trotz des einzugestehenden Scheiterns des ökonomiekrititheoretischer schen Beweisgangs gewissermaßen den Endpunkt der frühen EntBegriffsbildung wicklung. Mit der Deutschen Ideologie ist hierbei ein theoretischer Rahmen abgesteckt, in den auch noch die spätere Ökonomiekritik eingelassen ist. Und wenn das Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie auch etwas anderes suggerieren mag, so macht die Konzeption des Kapitals deutlich, dass das gesellschaftstheoretische Programm der Deutschen Ideologie allein in einer entteleologisierten, allgemeinen Theorie der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durchgeführt werden kann. Die Einlösung dieses Programms wird Marx ab 1857 angehen, indem er Feuerbach unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Darstellung einer realen sozial-ökonomischen Verselbständigung reformuliert (siehe hierzu Reichelt 2002). Der von Marx mit der Kritik der politischen Ökonomie anvisierte Strukturbegriff des kapitalistischen Weltmarkts schließt dabei die Darstellung von dessen politischen Formbestimmungen konstitutiv in sich ein. Grundbestimmungen des Marxschen Objektivitätsbegriffs im Kontext der frühen Marxschen Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie | Die Ursprünge des Marxschen Objektivitätsbegriffs finden sich bereits in den frühen publizistischen Arbeiten. Marx spezifiziert die Objektivität der Gesellschaft bereits hier als den Dualismus von Politik und Ökonomie. Die vor diesem Hintergrund verlaufende Marxsche Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie folgt dem programmatischen Anspruch einer ›Kritik der Politik‹. Im Zuge dieser Auseinandersetzung thematisiert und kritisiert Marx die Hegelsche Staatstheorie als verdinglichende Theoriebildung. Hinsichtlich der Genese des Marxschen Objektivitätsbegriffs lässt sich bereits einem Artikel in der Rheinischen Zeitung von Anfang 1843 eine aufschlussreiche Passage entnehmen. Marx argumentiert hier bereits anti-individualistisch. Er konstatiert die Existenz von Verhältnissen, die nicht aus dem Willen der Einzelnen zu erklären sind. Umgekehrt wird das Handeln der Einzelnen als Vollspezifischen ›Formen des Bewusstseins‹ aus ihren gesellschaftlichen Gründen ableiten will – und dies schließt die Formen der Feuerbachschen und Hegelschen Philosophien selber noch mit ein. Exemplarisch findet sich dieses ›ideologiekritische‹ Programm v.a. in den Thesen über Feuerbach, dort v.a. in der 4. These und daran anschließend in der Deutschen Ideologie.
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zug dieser ihnen vorgängigen und unbewussten Verhältnisse gedeutet: »Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die sachliche Natur der Verhältnisse zu übersehen und alles aus dem Willen der handelnden Personen zu erklären. Es gibt aber Verhältnisse, welche sowohl die Handlungen der Privatleute als der einzelnen Behörden bestimmen und so unabhängig von ihnen sind als die Methode des Atemholens. Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der andern Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Anblick nur Personen zu wirken scheinen. Sobald nachgewiesen ist, daß eine Sache durch die Verhältnisse notwendig gemacht wird, wird es nicht mehr schwierig sein, auszumitteln, unter welchen äußern Umständen sie nun wirklich ins Leben treten mußte und unter welchen sie nicht ins Leben treten konnte, obgleich ihr Bedürfnis schon vorhanden war« (MEW 1: 177). Marx hat hier offenbar einen emphatischen Begriff der Gesellschaft vor Augen. Denn Marx schildert hier nichts Geringeres als den Vorgang einer gesellschaftlichen Individuierung, die sich konstitutiv im Medium verselbständigter Verhältnisse vollzieht. Die Individuen handeln in einer solchen gesellschaftlichen Konstellation notwendig als ›Strukturfunktionäre‹ einer ihnen vorgeordneten Struktur. Der freie Wille der Einzelnen wie auch die Rationalität bürokratischer Organisationen sind in verselbständigte Verhältnisse eingebunden und somit nicht Telos, sondern Akzidens der Vergesellschaftung. Es stellt sich die Frage, wie Marx die Struktur bzw. die Seinsweise der objektiven ›staatlichen Zustände‹ näher bestimmt. Es sind insbesondere die Artikel über die Holzdiebstahlsgesetze und die Moselbauern, die Marx zum Problem der genuin gesellschaftlichen Objektivität führen. Marx sieht hier, dass es, um den ›objektiven Grund‹ von Phänomenen zu erfassen, notwendig ist, »zwei Seiten [zu] unterscheiden, den Privatzustand und den Staatszustand […]« (MEW 1: 178; Hvm). Marx ist im Zusammenhang mit den genannten Diskussionen zwar auch mit ökonomischen Problemen konfrontiert (vgl. Heinrich 2001: 92), sein Interesse gilt jedoch zunächst vornehmlich der Durchführung einer durch Feuerbach inspirierten ›Kritik der Politik‹, die er anhand einer kritischen Paraphrase der Hegelschen Rechtsphilosophie durchführt. Hegel gilt ihm als das elaborierteste Selbstbewußtsein der Gesellschaft. Dies macht v.a. die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 deutlich, in der Marx Hegel attestiert: »Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte« (MEW 1: 383). Weiterhin heißt
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es: »Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, welche durch Hegel ihre konsequenteste, reichste, letzte Fassung erhalten hat, ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist« (MEW 1: 384f.). Hier wird also zum einen Hegel als entwickelteste Selbstreflexion der Gesellschaft hervorgehoben. Zum anderen wird aber auch ein doppelter Begriff der Kritik unterstrichen: in der Auseinandersetzung mit Hegel sollen zugleich die Wirklichkeit des Staates wie auch die mit seiner Wirklichkeit gesetzten theoretischen Reflexionsformen kritisiert werden. Wesentlich jedoch ist zunächst, dass die Verknüpfung Hegels mit den französischen und englischen Entwicklungen von dem sich im Vormärz befindenden Junghegelianer Marx als ›state of the art‹ gelten. In diesem Sinne erarbeitet sich Marx einen Zugriff auf die Realität der Gesellschaft mittels einer kritischen Reflexion jener Denkformen, die mit Hegels praktischer Philosophie bereitgestellt sind. Das ›Medium‹ dieser Kritik aber ist das Denken Feuerbachs, also der Gedanke der ›Entfremdung‹ des (Gattungs-)Wesens. Der Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 zufolge liegen dem Marxschen Selbstverständnis einer Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie verschiedene Motive zugrunde.81 Die Auseinandersetzung mit Hegel kennzeichnet vor allem die Marxsche ›Kritik der Politik‹. Es geht Marx nach eigenem Bekunden darum, »die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich bekanntlich in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik« (MEW 1: 379). Marx thematisiert im Kontext dieser Kritik das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft, die wesentlich als Gesellschaft der Eigentümer bestimmt wird, und Staat. Der Zusammenhang von Staat und Gesellschaft wird als zentrales Thema der Moderne begriffen: »Das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums, zu der 81 | Marx hat in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung seine radikal-demokratische Position bereits weiterentwickelt. Im Anschluß an die Einleitung wird das programmatische Terrain der ›Kritik der Politik‹ verlassen. Marx formuliert dann v.a. ökonomische Probleme und von ihnen ausgehend die bereits angesprochenen gesellschaftstheoretischen Programmatiken.
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politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit« (MEW 1: 382). Die Marxsche Kritik kritisiert nichts anderes als die »moderne politisch-soziale Wirklichkeit selbst […]« (ebd.). Damit, so Marx, befände sich die Kritik jenseits der Realität der preußischen Ordnung. Es ist dabei auch darauf hinzuweisen, dass Marx hier nicht von ›Verdopplung‹, sondern von ›Trennung‹ spricht, vor allem aber vom »Dualismus der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staats« (MEW 1: 286; Hvm; vgl. auch in Zur Judenfrage MEW 1: 360).82 Gerade jedoch bezogen auf die Marxsche Einschätzung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft wird zwischen dem Manuskript zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts und der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung ein wichtiger Unterschied deutlich. Marx begreift den halbfeudalen Staat, der im Zentrum des Hegelschen Staatsrechts steht, im Manuskript von 1843 noch als Form der Entfremdung, als mangelhafte Wirklichkeit des Wesens. Die Demokratie soll schließlich die bisher entfremdete Gestalt ›aufheben‹ (vgl. MEW 1: 230ff.). Der Sachverhalt der ›Entfremdung‹ wird demzufolge hier im Wesentlichen als politischer aufgefasst; später wird es zunächst die Politik als solche, dann die im kapitalistischen Produktionsverhältnis gesetzte, ›entfremdete‹ Arbeit sein. Im Zuge der frühen Auseinandersetzung mit der Hegelschen Rechtsphilosophie konstatiert Marx hinsichtlich der Aufhebung der ›Entfremdung‹ des Menschen vor allem auch eines: dass nämlich das Eigentum, d.h. das moderne Privateigentum, zentral für die Freiheit des Einzelnen ist. In Übereinstimmung mit Locke begreift Marx einerseits die Verfassung als Verfassung des Privateigentums, sowie er andererseits dieses moderne Eigentum als das »allgemeine Staatsband« (MEW 1: 314) vermutet. Marx geht dann davon aus, dass das Eigentum durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts aufgehoben werden soll (vgl. MEW 1: 326f.). Erst dann existiere eine Demokratie im emphatischen Sinne. Der demokratische Staat als Verwirklichung der Vernunft soll die bürgerliche Gesellschaft als Asymmetrie des Privateigentums usw. aufheben. Wichtig am Manuskript zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts ist 82 | Marx spricht durchgängig von ›Trennung‹ bzw. ›Dualismus‹. So weit ich es sehe, ist nur an einer Stelle die Rede von der »Verdoppelung aller Elemente in bürgerliche und Staatswesen« (MEW 3: 537). Insofern jedoch auch der Begriff der Trennung ein notwendiges Verhältnis bezeichnet unterscheidet er sich von jeglicher naiver Vorstellung gesellschaftlicher Differenzierung, nach der gerade kein notwendiger Zusammenhang von Teilsystemen nachweisbar sein soll.
