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German Pages [410]
Uber und
Wewden Wille
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Wolfgang Mil ler-Laute
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Walter de Gruyter
Uber Werden und Wille zu t Macht
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Wolfgang Miller-Lauter
Uber Werden und Wille zut Macht Nietzsche-Interpretationen
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1999 Walter de Gruyter - Berlin - New York
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Gedruckt auf siiurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm tiber Haltbarkeit erfillt.
Die Deutsche Bibliothek — CLP-Einheitsanfnahme
Miiller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche-Interpretationen / Wolfgang Miiller-Lauter. New York : de Gruyter 1. Uber Werden und Wille zur Macht. — 1999 ISBN 3-11-013451-9
© Dieses
Werk
—
Berlin
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aller seiner Teile
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DEDALUS - Acervo - FFLCH-FIL
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Vorwort
In diesem Band sind Abhandlungen vereinigt, in denen ich mich mit den
wesentlichsten Aspekten von Nietzsches Philosophie auseinandersetze:
Werden und Wille zur Macht. — Die Beitrige dieses Bandes sind in snent Zeitraum entstanden, der mehr als drei Jahrzehnte umfaft. Zwei von
ihnen, der erste und der vorletzte, werden hier zum ersten Mal veréffent-
licht: (1) der Vortrag Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches (1966), der die Keimzelle fiir mein Buch Nietzsche. Seine Philosophie
der Gegensdtze und die Gegensdtze seiner Philosophie (1971) gebildet hat,
und (5) die in den Jahren 1997 bis 1999 ausgearbeitete Studie Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche.
Den zuerst in dem Vortrag von 1966! (und dem Buch von 1971) thematisierten Konsequenzen, die sich aus Nietzsches Rede vom Willen zur Macht angesichts seiner Grundvoraussetzung der einzigen Welt des unablassigen Werdens ergeben, bin ich 1973/74 in der Abhandlung Nietzsches Lehre vom
Willen zur Macht weiter nachgegangen (2). Dabei ging es mir darum, die ‘Uber Vortrag und friihere Veréffentlichung der Beitrage dieses Bandes informieren
die Nachweise im Anhang zu diesem Band. — Die Grundlage fiir die Ausarbeitung des oben genannten Vortrags bildete die Grofoktavausgabe (GA); die zunichst von
mir herangezogene Schlechta—Ausgabe (SA) hatte sich wegen ihrer sehr begrenzten Wiedergabe von Nietzsches Nachla& als untauglich erwiesen. Von der Kritischen Gesamtausgabe der Werke (hg. G. Colli und M. Montinari) war noch kein Band erschienen. Die Stellenangaben und Verweise erfolgen, dem Manuskript entsprechend, nach der GA. Ihnen sind nachtraglich die Angaben nach KGW bei-
gegeben worden. Die Ausarbeitung des Vortrags und der daraus hervorgegangenen Abhandlung erfolgte ebenfalls auf der Grundlage der GA (vgl. Anm. 1). Allerdings konnten schon einige Bande der Nachlafedition der KGW (V 2, VIII 2 und VIII 3) herangezogen werden. Deshalb ist die Zitationsweise in dieser Abhandlung unterschiedlich. Nur dort, wo ich mich schon primar auf die KGW beziehen konnte, wird diese an erster Stelle aufgefiihrt. In den anderen Fallen werden zuerst die GA-Stellen genannt, die spater nachgetragenen KGW-Stellen in eckigen Klammern dahinter gesetzt. Spatere Zusitze und Erganzungen des Textes auf der Grundlage der KGW werden ebenfalls in eckigen Klammern gebracht. Ein Teil der sehr langen FuSnoten zur damaligen Diskussion meines Nietzsche—Buches ist als Exkurs der Abhandlung nachgestellt worden.
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VI
Vorwort
Vielheit von im Kampf stehenden wie auch miteinander kooperierenden ,Willen zur Macht‘ als Letztgegebenheiten herauszuarbeiten, die nicht auf das Eine eines metaphysisch Griindenden zuriickgefiihrt werden diirfen (in
welch letzterem Sinne Nietzsches Rede vom Willen
zur Macht zumeist
aufgefat worden ist). Immer treffen wir auf nur zeitweilig im Werden‘ geeinte Vielheiten, die, als Quantitaten vorgestellt, ihren Umfang mehren
oder verlieren und zuletzt zerfallen. In ihrem ,Grunde’ finden wir nicht
unteilbare ,Atome‘ oder ,Monaden‘ (auch solche ,Einheiten‘ gibt es nicht), sondern immer schon und immer nur ,Mehrheiten’. In einer fiir die ,Bewahrung‘ dieser ,Lehre* wesentlichen Richtung habe
ich Nietzsches Gedanken 1977/78 in der Abhandlung Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluf von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche verfolgt (3).? In ihr geht es darum, den Primat der aktiven Krifte in den Prozessen der Natur (vom Protoplasma bis zur komplexen Organisation des menschlichen Leibes) darzustellen. Die konstitutive Bedeutung der »Willen zur
Macht' im Organischen gewinnt Nietzsche in der Aufnahme und kritischen
Abwandlung von Bestimmungen der zeitgendssischen Naturwissenschaften
wie ,Selbstregulation‘, ,Lebensreiz‘, ,Kraftauslassung* und ,Abundanz‘. Er
wendet sich dabei gegen Darwins ,Uberschatzung des Einflusses auferer Umstinde‘ bei der Organbildung. Aber er kritisiert die mechanistische Deutung der Naturvorginge z.B. von Roux und weist zugleich auch die teleologischen Auslegungen dieser Prozesse zuriick. Indem Nietzsche alle Organisation primar aus der Starke und Durchsetzungskraft interner Macht-
konstellationen heraus deutet, schlagt er einen eigenen Weg zwischen den eingefahrenen Deutungsmustern ein. Willen—zur—Macht—Prozesse liegen nicht nur den Bildungen der Natur, sondern auch denen der Kultur zugrunde. Im Anschlu& an die fiir Nietzsches
Denken bedeutsame philosophische Tradition der Neuzeit habe ich 1995 in dem Essay Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche (4)' Erst in dieser Abhandlung konnte ich uneingeschrankt auf die Bande der KGW zuriickgreifen. — Erganzungen gegeniiber dem Erstdruck (vgl. Nachweise) sind,
abgesehen von den hinzugekommenen Zwischeniiberschriften, in eckige Klammern gesetzt. Ein schon im Erstdruck gegebener Exkurs zu ,Roux und Driesch‘ ist hier an das Ende des Textes verschoben worden. . In diesem Falle ist die hier abgedruckte Fassung die urspriingliche; die zuvor ver6ffentlichte und iibersetzte ist eine gekiirzte Fassung (vgl. Nachweise). Deshalb
werden die Unterschiede der beiden Fassungen nicht markiert. — Spatere Zusatze sind in eckige Klammern gesetzt. .
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Vorwort
VII
sozialphilosophische Aspekte von Nietzsches Verstindnis von Macht und Kampf herausgestellt, Seine Ausarbeitung des ,Individualismus‘ als ,Phino-
men‘ des Willens zur Macht wird in der Gegeniiberstellung mit Kants Verstindnis des kulturbildenden Antagonismus, der sich aus der vergleichenden Selbstliebe des Menschen, im Ausgang von dessen ungeselliger Geselligkeit, entwickelt, verdeutlicht. Die Bedeutung, welche die Méglichkeiten der
Selbsteinschatzung des Menschen gegeniiber anderen durch Kant, Schopenhauer und Nietzsche zugesprochen wird (z.B. in ,Stolz‘ und ,Eitelkeit‘), bringt
deren unterschiedliches Verstandnis von Person zum Ausdruck. Erfahrt Kants Begriff der Person als moralische Persnlichkeit schon bei Schopenhauer eine Auflésung in das Erscheinungswesen, so negiert Nietzsche auch noch Schopenhauers Gedanken der intelligiblen Verwurzelung der Person, die in der vorgangigen Charakterwahl des einzelnen Menschen beruhen soll. Nietzsche spricht vom ,Reichtum der Solitar—Person‘, der allein aus dem Wachstum
von inneren Krdften in der einzig gegebenen ,Welt des Werdens‘ entsteht; die gro&en (und einsamen) Menschen sollen das Fundament ,aristokratischer
Gesellschaften‘ bilden kénnen. Die Abhandlung Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen (5) geht von Nietzsches ,Erfahrung‘ des Verfalls der Autoritaten und der iiberlieferten ,Werte‘ in der Moderne aus.’ Die das wissenschaftliche Denken im 19. Jahrhundert kennzeichnende ,,Verfliissigung aller Begriffe, Typen und Arten“ (Zweite Unzeitgemdfe Betrachtung) bildet fiir Nietzsche die grofe Herausforderung, der er sich auf unterschiedliche Weise stellt. SchlieBlich erhebt er zu seiner ,Grundvoraussetzung‘: es gebe ,nichts Festes, nichts Bestandiges‘, vielmehr sei ,alles im Flusse‘. Sein ,Heraklitismus‘ radikalisiert noch die zeitgenéssischen Tendenzen. Wenn nichts ,ist‘, vielmehr alles nur ,wird*‘, so
bedarf die ,Fiktion‘ von Sein, ohne die wir nicht leben kénnten, der Erklarung aus den Prozessen des Werdens. Nietzsches ,genealogische Ableitung* unserer ,Grundirrtiimer‘ ist vielschichtig und kohirenter, als seine Interpreten
zumeist gesehen haben. — Der Erste Teil der Abhandlung nimmt die Frage
nach der Moglichkeit unserer Urteile auf und verfolgt sie im Sinne von Nietzsches ,entwicklungsgeschichtlichem‘ Denken bis zu den pralogischen ,Bediirfnissen‘ der friihesten Lebewesen zuriick. Die ,Geltung* unserer Urteile beruht auf unserem Glauben, dieser auf unseren (uns einverleibten) Wert-
schatzungen, die ihrerseits auf die ursprunghafte Aktivitat des Machtwollens verweisen. — Der Zweite Teil riickt das mit dem Wertsetzen ,des‘ Willens zur
5
Der Ubersicht iiber die Ausfiihrungen der Abhandlung dient der ihr vorangestellte Leitfaden fiir den Weg der Abhandlung (S. 173-180).
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VIII
Vorwort
Macht gesetzte Ja—sagen des Menschen ins Thema. Der Weg
fiihrt vom
vor—bewuften Ja—sagen iiber dessen Ausdriicklich-werden bis zur umfassen
den Lebensbejahung, der die Gestalten der Lebensverneinung entgegenstehen,
Nietzsches Philosophie des Ja—sagens vollendet sich im Gedanken und
Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen, der im dionysischen Jaq 7 seinen letzten Ausdruck findet.
Die Abhandlung Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis* philosophischer Nietzsche—Interpretation von 1994 (6)° schlie&t den Band ab. In ihr gehe ich auf die Wirkung der von Elisabeth Férster—Nietzsche und Peter Gast her-
ausgegebenen Kompilation von 1906 auf die einflufreichsten deutschen Nietzsche—Deutungen (Baeumler, Heidegger, Jaspers, Léwith, Schlechta und Fink) ausfithrlicher ein als bei friiheren Gelegenheiten.’ Die Orientierung an Nietzsches angeblichem ,Hauptwerk‘ hat die Frage nach dem, was er unter dem Wort Wille zur Macht verstanden hat, immer wieder fehlgeleitet.
Philologische und philosophische Fragen sind in der Diskussion um die
Kompilation haufig miteinander vermengt worden. Daf Nietzsche seinen zeitweiligen Plan, ein Buch unter diesem Titel zu schreiben, zuletzt aufgegeben hat, besagt nicht etwa, daf& er den Grundaspekt
seiner mit diesem
Wort verbundenen ,Weltsicht‘ fallen gelassen hatte.’ Die Entstehung dieses wie des Bandes II meiner pretationen geht auf Gesprache zuriick, die ich nach Nietzsche—Preises des Landes Sachsen—Anhalt 1996 mit Cram vom Verlag de Gruyter & Co gefiihrt habe. Eine Arbeiten, die an verschiedenen Orten publiziert wurden leicht zuganglich waren, war von Nietzsche—Forschern
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Nietzsche—Interdem Empfang des Herrn Dr. Robert Sammlung meiner und deshalb nicht haufig gewiinscht
Die wenigen Zusitze gegeniiber der ver6ffentlichten Fassung (siehe die Nachweise)
sind in eckige Klammern gesetzt. Zur Auseinandersetzung zwischen Lowith und Schlechta vel. in diesem Band schon die Abschnitte 2 bis 4 von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. Sie trégt auch noch sein Vorhaben unter dem letzten ,Haupttitel‘ Die Umwertung aller Werte, den er von September 1888 an seinem letzten literarischen Projekt gibt. Nietzsche will in ihm dem ,starken Machtwollen‘ des Menschen der Zukunft vielmehr — in freilich problematischer Weise — die Richtung weisen. Der Antichrist steht von November 1888 an fiir die gesamte Umwertung aller Werte, nicht mehr bildet er wie zuvor nur deren Erstes Buch. In Ecce homo wird der von ihm apostrophierte starkste , Wille zur Macht‘ zum umwertenden , Willen zur Tat* (vgl. dazu Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen in diesem Band, insbes. die Abschnitte 18 und 19).
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Vorwort
IX
worden. Freilich konnte ich mich nicht zu einem bloSen Wiederabdruck von schon Ver6ffentlichtem entschlieSen. Mein Wunsch war, neben fritheren Untersuchungen,
die Beachtung gefunden hatten, auch solche Arbeiten
aufzunehmen, die den letzten Stand meiner Forschung widerspiegeln. Dazu muften einige durchgesehen und oft erheblich erweitert, andere fertiggestellt oder iiberhaupt erst geschrieben werden. In den beiden Banden wollte ich sowohl die Kontinuitat als auch Wandlungen und Umbriiche in Nietzsches
Philosophieren noch schirfer herausstellen als in dem von mir bisher Ver6ffentlichten. Die Verwirklichung dieses anspruchsvollen Planes erforderte viel Verstandnis von seiten des Verlags; Herrn Dr. Cram und Frau Dr.
Gertrud Griinkorn danke ich fiir Ermutigung und gro&ziigige Entscheidungen, durch die sie meine Arbeit wesentlich unterstiitzt haben.
Johannes Neininger hat den Band redaktionell sorgfaltig betreut und schlieSlich noch den Satz tibernommen. In dieser knappen
Formulierung
sind diffizile Arbeitsginge zusammengefaGt, die durch ,letzte Anderungen‘ des Autors noch vermehrt wurden. Auch hat er das Personenregister und das
Sachregister erstellt. Ich danke Johannes Neininger fiir die Miihen, die er mit alledem auf sich genommen hat. Durch seine Betreuung meiner Arbeiten iiber viele Jahre hinweg hat er mir unentbehrliche Hilfe geleistet. Zu danken habe ich ferner Marco Brusotti, der Teile meiner spaten Abhandlungen mitgelesen und die Lektiire mit seinem Rat begleitet hat. Schlielich gilt mein Dank Frau Inge Siegel fiir komplizierte Abschreibearbeiten von Manuskript auf Diskette und Frau Lakshmi Kotsch fiir das Lesen _ von Korrekturen.
Berlin, den 10. Juli 1999
Wolfgang Miiller—Lauter
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Inhalt
Vorwort
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1. Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
2. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Vorbemerkung
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1. Vorlaufige Charakterisierung des Willens zur Macht 2. Bemerkungen zur NachlafS—Problematik
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3. Die Bedeutung des Nachlasses in K. Schlechtas Nietzsche-
Verstandnis
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4. Zu Auferungen Nietzsches iiber den Willen zur Macht im
ver6ffentlichten Werk ..... 0... ccc cee ce eee ees 5. Zur Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches
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. Wille zur Macht als Eins und Vieles .................. . , Wille zur Macht‘ im Singular .................0 00 ee
. Die vielen Welten und die eine Welt
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9. ,Die‘ Willen zur Macht in ,der‘ Welt
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a 10. Wille zur Macht als Interpretation ................... Anhang: Zu kritischen Einwanden gegen meine Nietzsche—Deutung VON 1971 sexca ctinnssa s vie enews s Ree ones EH EKO « 1. Zu Nietzsches und Heideggers Verstandnis von Metaphysik 2. Einfachheit oder Vielheit des Willens zur Macht ...... _ 3. Logische Gegensatze und Kampf der Gegensitze im Machtrer eens ede ss vuwevew cocasa peschehetl.....sscass
32
38 39 44 53 58 68 88 88 90 93
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XII
Inhalt
3. Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluf von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche
.....-++eererrstrerrees
97
97
Vorbemerkung: Zu Nietzsches naturwissenschaftlichen Studien
100 103
cece cree eeeeeeee "1. Nietzsches Roux—Lektiire......-eee +2. Phinomenalismus und Wissenschaft ...--+-+-++++-+++>
4, Roux’ Grundgedanken und deren Aufnahme durch Nietzsche eset eter tree in den Jahren 1881 und 1883 ......--+ .......
116
crete teeees ....-.-seeee
119
....... igen 6 FAR NE
126
..-.-----
136
5. Mechanistische und teleologische Naturerklarung
6. Befehl, Kraftauslassung, Reiz
7. Der Leib als Herrschaftsgebilde
Aus dem SchluSwort zur Diskussion des Vortrags
Exkurs: Hinweis auf die ,Entwicklungsmechanik*. Wilhelm Roux contra Hans Driesch .......-..-2 cece eres terre eres ——p>
4. Uber 1. 2. 3. 4. 5.
109
138
Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche Vorbemerkungen zum Verstindnis von Hochmut und Demut Hochmut und Demut bei Kant ............---+-0500-Stolz und Eitelkeit bei Schopenhauer ..............--. Stolz und Eitelkeit bei Nietzsche ................0205. Die wetteifernde Eitelkeit bei Kant. Das Prinzip des Gleich-
141 141 142 144 150
gewichts bei Kant und Nietzsche
.................0--
154
~ 6. Der Antagonismus der Menschen bei Nietzsche .........
159
~ 7. ,Individualismus‘ als Wille zur Gleichheit bei Nietzsche
162
...
8. Nietzsches Verstindnis von ,Solitar—Person‘ im Unterschied
zum Personbegriff von Kant und Schopenhauer ......... Exkurs: Uber Starke und Schwiche der Solitar—Personen
4s
166
...
170
5S. Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche Leitfaden fiir den Weg der Abhandlung .................
173 173
Erster Teil. Uber Urteilen und Wertschatzen im WerdensfluB.. 1. Uber die Historie und das Werden ................ 2. Zur Bedeutung des Werdens in der friihen Philosophie NIGEZSCHOS
cum w nts
a Nise dnacenesaweuenngert
181 181 190
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Inhalt
XII
3. Uber den Menschen in einer Wel t des sabsoluten‘ Werdens © 4, Vom Vernunft-V or urteal eee
6. Uber Subjekt und Pradikat im Urteil 7. Vom Urteil v o r der Vernunft
8. 9. 10. 11.
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Uber das Gediachtnis als Voraussetzung unseres Urteilens Uber Urteil und Wertschatzung ..............00005 Uber die Vielheit der Wertschatzungen und den freien Geist Uber die Vielheit der Wertschatzungen und deren Zerfallen im modernen aes se
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14. Uber aufsteigendes und niedergehendes Leben ....... Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt .... + 15. Uber das Ja—sagen, das Nein-sagen und die ewige Wiederkunft des Gleichen 1.0... ... ccc ccc cece eee eee eeeees 16. Uber die Ausweitung und die Intensivierung des Ja-sagens 17. Uber das verewigende Ja—sagen in Jenseits von Gut und Bose 18. Uber das Ja—sagen zur ,héchsten Tat‘ in den Schriften von 1888 Cr ee 19. Uber das Verneinen im dionysischen Ja-sagen .......
20. Vom primaren Ja—sagen zur ,héchsten Bejahung*. Uber den Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen 00... cee cece eee ee eee eee eee renee PBahSE
RM OS R Ss KORA: ce cteN REEwcn ccc cd wagau yenueu
Exkurs 1: Erganzende Bemerkungen zu Abschnitt 17: Uber das verewigende Ja—sagen in Jenseits von Gut und Bose
1.1. Knappe Darstellung des Weges des ,freien Geistes* zu einer ,Philosophie der Zukunft 1.2. Zur Formel circulus vitiosus deus
.........----.
........-++4-
1.3. Uber das Philosophieren der Gotter und iiber das Lachen ... cece cee ec ct ee cence es ceneresees 1.4. Uber ,das Genie des Herzens’ ...........0+05: Exkurs 2 (zu Abschnitt 18): Anmerkung zu Giorgio Collis
197 199 204 207 210 214 218 223 227 230 234 238 248 248 252 259 266 277
286 302 302 302 307 309 311
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Inhalt
XIV
Verstindnis von Nietzsches ,UnzeitgemaGheit®
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312
Exkurs 3: Bemerkungen zu Nietzsches ,Konzeption’ des tees r eeee err ees sDionysischen’ ........eeee Exkurs 4, Uber das Ja—sagen im extremen Verwerfen....
315 348
6. Der Wille zur Macht als Buch der Krisis‘ philosophischer eetees seer errr +Nietzsche—Interpretation .......0+.... 1. Das sogenannte Hauptwerk .... eee ereere cree
329 329
2. Alfred Baeumler und ,das System‘ Nietzsches .......-..-. 3. Wille zur Macht und ewige Wiederkehr .....-..+-++-+--4. Heidegger und die Kompilation .........--++++eeeee5
333 336 339
.......-...-.
349
6. Die Auffassung von Karl Jaspers .......-+++eee +eee-
353
7. Karl Lowith und die Philologie ........-+--+++e+eee05
357
8. Die Kontroverse zwischen Léwith und Schlechta ..... «..
360
5. Vom ,Willen zur Macht‘ zum ,Zarathustra®
9, Eugen Fink 2... 0... ce
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10. Die Kompilation und kein Ende ................0000-
368
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches »Oh
die
Vernunft
falschen ‘Gegensatze!
Krieg
und
,Frieden‘!
und Leidenschaft! Subjekt und Objekt! Der-
gleichen giebt es nicht!“
(Nachlaf Frithjahr—Herbst 1881, 11[140]; KGW V 2, 391)
» Trotzdem: es bedarf der Gegensitze, der Widerstande, also, relativ, der itbergreifenden Einheiten ...“ (Nachla& Friihjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52)
Die dem Werke Nietzsches immanenten Gegensitze haben seinen Interpreten schon immer zu schaffen gemacht. Zwar lést sich in vielen Fallen das Gegeneinander in ein Nacheinander auf, wenn es im Rahmen der philosophischen Entwicklung Nietzsches betrachtet wird, deren iibliche Einteilung in drei oder in fiinf Phasen die auffalligsten Umbriiche zu markieren gestattet. Vieles Unvereinbare aber bleibt: auch in den fundamentalen Aussagen Nietzsches.
Die Skala der Reaktionen auf diesen Sachverhalt reicht in der Nietzsche—Literatur von der Erklarung, daf& sich die Beschaftigung mit einem Denken nicht lohne, dem es an innerer Geschlossenheit mangele, tiber die Auffassung Nietzsches als eines Dichterphilosophen, von dem keine Strenge des Begriffs erwartet werden diirfe, bis zu den mannigfachen Bemiihungen um die innere Einheit seines Denkens, ja bis zu den Versuchen einer nachtraglichen Systematisierung. Nicht selten ist auch die Frage aufgeworfen worden, woher es denn komme, da dieser Philosoph in so extremer Weise in Gegensatzen denke. Oft hat man
sich dabei mit dem Hinweis begniigt, da Nietzsche ein in sich gespaltener,
ein von Widerspriichen zerrissener Mensch gewesen sei. Materialien fiir eine
solche psychologisierende Auffassung sind an vielen Stellen seines Werkes
zu finden. So schreibt er in Ecce homo: ,,Abgerechnet, daf ich ein décadent
bin, bin ich auch dessen Gegensatz*.' Ein andermal notiert er: ,,I[ch wiirde
an jedem einzelnen meiner Affekte zu Grunde gegangen sein. Ich habe immer '
Ecce homo, Warum
ich so weise bin 2; GA XV 13.
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SS eS ee
2
Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
einen gegen den anderen gesetzt.“” Folgen wir jedoch Nietzsches Selbst-
zeugnissen, so finden wir, daf er in seiner Philosophie nicht eine persOnliche
Gegensitzlichkeit auszutragen sucht, sondern diejenige, die
he
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Zeitalter pragt. Er sieht seine Aufgabe darin, wie es in einer nachgelassenen Aufzeichnung heift, ,den ganzen Umkreis der modernen Seele“ zu umlaufen,
»in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben“.’ Bei solchem Unternehmen stellt er fest, daf& die gesamte Moderne im
Zeichen von Widerspriichen steht. In ihr herrsche geradezu ein Chaos von
widersprechenden Wertschatzungen. Wir alle haben, so sagt er, ,,wider Wissen, wider Willen Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter
Abkunft im Leibe“. Der Mensch des 19. Jahrhunderts sei der vielfache
Mensch — und als solcher ,,das interessanteste Chaos“,* das es vielleicht bisher gegeben habe. Die lebendige Erfahrung der Widerspriiche seiner Zeit bildet die Wurzel von Nietzsches Philosophieren. Aus ihr erwachsen seine Geschichtsphilosophie und seine Moralkritik, sein Verstandnis des europaischen Nihilismus wie auch seine Versuche zu dessen Uberwindung.
Von all dem soll jedoch im folgenden nicht oder nur beildufig die Rede sein. Es soll hier darum gehen, die Struktur des Gegensatzes in ihrer fundie- . renden Bedeutung fiir Nietzsches Verstandnis der Wirklichkeit iiberhaupt herauszuarbeiten. Deshalb wird dieser Vortrag von Nietzsches allgemeinen Auf erungen zum Problem des Gegensatzes ausgehen, zu seiner Interpretation der Logik iiberleiten, von ihr her auf die das Seiende als solches konstituierende Gegensatzlichkeit stofen und schlieGlich die Gegensatz—Struktur des Willens zur Macht aufweisen, — des letzten Faktums, zu dem wir, nach_, Nietzsche, hinunterkommen kénnen.
Es kommt mir darauf an, einem philosophischen Weg nachzugehen. Kritische Einwande gegen Nietzsche sind an vielen Stationen dieses Weges moglich. Kritik am Einzelnen ist jedoch erst dann sinnvoll, wenn der Weg
wenigstens ein Stiick weit abgeschritten ist. Nietzsche — wie jeder Philosoph
— will erst in seinem wesentlichen Anliegen verstanden sein, ehe er kritisiert
wird. Die folgenden Ausfiihrungen sollen sich auf einen solchen Versuch des Verstehens beschranken.
Nachla&, GA XII 224;[November 1882—Februar 1883, 4[11]; KGW VII 1, 114]. WzM, GA XVI 378; [Nachla8 Herbst 1887, 9[177]; KGW VIII 2, 104).
Nachla&, GA IX 391, WzM, GA XVI 297; [Der Fall Wagner, Epilog; KGW VI 3, 47; Nachla& Herbst 1887, 9[119]; KGW VIII 2, 68].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
3
Wenden wir uns nun Nietzsches wesentlichen AuGerungen zur Gegensatz—Problematik zu. In ihnen scheint sich selber ein Gegensatz aufzutun. Zum einen fiihrt Nietzsche aus, man sei fruchtbar nur ,,um den Preis, an Gegensatzen reich zu sein“.° Ein Klassiker zum Beispiel miisse ,,alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben“.® Es ist Nietzsches grundsitzliche Uberzeugung, ,,da8 mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muf“.’ Suche man die Kehrseite zu beseitigen, so schwinde auch das Ideal der Vorderseite hin, das man doch
gerade erhalten sehen méchte.’ Die Gegensatze gehoren komplementar zueinander. Daher gelte es, die Gegensatz—Spannungen zu férdern in Richtung auf das Entstehen des héchsten Menschen. Dieser ware derjenige, ,,welcher den Gegensatz—Charakter des Daseins am starksten darstellte, als dessen
Glorie und Rechtfertigung“. Das Dasein, d.i. fiir Nietzsche die grundlegende Wirklichkeit des Lebens
iiberhaupt, ist demzufolge in sich selbst schon gegensatzlich. Umso befremdlicher klingt es, wenn Nietzsche andererseits bestreitet, da in der Wirklichkeit iiberhaupt Gegensitze zu finden seien. So schreibt er: ,,Es giebt keine Gegensiatze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von da aus falschlich in die Dinge iibertragen.“! Und so fordert er, ,,daf man die Gegensdtze herausnimmt aus den Dingen, nachdem
man begreift, da wir sie hineingelegt haben“."! Der damit auftretende Widerspruch erweist sich bei naherem Zusehen freilich als Schein. Um dies deutlich zu machen, soll zundchst der fundieren-
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den Bedeutung der Logik fiir die Gegensatze nachgefragt werden. Dabei ist zu beachten, daf fiir Nietzsche die Logik selbst ein Gewordenes ist. Ihre Grundsitze sind nicht ein Letztes, Irreduzibles. Sie entspringen der ,,N6éthi-
Gotzen-Dammerung, Moral als Widernatur 3; GA VIII 86.
WzM, GA XVI 264; [Nachla& Herbst 1887, 9[166]; KGW VIII 2, 97]. WzM, GA XVI 296; [Nachla& Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 185]. » Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren
halten“: Menschliches, Allzumenschliches II (Meinungen) 81; GA III 46. — Gegen die Anhanger sozialistischer Theorien schreibt Nietzsche: ,,Wenn ihr die starken Gegensatze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefiihl des Fiir—sich—seins auch ab.“ (WzM, GA
XVI 327; [Nachla8 November 1887—Maérz 1888, 11[141]; KGW VIII 2, 307). > 0
WzM, GA XVI 296; [Nachla® Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 185]. WzM, GA XVI 56; [Nachla Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48].
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WzM,
GA XV 231; [Nachla8 Herbst 1887, 9[121]; KGW VIII 2, 70].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
gung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsere Existenz erméglicht
wird“.'? Diese Nétigung ist eine ,subjektive“, d.h. eine aus den besonderen
Lebensbedingungen des Menschen erwachsende und insofern »eine biologische Nothigung“". Vor aller ,Logik’ herrschte die Unlogik. In deren
»Reich“, so schreibt Nietzsche in Die fréhliche Wissenschaft, gingen diejeni-
gen Wesen zugrunde, ,,welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen“.
»Wer zum Beispiel das ,Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wusste, in Be-
treff der Nahrung oder in Betreff der feindlichen Thiere, wer also zu lang-
sam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem ahnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der iiberwiegende Hang aber, das Ahnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn es giebt an sich nichts Gleiches —, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen.“" In Wahrheit
nes“. Und die Ahnlichkeit ist nur eine Ahnlichkeit ,,ftir uns“.'’ — In Mensch-
—
aber hat das Ahnliche nichts mit einem vermeintlich Gleichen zu tun. Es ,,ist kein Grad des Gleichen : sondern etwas vom Gleichen vdllig Verschiede- , liches—Allzumenschliches ist der Ursprung des Logischen sogar bis zur Pflanze zuriickverlagert worden; fiir sie sind ,,gew6hnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt“.'° In der Vielfalt solcher und anderer genealogischer Versuche, die
sich noch in den Niederschriften der achtziger Jahre finden, bleibt durchgingig die Auffassung bestimmend, daf der aller Logik vorausgehende und sie begriindende Akt im Gleichmachen des an sich selbst Ungleichen be-
'2 WzM, GA XVI 34: [Nachla& Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII 2, 82]. ')
WzM, GA XVI 28; [Nachla& Friihjahr 1888, 14[152]; KGW VII 3, 126]. Zum Vorwurf des Biologismus gegen Nietzsche vgl. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bande, Pfullingen 1961, I, 615ff. Die frohliche Wissenschaft, 111; GA V 152. — ,,Jede uns fordernde Erkenntniss ist
ein Identificiren des Nichtgleichen, des Ahnlichen d.h. ist wesentlich unlogisch. Wir
gewinnen einen Begriff nur auf diesem Wege und thun nachher, als ob der Begriff »Mensch*‘ etwas Thatsichliches ware, wahrend er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Ziige von uns gebildet ist.“ (Nachla8, GA X 172; [Sommer 1872-Anfang 1873, 19[236]; KGW III 4, 81]). 'S Nachla®, GA XII 28; [Friihjahr—Herbst 1881, 11[166.237]; KGW V 2, 403, 429]. '© Menschliches, Allzumenschliches 1, 18; GA II 35.- Vel. Nachla&, GA XIII 21ff.; [Juni—Juli 1885, 38 [14]; KGW VII 3, 341ff.].
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steht.’” Durch das Gleichmachen erhalten sich die Lebewesen. Spiiter fihrt > Nietzsche es auf den Willen zur Macht zuriick. Jedenfalls steht es letztlich nicht im Dienste eines ,Willens zur Wahrheit‘: vollzieht sich in ihm doch eine grundlegende Falschung alles Geschehens", Die Konstruktion von Identischem verfalscht die Wirklichkeit aber nicht nur, insofern sie Verschiedenes zum Gleichen macht. Schon da etwas als mit sich selbst identisch angenommen wird, ist eine Setzung, der nichts Wirkliches entspricht. Das Gleich—machen wird hier zum Fest—machen. Im unaufhérlichen Werden und Vergehen, dem nach Nietzsche in Wahrheit Realen, kann es nichts Bestindiges, also auch kein ,Ding‘ im Sinne von Substantiellem geben. -~
Die Annahme von Dingen bildet nun die ,, Voraussetzung fiir den Glauben an die Logik“. Wie das Atom, so ist auch das A der Logik ,,eine Nachkon-
.
struktion des ,Dinges‘“’’. Es ist dem Realen so wenig angemessen wie die-
ses, dem im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht. Die logischen Grundsatze formulieren nicht dem Seienden selber zukommende Wahrheiten, sie sind lediglich Imperative zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt.”® Zwar finden wir uns immer schon in einer logisch erscheinenden Welt vor. Dies aber nur deshalb, weil wir, ,,lingst bevor uns die Logik sel-
ber zum Bewusstsein kam, nichts gethan haben, als ihre Postulate in das
Geschehen hineinlegen.“' Daf die Logik wirklichkeitsinadaquat ist, laGt sie keineswegs entbehrlich werden. Sie war urspriinglich ,,als Erleichterung gemeint: Als Ausdrucksmittel“,” sie ist uns inzwischen habituell geworden. Insofern sind wir ,,neces»Vor der Logik, welche iiberall mit Gleichungen arbeitet, muss das Gleichmachen,
das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch fort, und das logische Denken ist ein fortwahrendes Mittel selber fiir die Assimilation, fiir das Sehen-wollen identischer Fille.“ (Nachla8, GA XIII 236; [August-September 1885, 40[33];
KGW
VII 3, 377]) Hierbei wirken Begriffsbildung und Sinneswahrnehmung
zusammen. Auch die letztere wird von der Nétigung zum Gleichmachen bestimmt. Ihr ,,Vereinfachen, Vergrébern, Unterstreichen und Ausdichten“ wird vom Verstand ,,unterstiitzt“ (WzM, GA XVI 34; [Nachlaf& Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII
2, 82). 18
Dazu und zum folgenden s. die spatere Arbeit Vfs., Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensdtze und die Gegensdtze seiner Philosophie, Berlin/ New York 1971, 10ff.