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überdies zunächst die Art und Weise, in der Marx im Zuge seiner ›Kritik der Politik‹ ein Gespür für das Problem gesellschaftlicher Objektivität und für das Verhältnis von Begriff und Sache in der Auseinandersetzung mit Hegels Theorie entwickelt. Dieses stellt sich heraus in der Kritik des Hegelschen Begriffs des politischen Staats, wie er diesen innerhalb der Stufenlogik der Theorie des objektiven Geistes präsentiert. Bereits etwa siebzig Jahre vor Durkheim führt Hegel 1821 in seiner Rechtsphilosophie den Begriff des ›Organismus‹ in die Gesellschaftstheorie ein. Mit ihm verbindet sich bei Hegel der Begriff der Objektivität und Überindividualität der politischen Einheit der Individuen. Der ›politische Körper‹ wird damit als ›vorgängiger‹ gedacht, während die handelnden Subjekte zwangsläufig als ›Strukturfunktionäre‹ ausgewiesen werden müssen. Marx verhält sich zu der Konstruktion Hegels ambivalent: einerseits schätzt er die Vorstellung von gesellschaftlicher Objektivität, die darin zum Ausdruck kommt. So heißt es, es sei »ein großer Fortschritt, den politischen Staat als Organismus […] zu betrachten« (MEW 1: 210). Dieses Hegelsche Vorgehen wird sogar als »Fund« (ebd.) angesehen. Andererseits stellt Marx die Angemessenheit der organizistischen Begrifflichkeit grundsätzlich in Frage. So z.B. dann, wenn er festhält: »Dadurch, daß ich sage: ›dieser Organismus (sc. des Staats, die politische Verfassung) ist die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden etc.‹, weiß ich noch gar nichts von der spezifischen Idee der politischen Verfassung; derselbe Satz kann mit derselben Wahrheit von dem tierischen Organismus als von dem politischen ausgesagt werden. Wodurch unterscheidet sich also der tierische Organismus vom politischen? Aus dieser allgemeinen Bestimmung geht es nicht hervor. Eine Erklärung, die aber nicht die differentia specifica gibt, ist keine Erklärung. Das einzige Interesse ist, ›die Idee‹ schlechthin, die ›logische Idee‹ in jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte, wie hier die ›politische Verfassung‹, werden zu ihren bloßen Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist. Sie sind und bleiben unbegriffene, weil nicht in ihrem spezifischen Wesen begriffene Bestimmungen« (MEW 1: 210f.). Marx hat offensichtlich ein klares Bewusstsein darüber, dass Hegel die Analogie des Organismus unreflektiert verwendet. Umgekehrt müsste die Theorie, so Marx, demnach in der Lage sein, den spezifischen Charakter der Objektivität eines gesellschaftlichen Phänomens wie dem politischen Staat exakt benennen zu können, ohne dabei auf Metaphern zu rekurrieren. Aus dieser Warte kann Marx seine Kritik an Hegel zuspitzen. So kommentiert Marx den Hegelschen Text weiterhin: »Wodurch wird
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er also zum Schlußsatz berechtigt: ›Dieser Organismus ist die politische Verfassung‹? Warum nicht: ›Dieser Organismus ist das Sonnensystem‹? Weil er ›die verschiedenen Seiten des Staats‹ später als die ›verschiedenen Gewalten‹ bestimmt hat. Der Satz, daß ›die verschiedenen Seiten des Staats die verschiedenen Gewalten sind‹, ist eine empirische Wahrheit und kann für keine philosophische Entdekkung ausgegeben werden, ist auch auf keine Weise als Resultat einer früheren Entwicklung hervorgegangen« (MEW 1: 212; Hvm). Hegel kann laut Marx also seinen Begriff des Staates allein in Gestalt einer Analogie mit dem sich im Begriff des Organismus verbergenden Bedeutungsgehalt artikulieren, weil er die Erfahrung der empirischen Vorgängigkeit des in verschiedene Gewalten zersplitterten ›Staatskörpers‹ gemacht hat. Der Argumentation von Marx zufolge ist diese unreflektierte Analogiebildung zwischen Staat und ›Organismus‹ jedoch in sachlicher Hinsicht unabdingbar falsch: »Es ist aber keine Brücke geschlagen, wodurch man aus der allgemeinen Idee des Organismus zu der bestimmten Idee des Staatsorganismus oder der politischen Verfassung käme, und es wird in Ewigkeit keine solche Brücke geschlagen werden können« (MEW 1: 212f.). Schließlich führt Marx seine Argumentation weiter, indem er dieses spezifische Vorgehen Hegels systemimmanent auf die Struktur des Hegelschen Systems selber rückbezieht, dadurch dass er sich der Feuerbachschen Kritik der Verkehrung von Subjekt und Prädikat bedient. Er spielt dabei offenbar auf Hegels eigenes Verdikt an, dass die Methode der Darstellung der Gegenstände des objektiven Geistes aus der Wissenschaft der Logik herzunehmen sei (vgl. Hegel, Werke Bd. 7: 12). Dementsprechend notiert Marx: »Der Wahrheit nach hat Hegel nichts getan, als die ›politische Verfassung‹ in die allgemeine abstrakte Idee des ›Organismus‹ aufgelöst, aber dem Schein und seiner eignen Meinung nach hat er aus der ›allgemeinen Idee‹ das Bestimmte entwickelt. Er hat zu einem Produkt, einem Prädikat der Idee gemacht, was ihr Subjekt ist. Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken. Es handelt sich nicht darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu rangieren, eine offenbare Mystifikation« (MEW 1: 213; Hvm). Im Zuge dieser Kritik ergibt sich für Marx eine folgenreiche Programmatik. Marx sieht, dass die Wirklichkeit der Gesellschaft nicht unmittelbar mittels vorgeformter Begriffe zu verstehen ist, sondern
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dass sich das eigentliche Problem in umgekehrter Weise stellt: das Denken selbst soll aus der Struktur des Gegenstandes entwickelt werden. Dazu allerdings wird es notwendig sein, den spezifisch objektiven Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Objekt des Denkens näher zu bestimmen. Diese kritische Aneignung des Hegelschen Objektivitätsbegriffs bleibt wesentlich rückgekoppelt mit der aus Feuerbach gewonnen konstitutionstheoretischen Perspektive, nach der die in der Gestalt der Äußerlichkeit erscheinenden Phänomene als immer schon konstituierte zu denken sind. Marx kann auf dieser Ebene der Theorieentwicklung den Zusammenhang von Individuum und gesellschaftlicher Objektivität fassen. Die ›Kritik der Politik‹ als Anwendung Feuerbachs auf die Rechtsphilosophie hat einen konstitutionstheoretischen Gehalt, den Marx in der weiteren Entwicklung der Theorie nicht mehr preisgeben wird. Die Grundfigur der Feuerbachschen Kritik an Hegels Philosophie des Geistes lässt sich wie folgt charakterisieren: Hegel verselbständigt den Geist, der ein Produkt des Menschen ist, selbst zum Subjekt, obwohl er doch eigentlich Prädikat des Menschen ist. 83 In seiner Hegelkritik kritisiert Feuerbach die Verkehrung von Subjekt und Prädikat. Marx überträgt diesen Gedanken auf Hegels Verständnis des Staates. Hegel übersieht, so Marx, dass der Staat Produkt und damit Prädikat des Menschen ist und nicht umgekehrt. In der Kritik des Hegelschen Staatsrechts wird dieser Gedanke gesellschaftstheoretisch gewendet: »Die Subjektivität ist eine Bestimmung des Subjekts, die Persönlichkeit eine Bestimmung der Person. Statt sie nun als Prädikate ihrer Subjekte zu fassen, verselbständigt Hegel die Prädikate und läßt sie hinterher auf eine mystische Weise in ihre Subjekte sich verwandeln. […] Hegel verselbständigt die Prädikate, die Objekte, aber er verselbständigt sie getrennt von ihrer wirklichen Selbständigkeit, ihrem Subjekt. Nachher erscheint dann das wirkliche Subjekt als Resultat, während vom wirklichen Subjekt auszugehn und seine Objektivation zu betrachten ist« (MEW 1: 224; Hvm). Die vorgängigen institutionellen Objektivationen, die Hegel mittels des Begriffs des ›Organismus‹ zu fassen versucht, sollen auf die Individuen zurückgeführt werden. Zugleich darf die Struktur nicht in spekulativer Gestalt gefasst und damit mystifiziert werden. Marx’ Kritik an Hegels Konzeption des objektiven Geistes ist somit eindeutig. Indem Marx Feuerbachs Kritik an der Hegelschen Philosophie des Geistes auf der Ebene der Philosophie des objektiven Geistes fruchtbar gemacht, ergibt sich die Notwendigkeit, die 83 | Mit dieser Denkfigur ist zugleich die Struktur einer nicht-normativen oder auch ›immanenten‹ Kritik angelegt.
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Individuen nicht nur als Funktionsträger des staatlichen ›Organismus‹ zu betrachten und dessen Existenz selbst noch von Vernunft wegen zu erschleichen. Vielmehr müssen die Objektivität staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse aus dem Handeln der vereinzelten Individuen entwickelt werden. Allerdings meint dies keineswegs bloß die Perspektive der reductio ad hominem des Methodologischen Individualismus, sondern bezeichnet die Forderung einer genetischen Entwicklung des objektiven Vorgangs der notwendigen Diremtion von Staat und Gesellschaft selbst, also die Darstellung einer im bewussten Handeln bewusstlos hervorgebrachten Verselbständigung, die sich zugleich immer schon als eine Form gesellschaftlicher Individuierung darstellt. Staat, Gesellschaft, Religion – Zur impliziten Kritik der Vorstellung multizentrischer gesellschaftlicher Differenzierung bei Marx | In Zur Judenfrage treibt Marx die Reformulierung des Hegelschen Begriffs des objektiven Geistes weiter. Es geht im Zusammenhang der bisherigen Argumentation nun insbesondere zum einen darum, die von Marx explizierte gesellschaftstheoretische Sonderstellung des Dualismus von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft gegenüber anderen Formen der sozialen Wirklichkeit zu extrapolieren, sowie zum anderen darum, aufzuzeigen, wie sich das Marxsche Verständnis von Objektivität zunehmend präzisiert. Es ist hier im Auge zu behalten, wie das Marxsche Interesse auf die Ökonomie gelenkt wird, wobei zu keinem Zeitpunkt der ›dualistische‹ Rahmen verlassen wird. In den Deutsch-Französischen Jahrbüchern ist das Verdopplungsdenken eindeutig (vgl. MEW 1: 337ff., 347ff.). Marx unterscheidet zwischen wirklicher Verdopplung und Verdopplung im Bewusstsein. Die Verdopplung von Staat und Gesellschaft ist für Marx eine wirkliche Verdopplung: »Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. Alle Voraussetzungen dieses egoistischen Lebens bleiben außerhalb der Staatssphäre in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, aber als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird« (MEW 1: 354f.). Marx unterscheidet
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hinsichtlich der unterschiedenen ›Sphären‹ verschiedene Prinzipien der Vergesellschaftung. Während sich die Einzelnen im Staat als ›Gemeinwesen‹ fassen, stellt sich die bürgerliche Gesellschaft als Sphäre einer sich im Medium von nicht-intentional hervorgebrachten strukturellen Zwängen vollziehenden strategischen Vereinzelung dar. In Zur Judenfrage setzt Marx sich nun insbesondere mit dem Verhältnis von Religion und der Trennung von Staat und Gesellschaft auseinander. Marx setzt hier der religiösen Entfremdung die weltliche, die identisch mit gesellschaftlicher Entfremdung ist, gegenüber. Diese macht er am Dualismus von Staat und Gesellschaft fest. So spricht Marx von der »weltliche[n] Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft […]« (MEW 1: 355), »diese weltlichen Gegensätze« (MEW 1: 356); es ist die Rede vom »allgemeinen weltlichen Widerspruch zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft« (MEW 1: 361). Diese Stellen belegen, dass Marx sich bereits sehr früh nicht nur in der Verdopplungsfigur, sondern in der Konstellation der Gegenübersetzung von Bewusstsein/Konvention und Dualismus/Struktur bewegt. Die Religion ist demzufolge nicht der ›weltlichen‹ Grundlage zuzurechnen. Marx unterscheidet auch zwischen ›politischer‹, ›materieller‹ und ›geistiger‹ Sphäre der Gesellschaft, wobei das religiöse Bewusstsein gedacht wird als Ausdruck des ›weltlichen‹ Gegensatzes von Staat und Gesellschaft: »Der Widerspruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner politischen Löwenhaut befindet. Diesen weltlichen Widerstreit […], das Verhältnis des politischen Staates zu seinen Voraussetzungen, mögen dies nun materielle Elemente sein, wie das Privateigentum etc., oder geistige, wie Bildung, Religion, den Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse, die Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft, diese weltlichen Gegensätze läßt Bauer bestehen, während er gegen ihren religiösen Ausdruck polemisiert« (MEW 1: 355f.). Und noch deutlicher heißt es: »Der Mensch emanzipiert sich politisch von der Religion, indem er sie aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt. Sie ist nicht mehr der Geist des Staats, wo der Mensch – wenn auch in beschränkter Weise, unter besonderer Form und in einer besondern Sphäre – sich als Gattungswesen verhält, in Gemeinschaft mit andern Menschen, sie ist zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden, der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium contra omnes. Sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, son-