19 W2M, GA XVI 29; [Nachla& Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54].
20 WzM, GA XVI 29; [Nachla8 Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 53]. 71 2
WzM, GA XVI 31; [Nachla& Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII 2,81]. WzM, GA XVI 47; [Nachla8 Juli-August 1888, 18[13]; KGW VIII 3, 336).
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sitirt zum Irrthum“,2’ wie es in Gétzendammerung heift. Soweit lat Nietzsche die Logik auch gelten. Ohne ihre Fiktionen konnte der Mensch nicht leben. Ihre Falschheit tut ihrer Lebensdienlichkeit keinen Abbruch. Seine | Kritik richtet sich allein darauf, da sie spater als absolute Wabrheit gewirkt |
hat. Die Logik zweifelt nicht daran, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu kénnen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob sie in den Dingen selber ihre angeblichen Wahrheiten zu finden meint oder ob sie diese als reine Erkenntnisse ansieht, die aller Erfahrung vorhergehen. In beiden Fallen wird davon abgesehen, daf es sich bei ihren Grundsitzen um nichts anderes als um regulative Glaubensartikel handelt.2* Eine blo& scheinbare Welt wird als die wahre ausgegeben und iiber die Wirklichkeit gelegt: die Logik entartet
zur Die | dem nun
Zwei-Welten—Lehre der Metaphysik. — Aber bleiben wir bei der Logik. gegebenen Hinweise sollten lediglich den Horizont fiir die Frage nach Ursprung der Gegensitze aus der Logik abstecken. Dieser Ursprung kann herausgearbeitet werden. Das Gleich- und Festmachen konstituiert die
Logik. Seinen fiir die Gegensatzproblematik wesentlichen Ausdruck findet | es im Satz vom Widerspruch. Dieser scheidet die Méglichkeit aus, daf ein
und derselben Sache zur gleichen Zeit entgegengesetzte Pradikate zukommen kénnen.
In ihm ,,regiert“ letztlich das von Nietzsche als grob und falsch
charakterisierte Vorurteil, man kénne nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben,” wie im Satz von der Identitat der oberflachliche
»Augenschein‘ herrscht“, ,,dass es gleiche Dinge giebt“.** Dass es uns »misslingt“, dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen, ist fiir ihn nur ,»ein subjektiver Erfahrungssatz“ ohne sachgegriindete Notwendigkeit.”’ So sagt er, das ,,Nicht—widersprechen—kénnen beweise ein Unvermégen, nicht
eine ,Wahrheit‘*.”* Der Satz des Widerspruchs gelte nicht bei den Dingen, | »die Verschiedenes, Entgegengesetztes sind“.”” Die Wirklichkeit der Gegensitze wird von Nietzsche in Schutz genommen gegen die Anspriiche der Logik. Dabei steht ihm allerdings vor Augen, daf& aus dem logischen Postulat der
Widerspruchslosigkeit nun selber eine freilich nur scheinbare Gegensatzlichkeit erwachst, die jedoch den wirklichen Gegensatzcharakter des Lebens 23
Gétzen—Ddmmerung, Die ,,Vernunft in der Philosophie“ 5; GA VIII 79.
7 26
WzM, WzM,
24 WM, GA XVI 42; [Nachla& Ende 1886—Frithjahr 1887, 7[4]; KGW VIII 1, 274]. GA XVI 30; [Nachla8 Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54]. GA XVI 32; [Nachlaf Juni-Juli 1885, 36[23]; KGW VII 3, 285].
7
W2M, GA XVI 28; [Nachlaf& Herbst 1887, 9[97], KGW VIII 2, 53].
8
W2zM, GA XVI 28; [Nachla& Friihjahr 1888, 14[152]; KGW
2?
Nachla&, GA IX 187; [Ende 1870-April
1871, 7[110]; KGW
VIII 3, 126]. III 3, 171].
—
|
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verschleiert. Die Ausscheidung entgegengesetzter Bestimmungen aus einem
Sachverhalt kann das Ausgeschiedene nicht schlichtweg negieren, da es faktisch vorgefunden wird. Sie trennt es nur von dem ab, das mit sich selbst
identisch sein soll. Das Abgetrennte kann dann nach dem Schema der Identitat in sich weiter gegliedert werden. So wird eine Vielheit von ftir sich Gesetzten gedacht. Wenn die Logik nun zum ,,Kriterium des wahren Seins“ erhoben wird und in Metaphysik umschlagt, dann werden die urspriinglich subjektiven
Ausdrucksmittel in die Wirklichkeit hineinprojiziert. Im zitierten Aphorismus aus dem Nachlaf von 1887 heift es weiter: ,,Alle jenen Hypostasen: Substanz,
Pradikat, Subjekt, Objekt, Aktion usw.“ werden ,,als Realitaten“ gesetzt.”° Die Wirklichkeit wird auseinandergerissen und erst nachtraglich ein commercium der angeblich Insichselberberuhenden konstruiert, z.B. mittels des Schemas von Kausalitit. In der Froblichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: »Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stiicke
isoliren“.>’ Dem Glauben an Kausalitat liege zugrunde ,,die Trennung des ,Thuns‘ vom ,Thuenden‘, des Geschehens von einem, der geschehen macht,
des Processes von einem Etwas, das nicht Process, sondern dauernd, Substanz, Ding, Kérper, Seele usw. ist“.>” Wo die scheinbaren Realititen sich nicht ohne weiteres in einen Zusammenhang bringen lassen, nehmen sie sich ,,fiir ein gewisses Ma an Optik“
als Gegensitze aus. Um solche handelt es sich aber in Wahrheit nicht: die als Dinge gesehenen und miteinander verglichenen Geschehenskomplexe weisen nach Nietzsche blof eine Gradverschiedenheit auf, z.B. eine Verschiedenheit
im Tempo des Geschehens“, wie im Falle des vermeintlichen Gegensatzes Bewegung—Ruhe.* Und da es ,,/eichter“ sei, ,,Gegensatze zu denken als ( } Grade“,** fiihre uns ,,schlechte Gewohnheit“
39
WzM,
dazu, ,,auch noch die innere
GA XVI 30; [Nachla8 Herbst 1887, 9[97]; KGW
VIII 2, 54].
31 Die Fréhliche Wissenschaft, 112; GA V 154. 32
WzM, GA XVI 109; [Nachla8 Herbst 1885—Herbst 1886, 2[139]; 134], vgl. auch 52ff.; [Nachlaf Frithjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, Genealogie der Moral, 1. Abhandl. 13; GA VII 326ff., Nachla&, GA (Herbst 1885—Herbst 1886, 1[38.39.43]; KGW VIII 1, 15f.] und XIV 328f.; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[78]; KGW
*
KGW VIII 1, 66ff.]; ferner XIII 60, 62; Nachla&8, GA
VIII 1, 96f.].
W2zM, GA XVI 55f.; [Nachla8 Herbst 1887, 9[91]; KGW Nachla&, GA XII 101; [Frithjahr—Herbst 1881, 11[115]; auch WzM, GA XV 166f.; [Nachla& Herbst 1887, 9[107]; Gegensiatze sind einem pobelhaften Zeitalter gemiss, weil
VIII 2, 48]. KGW V 2, 380]. Vel. KGW VIII 2, 61]: ,,Die leichter fasslich.“
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in der Philosophie Nietzsches Das Problem des Gegensatzes
Natur, die geistig—sittliche Welt nach solchen Gegensatzen verstehen und
zerlegen zu wollen“.** So entstehe schlieflich ,der Grundglaube der
Metaphysiker“: ,,der Glaube an die Gegensatze der Werte " fj
Soviel iiber den Ursprung der vermeintlichen, als wirklich geglaubten
Logik, die 5 Gegensiitze aus ,,denen der Logi ‘37 Nicht dem Gebrauch der ;
fiir den Menschen unentbehrlich ist, wohl aber der Annahme einer aus den _ logischen Grundsitzen resultierenden Gegensatzlichkeit gilt Nietzsches Kritik, Nun wurde aber schon darauf hingewiesen, daf er anderer Sets gegen den Satz vom Widerspruch die Wirklichkeit der Gegensatze ins Feld ; fiihrt. Gleichwohl sto@en wir hier nicht auf Unvereinbares. Dem genaueren Zusehen zeigt sich namlich, da Nietzsche allein jede als absolut verstande- } ne Gegensitzlichkeit bestreitet, in der fiir sich Bestehende, in sich Beruhende unvermittelt einander gegeniiberstehen sollen. Wohl aber behauptet er
eine immanente Gegensatzlichkeit der Weltwirklichkeit. Sie soll in den
konkreten Entgegensetzungen beruhen, in die sich die eine Welt immer schon entfaltet hat und standig weiter entfaltet. Es ist das Grundmotiv seines Denkens (nach der Uberwindung des Einflusses insbesondere der Scho_ penhauerschen Metaphysik), das hier ins Spiel tritt: gegen jede Art von metaphysischem Dualismus die Einheit des Wirklichen zu behaupten. Die wirklichen Gegensitze, die sein Philosophieren zugesteht, sollen einander nicht ausschlieen, sie sollen voneinander abgeleitet werden kénnen. Der zweite Aphorismus des ersten Hauptstiicks von Jenseits von Gut und Bose laf$t Nietzsches Auffassung noch deutlicher hervortreten als friihere Ausfiihrungen. Er wendet sich hier gegen den Schein, der Wille zur Wahrheit k6nne nicht aus dem Willen zur Tauschung entspringen, die selbstlose Handlung nicht aus dem Eigennutze, die interesselose Kontemplation nicht aus der Begehrlichkeit. Der metaphysischen Folgerung: ,,die Dinge héch- }! sten Werthes miissen einen anderen, eigenen Ursprung haben“, dieser liege © »im Schoosse des Sein’s, im Unverginglichen, im verborgenen Gotte, im
,Ding an sich“ — halt er entgegen, daf der ,,Werth jener guten und verehrten Dinge“ gerade darin bestehen kénne, daf sie ,,mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfangliche Weise verwandt, ver-
kniipft, verhakelt, vielleicht gar wesensgleich* seien.2®> Von der Methode der Ableitung eines Phinomens aus dem ihm Entgegengesetzten macht *5
Menschliches, Allzumenschliches I, (Wanderer) 67; GA III 67.
°° Jenseits von Gut und Bose 2; GA VII 10. 37
WzM, GA XVI 56; [Nachla& Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48].
%8 Jenseits von Gut und Bése, 2; GA VII 10£.
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&
Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
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Nietzsche bekanntlich mannigfaltigen Gebrauch. Die Genealogie des Logischen aus dem Unlogischen, auf die wir stieSen, ist ein Beispiel. Uberhaupt
|
gilt ihm der Wille zum Nichtwissen, zum Unwahren, als der Grund allen Wissenwollens. Letzteres ist nur die ,, Verfeinerung“, nicht aber der (abso-
lute) Gegensatz des ersteren.*’ Die Genealogien Nietzsches, insbesondere die seiner moralkritischen Entlarvungspsychologie, haben zu nicht geringem Teile die Faszination mitbegriindet, die sein Denken in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ausgeiibt hat. Im Gegenschlag dazu ist
immer wieder auf ihre Fragwiirdigkeiten, vor allem auf ihre Simplifikationen und Gewaltsamkeiten, hingewiesen worden. Die im einzelnen oft berechtigten Nietzsche—Kritiken bleiben dabei freilich zumeist dem Vorder-
griindigen verhaftet. Wesentlicher ist es, die Grundbemiihung des Philosophierens Nietzsches zu wiirdigen: den Gegensatzcharakter des Daseins als | ein Faktum, ja als eine Letztgegebenheit zu akzeptieren, ohne damit einem metaphysischen Dualismus anheimzufallen. Kann denn aber Nietzsche iiberhaupt noch ernsthaft von Gegensdtzen
-_
—
sprechen, wenn er sie aus einander ableitet und nur eine Verschiedenheit des Grades zugesteht? Ist der affirmative Gebrauch des Begriffs Gegensatz, ~
von dem schon eingangs gesprochen wurde, vielleicht nur uneigentliche Ausdrucksweise, bei der man ihn nicht behaften sollte? LaSt denn seine ~
Lehre vom Continuum des haltlosen Geschehens als des wahrhaft Wirklichen einem tatsachlichen Gegeneinanderstehen iiberhaupt noch Raum? Doch gerade in der Ausarbeitung dessen, was dieses Geschehen ausmacht,
trifft Nietzsche auf die wirklichen Gegensatze. Um sie aufzufinden, miissen zuvor die Konsequenzen aufgezeigt werden, zu denen seine Leugnung des Bestandigen zugunsten des reinen Prozesses gelangt. Die Fiktion von Bestandigem resultiert aus dem Gleich- und Fest—machen. Das Wesen, das diese Akte vollzieht, ist aber selber urspriinglich nicht schon ein mit sich selbst gleiches. Zwar versteht es sich als solches. Dies aber nur darum, weil es sich als mit sich selbst identisch feststellt. Auch hier gilt, daf ,,nicht die Gleichheit“, die ,,zu leugnen“ sei, sondern ,,das Gleich—setzen und Zurecht—machen“ den
» Thatbestand“ bilde.*” Ja, erst nach dem Vorbild solchen Selbstverstiindnisses sollen wir ,,die ,,.Dinglichkeit erfunden und in den Sensationen—Wirrwarr
hineininterpretirt* haben.”
‘Jenseits von Gut und Bose, 24; GA VII 41. © 1
WzM, WzM,
GA XVI 14; [Nachla& Herbst 1887, 10[19]; KGW VIII 2, 131]. GA XVI 55; [Nachla8 Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 47].
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?
s in der Philosophie Nietzsche Das Problem des Gegensatzes
10
bstverstindnisses tituierung unseres Selch Wie gehen we ine aoehat unter allen den vers iedenen Momente, se Bee Realitatsgefihls", die uns gegeben sind. Diese Einheit fihren wir noe oe dem Mannigfaltigen solcher Erfahrungen gemeinsamen Grund au tick Letzterer wird als die eine Ursache verstanden, aus der als Wirkung nannten euauben mengritten wird sll das hervorgehen soll, was mit dem ge igen scheinen, werden sie selbst Da die Realitatsgefiihle eine Ursache anzuze ,Subjekts‘ wir z.B. den Na. men des en geb . che Ursa : als gleich gesetzt. . a
Der Ur e Fiktion, als ob viele gleiche | Zustinde Nietzsche schreibt: ,,,Subjekt* ist di ae
die Wirkung Eines Substrats waren: aber wir haben erst die ,Gleich-
heit‘ dieser Zustinde gescha, en.” Wie laBe sich dann aber dieses >Wir' charakterisieren, das aller Selbstidentifikation vorausgeht? So wenig diesem
Urspriinglichen der Titel ,Subjekt* angemessen Ist, so wenlg auch der des Ich.
Das Ich, das Nietzsche als unseren altesten ,,Glaubensartikel* bezeichnet,?
ist ihm nur ein anderes Wort fiir das Subjekt. Wie er von diesem sagt, es sei
nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu—Erdichtetes, Dahinter—-Gestecktes“,# so hei&t es von jenem, es sei hinzuerdacht, hinzuerfunden: und zwar vom Denken ,,zur Vielheit seiner Vorginge“ hinzuerfunden.* ,,.Durch das Denken
wurde das Ich gesetzt“.** Die Vielheit der Denkvorgange sei aber nur ,,Aus-
senseite“: ,Symptom viel innerlicheren und griindlicheren Geschehens“.*”
So sieht man sich wiederum auf das verwiesen, was Nietzsche Geschehen nennt. Als Geschehen muf auch das verstanden werden, was sich selbst als ndividuum‘ mifversteht: Das ,Individuum‘ ist in Wahrheit ,,der ganze
Process in gerader Linie“,”*> schreibt er einmal. Es ist unaufhérlich sich Wandelndes. Der Wandel vollzieht sich ,griindlich‘: es liegt kein Bleibendes zugrunde, woran er geschieht. In solcher Einsicht lést sich ,das Indivi-
duum*‘ in eine Vielzahl von ,Individuen‘ auf, die in unendlich kleinen Au-
genblicken nacheinander folgen.” Diese Charakterisierung reicht freilich “ WzM, GA XVI, 14; [Nachla& Herbst 1887, 10[19]; KGW VIII 2, 131). *’ WzM, GA XVI 112; [Nachla8 Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50]. “ ma GA XVI 12; [Nachlaf Ende 1886—-Friihjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, . WzM, GA XVI71; [Nachla8 Sommer 1883, 8[25]; KGW VII 1, 352]. . WzM, GA XVI 12; [Nachla& Juni-Juli 1885, 38[3]; KGW VII 3, 325). i Nachla&, GA XIII 59; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[146]; KGW VIII 1, 137]. . WzM, GA XVI 216; [Nachla@ Herbst 1887, 9[30]; KGW VIII 2, 13]. Nachlaf, GA XII 45; [Frithjahr—Herbst 1881, 11[156]; KGW V 2, 400].
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nicht aus. Zu fragen ist doch: was halt dieses Mannigfaltige gleichwohl in
jenem Zusammenhang, der von einem Proze& zu reden gestattet? Was iiberhaupt ermédglicht das Geschehen in seinem Nacheinander?
Das Nacheinander wird nach Nietzsche durch das Miteinander einer Vielheit
von Kraften konstituiert. Immer wieder stellt Nietzsche den Menschen als eine solche Vielheit heraus. In einem nachgelassenen Fragment heift es: ,,Das
ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kriften, von denen bald diese, bald
jene im Vordergrund steht, — und nach den anderen wie ein Subject nach einer einflussreichen und bestimmenden Aussenwelt hinsieht. Der Subjectpunkt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Krafte und Triebe
wie Nahe und Ferne, und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Qualititsgraden ist.“ Innerhalb des Zusammenspiels einer Vielheit von Kraften und Trieben iibernimmt je einer die Herr-
schaft. Da aber jeder von ihnen ,,eine Art Herrschsucht“ ist, mit ihm zugehoriger ,,Perspektive, welche er als Norm allen iibrigen Trieben aufzwingen
méchte“,*! ist die Herrschaft nur im Kampf zu erringen und zu verteidigen. Unter dem Wort Kampf miissen hierbei nach Nietzsche ,,auch das Verhiiltniss
des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhiltniss des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben“ verstanden
werden.” Das somit gegebene Gegeneinander der Triebe resp. Kriifte ist die Bedingung allen Geschehens.*? Dieses kann nie zum Stillstand kommen, denn »durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt*.* ,,Ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt“ (legt aus, entfaltet seine Perspektive) ,,und will
seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthiimer wird sofort wieder
die Handhabe fiir einen anderen Trieb“.”* So habe der Mensch , eine Fille | gegensdtzlicher Triebe und Impulse in sich gro geziichtet*.** Mit den ent- I;
gegengesetzten Trieben wiirden weitere ,bewegt*.”’ Jeder dieser Triebe fiihle | 3°
Nachla8, GA XI 235; [Herbst 1880, 6[70]; KGW V 1, 541].
5)
WzM, GA XVI 12; [Nachla8 Ende 1886-Frithjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323].
2 Nachla&, GA XIII 62, vgl. 258f.; [August-September 1885, 40 [55]; KGW VII 3, 387, vgl. Sommer—Herbst 1884, 26[276]; KGW VII 2, 220]. 53
*
»Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad— und Kraftverhaltnissen, als ein Kampf ...“ (WzM, GA XVI 57; [Nachla8 Herbst 1887, 9[(91]; KGW VIII 2, 49]). Nachla&, GA XI 283; [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540].
©
WzM, GA XVI 344; [Nachla8 Sommer—Herbst 1884, 27[59]; KGW VII 2, 289].
> Nachla®, GA XII 7; [Frihjahr—Herbst 1881, 11[119]; KGW V 2, 381]. *” Nachla&, GA XI 283; [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540].
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sich in Hinsicht auf jeden anderen gehemmt oder gefordert, geschmeichelt, jeder habe sein eigenes Entwicklungsgesetz (sein Auf und Nieder, sein Tempo u.s.w.). In ihrem ,Fiir und Wider,” im ,, Wettstr eit der Affekte“,”” bilden
sich Parteiungen und zerfallen wieder, die Herrschaften lésen einander ab: der Subjektpunkt springt herum. »Zusammenspiel und Kampf“ in einer solchen Vielheit liegen unserem Damit sind wir zu _ Denken und iiberhaupt unserem BewuStsein zugrunde“.
den wirklichen Gegensitzen Nietzsches durchgedrungen, die vor aller Logik | liegen sollen. Diese ist nur Ausdruck der Machtverhiltnisse von Trieben und : Kriften. Deren ,,Kampf* bildet die ,,Herkunft der logischen Functionen*.*! »Der Verlauf logischer Gedanken und Schliisse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewéhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mecha-
nismus in uns ab.“ Halt man an dem nun erreichten Punkte inne, um das bisherige Ergebnis der Destruktionen Nietzsches in naheren Augenschein zu nehmen, so drangt
sich die Vermutung auf, das Destruierte erneuere sich hinter ihrem Riicken. Aus ,dem Individuum‘ sind eine Unzahl von ,Individuen‘ hervorgegangen, das Ego der Person hat sich als eine Mehrheit von personartigen Kraften erwiesen, das Subjekt sich in ,,eine Vielheit von Subjekten*® zerspalten. Bilden
am Ende die verworfenen, der Logik entstammenden metaphysischen Scheinrealitaéten nicht doch die Sphare des wahrhaft Wirklichen? Zwar hat sich die cartesische Substantialitit des denkenden Ich, gegen die Nietzsche
immer wieder polemisiert,” als unhaltbar erwiesen. Aber besteht ihm zufolge
58 WzM, GA XVI 12; [Nachlaf Ende 1886-Friihjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323]. °°
W2M,
GA XVI 100; [Nachla8 Herbst 1883, 16[33]; KGW
VII 1, 537].
°° WzM, GA XVI 16; [Nachla& August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382]. $1
Nachla&, GA XIV 32; [Friihjahr 1884, 25[427]; KGW
°° Die Frihliche Wissenschaft, 111; GA V 153.
VII 2, 121].
*
WzM, GA XVI 16; [Nachla8 August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382].
*
Von grofer Bedeutung fiir die Entwicklung dieser Polemik — und nicht fiir sie allein — ist der Einflu8 von A. Spir und G. Teichmiiller auf Nietzsches Denken gewesen. Vgl. dazu K.-H. Dickopp, Nietesches Kritik des Ich—denke, Diss. 1965.
Auf die Bedeutung, die Teichmiiller fiir Nietzsches philosophische Entwicklung zukommt, hat zuerst H. Nobl (Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmiiller, die wirkliche und die scheinbare Welt. Zeitschr. fiir Philos. und philos. Kritik, Bd. 149, 1913) aufmerksam gemacht.
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denn nicht das Ich aus einer Vielzahl von Substanzen? Nur in der Antwort
auf die Frage, wem Substantialitat zugesprochen werden diirfte, scheint die Differenz zu Descartes zu beruhen. Aber eine solche Kritik nahme Nietzsche beim Wort, wo ihm die Worte
fehlen: ,,Wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene [...] zu bezeichnen“,© heiSt es im Nachlaf. Will er, trotz seiner immer wieder ausgesprochenen Uberzeugung von der ,,Unmittheilbarkeit der letzten Ein-
sichten“®* von ihnen Kunde geben, so muf er sich der iiberlieferten Sprache der bekimpften Metaphysik bedienen. Er iibernimmt deren Begriffe, allerdings ohne zu meinen, mit ihnen kénne man etwas ,begreifen‘. Daf dies
nicht méglich sein soll, haben die grundsatzlichen Hinweise auf seine Logik—Kritik schon deutlich gemacht. Der Begriff versagt in zweifacher Hinsicht gegeniiber der Wahrheit des wirklich Vorhandenen: erstens insofern er fixiert, wo sich in Wahrheit haltloses Geschehen vollzieht;°’ zweitens
insofern er ,,lauter ungleiche Falle“ sich als gleich subsumiert; er entsteht allerdings erst ,,durch Gleichsetzen des nicht Gleichen“.® Nietzsche verwirft
daher alle Worte, sofern mit ihnen der Anspruch des Begriffs erhoben wird, und gebraucht sie lediglich als ,Zeichen‘. Sie sollen auf Sachverhalte nur
hinweisen. Man muf durch sie hindurchgehen, das ,Begriffliche‘ hinter sich lassen, um zu dem zu gelangen, was ,wirklich vorhanden‘ ist.
6° 6°
Nachla&, GA XIV 37; [August-September 1885, 40[8]; KGW VII 3, 363]. Nachla&, GA XIV 419; [vgl. August-September 1885, 40[50]; KGW VII 3, 385]. »Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudriicken.“
(W2M, GA XVI 172; [Nachla8 November 1887—Marz 1888, 11[73]; KGW VIII 2, 279)).
68
Uber Wahrheit und Liige im aussermoralischen Sinne“, GA X 195; KGW III 2, 374. — Nietzsche fahrt an der zitierten Stelle fort: ,,So gewiss nie ein Blatt einem anderen
ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blattern etwas
gabe, das ,Blatt‘ ware, etwa eine Urform, nach der alle Blatter gewebt, abgezirkelt, gefarbt, gekrauselt, bemalt waren, aber von ungeschickten dass kein Exemplar correct und zuverlassig als treues Abbild der Urform ware. Wir nennen einen Menschen ehrlich; warum hat er heute so handelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit
gezeichnet, Hinden, so ausgefallen ehrlich gewegen. Die
Ehrlichkeit! Das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blatter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualitat, die ,die Ehrlichkeit‘ hiesse, wohl aber von zahlreichen individualisirten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglas-
sen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlung bezeichnen; zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: ,die Ehrlichkeit‘. «4
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches Als Zeichen fiir das sich der Benennung Entziehende verwende t Nietzsche
Worte wie Subjekt, Ich, Individuum, Person. Und er verwirft Sle, sobald er
auf sie als auf Begriffe reflektiert. Dasselbe gilt fiir die Worte, mit denen ef ~
die Seinsweise des wahrhaft Wirklichen kennzeichnet: Trieb, Kraft, Affeke.
Das Wort ,,,Trieb‘ ist ihm nur eine Ubersetzung in die Sprache des Gefiihls aus dem Nichtfiihlenden“.” Es sei auch noch niemals »eine Kraft constatirt“
worden, sondern immer nur ,,Wirkungen, tibersetzt in eine vollig fremde
Sprache“.”° Und auch Affekte seien nichts anderes als ,,eine Erdichtung von
Ursachen, die es nicht gebe“.”! Wir sollten ,,sie lengnen und als Irrthiimer des Intellekts behandeln‘*.”” Gelegentlich zieht sich Nietzsche nach solchen Destruktionen der metaphysischen Begrifflichkeit auf weitgehend formalisierte Bestimmungen des Wirklichen zuriick. So, wenn er dieses als »dynamische Quanta" charakteri-
siert, die in einem Spannungsverhiltnis zu allen anderen dynamischen Quanten stehen.”> Natiirlich darf man auch diese Bestimmung nicht ,begrifflich‘s verstehen. Im Ausgang von ihr kann aber das Eigentiimliche der wirklichen
Gegensitze im Sinne Nietzsches vollends herausgearbeitet werden. Hierbei ist zu beachten, da& die Charakteristika, die in der Analyse des ,Ich‘ herausge-
stellt wurden, fiir das Wirkliche schlechthin zutreffen. Die oben dargelegte »Perspektivik‘ ist nach seinen Darlegungen auch ,,im Reiche des Unorganischen“ wirksam.” Oder auch, wie er radikaler formuliert: es gibt ,,keine
unorganische Welt.”’ Es gibt nur Leben, d.h.: unaufhGrliche Prozesse von Kraftfeststellungen.”* Der Geschehenszusammenhang, den wir ,Ich‘ nennen, ist nichts als eine besondere Konkretion des Lebens.
Das Spannungsverhiltnis der dynamischen Quanten zueinander macht ihr »Wesen“ aus.” Sie bestehen nicht erst fiir sich, um dann in ein Verhiltnis
zueinander zu geraten. Sie sind nur in der (unaufhdrlich wechselnden) Bezogenheit aller auf alle. Die Spannung innerhalb des Beziehungsfeldes °
7 71 72 73 74 75 76 77
Nachlaf, GA XIII 254, [Friihjahr—Sommer 1883, 7[25]; KGW VII 1, 258].
WzM, GA XVI 104f., vgl 128f.; [Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886, 2[159];
KGW VIII 1, 141, vgl. Winter 1883-1884, 24[9]; KGW VII 1, 689f.]. WzM, GA XVI 134; [Nachlaf Winter 1883-1884, 24[20]; KGW VII 1, 699].
W2zM, GA XVI 135; [Nachla$ Winter 1883-1884, 24[21]; KGW VII 1, 701].
W2M, GA XVI 113; [Nachlaf Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 51], WzM, GA XVI 144; [Nachla& Juni—Juli 1885, 36[20]; KGW VII 3, 284].
Nachla&, GA XIII 81; [April-Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3, 224]. Vgl. WzM, GA XVI 117; [Nachla& Juni-Juli 1885, 36[22]; KGW VII 3, 284]. Wz2M, GA XVI 113; [Nachlaf Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 51].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
.
15
resultiert aus dem Gegeneinander der Quanten. Quanten stehen einander
entgegen: damit wird eine urspriingliche, qualitative Verschiedenheit der Gegensatze geleugnet, hinter deren Behauptung Nietzsche immer den | bekampften metaphysischen Dualismus auftauchen sieht. Zwar empfinden | wir nach Nietzsche notwendigerweise ,,blosse Quantitdts—Differenzen als etwas von Quantitdt Grundverschiedenes |[...], namlich als Qualitaten, die nicht mehr
aufeinander reducirbar“ sein sollen.”® Doch was wir da Qualitat nennen, sei
nur ,eine perspektivische Wahrheit fiir uns; kein ,Ansich‘“.”” Die blofen | Quantitatsdifferenzen ergeben nur eine Gradverschiedenheit des Wirklichen, welchen Begriff Nietzsche ja dem des Gegensatzes gelegentlich seiner Kritik an Logik und Metaphysik entgegensetzt, wie wir gehort haben. Nietzsche sieht aber andererseits, da die Reduktion des Qualitativen auf Quanten fiir die Deutung des ,Geschehens‘ nicht ausreicht: ,,In einer rein
-
quantitativen Welt wire Alles todt, starr, unbewegt“, schreibt er. Die Welt ist aber in unaufhérlicher Bewegung. Die Dynamik der Quanten la&t sich nur unter der Annahme eines bestimmten quale verstehen. Insofern lassen sich nicht alle Qualitaten auf Quantitaten zuriickfiihren.*° Es gehére ,,zur
Dynamis noch eine innere Qualitat“, fiihrt er aus.*’ Diese mu eine einzige sein, wenn denn im Wirklichen nur quantitative (Grad—)Unterschiede auffindbar sind. Alles Geschehen setzt ein Gegeneinander voraus. Dann muf das, was dieses
Gegeneinander konstituiert, das gesuchte quale sein. Bestimmt Nietzsche es als Kraft, so gilt: ,,es giebt nur Eine Art Kraft*.** Die Verwendung dieses Namens legt es zwar nahe, an den Kraftbegriff der Mechanik zu denken. Aber dieser ist fiir Nietzsche nur ,,ein leeres Wort“. Es soll die Ursache von Bewegungs— und Formanderungen von Kérpern benennen, ohne zu sagen, was da im Grunde am Werke ist. Daher bedarf es zumindest ,,einer Ergain-
78
W2zM, GA XVI 65; [Nachla8 Sommer 1886-Friihjahr 1887, 6[14]; KGW VII 1, 244].
79 WM, GA XVI 64; [Nachla8 Sommer 1886—Herbst 1887, 5(36]; KGW VIII 1, 201]. —,,Eine Qualitat existirt fir uns, d.h. gemessen an uns. Ziehn wir das Maass weg, was ist dann noch Qualitat!“ (Nachla&, GA X 152; [Sommer 1872-Anfang 80
1873, 19[156]; KGW III 4, 468)). WzM, GA XVI 65; [Nachla8 Sommer 1886-Friihjahr 1887, 6[14]; KGW VIII 1, 244].
81
WzM, GA XVI 104; [Nachla& Juni-Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 289].
2 >
WzM, GA XVI 243, vel. 152f.; [Nachla8 Oktober 1888, 23[2]; KGW VIII 3, 410,
vgl. Friihjahr 1888, 14[121]; KGW VII 3, 92£.].
WzM, GA XVI 105; [Nachla@ Herbst 1885—Herbst 1886, 2[88]; KGW VIII 1, 103].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
zung: es muf ihm ein innerer Wille zugesprochen werden“.™ Dieser innere Wille darf aber nicht im Sinne der aristotelischen Tradition aufgefa&t werden: es handelt sich nicht um die bloSe Verwirklichung eines immer schon als Anlage Vorgegebenen. Nietzsche sucht aus dem Wollen die vorgegebenen
»Zwecke zu eliminieren“.®5 Daher bekampft er das teleologische Denken mit
groGer Entschiedenheit. Und er entdeckt noch in Schopenhauers Lehre vom Willen, welcher gleichwohl imstande sein soll, sich einen Intellekt blinden . . . . : «6 86
zu seinem Dienste zu erfinden, ,eine verkappte Teleologie”.
Nun mu sofort die Méglichkeit eines weiteren Mifverstandnisses ausgeraumt werden, das sich einstellen kénnte, wenn Nietzsche die einzige Qualitat
mit dem Namen , Wille‘ belegt. Hinweise auf seine Kritik an Schopenhauers
Willenslehre kénnen hier zur Klarung beitragen. Mit besonderem Nachdruck wendet er sich gegen die These von der Einfachheit des Willens. Schopenhauer habe, so fiihrt Nietzsche aus, damit nur ein ,,Volks—Vorurtheil iibernommen
und iibertrieben“.®” In Wahrheit sei der Wille nicht ,,etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An—sich—Verstandliches“,”* sondern ,,etwas Complizirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist.’ Der Handelnde glaubt
zwar an die Unmittelbarkeit und an die Unhintergehbarkeit seines Wollens, er versteht es als etwas, das wirkt, als ein Vermégen.”” Aber dabei tauscht
er sich. Er bemerkt nichts ,,von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfaltigen feinen Arbeit, die abgethan werden mu“, damit es zur
84 85
W2zM, GA XVI 104; [Nachla& Juni—Juli 1885, 36[31]; KGW VII 3, 287]. Nachla&, GA XIII 133; [Winter 1883-1884, 24[11]; KGW VII 1, 691]. — Natiir-
lich meint Nietzsche nicht, das Wollen miisse zweck/rei sein. Vielmehr gilt: ,,Wollen: ist gleich Zweck-Wollen“ (WzM, GA XV 336; [Nachla& Winter 1883-1884,
24[15]; KGW
VII 1, 694]). Dessen Unterschied zu einem durch den Entele-
chie—Gedanken geprigten Willensbegriff tritt schon in den Niederschriften heraus,
in denen er sich gegen Hegels teleologisch bestimmtes Geschichtsdenken wendet. Er schreibt in diesem Zusammenhang u.a.: ,,Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufialligkeit seines Entstehens klar: dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas andres. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen.“ (Nachla8, GA X 275; [Sommer—Herbst 1873, 29 [72]; KGW
III 4, 268f.]).
8° Nachla&, GA XI 161; [Sommer 1880, 4[310]; KGW V 1, 507]. 8” Jenseits von Gut und Bose, 19; GA VII 28. 88 Die Frobliche Wissenschaft, 127; GA V 165.