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dern das Wesen des Unterschieds. Sie ist zum Ausdruck der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sich und den andern Menschen geworden – was sie ursprünglich war. Sie ist nur noch das abstrakte Bekenntnis der besondern Verkehrtheit, der Privatschrulle, der Willkür« (MEW 1: 356). Die spezifische individualistische Form der Religion, ihre konstitutive Zufälligkeit, ist Produkt und ›Ausdruck‹ einer bestimmten, nämlich notwendigen Individuierung, die sich im Spannungsfeld von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft vollzieht und die damit das Individuum als ein doppeltes produziert. Das moderne Individuum ist als solches immer schon zwangsläufig ›Bourgeois‹ und ›Citoyen‹. Sein religiöses Bewusstsein hingegen ist willkürlich bzw. zufällig gegeben. 84 Es geht Marx demnach offensichtlich darum, aufzuweisen, dass Religion keine gesellschaftliche Form im engeren Sinne ist. Dies belegt schließlich auch die folgende Äußerung: »Die unendliche Zersplitterung der Religion in Nordamerika z.B. gibt ihr schon äußerlich die Form einer rein individuellen Angelegenheit. Sie ist unter die Zahl der Privatinteressen hinabgestoßen und aus dem Gemeinwesen als Gemeinwesen exiliert. Aber man täusche sich nicht über die Grenze der politischen Emanzipation. Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen, die Dislokation der Religion aus dem Staate in die bürgerliche Gesellschaft, sie ist nicht eine Stufe, sie ist die Vollendung der politischen Emanzipation, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebensowenig aufhebt, als aufzuheben strebt« (MEW 1: 356f.). Die Struktur der Gesellschaft ist für Marx demnach wesentlich identisch mit dem Dualismus von bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat. Es geht Marx beständig um die Implikationen ihres Auseinandertretens. Innerhalb dieses Vorgangs des Auseinander84 | Dies deutet bereits darauf hin, dass der soziologische Rollenbegriff auf der Ebene des Individuums so problematisch ist wie der Begriff der ›funktionalen Differenzierung‹ auf der Ebene der gesellschaftlichen Objektivität. Gesellschaftliche Individuierung findet allein in Form der Spaltung von politischen und ökonomischen ›Charaktermasken‹ – also als Vollzugsform von Realstruktur – statt. Die Vorstellung der ›sozialen Rolle‹ mag für die Analyse vormoderner Gesellschaften als durchaus sinnvoll erscheinen. Denn dort ist das Individuum unmittelbar mit seinen sozialen ›Rollen‹ verwachsen. Moderne Identitäten sind demgegenüber gerade durch die Differenz von Individuum – dem autonomen ›Ich‹, das gewissermaßen ›alle meine möglichen Handlungscharaktere begleiten können muss‹ – und ›Rolle‹ – d.h. kontigenten sozialen und institutionellen Handlungsformen – gekennzeichnet.
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tretens werden die verschiedenen ›Elemente‹ des bürgerlichen Lebens als bürgerliche – d.h. in ihrer spezifischen individuell-privaten Gestalt – überhaupt erst hervorgebracht.85 Die Wirklichkeit des Dualismus ist zugleich erst vollendet, wenn alle unpolitischen Momente auch als unpolitische gesetzt sind, also keine allgemeine – politische – Form mehr haben. Innerhalb des Dualismus postuliert Marx, dass die politische Entfremdung ihren Grund in der spezifischen ökonomischen Struktur der Gesellschaft hat (vgl. MEW 1: 366, 369f.). Der Text Zur Judenfrage ist in diesem Sinne ein wichtiger Beleg für den Übergang von der ›Kritik der Politik‹ zu ökonomiekritischen Gedanken und Fragestellungen, die insbesondere durch das Marxsche Umfeld motiviert worden sind. Diese gilt insbesondere für den zweiten Abschnitt der Judenfrage.86 Bevor Marx jedoch die ›Kritik der Politik‹ endgültig vertagt, verfasst er im Rahmen der Deutsch-Französischen Jahrbücher eine Einleitung zur geplanten Veröffentlichung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Marx wiederholt auch hier den Gedanken des voraussetzungsvollen Charakters der Religion: »Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form […]« (MEW 1: 378). ›Staat‹ und ›Sozietät‹ gelten Marx als eine ›verkehrte Welt‹. Erst durch sie werden spezifische 85 | Das für Soziologie und Politikwissenschaft zentrale Problem der Entstehung und des Wandels von Werten und Normen (siehe Joas 1997) muss m.E. vor dem Hintergrund des konstitutiv individualistischen Charakters solcher Wertorientierungen diskutiert werden. Erst im Kontext gesellschaftlicher Individuierung sind Wertorientierungen kontingent, sodass Wertewandel als sozialer Integrationsmechanismus unter den Bedingungen struktureller Verkehrung zu dienen vermag. Wertorientiertes Handeln konstituiert und vollzieht sich demnach im Medium gesellschaftlicher Vereinzelung, also in einem strukturinduzierten Prozess der Identitätsbildung. 86 | Übrigens heißt es schon hier: »Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit […]« (MEW 1: 375). In den Umrissen sieht Engels, dass die Trennung der Klassen eine ›Einheit in der Differenz‹ ist. In den Pariser Manuskripten kann Marx diesen Gedanken mit dem Heßschen des Geldes als Form der Entfremdung zusammendenken (vgl. Backhaus 2000: 129ff., 142f.) und so das Programm formulieren, dass die Produktionsverhältnisse aus dem Geld zu erklären seien.
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individuelle Bewusstseinsformen etwa religiösen Inhalts produziert. Die privatisierte Religiösität ist für Marx das ›falsche Selbstbewusstsein‹ eines vergesellschafteten Individuums und damit immer schon auch ›falsches Selbstbewusstsein einer verkehrten Welt‹. Die spezifische Gestalt der Religiösität ist gebunden an den strukturellen Vorgang der Verselbständigung ökonomischer und politischer Institutionen. In der Einleitung wird überdies deutlich, dass sich die Einsicht in den Klassencharakter der Gesellschaft immer stärker geltend macht. Marx geht an ihrem Ende, ganz im Gegensatz zu den demokratietheoretischen Implikationen des Manuskripts von 1843, davon aus, dass allein die proletarische Revolution durch den direkten Umsturz der Eigentumsverhältnisse die politische Entfremdung aufzuheben in der Lage sei. 87 In den Pariser Manuskripten (1844) konzentriert sich Marx dann auf die Analyse des Produktionsverhältnisses. 88 Die dort aufgeworfene Frage nach der Genese der ökonomischen Klassenstruktur wird im Manuskript zur Deutschen Ideologie (1845/46) zwar nicht befriedigend beantwortet, doch präzisiert Marx dort sein gesellschaftstheoretisches Programm, nach dem die modernen, verselbständigten juristisch-politischen Institutionen und die ›Formen des Bewusstseins‹ die verselbständigte ökonomische Struktur notwendig zur Voraussetzung haben (vgl. MEW 3: 347, 432f.). Dabei macht Marx die Objektivität der politischen Herrschaft, die Tatsache, dass »der Staat zu einer besonderen Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden« (MEW 3: 62; Hvm) ist, im Kern an der abstrakten und verselbständigten ›Form des Gesetzes‹, in der die Einheit aller besonderen Willen eine selbstständige Form erhält, fest (vgl. MEW 3: 62, 311). In der Kritik der politischen Ökonomie, wie Marx sie seit dem Manuskript der Grundrisse 1857/58 (vgl. MEW 42) angegangen ist, analysiert Marx die moderne Gesellschaftsstruktur im engeren Sinne. Der Gegenstand der Analyse ist, so lässt es sich den verschiedenen programmatischen Äußerungen entnehmen, der Strukturzusammenhang des in eine Pluralität von Nationalstaaten fragmentierten kapitalistischen Weltmarktes (vgl. MEW 13: 7; MEW 42: 154, 188). Im Hinblick auf das eingangs formulierte Programm der differenzierungstheoretischen Marx-Lektüre lässt sich festhalten: Der differenzierungstheoretische Status der Marxschen Argumentation wird vor dem Hintergrund der Analyse des Gesellschaftsbegriffs im 87 | Marx bezieht sich hier auf die Revolutionierung der deutschen Zustände. 88 | Siehe unter Abschnitt S. 97ff. dieser Arbeit.
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Marxschen Frühwerk klarer. Die Marxsche Theorie steht mit der Auffassung, dass es sich beim basalen Objektbereich der Gesellschaftstheorie um den strukturellen Dualismus von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft handelt und dem daran anschließenden Gedanken, dass die davon zu unterscheidenden ›Lebens‹- und Bewusstseinsformen in ihrer spezifischen individualistischen Weise durch diese Kernstruktur der Gesellschaft produziert werden, dem differenzierungstheoretischen Denken diametral gegenüber. Weniger aber noch als im Falle Hegels lässt sich gegen Marx der Einwand geltend machen, die Konzeption der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft entspräche dem liberalen Nachtwächterstaat. Es geht Marx vielmehr offensichtlich darum, die Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat unter qualitativen Gesichtspunkten der ›Entwicklungslogik‹, also der Formbestimmtheit kapitalistischer Vergesellschaftung zu erfassen. Davon zeugt noch das Programm der späteren Kritik der politischen Ökonomie. Wenn nun davon auszugehen ist, dass die Form der strukturellen Differenzierung in der Moderne wesentlich jene des objektiven Auseinandertretens von politischem Staat und kapitalistischer Ökonomie ist, dann stellt sich über die Frage nach deren jeweiliger Binnenlogizität und dem Zusammenhang beider Sphären zugleich und grundlegend die Frage nach der ›Einheit‹ der ›Teilsysteme‹. Entgegen der systemtheoretischen Konstruktion einer Pluralität strukturisomorpher Strukturprinzipien (›symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‹) existieren lediglich zwei Gestalten der gesellschaftlichen ›Einheit‹. Bei diesen handelt es sich jedoch nicht, wie von Habermas, der in differenzierungstheoretischer Hinsicht ebenfalls grundsätzlich vom Dualismus von Staat und Ökonomie ausgeht, in der Theorie des kommunikativen Handelns konstatiert wird, um die ›Steuerungsmedien‹ Geld und Macht, sondern um die existierenden Prinzipien des Geldes und des modernen Rechts: die Formen des absoluten Werts und des allgemeinen Willens – Preisform und Rechtsform.89
89 | Auch Habermas konstruiert mit dem Medienkonzept das Machtmedium. De facto lässt sich keine Strukturisomorphie von Geld und Macht nachweisen. Habermas nötigt sich zu dieser Konstruktion, da er das moderne Recht als institutionelle ›Verkörperung‹ von ›Vernunft‹ bzw. ›postkonventionellen moralischen Bewusstseinsstrukturen‹ und Voraussetzung der Herausbildung der modernen Ökonomie entwickeln will, um so zu zeigen, dass die Moderne im Kern Vernunfteinheit ist.