89 Jenseits von Gut und Bose, 8; GA VII 28. ”
Gétzen—-Dammerung, Die ,,Vernunft* in der Philosophie 5; GA VIII 80.
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
17
Handlung kommen kénne. Und er ahne nichts ,,von der Unfahigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun“.”! Was also das naive Bewuftsein und, auf seiner Basis, Schopenhauer Wille
nennen, ist nicht das gesuchte quale Nietzsches. Es ist dies so wenig fiir ihn, daf er das Gegebensein eines solchen Willens iiberhaupt bestreiten kann. ,,Es giebt keinen Willen“, aufgefaGt als ein Einfaches, das, einer Ich—Substanz zugehérig, unserem Tun als Ursache zugrunde liegen kénne.” Auch ihn haben wir nur ,,zu gewissen Erscheinungen des Bewuftseins [...] hinzugedichtet*.”* Als solche Erdichtung ist er selber ,,bereits eine Wirkung, und nicht der Anfang
und die Ursache“.”*
Der Wille‘ teilt also das Los der anderen oben abgehandelten Selbstbestimmungen des in Wahrheit komplexen Menschen: er wird von Nietzsche als bloSer Schein einer Einfachheit aufgefaft, der von einer sich auf diese Weise verbergenden Vielheit bewirkt wird: wir seien ,,eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat*.** Der Schein bleibt dem Bewuftsein verborgen, weil
es selber nichts anderes als die Bildung solchen Scheins ist: Nietzsches ,,Kritik der neueren Philosophie“ zielt darauf, daG die letztere angebliche ,Tatsachen
des Bewuftseins‘ zu ihrem Ausgangspunkt genommen hat, ohne den ,,Phanomenalismus in der Selbst—Beobachtung‘ zu durchschauen.”* Dem ,,gew6hnlich
als einzig gedachten Bewusstsein“ liege das ,,unzahlig Vielfache in den Erlebnissen“ von ,,vielen Bewusstseins“ zugrunde,”’ wie Nietzsche im Blick auf die »ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen“”* darlegt, die den menschlichen Leib ausmachen.” Im ,,Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthigen Intel-
1
Die Frobliche Wissenschaft, 127; GA V 165.
2 WzM, GA XVI 15; [Nachla& Herbst 1887, 9[98]; KGW VIII 2, 55]; vgl. Nachlaf, GA XII 267; [Sommer 1883, 13[1]; KGW 93
94
VII 1, 440).
Nachla&, GA XIII 262, vgl. auch 265; [Sommer 1883, 12[30]; KGW VII 1, 424, vgl. auch Sommer—Herbst 1884, 27[24]; KGW VII 2, 281f.).
Nachla&, GA XIII 254; (Frihjahr-Sommer 1883, 7[25]; KGW VII 1, 258)).
*%
Nachla&, GA XII 156; [Herbst 1881, 12[35]; KGW
%
W/zM, GA XVI 6, vgl. auch 6-12; [Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886, 2[204];
7 %
KGW VIII 1, 165, vgl. auch Ende 1886-Friihjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323; November 1887-—Maéarz 1888, 11[113]; KGW VIII 2, 295; Frithjahr 1888, 14[122.152]; KGW VIII 3, 93ff., 126f.; Friihjahr 1888, 15[90]; KGW VIII 3, 252ff.]. Nachla&, GA XIII 249; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304]. Nachla&, GA XIII 247f.; [Juni—Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 302).
%
V 2, 480].
ine solche ,Selbsterfahrung‘ soll sich grundlegend von der Selbstbeobachtung
unterscheiden, in der ein ,Subjekt‘ seine ,Subjektivitat* in den Blick zu nehmen sucht,
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
ligenzen* bekomme der Intellekt ,,nur eine Auswahl von Ergebnissen vorgelegt
[...], dazu noch lauter vereinfachte, iibersichtlich und fasslich gemachte, also
gefalschte Ergebnisse, — damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und
Ubersichtlich—-machen, also Filschen, fortfahre“,'” das den Lebensbediirfnissen einer durch eine bestimmte Machtkonstellation organisierten Vielheit dient, Waurde bisher nur auf den Kampf innerhalb einer Vielheit verwiesen, so mu& nun dariiber hinaus auch das Verhiltnis von Vielheiten zueinander als
ein Gegensatz—Kampf betrachtet werden. Nur diejenige Vielheit kann dabei den Kampf gegen eine andere bestehen, die als ein Einfaches in Erscheinung
tritt, d.h., die die ihr immanenten Herrschaftskampfe verbirgt, und zwar nicht
nur den anderen Vielheiten, sondern auch sich selbst: das Einfache muf vor seiner Wahrheit, der es konstituierenden Vielheit, »geschiitzt und abgeschlossen“ bleiben. Nur so kann das vorbereitet werden, ,,was man gemeinhin
jeinen Willen‘ nennt“: der Willensakt.’’ Dieser erscheint dann im abge-
schirmten Bewuftsein des Intellekts als unableitbare Gegebenheit, obwohl
er nach Nietzsche nur ,,eine Resultante“ darstellt, ,,eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils
zusammenstimmender Reize“ folge.’” Hinter dem BewuBtsein und dem Willen treten also ,,eine Menge Bewuftseins und Willens“ hervor, und zwar ,,in jedem complicirten organischen Wesen“.!° Nur in solchen grundlegenden Willen kann daher Nietzsches einzige Qualitat zu finden sein. Er hat schlieflich fiir sie den Namen Wille - von
jener ,,Selbst—Bespiegelung des Geistes“
(WzM,
GA
XVI
18;
[Nachlaf
August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 371]), in der der Intellekt sich iiber sich selbst tauscht. Sie gelangt iiber den Phanomenalismus des letzteren hinaus zu den wirklichen inneren Fakten: ,,Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils miteinander kimpfend, theils einander
ein— und untergeordnet, in der Bejahung thres Einzelwesens unwillkiirlich auch das Ganze bejahen“ (Nachlaf&, GA XIII 169; (Sommer—Herbst 1884, 27[27]; KGW VII 2, 282]). Im ,, Ausgangspunkt vom Leibe [...] gewinnen [wir] die richtige Vorstellung
von der Art unserer Subjekt—Einheit, namlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als ,Seelen‘ oder ,Lebenskrafte‘), insgleichen von der Abhingigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Erméglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen.“ (WzM,
GA XVI 17f.; [Nachla& August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370)). 1 Nachla&, GA XIII 249; [Juni—Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304). 101
Ebd.
102 Der Antichrist, 14; GA VIII 230. '} Nachla&, GA XIII 227; [Frithjahr 1884, 25[401]; KGW VII 2, 112].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
19
(| zur Macht gepragt. Auf diesen fiihrt er die schon herangezogenen Charakterisierungen des wahrhaft Wirklichen zuriick: nicht nur die Kraft soll letztlich \\
als Wille zur Macht verstanden werden,’ auch die Affekte seien nichts als »Ausgestaltungen“ des Willens zur Macht, der ,,die primitive Affekt—Form ist“,'°’ und auch von den Trieben hei&t es, da& man sie auf diesen zuriickfiihren kénne. Zu einem der Plane aus der Zeit 1882-1885 notiert sich Nietzsche: ,,Unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhangig von unseren Werthschatzungen: diese entsprechen unsern Trieben
und deren Existenzbedingungen. Unsre Triebe sind reducirbar auf den Willen
zur Macht“.'°° Dabei gilt es, Intellekt und Wille nicht als blo&e Folge eines
)
nur triebhaft bestimmbaren Willens zur Macht anzusehen. ,,Eine Art Geist“,
selbst ,,Gedichtnis* setzt Nietzsche ,,bei allem Organischen voraus*.'””
Wir lassen hier beiseite, da& noch das Anorganische im Willen zur Macht verwurzelt ist. Festzuhalten aber ist: Der Wille zur Macht ist als letzter »Grund und Charakter aller Veranderung“! der Welt ,,Essenz“,'” wie es in Jenseits von Gut und Bése heift. Er stellt das einzige quale dar, das in
seinen mannigfachen Gradabstufungen die Welt konstituieren soll. Die »strahlung von Machtwillen“ stehe hinter allem, was als Kraft erscheine. Ein Kraftquantum sei in Wirklichkeit ein , Machtquantum“, oder scharfer: ,,ein Quantum ,Wille zur Macht‘. Die Qualitat des quantitativ Verschiedenen, seine Essenz, wird als ,,Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren“, naher bestimmt.''® Der ,Sinn‘ des Vergewaltigens ist die schon oben charakterisierte Herrschaft. Herrschaft aber setzt Macht voraus. Insofern alles Wollen Macht will, ist es nach Nietzsche ein ,,Et-
was—Wollen*. Dieses Etwas kénne vom Willen nicht abgezogen werden. Wo
dies geschehe, werde der Wille nicht mehr als das gedacht, was er sei.''!
ADs Vgl. WzM, GA XVI 104; {Nachla8 Juni—Juli 1885, 36[31]; KGW
VII 3, 287].
5 WM, GA XVI 152, vgl. auch 221; [Nachla8 Friihjahr 1888, 14 [121]; KGW VIII 3, 92, vgl. auch Herbst 1887, 10[57]; KGW VIII 2, 156].
16 Anhang zu WzM, GA XVI 415; [Nachla@ August-September 1885, 40[61]; KGW VII 3, 393].
7 NachlaB, GA XIII 232; [Friithjahr 1884, 25[403]; KGW VII 2, 113]. 108 WzM, GA XVI 149; [Nachla& Friihjahr 1888, 14[123]; KGW VIII 3, 95).
109 Jenseits von Gut und Bése, 186; GA VII 115. © WM,
GA XVI 111; [Nachla& Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50).
"! WzM, 133, vgl. 155f.; [Nachla8 November 1887—Miarz 1888, 11[114]; KGW VIII 2, 297, vgl. Frithjahr 1888, 14[121]; KGW
VIII 3, 92£.].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
Doch auch die Bezeichnung ,Wille zur Macht" gibt a den Mifsver stindnissen Anla&, auf die schon bei der Eroérterung anderer Bestimmungen, die Nietzsche
fiir das Letztgegebene heranzieht, eingegangen wur de. Vielleicht nicht Zuletzt
deshalb hat Nietzsche kein Buch unter diesem Titel ver offentlicht: es blieb bei Plinen und Entwiirfen. Im folgenden soll von Mifverstandnissen, die
Nietzsche zuriickweist, die Rede sein. Dabei soll auf das Eigentiimliche des Willens zur Macht nur insoweit eingegangen werden, als es fiir die Herausarbeitung der Problematik des Gegensatzes bei Nietzsche n6tig erscheint.
Der Wille zur Macht darf nicht als Prinzip gedacht werden. Was damit gemeint ist, la&t sich an der Differenz zwischen Nietzsches und Schopenhauers Willenslehre explizieren: Nietzsche ersetzt nicht Schopenhauers Willen zum Leben durch den Willen zur Macht. Dieser ist auch nicht ein Wille ,,en miniature“, der als das nun wahrhaft Einfache noch hinter dem vermeintlich einfachen Willen Schopenhauers stiinde. Argumentierte Nietzsche so, dann bliebe er noch immer dem metaphysischen Denkschema Schopenhauers verhaftet. Er sucht aber tiberhaupt nicht das Vielfache aus einem Prinzip zu \ deduzieren, ihm stellt sich umgekehrt alle Einheit als Produkt einer wirklichen Vielheit dar. Der Gedanke Nietzsches ist bei der oben dargestellten Destruktion des Subjekts schon deutlich geworden und konnte bei der Destruktion unseres angeblich einfachen Willensbewuftseins wieder aufgenommen werden. Hier kommt es nun darauf an, das Mifverstandnis auszuschalten, die durch
Gegensiitze konstituierte Vielheit weise ihrerseits auf eine letzte Einheit zuriick, der sie entspringe. Nietzsche sagt ausdriicklich, es sei ,,nicht néthig“, hinter der Vielheit z.B. der Affekte ,,cine Einheit anzusetzen“.'? Sind auch die Affekte (wie noch das ,Geistige‘) auf den Willen zur Macht ,reduzierbar‘, so bildet
dieser noch nicht das Eine, in dem jene grinden. Denn immer schon und immer nur sei eine ,,Vielheit von ,Willen zur Macht‘: jeder mit einer Vielheit von
Ausdrucksmitteln und Formen“'” gegeben, wie Nietzsche es in Hinsicht auf den Menschen besonders eindringlich darlegt. Auch wenn iiber diesen
hinausgefragt wird, auch wenn ,die Welt‘ in ihrer Ganzheit in den philosophischen Blick gerat, so zeigt sich, wie Nietzsche sagt: ,,Diese Welt ist der Wille
zur Macht — und nichts ausserdem!“'* Das wiederum hei&t jedoch nichts , anderes als: sie ist ,,als Spiel von Kriften und Kraftwellen zugleich Eins und | Vieles, hier sich haufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich | selber stiirmender und fluthender Krafte“. Mit seiner Rede von der Einheit /
"2 Nachlaf, GA XIII 245; [August-September 1885, 40[38]; KGW VII 3, 379]. "3 Nachla&, GA XIII 70; [Herbst 1885—Herbst 1886, 1[58]; KGW VIII 1, 21]. "* W2M, GA XVI 402; [Nachlaf Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 339].
—
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
21
des Vielen zielt Nietzsche nicht auf eine metaphysische Wurzel, sondern auf die wechselseitige Bezogenheit, ja: Abhangigkeit der Vielen voneinander, die
diese in den Zusammenhang der einen Welt bringt. Dieser Zusammenhang soll so eng sein, ,,dass jede Macht—Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt“.'’* Grundsiatzlich gelte (wie es in einem Nachla8—Aphorismus heift): ,,Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts—Gebilde,
das Eins bedeutet, aber nicht Eins“ ist.!"® Daf sich solche Einheit der Organisation und des Zusammenspiels allein durch das Gegeneinander der Vielen, ihren Kampf miteinander, bildet und
standig umbildet, ist hinlanglich deutlich geworden. Es gilt dies aber noch im Hinblick auf ,den‘ Willen zur Macht ausdriicklich zu machen, da dieser sBegriff* zu einer Quelle von Mifverstandnissen in der Nietzsche—Literatur geworden ist. Nietzsche schreibt: ,,Der Wille zur Macht kann sich nur an
Widerstiinden dussern; er sucht also nach Dem, was ihm widersteht“'””. Deshalb kénne die Macht eines Willens danach geschatzt werden, ,,wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushalte und sich zum Vortheil umzuwandeln“ wisse.''® Was ihm aber Widerstand zu leisten vermag, kann ebenfalls nur Wille zur Macht sein, wenn dieser denn das einzig Wirkliche sein soll. Jede AuSerung
von Willen zur Macht setzt also schon eine Mehrheit von Willen zur Macht voraus. Die Wirklichkeit, auf die Nietzsches Philosophieren letztlich trifft, ist die in Gegensatzen aufeinander bezogene und in solcher Beziehung die
eine Welt bildende Vielheit von Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist zwar die dem quantitativ (d.h. machtmafig) Verschiedenen gemeinsame Qualitat. Diese Gemeinsamkeit darf aber nicht auf die Einheit eines griindenden Prinzips reduziert werden: Es gibt diese Qualitit nur in der Vielheit quantitativer Verschiedenheit. Andernfalls kénnte sie nicht Wille zur Macht sein, weil es kein Entgegengesetztes mehr gabe, das die Ubermachtigung gestattete. Von der Qualitat so reden, als bestiinde sie in irgendeiner Weise ,an sich‘, ,vor‘ den quantitativen Besonderungen, heifst Nietzsche im Sinne einer Metaphysik "5 WzM, GA XVI 115; [Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886, 2[143]; KGW VII 1, 135].
"6 W2M,
102].
GA XVI 63; [Nachla& Herbst 1885—Herbst
1886, 2[87]; KGW
VIII 1,
"7 WzM, GA XVI 123, vel. 156; [Nachla8 Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88, vgl. Friihjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 93] und Nachla&, GA XIII 274; [Sommer—Herbst 1884, 26[275]; KGW VII 2, 220]. "8 Wz2M, GA XV 416; [Nachla& Herbst 1887, 10[118]; KGW VIII 2, 190].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
miGverstehen, gegen die er sich mit aller Entschiedenheit gewandt hat. Als ein Beispiel hierfiir sei Heideggers Auslegung des Willens zur Macht herangezogen. Nach Nietzsche, so fiihrt Heidegger aus, habe das Leben nicht
nur ,den Drang zur Selbsterhaltung“ im Sinne des Darwinismus, es sej »Selbstbehauptung"."” Sich selbst behaupten aber knne das Leben nur, wenn es sich standig selbst iibermiichtige. Der Wille zur Macht sei dieses Sich-
iibermichtigen.”° Der sich hierin zeigende ,,Steigerungscharakter des Willens“™ lasse diesen von Machtstufe zu Machtstufe schreiten.'” Er iibersteige und
iiberhéhe , je sich selbst‘. So besagt schlieflich , Wille zur Macht’ fiir Heidegger: |
»das Sich-ermachtigen der Macht zur eigenen Ubermiachtigung“.'** Nach
dieser Auslegung ist der Wille zur Macht nicht auf andere Machtquanten, auf andere Willen zur Macht gerichtet, sondern auf sich selbst. Er bewegt
sich allein im Bereich seines eigenen Wesens. Heidegger isoliert in seiner Auslegung die Qualitt von den Quanten, in denen sie allein gegeben ist. Daher ist fiir ihn die genannte ,,Selbstbehauptung“ nichts anderes als ,,urspriingliche |
Wesensbehauptung“. Bei allem ,,Uber—sich—hinaus—wollen* des Willens zur Macht handelt es sich daher nach seiner Deutung um ein ,,Zu—sich-
selbst—kommen, sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens finden und behaupten“. Heidegger hat den Willen zur Macht damit zu einem sich aus sich selbst entfaltenden, gleichwohl bei sich bleibenden, ja: letztlich in seinen eigenen Ursprung zuriickgehenden metaphysischen Prinzip gemacht. Die Gewaltsamkeit dieser Interpretation wird verstindlicher, wenn bedacht wird, dafé sie aus dem
Versuch erwachst, Nietzsche in die als Wesensgeschichte des Willens ausgelegte Geschichte der Metaphysik einzubeziehen, und zwar als deren Vollender. Hier kann nur darauf aufmerksam gemacht werden, in welchem Mafe sich Heidegger ein sachgemifes Verstandnis des Willens zur Macht durch die Bemiihung versperrt, diesen in Verbindung zu Begriffen der philosophischen Tradition zu bringen. Er sucht namlich ,,die innere Beziehung von Nietzsches Willens zur Macht zu d0vapic, evépyeve und evteAéyera des Aristoteles* herauszustellen. In Nietzsches Begriff der Macht meint er wiederzufinden: einmal das
Vermdégendsein zu [...] im Sinne der 6voyic, zum anderen auch den Vollzug der Macht im Sinne der évépyeva und schlieflich das schon erwihnte "9 Nietzsche, a.a.O., 1 72. 20 A.a.O., II 103.
21 4 4.0.,173. 2 3
A.a.O., I 103. A.a.O., II 36.
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
ZS
Zu-sich—selbst—kommen (namlich in seine Wesenseinfachheit) i im Sinne der
évteAgyera.'** Nun ist schon angedeutet worden, in welchem Mafe sich
Nietzsche gerade gegen die aristotelische Tradition wendet. Daf er sich in seiner kritischen Zersetzung von Uberkommenem gerade an diesem orientieren
muf&, da8 auch er gelegentlich dem schon Uberwundenen wieder anheimfille, sei dabei unbestritten. Daf aber schlieflich die eigentiimliche Gestalt, die Nietzsches Willensbegriff in seiner scharfsten Ausarbeitung erfahrt, nichts mehr mit den genannten aristotelischen Bestimmungen gemein hat, diirfte aus dem Ausgefiihrten genugsam erhellen. Der These Heideggers, Wille zur Macht sei ,,immer Wesenswille“, ,,nie
Wollen eines Einzelnen, Wirklichen“,'** mu also entschieden widersprochen werden. Freilich bestcht dieses Wille faktisch nie als vereinzelter, isoliert, sondern nur in der Vielheit gegensitzlich aufeinander bezogener Willen. Andererseits aber bleibt ein Problem. Die Willen zur Macht sind zwar nicht isoliert vorkommende, aber doch, und zwar gerade in ihrer Bezogenheit aufeinander, die aus sich selbst heraus Machtigen. Was aber
sind sie dann in sich selbst? Diese Frage verscharft sich noch, wenn bedacht wird, daf sie fiir Nietzsche die Letztgegebenheit darstellen. Sie entspringen
———
|
weder einem metaphysischen Prinzip noch lassen sie sich aus dem Ganzen der Welt ableiten. Konstituieren sie doch allererst das in sich flutende Meer, das die Welt in Nietzsches Sicht ist.1*° Sie kinnen weder Atome noch Substanzen sein: der Destruktion dieser wie auch der ihnen verwandten Begriffe gilt ja, wie gezeigt wurde, Nietzsches Bemiihen. Die Frage: »Wer will Macht?“'’ ist absurd, wenn in ihr nach einem letzten Trager des
Machtwillens gefragt wird. Was aber soll dann das sein, das aus sich heraus michtig ist? ,,Es giebt keinen Willen: es giebt Willens—Punktationen, die bestaindig ihre Macht mehren oder verlieren“, schreibt Nietzsche einmal.'*® Im gleichen Textstiick spricht er von ,,Monaden*: freilich diirfe man von ihnen, wie von ,,Atomen“, nur ,,relativ“ reden, weil damit immer »eine grébere Welt von Bleibendem“ gesetzt werde. In der Tat erinnern
Nietzsches , Willenspunkte‘ am ehehsten noch an die immateriellen ,,points métaphysiques“ des Leibniz. Auch seine Ausfiihrungen zum ,,Perspektivismus, vermoge dessen jedes Kraftcentrum — und nicht nur der Mensch — von 124 A 4.0., 173-78. 25 A a.0., 173. 126 Vel. WzM, GA XVI 401; [Nachla@ Juni—Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 339]. 27 W2M,GA XVI 156; [Nachla Frithjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52].
128 W/2M, GA XVI 172; [Nachla& November 1887—Marz 1888, 11[73]; KGW VIII 2, 278f.].
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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
24
sich aus die ganze iibrige Welt“ konstruiere,”” lassen atl die Leibnizische
Monadologie denken. Man darf diese Verwandschaft freilich nicht iiberbe-
werten. Die ,Monaden‘ Nietzsches sind weder konstant noch sfensterlos’,
noch gar sind sie ,Entelechien‘ im Sinne des Leibniz. Wenn auch fiir Nietzsche ,,die kleinste Welt die dauerhafteste ist“, so 1st sie doch nicht ewig. Seinem Willen zur Macht am Ende doch noch eine Substantialitat (namlich’ im Leibnizschen Sinne) zuzusprechen, verbietet sich alsa. Der ,,Kampf der Atome*“ fiihre ,,bei gewissen Starkeverschiedenheiten dazu, daf ,,aus zwei
Atomen Eins“ werde. Ebenso gelte umgekehrt: ,,aus Eins werden Zwei,
wenn der innere Zustand eine Disgregation des Macht-Centrums bewerkstelligt.“"3! Dasjenige, was aus sich heraus machtig ist, 1st also selber ein sich standig Anderndes, Machtaufbauendes oder Machtabbauendes. Nietz-
| |
sches Rede von der Vielheit der Willen zur Macht setzt keine fixen Ein-
heiten voraus. Das philosophisch Letzte, auf das Nietzsche st6£t, ist nie ein faktisch (quantitativ) Letztes: jedes Quantum an Willen zur Macht kann nicht nur noch wachsen, sondern auch immer noch abnehmen, nicht nur
|
|
sich neue Quanten einverleiben, sondern auch standig weiter zerfallen. Auf die Frage aber, was denn die unablissig sich wandelnden Organisationen von Willen zur Macht sowohl zusammenbringe und in sich zusammenhalte
wie auch zerfliefen lasse, ist die letzte Antwort: es sind Gegensatze, die alle Aggregation wie auch alle Disgregation erméglichen, und zwar sowohl die Gegensatze, die einer Organisation je immanent sind, als auch diejenigen, die
|
ihr ,von aufen‘, von einer anderen Organisation her, entgegentreten. Der Wille
zur Macht ist des Gegensatzes bediirftig, der freilich selber nur Wille zur Macht sein kann. Der Gegensatz macht ihn allererst zum Willen zur Macht.
"29 ‘WzM, GA XVI 114; [Nachla& Frithjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165]. - Der
Perspektivismus Nietzsches gerat nicht in Widerstreit mit der Lehre vom kontinuierlichen Flu8 alles Geschehens. Wir miissen uns ,,das Ganze der organischen
Welt“ als ,,die Aneinanderfadelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich“ denken (Nachla&, GA XIII 80; [April—-Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3,
223])).
'%° WzM, GA XVI 172; [Nachla8 November 1887-Marz 1888, 11[73]; KGW VIII 2,
278). '! Nachla&, GA XIV 325; [ Herbst 1885, 43[2]; KGW VII 3, 439]; vgl. WzM, GA XVI 123; [NachlaB Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88] und Nachlaf, GA XIII
259; [ Herbst 1885—Herbst 1886, 2[68]; KGW VIII 2, 90], Nachla&, GA XIV 373 [August-September 1885, 40[8]; KGW VIII 2, 363].
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Vorbemerkung Wenn Nietzsche schreibt, die Welt sei der Wille zur Macht und nichts
auferdem, so scheint er uns Verstandnis seines Denkens philosophischen Interpreten und bestimmt von ihm her
mit dieser klaren Aussage einen Schliissel zum in die Hand zu geben, mit dessen Gebrauch die vertraut sind: Er nennt den Grund des Seienden das Seiende im ganzen; sein Denken ist Meta-
physik in dem uns aus der langen Geschichte der abendlaindischen Philosophie gelaufigen Sinne. Das Verstiindnis dieses Denkens stellt uns dann
nicht vor grundsitzlich neue Probleme. Mag Nietzsche sich auch ausdriicklich gegen die Metaphysik wenden, so kénnen wir uns doch rasch davon iiberzeugen, daf er von dieser nur in der Bedeutung einer Zweiweltentheorie spricht. Sehen wir von einer solchen Verengung ab, so ist Nietzsches Anspruch, seine Philosophie sei keine Metaphysik, doch wohl nicht aufrecht zu erhalten. Nietzsche verlangert nur, so kénnten wir sagen, die Kette metaphysischer Weltdeutungen um ein weiteres Glied. Heidegger hat der Philosophie Nietzsches eine besondere Bedeutung innerhalb der Geschichte der Metaphysik zugesprochen. Er deutet sie als Vollendung der abendlandischen Metaphysik, insofern sich in der in ihr vollzogenen Umkehrung der Metaphysik deren Wesensméglichkeiten erschépfen sollen. In Nietzsches Denken geschieht aber noch mehr: die Zerst6rung der Metaphysik aus ihr selbst heraus. Es la&t sich zeigen, da ihr gerade als der héchsten Aufgipfelung der ,Metaphysik der Subjektivitit‘ diese Subjektivitat ins Grund-lose hinabsinkt. Der metaphysische ,Wille zum Willen‘ wird in der Gestalt des Willens zur Macht, der sich als er selbst
durchschaut, zum gewollten Wollen, das nicht mehr auf ein Wollendes, auf _ den Willen, zuriickverweist, sondern nur noch auf das Geftige von Wollendem, welches sich, auf sein letztes faktisches Gegebensein hin befragt, ins Un-fest—stell-bare entzieht. Kein Zweifel, da Nietzsche Metaphysiker bleibt. Kein Zweifel, da er Metaphysik restauriert: so etwa, wenn er in der Wiederkunftslehre die héchste Annaherung des Werdens an das Sein denkt. Aber wesentlicher scheint mir, da hinter den von ihm immer wieder aufgerichteten Fassaden in Konsequenz seines unablissigen Fragens Metaphysik
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ht Nietzsches Lehre vom Willen zur Mac
zerfallt. Die volle Bedeutung dieses Vorgangs kénnte nur im Rahmen einer
weitgespannten Erérterung angemessen interpretiert werden, in der Meta-
physik in ihrer Vielschichtigkeit zum Problem gemacht wiirde. In dieser Untersuchung geht es um die Frage nach dem Willen zur Macht.
Wir wollen versuchen, uns dabei ginzlich im Horizont der Philosophie
Nietsches zu bewegen. Es wird sich zeigen, welche komplexe Problematik hinter der so einfach klingenden Aussage steht, die Welt sei der Wille zur
Macht und nichts auferdem.' In diese Problematik wollen wir Schritt fiir
Schritt eindringen. Angesichts ihrer Komplexitat erscheint es mir angebracht, mit der Anfiihrung einiger charakteristischer Aussagen Nietzsches iiber das zu beginnen, was er unter , Wille zur Macht‘ versteht.
Sie sollen
einen ersten Zugang zu dem eréffnen, was im folgenden expliziert wird.*
1. Vorlaufige Charakterisierung des Willens zur Macht
Wille zur Macht ist nicht ein Spezialfall des Wollens. Ein Wille ,an sich‘ oder ,als solcher‘ ist eine bloSe Abstraktion: faktisch gibt es ihn nicht. Alles Wollen ist Nietzsche zufolge Etwas—Wollen. Das in allem Wollen wesenhaft gesetzte Etwas ist: Macht. Wille zur Macht sucht zu herrschen und seinen Machtbereich unablassig zu erweitern. Machterweiterung vollzieht '
In Grundziigen habe ich meine Deutung des ,Willens zur Macht‘ in meinem Buch
Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensatze und die Gegensédtze seiner Philosophie, Berlin—New York 1971, vorgelegt. In ausfiihrlicherer Kritik haben sich bisher mit ihr auseinandergesetzt: W. Weischedel in einem Diskussionsbeitrag unter dem Titel Der Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Miiller—Lauters mit Martin Heidegger, in: Zeitschr. f. philos. Forsch. 27/1 (1973), 71-76 und P. Késter in Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche—Interpretation. Kritische Uberlegungen zu Wolfgang Miller—Lauters Nietzschebuch, in Nietzsche—Studien 2 (1973), 31-60. Ich werde im folgenden auf die wesentlichen Einwande vor allem dieser Kritiker, soweit sie sich auf die Problematik des Willens zur Macht beziehen, in
Anmerkungen eingehen. Sie stehen teils unter dem Text, die umfangreicheren werden im Anhang zusammengestellt; unter dem Text wird auf sie hingewiesen. — Auch dariiber hinaus meine ich den Einwanden im Zuge meiner Ausfiihrungen Rechnung getragen zu haben. Die nachstehenden Ausfiihrungen sind hervorgegangen aus einem Vortrag, den ich
unter dem Titel Uberlegungen zu Nietesches Lehre vom Willen zur Macht auf Einladung der Wijsgerig Gezelschap am 13. Mai 1973 in Lowen gehalten habe.
“
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
27
»»begehren‘, streben, verlangen“. Zu ihm gehdrt der ,,Affekt des Commando's“.? Kommando und Ausfiihrung gehéren in dem Einen des Willens zur Macht zusammen. So ist ,,ein Machtquantum ... durch die Wirkung, die es
ee,
sich in Uberwiiltigungsprozessen. Deshalb ist Machtwollen nicht etwa nur
iibt und der es widersteht, bezeichnet“.* Uberall findet Nietzsche den Willen zur Macht am Werke. ,,Am deutlich-
sten“ lat sich ,,an allem Lebendigen ... zeigen, daf es alles thut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mebr zu werden ...“.’ Aber auch im unorgani-
schen Bereich ist der Wille zur Macht das einzig Tatige. Nietzsche grenzt sich von Schopenhauers , Willen zum Leben‘ als Grundform des Willens ab: »das Leben ist blo& ein Einzelfall des Willens zur Macht, — es ist ganz
willkiirlich zu behaupten, da Alles danach strebe, in diese Form des Wil-
|)
lens zur Macht iiberzutreten“.® Nicht nur in dem, was herrscht und seine Herrschaft ausdehnt, aufert
sich der Wille zur Macht, sondern auch in dem Beherrschten und Unterworfenen. Selbst ,,das Verhdltni& des Gehorchenden zum Herrschenden“
Nachla& November 1887—Marz 1888, 11[114]; KGW VIII 2, 296 WM 668). —
3
Die von Nietzsche ver6ffentlichten oder zur Veréffentlichung vorbereiteten Werke werden unter méglichst genauer Angabe von Schrift und Abschnitt, Aphorismus
etc. aus der KGW zitiert. Der Nachla& wird, soweit schon in dieser Ausgabe erschienen, ebenfalls nach der KGW, ansonsten nach der GA zitiert. Da fiir den in
der KGW bisher veréffentlichten Nachlaf der achtziger Jahre zum Teil noch gar keine Konkordanzen zur Verfiigung stehen (V 1 und 2), zum Teil nur solche von der KGW zur GA (VIII 2 und 3), ist es méglich, da& aus dem einen oder anderen schon in der KGW erschienenen NachlaSfragment noch nach der GA zitiert wurde.
Sofern Texte aus der KGW nachgewiesen werden, die in friiheren Ausgaben in der NachlaSkompilation ,Der Wille zur Macht‘ abgedruckt sind, wird in Klammern auch die Aphorismus—Nummer dieser Kompilation angegeben, ohne auf eventuelle Unterschiede in der Entzifferung und Abgrenzung des Aphorismus bzw. auf
4
Textveranderungen, die die Herausgeber der GA vorgenommen haben, einzugehen. [Beim hier vorgelegten Wiederabdruck des Textes von 1974 konnten die dort nur nach GA zitierten NachlaSaufzeichnungen Nietzsches durch die Stellenangaben nach KGW erganzt werden. Sie werden in eckigen Klammern nachgestellt. Deutlich werden soll dadurch, daf& die Konzeption der Abhandlung iiberwiegend auf der Grundlage der GA erfolgt ist. Die spater allein nach KGW nachgetragenen Erganzungen haben nicht zu Modifkationen meiner Deutung gefithrt.] Nachlaf Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50 (WM 634). Nachlaf Frithjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 93 (WM 688).
*
Ebd. (WM 692).
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zur Macht Nietzsches Lehre vom Willen
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n.’ Auch mu® ,,als ein Widerstreben“ im genannten Sinne verstanden werde — im Grunde
auch immer der Mensch ist — in welchen Verhaltensweisen chen Wille zur Macht. Nietzsche fiihrt alle unsere intellektuellen und seclis
n Tatigkeiten auf unsere ,Werthschdtzungen™ zuriick, die ,,unseren Triebe und deren Existenzbedingungen“ entsprechen. In einer nachgelassenen Auf-
zeichnung heift es dazu weiter: ,,Unsere Triebe sind reduzirbar auf mn Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir Willen zur Macht.
hinunterkommen.“® Damit wird deutlich, da& fiir Nietzsche ,,das innerste
Wesen des Seins Wille zur Macht ist*.”
Diese ersten Ausfithrungen zur Thematik des Willens zur Macht orientierten sich am Nachla& Nietzsches. Es fragt sich, ob eine solche Orientierung
legitim ist. Sollte man sich in einer so wichtigen Frage nicht besser allein oder wenigstens primar — an die von Nietzsche selbst verdffentlichten
Schriften halten? Wie steht es denn um die philologische Zuverlassigkeit des edierten Nachlasses? Welches philosophische Gewicht haben die von
Nietzsche nicht publizierten Aufzeichnungen im Verhaltnis zu dem von ihm autorisierten Werk?
2. Bemerkungen zur Nachlafs—Problematik Der gréGere Teil von Nietzsches unver6ffentlichten Aufzeichnungen ist, soweit er unmittelbare Relevanz besitzt, im Rahmen der sogenannten ,Gro8—Oktav—Ausgabe‘ der Nietzsche—Diskussion zuginglich gemacht worden. Der vollstandige Nachla& wird freilich erst vorliegen, wenn die von G. Colli und M. Montinari veranstaltete Kritische Gesamtausgabe zu ihrem Abschluf gelangt sein wird. Schon nach den bisher ver6ffentlichten Banden dieser Ausgabe kann allerdings gesagt werden, daf sich die Nietzsche—Forschung auf Grund des nun erst bekannt gemachten Materials in vielerlei Hinsicht vor eine neue Situation gestellt sieht. Ob aus den bisher noch unveréffentlichten Texten wesentliche neue
Einsichten fiir eine Beantwortung der fundamentalen Fragen nach dem Willen zur Macht erwachsen kénnen, lat sich derzeit nicht sagen. Ich 7 8
Nachla&; GA XIII, 62; [August-September 1885, 40[55]; KGW VII 3, 387].
Nachla&; GA XIV, 327, vgl. GA XVI, 415. [August-September 1885, 40[61]; KGW VII 3, 393]. Nachla& Friihjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52 (WM 693).
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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wage es zu bezweifeln: nicht zuletzt deshalb, weil die friiheren Herausgeber gerade ihr ein besonderes Augenmerk geschenkt haben. So ist unter
dem Titel ,Der Wille zur Macht‘ zuerst im Jahre 1901 eine auf 483 Apho-
rismen begrenzte, im Jahre 1906 eine andere, 1067 Aphorismen enthaltende Zusammenstellung von nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches erschienen. Deren Herausgeber orientierten sich bei ihren Kompilationen an einem von zahlreichen Plianen, die Nietzsche fiir ein kiinftiges Werk zwar entworfen, aber nicht verwirklicht hat. Indem sie ihrem Unterneh-
men Nietzsches Disposition vom 17.3.1887 zugrunde legten, stellten sie, Nietzsches sehr allgemeiner Gliederung folgend, Texte zusammen, die in mancherlei Hinsicht unterschiedlichen Charakters sind und nur zu einem
— wenn auch betrichtlichen — Teil zur Klarung dessen, war er unter dem » Willen zur Macht‘ versteht, beitragen. Zwar sind dariiber hinaus auch
jeweilige Auswahl und systematisierende Ordnung der Aphorismen mehr als fragwiirdig, von editorischer Leichtfertigkeit im einzelnen ganz zu schweigen. Ferner lat sich aus anderen Nachla&binden der Grof£-Oktav—Ausgabe
Bedeutsames fiir Nietzsches Verstandnis des Willens zur
Macht gewinnen. Daf das Problem des Willens zur Macht ins 6ffentliche Bewuftsein trat, und zwar im guten, philosophisch fragenden Sinne wie auch im schlechten, schlagwortartigen Gebrauch, dies ist jedoch vor allem darauf zuriickzufiihren, daf& mit der Ausgabe von 1906 ein Buch unter dem Titel ,Der Wille zur Macht‘ erschien und zur Wirkung gelangte, von dem behauptet wurde, es stelle das philosophische Hauptwerk Nietzsches dar. Es verbietet sich, von einem solchen Hauptwerk Nietzsches zu spre-
chen. Aber es verbietet sich auch, die in den genannten Kompilationen wie in anderen Binden der Grof&—Oktav—Ausgabe ver6ffentlichten Aphorismen und Fragmente als blofen Nachlaf beiseitezuschieben. Zwar be-
darf es der Differenzierung zwischen ,echtem Nachlaf** einerseits und paraphrasierenden Exzerpten, die Nietzsche anfertigte, sowie ,Vorstufen‘ zu
von ihm selbst noch Ver6ffentlichtem andererseits. Hier wird die neue Kritische Gesamtausgabe noch wesentliche Einsichten eréffnen. Aber schon um das Verhiitnis zwischen friiheren Niederschriften und spateren, fiir die Publikation umgearbeiteten Texten steht es im Falle Nietzsche nicht so wie bei anderen Autoren. Nietzsche hielt nicht nur viele seiner Einsichten zuriick. Er gab auch mancher von ihnen in seinen Schriften nur in verdeckender, lediglich andeutender Weise oder auch in hypothetischer Form Ausdruck. Der Hinweis auf die eigentiimliche Bedeutung des Nachlasses Nietzsches verliert an Befremdlichkeit, wenn wir héren, daf
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ht Nietzsches Lehre vom Willen zur Mac
Nietzsche sich selbst als der Versteckteste aller Versteckten verstanden
hat.’ In Jenseits von Gut und Bése schreibt er BORE ee liebe seine Erkenntnis nicht mehr genug, sobald man sie mitteile.
Und in einer nach-
gelassenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1887 heift es: ,,Ich achte die Leser nicht mehr: wie kénnte ich fiir Leser schreiben? ... Aber ich notire
mich, fiir mich.“!2 Was Nietzsche zuriickgehalten hat, bekommt von solchen Au®erungen her besonderes Gewicht. So finden sich gute Griinde
fiir M. Heideggers Auffassung, daf ,,die eigentliche Philosophie Nietzsches [...] nicht zur endgiiltigen Gestaltung und nicht zur werkmafigen
Veréffentlichung, weder in dem Jahrzehnt zwischen 1879 und 1889 noch in den voranliegenden Jahren“, gekommen sei. Was Nietzsche selbst ver-
6ffentlicht habe, sei ,immer Vordergrund“. Die eigentliche Philosophie Nietzsches sei als ,Nachla&* zuriickgeblieben.”
3. Die Bedeutung des Nachlasses in K. Schlechtas Nietzsche—Verstdndnis Der an der besonders markanten Ausfiihrung Heideggers exemplifizierten
Bewertung des Nietzsche—Nachlasses steht als das andere Extrem die Uberzeugung K. Schlechtas gegeniiber, Nietzsche habe ,,sich vdllig eindeutig, véllig unmiverstandlich in den von ihm selbst ver6ffentlichten oder von ihm zur Veréffentlichung eindeutig bestimmten Werken ausgesprochen. In bezug auf eine echte Verstandnisméglichkeit bleibt nichts Wesentliches zu wiinschen tibrig.“ Man miisse Nietzsche nur in dem verstehen wollen, was er
publiziert habe."* Schlechta hat eine vielbeachtete Ausgabe von Nietzsches Nachla&; GA XII, 275 [November 1882—Februar 1883, 4[120]; KGW VII 1, 151].
2
Jenseits von Gut und Bose 160; KGW VI 2, 100. Nachla& Herbst 1887, 9[188]; KGW VIII 2, 114. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961; hier: I, 17 [Da& Nietzsche in den von ihm selbst ver6ffentlichten Schriften ,,kaum vom Willen zur Macht gesprochen“ habe, ist fiir Heidegger ,,ein Zeichen dafiir [...], da& er dies Innerste der von ihm erkannten Wahrheit tiber das Seiende als solches méglichst lange behiiten und in den Schutz eines einmalig cinfachen Sagens stellen wollte‘. A.a.O., II, 264.]. K, Schlechta, Der Fall Nietzsche, Miinchen 21959, 11, vgl. 90 und im Nachwort zu Schlechtas Nietzsche—Ausgabe, SA III, 1433. —Da Schlechta die Moglichkeit nicht ausschlieft, im noch nicht edierten Nachla& kénne sich noch wichtiges Material finden, zeigt eine Bemerkung im Philologischen Nachbericht zu seiner Nietzsche— Ausgabe: »Wenn ich gesagt habe: ,Der Wille zur Macht* biete nichts Neues, so bezieht sich
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Werken in drei Banden herausgebracht, die seither von nicht wenigen Autoren als einzige Textgrundlage fiir ihre Interpretationen herangezogen wird. Diese Ausgabe beschrankt sich freilich nicht , wie nach der dargelegten Auffassung ihres Herausgebers zu erwarten ware, auf die Veréffentlichungen Nietzsches. Vielmehr hat Schlechta in den dritten Band seiner Edition — neben anderen Texten — die in der 1906 erschienenen Ausgabe des , Willens zur Macht‘ zusammengestellten Nachlafstiicke aufgenommen. Man kann hierin eine Inkonsequenz Schlechtas sehen. Doch das ,geschichtliche Gewicht‘, das Nietzsches angeblichem Hauptwerk in der Literatur zugesprochen wurde, lat es ihm gerechtfertigt erscheinen, die Texte der Kompilation ,Der
Wille zur Macht‘ erneut und vollstandig zu veréffentlichen. Dies geschieht allerdings so, da& Schlechta die systematische Zusammenstellung der fritheren
Herausgeber auflést und statt dessen eine streng chronologische Anordnung der Aphorismen herzustellen sucht, aus denen die Kompilation besteht. Letzteres ist ihm nicht zureichend gelungen und konnte ihm, da ihm die Originalmanuskripte nicht zur Verfiigung standen, auch nicht gelingen. Das Verdienst der
Ausgabe Schlechtas besteht nicht zuletzt darin, da@ er die Hauptwerk—Legende fiir das dffentliche BewuGtsein endgiiltig zerstért hat. Daf er jedoch allein diejenigen Texte publizierte, die schon die Herausgeber der Kompilation von 1906 ausgewahlt hatten, zeitigte allerdings den fatalen Effekt, da die Benutzer
seiner Ausgabe allein diesen Teil des Nachlasses vor Augen hatten und dieser so im Unterschied zu dem von Schlechta nicht publizierten Nachlaf erneut besondere sachliche Relevanz erhielt. Dabei hatte Schlechta zu recht darauf hingewiesen, daf es eigentlich nicht erklarbar sei, wieso die Herausgeber von Der Wille zur Macht‘ nicht auch diejenigen Aufzeichnungen Nietzsches in ihre Aphorismen-Sammlung aufgenommen haben, die als ,weiterer Nachlaf* in den Banden XIII und XIV der Gro8—Oktav—Ausgabe zu finden sind. Man kann den gleichen Vorwurf gegen Schlechta selbst vorbringen: wenn schon
Bemiihung um chronologisch geordnete Nachlaf—Edition, weshalb dann nicht
chronologisch geordnete Einbeziehung des ,weiteren‘ Nachlasses?“ Hat diese Behauptung mur auf die genannte NachlaS—Auswahl. Allerdings sieht es mit dem in der G[ro8] O[ktav] A[usgabe], XIIff. (1903f.) Publizierten auch nicht besser aus — aber meine Behauptung bezieht sich nicht auf den ganzen Nachla&. Das kann gar nicht sein, denn dieser Nachlaf ist ja z. T. noch gar nicht oder nicht einwandfrei entziffert; es gibt also noch unbekannte Texte darin.“ (SA III, 1405f.)
In einem Bericht iiber die Voriiberlegungen der Herausgeber einer italienischen Ubersetzung von Nietzsches Werken und Nachlaf schreibt M. Montinari: (Wir konnten)
,,auch keinen rechten Gebrauch
der Schlechta—Ausgabe
zu unseren
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Schlechta nicht faktisch — wenn auch entgegen seiner erklarten Intention — einer Hoéherbewertung der Niederschriften Vorschub geleistet, die in ,Der Wille zur
Macht‘ publiziert worden sind?’®
4. Zu Auferungen Nietzsches tiber den Willen zur Macht im veréffentlichten Werk Die geringe Einschatzung der philosophischen Relevanz des ver6ffentlich-
ten Nachlasses Nietzsches durch Schlechta hatte eine Kontroverse zur Folge, in der es auch um die sachliche Problematik des Willens zur Macht ging. K. Léwith warf Schlechta vor, eine neue Nietzsche—Legende verbreitet zu haben,
Zwecken
machen. Wir hatten zwar in deren ersten zwei Banden eine meist ge-
treue Wiedergabe der Erstdrucke Nietzsches vor uns, im dritten Band aber hatten wir — obwohl einigermafen chronologisch geordnet — genau dasselbe Material, das 1906 durch die Veréffentlichung der zweiten Ausgabe des ,Willens zur Macht‘ bekannt wurde. In Florenz hitten wir freilich noch ein weiteres tiber Schlechta hinaus machen kénnen: wir hatten namlich mit Hilfe des Apparats von Otto Weif zum ,Willen zur Macht‘ (im 16. Band der GrofSoktavausgabe) manche grobe Verstiimmelung beseitigen kénnen; auferdem hatten wir auch den ersten einbandigen , Willen zur Macht‘ (1901) zu Rate ziehen und dadurch eine gewisse Anzahl wichtiger Fragmente bergen kénnen, welche sonderbarer
Weise aus dem zweiten endgiiltigen, doch viel umfangreicheren ,Willen zur Macht‘ (1906) verschwunden waren; endlich hatten wir aufgrund der Manu-
skriptverzeichnisse in den Banden XIII und XIV der Grofoktavausgabe die fiir den ,Willen zur Macht‘ benutzten Manuskripte (also die, welche in den Banden
XV und XVI der GroSoktavausgabe auch verzeichnet waren) erganzen kénnen.
Auf diese Weise hatten wir einen umfangreicheren, nach den Manuskripten einigermafen chronologisch geordneten Nachlaf& aus den 80er Jahren herstellen kénnen.“ Das Zitat ist der Originalfassung eines Aufsatzes Montinaris entnom-
men, die mir der Vf. freundlicherweise zur Verfiigung gestellt hat. Er ist in einer von D, S. Thatcher vorgenommenen Ubersetzung ins Englische unter dem Titel The New Critical Edition of Nietzsche's Complete Works (in: The Malahat Review 24, Victoria 1972, 121-134) publiziert worden. [Vgl. inzwischen die Ab-
handlung Montinaris: Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche lesen, Berlin/ New York 1982, 10-21.] 16
Eine griindliche und detaillierte Kritik an Schlechtas Verfahren hat E. Heftrich in seinem Buch Nietzsches Philosophie. Identitat von Welt und Nichts (Frankfurt a.M. 1962, 291-295) vorgelegt. Auf sie sei hier nachdriicklich hingewiesen.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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die namlich, ,,da@ es den Willen zur Macht als ein von Nietzsche gestelltes
und durchdachtes Problem von weitester Herkunft und gréSter Tragweite nicht gabe.“"’ In seiner Antwort fiihrt Schlechta aus", er bestreite natiirlich
nicht, ,,da& Nietzsche in dem von ihm verdffentlichten Werk des Sfteren den ~ Willen zur Macht als eine Grundeigenschaft des Lebens“ apostrophierte, so etwa, wenn er Zarathustra sagen lasse: ,,Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“. Aber wo Nietzsche ,,diesen seinen Gedanken auseinanderzulegen und zu prazisieren“ suche, sei er zu einem ,,vorzeigbaren
Resultat“ nicht gelangt.
Dieses Urteil Schlechtas la&t sich nicht aufrechterhalten. Zwar bietet das von Nietzsche autorisierte Werk keine zureichende Grundlage fiir ein
Verstindnis des Willens zur Macht. Die Abgriindigkeit dessen, was er mit diesem Wortgefiige zu nennen sucht, 6ffnet sich nur, wenn man den
Nachlaf heranzieht. Schlechta zufolge aber bietet der in der Grof—Oktav—Ausgabe publizierte Nachlaf& nichts Neues gegeniiber dem, was
Nietzsche in seinen Verdffentlichungen gesagt hat. So gelangt er zu der grundsatzlichen Uberzeugung, da& es dem Gedanken des Willens zur Macht an Tragfahigkeit mangele. Aber wenn sich auch in Nietzsches Schriften oft nur ,Vordergriindiges‘ zum Willen zur Macht findet, so ist ihnen fiir eine Klarung dieses Problems doch mehr zu entnehmen, als
Schlechta wahrhaben will. Lassen wir uns hier nur auf das ein, was Schlechta selber anfiihrt. In seiner Antwort an Loéwith legt er ,,zwei Proben“ aus Werken Nietzsches
vor, die er als reprasentativ fiir das erérterte Problem betrachtet. Sie sind — so will Schlechta zeigen — nicht nur miteinander unvereinbar. Jede der
beiden Ausfiihrungen soll dariiber hinaus auch in sich selbst problematisch sein. Im folgenden werde ich die beiden ,Proben‘ einer genaueren Betrachtung unterziehen. Ich verstehe die in ihnen herangezogenen Texte ebenfalls als reprasentativ fiir das von Nietzsche Ver6ffentlichte. Die ,erste Probe‘ Schlechtas ist der Aphorismus 36 in ,Jenseits von Gut
und Bose‘. Nietzsche stellt hier seinen Gedanken des Willens zur Macht im Kontext einer Reihe von Uberlegungen vor, die in die Form von Hypothesen gekleidet sind. Sie brauchen hier im einzelnen um so weniger vorgefiihrt zu werden, als es dem Interpreten Schlechta allein um den hy-
K. Léwith, Zu Schlechtas neuer Nietzsche—Legende, Merkur 12, (1958), 782.
'’ Zu den im folgenden herangezogenen Ausfiihrungen Schlechtas s. Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 14], 120-122.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
pothetischen Charakter geht, welcher sich in Wendungen ausdriickt wie: »Gesetzt, dass ...“, ,man muss die Hypothese wagen ...“, ,, — gesetzt end-
lich, dass es gelange ...“ — und dergleichen. Nietzsche schliet seine Ausfiihrungen ab mit der Uberlegung: ,,... so hatte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur
Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet — sie ware eben , Wille zur Macht‘
und nichts ausserdem. —“” Schlechta findet die Vorsicht bemerkenswert, mit der sich Nietzsche in dieser seiner ersten veréffentlichten Auseinanderlegung der Problematik des Willens zur Macht duBert. Da& Nietzsche den Konjunktiv wahlt: die Welt ware ,Wille zur Macht‘ und nichts auSerdem, veranlaft ihn zu schreiben: ,,Das klingt fiir einen Gedanken, der tragen soll, nicht sehr
zuversichtlich.“ Gegen Schlechtas Auffassung lat sich zweierlei ins Feld fiihren. A. Nietzsche spricht in dem herangezogenen Aphorismus nicht nur hypothetisch. Nachdem er geschrieben hat: ,, — Gesetzt endlich, dass es ge-|
linge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzwei-!, gung Einer Grundform des Willens zu erklaren“, fiigt er die Parenthese ein: ,, — namlich des Willens zur Macht, wie es a
Satz ist —“. Zu recht
schreibt E. Heftrich: ,,Das deutliche notum est der Parenthese aber schrainkt die Hypothese, als welche der Aphorismus durchgefiihrt wird, ein; ja, setzt sie ganzlich in die Klammer. Damit wird, was in der Paren-
these steht, zur Lésung, zum Grundsatz (,mein Satz‘).“?° Mit der Einfiigung geht Nietzsche in der Tat iiber die von ihm in jenem Aphorismus als frag—wiirdige Annahmen vorgetragenen Uberlegungen hinaus und nennt in ihr seine Grundiiberzeugung. Von mangelnder Zuversicht kann da
wohl nicht gesprochen werden. B. Der genannte Aphorismus steht in Jenseits von Gut und Bose unter dem Zwischentitel Der freie Geist (Zweites Hauptstiick). Die freien Geister sollen die neuen »Philosophen des gefahrlichen Vielleicht in jedem Verstande“?! sein, wie Nietzsche schon vorher, im Ersten Hauptstiick seines Buches, schréibt. Er empfiehlt ihnen ihre ,,Maske und Feinheit“, auf
'9 Jenseits von Gut und Bose 36; KGW VI 2, 5Of. 20 Heftrich, Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm., 14], 72. ?1
Jenseits von Gut und Bose 2; KGW
VI 2, 11.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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da man sie verwechsle. Hierin soll sich ihr Stil ausdriicken” Sie stellen einen Ubergangstypus dar: es geht Nietzsche darum, wie es in einer Notiz
zu den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode heift, ,den Zugang
zum Verstandnif$ eines noch héheren und schwierigeren Typus zu erschliefen, als es selbst Typus des freien Geistes ist: — es fiihrt kein anderer Weg zum Verstindni&*.” Betrachtet man die im Aphorismus 36 von Jenseits von Gut und Bose vorgefiihrten Gedankenexperimente unter diesem Aspekt, so wird man A. Baeumler in seiner Kritik an Schlechta zustimmen miissen. Baeumler schreibt, es sei verfehlt, ,,ein Stilmittel als
eine sachliche Distanzierung im Hauptpunkt“ auszulegen.” In einer abschlieSenden Bemerkung zu Schlechtas erster ,Probe‘ sei auf eine nachgelassene Aufzeichnung Nietzsches hingewiesen, die uns im folgenden noch niher zu beschiftigen haben wird.” Sie stammt aus dem Jahre 1885 und gehért zu den Materialien, die er bei der Abfassung von Jensetts von Gut und Bose beriicksichtigte. Nietzsche hat sich am Schluf& dieser Aufzeichnung in ahnlicher Weise iiber die Welt als Wille zur Macht geaufert. Der uns in diesem Zusammenhang allein interessierende Unter-
schied zwischen den beiden Texten”® besteht nun darin, daf Nietzsche Jenseits von Gut und Bose 25; KGW VI 2, 38. Nachlaf; GA XIV, 349; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[17]; KGW VIII 1, 72]. A. Baeumler, Nachwort zu ,Der Wille zur Macht‘ in: KTA 9 ('°1964), 714. Nachlaf, WM
1067; GA XVI, 401f.; Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 338f.].
Zur Problematik des Verhdltnisses von ver6ffentlichtem und nachgelassenem Text vel. Heftrich, Nietzsches Philosophie, a.a.O., 69ff. -Man kann dariiber hinaus noch
eine friihere Fassung des Schlusses des Aph. WM 1067 heranziehen, die in GA XVI, 515 abgedruckt ist. [Als Vorstufe von KGW VII 38[12] abgedruckt in KSA 14, 727.] K. Loéwith hat im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit L. Klages in seinem Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stuttgart *1956, 97) die beiden Fassungen gegeniibergestellt. Die erste Fassung riickt den ,, Willen zum Wieder—und—noch-einmal—Wollen“ in den Vordergrund. Sie kénnte nur unter Einbeziehung der Problematik von Nietzsches Wiederkunftslehre interpretiert werden, die im Rahmen dieser Abhandlung ausgespart bleiben muf. Lowith schreibt: »Wahrend in der ersten Fassung das Problem eines Wollens der ewigen Wiederkehr
im Bilde der wechselseitigen Spiegelung von Weltverfassung und Selbsterhalten dadurch eine scheinbare Lésung findet, da8 das Sichselberwollen der Welt als ein Sich-immer-—wieder-Wollen von der ewigen Wiederkunft her gedacht ist und der menschliche Wille als ein zuriick und voran wollender sich ebenfalls im Kreise
bewegt, wird die Fragwiirdigkeit eines Wollens der Fatalitat in der zweiten Fassung
mit der abrupten Formel vom , Willen zur Macht‘, der im Menschen und in der Welt
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
sich in dem frither niedergeschriebenen Text nicht hypothetisch, sondern mit unzweideutiger Entschiedenheit ausspricht: ,,... — wollt Ihr einen Na-
| men fiir diese Welt? Eine Losung fiir alle ihre Rathsel? ein Licht auch fiir | euch, ihr Verborgensten, Starksten, Unerschrockensten, Mitternachtlichsten? —Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts auferdem!“’ Es wird im folgenden noch zu zeigen sein, mit welcher unangefochtenen Uberzeugtheit Nietzsche die Weltwirklichkeit von seinem Grundgedanken des Willens zur Macht her denkt. Geht es um die Herausarbeitung von Nietzsches letzten ,Einsichten‘ und nicht um die Problematik der Frage-
haltung der ,freien Geister‘, so verdient hier — wie in anderen Fallen aus anderen Griinden — der Nachlaftext, der ,Vorstufe‘ ist, den interpretatorischen Vorrang gegeniiber der ver6ffentlichten Fassung.
Indem wir Schlechtas zweite ,Probe‘ heranziehen, geraten wir tiefer in die Schwierigkeiten hinein, die sich einstellen, wenn nach dem Willen zur Macht gefragt wird. Mochte man aus dem ersten Text schlieSen kénnen, Nietzsche
suche nach einem metaphysischen ,Grundprinzip‘, auf das sich alle ,wirkenden Krifte‘ zuriickfiihren lassen kénnten, so verweist die Stelle, die Schlechta nun heranzieht, auf eine andersgeartete Struktur des Willens zur Macht. Es handelt sich um den Aphorismus 12 der zweiten Abhandlung von Zur Genea-
logie der Moral**, aus dem er allerdings nur einige wesentliche Passagen beriicksichtigt. Nach seiner Meinung ist dieser Text ,,mindestens ebenso aufschlureich“ fiir den Mangel an Tragfahigkeit von Nietzsches Gedanken wie der zuvor von ihm herangezogene. Nietzsche wendet sich hier ebenso gegen den Gedanken einer Teleologie in der Natur wie auch gegen den herrschenden Zeitgeschmack, ,,welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufilligkeit,
ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen wiirde, als mit der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“. Schlechta findet, daf$ beide von Nietzsche abgelehnten Positionen, sowohl der »progressus auf ein Ziel hin“, als auch die ,mechanistische Unsinnigkeit‘, nur
einfach derselbe sein soll, eher verdeckt als zur Sprache gebracht.“ (A.a.O., 98.)
Léwith findet, daf& Nietzsches Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkunft einander widersprechen. Dementgegen habe ich in meinem Nietz-
sche—Buch ihre Vereinbarkeit aufzuweisen versucht (a.a.O., 135ff.). Es geht mir dort
u. a. darum, zu zeigen, inwiefern der héchste Wille zur Macht die ewige Wiederkunft des Gleichen wollen mu&. Von meiner Deutung her lést sich der Schein einer sach-
lichen Diskrepanz zwischen den beiden Textfassungen auf.
27 Nachla&, WM 1067; GA XVI, 402; [Juni—Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 339]. ** Zur Genealogie der Moral Il, 12; KGW VI 2, 329-332.
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»verbale Gegenpositionen“ im Verhiltnis zu Nietzsches ,eigentlichem‘ Welt-
verstandnis darstellen, das in der Annahme ,einer Welt des absoluten Zu-
falls“ bestehe. Nun ist fiir Nietzsche ,Zufall‘ und ,Zufall‘ zweierlei, wie auch
,Notwendigkeit* und ,Notwendigkeit‘ fiir ihn zweierlei ist: je nachdem, ob er diese Worter im Sinne ,mechanistischer‘ Begrifflichkeit oder im Zusammenhang seiner Deutung des Willens zur Macht gebraucht. Wenn Schlechta etwa meint, Nietzsches Kraftbegriff stamme ,,aus dem Arsenal der positivi-
stischen Naturwissenschaft“, so nimmt er nicht ernst genug, was Nietzsche im letzten Teil des Aphorismus von der modernen Entwicklung der ,,streng-
sten, anscheinend objektivsten Wissenschaften“ sagt. , Demokratischer Idiosynkrasie‘ gegen alles Herrschaftliche entspringend, verkennen sie, so etwa die zeitgenossische Physiologie, das Wesen des Lebens, seinen Willen zur Macht.
»Damit ist der principielle Vorrang iibersehn, den die spontanen, angreifenden, iibergreifenden, neu—auslegenden [...] Krafte haben“. Der Wille zur Macht wird hier von Nietzsche als Pluralitat von Kraften vorgestellt.
|
Gerade dies irritiert Schlechta. Im Bemiihen, den Gedanken der Vielheit deutlich herauszustellen, iiberzieht er ihn. Er akzentuiert, da Nietzsche von ,voneinander unabhingigen Uberwaltigungsprozessen‘ spricht. Schlechta bemerkt dazu: ,,Sind die Uberwaltigungsprozesse tatsichlich voneinander unabhangig, so ist jeder Zwischensinn Unsinn.“ Mit dem Wort ,Zwischensinn‘ spielt er offensichtlich auf ,den‘ Willen zur Macht an. Freilich zitiert er unvollstandig, und zwar in einer Weise, die das von Nietzsche Gemeinte
entstellt. Ergiinzen wir die Formulierung, die Schlechta aus dem Aphorismus 12 herausgezogen hat, wenigstens soweit, als dies fiir das Verstandnis des Textes unumganglich ist. Nietzsche schreibt: ,,,Entwicklung* eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist [...] die Aufeinanderfolge von mehr oder
minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhangigen, an ihm sich abspielenden Uberwaltigungsprozessen ...“. Diese sind also mehr oder
minder voneinander unabhingig. Damit wird die Unabhangigkeit eingeschrankt. Auch Uberwiltigungsprozesse, die ,mehr‘ Unabhingigkeit vonein-
ander haben, sind doch nicht véllig voneinander unabhangig, wie Schlechta interpretiert. Daf Nietzsche, der die Bezogenheit von allem auf alles andernorts so betont, in diesem Zusammenhang von Unabhingigkeit spricht, hat seinen Grund darin, daf er hier gegen jede kausal oder teleologisch orien-
tierte Bestimmung von Geschehensablaufen polemisiert. In der Relation zu solchen Bestimmungen sind die Uberwaltigungsprozesse der Machtwillen, die in Wahrheit alle ,Entwicklungen‘ konstituieren, mehr oder minder von-
einander unabhangig.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Dessenungeachtet haben die beiden ,Proben‘ Schlechtas uns vor zwei scheinbar unvereinbare Deutungsmdéglichkeiten der Lehre vom Willen zur Macht gefiihrt. Hat Nietzsche das Problem des Willens zur. Macht nicht tatsichlich unzureichend ,,durchdacht*? Denn entweder ist doch der Wille zur
Macht das Prinzip, welches die Welt griindet, oder die Welt ist das ungegriindete, prinziplose Zusammenvorkommen von Vorgingen, in denen jeweils ,,ein Wille zur Macht iiber etwas weniger Machtiges Herr geworden
ist“, wie es in dem herangezogenen Aphorismus heift.
5. Zur Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches Prinzip
In den Nietzsche-Interpretationen iiberwiegt die Auffassung, der Wille | zur Macht sei als das metaphysisch Griindende zu verstehen. Selbst wenn man es ablehnt, den Willen zur Macht als ,,eindeutig* metaphysischen Wil-
len im Sinne Schopenhauers aufzufassen — namlich als ,,ein in sich gegriindetes, substantielles und transzendentes Prinzip der Wirklichkeit* —, so kann man doch immer darauf beharren, daf Nietzsche ,,die vielen konkre-
ten Willen zur Macht doch schlielich als Manifestationen eines einheitlichen, die ganze Wirklichkeit bestimmenden Prinzips denkt“, wie dies W. ——_
Weischedel tut.”” Seine Deutung bleibt — ungeachtet aller sonstigen Unterschiede — der von Jaspers verwandt, welcher ausfiihrt, Nietzsche substanti-
_iere das eigentliche Sein zum Willen zur Macht innerhalb
einer
transzendenzlos gedachten Wirklichkeit, in der Welt ,reiner Immanenz‘*”.
Unter wieder ganz anderem Vorzeichen geht auch Heidegger von der sich
selbst erhaltenden und sich selbst iibermachtigenden Einzigkeit des Willens zur Macht aus. Im Sich—selbst—iibermachtigen trete der ,,Steigerungscha-
rakter“ des von Nietzsche ausgelegten Willens hervor®'. Und W. Schulz hat, in Ubereinstimmung mit Heideggers Interpretation, ausgefiihrt, wogegen der Wille zur Macht angehe, das sei ,,kein AuSeres mehr, sondern immer nur er selbst“. Er iiberwinde immer nur sich in ewig sich setzender Selbstaufhebung.”* Diese Hinweise mégen geniigen. [Vgl. dazu im Anhang
? W. Weischedel, Der Wille und die Willen, a.a.O. [Anm. 1], 76 und 75. . K. Jaspers, Nietzsche, Einfiihrung in das Verstdndnis seines Philosophierens, Berlin 1947, 310.
*!
*
§, dazu VE. Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 30ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 21ff.
W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Tiibingen 1957, 101.
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zu dieser Abhandlung: 1. Zum Verstdndnis von Metaphysik bei Nietzsche und Heidegger] Da Nietzsche — insbesondere im Nachlaf — sehr haufig von dem Willen zur Macht spricht, scheint Deutungen von der eben genannten Art zu untermauern. Und wenn er, wie schon ausgefiihrt wurde, von der Welt schreibt, sie sei der Wille zur Macht und nichts auSerdem, so verbietet sich scheinbar jede Auffassung, in der die Wirklichkeit im Verstindnis Nietz-
sches nicht als metaphysisch gegriindete Einheit angesehen wird. Daf es in derselben Niederschrift heift, die Welt sei als ,,ein Ungeheuer von Kraft [...] zugleich Eins und ,Vieles‘“*, schlieft eine metaphysische Deutung im genannten Sinne nicht aus. Lat sich doch ,das Viele‘ von ,dem Eins‘ her
begreifen. Gleichwohl will ich im Ausgang von dieser Bestimmung Nietzsches ein andersartiges Verstandnis von Wille zur Macht und Welt entwik-
keln. Ich meine, da es dem angemessener ist, worum es Nietzsche geht.
6. Wille zur Macht als Eins und Vieles
|
Die Welt ist Eins und Vieles. Die Welt ist der Wille zur Macht. Danach lat sich vermuten, da auch der Wille zur Macht Eins und Vieles ist. Gehen wir davon aus, der Wille zur Macht sei Eins. Wie kann dann dieses
Einssein verstanden werden? Das Eins als theologisch oder metaphysisch
|
Griindendes weist Zarathustra zuriick. ,,Bose“ heift er ,,all diess I chren| vom Einen“.*’ Auch ist Eins fiir Nietzsche keineswegs ,das Einfache‘. ,,Al-
les, was einfach ist, ist blof imaginar, ist nicht ,wahr‘. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur reduzirbar auf Eins“**. Was
aber besagt dann Einheit fiir Nietzsche? Er antwortet: ,,Alle Einheit ist nur / als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein | menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist“®. Dies nétigt uns, auch das Eins des Willens zur Macht unter diesem Aspekt zu bedenken. Das Viele tritt in den Vordergrund. Nur eine Mannigfaltigkeit kann zur Einheit orga- | nisiert werden. Bei dem organisierten Vielen muf es sich um ,Machtquan-
ten‘ handeln, wenn denn die eine Welt nichts anderes ist als der Wille zur 33° Also sprach Zarathustra Il, Auf den gliicklichen Inseln, KGW VI 1, 106. | 5
NachlaG Friihjahr 1888, 15[118];, KGW VIII 3, 272f. (WM 536). Nachla&, WM 561; GA XVI, 63; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[87]; KGW 1, 102].