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A BSOLUTER W ERT UND ALLGEMEINER W ILLE – P REISFORM UND R ECHTSFORM ALS S TRUKTURPRINZIPIEN MODERNER G ESELLSCHAFTEN Preisform und absoluter Wert Die moderne Ökonomie ist im Gegensatz zu vormodernen Gestalten des Naturaltauschs und der unmittelbaren Aneignung konstitutiv Geldwirtschaft. Diese Geldwirtschaft ist im Zuge der »Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln und vom Produkt« (Denninger 1973: 146) zugleich immer schon durch qualitative Eigentumsasymmetrien – Klassenstrukturen einschließlich stofflich-technischer, herrschaftlich organisierter Produktionsprozesse – sowie die Konkurrenz für den Austausch und um des Profits willen produzierender Einzelunternehmen gekennzeichnet. Der Gesamtzusammenhang dieser konstitutiv durch Klassenstrukturen und Konkurrenz gekennzeichneten Geldwirtschaft weist eine eigene, endogenüberindividuelle Dynamik auf. Wie sich etwa die Gesamtarbeit auf die einzelnen Nationalökonomien, Produktionszweige und Einzelunternehmen verteilt, und wie sich die Preise der Waren auf Märkten bilden, ist keineswegs abhängig vom Willen der gesellschaftlich produzierenden Privatproduzenten. Und auch dynamische Phänomene wie die der Inflation, des Wirtschaftswachstums oder der Krise erweisen sich als kaum vorherseh- oder gar steuerbar. Aufgrund dieser Eigenschaften liegt es nahe, die moderne kapitalistische Ökonomie als ein reales ›System‹ zu begreifen. Der Nachweis der Existenz eines solchen objektiven wirtschaftlichen Systems wäre allerdings, ganz gleich ob von der soziologischen oder der ökonomischen Theorie, tatsächlich zu erbringen.1 1 | Im Rahmen der Neuen-Marx-Lektüre wird die Marxsche Ökonomiekritik als ein solcher Nachweis kritisch interpretiert (siehe Backhaus 2000; Reichelt 2002). Die Ausführungen im Kapitel 3 dieser Arbeit soll-
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Absoluter Wert und allgemeiner Wille
Der basale soziale Mechanismus des Strukturzusammenhangs der modernen Geldwirtschaft ist der Tausch, in dem Waren (keine ›Güter‹ o.ä.) gegen Geld getauscht werden. Mit dem Verhältnis der allgemeinen Äquivalenz, der qualitativen Gleichheit der stofflich verschiedenen Tauschgegenstände, ist eine spezifische gesellschaftliche Realität gegeben, die sich der Beschreibung in den Kategorien eines Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand entzieht: der monetäre Nexus der modernen Ökonomie kennzeichnet eine dritte, genuin gesellschaftliche Wirklichkeit. Während in den zeitgenössischen, im Paradigma des Methodologischen Individualismus fundierten soziologischen Tauschtheorien der Rational Choice bzw. neo-institutionalistischer Provenienz die Logik des rationalen Handelns unter Absehung seiner qualitativen ökonomischen Implikationen thematisiert wird 2, ist in der Diskussion der akademischen Ökonomie wiederholt problematisiert worden, dass das ökonomische Denken auf die Existenz eines überindividuellen, als ›objektiv‹ zu begreifenden makroökonomischen Werts verwiesen ist.3 In sachlicher Hinsicht lässt sich das Problem der makroökonomischen Einheit in verschiedener Hinsicht festmachen. Hier seien drei zentrale Aspekte des Objektivitätscharakters des ökonomischen Seins, die im innerökonomischen Diskurs thematisiert wurden, genannt: 1. Es existiert das Problem der ›Dimensionsgleichheit‹ oder ›Kommensurabilität‹ der ökonomischen Gegenstände, welches besagt, dass nicht besondere, sinnliche Gegenstände addiert werden, sondern abstrakte, qualitativ gleichartige Gegenstände (vgl. Reichelt 1999: 6). Mit dem Phänomen des Preises ist die allgemeine und abstrakte Identität aller ökonomischen Gegenstände gegeben. ›Identität‹ meint hierbei die absolute Ununterscheidbarkeit der sinnlichen Gegenstände im Hinblick auf ihre Preisbestimmtheit. Dies impliziert die Existenz eines objektiven und allgemeinen, insofern ›absoluten‹ Werts, denn eine Mannigfaltigkeit subjektiver, insofern bloß ›relativer‹ Werte ergibt keine allgemeine Einheit, welche die Summierung von Werten ermöglichen würde.4 ten deutlich gemacht haben, dass den soziologischen Differenzierungstheorien dieser Nachweis bisher nicht gelungen ist. 2 | Siehe exemplarisch bei Coleman 1990; oder auch bei Esser 1993: 219-250. 3 | Siehe hierzu grundsätzlich Backhaus 1997b. 4 | »Wäre der Tauschwert der einzig ökonomische Wertbegriff, so gälte für ihn, daß er nur relationaler Begriff, vermittelnde Kategorie, wäre für Austauschakte. Man könnte dann solche Tauschwerte nicht addieren,
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2. Damit zusammenhängend: Der Preis der Waren ist immer Preisform und schon in quantitativen Relationen bestimmt. Die ökonomischen absoluter Wert Quantifizierungen setzen de facto die qualitative Gleichartigkeit der Gegenstände voraus (vgl. Backhaus 1997: 307).5 Die ökonomischen Quantitäten sind dabei weder physischer noch psychischer Art (vgl. Backhaus 2002: 115). Die Geldeinheit ist keine technische Größe, sodass die Frage aufgeworfen wird, was das Geld als Maßstab der Preise eigentlich misst. 3. Schließlich: Das Problem der monetären Einheit zeigt sich am Problem der Einheit der Geldfunktionen (Maßstab der Preise, Wertaufbewahrung, Zirkulationsmittel etc.). Die soziale Existenzweise des Geldes lässt sich nicht auf dessen Funktionen reduzieren, sondern die verschiedenen Funktionen verweisen auf eine ihnen zugrunde liegende Einheit, d.h. eine abstrakte und allgemeine Einheit der verschiedenen Geldfunktionen. Die Existenz des »abstrakten, objektiven und absoluten Wert[s]« (Reichelt 1999: 8) wird in der akademischen Ökonomie in verschiedener Weise vorausgesetzt. So z.B. in der Kategorie des ›Sozialprodukts‹, in der Bestimmung des Geldes als ›Wertaufbewahrungsmittel‹, in den Begriffen der ›Geldmenge‹, ›Wertmenge‹ etc. sowie in der Vorstellung von ›Kapitalzirkulation‹ bzw. ›Kapitalkreisläufen‹.6 In diesen Kategorien kommt die Vorstellung einer objektiven Mengenhaftigkeit, also der Existenz objektiver nicht-technischer Quantitäten, zum Ausdruck. Entscheidend hierbei ist, dass die Nationalökonomie letztlich von der Erfahrung der kapitalistischen Empirie genötigt wird, einen mit dem Austausch gegebenen objektiven Wert – im Gegensatz zum Arbeitswert der klassischen Ökonomie und zum subjektiven Wert der Neo-Klassik –, in den oben genannten Kategorien, vorauszusetzen (vgl. Backhaus 1998). Wenn aber ›objektiv‹ nicht auf Sinnlichkeit abzielt, dann muss das Phänomen der allgemeinen Äquivalenz etwas anderes, ein Drittes, möglicherweise genuin Soziales sein. Dieses ›Dritte‹ wurde in der Nationalökonomie auf verschiedene Weise thematisiert. So ist etwa der in der ökonomietheoretischen auch keinen Gesamtwert berechnen« (Hartmann 1970: 269; zit. nach Reichelt 1999: 11f.). 5 | So heißt es bei Gottl: «Aber wer soll da eigentlich messen, wann soll es geschehen, und was soll da erst aus einer Messung hervorgehen? […] Alle Messung kommt da längst zu spät, wo das Ausmaß gleich zahlenmäßig geboren wird« (Gottl zit. nach Reichelt 1999: 12). 6 | Vgl. Reichelt 1999: 6ff.; vgl. hierzu des Weiteren Backhaus 1997a: 21f.