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Macht. Ich kann nun an das ankniipfen, was zu Schlechtas ,zweiter Probe‘ ausgefiihrt worden ist. Der Wille zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streite liegen-! den Kraften. Auch von der Kraft im Sinne Nietzsches kann man Einheit nur} in der Bedeutung von Organisation aussagen. Zwar ist die Welt ,,eine feste, eherne Gréfe von Kraft“, sie bildet ,ein Quantum von Kraft“.°* Aber dieses Quantum ist allein im Gegeneinander von Quanten gegeben. Zu recht bemerkt G. Deleuze: ,,Toute force est [...] dans un rapport essentiel avec une autre force. L'étre de la force est le pluriel; il serait proprement absur-
de de penser la force au singulier.“*” Sind die Krafte aber nichts anderes als die , Willen zur Macht’, so la&t sich auch Heideggers Behauptung nicht auf[eine erhalten, Wille zur Macht sein ,,nie Wollen eines Einzelnen, Wirk; lichen“, Wille zur Macht sei ,,immer Wesenswille“. 38
Als Spiel und Gegenspiel von Kraften resp. Machtwillen enthiillt sich die Welt, von der Nietzsche spricht. Bedenken wir zunichst, daf die Zusammenballungen von Machtquanten sich unablassig mehren oder mindern, so kann nur von sich fortlaufend andernden Einheiten gesprochen werden,
nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter _der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen. Nietzsche radikalisiert seine Auffassung noch durch die Bemerkung, daf jede solche Einheit als ein ,,Herrschafts—Gebilde“ nur ,,Eins“ bedeute, jedoch ,,nicht eins“ sei.°” Das Eins ist nicht. Dann ist auch der Wille zur Macht nicht Eins. Die Ein- | heit von Herrschafts—Gebilden, in denen eine Vielheit von Machtquanten zusammengefiigt ist, hat kein Sein. Andererseits aber sagt Nietzsche, wie wir gehért haben: Die Einheit ist Einheit als Organisation. Gerat Nietzsche hier nicht in Widerspruch mit sich selbst? Wenn wir an ,,die ,Vernunft‘ in der Sprache“ glauben, so miissen wir die Frage bejahen. Doch fiir Nietz-
sche ist die Sprach—-Vernunft ,,eine alte betriigerische Weibsperson“. Nichts
habe bisher ,,eine naivere Uberredungskraft gehabt“, so heift es im glei-
°°
Nachla®, WM KGW
1067 und 638; GA XVI, 401 und 115; [Juni-Juli 1885, 38[12];
VII 3, 339 und Herbst 1885—Herbst 1886, 2[143]; KGW
VIII 1, 135].
37
G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris *1970, 7.
38
M. Heidegger, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], I, 73. — Heidegger fiihrt aus (a.a.O., II,
3y
36): ,,Statt ,Wille zur Macht‘ sagt Nietzsche oft und leicht mifverstandlich ,Kraft‘.“ Nachlaf&, WM 561; GA XVI, 63; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[87]; KGW VIII
1, 102]. - [Vgl. Nachla& Friihjahr—Herbst 1881, 11[115], KGW V 2, 380: ,,Ein noch so complicirter Trieb, wenn er einen Navien hat, gilt als Einbeit und tyranni-
sirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen.“]
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chen Zusammenhang, »als der Ircthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort fiir sich, jeden Satz fiir
sich, den wir sprechen!“*" Nietzsche ist iiberzeugt, da die Sprache uns
tiuscht, wenn wir das Wort beim Wort nehmen, d.h. wenn wir bei ihm stehenbleiben und uns nicht durch es hinweisen lassen auf die Sachverhalte
die in ihm nicht aufgehen. Weil Nietzsche solcherart hinweisend spricht,
kann er sowohl ,ist‘ sagen und dem , ist‘ zugleich Wirklichkeit absprechen,
Gefragt werden muf freilich, in welchem Sinne es kein Sein gibt. ,Sein‘ ist
Nietzsche zufolge ,,eine leere Fiktion“. Daf er sich mit dieser Behauptung
auf Heraklit berufen zu kénnen glaubt“', zeigt wie schon sein Hinweis auf die Eleaten an, welche ,,Beschrinkung des Seins“, mit Heidegger zu reden*, fiir Nietzsches Seinsverstindnis konstitutiv ist: das Sein wird dem
Werden entgegengesetzt und als ,Tauschung‘ aus diesem abgeleitet*’. Als das dem Werden
Entgegengesetzte gilt Sein‘ als das Bestindige. Der Ge-
danke der Bestandigkeit vertragt sich nun aber durchaus mit dem Gedanken der Vielheit. Nietzsche bemerkt: ,,- Auch die Gegner der Eleaten
unterlagen noch der Verfiihrung ihres Seins—Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand ...“**. Nietzsche unterliegt einer solchen Verfiihrung nicht. Wenn es kein Sein im Sinne von Bestandigem gibt, dann gibt es auch keine Atome. Nicht nur das Eins eines organisierten Herrschafts—Gebildes hat kein solches ,Sein‘, sondern auch das Viele, das in einem Gebilde ,zusammenspielt’, ,ist‘ nicht,
sofern es als aus festen Einheiten zusammengesetzt gedacht wird. Das Viele von Machtquanten ist also nicht als Pluralitét von quantitativ irreduziblen Gétzen-—Dammerung, Vernunft 5; KGW VI 3, 72. 41
Gétzen—Ddammerung, Vernunft 2; KGW VI 3, 69.
2M. Heidegger, Einfithrung in die Metaphysik, Tiibingen 1953, 71ff. ‘3 Gelegentlich gebraucht Nietzsche das Wort ,Sein‘ allerdings auch im Sinne von Leben‘. Dann wird Sein selber als das Werden verstanden. Auch in der Bedeutung von ,Wesen‘, von , Wirklichkeit‘, von ,besonderem Seienden‘ wie von ,Seiendem
im ganzen‘ findet es manchmal Verwendung. “4 Goétzen—Dammerung, Vernunft 5; KGW VI 3, 72. - Koster kritisiert meine im Hinblick auf Nietzsche vorgenommene Differenzierung zwischen fixierendem Begriff und hinweisendem Wort (Die Problematik ..., a.a.O. [Anm. 1], 40). Die sich in diesem
Zusammenhang stellenden Fragen sind von J. Salaquarda (in Der Antichrist, Nietzsche—Studien 2 (1973), 91ff.; hier: 133ff.) weitergefiihrt und vertieft worden. Aus
Salaquardas Ausfiihrungen erhellt, wieso Nietzsche seinen ,Begriffen‘ z. B. ,,eine eigene Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders* zukommen lassen kann (Nachla&; GA XIV, 355; [Juni—Juli 1885, 37[5]; KGW VII 3, 305f.])
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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t
Letztgegebenheiten, nicht als Pluralitit von unteilbaren ,Monaden* zu verstehen.** Machtverschiebungen innerhalb der instabilen Organisationen lassen aus einem Machtquantum zwei werden oder aus zweien eines. Wenn
wir uns der Zahlen in einem fest—stellenden und abschlieSenden Sinne be-
dienen, so muf gesagt werden, da die ,Zahl‘ der Wesen immer im Fluf
bleibt.** Es gibt kein ,Individuum‘, es gibt kein letztes unteilbares Quantum Macht, zu dem wir hinunterkommen. Nietzsche nimmt fiir sich in Anspruch, ,radikal‘ zu denken, insofern er ,,die ,kleinste Welt‘ als das iiber-
all-Entscheidende entdeckt“ habe*”. Dieses Kleinste kann als faktisches nie ein Letztes sein. Es ist als Welt immer ein Gebilde, das konstituiert ist durch »Kraft—Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft_ Quanta }
Macht auszuiiben“. Ein Herrschafts—Gebilde ,ist‘ nicht Eins, es bedeutet Eins. Was meint } hier ,bedeuten‘? In Jenseits von Gut und Bése schreibt Nietzsche, Wollen erscheine ihm vor allem als ,,etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort
eine Einheit ist“**. Da& uns die Sprache Einheiten vorgaukelt, haben wir schon vernommen. Doch das Bedeuten ist urspriinglicheren Wesens als das Sprechen. Sprechen ist eine Ausdruckweise des Machtwollens.”’ Es besiegelt, was vorgangig schon als etwas ausgelegt worden ist. Alle Aus“5
Wenn ich die Annahme zuriickweise, man kénne Nietzsches Willen zur Macht eine Substantialitat im Leibnizschen Sinne zusprechen (Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1],
32f.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 23f.), so verbirgt sich dahinter nicht der Gedanke, den Willen zur Macht komme Substantialitat in irgendeinem anderen Sinne zu, wie Késter argwohnt (Die Problematik ..., a.a.O. [Anm. 1], 43ff.). Ich gerate auch nicht in die Gefahr einer Substantialisierang, wenn ich, Nietzsches
Gedankengingen folgend, den Menschen als Einheit von relativer Eigenstandigkeit verstehe. ,Der Mensch‘ erwacht in meiner Deutung nach seiner vorangegangenen »Destruktion“ damit nicht ,,zu neuem Leben“, wie Késter schreibt (a.a.O., 46), er
ist vom Beginn meiner diesbeziiglichen Ausfiithrungen an (Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 18ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 9ff.) als zur Einheit organi-
sierte Vielheit von Kraften im Blick. “© Vel. VE., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 33. ‘7 Nachla& Frithjahr 1888, 14[37]; KGW VIII 3, 28. ‘8 Jenseits von Gut und Bose 19; KGW VI 2, 26. “Das
Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, da& man sich erlauben sollte,
den Ursprung der Sprache selbst als Machtausserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen ,das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz“, heift es in Zur Genealogie der Moral (1, 2; KGW VI 2, 274).
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legung erwachst aus dem Machtstreben der Herrschafts—Gebilde. Diese
legen sich dasjenige zurecht, was sie iiberwinden, vielleicht sich einverleiben wollen oder gegen das sie sich zur Wehr setzen. Das Zurechtmachen
ist immer ein falschendes Gleichmachen und Festmachen. Das gleich und fest Gemachte ist fiir den Zugriff oder auch fiir die Abwehrhaltung eines
Machtwollens prapariert.°° Nietzsche schreibt: ,, Wenn ich alle Relatio-
nen, alle ,Eigenschaften‘ alle ,Thatigkeiten‘ eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding iibrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus
logischen Bediirfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verstandigung.“°’ ,Das* Ding bedeutet dem Auslegenden Eins, obwohl ihm in , Wirklichkeit nur eine Vielheit gegeniibersteht. Doch auch ,der‘ Auslegen-} de ist nichts anderes als eine Vielheit ,mit unsicheren Grenzen“’*. Wir sind ,,eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat“, notiert | Nietzsche®’. Als Mittel, mit dem ,ich‘ ,mich‘ iiber ,mich selbst‘ tausche™, dient das Bewuftsein, der Intellekt. Zwar mu es ,,eine Menge Bewufst-
seins und Willen in jedem complizirten organischen Wesen geben“, doch »unser oberstes Bewuftsein halt fiir gewohnlich
die anderen geschlos-
sen.“°° Das Herrschafts—Gebilde, das ich bin, gibt sich sich selbst durch dieses Bewuftsein als Eins zu bedeuten: durch ,,Vereinfachen und Ubersichtlichmachen, also Falschen“. Auf diese Weise werden die scheinbar
einfachen Willensakte méglich.*® Aus all dem diirfte deutlich geworden sein, daf$ Nietzsche immer faktische Vielheiten von Willen zur Macht im Blick hat, die jeweils Eins im Sinne von Einfachheit bzw. Stabilitat bedeuten, in Wahrheit jedoch komplexe und unaufhérlich sich wandelnde Gebilde ohne Bestandigkeit sind, in denen sich ein Gegeneinander von in mannigfachen Abstufungen organisierten Kraftquanten abspielt. Mit welchem Recht kann Nietzsche dann aber immer wieder von dem Willen zur Macht sprechen, als wire er nicht nur in der 60
§. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 11ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 3ff.
5!
Nachla& Herbst 1887, 10[202]; KGW VIII 2, 246 (WM 558).
2
Nachla&; GA XIII, 80; [Frithjahr 1884, 25[96]; KGW VII 2, 29].
°3
Nachla@; GA XII, 156; [Herbst 1881, 12[35]; KGW
4
Ich und Mich sind immer zwei verschiedene Personen.“ Auch mein ,Mich‘ ist »erdichtet und erfunden“ (Nachla%; GA XII, 304; [Sommer—Herbst 1882, 3[1] 352 und 3[1] 333; KGW
V 2, 480].
VII 1, 96 und 93f.])
* Nachla&; GA XIII, 239f.; [Frihjahr 1884, 25[401]; KGW VII 2, 112]. *© Nachla&; GA XIII, 249; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304]. - Vgl. VE, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 25f.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 16ff.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
charakterisierten Vielheit gegeben, als ware er faktisch Eins? Als griinde der Wille zur Macht als Einfaches die Welt? [Vgl. hierzu im Anhang zu dieser Abhandlung: 2. Zur Diskussion tiber Einfachheit oder Vielheit von ,Willen zur Macht‘ S. 90ff.]
7. ,Wille zur Macht‘ im Singular ||
Nietzsche gebraucht den Singular in dreifacher Bedeutung. In der ersten Bedeutung wird der Wille zur Macht auf das Ganze des Wirklichen bezogen. Wir haben gehért: Die Welt ist der Wille zur Macht und nichts aufer-
dem. Das Ganze in seiner Mannigfaltigkeit wird mit dem Namen ,Der Wille zur Macht‘ benannt. Worauf weist dabei der Gebrauch des Singulars hin? Nietzsche bringt mit ihm zum Ausdruck, da der Wille zur Macht die einzige Qualitdt ist, die sich auffinden la&t, was immer man auch in Be| tracht zieht.°” Wir miissen uns aber davor hiiten, die Qualitat in irgendeiner Weise zu substantialisieren, sei diese Weise auch noch so sublim. Es gibt die Qualitat nicht als etwas Fiir—-sich—bestehendes, nicht als Subjekt oder Quasi—Subjekt, auch nicht als das Eine, dessen ,,Hervorbringungen“ erst die komplexen Gebilde von relativer Dauer sind, wie Heidegger ausfiihrt®. Die einzige Qualitat ist vielmehr immer schon in solchen quantitativen Besonderungen gegeben, sonst kénnte sie diese Qualitat nicht sein. Ist doch jeder Wille zur Macht auf den Gegensatz zu anderen Machtwillen Macht' ist nicht ein wirkliches Eins; dies Eins besteht weder in irgend einer| Weise fiir sich, noch ist es gar ,Seinsgrund‘. ,Wirkliche‘ Einheit gibt es allein als Organisation und Zusammenspiel von Machtquanten.
a
angewiesen, um Wille zur Macht sein zu kénnen. Die Qualitat , Wille zur
Spricht Nietzsche vom Willen zur Macht als der einzigen Qualitit, so la&t
er sehr haufig den Artikel fort. Dadurch wird besonders deutlich, daf es sich bei dem Machtwillen nicht um ein Prinzip oder ein ens metaphysicum handelt. Dies geschieht auch in zwei Formulierungen Nietzsches, die besonders
gern herangezogen werden, um seine Philosophie in ein metaphysisches Schema zu pressen, in das sie nicht paft. So spricht er im Zusammenhang einer Schopenhauer-Kritik in Jenseits von Gut und Bose von der ,,Welt, deren
*” §. hierzu Vf., Nietzsche, a.a.0. [Anm. 1], 21ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 21f.
*% M. Heidegger, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], II, 106.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
45
3
. «59 é . : Essenz Wille zur Macht ist —“*’, und im Nachla& heift es (wie schon eingangs
zitiert), ,,das innerste Wesen des Seins“ sei , Wille zur Macht“. Ob Nietzsche
nun schreibt: ,,der Wille zur Macht“ oder ,,Wille zur Macht“, er meint doch immer die einzige Qualitat, abgesehen selbstverstiindlich von den Fallen, in denen er mit der Bezeichnung ,der Wille zur Macht‘ einen Machtwillen in seiner besonderen Konstitution herausstellt.
Nun zur zweiten Bedeutung von Nietzsches ,singularischer Redeweise‘. Da der Wille zur Macht die einzige Qualitat des Wirklichen ist, kann Nietzsche den Singular auch im Hinblick auf allgemeine Bestimmungen anwenden, mit denen iiblicherweise Mannigfaltiges in Bereiche zusammengefakt wird oder die in irgendeiner sonstigen umfassenden Weise Bedeutung haben. Als Beispiel sei der Entwurf eines Planes vom Friihjahr 1888 herangezogen, der die Uberschrift tragt: ,,Wille zur Macht. Morphologie.“ In dieser Aufzeich-
nung stellt Nietzsche die Titel zusammen: »Wille zur Macht
als ,Natur‘
als als als als als als
Leben Gesellschaft Wille zur Wahrheit Religion Kunst Moral
als Menschheit“®°. Uns kénnen hier weder die einzelnen Titel noch die Reihenfolge ihrer Zusammenstellung beschaftigen. Im Ausgang von dieser Aufzeichnung soll deutlich gemacht werden, wie (der) Wille zur Macht nicht verstanden werden
darf. Er ist nicht ein der Welt Zugrundeliegendes, das Leben hervorbringt oder sich als Kunst entauGert oder sich als Menschheit verwirklicht. Vielmehr sind die von Nietzsche aufgefiihrten ,Gestaltungen‘ threm Wesen nach: Wille zur Macht. Dieses Wesen in den verschiedenartigen ,Bereichen‘ sichtbar zu 59 Jenseits von Gut und Bése 186; KGW VI 2, 109. 6°
Nachla@ Friihjahr 1888, 14[72]; KGW VIII 3, 46. —- Unmittelbar vor diesem Text
findet sich folgende Aufstellung Nietzsches: » Wille Wille Wille Wille Wille Wille
zur zur zur zur zur zur
Macht Macht Macht Macht Macht Macht
als als als als als als
,Naturgesetz‘ Leben Kunst. Moral. Politik Wissenschaft.
Wille zur Macht als Religion“ (A.a.O., 14[71)).
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sth
Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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machen, ist die Aufgabe einer ,, Morphologie des ,Willens zur Macht*‘*, von der auch in einem anderen Plan Nietzsches aus der ersten Jahreshalfte 1888
die Rede ist". Dies gilt gerade dann, wenn der Wille zur Macht in bestimmten Ausdrucksweisen (nicht Hervorbringungen!) verborgen bleibt. Aus einem
weiteren Entwurf Nietzsches aus dem gleichen Jahre, der die Uberschrift
trigt: ,,Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe", sei ein Teil der Gliederung angefiihrt. Er zeigt, in welcher Weise der Wille zur Macht z. B. als Moral und Religion verstanden werden muf: wll. Die falschen Werthe. 1) Moral als falsch [...] 2) Religion als falsch 3) Metaphysik als falsch 4) die modernen Ideen als falsch
Ill.
Das Kriterium der Wahrheit. 1) der Wille zur Macht“”
Moral und Religion sind in ihren iiberlieferten, das Zeitalter noch immer
bestimmenden Gestaltungen vom Wesen des Willens zur Macht, auch wenn
in ihnen dieses Wesen in einer Verkehrung erscheint. Das Kriterium fiir wfalsch‘ und ,wahr‘ ist in dem zu finden, was Wille zur Macht unverdeckt als
Wille zur Macht ist. ,,In einer Steigerung des Machtgefiihls“ tritt es zutage®. *'
Nachla&; Frithjahr 1888, 14[136]; KGW VIII 3, 112. — Nietzsche legt Wert auf die
Feststellung, da& morphologische Darstellungen nichts erk/dren k6nnen, sondern lediglich Tatbestande zu beschreiben in der Lage sind: s. NachlaS, WM 645; GA
XVI, 118f. und GA XIV, 331; [Juni—Juli 1885, 36[28]; KGW VII 3, 226 und &
Sommer-—Herbst 1884, 27[67]; KGW VII 2, 291]. Nachla& Friithjahr-Sommer 1888, 16[86]; KGW VIII 3, 311f. [Nietzsche wendet sich gegen den Satz ,Simplex sigillum verum‘ (und speziell gegen Descartes’ Wahrheitskriterium der perception clara et distincta) und fragt: ,,Woher wei man das, daf die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhaltni& zu unserem Intellekt steht? — Ware es nicht anders? daf die ihm am meisten das Gefiithl von Macht und
Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschdtzt, und folglich als wahr bezeichnet wird?“ (Nachlaf& Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2,
50f.) ]
*
Nachla&, WM 534; GA XVI, 45. - Vgl. August — September 1885, 40[15]; KGW VII 3, 366f. — [,, Wahrheit ist somit nicht etwas, was da ware und was aufzufinden,
zu entdecken ware, — sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen fiir einen Prozefs abgiebt, mehr noch fiir einen Willen der Uberwaltigung, der an sich
kein Ende hat: Wahrheit hineinzulegen, als [...] ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewuftwerden von etwas, ,an sich‘ fest und bestimmt wire. Fs ist ein Wort
fiir den , Willen zur Macht“. (Nachla& Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 49); vgl.
|
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Wir miissen noch einen Schritt weitergehen. Die allgemeinen Gestaltungen
und Bestimmungen sind nicht nur ,falsch‘, insoweit in ihnen besondere Inhalte
zu Einheiten zusammengefaft werden. Sie sind schon ihrer Allgemeinheit wegen falsch‘. Zumindest gilt das, wenn dem Allgemeinen ,Existenz‘ zugesprochen wird. Auch dem Willen zur Macht, gedacht gar als allgemeines und héchstes
Prinzip, kommt keine Existenz zu. Faktisch gibt es ihn als die einzige Qualitat nur in Machtquanten, bzw. als Wesen (Was-sein) nur im uniiberblickbar vielfaltigen Wirklichsein als Wirksamsein (Da—sein), bzw. als Essenz nur in der Fiille gegenstrebiger ,Existenzen‘. — ,,Die ,hdchsten Begriffe‘, das heisst
die allgemeinsten, die leersten Begriffe“, so lesen wir in Gétzen—Dammerung, bilden ,,den letzten Rauch der verdunstenden Realitit“*. Solches Allgemeine schon die ,,Beschworung der Wahrheit aus dem Grabe“, Nachla& Herbst 1883,
21[6], KGW VII 1, 638, ferner Nachla8 Friihjahr 1884, 25[311]; VII 2, 88)] — Zu Nietzsches Wahrheitskriterium vel. auch Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 108-115. 64
G6étzen—Dammerung, Vernunft 4; KGW VI 3, 70. — Heidegger sucht darzulegen, »wie in Nietzsches Metaphysik der Unterschied von essentia und existentia verschwindet, warum er verschwinden muf im Ende der Metaphysik, wie gleichwohl gerade so die weiteste Entfernung vom Anfang erreicht ist“ (Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], II, 476). Im Zusammenhang seiner metaphysikgeschichtlichen Betrach-
tungen versteht Heidegger den Willen zur Macht als essentia, die ewige Wiederkehr des Gleichen als existentia. Eine solche Zuordnung ist Nietzsches Denken unangemessen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Fiir das hier zu Erérternde ist wesentlich, da8 schon hinsichtlich des Willens zur Macht das Verhaltnis Essenz — Existenz bedacht werden muf. Zwar scheint auch dabei der Unterschied zu verschwinden: zumindest zeugen die herrschenden Nietz-
sche—Deutungen dafiir. Wenn es sich um ein ,,Verschwinden“ handelt, dann gilt allerdings Heideggers im zitierten Zusammenhang vorgebrachter Satz, daf sich ein solches Verschwinden ,,nur zeigen“ lasse, ,,indem versucht wird, den Unterschied
sichtbar zu machen“. Dies soll oben versucht werden.
Zum Verstindnis des Wesens des Willens zur Macht im metaphysischen Sinne fat Heidegger einige Bestimmungen des Willens, die sich bei Nietzsche auffinden lassen, zusammen:
,,Wille als das iiber sich hinausgreifende Herrsein iiber [...],
Wille als Affekt (der aufregende Anfall), Wille als Leidenschaft (der ausgreifende Fortrif in die Weite des Seienden), Wille als Gefiihl (Zustandlichkeit des Zu-sich—
selbst—stehens) und Wille als Befehl“. Zu recht lehnt es Heidegger ab, aus diesen und weiteren méglichen Bestimmungen ,,eine der Form nach saubere ,Definition‘, die all das Angefiihrte aufsammelt, herzustellen“. (Nietzsche, a.a.O., 1, 70f.) Auch
im Fortgang dieser Untersuchung wird auf ,Definitionen‘ verzichtet: mit ihnen
verfiele man der von Nietzsche unterlaufenen Logik. Was die von Heidegger ge-
nannten Bestimmungen angeht, so interessiert hier vor allem die erste. Wie ist das iiber sich hinausgreifende Herrsein zu verstehen? Heidegger deutet es als Sichiiber-
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
ist nur ein Rauch, die Realitat besteht im je besonderen Gesamtspiel von Aktionen und Reaktionen, die innerhalb komplexer Gebilde von Kraftzentren
gesteuert werden.® Hiervon ist auszugehen, bei ihnen der Anfang zu machen. Eine der ,Idiosynkrasien der Philosophen‘ besteht aber darin, ,,das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt (sc. die ,héch-
sten‘ und allgemeinsten Begriffe) — Leider! denn es sollte gar nicht kommen! ... und den Anfang als Anfang.“ Stiitzt man sich auf die Vernunft (soweit diese
nicht dem historischen Sinn Rechnung tragt und das zu Ende denkt, was die Sinne bezeugen), so bleibt man bei der ,,Missgeburt und Noch-nicht—Wissen-
schaft“ stehen, was da heif&t bei ,,Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie“. Oder bei ,,Formal—Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die
Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik.“ Nietzsche sagt von diesen sich in verschiedenen inhaltlichen oder formalen Bestimmungen allgemeiner Art bewegenden Disziplinen: ,,In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor“.
Auch im Hinblick auf diejenigen ,allgemeinen Bestimmungen‘ (im Rahmen dieser Ausfiihrungen mu es bei diesem undifferenzierten Ausdruck bleiben), die nicht — als eigentlich entbehrlich — ,am Ende‘ kommen, sondern die fiir menschliches Existieren unentbehrlich geworden sind, spricht Nietzsche von Unwirklichkeit und ,Falschheit‘: ,,Ehemals nahm man die Verdinderung, den Wechsel, das Werden iiberhaupt als Beweis fiir Schein-
barkeit ... Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identitat, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichmichtigen des Willens. Das ,,eine einheitliche Wesen des Willens zur Macht regelt die ihm eigene Verflechtung. Zur Ubermachtigung gehért solches, was als jeweilige Machtstufe iiberwunden wird, und solches, was iiberwindet. Das zu Uberwindende muG einen Widerstand setzen und dazu selbst ein Standiges sein, das sich halt und erhalt. Aber auch das Uberwindende muf einen Stand haben und standhaft sein, sonst kénnte es weder itiber sich hinausgehen, noch in der Steigerung ohne Schwanken und seiner Steigerungsméglichkeit sicher bleiben.“ (A.a.O., II, 269f.) Das Uberwindende bedarf des Widerstands des zu Uberwindenden. Hierin
stimme ich mit Heidegger iiberein. Wenn er jedoch das faktische Gegenspiel von Ubermichtigenden und zu Ubermachtigenden als Stufengang ,eines Einheitlichen‘ begreift (s. z.B. a.a.O., I], 36 und 103), so erhebt er das Wesen des Willens zur Macht zu einem absoluten Seienden, das sich aus sich selbst zur Vielfalt entfaltet
°° 6
und gleichwohl in sich bleibt. Damit aber wird Nietzsches Gedanke verfehlt. Vgl. dazu auch im Anbang S. 88f. Nachla@ Frithjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 162f. (WM 567).. Gétzen—Ddmmerung, Vernunft 4 und 3; KGW VI 3, 70.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
49
keit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum. necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung
bei uns dariiber sind, dass hier der Irrthum ist.“ Auch hier ist das »Falsche‘ Umwandlung des wahren Wesens des Willens zur Macht. Dieses wahre Wesen kann jedoch in allem Umgewandelten, ja noch als Bedingung von
Méglichkeit und Notwendigkeit solcher Umwandlung aufgewiesen werden.
Dies wird in einer anderen Aufzeichnung Nietzsches deutlich. Sie nennt: »»Lweck und Mittel‘ ,Ursache und Wirkung‘ Subjekt und Objekt‘ ,Thun und Leiden‘ ,Ding an sich und
Erscheinung‘
Als Ausdeutungen (nicht als That bestand) und inwiefern vielleicht nothwendige Ausdeutungen? (als serhaltende‘) — alle im Sinne eines
Willens zur Macht.“
Betrachtet man etwas als Zweck oder als Mittel zu einem Zweck, so hat
man keinen Tatbestand vor Augen, man nimmt eine Ausdeutung vor. Auch wenn Machtwollen eine solche Ausdeutung erndtigt, so erhalt das Ausgedeutete damit nicht die Dignitat von Wirklichem.”
Im zuletzt zitierten Text spricht Nietzsche von einem Willen zur Macht. Damit geraten wir in die Problematik der dritten Bedeutung, die der Singular bei ihm erhilt. Ein Wille zur Macht ist ein besonderer, von anderen} unterschiedener Machtwille. In der herangezogenen Aufzeichnung ist offenkundig vom Menschen als einem Willen zur Macht die Rede. Wille zur Macht meint hier nicht nur die Essenz der Wirklichkeit als solcher, son-
dern ein Wirkliches in seiner Wirklichkeit. Oft, besonders hiufig in kurzen NachlaSaufzeichnungen, ist nicht eindeutig zu unterscheiden, ob Nietzsche
dieses oder jene meint. Nicht selten geht er in seinen Erérterungen vom einen zum anderen iiber. Ich ziehe ein Beispiel hierfiir aus einem Text heran, in dem u. a. die schon angeschnittene Frage nach der Weise des Gegebenseins von ,Zweck‘
behandelt wird. Nietzsche schreibt, ,,daf alle
,Zwecke’, ,Ziele‘, ,Sinne‘ nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inharirt, der Wille zur Macht“
und ,,da der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Thun und Wollen *” A.a.0., 5; KGW VI 3, 71. * Nachla&, WM 589; GA XVI, 91; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[147]; KGW VIII 1, 157}.
Nietzsche nennt die ,anscheinende Zweckmdafigkeit‘ auch einmal ,,die Folge [...] {des] Willens zur Macht“ (Nachla8 Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 50; WM 552). - [Zur Problematik von Ausdeutung s. im folg. Abschnitt 10.]
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
‘50
eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben ist, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind ...“”° Der Ubergang ist hier leicht aufzufinden. Bis zum letzten Komma in der zitierten Passage wird von der Wesensallgemeinheit des Willens zur Macht gesprochen. Wenn es anschlieSend heift, da& wir selbst Wille zur Macht ,als Gebot' sind, so denkt Nietzsche existierende ,Seiende‘ als Willen zur Macht.
In dieser Bedeutung ist selbstverstandlich nicht nur der Mensch, sondern | jede organisierte Einheit von Machtquanten ein Wille zur Macht. So notiert Nietzsche: ,, — die gréere Complicirtheit, die scharfe Abscheidung,
das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder — wenn das Vollkommenheit ist, so ergiebt sich ein Wille zur Macht im organischen Procef&, vermége dessen herrschaftliche
gestaltende befehlende Kréfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb
desselben immer wieder vereinfachen:
der Imperativ wach-‘
send.“”! Wenn Nietzsche in solcher Weise von einem Willen zur Macht spricht, so ), setzt er mit der singularischen Rede den Plural als gegeben voraus. Dies gilt | natiirlich auch fiir diejenigen AuSerungen, in denen er , Wille zur Macht‘ mit einem Possessivpronomen verbindet. So ist z. B. jedes Volk durch seinen besonderen Willen zur Macht ausgezeichnet. Zarathustra sagt, daf iiber | ° jedem Volke eine Giitertafel als die Tafel seiner Uberwindungen hinge; sie sei ,,die Stimme seines Willens zur Macht“.” In einer nachgelassenen Aufzeichnung schreibt Nietzsche, ein Volk, das noch an sich glaube, verehre »die Bedingungen, durch die es obenauf ist“, durch Projektion seines Machtgefiihls in seinen Gott. Dieser stelle ,,die aggressive und machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur Macht dar ...“.”? Wir diirfen uns durch das Possessivpronomen nicht in die Irre fiihren lassen: die Volker ,besitzen‘ ihre
unterschiedlichen Machtwillen nicht neben anderem, was ihnen noch eigentiimlich ware. Sie sind besondere Machtwillen — und nichts auSerdem. Dies gilt fiir alles, dem Nietzsche Wirklichkeit zuspricht. Jedes ,Spezifische‘ ist das, was es ist, allein als ,sein‘ Wille zur Macht. Nietzsche fiihrt im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der zeitgendssischen Naturwissenschaft aus, ,,da{s jeder spezifische Kérper danach strebt, iiber den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (- sein Wille zur ”” Nachla& November 1887 - Marz 1888, 11[96]; KGW VIII 2, 286f. (WM 675).
7! Nachla, WM 644; GA XVI, 118; [Ende 1886—Frihjahr 1887, 7[9]; KGW VIII 1, 305]. ” ”
Also sprach Zarathustra 1, Von tausend und Einem Ziele; KGW VI 1, 70. NachlaS Mai-Juni 1888, 17[4]; KGW VIII 3, 321.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
x1
Macht:) und Alles das zuriickzusto8en, was seiner Ausdehnung widerstrebt.
Aber er stof&t fortwahrend auf gleiche Bestrebungen anderer Kérper und endet, sich mit denen zu arrangiren (,vereinigen‘), welche ihm verwandt
genug sind: — so conspiriren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozef
geht weiter ...“”*. Ein Wille iiber anderen Machtwillen Die Besonderung ist in sich benden, sie erméglicht die
zur Macht in diesem Sinne ist eine sich gegenbesondernde Organisation von Machtquanten. immer schon ein Zuriickstoen des WiderstreUberwiltigung wie die Unterwerfung, die Ein-
verleibung und das Arrangement in bezug auf anderes, das sich besondert.
Sich sondern und in der Sonderung sich agierend und reagierend beziehen auf das andere sich Sondernde: auf diese Weise vollzieht sich alles Geschehen.
Uns ist ,,keine Verdnderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt“, schreibt Nietzsche. Und damit wir nicht meinen, hier sei vom seinzigen‘ Willen zur Macht die Rede, miissen wir weiterlesen: ,,Wir wissen eine Verinderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Ubergreifen von Macht
iiber andere Macht statt hat.“”> Hat ein Wille zur Macht ,die Ubermacht iiber eine geringere Macht erreicht“, so arbeitet ,,letztere als Funktion der
gréGeren“”®. Die Rede von einem Willen zur Macht, der sich einen anderen unterwirft, ist natiirlich eine Vereinfachung. Daf ein Wille zur Macht jeweils ein hierarchisch strukturiertes Gefiige vieler besonderer Machtwillen darstellt, hat Nietzsche in seinen Ausfiihrungen zum menschlichen Leib besonders ein-
dringlich dargelegt.”” ,,Man kann es nicht zu Ende bewundern‘, schreibt er, »wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhingig und unterthinig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann —“”8. Wieder werden wir von dem ,Einen‘ auf die ,Vielen‘
verwiesen, die in sich selber je organisierte und instabile Einheiten, ohne
* © 7”
Nachla@ Friihjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165f. (WM 636). Nachla@ Friihjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 52 (WM 689). Nachla& Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 50 (WM 552). Am Leitfaden des Leibes“ — wie Nietzsche oft formuliert — sollen wir am besten erfahren kénnen, was wir selbst sind. Dieser sei im Vergleich mit dem Geist ,,das
viel reichere Phinomen, welches deutlichere Beobachtung zulaGt* (Nachla8, WM
532, vgl. 492; GA XVI, 44, vel. 18; [August-September 1885, 40[15]; KGW VII 3, 367, vgl. 40[21]; KGW VII 3, 370f.]. 74
Nachla&; GA XIII, 247£.; [Juni—Juli 1885, 37[4]; KGW
VII 3, 302].
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
einen bestindigen Seinskern, sind. ,,Auch jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren [...], gelten uns nicht als Seelen—Atome, vielmehr als etwas Wachsendes, Kampfendes, Sich—Vermehrendes und Wie-
der—Absterbendes: so daf ihre Zahl unbestandig wechselt.“ Um die griindende Wirklichkeit der Vielheit fiir all das, was sich als Einheit ,zu bedeuten gibt‘, vollends deutlich zu machen, hat Nietzsche dem zitierten Satz eine Parenthese eingefiigt. Er spricht von ,,jene(n) kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren (richtiger: von deren Fusammenwitken das, was wir ,Leib‘ nennen, das beste Gleichnif ist —)*. ”
Was Nietzsche jeweils einen Willen zur Macht nennt, ist faktisch Gegen- | spiel und Zusammenspiel von vielen in sich ebenfalls zu Einheiten organi-
sierten Willen zur Macht. Und jeder Wille ist seinerseits in das Gegen— und Miteinander eines umfassenderen Machtwillens eingefiigt. So bildet z. B. ein Mensch ein Machtquantum, das zahllose Machtquanten in sich organisiert. Er selber gehort in Gegensatz zu und im Verein mit anderen Menschen um-
fassenderen ,Organismen‘ an. Die Frage stellt sich, welcherart das auferste \ Organisierte, der weitestgespannte Wille zur Macht ist. Als ,,die letzten |; ; Organismen, deren Bildung wir sehen“, nennt Nietzsche: Vélker, Staaten, |
{ Gesellschaften.*° Im Unterschied zu den sallgemeinen Gestaltungen und Bestimmungen‘, die nur Ausdrucksweisen, Ausdeutungen, ,Folgen‘, oder ,Anzeichen®! des Willens zur Macht darstellen, sind sie wirkliche Herrschaftsgebilde. Da in ihnen, als existierenden Organismen, das Wesen des Willens zur Macht in faktischem Daf—sein gegeben ist, kinnen die genannten letzten und héchsten Organismen ,,zur Belehrung iiber die ersten Organismen be-
nutzt werden“.” Ist hier doch eine Riick—Ubersetzung des falschen Allgemei”
Nachla&; GA XIII, 248f.; [Juni—Juli 1885, 37[4]; KGW
80
Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[316]; KGW V
VII 3, 303].
2, 461.
81 Zur Genealogie der Moral Il, 12; KGW VI 2, 330. * Nachlaf Friihjahr—Herbst 1881, 11[316]; KGW V 2, 461. — Nietzsche spricht von den letzten Organismen im Plural: Vélker, Staaten, Gesellschaften. Bedarf doch jeder Wille zur Macht eines Gegenwillens, um Wille zur Macht sein zu kénnen. Uber den
genannten drei letzten Gebilden noch ein allerletztes als faktisch bestehend an-
zunehmen, verbietet sich daher. So kann Nietzsche sagen: ,,Die ,Menschheit‘ avancirt
nicht, sie existirt nicht einmal ...“ (NachlaG Frithjahr 1888, 15[8]; KGW VIII 3, 202; WM 90). Daf er den Ausdruck Menschheit haufig bei der Datetellung seiner eigenen Anliegen verwendet (z. B. im Sinne von Masse, von Summe aller Menschen, von Wesen aller Menschen) muf hier unerértert bleiben. Die Menschheit ist jedenfalls fiir ihn kein Organismus und damit nicht ein Wille zur Macht. [S. dazu Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[222], KGW V 2, 425, wo Nietzsche sich gegen philosophi-
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
53
nen in das wahre Besondere nicht nétig. Das Wesen von Besonderung in der Weise von Organisation, wie es fiir alle Machtquanten konstitutiv ist, lat sich an den Makro—Organismen leichter herausarbeiten als an den ,kleineren Einheiten’.
Mégen nun auch im Hinblick auf menschliche Organisationsformen die drei genannten Gebilde die ,letzten‘ sein, so bleibt doch die Frage, ob nicht
die Wirklichkeit im Ganzen, die Welt, organisierte Wirklichkeit ist. Fande die Frage eine bejahende Antwort, dann miif£te noch einmal die Méglichkeit der Existenz des Willens zur Macht als des Wirklichkeitsgrundes gepriift
werden.
Wir sind von zwei Behauptungen Nietzsches ausgegangen: die Welt sei Eins und Vieles; die Welt sei der Wille zur Macht und nichts auSerdem. Wir
haben dann der Vermutung Raum gegeben, daf auch der Wille zur Macht
|
Eins und Vieles sei. Das Ergebnis unserer bisherigen Uberlegungen lautet: Es existiert nur eine Vielheit von Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist eine essentielle Bestimmung. Wirkliche Einheit kommt einem Willen zur
Macht allein als Zusammenspiel im Gegensatz zu anderen Machtwillen zu. Im folgenden soll die erste Behauptung Nietzsches thematisiert werden: die
Welt sei Eins und Vieles.
8. Die vielen Welten und die eine Welt
In dem herangezogenen Satz bedeutet , Welt‘ das, was man das ,All des Seienden‘ oder das ,Seiende im ganzen‘ zu nennen pflegt. Nun ist dies nicht
die einzige Bedeutung von Welt in der Philosophie Nietzsches. So schreibt er: ,,Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfadelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen aufer sich heraus setzen, als
sche Erérterungen wendet, ,,die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln — es ist der Gegensatz meiner Tendenz.“ Ihm geht es um,,mdglichst viele wechselnde verschiedenartige Organismen, die zu ihrer Reife und Faulnif gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber
auf die Wenigen kommt es an.“ Der Sozialismus wird von Nietzsche in diesem Zusammenhang als ,,Gahrung“ gesehen, der ,,eine Unzahl von Staats—experimenten ankiindigt, also auch von Staats—Untergangen und neuen Eiern.“]
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
ihre Aufenwelt.“® Welt ist demzufolge einmal ein Ganzes: Welt des Organischen, Wenn wir in der gleichen Niederschrift lesen, ,,daf es keine unorgani-
sche Welt giebt*, so konnen wir unter ,Welt‘ als Welt des Organischen das Ganze der Wirklichkeit verstehen. Zum anderen ist in der Aufzeichnung von den erdichteten kleinen Welten der besonderen Wesen die Rede. Die Vermutung liegt nahe, solche Erdichtungen hitten kein besonderes Gewicht. Wesentlich scheint allein der erstgenannte ,Weltbegriff* zu sein. Wenn wir jedoch héren, da das in ihm gefa@te Ganze die Aneinanderfadelung der Wesen mit den ,kleinen Welten‘ bildet, so werden wir doch wieder von jenem an diese gewiesen. Und wenn wir uns daran erinnern, daf Nietzsche
die ,kleinste Welt‘ das iiberall-Entscheidende nennt™’, so ist es wohl sinnvoll, die Frage nach Nietzsches Verstandnis von Welt von diesem Entscheidenden her zu entfalten. Die Rede von den kleinen und kleinsten Welten erwachst aus Nietzsches Willen—zur—Macht-—Pluralismus. ,,Jedes Kraftcentrum hat fiir den ganzen . Rest“ der Krafte, zu denen es sich verhilt, ,,seine Perspektive d. h. seine ganz
bestimmte Werthung, seine Aktions—Art, seine Widerstandsart“. Ein solches perspektivisch wertendes Agieren und Reagieren konstituiert jeweils ,,eine
Welt“. Dem Einwand, auf diese Weise gelange man immer nur zu scheinbaren Welten, hilt Nietzsche entgegen: ,,Als ob eine Welt noch iibrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hatte man ja die Relativitat
\ abgerechnet.“® Die Relativitat aber gehort wesenhaft zu den sich gegeneinander organisierenden Willen zur Macht. So lebt infolge der unaufhebbaren Perspektivitit ,,jedes von uns verschiedene Wesen [...] in einer anderen Welt,
als wir leben“**, Kann nur von perspektivischen Welten gesprochen werden, so lést sich das Problem ihrer angeblichen Scheinbarkeit auf. Nietzsche stellt . die Frage: ,, — Ist fiir uns die Welt nicht nur ein Zusammenfassen von Rela-
tionen unter einem Maafe?“ Der nachste Satz enthilt die bejahende Ant‘ wort: ,,Sobald dies willkiirliche Maaf fehlt, zerflieSt unsere Welt!“*” Wenn es keinen ,absoluten Mafstab‘ gibt, dann ,,bleibt kein Schatten von Recht
mehr iibrig, [...] von Schein zu reden ...“."8 83
Nachla8; GA XIII, 80; [April—Juni 1885, 34[247]; KGW
VII 3; 223],
#4 Vel. oben S, 42. %°
Nachla@ Frithjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 162f. (WM 567).
%6 Nachla&, WM
565; GA XVI, 65; [Sommer 1886-Friihjahr 1887, 6[14]; KGW
VIII 1, 244].
7 8
Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[36]; KGW V 2, 352. NachlaG Friihjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 163 (WM 567).
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Nietzsches Lehre yom Willen zur Mac ht
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Die Entfaltung der Welt—Problematik scheint zu dem gleichen Ergebnis
zu fiihren wie die Erérterung des Willens zur Macht. Vom Singular werden
wir auf den Plural verwiesen. Nehmen wir Nietzsches Ausfiihrun gen zur Perspektivitat ernst, so bleibt uns unverstandlich, mit welchem Recht er noch von der Welt sprechen kann. Miissen wir nicht folgern: es gibt nicht die Welt. es gibt nur Welten? Doch Nietzsche gebraucht den Ausdruck die Welt‘ ramnee
wieder im Sinne von Wirklichkeit im ganzen. Am Anfang dieses Abschnittes haben wir auch ein Beispiel dafiir herangezogen, daf er das Verhiltnis der vielen kleinen Welten zur Welt als ganzer bedenkt. Wir miissen daher versuchen, dieses Verhiltnis zu kliren. Dabei ist festzuhalten, daf wir unsere Perspektivik nicht in Abzug bringen
| |
kénnen, um auf diese Weise die Welt iibrig zu behalten. ,,Die Welt, abgesehen
von unserer Bedingung, in ihr zu leben, [...] existirt nicht als Welt ,an sich““.®
Setzen wir nun voraus, es gebe die Welt als das Ganze von Wirklichkeit, so kénnen wir die Aussage des zitierten Satzes ins Positive wenden. Zu dieser
Welt gehéren dann unsere besonderen Lebensbedingungen und damit unsere Perspektiven, wie zu ihr die perspektivisch bestimmten Aktionen und Reaktionen aller Einzelwesen gehéren. Wenn Nietzsche sagt, die , Welt‘ sei , nur ein Wort
fiir das Gesammtspiel dieser Aktionen“”, so bedeutet das, da er die Welt als ,, Welt der Krifte“”! auffa&t. Jede Kraft entwirft sich zwar eine eigene Welt. Aber dieses je Eigene fiihrt nicht zur Abkapselung gegeniiber den Welten der
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anderen Krifte. Ist doch jede Kraft (d. h. jeder Wille zur Macht) auf die anderen
Krafte in Widerstreit oder in Akkomodation bezogen. Zwar hat die Welt, ,,unter Umstinden, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht“. Aber sie bildet doch als das Aggregat aller Krafte das ,Material‘ fiir alle besonderen Weltentwiirfe. Nicht aus den ,,Summirungen“ der perspektivischen Welten ergibt sich
die Welt: sind jene doch ,,in jedem Falle ganzlich incongruent“”*. Auch die Aneinanderfadelung‘, von der oben die Rede war, stellt keinen Zusammenhang der besonderen Welten her. Wohl aber ist die Welt die Summe der Wesen, die Welten erdichten, die Summe der Krifte, die faktisch gegeben sind. Die Summe der Krifte ist Nietzsche zufolge begrenzt. ,.Das Maaf der
All—Kraft ist bestimmt, nichts ,Unendliches‘.“’* Er nennt die Welt ,,eine feste, eherne Gréfe von Kraft, welche nicht gréfer, nicht kleiner wird, die sich 8? Nachla@ Friihjahr 1888, 14[93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568). *
Nachla& Friihjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 163 (WM 567).
1 Nachlaf Friihjahr—Herbst 1881, .11[148]; KGW V 2, 396. ” NachlaG Friihjahr 1888, 14[93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568). *
Nachla& Friihjahr—Herbst 1881, 11[202]; KGW V 2, 421.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveranderlich grof, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbufen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen“™”. Nietzsche nimmt nicht nur eine Begrenzung der Gesamtsumme von Kraft an, sondern auch eine Begrenzung der méglichen Zahl von Kraftlagen. Er gerait dabei in Widerspruch mit sich selbst: die unendliche Teilbarkeit der Krifte, durch die jeder Gedanke an eine Quasi—Substantialitat
der Willen zur Macht ausgeschlossen wird, lat dem Gedanken von unendlich
vielen Krafte-—Kombinationen Raum. Nietzsche muf jedoch eine Begrenzung
der Kraftanlagen annehmen, wenn denn seine hier nicht zu erérternde Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen kosmologische Giiltigkeit haben soll.?> Zur Begriindung der Begrenztheit notiert er: ,,Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es wiirde eine unendlich wachsende Kraft
voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernahren, mit Uberschufs ernahren!“”* Die Argumentation hat Uberzeugungskraft im Hinblick auf die Unverdnderlichkeit der Kraftmenge: Die Annahme einer unendlich wachsenden Gesamtkraft ist absurd. Doch sind, so ist hier gegen
Nietzsche einzuwenden, unendlich wechselnde Kraftkombinationen innerhalb der gleichbleibenden Kraftmenge keineswegs ausgeschlossen, wenn denn die Kraftquanten unendlich teilbar sind.
Unsere Frage nach der Welt orientiert sich an der Problematik des Willens zur Macht. Fiir sie ist wesentlich, da& Nietzsche seinem Begriindungsversuch hinzufiigt, die Annahme, das All sei ein Organismus, widerstreite dem Wesen \| des Organischen.”’ Und so wenig die Welt als All ein lebendiges Wesen ist”’, so wenig ist sie eine Organisation in irgendeinem anderen Sinne. Nun haben
wir gehort, da@ Einheit nur als Organisation Einheit ist. Deshalb kann Nietzsche vom All nicht als von der einheitlichen Welt sprechen. Es ist aufschlufreich, daf er in einer spateren Niederschrift die Méglichkeit zuriickweist, die Welt sei das ,All‘ als Einheit: ,,.Es scheint mir wichtig, da man das All, die Einheit los wird“. Noch aufschlufreicher ist die Begriindung, die er hierfiir
eo
|
gibt. Zu solcher Einheit miifte ,,irgend eine Kraft, ein Unbedingtes* gehéren. ,,Man wiirde nicht umhin kénnen, es als héchste Instanz zu nehmen und *
NachlaB, WM
1067; GA XVI, 401; [Juni—Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 335].
*° Vel. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 180ff. %
Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[213]; KGW V 2 423.
”
Ebd. - Vgl. auch Nachla&; GA XII, 60; [Frithjahr—Herbst 1881, 11[201]; KGW V 2, 420]: ,, Wir miissen es (sc. das All) als Ganzes uns gerade so entfernt wie méglich
von dem Organischen denken!“
"8 Die frobliche Wissenschaft 109; KGW V 2, 145.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Gott zu taufen.“ Zur Konstituierung der Einheit des Alls bediirfte es eines
urspriinglich Griindenden, welches die totale Vielheit organisierte. Damit
aber verfiele man dem von Nietzsche bekampften metaphysischen Vorurteil
So fordert er: ,,Man muf das All zersplittern; den Respekt vor dem All vers lernen; das, was wir dem Unbekannten Ganzen gegeben haben zuriicknehmen fiir das Nachste Unsre.“®? Damit verwirft Nietzsche aig: driicklich den Gedanken, die Welt kénne in dem Willen zur Macht als einem
faktisch bestehenden Seinsgrund verwurzelt sein. ,Die* Welt ist kein All als Einheit, wenn denn alle Einheit Organisation
ist. Gibt es doch keine sie zu einem Ganzen organisierende Grundkraft. Von einer Welt zu sprechen hat dann fiir Nietzsche nur die Bedeutung, da8 er eine begrenzte Kraftmenge annimmt, die in unablissiger Veranderung be-
griffen ist. Um begrenzte Kraftmengen handelt es sich auch, wenn Nietzsche von der organischen Welt, der unorganischen Welt und dgl. in einem bereichhaften Sinn redet. Solche ,Welten‘ existieren nicht fiir sich, auch stellen sie keine organisierten Einheiten dar. Es handelt sich dabei um Einteilungen
aus letztlich heuristischen Griinden.
Die Welt‘ ist Chaos, wie Nietzsche sagt'”’: Gesetzlosigkeit von Aggregationen und Disgregationen von Kraften. Da die Welt nicht ein organisiertes Ganzes ist, so gibt es auch nicht den Willen zur Macht als das diese konstituierende ens metaphysicum. Es existieren nur Vielheiten von Willen zur | Macht, der Wille zur Macht existiert nicht.
%
Nachla&, WM 331; GA XV, 381; [Ende 1886—Frithjahr 1887, 7[62]; KGW VIII 1, 325]. — [S. auch schon Nachlaf Frithjahr—Herbst 1881, 11[201]; KGW V 2, 420: ,,Das modern-wissenschaftliche Seitenstiick zum Glauben an Gott ist der
Glaube an das All als Organismus: davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsaglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgétterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! [...] Phantasterei! - Wenn das All ein Organismus werden kénnte, wire es einer geworden!“]
—_ ———
men, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Ver-
0 So fiihrt Nietzsche z. B. im Nachla& (November 1887-Marz 1888, 11[74]; KGW VIII 2, 279; WM das Chaos“.
711) aus, ,,— da& die Welt durchaus kein Organism ist, sondern
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
9. ,Die‘ Willen zur Macht in ,der‘ Welt
Uber das, was einen Willen zur Macht kennzeichnet, ist das Wichtigste bereits gesagt worden. Im folgenden soll Seiendes in seiner Besonderheit als Machtwille in der Welt aufgewiesen werden. | Alle Seienden werden von Nietzsche als Herrschaftsgefiige, als hier-
[ archisch organisierte Machtquanten aufgefa&t. Auch der Mensch ist, wie wir schon gehort haben, ein solches Gefiige. ,,- Was der Mensch will, was jeder
kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von
—
Macht.“'' Jeder ,Trieb‘ in ihm ist selber ein Wille zur Macht. Jeder ist ,,ei- |
\
ne Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen iibrigen Trieben aufzwingen méchte“'™. Triebe schlieBen sich zusammen, um den Gegensatz zu anderen Triebkomplexen auszutragen. Die Gegensatze
der Triebe fiihren zu unaufhérlichen Verschiebungen der Machtkonstellationen: ,,— durch jeden Trieb wird auch ein Gegentrieb erregt“'”. Wie in allem, was ist, so muf auch im Menschen ,,alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad— und Kraftverhiltnissen, als ein
Kampf ...“' gedeutet werden. In diesem Sinne hat Nietzsche das ego als |
»Mehrheit von personenartige Kraften“ beschrieben, ,,von denen bald diese, bald jene im Vordergrund“ stehe und ,,nach den anderen, wie ein Subjekt
nach einer einfluSreichen und bestimmenden Aufenwelt“ hinsehe. Die Herrschaft innerhalb der Triebkomplexe wechselt:
,,Der Subjectpunkt
| dow herum.“'® Dieser darf keineswegs als stabiles Eins verstanden werden. Es ist nicht angebracht, hinter der Vielheit unserer Affekte ,,eine Einheit anzusetzen: es geniigt sie als eine Regentschaft zu fassen“!%, !
Nachla& Friihjahr 1888, 14[174]; KGW VIII 3, 152 (WM 702).
1 Nachla&, WM 481; GA XVI, 12; [Ende 1886—Friihjahr 1887, 7[60]; KGW VII 1, 323}. 3 Nachla&®; GA XI, 283. [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540]. 4 Nachla& Herbst 1887, 9[91; KGW VIII 2, 49 (WM 552).
'°5 Nachla&, GA XI, 235; [Herbst 1880, 6[70]; KGW V 1, 541f. [KGW liest m. E. unrichtig: »Das Subjekt springt herum“. Ein Unterschied ix der Sache ist damit nicht gegeben.]
106 Nachla&, GA XIII, 245; [August-September 1885, 40[38]; KGW VII 3, 379]. —In
einer anderen NachlaSaufzeichnung heif&t es zum Menschen ,,als Vielheit“: ,,Es wire falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen absol Monarchen zu schlieBen (die Einheit des Subjekts)“ (Nachla&8 GA XIII, 243; [sommer—Herbst 1884, 27[8]; KGW VII 2, 276f.]). — Nietzsche spricht gelegentlich von einer ,,Art Aristokratie von ,Zellen‘, in denen die Herrschaft ruht“ (Nachla8, WM
490; GA
XVI, 16; [August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382]). Er hebt so die
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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IM , b ganischen gibt es nichts anderes als komplexe Zusammenhange von Machtquanten, , eine Vielheit von mitein-
ander kimpfenden Wesen“,"”” von denen jedes in seiner besonderen Perspek-
tivitét gemeinsam mit anderen Quanten oder in Gegensatz zu ihnen um Herr-
schaft innerhalb relativer Einheiten ringt. Unter diesem Aspekt erscheint selbst ein Protoplasma ,,als eine Vielheit von chemischen Kréften“™, der ,Einheit‘ nur zukommt, insofern sich die Vielheit als sich abschirmendes Zusam-
|
menspiel ,zu bedeuten‘ gibt. Vom Menschen bis zum Protoplasma herab gilt
nun, dafs das Lebendige infolge der Vielheit der in ihm wirksamen Perspektiven das ihm Entgegenstehende in vielfaltiger Weise wahrnimmt. Was ihm
entgegensteht, ist u. U. nur zeitweise das ihm Entgegenstehende. Ein Organismus kann sich das ihm anfanglich Fremde einverleiben, ist doch Einverleibung eine Grundweise, in der das Machtwollen wirksam ist. In jedem Falle bedarf das Machtwollen des ihm Widerstehenden. ,,.Der Wille zur Macht
kann sich nur an Widerstdnden auGern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, — dies die urspriingliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopo-
dien ausschickt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor . allem ein Uberwltigen—wollen, ein Formen, An— und Umbilden, bis endlich das Uberwiltigte ganz in die Macht des Angreifers iibergegangen ist und denselben vermehrt hat. — Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfallt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Wil-
len auseinander.“'” ,,Das sich theilende Protoplasma 1/2 + 1/2 nicht = 1, sondern = 2“, notiert Nietzsche’"’. Vielheit auch im je dominierenden 107 Nachla®; [Mai—Juli 1885, 35[59]; 108 Nachla&; GA XIII, 227; [Mai—Juli 109 Nachla& Herbst 1887, 9[151]; KGW
Machtwillen hervor. KGW VII 3, 259]. 1885, 35[58]; KGW VII 3, 259). VIII 2, 88 (WM 656). — Vgl. NachlaG Frithjahr
1888, 14[174]; KGW VIII 3, 152 (WM 702). - [Zur Teilung und Assimilation bei den niedersten Lebewesen bis hin zur Konstitution von Kasten bei den héheren
Organismen s. a, Nachlaf Friihjahr—-Herbst 1881, 11[134], KGW V 2, 388ff.].
1
Nachla&; GA XIII, 259, vgl. XIV, 325; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[68]; KGW
VIII 1, 90, vgl. Herbst 1885, 43[2]; KGW VII 3, 439]. [Vgl. Nachlaf& Herbst 1887, 9[98], KGW VIII 2, 55f.: ,.Keine Subjekt-,Atome‘. Die Sphire eines Subjektes be-
stiindig wachsend oder sich vermindemd — der Mittelpunkt des Systems sich bestiindig verschiebend —; im Falle es die angeeignete Masse nicht organisieren kann, zerfallt es in 2. Andererseits kann es sich ein schwacheres Subjekt, ohne es zu vernichten,
zu seinem Funktionar umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen
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Wenn die Welt der Wille zur Macht ist und nichts auGerdem, so miissen auch die Vorgiinge im unorganischen , Wirklichkeitsbereich‘ als Machtkémpfe gedeutet werden. Nietzsche nimmt diese Deutung immer wieder im Zusammenhang seiner Kritik am mechanistischen Denken vor. Daf er diesem seine ,,Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-willens“ entgegenstellt, haben wir schon gelegentlich der Erérterung von Schlechtas
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
—_——
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,zweiter Probe‘ vernommen!"'. In der sachgebotenen Ausfiihrlichkeit kann hier auf Nietzsches Kritik nicht eingegangen werden. Wir miissen uns auf einige Hinweise beschrinken, aus denen erhellen soll, wie er von seiner | » Theorie‘ her die des Mechanismus kritisiert. »Mechanik“ reduziert die Welt ,,auf die Oberfliche“, um sie ,,,begreiflich““
zu machen. Sie ist ,,eigentlich nur eine Schematisir— und Abkiirzungskunst, eine Bewiltigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks, — kein ,Verstehen‘, sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verstdndigung“'"*. Mechanistisches Denken ,,imaginirt* die Welt so, ,,daf sie berechnet werden kann“. Es fingirt ,,ursachliche Einheiten [...], ,Dinge‘ (Atome), deren Wirkung
constant bleibt“. Wie hierbei die Ubertragung unseres falschen Subjektbegriffs als einer festen Ich—Einheit auf den ,,Atombegriff* wie auch auf den ,,Dingbegriff* erfolgt, so steckt auch unsere vorgetauschte ,Subjektivitat‘ z. B.
hinter dem mechanistischen Bewegungsbegriff wie auch dem ,, Thatigkeitsbegriff (Trennung von Ursache-sein und Wirken)*. Die Mechanik hat nun nicht nur dieses psychologische Vorurteil zu ihrer Voraussetzung, sondern auch das Vorurteil, das uns unsere ,,Sinnensprache“ — vor allem beim Begriff
der Bewegung — unterschiebt. In der mechanistischen Weltdeutung haben wir »unser Auge, unsere Psychologie immer noch darin“.''’ Was das konkret besagt, kann am Beispiel des Begriffs Ursache erlautert werden. In einem
besonders aufschlu@reichen Nachlaftext Nietzsches, aus dem nur einige Passagen herangezogen werden kénnen, heift es: ,,Psychologisch nach-
eine neue Einheit bilden. Keine ,Substanz‘, vielmehr Etwas, das an sich nach Verstirkung strebt; und das sich nur indirekt ,erhalten‘ will (es will sich #berbieten —).]
' S. oben S. 36f. "2 Nachla&; GA XIII, 85; [Sommer 1886—Herbst 1887, 5[16]; VIII 1, 194]. "3 Nachla8 Friihjahr 1888,
Aufzeichnung (= WM
14[79]; KGW
VIII 3, 51 (WM
635). - In derselben
634) notiert Nietzsche, es mache keinen Unterschied, ob
wir von ,,der Fiktion eines Kliimpchen—Atoms oder selbst von dessen Abstraktion,
dem dynamischen Atom“, ausgehen. In diesem wird ,,immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, — d. h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten.“
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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gerechnet, kommt uns der ganze Begriff aus der subjektiven Uberzeugung,
daf wir Ursache sind, nimlich, da8 der Arm sich bewegt [...] wir unterscheiden uns, die Thater, vom Thun und von diesem Schema machen wir
iiberall Gebrauch, — wir suchen nach einem Thiter zu jedem Geschehen .. [...] Wir suchen nach Dingen, um zu erkliren, weshalb sich etwas verdndert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes ,Ding‘ und ,Ursubjekt‘.. [...] Endlich begreifen wir, daf Dinge, folglich auch Atome nichts wirken: weil sie gar nicht da sind ... da& der Begriff Causalitit vollkommen unbrauchbar ist — [...]. Es giebt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den
Muskel von seinen ,Wirkungen‘ getrennt denke, so habe ich ihn negirt ...“"" Wir miissen alle ,,Zuthaten“ unserer irrtiimlichen subjektiven Uberzeugung ,eliminiren“, um zu dem zu gelangen, was im mechanistischen Wirklichkeitsverstandnis verdeckt ist. Wir finden dann ,,dynamische Quanta, in einem
Spannungsverhiltni zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhaltnif zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben -.“'” Auch fiir den unorganischen , Wirklichkeitsbereich‘ gilt der Satz, ,,daf alle treibende Kraft Wille zur Macht ist“. Eine andere Kraft gibt es nicht. Gerade das agierende und reagierende Treiben, die Mehrung und Minderung von Kriften, werden als diese ,,in unserer Wissenschaft nicht
bedacht, das Bedenkenswerte bleibt hinter dem Ursache—Wirkung—Schema verborgen. |!’ 4 Nachla& Friihjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 66£. (WM 551). "'S Nachla& Friihjahr 1888, 14[79]; KGW
VIII 3, 51 (WM
635).
"6 Nachla& Frihjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 92 (WM 688). —Man darf Nietzsche nicht miSverstehen, wenn er schreibt: ,,Der siegreiche Begriff ,Kraft‘*, mit dem unsere
Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Erginzung: es mu& ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als ,Willen zur Macht‘“ (Nachla8, WM 619; GA XVI, 104). Deleuze bezeichnet diesen Satz als ,,un
des textes les plus importants que Nietzsche écrivit pour expliquer ce qu'il entendait par volonté de puissance“ (Nietzsche et la philosophie, Paris *1970, 56). Er nimmt Nietzsches Ausfiihrung, der physikalische Kraftbegriff bediirfe der Erginzung (,complément“) durch den Willen zur Macht, freilich allzu wértlich. Zwar schreibt er zu recht: ,,La volonté de puissance [...] n'est jamais séparable de telle et telle forces déterminées“. Es ist ihm auch zuzustimmen, wenn er ausfiihrt: ,,La volonté de puissance ne peut pas étre séparée de la force, sans tomber dans l'abstraction métaphysique.“ (A.a.0., 57) Die Problematik seiner Interpretation tritt jedoch zutage, wenn er
hinzufiigt: ,,Inséparable ne signifie pas identique“, und die Unterscheidung einfiihrt: »La force est ce qui peut, la volonté de puissance est ce qui veut“ (a.a.0., 57). Damit
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Mit dem Ziel, die Konsequenzen aufzuzeigen, zu denen Nietzsche in der Ausarbeitung seiner Lehre vom Willen zur Macht getrieben wird, sollen in diesem Zusammenhang noch zwei Probleme erértert werden: das der Wabr-
.differenziert‘ er, wo Nietzsche nicht ,differenziert*, nicht differenzieren darf, ohne die innere Geschlossenheit seines Denkens aufzugeben. Es sei fiir diesen Zusammenhang tiber das schon Ausgefiihrte hinaus nur noch auf Nietzsches Ausfiihrungen im Aphorismus 36 von Jenseits von Gut und Bose hingewiesen, in denen es darum geht,
yalle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht“. ,,, Wille‘ kann natiirlich nur auf , Wille‘ wirken [...], man muss die Hypothese wagen, ob nicht iiberall,
wo ,Wirkungen‘ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thatig wird, eben Willenskraft, Willens—Wirkung ist“ (KGW VI 2, 51). Nietzsche gebraucht den Kraftbegriff in seinen Schriften in zweierlei Bedeutung: zum einen im Sinne des mechanistischen Vorstellens, zum anderen im Sinne von , Wille zur Macht‘. Jener mu& letztlich genealogisch von
diesem her abgeleitet werden. Zwar kann Nietzsche, wenn er von der mechanistischen Denkweise ausgeht, von der Notwendigkeit einer Ergdnzung des Kraftbegriffs ,der Physiker‘ sprechen, die Deleuze als Forderung nach ,,addition“ (er gebraucht in diesem
Zusammenhang auch das Wort ,,ajouter*) mit einem ,inneren Willen‘ versteht (a.a.O., 57). Nietzsche denkt hier aber in Wahrheit so wenig ,additiv‘, wie die in einem anderen Aphorismus (WM 634; [Friihjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 49ff.]) verlangte
Entfernung des popularen mechanistischen Notwendigkeitsbegriffes eine blof substrahierende Bedeutung hat. Was sich aus der Ersetzung des mechanistischen
Kraftbegriffes durch den Nietzsches fiir das Verstandnis der Wirklichkeit ergibt, la&t ein fundamentales Neubedenken der Vorgiange in der Natur unumganglich werden, wobei keinem ,Restbestand‘ der Mechanik noch Wahrheit zugesprochen werden kann. Daf Nietzsche damit nicht die ,Niitzlichkeit’ der Mechanik bestreitet, steht auf einem anderen Blatt. Davon wird oben noch die Rede sein. P. Valadier fiihrt in Bulletin Nietzschéen (Archives de Philosophie 36/1 [1973], 141) aus, da& die Arbeiten von Deleuze ,,n'ont pas peu contribué [...] a l'inter-
prétation de la volonté que défend aussi Miiller—Lauter“. Ich stimme ihm im Hinblick auf die Gemeinsamkeit einiger Tendenzen bei Deleuze und mir in den
Erérterungen der Wille- zur- Macht-Problematik zu; durch seinen Hinweis bin ich iiberhaupt erst darauf aufmerksam gemacht worden. Die tiefreichenden Unterschiede der Interpretationen diirfen aber nicht aufer acht gelassen werden. Nur ,exemplarisch‘ konnte von ihnen hier die Rede sein. — [Inzwischen ist der am Anfang dieser Anm. zitierte Text in der KGW publiziert worden (Nachla& Juni—Juli
1885, 36[31]; VII 3, 287. Statt ,,innerer Wille“ mu gelesen werden: ,,eine innere Welt“. Da& jeder physikalischen Kraft eine innere Welt (also eine Vielheit von Machtwillen) zugesprochen werden muf (ohne da man letztlich auf ein ,Einfaches‘ st6t) unterstiitzt meine Deutung. — S. dazu M. Bauer, Zur Genealogie von Nietz-
sches Kraftbegriff, Nietzsche—-Studien 13 (1984), 222f., Anm. 34.]
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Nietzsches Lehre vom Wil len zur Macht
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nebmung im ,unorganischen Bereich‘ und d as der Notwen digkeit in allem | Geschehen. Wir werde n uns zunichst dem zweiten zu. A. Wir beginnen mit einer Fra ge. Weist uns nicht die ausnahmslose
Anwendbarkeit der ,Naturgesetze‘ auf eine urspriingliche Bestandigkeit in | allem durch ihre Formeln bestimmt en Geschehen? Nietzsche schr eibt dazu:
»Die unabinderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinunge bewe n ist kein ,Gesetz‘, sondern ein Machtverhiltnif zwischen 2 oder mehreren Kraften
Zu sagen: ,aber gerade dies Verhiltnif bleibt sich gleich! hei&t nichts Anderes
als: ,ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein‘.“"” Ich
hiite mich, von chemischen ,Gesetzen‘ zu sprechen ... Es handelt sich [...] um eine absolute Feststellung von Machtverhiltnissen: das Starkere wird tiber das Schwichere Herr, so weit dies eben seinen Grad Selbstandigkeit nicht durchsetzen kann.“'’* An dieser Stelle der in den Gesetzen ausgedriickten Notwendigkeit tritt bei Nietzsche die Notwendigkeit, mit der die Kampfe der Machtquanten verlaufen. Wenn gilt, ,,da& eine bestimmte Kraft eben nichts
anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft“, so bedeutet das, ,,daf sie sich an einem Quantum Kraft—Widerstand nicht anders ausla6t, als ihrer Starke gemaf ist —“. Und
dies wiederum
hei&t: ,,Geschehen und Nothwen-
dig—Geschehen ist eine Tautologie.“'” Es scheint bei der Notwendigkeit zu bleiben, von der auch in der mechanistischen Theorie die Rede ist, wenn sie von Nietzsche auch anders interpretiert wird.
|
Da8 dies nicht der Fall ist, wird in Nietzsches Bemiihen deutlich, den
Geltungsanspruch der Naturgesetze in zweifacher Hinsicht zu bestreiten (ohne dabei die Anwendbarkeit, ja Niitzlichkeit dieser Gesetze in Zweifel zu ziehen). Erstens wendet er sich gegen die Uberzeugung, die Naturgesetze seien von
zeitloser Giiltigkeit; zweitens weist er die Auffassung zuriick, in diesen Gesetzen werde Geschehen fundamental erfaft. So schreibt er: ,, Wir kénnen von keinem ,Naturgesetz‘ eine ewige Giiltigkeit behaupten, wir kénnen von keiner chemischen Qualitat ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaflichen absoluten Fluf des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermége unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flachen hinlegen,
"7 Niachla®, WM 631; GA XVI, 109; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[139]; KGW VIII 1, 133f). "8 Nachla&, WM 630; GA XVI, 108f.; [Juni—Juli 1885, 36[18]; KGW VII 3, 283]. "9 Nachla& Herbst 1887, 10[138]; KGW VIII 2, 202 (WM 639).