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Absoluter Wert und allgemeiner Wille
Selbstreflexion der kapitalistischen Ökonomie verwendete Begriff der ökonomischen ›Form‹ bzw. ›Preisform‹ zu begreifen als Versuch, den Objektcharakter basaler ökonomischer Objektivität begrifflichtheoretisch einzuholen. Die Begriffe der ›Form‹ bzw. ›Preisform‹ und der mit ihnen korrespondierende Begriff des absoluten Werts sind Ausdruck der Einsicht, dass die in den Formen der Ware und des Geldes gegebene Einheit und Allgemeinheit – das Verhältnis objektiver Äquivalenz – keine bloß subjektiv-geistige sein kann, wie sie ebenso wenig unmittelbar stofflich-technologisch zu bestimmen ist.7 Jedoch wird die mit dem Begriff der ›Form‹ gefasste Einheit des ökonomischen Objekts ideengeschichtlich mit entscheidend unterschiedlichen Bedeutungsgehalten thematisiert. Dieser Unterschied verdeutlicht sich an den Differenzen zwischen dem Gegenstandsverständnis, das sich im Rahmen der Kritik der neo-klassischen Schule an ihrem eigenen und für sie konstitutiven werttheoretischen Subjektivismus eröffnet und der Marxschen Wert- und Geldtheorie. Der Unterschied besteht darin, wie diese Theorien jeweils den Charakter der Einheit und Überindividualität des monetären ökonomischen Seins als Objekt der Theorie zu fassen in der Lage sind. Während die Neo-Klassik zwar wiederholt auf die Paradoxien des Verhältnisses von subjektivem Wertbegriff und Erfahrung der Wirtschaft stößt bzw. den makroökonomischen Wert bestenfalls als Form der intersubjektiven Geltung vorstellt, so ist Marx in der Lage, die makroökonomische Einheit als gesellschaftliche Gegenständlichkeit, d.h. als unmittelbare Einheit von sinnlichem Sein und gesellschaftlicher Gültigkeit im Sinne eines ›existierenden Prinzips‹ bzw. einer ›existierenden Allgemeinheit‹ – und das bedeutet als reale Kategorialität – zu denken (vgl. Reichelt 2002: 156ff.; Backhaus 1998). Bezogen auf die gesellschaftstheoretischen Argumentationen von Luhmann und Habermas ist darauf hinzuweisen, dass es sich hier um jenen Unterschied handelt, den diese im Zuge der Soziologisierung ökonomischer Probleme nicht zu fassen in der Lage sind. Ihre differenzierungstheoretischen Konzeptionen (›Kommunikationsmedien‹, ›Steuerungsmedien‹) teilen gleichermaßen neo-klassische Implikationen, insofern beide Theorien vom subjektiven Wert ausgehen – wobei beide Konzeptionen offenbar die innerökonomische Kritik am subjektiven Wert ignorieren 8 –, ohne deswegen 7 | Es ist diese im Tausch gegebene Einheit, die Adorno als Kern der Gesellschaft – »principium synthesis« (Ritsert 1998b: 328) – begreift. 8 | Luhmann will die bei ihm im Gegensatz zu Habermas als konstitutiv ausgewiesene Objektivität des Teilsystems Wirtschaft am Geldcode festmachen. Zugleich hat er einen subjektiven Wertbegriff. Was für den Neo-
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jedoch auf eine objektivistische Vorstellung (z.B. ›Wertaufbewah- Preisform und rung‹, ›Medium‹, ›System‹) des ökonomischen Seins zu verzichten. absoluter Wert Umgekehrt entwickelt keine der beiden Theorien die im soziologischen Medienbegriff vorausgesetzte Objektivität des Werts. Schließlich orientiert sich der differenzierungstheoretische Medienbegriff an der spezifischen Gestalt des Geldes, die soziologisiert und verallgemeinert wird, so wie in ähnlicher Weise bereits der neukantianische Wertbegriff vom ökonomischen Wertbegriff abstrahiert und verallgemeinert wurde. Durch Begriffsstrategien dieser Art ist es innerhalb des kategorialen Rahmens der soziologischen Theorie jedoch unmöglich, den spezifischen Charakter des Geldes zu erfassen. Insoweit die Soziologie wirtschaftliche Phänomene untersucht, hat sie bisher folglich den Gegenstand verfehlt. Das Problem der makroökonomischen Einheit lässt sich in den Dimensionen der innerschulischen Kritik des neo-klassischen Ansatzes der österreichischen Schule und der subjektivistischen neukantianischen Soziologie demonstrieren und mit dem Marxschen Objektivitätsbegriff des Preises und des Geldes konterkarieren. Grundsätzlich fällt auf, dass das Problem des absoluten Werts bei Subjektivisten/Grenznutzentheoretikern und nicht bei Strukturalisten/Arbeitswerttheoretikern zu Bewusstsein gelangt. 9 Die proKlassiker u.U. noch zum Problem wurde und was diese Schule selbst niemals ausräumen konnte, wird in der Systemtheorie positiv vorausgesetzt. Auch Habermas verwendet einen subjektiven Wertbegriff, zugleich erfüllt das Geldmedium bei ihm Funktionen, die einen objektiven Wert voraussetzen (vgl. Reichelt 1998: 375f.). Letztlich deutet er die bürgerliche Ökonomie dann nicht mehr als Wertzusammenhang, sondern als verselbständigtes Vernunftgebilde. 9 | Entgegen den neo-klassischen Dogmen der Subjektivität des Wertes sowie der konstitutiven Verschiedenheit von Gütersphäre und Geldsphäre wurde in Deutschland ab Mitte der 1920er Jahre zur ›volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung‹ übergegangen. Motiviert wurde dies v.a. durch das Interesse, den Siegermächten des Ersten Weltkriegs die als illegitim eingeschätzte Höhe ihrer Reparationszahlungen ›nachzuweisen‹. In diesem Zusammenhang war es dann auch folgerichtig, dass der Verein für Socialpolitik, eine neukantianisch geprägte Institution, der auch Max Weber angehörte, gegen diese Praxis protestierte. Auf seiner Wiener Tagung von 1926 kommt der Verein zu dem Schluss, dass nach dem Ende der Tagung »wohl der letzte Rest von Hochachtung gegenüber Versuchen, eine einfache Summe für Volkseinkommen und Volksvermögen zu nennen, verschwunden sein« werde (Diehl zit. nach Struck 2001: 174). Aufgrund ihres subjektiven Wertbegriffs musste den Neukantianern der
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minentesten und im Prinzip brisantesten Feststellungen des Problems finden sich in der Neo-Klassik selbst. Die neo-klassische Ökonomie ist eine Antwort auf die klassische Politische Ökonomie und Marx. Der frappanteste Unterschied lässt sich an einem Paradigmenwechsel in der Werttheorie festmachen. Im Gegensatz zur klassischen, objektiven Arbeitswerttheorie (Smith, Ricardo) vertreten die neo-klasssischen Autoren (Jevons, Walras, Menger) eine subjektive Wertlehre, nach der sich der Wertbegriff aus dem Prinzip des Grenznutzens ableitet. Auf die Formulierung einer Geldtheorie im engeren Sinne wird dabei verzichtet.10 Die österreichische Schule der Nationalökonomie stellt v.a. ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts ihren eigenen, gegen die klassische Arbeitswerttheorie gerichteten und von Menger geprägten werttheoretischen Subjektivismus an wesentlichen Stellen in Frage. So haben Böhm-Bawerk und Schumpeter gleichermaßen die für ihr subjektivistisches Verständnis prekäre Notwendigkeit eines absoluten Werts für makroökonomische Analysen konstatiert, ohne dabei jedoch zu einer positiven Bestimmung des Problems durchdringen zu können. Böhm-Bawerk erkennt auf der Ebene der Kapitaltheorie die Unumgänglichkeit des makroökonomischen, objektiven Werts (vgl. Backhaus 1997). Andererseits heißt es bei Schumpeter im Wissen um die Unverzichtbarkeit eines objektiven Wertbegriffs resignativ: »Streng genommen sind die makroökonomischen Größen sinnlos« (Schumpeter zit. nach Backhaus 1997b: 444). Erst Amonn gelangt im Kontext seiner Kritik an Schumpeter zu einer positiven Bestimmung des Problems (siehe Amonn 1927). Hierbei hält er der Nationalökonomie insgesamt vor, dass sie ihren Gegenstand nicht kenne, den er selbst als die Form des Preises begreift.11 Die von Amonn im Begriff der Preisform konstatierte überindividuelle Charakter der ökonomischen Objekte wird in diesem Zusammenhang allerdings als Form der intersubjektiven Geltung gedacht (vgl. ebd.), aufgrund der für den Neukantianismus konstitutiven erkenntnistheoretischen Gegenübersetzung von Sein und Geltung, wie sie auch der ›theoretischen Nationalökonomie‹ Ammons zugrunde liegt. Die für den Neukantianismus charakteristische Trennung von Sein und Geltung liegt des Weiteren der Philosophie des Geldes von Simmel zugrunde. Auch Simmel beschäftigt sich mit dem spezifiVersuch, Gesamtwerte und Realeinkommen zu messen, als Werturteil erscheinen. 10 | Eine knappe Zusammenfassung zentraler Axiome der neo-klassischen Ökonomie findet sich bei Heinrich 2001: 62-77. 11 | Zu Amonn vgl. Backhaus 1997b: 446ff.
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schen Charakter der Objektivität der Geltung des ökonomischen Preisform und Wertphänomens (vgl. Reichelt 2002: 149ff.). So schreibt Simmel absoluter Wert über den Tauschwert: »wenn der Wert eines Gegenstandes auch nicht in demselben Sinne objektiv ist wie seine Farbe oder seine Schwere, so ist er darum noch keineswegs in dem dieser Objektivität entsprechenden Sinne subjektiv […]. Das praktische Verhältnis zu den Dingen dagegen erzeugt eine ganz andere Art von Objektivität […] wirtschaftliche Objektivität […]. Die Form, die der Wert im Tausch annimmt, reiht ihn in jene beschriebene Kategorie jenseits des strengen Sinnes von Subjektivität und Objektivität ein; im Tausch wird der Wert übersubjektiv, überindividuell […]« (Simmel 1989: 52f.; Hvm).12 Aufgrund der konstitutiven Trennung von Geltung und Sein konstruiert Simmel diese Objektivität jedoch letztlich bewusstseinsimmanent. Im Kontext dieser Konstruktion benennt Simmel im Unterschied zu Amonn allerdings reflexionslogische Implikationen des ökonomischen Wertphänomens, indem er darauf hinweist, dass »der Wert zu jenen Inhaltgebilden« gehöre, »die wir, indem wir sie vorstellen, zugleich als innerhalb dieses Vorgestelltwerdens dennoch Selbständiges empfinden« (ebd.: 37). In der Objektivität des Wertes macht sich, Simmel zufolge, »die fundamentale Fähigkeit des Geistes geltend: sich die Inhalte, die er sich vorstellt, zugleich gegenüber zustellen, als wären sie von diesem Vorgestelltwerden unabhängig« (ebd.: 36). Aber auch Simmels theoretische Vorstellung des Werts bleibt letztlich im neukantianischen Dualismus von Sein und Gelten befangen. Das objektive Gelten des Werts wird als Reflexionsphänomen der sinnlichen Welt der Erfahrungsgegenstände gegenübergestellt. Der überindividuelle Charakter der Objektivität des Werts selbst, also das, was soziologisch auch als ›Emergenz‹ oder ›Transintentionalität‹ artikuliert wird, wird dabei als unableitbar ausgewiesen (vgl. Reichelt 2002: 151). Der wert- und geldtheoretischen Argumentation von Marx lässt sich nun entnehmen, dass die in der Form des Preises gegebene Form der ›allgemeinen Austauschbarkeit‹ weder bewusst-intentional hergestellt wird, noch auf einen subjektiven Bewusstseinszustand oder intersubjektive Gültigkeit reduzierbar ist, sondern in spezifischer Weise vorgefunden wird.13 Marx konzipiert das Problem der ökonomischen Form in dieser Hinsicht präziser als nach ihm die 12 | »Das Entscheidende für die Objektivität des wirtschaftlichen Wertes, die das Wirtschaftsgebiet als selbständiges abgrenzt, ist das prinzipielle Hinausgehen seiner Gültigkeit über das Einzelsubjekt« (Simmel 1989: 58f.; Hvm). 13 | Vgl. dazu Reichelt 2002: 149ff.; Backhaus 1998: 359.