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
was so gar nicht existirt.“!”° Von den chemischen ,Qualitaten‘”’ heift es an anderer Stelle, da sie flieSen und sich andern, ,.mag der Zeitraum auch
ungeheuer sein, daf die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr: denn sie sind grob [...] es ist immer ein Fehler bei der Verwirklichung, folglich eine gewisse Spannweite, innerhalb deren das Experiment gelingt. Aber ebenfalls innerhalb derselben ist die ewige Veranderung, der ewige Fluf aller Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein fiir alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller der Neuheiten wahrend der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht gro& genug ist, um die Formel zu widerle-
gen.“ Die mechanistische Deutung der Wirklichkeit, von den tauschenden Vorurteilen der Sprache, der Sinne und der Psychologie‘ geleitet, nimmt die fundamentalen Veranderungen kleinster und feinster Art nicht zur Kenntnis. Sie simplifiziert, indem sie stabile Einheiten fixiert, zwischen denen sie
Verbindungen konstruiert. Sich im Groben haltend, stellt sie auf der Grundlage solcher Verbindungen Gesetze fest, denen sie unverriickbare Notwendig-
keit zuspricht. Doch solche ,Notwendigkeit‘ ist in Wahrheit nicht unverriickbar, ist iiberhaupt nicht Notwendigkeit. Unablassiges Anderswerden kommt noch dem Kleinsten und Feinsten zu. Nichts bleibt dasjenige, was es zu einem
Anwendung bringen zu kénnen. Hinter der ,unwahren Notwendigkeit‘ der ; Mechanik sucht Nietzsche die ,;wahre Notwendigkeit‘ aufzuweisen. Sie besteht , darin, da jedes Machtquantum zu jeder Zeit nur eine bestimmte Konsequenz | in seiner Relation zu den anderen Machtquanten ziehen kann. B. Auch die unorganischen ,Seienden‘ sind Willen zur Macht. Ein Macht-. wille sucht z. B. einen anderen Machtwillen zu iiberwailltigen. Zur Uberwiltigung geh6rt eine — je spezifische - Weise von ,Erkennen‘ desjenigen, das
rer a —__..
Zeitpunkt ist. Seine Verainderungen iiberschreiten unter Umstinden auch jene ,gewisse Spannweite‘, die gegeben sein mu, um ein Gesetz, eine Formel in
iiberwaltigt werden soll. Kein Wille zur Macht ist ein ,blinder Wille‘. Daher
0 Nachla& Friihjahr—Herbst 1881, 11[293]; KGW V 2, 452.
"1 Daf es in Wahrheit keine Qualititen gebe, steht am Schlu& des im folgenden zitierten Textes. Gibt es doch nur die einzige Qualitat , Wille zur Macht‘.
2 NachlaG Friihjahr—Herbst 1881, 11[149]; KGW V 2, 397. — [Wir diirften nur von dbnlichen ,Qualitaten‘ in den Naturwissenschaften sprechen statt von gleichen: ,,Es kommt
nichts zweimal
vor, das Sauerstoff—atom
ist ohne seines Gleichen, in
Wahrheit, fiir uns geniigt die Annahme, daf es unzahlige gleiche giebt.“ Nachla&
a.a.0., 11[237], KGW V 2, 4296]
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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ou ee 3 jst Nietzsche gendtigt, ein ,,,Erkennen‘“”, ein ,, Wahrnehmen auch fiir die | unorg Welt“ einzuraumen. In einigen nachgelassenen Aufzeichnun.
“
.
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gen finden wir sparliche Andeutungen hierzu. Er sucht ein solches Wahr-
nehmen in dessen Unterschied zum Wahrnehmen in der organischen Welt } zu charakterisieren. Dabei geht er so weit zu sagen, ,,in der chemischen Welt“
herrsche ,,die scharfste Wabrnebmung der Kraftverschiedenheit“. Schon ein Protoplasma hat, als Vielheit chemischer Krifte, demgegeniiber ,,eine unsichere
und unbestimmte Gesammt-Wahrnehmung eines fremden Dings“. Unsicherheit und Unbestimmtheit riihren daher, da die vielen Kriifte ,,miteinander kimpfende Wesen“ sind, deren Gegensiatzlichkeit auch dann zum Austrag kommt, wenn das Protoplasma ,,sich der AuSenwelt gegeniiber filet“. Die Schirfe der Wahrnehmung, die den chemischen Kriften als solchen eigen sein soll, liegt in der Sicherheit und Bestimmtheit. Diese kénnen nur in ,,festen
Wahrnehmungen“ gegeben sein, welche Nietzsche dem Unorganischen in der
Tat zuspricht. Insofern Festigkeit im Sinne von Bestindigkeit das Kriterium des traditionellen Wahrheitsbegriffes ausmacht, kann er vom Wahrnehmen }] innerhalb der unorganischen Welt,sagen: ,,da herrscht , Wahrheit‘!“'* Ich glaube, man kann eine kaum verhiillte Sehnsucht Nietzsches nach jener ,Wahrheit‘ aus diesen und anderen Aufzeichnungen heraushéren, nach der Wahrheit, deren Destruktion doch ein Hauptanliegen seiner Philosophie bildet. Diese Sehnsucht klingt auch an, wenn er notiert, daf die hinter dem organischen
Leben stehende ,,unorganische Welt ... das Hochste und Verehrungswiirdigste*
,
sei. ,— Der Irrthum, die perspectivische Beschranktheit“ fehle da. Alles Organische stelle schon ,,eine Spezialisierung* dar. ,,Der Verlust bei aller
Spezialisierung* besteht offenkundig im Verlust an Scharfe und Festigkeit der Wahrnehmungen. Im Mangel an letzteren lage dann die ,perspektivische Beschranktheit‘, von der Nietzsche spricht.’” ,,Alles Fihlen und Vorstellen "3 Nachla&; GA XIII, 230; [Sommer 1883, 12[27]; KGW VII 1, 442].
"4 Nachla&; GA XIII, 227£.; [Mai-Juli 1885, 35[51], [53], [58], [59]; KGW VII 3, 258f.). 25 Nachla&; GA XIII, 228; [Herbst 1885-Frihjahr 1886, 1[105]; KGW VIII 1, 31). — Vel. dazu Nachla& Friithjahr—Herbst 1881, 11[70]; KGW V 2, 366: ,,Grundfal-
sche Werthschatzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehdren! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflachlichkeit, der Betrug los [...] Die ,todte‘ Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, diinkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ,todte Welt‘ tiberzugehen — und die gré&te Begierde der Erkenntni&
geht dahin, dieser falschen diinkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt [...] Laf&t uns die
Riickkehr in's Empfindungslose nicht als einen Riickgang denken! Wir werden
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
und Denken“ miisse ,,urspriinglich eins gewesen sein“, heifst es in einer anderen,
Aufzeichnung. ,,Im Unorganischen muf diese Einheit vorhanden sein: dena das Organische beginnt mit der Trennung bereits.“'”° Das Eins—sein de Unorganischen bildet die unabdingbare Voraussetzung fiir die Festigkeit von dessen Perspektiven. ,,Alles Organische unterscheidet sich vom Anorganischen , daf es [...] niemals sich selbst gleich ist, in seinem Processe.“!”” Das Anorganische ist also das sich selber Gleiche. Hier projiziert Nietzsche
selber die Identitat in das ,Verehrungswiirdigste‘ hinein, wahrend er sie doch sonst iiberall als blo&e Projektion entlarvt.
Wir diirfen dieser sich ja nur in sparlichen Andeutungen findenden Inkonsequenz Nietzsches nicht allzu groSes Gewicht beilegen. Der breit ausgefiihrte Grundgedanke Nietzsches ist, daf es kein Eins im Sinne von Bestandigkeit gibt. Einheit ist immer nur als Organisation eines Gegen— und Miteinander
von Machtquanten Einheit. Die hierin gegebenen ,,Relationen constituiren erst Wesen“*, Wobei immer zu beachten ist: ,,Da% ein Ding in eine Summe { | von Relationen sich auflést, beweist nichts gegen seine Realitat.“'” Dies gilt natiirlich auch fiir die ,kleinsten‘ unorganischen Einheiten. Kehren wir noch einmal zu Nietzsches AuGerung iiber die unorganische Welt zuriick: da herrsche ,Wahrheit‘! In derselben Aufzeichnung ist davon die Rede, da mit der organischen Welt der ,Schein‘ beginne. Wir kénnen | nun Nietzsches Kritik am traditionellen Gegensatzschema Wahrheit — Schein heranziehen. Fiir unseren Zusammenhang muf der Hinweis auf ihr Ergebnis geniigen. Indem Nietzsche vom je perspektivischen Uberwaltigen ausgeht, | wird jede ,Wahrheit* zum ,Schein‘ und jeder ,Schein‘ zur ,;Wahrheit‘. Am Ende
lést sich der Gegensatz auf. Jede Erkenntnis, jede Wahrnehmung erweist sich als ,Zurechtmachung‘ von etwas im Dienste eines jeweilig dominierenden Willens zur Macht. Die Zurechtmachungen haben die Form von ,Fest—stellungen‘ des in Wirklichkeit unaufhérlich sich Wandelnden. Um zurechtmachende
Fest—stellungen des Widerstehenden handelt es sich bei den Perspektiven des Unorganischen (denen héchstens eine relative ,Festigkeit* zugesprochen werden
ganz wabr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versobnen so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt.“
6 Nachla&; "7 Nachla&; " Nachla& Nachlaf
GA XIII, 229; [Sommer GA XIII, 231; [Sommer Friihjahr 1888, 14[122]; Frithjahr—Herbst 1881,
1883, 1883, KGW 13[11];
12[27]; KGW VII 1, 422]. 12[31]; KGW VII 1, 424]. VIII 3, 95 (WM 625). KGW V 2, 518.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Mach t
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kann") ebenso wie bei den Wahrnehmunge n ,aus vielen Augen‘, wie Nietzsche sie in der organischen Welt konstatiert. Alles Seiende stellt fest, und zwar mit
Notwendigkeit. Das Fest~stellen ist ein Grundzug des Wille ns zur Macht Nun 4ndern sich Fest—stellendes und Fest—gestelltes fortla ufend. Will eit
fest-stellendes Machtquantum herrschendes Machtquantum bleiben, so muf
es auf immer neue Weise (denn es selbst andert sich unaufhGrlich und damit
andert sich seine Perspektivik) das sich andernde Beherrschte immer neu fest-stellen. Das Wahrnehmen aller Willen zur Macht lft sich formal beschreiben als die Beziehung von Geschehnissen zueinander, die sich nicht als Geschehnisse erfassen kénnen, sondern sich wechselseitig fixieren, um — dem Geschehen
Tribut zollend — jede Fixierung immer wieder fahren lassen zu miissen."!
Von den Erérterungen zur Wahrnehmung in der unorganischen Welt ausgehend, haben wir das Fest-stellen als Wesenszug herausgearbeitet, der allen Willen zur Macht zukommt. Blicken wir auf die , Wirklichkeitsbereiche‘
zuriick, die wir, Nietzsches Ausfiihrungen folgend, durchmustert haben, so
la&t sich sagen, da wir diberall dieselbe Grundgegebenheit fanden: Prozesse von Aggregationen und Disgregationen der Willen zur Macht. Es fragt sich,
ob angesichts dieses Sachverhalts rechtens von ,Bereichen‘ gesprochen werden kann. Welche Bedeutung kommt Nietzsches Unterscheidung der organischen von der unorganischen Welt zu? Keineswegs diirfen wir eine qualitative Verschiedenheit solcher Bereiche annehmen. Das Protoplasma ist als Synthesis chemischer Krafte nicht etwas essentiell anderes als die chemischen Krafte selber. Daf Nietzsche keine Grenzen zwischen ,den Welten‘ zieht, zeigt sich selbst dort, wo er in der dargestellten problematischen Weise von der Besonderheit des ,unorganischen Wahrnehmens‘ spricht. Vom ,,Ubergang aus der Welt des Anorganischen in die des Organischen“ ist da die Rede.” Wenn er einmal das Organische als Spezialisierung des Unorganischen faft und ein andermal ausfiihrt, es gebe keine unorganische Welt (worauf in anderem
Zusammenhang schon eingegangen wurde™), so liegt hierin nur scheinbar ein Widerspruch. Im ersten Falle denkt er ,genealogisch‘.'* Im zweiten Falle '30 Ich erinnere an Nietzsches Hinweis, daf z. B. der Sauerstoff in jedem Augenblick etwas Neues sei. S. oben S. 64. "1 Zur Problematik, die sich in diesem Zusammenhang fiir Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ergibt, s. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 95-115. ' Nachla&; GA XIII, 227; [Mai—Juli 1885, 35[59]; KGW VII 3, 259].
S'S. S. 536.
' Damit soll nicht gesagt sein, daf sich in Nietzsches Ausfiihrungen zum Verhiltnis Unorganisches — Organisches nicht Widerspriiche fanden. Wird das Organische
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
wendet er sich gegen das mechanische Denken: in der unorganischen Welt herrschen nicht Druck und Sto, auch in ihr gibt es nur das Gegeneinander von ,Organismen‘ in jenem Sinne, in dem auch Volk, Staat, Gesellschaft
Organismen sind. Wir miissen also bei Nietzsche einen engen von einem weiten Begriff des Organismus unterscheiden. Daf wir uns vor der Annahme hiiten miissen, die ,organische Welt‘ als ,Wirklichkeitsbereich‘ werde umfaft von
der organischen Welt als Wirklichkeit im ganzen, bedarf nach dem weiter oben Ausgefiihrten’* kaum noch der Erwahnung. Die Welt ist nicht organische Welt, sondern Welt von ,Organismen‘: das Chaos von fortlaufend sich wandelnden Machtorganisationen. .
10. Wille zur Macht als Interpretation Wir haben uns Nietzsches Deutung der Wirklichkeit vor Augen gefiihrt. Nun gibt es viele solcher Deutungen. Vermehrt Nietzsches Philosophie nur ihre Zahl, wie wir schon zu Anfang dieser Abhandlung fragten? Oder hat sie einen Vorzug gegeniiber den anderen? Wir wollen hier nicht nach einem Vorzug fragen, der ihr von einem anderen Denken her eingeradumt werden
kénnte. Es geht uns um Nietzsches Selbstverstandnis. Er selbst erhebt einen Anspruch auf Uberlegenheit gegeniiber anderen Weltdeutungen. Indem wir sein Denken auf diesen Anspruch hin befragen, stoSen wir auf das Problem der Begriindbarkeit seiner ,Lehre vom Willen zur Macht‘.
Wir gehen vom Aphorismus 22 in Jenseits von Gut und Bése aus.'*° Nietzsche weist dort auf die Unzulanglichkeit der mechanischen Weltdeutung hin. Wir kennen seine Argumente schon und haben sie auf der Grundlage anderer Aphorismen und Fragmente, in denen sie eine ausfiihrlichere Darstellung erfahren, erértert oder wenigstens genannt’’”’. Fiir das, worum es uns hier geht, ist wesentlich, daf er ,den Physikern‘ schlechte ,Philologie‘ einmal aus dem Unorganischen ,abgeleitet‘, so heift es in einer anderen Nieder-
schrift, das Organische (im engeren Sinne) sei nicht entstanden (Nachla&; GA XIII, 232; [Friihjahr 1884, 25[403]; KGW VII 2, 113]). Auch wird die ,Entwicklung‘
vom Unorganischen bis zum Menschen manchmal als Aufstieg, manchmal als Abstieg aufgefaft. BS 6S. 56f.
36 KGW VI 2, 31. 87 Vel. oben S. 37 und S. 60ff.
—i
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
vorwirft. Die ,,,Gesetzmissigkeit der Natur“ sei »kein Thatbestand,
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kein
,Text““, sondern ,,Interpretation“. Er stellt dieser seine eigene Deutung gegeniiber: ,,Es kénnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch—riicksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtanspriichen herauszulesen verstiinde,
— ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem
, Willen zur Macht‘ dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort ,Tyrannei‘ schliesslich unbrauchbar oder schon als schwachende und mildernde Metapher — als zu menschlich — erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, namlich dass sie einen snothwendigen‘ und ,berechenbaren‘
Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut
die Gesetze feblen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ Nietzsche fiigt dieser Ausfiihrung nun noch hinzu: ,,Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser —“ . Der mogliche Einwand der ,Physiker‘ wird nicht nur hingenommen, er
wird offenkundig angenommen. Wie die mechanistische Theorie ist auch die Machtwillen—Theorie ,nur‘ Interpretation. Steht nun nicht Interpreta- (\ tion gegen Interpretation? Muf man dann nicht sagen, daf& beide den gleichen Wahrheitsanspruch erheben diirfen? Doch Nietzsche schreibt, wenn die Physiker jenen Einwand erhdében, so sei es ,um so besser‘. Inwie- |) fern besser, fiir wen besser?
Der Einwand kommt Nietzsches Deutung gelegen. Er enthalt in dem ,auch ... nur‘ das Zugestandnis, die These von der GesetzmaGigkeit der Natur sei
Interpretation. Wird dies aber zugestanden, so befindet man sich auf der Ebene, wo nach dem Interpretieren als solchem gefragt werden muf. Wer sagt, das und das ist Interpretation, der muf die Frage nach dem, was Inter-
pretation iiberhaupt ist, Raum gewahren. Interpretation erweist sich als selber interpretationsbediirftig. Nun beansprucht Nietzsche, das Interpretieren angemessen interpretiert zu haben. Jaspers findet bei Nietzsche ,,die Theorie allen Weltseins als eines blofen Ausgelegtseins, des Weltwissens als einer jeweiligen Auslegung“, welche Theorie ,,aus einer Verwandlung der Kanti- |
schen, kritischen Philosophie“ gewonnen sei.'® ,,Die endlose Bewegung des Auslegens scheint zu einer Art von Vollendung zu kommen im Selbsterfassen
"8 K, Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], 290.
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’ Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
dieses Auslegens: in der Auslegung der Auslegungen.“'’ ,,.Nietzsches Auslegung, die weif, daf alles Wissen Auslegen ist“, nehme ,,dieses Wissen in die eigene Auslegung durch den Gedanken“ hinein, ,,daf$ der Wille zur Macht selber der iiberall wirkende, unendlich mannigfache Antrieb des Auslegens“ sei. ,, Die Auslegung Nietzsches ist in der Tat eine Auslegung des Auslegens und dadurch fiir ihn von allen friitheren, damit verglichen naiven Auslegun-
gen, die nicht das Selbstbewuftsein ihres Auslegens hatten, geschieden.“'” Bei aller Problematik der Nietzsche—Deutung von Jaspers, in deren Zusammenhang diese Ausfiihrungen gehéren™’, ist dies doch richtig gesehen: Alles Wissen ist fiir Nietzsche Auslegung, alles Wissen um dieses Wissen ist! Auslegung von Auslegung. Wir kénnen nach dem von uns hier Ausgefiihrten auch sagen: Die Auslegungen in ihrer Mannigfaltigkeit sind Interpretationen von Machtwillen; daf, sie dies sind, ist ebenfalls Interpretation. Was das ge- | nauer besagt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, soll im folgenden erdrtert werden. Zuerst miissen wir uns die Weite von Nietzsches Interpretations—Begriff, vor Augen fiihren. Alle Willen zur Macht legen aus, interpretieren. So sind| | z. B. auch die perspektivischen Wahrnehmungen des Anorganischen Interpretationen. Und nicht nur alle Wahrnehmungen, alle Erkenntnisse und
alles ,Wissen‘ sind Auslegungen, sondern auch alle Taten und Ausformungen, ja alle Geschehnisse.'** So handelt es sich z. B. ,,bei der Bildung eines Organs
[...] um eine Interpretation“. ,.Der Wille zur Macht interpretirt“, iL
das besagt jeweils: ,,er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenhei-
ten. Blofe Machtverschiedenheifen kénnten sich noch nicht als solche empfinden: es mu ein wachsen—wollendes Etwas sein, das jedes andere wachsen—wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt [...] In Wahr-
heit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr tiber etwas zu werden.“ |
3 A.a.0., 296. 40 A.a.O., 299. ™ Auf sie kann hier natiirlich nicht eingegangen werden. Fiir Jaspers’ Verstdindnis von Nietzsches Auslegung der Auslegung waren insbesondere seine Ausfiihrungen zur Problematik von ,Wahrheit und Leben‘ heranzuziehen (Nietzsche, a.a.O.,
184ff.). '? Vel. Nachla&, GA XIII, 64; [Herbst 1885—Friihjahr 1886, 1[115]; KGW VIII 1,
34]: ,,Der interpretative Charakter allen Geschehens. Es giebt kein Ereigni& an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaSt von einem interpretirenden Wesen.“
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Nietzsche fiigt hinzu: »Der organische Process setzt fortwahrendes Interpretiren voraus.“
Die von Nietzsche hier gewahlte Ausdrucksweise legt ein MiSverstindnis
nahe. Man kénnte meinen, der Wille zur Macht (ob als ein Machtwille ver-
standen oder als der Wille zur Macht im Sinne eines ens metaphysicum mifdeu-
tet) sei ein Subjekt, von dem das Interpretieren pradiziert werden kénne, das | seinerseits die vorgingige Voraussetzung fiir Prozesse bilde. Wir diirfen der
Verfiihrung der Grammatik nicht erliegen und trennen, was untrennbar zusammengehort. So heift es in einer anderen Aufzeichnung: ,,Man darf nicht
fragen: ,wer interpretirt denn?““. Die Frage ist verfehlt, weil ,,das Interpretiren selbst [...] Dasein“ hat’; es ist ,,Dichtung, ,,den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen“'. Das‘ Interpretieren hat nicht ,,Dasein ([...] als
ein Sein“ im Sinne von Bestindigkeit, sondern ,,als ein Proce, ein Werden)“. Wenn wir am Ende des vorigen Abschnitts das Wahrnehmen der Machtwillen
)
als Relation von Geschehnissen zueinander charakterisiert haben, die sich
wechselseitig fest—stellen, so la&t sich unter dem hier herausgearbeiteten Aspekt sagen, dafé sich Machtwillen als stindig wechselnde Interpretationen gegeniiberstehen. Nach alledem wird deutlich, daf Nietzsche gegen den Positivismus
(
ins Feld fiihren kann: ,,Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“'” In den uns inzwischen vertrauten Gedankengangen Nietzsches bewegen wir uns weiterhin, wenn wir in Rechnung stellen, da jede Interpretation | perspektivisch ist. Nietzsche, der die philologische Relation Text — Auslegung
gern zur Erlauterung der fundamentalen Wirklichkeitsbeziige gebraucht'®’, schreibt, derselbe Text erlaube unzahlige Interpretationen’”. Denken wir an die unendliche Teilbarkeit der perspizierenden Machtquanten®, so konnen
|
wir nicht iiberrascht sein, wenn wir in der Fréblichen Wissenschaft lesen: ,,Die
43 Nachla&, WM 643;-GA XVI, 117f. ; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[148]; KGW VIII 1, 137£]. 4 Nachla&, WM 556; GA XVI, 61; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[151]; KGW VII 1, 138]. 45 Niachla8, WM 481; GA XVI, 12; [Ende 1886-Friihjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323].
46 Nachla&, WM 556; GA XVI, 61; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[151]; KGW VII 1, 138). ‘7 Nachla&, WM 481; GA XVI, 11 ; [Ende 1886—Frithjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323). "8 Zum philosophischen ,,Gleichnis der Auslegung“ bei Nietzsche vgl. Jaspers, Nietz'
Sche, a.a.O. [Anm. 30], 2926f.
'® Nachla&; GA XIII, 69; [Herbst 1885—Friihjahr 1886, 1[120]; KGW VIII 1, 35]. 0S. oben S. 55f.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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Welt ist uns [...] noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Méglichkeit nicht abweisen kénnen, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.“ ; Die Perspektivitat jeder Interpretation wird nun zum Problem, das letztlich auf Nietzsches eigenes Philosophieren zuriickschlagt, wenn wir bedenken, daf es unter den unzahligen Auslegungen eines Textes ,,keine ,richtige* Ausflegung" gibt!"*. Wir haben kein Recht, ein ,,absolutes Erkennen“ anzunehmen: |
»der perspektivische, tiuschende Charakter gehért zur Existenz“."* Dann | ist auch jede Weltdeutung nur eine perspektivisch—-tauschende Interpretation,
die mechanistische nicht weniger als diejenige, welche das Weltgeschehen als das Chaos von kooperierenden und miteinander kampfenden Willen zur { Macht versteht. ,Die‘ Welt, als Summe von Kriiften aufgefaGt, ware demzufolge , eine perspektivische Weltinterpretation neben zahllosen anderen. Was kénnte
angesichts der fundamentalen Relativitat allen Weltdeutens zugunsten der
| ,Wahrheit‘ von Nietzsches Interpretation ausgefiihrt werden? Nun hat uns Nietzsche selbst ein Kriterium fiir das gegeben, was er unter Wahrheit versteht. Es beruht in der Machtsteigerung.’** Unter dieses Kriterium wird die ,,unendliche Ausdeutbarkeit der Welt“ gestellt. ,,Jede Ausdeutung* soll sich dabei als ,,ein Symptom des Wachsthums oder des Untergehens“
erweisen.'* Dient eine Deutung der Machtsteigerung, so ist sie im genannten | Sinne wahrer als diejenigen, die das Leben blo erhalten, ertraglich machen, verfeinern oder auch das Kranke separieren und zum Absterben bringen’”*. Wir wollen zunachst die mechanistische Weltdeutung, die Nietzsche ja immer wieder als den wesentlichen zeitgenéssischen Widerpart zu seiner eigenen Philosophie auffa&t"’’, unter dieses Kriterium bringen. In welchem Sinne die mechanistische Denkweise nur ,eine Vorder-
grunds—Philosophie“ ist'**, haben wir uns von Nietzsche schon vorfiihren
'S) Die frobliche Wissenschaft (5. Buch) 374; KGW V 2, 309. 2 Nachla@; GA XIII, 69; [Herbst 1885—Friihjahr 1886, 1[120]; KGW VIII 1, 35]. 83 NachlaB; GA XIV, 40; [April-Juni 1885, 34[120]; KGW VII 3, 180].
4S. S. 46f. 'SS Nachla8, WM 600; GA XVI, 95; [Herbst 1885—-Herbst 1886, 2[117]; KGW VIII 1,
118].
'6 Nachla&; GA XIV, 31; [August-September 1885, 40[12]; KGW VII 3, 365]. 87 Von den Welt—Auslegungen, welche bisher versucht worden sind, scheint heutzutage die mechanistische siegreich im Vordergrund zu stehen“ (Nachla6, WM 618; GA XVI, 103; [Juni—Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 224}).
"8 Nachla&; GA XIII, 82; [April—Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3, 224].
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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lassen?” . Wichtiger noch ist, da8 sie falsch ist. Sie schematisiert, kiirzt ab, || wahlt ,Bezeichnungen‘ um der allgemeinen Verstandlichmachung willen. Sie
fingiert konstante Einheiten, konstante Wirkungen, Gesetze. Sie imaginiert die Welt auf Berechenbarkeit hin. Die ,,gemeinsame Zeichensprache [...] zum Zwecke der leichteren Berechenbarkeit“ dient der Beherrschbarkeit der Natur. Hier stutzen wir. Wenn durch die mechanistische Perspektivik eine solche Beherrschung wirklich wird, die dazu noch standig wichst, so mag sie zwar falsch‘ sein, insofern in ihr das Geschehen in seinen ,wirklichen Ablaufen‘
nicht in den Blick kommt. Ist sie aber nicht im Sinne von Nietzsches Wahrheits-
)
kriterium ,wahrer‘ als alle friiheren Weltdeutungen, da sie die Macht des Menschen wie keine andere zuvor gesteigert hat und steigert? Von daher kénnen
wir dann verstehen, daf sich Nietzsche gelegentlich anerkennend iiber diese Weltdeutung dufert. Sie gilt ihm ,,nicht als die bewiesenste Weltbetrachtung,
sondern als die, welche die gré&te Strenge und Zucht nétig macht und am meisten alle Sentimentalitat beiseite wirft*. Nietzsche spricht ihr sogar eine selektive Funktion zu mit Worten, die uns an die ,Wirkung*‘ erinnern, welche
seine Lehre von der ewigen Wiederkunft hervorrufen soll’; Die mechanistische Vorstellung sei ,,zugleich eine Probe fiir das physische und seelische Gedeihen: mifrathene, willensschwache Rassen gehen daran zu Grunde“.'” Mag die mechanistische Welt—Interpretation auch ,,eine der diimmsten“ sein, ja mag man mit ihr sogar ,,dem Principe der gr6&tméglichen Dummheit“ huldigen’®’, so spricht das doch nicht gegen ihre machtsteigernde ,Wahrheit*. Mag es sich bei ihr auch um eine Oberflichen—Perspektive handeln, es bleibt doch ,,wunderbar, daf fiir unsere Bediirfnisse (Maschinen Briicken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen“. Und mag es sich dabei um ,,sehr grofe Bediirfnisse“ handeln und ,die ,kleinen Fehler‘ [...] nicht in Betracht“ kommen™:
sind wir mit dieser Interpretation die iiber die Natur Herrschenden, so muf es doch unerheblich bleiben, ob die Auslegung, dumm, grob, fehlerhaft ist.
'S° Dazu und zum folgenden s. oben S. 62f. '69 Nachla®; GA XIII, 83f.; [Sommer—Herbst 1884, 26[227]; KGW VII 2, 207]. ‘61 Vel, Nachla& Friihjahr—Herbst 1881, 11[338]; KGW V 2, 471: ,,Die zukiinftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen - und die nicht daran Glaubenden miissen ihrer Natur nach endlich aussterben!“ Nachla&; GA XIII, 82; [April-Juni 1885, 34[76]; KGW
VII 3, 163].
'> Die frobliche Wissenschaft (5. Buch) 373; KGW V 2, 308. — Nachla6, WM GA XVI 103; [Juni—Juli 1885, 36[34]; KGW
618;
VII 3, 288f.].
'* Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[234]; KGW V 2, 429.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Hingegen scheint es nicht ausgemacht zu sein, daf die Einsicht, die Welt sei allein in einer Unendlichkeit perspektivischer Interpretationen der Willen zur Macht gegeben, fiir das Machtwollen férderlich ist — ganz abgesehen von der weiter unten noch zu erérternden Frage, wie denn eine solche Einsicht
iiber den ausschlieflichen Perspektivismus méglich sein kann. Ist die mechanistische Deutung falsch im Sinne von Aufdeckung des wirklichen Geschehens und wahr im Sinne von standnis, so kénnte es sein, da die Willen zur Macht zwar in dem Sinne Weltbild abgesprochen werden mufte,
Nietzsches eigenem WahrheitsverDeutung der Welt als Vielheit von ,wahr‘ ist, der dem mechanistischen gleichwohl aber verfehlt im Sinne des
sich im Nichtwissen um die Relativitat unser
Se
streben lahmt, wahrend
Machtwollen unbefangen und gerade deswegen erfolgreich entfalten lat? Nietzsche selbst weist oft genug auf die Notwendigkeit von Unwissenheit
—
Wahrheitskriteriums von Machtsteigerung. Liegt der Gedanke nicht nahe, daf die Einsicht in die Relativitat unserer Interpretationen unser Macht-
oder gar Selbsttauschung fiir Zusammenhalt wie Machtmehrung jener Organisation hin, die der Mensch ist. Zu unserer ,,Subjekt—Einheit“, in der wir ,,.Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens“ denken miissen, gehért
»die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird iiber die einzelnen Verrichtungen und selbst Stérungen des Gemeinwesens*“: als Bedingung fiir die organisierende Regentschaft. Wir sollen eine Hochschatzung gewinnen ,,auch fiir das Nichtwissen, das Im—Grofen—und—Groben—Sehen,
das Vereinfachen und Falschen, das Perspectivische‘. Insbesondere fiir unseren Geist gilt, ,,daf& es fiir seine Thatigkeit niitzlich und wichtig sein kénnte, sich falsch zu interpretiren*.’* Der ,Psychologe der Zukunft‘ hat zu beachten, daf ,,der gro&e Egoismus unseres dominirenden Willens“ von uns
verlangt, ,,da$ wir hiibsch vor uns die Augen schlieRen“'®. Es ist nun zu zeigen, wie sich fiir Nietzsche letztlich doch, am Mafstab seines eigenen Wahrheitsverstandnisses gemessen, die Bewertung von
mechanistischer Theorie und Theorie des Machtwillens umkehrt. In jener sind namlich die Naturgesetze die eigentlichen Herren, wir sollen uns als die diesen Unterworfenen verstehen. ,,Daf etwas immer so und geschieht,
wird hier interpretirt, als ob ein Wesen in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: wahrend es, abgesehen vom ,Gesetz‘ Freiheit hatte, anders zu handeln. Aber gerade jenes "6 NachlaS, WM 492; GA XVI, 17f.; [August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370f.]
‘
"6 Nachla Friihjahr 1888, 14[27]; KGW VIII 3, 34 (WM 426).