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Neo-Klassik. Er denkt den Preis bzw. das Geld und schließlich alle anderen ökonomischen Kategorien als reale Kategorien (vgl. MEW 42: 159). Entgegen der neukantianischen Werttheorie, die zwischen ›Sinnlichkeit‹ und ›Wertsphäre‹, zwischen ›Realem‹ und ›Geltendem‹ unterscheidet, geht Marx offenbar nicht von einer solchen Trennung von Sein und Geltung aus. Vielmehr artikuliert sich in den Marxschen, an die Hegelsche Philosophie anknüpfenden (vgl. Backhaus 1997b: 479) Begriffen der ›Geltung‹ und der ›Wertgegenständlichkeit‹ das Bewusstsein, dass die spezifische Gestalt der makroökonomischen Einheit von den handelnden und denkenden Individuen in Gestalt der unmittelbaren Einheit von Sinnlichkeit und Geltung zugleich konstituiert und vorgefunden wird. Die Preisform als Kerngestalt der ökonomischen Gegenständlichkeit ist keine bloß intersubjektive, dem sinnlichen Sein entgegengesetzte Form, sondern eine zugleich immer schon ›existierende‹ und insofern gesellschaftlich-gegenständliche Form: die Objektivität der Geltung des Preises wird immer schon in Verbindung mit den sinnlichen Gegenständen vorgefunden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Wirklichkeit der ökonomischen Formen – selbst unter Absehung ihrer systemischen Implikationen – von den intersubjektiven Formen sprachlicher Bedeutungen und Symbolisierungen sowie den ästhetischen, wissenschaftlichen oder religiösen Urteilsformen, im Gegensatz zu den einschlägigen Generalisierungen in der neukantianischen und differenzierungstheoretischen Soziologie, in denen ökonomische Einheit als Sonderfall allgemeiner Prinzipien der ›Reflexion‹ oder ›Mediatisierung‹ vorgestellt wird.14 Das qualitative Moment der ökonomischen Wirklichkeit, d.h. den spezifischen Modus der ökonomischen Geltung, fasst Marx in spezifischer Weise. Die vielfältigen Charakterisierungen des eigentümlichen Doppelcharakters der ökonomischen Kategorien, die unmittelbare und vorfindliche Einheit von sinnlichem Sein und gesellschaftlicher Geltung, versuchen diese Realität begrifflich einzuholen. Marx bezeichnet die Ware in diesem Sinne als »sinnlich-übersinnliches Ding« (MEW 23: 85), oder noch deutlicher, Waren als »sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge« (MEW 23: 86). Im Zentrum stehen in der Marxschen Werttheorie jene »Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also 14 | Der neukantianische Wertbegriff und der differenzierungstheoretische Begriff des Mediums haben ihr Modell am ökonomischen Wert bzw. an der Geldform. Die ökonomischen Probleme werden zu soziologischen Vorstellungen verarbeitet, die generalisiert und in die Ökonomie zurückprojiziert werden.
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objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser Preisform und historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Wa- absoluter Wert renproduktion« (MEW 23: 90; Hvm). Die Kategorien werden auch ausgewiesen als »verrückte Form[en]« (ebd.). ›Verrückt‹ sind diese Formen, weil sie jenseits des klassischen Dualismus von Sinnlichkeit und Sein angesiedelt sind. Marx bezeichnet den Charakter des Seins der ökonomischen Kategorien auch mit dem Begriff der ›Wertgegenständlichkeit‹ (vgl. MEW 23: 62f., 85ff.). Dieser Begriff der ›Wertgegenständlichkeit‹ kennzeichnet ein ebenso spezifisches wie adäquates Gegenstandsbewusstsein über die ökonomische Wirklichkeit: in der Wirklichkeit der Ökonomie finden die Austauschteilnehmer Waren, also sinnliche Gegenstände mit Preisen vor. Sie finden damit die unmittelbare Einheit von Sein und Geltung vor. In der Binnenperspektive halten sie zugleich bloß die sinnlichen, sogenannten ›Güter‹ und das ›symbolische‹ Geld einander gegenüber. Diesen mit dem Begriff der ›Wertgegenständlichkeit‹ verbundenen Sachverhalt charakterisiert Reichelt wie folgt: »Die Äquivalentform als solche ist die Form unmittelbarer Austauschbarkeit, die aber – im Bewußtsein – unmittelbar zusammenfällt mit dem Gebrauchswert, der Gegenstand gilt ausschließlich als Gegenständlichkeit, als unmittelbare Gegenständlichkeit des Wertes. Wahrgenommen wird aber nur der Gegenstand. Form der Gleichgeltung oder auch Form unmittelbarer Wertgeltung heißt also Gegenstand als Wertgegenständlichkeit, aber diese ist nicht im intentionalen Bewußtsein. Die Wertgegenständlichkeit als solche wird nicht ›wahrgenommen‹, gleichwohl wird sie ›vorgefunden‹ – aber als sinnlicher Gegenstand, eben weil der reale Gegenstand als Gegenständlichkeit gilt; als äußere Reflexion übernimmt das Bewußtsein Bestimmungen des Gegenstandes (konventionelle Maße) und behandelt sie als Bestimmungen der Gegenständlichkeit« (Reichelt 2002: 158f.). Der Begriff der ›Wertgegenständlichkeit‹ drückt bei Marx die reflektierte Erfahrung der aller subjektiven Bestimmung immer schon vorgängigen gesellschaftlichen Einheit der ökonomischen Sinnlichkeit aus, d.h., er benennt das existierende Prinzip der gesellschaftlichen Gegenständlichkeit. Zugleich muss dieser spezifische Charakter wirtschaftlicher Objektivität als immer schon von den Austauschenden konstituierter gedacht werden. Das von den Handelnden Konstitutierte präsentiert sich dem intentionalen Bewusstsein in der Gestalt des An-sich-Seins, der abstrakte, allgemeine und absolute Wert erscheint in Gestalt des Werts als einer natürlichen Eigenschaft der Gegenstände. Bereits in der einfachen Gestalt der preisbestimmten Ware tritt dem Bewusstsein eine gesellschaftliche Reflexionsbestimmung in unmittelbarer Einheit
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mit einem sinnlichen Gegenstand ›entgegen‹, ohne dass dabei der Akt der Setzung einer solchen Einheit den Austauschenden unmittelbar einsichtig ist. Die Form der Äquivalenz wird im Austausch gesetzt, aber sie wird ›gesetzt als vorausgesetzt‹. Die wesentliche Herausforderung besteht infolgedessen in dem begrifflichen Nachvollzug der Genese dieser Form.15 Hinsichtlich des theoretischen Status des Marxschen Gegenstandsverständnisses ist damit mit Marx auf der Ebene der Gegenstandskonstitution, über die prinzipielle Kritik an subjektivistischen Begründungen der Ökonomie hinaus, gegen den einschlägigen Platonismus (›Zweiweltenlehre‹) der ökonomischen Wissenschaften und der Soziologie zu argumentieren. Denn in der wirtschaftlichen Realität treten die Gegenstände dem Bewusstsein, wie gesehen, immer schon als preisbestimmte entgegen. Die Theorie findet, genau wie die Austauschenden selbst, Sinnlichkeit und Geltung (›allgemeines Bewusstsein‹) immer schon in einer unmittelbaren Einheit vor: die »gesellschaftliche Realität selbst präsentiert sich dem Wissenschaftler in dieser Form. Daß uns nämlich immer schon die Produkte in Warenform gegenübertreten, also einen Preis haben, der dann auch addiert werden kann, zu einem Gesamtwert zusammengezählt werden kann, der sich erhält und wächst. Also ein intertemporaler, sich in der Zeit erhaltender und wachsender Gesamtwert. Die ›sogenannten Güter‹ werden also keineswegs ›in Preisen geschätzt‹, wie die charakteristische Wendung in der gegenwärtigen Theorie lautet, in der ein handelndes bzw. formkonstituierendes Subjekt unterstellt, besser erschlichen wird, sondern sie treten uns vorab preisbestimmt gegenüber« (Reichelt 1999: 12; Hvm). Die der Marxschen Wert- und Geldtheorie zugrunde liegenden Sachverhalte sind es, die auch den späten Schumpeter dazu bewegen, seine negative Einschätzung des Marxschen Kapitals zu korrigieren. So stellt der späte Schumpeter fest, »daß Marx im Kapital eine Theorie entwickelt, die genau diese Problematik ins Zentrum 15 | Marx geht es im Kapital bekanntlich um die Lösung des Geldrätsels (vgl. MEW 23: 62). Ein wesentliches Ziel seiner Darstellung ist die genetische Entwicklung der Geldform (vgl. ebd.). Dieser programmatische Anspruch ist Ausdruck eines spezifischen Problembewusstseins. Denn mit dem Programm einer ›Ableitung‹ der allgemeinen Äquivalentform aus der Warenform verfolgt Marx das Ziel der Entwicklung einer ihrerseits entwicklungsfähigen Form der makroökonomischen Einheit, aus der schließlich der Kapitalbegriff sowie die Zirkulation des Kapitalwerts und damit die Wirklichkeit des Systems, die Strukturgesetze der Dynamik, entwickelt werden sollen.
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rückt, ohne daß aber Marx explizit davon spricht: nämlich die Be- Rechtsform und gründung des objektiven und absoluten Wertes, d.h. addierbarer allgemeiner Wille Werte, die zu einem Sozialprodukt zusammengezählt werden können« (ebd.: 11, vgl. auch Backhaus 1997b: 444f.). Schumpeter sieht demnach, dass es Marx im Kontext seiner Ökonomiekritik um nichts Geringeres als die theoretische Entwicklung der Bedingung der Möglichkeit von makroökonomischer Einheit geht (vgl. ebd.: 445). Die Schumpetersche Einsicht sowie die von Amonn vorgetragene Selbstkritik des werttheoretischen Subjektivismus haben dem Methodologischen Individualismus in Ökonomie und Soziologie allerdings keinen Abbruch getan.
Rechtsform und allgemeiner Wille Analog der theoretischen Behandlung der kapitalistischen Ökonomie wird auch in der Diskussion des modernen Rechts und zentraler Rechtsinstitute, wie etwa des Privateigentums, in der Regel vollständig von deren Formcharakter abstrahiert. Dementsprechend wird die Form des Rechts in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, genau wie die ökonomische Form, ›äußerlich‹ aufgegriffen und unkritisch vorausgesetzt.16 Wie aber lässt sich die Form des Rechts fassen? Das moderne, kodifizierte Recht ist seiner Form nach wesentlich allgemeines, subjektives Recht. Als solches ist es als eine Form der objektiven Einheit der vereinzelten Rechtspersonen zu begreifen. In der gesellschaftlichen Verfolgung ihrer besonderen Interessen setzen die handelnden Individuen als freie und gleiche Rechtspersonen die unbedingte Geltung der kodifizierten Normen voraus. Zugleich ist die Geltung der Normen mit Zwangsandrohung verbunden. Diese Form des kodifizierten subjektiven Rechts, seine Einheit, Allgemeinheit und Unbedingtheit, wird von den Individuen keineswegs bewusst-intentional konstituiert, sondern sie wird, ähnlich der Äquivalenzform der sinnlichen Gegenstände, vorgefunden. Insofern die Seinsweise dieser spezifischen Form des kodifizierten Rechts aber weder auf Subjektivität noch intersubjektive Geltung reduzierbar ist, sondern als eine existierende Form vorgefunden wird, erscheint es sinnvoll, die Form des modernen Rechts im weite16 | Bereits Paschukanis kritisiert an Plechanow: Der »Begriff des Rechts [wird] ausschließlich vom Standpunkt seines Inhalts betrachtet; die Frage der Rechtsform wird überhaupt nicht gestellt« (Paschukanis 1929: 26).
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sten Sinne als eine Gestalt ›gesellschaftlicher Objektivität‹ und ›Verdinglichung‹ zu begreifen. Die so nur kursorisch angegebenen Merkmale der Rechtsform lassen sich präzisieren. Die zentrale Bedeutung der individualistischen Form des modernen Rechts ist wiederholt thematisiert worden. Paschukanis konstatiert, »daß die Grundzüge des bürgerlichen Privatrechts […] auch die charakteristischen Merkmale des rechtlichen Überbaus überhaupt sind« (Paschukanis 1929: 13). Weiterhin heißt es bei Paschukanis: »Tatsächlich liegt der festeste Kern der juristischen Nebelregion (wenn man sich so ausdrücken darf) gerade im Gebiet privatrechtlicher Verhältnisse« (ebd.: 54; Hvm). Die »grundlegenden Definitionen des Privatrechts [sind] nichts anderes, als die Definition des Rechts überhaupt« (ebd.). Und mit aller wünschenswerten Deutlichkeit wird festgehalten, dass »das Privatrecht am unmittelbarsten die allgemeinen Bedingungen der Existenz der Rechtsform als solcher wider[spiegelt]« (ebd.: 150; Hvm). Auch in der Diskurstheorie des Rechts wird die zentrale Rolle des Privatrechts hervorgehoben. Habermas verweist grundsätzlich bezogen auf die Moderne auf einen »Typus von Recht, das sich durch drei Merkmale auszeichnet: modernes Recht ist positives, zwingendes und individualistisch strukturiertes Recht. Es besteht aus Normen, die durch einen Gesetzgeber erzeugt werden, staatlich sanktioniert sind und auf die Gewährleistung subjektiver Freiheiten abzielen« (Habermas 2001: 133; Hvm). Und anderer Stelle heißt es: »Historisch gesehen bilden […] die subjektiven Privatrechte, die legitime Spielräume individueller Handlungsfreiheiten auszeichnen und insofern auf die strategischen Verfolgung privater Interessen zugeschnitten sind, den Kern des modernen Rechts« (Habermas 1992: 45; Hvm).17 Die mit Zwangsandrohung versehene Form gleicher subjektiver Rechte soll allgemeingültig sein. Habermas verweist in älteren Arbeiten zu recht auf das Merkmal der ›Generalität‹ des modernen Rechts: »Seinem Anspruch nach soll das moderne Recht aus allgemeinen Normen bestehen, die grundsätzlich keine Ausnahmen und keine Privilegierungen zulassen […]«, das Merkmal der ›Generalität‹ hänge »nämlich mit der Legitimität des bürgerlichen Rechts zusammen: wenn und soweit das moderne Recht einen Bereich stra17 | Hinzuweisen ist hier auf die Doppelexistenz des subjektiven Rechts. So existieren gleiche subjektive Rechte nicht allein in der Form des Privatrechts, sondern sie werden auch in Gestalt der Verfassung positiviert. Letztere zwingt die politische Gewalt dazu, das subjektive Recht anzuerkennen.
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tegischen Handelns universalistisch regelt, kann das Rechtssystem als Ausdruck verallgemeinerbarer Interessen gerechtfertigt werden« (Habermas 1976: 265; Hvm). 18 Dieses universalistische und darin für das moderne Recht konstitutive Moment kennzeichnet einen wesentlichen Aspekt der Objektivität des Rechts, der selbst nicht mehr auf die bloße Intersubjektivität der Normgeltung reduzierbar ist. Im universellen Charakter der positivierten, d.h. kodifizierten und mit Zwangsandrohung versehenen, subjektiven Rechtsnormen tritt der Rechtspersonen ihre Einheit mit allen anderen Rechtspersonen in verselbständigter Gestalt entgegen. Mit dem Charakter der Vorgängigkeit der Form des Rechts im Sinne einer objektiven Gestalt der rechtlichen Vereinzelung ist schließlich immer schon die unbedingte Sollgeltung von Rechtsnormen verbunden; der genuin rechtliche Geltungsanspruch erscheint als ein immer schon verselbständigter. 19 Die Sollgeltung der Rechtsnorm wird keineswegs intentional per Übereinkunft konstituiert, sondern sie wird vorgefunden. Im Privatrecht wird der ›Rechtskode‹20 – die Forderung unbedingter allgemeiner Geltung der Norm im Unterschied zu allen anderen Formen unmittelbarer Konventionalität/Normativität – in immer schon kraft der Kodifizierung der Norm verselbständigter, universalisierter Form vorgefunden. Der in der Form des Vertrages gesetzte identische Wille der Einzelnen tritt diesen in einer verselbständigten Form entgegen. Die allgemeine rechtliche Einheit der Individuen wird – analog dem absoluten Wert im Falle der Wertgegenständlichkeit bzw. ökonomischen Form überhaupt – als konstitutive Bestimmung der Form vorgefunden. Als Form weist das subjektive Recht damit ebenso wie die ökonomischen Kategorien, und in deren Kern die allgemeine Äquivalentform, eine prekäre subjektiv-objektive Seinsweise auf.21 So stellen 18 | Paschukanis spricht ebenfalls wiederholt vom »Universalismus der Rechtsform« (vgl. Paschukanis 1929: 33, 56). 19 | Dies impliziert, dass die Form selbst nicht identisch ist mit dem Geltungsanspruch der ›normativen Richtigkeit‹ in der Universalpragmatik von Habermas. Auch ist die intersubjektive Anerkennung der Rechtspersonen eine immer schon aufgehobene. Im Gegensatz zur Moral ist im Recht die unbedingte Geltung der Norm gebunden an die Formen des Vertrags und des Gesetzes, mittels derer die Individuen ihren gesellschaftlichen Verkehr organisieren. 20 | Dieser Terminus ist gleichermaßen zentral in den Rechtstheorien von Habermas und Luhmann. 21 | Paschukanis wirft ebenfalls die Frage auf, inwiefern die Seinsweise der juristischen Kategorien der subjektiv-objektiven Seinsweise
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die privatrechtlich gesetzten Normen eine Form der objektiven Geltung dar, die in ihrer Einheit und Allgemeinheit weder auf das subjektive Bewusstsein eines einzelnen Individuums noch auf die Summe des Wollens vieler Individuen reduzierbar ist. In diesem Sinne wird die Realität der Form des modernen Rechts sowohl in der handlungstheoretischen Definition des Rechts, wie Max Weber sie formuliert, als auch mittels eines erklärenden Zugriffs funktionalistischer Provenienz verfehlt. 22 In der Tradition von Rousseau und Hegel – und auch bei Marx – wird die Objektivität der rechtlichen Einheit mit dem Begriff des ›allgemeinen Willens‹ gekennzeichnet und mit den Formen des Privatrechts und des Gesetzes, in deren Formen der ›allgemeine Wille‹ als existent gedacht ist, in Verbindung gebracht. In der Auseinandersetzung mit seinen naturrechtlichen Vorgängern und im Zuge der heraufziehenden bürgerlichen Revolution in Frankreich führt Rousseau eine neuartige Unterscheidung in den Diskurs der politischen Philosophie ein. Im Gegensatz zu seinen theoretischen Vorläufern begreift er das Resultat des Gesellschaftsvertrages als ein ›emergentes‹: mit der Konstitution des politischen Staates entsteht eine Form der Einheit, die sowohl über den Einzelwillen als auch über die Summe aller einzelnen Willen hinausgeht. Diese Einheit des »politischen Körper[s]« (Rousseau 1762: 67) bezeichnet Rousseau als volonté générale, die er streng von der volonté de tous, der Summe aller Einzelwillen, unterscheidet. Eine Form, in der die volonté générale Rousseau zufolge zum Ausdruck kommt, ist die Souveränität, sie ist »nichts anderes […], als die Ausübung des allgemeinen Willens« (ebd.: 55). Ebenso begreift Rousseau die Akte der Gesetzgebung als »Akte des allgemeinen Willens« (ebd.: 69), wobei Souveränität und Gesetzgebung eng zusammenhängen: »Da das Staatsoberhaupt keine andere Macht hat als die gesetzgebende der ökonomischen Kategorien entspricht; vgl. Paschukanis 1929: 16, 43f., 47f. 22 | Die Form des Rechts weist über handlungstheoretisch konstatierbare sinnhafte Intersubjektivität hinaus. Des Weiteren sei hier der Hinweis auf die konstitutive systemtheoretische Beobachtungsaporie erlaubt: Das Recht wird nicht beobachtet, sondern in der Binnenperspektive vorgefunden. Mit dem Begriff der Rechtsform wird keine Objektivität in den Erfahrungsbereich hineinprojiziert, sondern es wird von der in der Binnenperspektive vorgefundenen Objektivität – der gesellschaftlichen Gegenständlichkeit – der Form ausgegangen. Luhmann etc. verhalten sich also begriffslos gegenüber ihrem theoriekonstitutiven Gegenstand, des Rechts ebenso wie der ökonomischen Form.
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Gewalt, so wirkt es nur durch Gesetze, und […] die Gesetze [sind] Rechtsform und nur authentische Beschlüsse des allgemeinen Willens« (ebd.: 125). allgemeiner Wille Schließlich ist »jede Handlung der Staatshoheit« eine »authentische Handlung des allgemeinen Willens« (ebd.: 63). Gegen jede politizistische Verkürzung des Bedeutungsgehalts der volonté générale ist darauf zu insistieren, dass dieser Begriff des allgemeinen Willens gerade die spezifische Gestalt der Vorgängigkeit – die Objektivität – der politischen Vereinigung der vereinzelten Einzelnen bezeichnet. So betont Klein richtig: »Was aber hat es wirklich mit dem ›Übereinkommen‹ und der ›Einstimmigkeit‹ auf sich? Rousseau bezeichnet damit jene Ebene der ›gesellschaftlichen Vereinigung‹, die dem Verfahren der Abstimmung logischerweise vorgeschaltet ist, die also bei allen Abstimmungen immer schon vorher da ist« (Klein 2001: 71; Hvm). Klein begreift den allgemeinen Willen in der Rousseauschen Fassung als »ursprüngliche Einheit« (ebd.: 72), als »Kategorie sui generis« (ebd.: 73), die »(in der Kantschen Terminologie) ›autonom‹« (ebd.) gedacht werden soll. Und so wird zu Recht festgehalten: »Rousseau gibt sich alle Mühe, die Volonté générale als eine Extra-Qualität von der bloßen ›Summe einzelner Willensmeinungen‹ (Volonté de tous) abzugrenzen« (ebd.). Der allgemeine Wille ist demnach zu begreifen als ein einzelner Wille, eine objektive Form der Einheit. Diese Form ist dabei nicht mehr zurückführbar auf die Summe der vielen einzelnen Willen. Diesen Zusammenhang erkennt auch Rotermundt: »Bei Rousseau stellt sich das Problem als Spannung zwischen ›volonté générale‹ und ›volonté de tous‹ dar. Er sieht den Unterschied und die damit gegebene grundsätzliche Diskrepanz zwischen Gesellschafts- oder Staatsganzen auf der einen und seinen es konstituierenden Mitgliedern auf der anderen Seite. Indem sich diese nämlich zum Staat zusammentun, entsteht ein eigenes politisches Subjekt. Der Staat tritt als eine Einheit handelnd auf, und zwar sowohl gegenüber seinen Mitgliedern als gegenüber anderen Staaten. D.h. in ihm materialisiert sich ein Willen, der nicht einfach die divergierenden Einzelwillen seiner Träger wiederspiegelt, sondern aus ihnen einen einzigen macht, der sich aber auch nicht aus einem einzelnen Willen eines Mitglieds ergeben kann […], der aber dennoch aus diesen einzelnen Willen gebildet werden muß. So sind der Wille aller und der allgemeine Wille untrennbar aufeinander bezogen, ohne ineinander überzugehen« (Rotermundt 1997: 86; Hvm). Als Beleg führt Rotermundt eine bekannte Stelle aus dem Gesellschaftsvertrag an: »An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragsschließenden setzt ein solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen, und der durch
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ebendiesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält« (Rousseau 1762: 46; Hvm).23 Dieses bei Rousseau erstmals thematisierte Moment der Objektivität der rechtlich-politischen Einheit vereinzelter Einzelner tritt auch in der Rechtslehre Kants hervor. Es zeigt sich deutlich in der Definition des Rechts, in der es heißt: »Das Recht ist […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Kant, Werke Bd. 8: 337; Hvm). Wenngleich Kant hier das Moment der Einheit nicht explizit benennt, so lässt sich seiner Formulierung zumindest das Problem des Doppelcharakters, d.h. der Einheit und Trennung von ›Willkür‹ und ›objektiver Einheit‹, entnehmen. Das Privatrecht als objektive, überindividuelle Form der Einheit wird auch bei Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Auseinandersetzung mit Rousseau und dem klassischen Naturrecht, thematisiert. Auch Hegel begreift das Privatrecht und die mit ihm verbundene Form des Gesetzes als Existenzform des allgemeinen Willens.24 Laut Riedel drückt die »Formel des allgemeinen Willens, […] eine der Zeit und dem Werden entzogene ›innere Beziehung‹ der 23 | Die so gefasste, objektiv existierende politische Einheit der Subjekte, ihr ›politischer Körper‹, wird auch an anderen Stellen mit Attributen belegt, die an ein ›politisches Transzendentalsubjekt‹ erinnern, das in den Subjekten ›erscheint‹ und sie zu seinen ›Vollzugsorganen‹ macht; an eine ›geistige, politische Gesamtkörperschaft‹, die für sich existiert, jedoch ausschließlich dadurch, dass sie sich durch die Subjekte vermittelt. So z.B. wenn es heißt: »Der beständig in Kraft bleibende Wille aller Staatsglieder ist der allgemeine Wille; durch ihn sind sie erst Staatsbürger und frei. Bei einem Gesetzesvorschlage in der Volksversammlung handelt es sich eigentlich nicht um die Annahme oder Verwerfung desselben, sondern ob er mit dem allgemeinen Willen, der der der abstimmenden Bürger ist, in Einklang stehe« (Rousseau 1762: 144). Der »allgemeine Wille […] ist […] immer der gleiche, unwandelbar und lauter […]« (ebd.: 140), »der allgemeine Wille ist stets richtig, allein das Urteil, welches ihn leitet, ist nicht immer im klaren« (ebd.: 70), oder: »Solange mehrere vereinigte Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der die gemeinsame Erhaltung und die allgemeine Wohlfahrt zum Gegenstande hat« (ebd.: 139; Hvm). 24 | Vgl. Hegel, Werke Bd. 7, § 217, inkl. Zusatz; des Weiteren § 209 ff., § 257 ff. »Denn das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens; und das Allgemeine ist im Staate in den Gesetzen, in allgemeinen und vernünftigen Bestimmungen« (Hegel, Werke Bd. 12: 56).
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Willen aus« (Riedel 1982: 11; Hvm). Dabei handele es sich bei dem Rechtsform und allgemeinen Willen um eine Form der Einheit, die »sich nicht aus allgemeiner Wille den Einzelwillen summiert, sondern durch sie hindurch- und sie übergreift – den einzelnen ›subjektiven‹ Geist in sich enthält« (ebd.; Hvm).25 Dieser Interpretation zufolge lässt sich der allgemeine Wille mit Hegel als die für sich existierende über- und einbegreifende Einheit aller besonderen Einzelnen begreifen. Schließlich postuliert Marx: »Im Privatrecht werden die bestehenden Eigentumsverhältnisse als Resultat des allgemeinen Willens ausgesprochen« (MEW 3: 63). Bei der mit den Formen der Kodifizierung (privat)rechtlicher Normen verbundenen Form des Gesetzes handelt es sich um eine Gestalt der ›gesellschaftlichen Objektivität‹, die Marx von der Form des Staates unterscheidet: »Die unter diesen Verhältnissen [des kapitalistischen Austauschs, L.M.] herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, daß ihre Macht sich als Staat konstituieren muß, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz – einen Ausdruck, dessen Inhalt immer durch die Verhältnisse dieser Klasse gegeben ist […]. So wenig es von ihrem idealistischen Willen oder Willkür abhängt, ob ihre Körper schwer sind, so wenig hängt es von ihm ab, ob sie ihren eigenen Willen in der Form des Gesetzes durchsetzen und zugleich von der persönlichen Willkür jedes Einzelnen unter ihnen unabhängig setzen« (MEW 3: 311). Auch bei Marx ist demnach die Realisierung von Sonderinteressen allein unter der Voraussetzung möglich, dass die Einheit aller Einzelwillen sich zur Form des Gesetzes verselbständigt. Zusammengefasst: die im kodifizierten Privatrecht gesetzte und mit dem Begriff des allgemeinen Willens bezeichnete rechtliche Einheit der Individuen ist eine abstrakte, überindividuelle und überintersubjektive, aber dennoch existierende und nicht von den handelnden Individuen unabhängig denkbare Form der Einheit. Es handelt sich um eine Form ›gesellschaftlicher Objektivität‹ und ›Verdinglichung‹, also eine Form der Allgemeinheit, in der den handelnden Individuen ihre eigene Einheit, ihr identischer, unbedingter rechtlicher Wille – ›gesetzt als vorausgesetzt‹ – entgegentritt; und
25 | Es handelt sich bei den Explikationen der ›juristisch-politischen Einheit‹ bei Rousseau, Kant, Hegel und Marx um Vorformen des Begriffs der Rechtsform, wie er später dann von Paschukanis und anderen verwendet wird. Bei Hegel, in den angeführten Passagen, sind die Formulierungen jedoch bereits recht eindeutig.
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zwar im Kern als eine qua Kodifizierung konstituierte Form der verselbständigten universalistischen rechtlichen Vereinzelung. Die moderne Form des Rechts erscheint mit dem vergleichbar, was Marx mit dem Begriff der ›objektiven Gedankenform‹ zum Ausdruck bringt. Die Rechtsform ist ›Gedankenform‹, indem die Vertragsform im Kopf als identischer Wille existiert; zugleich ist diese Gedankenform ›objektiv‹, weil der identische Wille in der Kodifizierung (subjektiver Rechte) ausformuliert ist und in dieser Bestimmtheit vorgefunden wird. Resultat der Akte der Kodifizierung sind Gesetze, d.h.: das kodifizierte subjektive Recht ist durch die Form des Gesetzes geregelte Normativität. Es ist in dieser Gestalt zu begreifen als der in Normen vergegenständlichte allgemeine Wille. Die volonté générale ist in dieser Hinsicht überhaupt nur existent als Form. Die existierende Form ist eine Form existierender Verselbständigung mit der zugleich immer schon die Form der Sollgeltung verbunden ist – denn Verträge sollen gehalten werden. Dieses qualitative Moment des modernen Rechts, mit dem der in der Binnenperspektive der handelnden Individuen immer schon vorgefundene Formcharakter selbst als Objekt der theoretischen Reflexion benannt ist, ist strikt zu unterscheiden von den Inhalten dieses Rechts. Damit stellt sich allerdings nicht allein die Frage, wie der Inhalt des modernen Rechts mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zusammenhängt, sondern überdies ist die Frage zu beantworten, in welchem Zusammenhang der Reproduktionszusammenhang der kapitalistischen Ökonomie und die Form des modernen Rechts selbst stehen.26 Die mit den Formen des absoluten Werts und des allgemeinen Willens angegebenen sozialwissenschaftlichen Objektbereiche lassen sich weder auf den Status sinnhafter Symbolisierung reduzieren, noch lassen sie sich auf dem Wege ihrer objektivistischen Beschreibung als ›Kommunikation‹ oder ›Mediatisierung‹ angemessen begreifen. Ein sozialwissenschaftlicher Strukturbegriff der Gesellschaft, der die Eigenstruktur seiner Gegenstände zu erfassen fähig wäre und damit zugleich einen Begriff der Wirklichkeit des sozialen Handelns ermöglichen würde, müsste im Kern die Logik der Konsti26 | Paschukanis schreibt: »Geht man den Dingen tiefer auf den Grund, so ist es klar, daß nicht nur die eine oder andere technische Einrichtung des Staatsapparates dem Boden des Marktes entwächst, sondern daß auch zwischen den Kategorien der Waren- und Geldwirtschaft und der juristischen Form selbst ein unlösbarer innerer Zusammenhang besteht« (Paschukanis 1929: 14; Hvm). Zu diesem Beweisgang siehe Meyer 2004.
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tution und Verselbständigung der ökonomischen und politischen Rechtsform und Form offenlegen können. Die Perspektive der Ausbildung eines adä- allgemeiner Wille quaten Selbstbewusstseins der Form und Dynamik moderner Vergesellschaftung aber verweist ein sozialwissenschaftliches Bewusstsein, das seinen eigenen Entstehungskontext zu reflektieren in der Lage ist, auf nichts anderes als die sozialwissenschaftliche Entfaltung der Logizität des dialektischen Begriffs. Allein diese erlaubt es, dem zentralen Diktum des Adornoschen Anti-Positivismus folgend, all das, was sich in jener Gestalt des An-sich-Seins präsentiert, also die existierenden Formen der Einheit und Objektivität des Sozialen, nunmehr von innen her zu verstehen, oder was dasselbe ist: die Konstituentien der Erfahrung zu ergreifen.
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Michael Weingarten Sterben (bio-ethisch)
Hans Heinz Holz Widerspiegelung
2004, 54 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-186-8
2003, 82 Seiten, kart., 10,80 €, ISBN: 3-89942-122-1
Hermann Klenner Recht und Unrecht
Jörg Zimmer Metapher
2004, 56 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-185-X
2003, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-123-X
Jörg Zimmer Reflexion
Christoph Hubig Mittel
2003, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-166-3
2002, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-933127-91-2
Thomas Metscher Mimesis
Renate Wahsner Naturwissenschaft
2003, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-165-5
2002, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-933127-95-5
Michael Weingarten Wahrnehmen
Werner Rügemer arm und reich
2003, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-89942-125-6
2002, 52 Seiten, kart., 7,60 €, ISBN: 3-933127-92-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2005-03-07 15-48-25 --- Projekt: T224.pantarei.meyer.gesellschaft / Dokument: FAX ID 01f678220610714|(S.
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) anzeige bdg märz 05.p 78220610730
Titel der »Edition panta rei«
Michael Weingarten (Hg.) Eine »Andere« Hermeneutik Georg Misch zum 70. Geburtstag – Festschrift aus dem Jahr 1948 Oktober 2005, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-272-4
Lars Meyer Absoluter Wert und allgemeiner Wille Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie März 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-224-4
Joachim Schickel Der Logos des Spiegels Struktur und Sinn einer spekulativen Metapher (herausgegeben von Hans Heinz Holz)
Mathias Gutmann Erfahren von Erfahrungen Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie
Juni 2005, ca. 290 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-295-3
2004, 766 Seiten, kart., 2 Bände, 49,80 €, ISBN: 3-89942-187-6
Josef König Denken und Handeln Aus dem Nachlass 1 (herausgegeben von Mathias Gutmann und Michael Weingarten)
Hans Heinz Holz Mensch – Natur Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie
Mai 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-320-8
2003, 194 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-126-4
Gerhard Gamm, Mathias Gutmann, Alexandra Manzei (Hg.) Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften April 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-319-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
2005-03-07 15-48-26 --- Projekt: T224.pantarei.meyer.gesellschaft / Dokument: FAX ID 01f678220610714|(S. 286
) anzeige edition panta rei märz 05.p 7822061080