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Nietzsches Lehre yom Willen zur Macht
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So-und-nicht—anders kénnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in
Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen.“'*” ,,Es ist Mythologie zu denken, daf hier Krifte einem Gesetze
gehorchen, so daf in Folge ihres Gehorsams wir jedes Mal das gleiche Phinomen haben.“'** Nietzsche, der bekanntlich hinter allen geistigen
Erscheinungen der abendlandischen Geschichte — und nicht nur dieser —
,Sklaven—Moral‘ wittert, findet sie zu guter Letzt auch hinter der mechanistischen Weltdeutung: ,,Ich hiite mich, von chemischen ,Gesetzen‘ zu sprechen:
das hat einen moralischen Beigeschmack.“ In Wahrheit wird iiberall das
Starkere iiber das Schwachere Herr, da gibt es keine ,,Achtung vor ,Geset-
zen“. Wer sich aber als der Gesetzen notwendig Gehorchende auffaft, der erleidet Einbufe an Gefiihl und Bewuftsein eigenen Machtigkeit und damit Einbufe an dieser selbst. Demgegeniiber will Nietzsche ,,neue Auslegung [...] den zukiinftigen
Philosophen als Herrn der Erde die néthige Unbefangenheit“ geben'”°. Nun schien gerade der radikale Perspektivismus den Wollenden in die Befangenheit zu fiihren. Seine jeweilige Auslegung ist relativ, folglich scheint er als der dies Wissende nur noch in Gebrochenheit denken und mit geschwachter Uberzeugung handeln zu kénnen. Doch dies ist nur der Fall, so sucht Nietzsche zu zeigen, wenn man die Perspektivitat nicht in ihrer letzten Konsequenz bedenkt und auf sich nimmt. Fassen wir seinen Gedankengang zusammen: Alle Inter- | pretationen sind perspektivisch; es gibt keinen absoluten Mafstab, an dem man priifen kénnte, welche ,richtiger‘ ist und welche ,weniger richtig‘ ist; das einzige Kriterium fiir die Wahrheit einer Auslegung der Wirklichkeit besteht darin, ob und in welchem Mafe sie sich gegen andere Auslegungen durchzusetzen imstande ist. Jede Auslegung hat soviel Recht, wie sie Macht | hat. Die Einsicht in die Perspektivitit aller Interpretationen, vor die Nietzsches sLehre vom Willen zur Macht‘ fiihrt, kann demzufolge den Machtstarken das ,gute Gewissen‘ fiir die unbedingte Durchsetzung ihrer ,Ideale* verschaffen. Nur die ,Ideale‘ anderer Machtwillen, anderen Perspektiven zugehirig, stehen
ihrem Wollen entgegen. Keine Werte sind ihnen vorgegeben, die sie binden. Wiirde eine solche Bindung doch eine feststehende welttranszendente oder weltimmanente Autoritit voraussetzen. Autoritat hat aber jeweils nur der
6? Nachla&, WM 632; GA XVI, 110; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[142]; KGW VIII 1, 135]. '68 Nachla&, WM 629; GA XVI, 108; [Ende 1886—Friihjahr 1887, 7[14]; KGW VIII 1, 307]. ' Nachla&, WM 630; GA XVI, 108f.; [Juni—Juli 1885, 36[18]; KGW VII 3, 283]. ' Nachla&; GA XIV, 31; [August-September 1885, 40[12]; KGW VII 3, 365.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
iiberwaltigende Machtwille. So miissen die Starken schlieSlich auch mit dem Glauben daran, sie seien Naturgesetzen unterworfen, brechen, indem sie ihn unter das Wahrheitskriterium der Machtsteigerung bringen. Betrachten wir dies von einem Grundgedanken Nietzsches her: ,,Der moralische Gott“ ist »iiberwunden“.'”! Aber sein ,Schatten“ wird noch gezeigt. Ihn gilt es noch
_2u ,besiegen*.'”* Auch die mechanistische Weltdeutung steht noch in diesem Schatten‘. Der ,moralische Beigeschmack’, der ihren Naturgesetzen anhaftet, verrat es.
Die neue Werte setzende Interpretation kiinftiger Machtiger kann ebenfalls nur perspektivisch sein. Dazu geh6rt, da sie abgrenzt und auswihlt. Vieles nimmt sie, um ihrer Geschlossenheit willen, nicht zur Kenntnis. Das Nichtwissen erhiilt eine konstitutive Bedeutung fiir das Interpretieren zugesprochen, es muf sogar zum Nichtwissenwollen werden. Auch das Vergessen ist fiir das Auslegen der Michtigen — wie fiir jede Auslegung — wesentlich. Das Wissen
um die Perspektivitat selber soll nun aber nicht ,vergessen‘ werden.'”’ Gibt dieses Wissen doch frei fiir die uneingeschrinkte Ubermichtigung. Sollen die zukiinftigen Philosophen zu Herren der Welt werden, so muf ihre Interpretation andererseits auch die dazu ndtige ,inhaltliche Weite‘ haben. Sie muf die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit wie auch in ihren Besonderungen auslegen, um nicht hinter den schon vorliegenden Gesamtdeutungen zuriickzubleiben und dadurch zu unterliegen. Die anderen Welt-| deutungen muf sie als Interpretationen entlarven, die sich selbst nur. mifverstehen kénnen, weil sie sich entweder iiberhaupt nicht als Interpretationen verstehen oder zumindest das Wesen des Interpretierens nicht durchschauen. Dies schlieft nicht aus, daf sie sich einer anderen Interpretation als eines Instruments bedienen kann, soweit diese der Machtsteigerung niitzt, wie das bei der Mechanik in Hinsicht auf die Naturbeherrschung der Fall ist. | Sie fa&t diese Deutung damit nicht als wahr im Sinne von deren eigenem Geltungsanspruch auf. Wenn Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht die Wahrheit iiber die Wirklichkeit auszusagen beansprucht, so gerit sie also nicht in Wider-
spruch mit dem aus dieser Philosophie selber erwachsenden Wahrheitskriterium. Von diesem her gesehen ist sie sogar die einzige konsequente
Weltdeutung. Wir bewegen uns im Zirkel. Solche Zirkelhaftigkeit gehért zu "1! Nachla&, WM
55; GA XV, 183; [Sommer 1886—Herbst 1887, 5[71]; KGW VII
1, 217].
'? Die frobliche Wissenschaft 108; KGW V 2, 145. 3 §. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 118f.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
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allem Verstehen. Nietzsche wei das durchaus, sein Denken wird von diesem
Wissen geleitet. ,,Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als
was er selbst in sie hineingesteckt hat: — das Wiederfinden heisst sich Wissenschaft, das Hineinstecken — Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In Beidem, wenn es selbst ein Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten
Muth zu Beidem haben — die Einen zum Wiederfinden, die Andern — wir
Andern! - zum Hineinstecken!“'”* Letzteres besagt natiirlich nicht, da& die Einen nur wiederfinden, was die Anderen nur hineingesteckt haben. Hineinstecken und Wiederfinden gehéren in der jeweiligen Einheit von Auslegung zusammen. Wohl aber akzentuiert Nietzsche das Hineinstecken als das Entscheidende. Das von ihm Geforderte ist ein Hineinstecken im Schaffen neuer Werte. Das Wiederfinden ist nicht nur ein Aufmerksamwerden auf das Hineingesteckte, sondern dariiber hinaus das Entdecken des Hineingesteckten in allem Ausgelegten, das Ausbreiten des Hineingesteckten auf das Verstandnis alles Wirklichen. Entfaltet nun Nietzsches Philosophie, die kiinftige Philosophen zu neuen Wertsetzungen ermutigen will, nicht selber nur das in perspektivischer Interpretation, was sie urspriinglich ,hineingesteckt* hat?
Kommt in dem, was er schreibt, nicht allein seine besondere Perspektive zu Wort? Schlagt die von ihm behauptete Relativitat aller Deutungen nicht auf seine eigene Deutung zuriick? Im folgenden versuchen wir, die Zirkelhaftigkeit yon Nietzsches Denken |! aufzuhellen. Es kommt wie bei allem Verstehen darauf an, in den Zirkel
|
»nach der rechten Weise hineinzukommen“, um eine Wendung Heideggers
zu gebrauchen'”’. Daf Nietzsche den Anspruch seiner Philosophie, die wahre Weltdeutung zu sein, mit dem aus dieser Philosophie selbst erst entspringenden Wahrheitskriterium begriinden kann, haben wir dargestellt. Diesem Kriterium gema& muf sich eine Deutung gegen die anderen Weltdeutungen durchsetzen. Kénnen sich doch nur darin ihre Starke und ihre Macht zeigen. Fragen wir genauer nach dem, was Starke und Macht einer Deutung besa-
gen, so geraten wir tiefer in den Zirkel hinein. Sie lassen sich nicht einfach am ,Erfolg‘, etwa an der bisherigen Geschichte, ablesen. Ist fiir Nietzsche doch die Jahrtausende wahrende Herrschaft des moralisch bestimmten Weltverstandnisses nicht Ausdruck von dessen Starke, sondern das Zeichen von
Schwiche. Das Machtwollen ist hier gerade nicht als das wahre Machtwollen freigesetzt. Wir miissen Nietzsches eigene Interpretation von Starke im Sinne "4 Nachla&, WM 1, 152].
606; GA XVI, 97; [Herbst 1885—Herbst 1886, 2[174]; KGW VIII
"5 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tiibingen 71953, 153.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
von nickhaltlosem Ubermichtigenkénnen zugrunde legen, wenn wir den Anspruch seiner Philosophie, sie sei wahrer weil starker als die anderen Weltdeutungen, nachvollziehen wollen. Und wieder zeigt sich der Zirkel, wenn Nietzsche eine ,vormoralische Periode der Menschheit‘ annimmt, die die prihistorische Zeit umfassen soll, auf die allererst die moralische Periode folgte. Wir finden hier eine Konstruktion der ,Geschichte‘ des Menschen,
die aus der Riickwendung zu dem, was anfanglich gewesen sein soll, die Notwendigkeit kiinftiger Stirke in einem nachmoralischen Zeitalter begriinden soll. Diese Starke ware dann wahre Starke. Jaspers schreibt, bei Nietzsche werde ,,in einem Zirkel gedacht, der sich
aufzuheben scheint und doch von neuem hervortreibt“’”*. Der Zirkel kann nicht aufgehoben werden. Blicken wir auf ihn nur als auf eine formale Struktur, so bleiben uns Besonderheit und Radikalitat von Nietzsches Interpreta-
tion verborgen. Bewegen wir uns in ihm, so kénnen diese sichtbar gemacht werden. Es gilt herauszuarbeiten, daf& Nietzsche nicht nur alles Weltauslegen
J
.
i auch die Konsequenzen bedenkt, die aus dem Selbstverstandnis seiner Philosophie als Auslegung erwachsen. Seine Philosophie des Willens zur Macht kann ja keinen blo& kontemplativen Charakter haben. Sie ist selber Ausdruck
on
—_
wesenhaft als vom Willen zur Macht konstituiert begreift, sondern daf er
des Machtwollens: In ihr wird gewollt, da die kiiaftigen
Werteschaffenden
sich als Willen zur Macht verstehen. ,,[hr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts ausserdem!“, ruft er den Menschen zu. Das ist ein Appell. Er besagt: ,Begreift endlich, was Ihr in Wahrheit seid! Gott ist tot, bekampft auch noch seine Schatten! Die Wertetafeln, die Ihr bisher iiber Euch gehangt habt, haben keine Giiltigkeit! Laf$t Euch nicht mehr von diesen Werten bestimmen, bestimmt selbst die Werte! Wertet die alten Werte um, schafft aus
.. Eurem Selbstverstandnis als Machtwollen heraus neue Werte!‘ Auch Nietz| | sche kommt es darauf an, die Welt nicht nur zu ,interpretieren‘, sondern sie zu verandern. Er hat freilich verstanden, daf alles Verandern Interpretieren
ist und alles Interpretieren Verandern. Zwar ist auch die moralische Periode
der Menschheit durch die Abfolge immer neuer Weltinterpretationen gekennzeichnet. Aber die grundlegende Verainderung steht noch aus. Uber ihre
Notwendigkeit gilt es nicht nur zu reflektieren, es mu dazu aufgefordert werden. Aus dem Verstandnis des Wirklichen als Wille zur Macht heraus wird Nietzsche zum Verktinder.
6 K, Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 30], 294.
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
7?
Wir diirfen aber Nietzsches Philosophie nicht allein unter dem Aspekt von
Verkiindigung und Appell betrachten, so wesentlich dieser auch fiir das Verstindnis seiner Schriften besonders vom Zarathustra an ist. In der Aus‘ faltung seiner Interpretation sieht er sich genotigt, den ihr immanent en Denkvoraussetzungen nachzugehen. Erst in der Reflexion auf sie kann seine Philosophie ihren Anspruch auf grundlegende Deutung der Wirklichkeit im
ganzen erfiillen. Beginnen wir mit der Frage: Inwiefern kann Nietzsche den /
Anspruch erheben, seine Interpretation des interpretierenden Wirklichen treffe dessen Interpretationscharakter?
Damit riickt noch einmal der perspektivische Charakter allen Interpretie-
rens ins Thema. Im Fiinften Buch der Fréhlichen Wissenschaft hat Nietzsche dazu ausgefiihrt: ,, Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, [...] ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist — das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich—gewissenhafteste Analysis und Selbstpriifung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir konnen nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch fiir
andre Arten Intellekt und Perspektive geben kénnte: zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zuriick oder abwechselnd vorwarts und riickwarts empfinden kénnen (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer
Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wire).“'”’ Nietzsches Argumentation ist in sich tiberzeugend. , Wir‘ sind perspektivisch interpretierende Wesen; ob alle anderen Wesen auch interpretieren, vermag unser Intellekt freilich
nicht ergriinden. Mit der Annahme anderer perspizierender Wesen ist iiber den besonderen Charakter von deren Perspektiven noch nichts ausgemacht. Wir kénnen nur unter unserer Perspektive sehen; selbst wenn wir unser Perspizieren perspizieren wollen, so bleiben wir unter unserer Perspektive. Nun ist zwar im zitierten Text von der Selbstpriifung des Intellekts die Rede. Deren Unméglichkeit ist von Nietzsche haufig herausgestellt worden'’*. Aber wieso '7 Die frobliche Wissenschaft (5. Buch) 374; KGW V 2, 308f. "8 [§. schon Nachlaf&, Herbst 1880, 6[130]; KGW V 1, 559: ,,Der Intellekt ist das Werk-
zeug unserer Triebe, er wird nie frei. Er scharft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thatigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch.“] - Spater schreibt Nietzsche, bezogen auf die Moglichkeit der Selbsterkenntnis des Intellekts: ,,Es ist beinahe komisch, daS unsere Philosophen verlangen, die Philosophie miisse mit einer Kritik des Erkenntnisvermégens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daf
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—
Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
sollte nur fiir den Intellekt gelten, da er nicht um die Ecke sehen kann? Ist doch alles Auslegen, auch wenn es nicht auf den Intellekt beschrankt wird, perspektivisch. Dann aber sind die kritischen Vorbehalte berechtigt, die Nietzsche hier fiir unser Erkennen von ,anderem Dasein‘ anfiihrt. Dies wiederum besagt doch wohl, da&, im Lichte kritischer Selbstreflexion des Interpretierens, Nietzsches Ausfiihrungen iiber das Gegeneinander von perspektivisch interpretierenden Willen zur Macht als der Weltwirklichkeit schlechthin sich als bloSe Konstruktion erweisen. Hatte Nietzsche diese Selbstreflexion noch nicht vollzogen, hat er sie nach dem Vollzug wieder vergessen, wenn er vom perspektivischen Wahrnehmen im organischen und unorganischen ,Bereich‘ spricht? Das kann wohl nicht ernsthaft in Erwagung gezogen werden. Hat Jaspers recht, wenn er ausfiihrt, Nietzsche habe ,,alles in seiner Kraft Liegende
[...] zur Erdffnung und Offenhaltung des Méglichen“ getan, schlieSe aber ,,am Ende wieder“ zu ,,durch Verabsolutierung“ des Willens zur Macht; die ,,in
schlechthin allen Erscheinungen“ durchgefiihrte ,,Metaphysik des Willens
zur Macht“ sei auch von der Art fritherer dogmatischer Metaphysik“"”? Jas| pers miSversteht Nietzsche, wenn er ihm einen solchen Dogmatismus unterstellt. Aber seine Argumentation bleibt auch in sich unbefriedigend. Was ' kénnte Nietzsche ,am Ende‘ dazu veranlaf&t haben, wieder zuzuschlief&en, da doch Eréffnen und Offenhalten seine Sache war? Eine Antwort darauf bietet sich allerdings von den in dieser Untersu-
chung erarbeiteten Voraussetzungen her an. Ist Nietzsches Philosophie selber Machtwollen, das die kiinftigen Starken zur Ubernahme der Macht ermachtigen will, so miissen alle besonderen Auslegungen wie auch die Auslegung der Wirklichkeit als ganzer in den Dienst dieser Aufgabe gestellt
_ werden. Wird den Menschen vor Augen gefiihrt, daf es iiberall in der Welt } Machtkampfe von Willensquanten gibt, in denen das Starkere die Ober\
(
hand gewinnt, und nichts auferdem, so miissen die starken Menschen angesichts der Ausnahmslosigkeit des ,Gesetzes‘, daf8 jede Macht in jedem
das Organ der Erkenntnif sich selber kritisiren kann, wenn man miftrauisch geworden ist iiber die bisherigen Ergebnisse der Erkenntnif?“ —,,Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit ,kritisiren‘: der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgerathensein oder sein Mifrathensein bestimmen.“ — ,,Ein Erkennt-
nif—Apparat, der sich selber erkennen will!! Man sollte doch tiber diese Absurditat der Aufgabe hinaus sein! (Der Magen, der sich selber aufzehrt! —)‘* (Nachla&; GA XIV, 3; [Herbst 1885 —Friihjahr 1886, 1[60]; KGW VIII 1, 22. - Herbst 1885—Herbst 1886, 2[132]; KGW VIII 1, 131. - Sommer—Herbst 1884, 26[18]; KGW VII 2, 152].).
9 K, Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 30], 309f., vgl. z. B. 330.
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a1
Augenblick ihre Konsequenz zieht, die let zten, aus ihrem Verwurzeltse der Tradition herriihrenden ,Hemmu ngen‘ verlieren, riickhaltlos in in ihre Macht im Setzen neuer Werte ausiiben. Die Deutung ,der‘ Wel t als »Wille zur Macht‘ bildete dann zwar, unter selbstkri
tischer Priifu
ng dieser Interpretation, nur eine Fiktion. Von Nietz sches eigenem Wahrheitskri ter her ware sie gleichwohl Wahrheit. Gege n dieses Verstindnis von Nie ium tzsches Weltdeutung lat sich allerdings sofort einwenden, daf Nietzsche den
—_— Wer so voranschreitet, halt nicht inne, geht immer weiter zu Neuem, mag er sich dabei auch im groften aller Kreise bewegen.
Wer soll ihm da folgen kénnen? Der SchluSaphorismus von Jenseits von Gut und Bése vertieft noch die Kluft zwischen den menschlichen und den ,dionysischen‘ Méglichkeiten
des Philosophierens. Erfahrt doch der Autor des Buches, daf§ seine noch vor kurzem niedergeschriebenen Gedanken alt geworden sind und verblassen. Vermag er, wie alle Denker und Kiinstler, ,,allein abzumalen [...] Das, was eben welk werden will und anfingt, sich zu verriechen! Ach, immer
nur abzichende und erschépfte Gewitter und gelbe spate Gefiihle! Ach, immer nur Végel, die sich miide flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen, — mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, miide und miirbe Dinge allein!“ Am ,,Nachmittag“ kann niemand mehr erraten, wie die von ihm ,,geschriebenen und
gemalten Gedanken“ an ihrem ,,Morgen“ aussahen, mag er jetzt auch viele spate Farben fiir sie haben: ,,viel bunte Zartlichkeiten und fiinfzig Gelbs fiir Nietzsches Denkweg, wie er ihn schon in Jenseits von Gut und Bése beschritten hat, voran: ,,Der freie Geist“ und ,,Der Immoralist® (23[13]; KGW VIII 3, 423). 311
Jenseits von Gut und Bose 295; KGW
VI 2, 247f. — Vel. hierzu Exkurs 1.1 am
Schlu8 dieser Abhandlung. *? Jenseits von Gut und Bose 295; KGW VI 2, 248f. — Nietzsche spielt auf die Geburt der Tragédie an, wenn er schreibt, er sei, wie ihm scheine, ,,der Letzte“ gewesen, der dem groSen Zweideutigen und Versucher ,,ein Opfer dargebracht hat: denn ich
fand Keinen, der es verstanden hitte, was ich damals that. Inzwischen lernte ich
Vieles, Allzuvieles iiber die Philosophie dieses Gottes hinzu, und wie gesagt, von Mund zu Mund“ (a.a.0., 248). 313
Jenseits von Gut und Bose 295; KGW VI 2, 248.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
263
und Brauns und Griins und Roths“. Nietzsche sieht sich als einen ,,Verewi-
ger der Dinge, welche sich schreiben lassen“, der aber unvermeidlich dem Leben hinterherhinkt und “zu spat daran ist; Dionysos, dessen géttlicher
Repriisentant, war ihm ja immer voraus.
Nietzsche prasentiert dem Leser sein Buch als das Resultat der vergeblichen Miihe, die ,,plétzlichen Funken und Wunder“ seines einsamen Den-
kens in der Sprache festzuhalten. Das im Wort Vergilbte la&t giinstigsten-
falls ,,jetzt“ noch die Frische des friiheren Unmittelbaren erinnernd nachempfinden. Aber das seinerzeit lebendig Erfahrene und Gedachte ist schon
verblaft und verblaGt weiter. Und war es jemals anders?“, fragt Nietzsche, seine Einsicht auf die Erfahrungsméglichkeiten des Menschen iiberhaupt
ausweitend.’"
Im Vierten Buch der Fréhlichen Wissenschaft wird noch der seltene Augenblick geriihmt, in dem ,alles Wissen und aller guter Wille“ durch die »seltensten gliicklichen Zufalle* dazu fiihrt, ,,die letzten Schénheiten eines
Werkes zu sehen“. Dabei miissen wir nicht nur ,gerade an der rechten Stelle stehen“, ,,unsere Seele mu selber den Schleier von ihren Héhen weggezogen haben und eines dusseren Ausdruckes und Gleichnisses bediirftig sein“. Solche Enthiillungen sind zwar schon hier selten, so selten, daf ,,die Griechen beteten [...]: ,Zwei und drei Mal alles Schéne!‘ Ach, sie hatten da einen guten Grund, Gétter anzurufen, denn die ungéttliche Wirklichkeit
giebt uns das Sch6ne gar nicht oder nur ein Mal!“°” Gleichwohl spornen hier die Verhei&ungen des Schénen zum Leben an. Am Schlu8 von Jenseits von Gut und Bése jedoch sind die grofen Augenblicke als die vergangenen unerreichbar geworden; selbst dem Kiinstler ist nach seinem Schaffen die Wirklichkeit dessen verloren gegangen, was er einst schuf. Kann im Geschriebenen noch der Anklang des friiher Gedachten und Erlebten wiedergefunden werden (obwohl auch dieser mit der Zeit
schwindet), so kann das ,nur Erlebte‘ (und nicht ,Festgehaltene*) dem Er-
innern entgleiten. Die menschlichen ,,Verewiger der Dinge“ sehen sich je-
denfalls langerfristig auf hoffnungslosem Posten. Ihr jeweiliges primares Ja
wird bald zu einem sekundiren und droht sich auf eine Weise zu verfliich-
4 Jenseits von Gut und Bose 296; KGW VI 2, 249f. - Dem Text liegt eine Niederschrift Nietzsches in Heft W I 8 unter dem Titel ,.Mandarine-Weisheit zugrunde. Eine Handvoll [schlimmer] Gedanken“ bzw. »Vorrede und Selbstgesprich™. Dazu
und zu ,Vorstufen‘ zu Jenseits von Gut und Bose 296 vgl. Montinaris Hinweise in
KSA 14, 374.
5 Die frébliche Wissenschaft 341; KGW VI 2, 248f.
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
tigen, da es nur noch unbestimmt im Ja zum Ganzen einbehalten ist. Das Ideal des weltbejahendsten Menschen scheint allein noch in der Sehnsucht
nach dem Verlorenen als Abglanz des géttlichen Uber—menschlichen eine herbstlich geténte Leuchtkraft behalten zu kénnen. Aus den Schluaphorismen dieses Buches erhellt, warum Nietzsche es ein erschreckliches Buch* genannt hat, ,,das dies Mal mir aus der Seele geflossen ist, — sehr schwarz, beinahe Tintenfisch*.*'* In Ecce homo
schreibt er, auf Jenseits von Gut und Bése kritisch zuriickblickend, man werde in ihm ,,in allen Stiicken [...] eine gleiche willktirliche Abkehr von
den Instinkten finden, aus denen ein Zarathustra méglich wurde“. War die Abkehr wirklich willkiirlich? Gab sie nicht einem bedeutsamen Selbstzwei-
fel Ausdruck, — gerade gegeniiber den Ubersteigerungen von Also sprach Zarathustra? Doch gemaf Ecce homo ist mit dem letztgenannten Buch ,,der
jasagende Theil* von Nietzsches Aufgabe schon ,,gelst“; mit Jenseits von Gut und Bése und den folgenden Schriften sei ,,die neinsagende, neinthuende Halfte derselben an die Reihe* gekommen. Letzteres Buch sei ,,in allem
Wesentlichen eine Kritik der Modernitat“.*"” Man mu allerdings, will man *'6 Brief an H. Késelitz vom 21, 4. 1886 aus Nizza; KGB III 3, 181. - Van Tongeren
hat iiberzeugend dargelegt, daf die letzten zehn Aphorismen dieses Buches offenkundig machen, daf sich Nietzsches ,,[deal* nicht verwirklichen lasse (a.a.O. [Anm. 307], 228). Er arbeitet seine Kritik an Nietzsches Idealbildung an dem seine Interpretation leitenden Verstandnis des Kampfes heraus. Fiir unseren Zusammenhang
sei allein auf Nietzsches Verstindnis des héchsten Menschen ,,als in sich gegenstreitige Vielheit“ verwiesen, die aber der Bandigung bedarf, um nicht zu zer-
317
splittern und zugrundezugehen. Dieser Mensch (der vornehme Mensch iiberhaupt, von dem das Neunte Hauptstiick von Jenseits von Gut und Bose handelt) bedarf des Maes, wodurch jedoch das Idealbild des sich selbst konstituierenden ,inneren Kampfes‘ iiberschritten wird (226f.). — Ich stimme van Tongeren (auch) darin zu, daf es Nietzsche zufolge dem Menschen ,,niemals gegeben sein“ wird, dem (im Aph. 295 prasentierten) ,,Beispiel“ des Dionysos ,,ganzlich zu folgen“ (228). Mir liegt im folgenden daran zu zeigen, wie der Mensch nach Jenseits von Gut und Bose iiberhaupt nicht imstande ist, dem Gott zu folgen. Die dionysische Selbstinterpretation des ,letzten‘ Nietzsche wird sich von der Selbstinterpretation des Autors von Jenseits von Gut und Bose dann um so scharfer abheben. Ecce homo, Jenseits 1, 2; KGW VI 3, 348f. — Von grd8erer Bedeutung ist die Schlu8bemerkung dieses Abschnitts, in der Nietzsche ,,theologisch* und vom » Teufel“ redet (a.a.0., 349). Vgl. dazu auch in Nietzsches Brief an Késelitz (a.a.0. [Anm. 316], 181f.) den Satz: ,,Mir ist zu Muthe, als hatte ich irgend etwas ,bei den
H6rnern‘ gepackt: ganz gewif ist es kein ,Stier‘.“« - Der Teufel Nietzsches, der in Jenseits von Gut und Bose (und nicht nur hier) herumgeistert, bedarf einer eigenen
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
265
sich dieser These anschlieGen, noch die selbstkritische Skepsis seines Autors zur Moderne rechnen.
Die in Resignation umgeschlagene Skepsis des scheiternden , Verewigers‘ der Dinge weicht in Nietzsches Schriften von 1888 dem Kampfeswillen. In
der Phase des Ubergangs zu seiner letzten ,Feier des Dionysischen‘ finden sich manche Facetten und auch andere Problematisierungen des Selbstverstiindnisses des Schriftstellers Nietzsche. So riickt am Ende des Fiinften Buches der Froblichen Wissenschaft der Aspekt der Wirkung des von ihm Ge-
schriebenen in den Vordergrund, der im Schlu8aphorismus von Jenseits von
Gut und Bose zugunsten der Introspektion zuriickgetreten war.”
Ist das ,ewige‘ da capo—Rufen des lebensbejahendsten Menschen in diesem Buch ein Rufen aus dem Leiden an den Erfahrungen des Vergehens,
dessen Not nicht ohne Gewalt ,iiberwunden‘ wird? Nicht weniges deutet
darauf hin. Zu Dionysos heift es in einer bedeutsamen Aufzeichnung: ,,Die Verginglichkeit kénnte ausgelegt werden als Genuf der zeugenden und zerstorenden Kraft, als best’iindige Schépfung“. Nietzsche richtet den Blick damit nach vorn, weg vom sich ohnehin entziehenden Vergangenen. Sein Versuch einer dsthetischen Rechtfertigung der Welt war gescheitert; der ,, Wille[n]
Betrachtung, die hier nicht vorgelegt werden kann. Diese mii&te auch Aph. 36 (mit der Ausfiihrung iiber den Willen zur Macht als ,intelligiblen Charakter‘ und Sicht auf die Welt ,von innen her‘) einbeziehen. Wird doch im anschlieSenden Aph. 37 gefragt, ob das nicht heiBe, Gott sei widerlegt, ,,der Teufel aber nicht — ?“ Das ist zwar populire Rede, die hier zuriickgewiesen wird, aber sie weist gleichwohl auf Hintergriindiges. 318 Nietzsche iibergeht in Ecce homo seinen Schlu& von Jenseits von Gut und Bose mit Aph. 296. Zwei Formulierungen, die er an das Ende von Ecce homo, Jenseits 2 gesetzt hatte, hat er wieder gestrichen, In ihnen ist bezeichnenderweise nur von
dem die Rede, was Nietzsches ,,grof8er Lehrer Dionysos selbst am Schlusse [!] dieses harten und allzu ernsten Buches“ gesagt hat. (Vgl. KSA 14, 499.)
319 Nietzsche weist in Wir Furchtlosen 381 auf Besonderheiten seines Stils hin, der als svornehmer Geschmack‘ durchaus nicht auf ,,Verstdndlichkeit“ abziele. Die ,,Di-
stanz“, welche er als Autor herstellt, und die ,,Kiirze“, mit der er sich aufert, sollen in besonderer Weise auf seinen Leser ,wirken‘ (KGW V 2, 315-317). - Im an-
schlieSenden Aph. 383 geht Nietzsche auf das Bediirfnis ,,ciner neuen Gesundheit“ der Zukiinftigen, welche er reprasentiert, der ,,Schlechtverstandlichen“, ein. Dabei malt er das ,,I[deal eines menschlich—iibermenschlichen Wohlseins und Wohlwol-
lens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird“. Aus ihm erwachse ,,der grosse
Ernst“, mit dem ,,das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger riickt, die Tragé-
die beginnt...“ (a.a.O., 317-319).
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche
zur Schénheit, zum Verharren in gleichen Formen“ hatte sich als ein nur ,zeitweiliges Erhaltungs— und Heilmittel* erwiesen. Hinter der ,,Tauschung
Apollos“, welche ,,die Ewigkeit der schénen Form“ vorgaukelt, steht zwar
die aristokratische Gesetzgebung ,so soll es immer sein‘. Aber iiber dem
und gegen den ,Willen zum Verharren‘ steht nun eindeutig das dionysische
»Ewig—Schaffende als das ewig-Zerstéren—Miissende gebunden an den
Schmerz“.*2°
18. Uber das Ja-sagen zur ,héchsten Tat‘ in den Schriften von 1888 Die zeitweiligen Bedenken, das frither von ihm Gedachte und Geschriebene kénnte seine Lebendigkeit verlieren, hat Nietzsche in Ecce homo zuriickgelassen, Wenn er jetzt auf Also sprach Zarathustra zuriickkommt, so stellt er dieses Buch nicht nur iiber die Schriften von 1886 und 1887. Es gilt ihm
nun als der Gipfel seines Schaffens. Im Pathos von Ecce homo wird zugleich die Grenzlinie beseitigt, die Nietzsche zwischen den ,Méglichkeiten‘ Zarathustras und denen des Ubermenschen gezogen hatte. Im Riickblick auf das Buch heift es nun: ,,Hier ist
in jedem Augenblick der Mensch iiberwunden, der Begriff ,Ubermensch‘
ward hier héchste Realitit.“ Und die ,,umfanglichste Seele“, welche nach Zarathustra ,,sich selber in weitesten Kreisen einholt“, reprasentiert nun den
» Begriff des Dionysischen“.*' Natiirlich kann sich Nietzsche zu Recht auf den gedanklichen Zusammenhang der ,Reihe‘ Zarathustra — Ubermensch — Dionysos berufen; in Ecce homo scheint er ihre Glieder in seiner eigenen Person verschmelzen zu wollen. Nietzsche spricht von sich selbst als dem Schépfer von Also sprach Zarathustra auf eine uniiberbietbare Weise: ,,Man rechne den Geist und die Giite aller grossen Seclen in Eins: alle zusammen wiren nicht im Stande, Eine Rede Zarathustras hervorzubringen.“ Das Werk soll von einer derart ,,ungeheuren Leidenschaft* getragen sein und eine solche ,,Hdéhe* erreicht haben, ,,dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick“ darin ,,zu athmen wissen
wiirde“. Nicht nur steht dieses Werk auGerhalb jeder Vergleichbarkeit mit
den Werken anderer. Das Werk ist mebr als ein Werk: ,,Mein Begriff ,dionysisch‘
”° Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886, 2[106]; KGW VIII 1, 111.
"" Eece homo, Zarathustra 6; KGW VI 3, 242; vel. Also sprach Zarathustra Ill, Tafeln 19; KGW VI 1, 257.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
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wurde hier héchste That; an ihr gemessen erscheint der ganze Rest menschlichem Thun als arm und bedingt.“ Die héchste Tat besteht darin da Nietzsche durch Zarathustra ,,die Wahrheit erst schaffi* 2 Die Wabrheit schaffen besagt den Raum er6ffnen, in dem alles nachgeordnete (gegenwartige and
kiinftige) Schaffen seinen Ort finden soll. Nietzsches Zarathustra .schafft die Wahrheit‘, indem er die bisherigen Werte umwertet. Darin ist er ein Schicksal“ Da Zarathustra Nietzsche ,ist‘, versteht sich Nietzsche selbst als ein Schicksal
als das Schicksal der Menschheit. In die Zukunft vorausdenkend, sieht er init
seinem Namen »die Erinnerung an etwas Ungeheures*“ verkniipft, ,,an eine
Krisis, wie es keine auf Erden gab“. Nietzsche ist damit mehr als ein Mensch:
ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Ist Nietzsche also ein Zerstorer?
Er ist es, insofern seine Tat die Herrschaft der bisherigen Werte beseitigt.*** Nietzsche stellt zwar keinen Begriff‘ der Tat vor, weil er von Tat selbst
nur im Sinne von Realisation von ,Begriffen‘ und hier besonders seines ,héchsten Begriffs*, des Begriffs des Dionysischen, spricht. Gerade dies macht es notig,
nach dem zu fragen, was im ,Tat‘—werden von Begriffen dem spaten Nietzsche zufolge ,liegt‘.*?° * Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 363. 3 Ecce homo, Zarathustra 6; KGW VI 3, 341. 4 Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 363.
*S In seinen spaten Schriften (in Gétzen—Dammerung, in Ecce homo und in Der Antichrist) verwendet Nietzsche das Wort ,Begriff\ in Verbindung mit der positiven Kennzeichnung wesentlicher Bestimmungen seiner Philosophie. Dies bedarf angesichts seiner Kritik an den ,Vernunft—Urteilen‘ (vgl. oben Abschnitte 4 und 5),
welche eine (negativ akzentuierte) Ableitung der ,Begriffe‘ aus ,;Worten‘ und ,Bildern‘ einschlie&t (vgl. oben S. 205, insbes. Anm. 82), der Deutung und Erlauterung. — In seiner weitergehenden Kritik an den ,Begriffen‘ gelangt Nietzsche da-
hin, sie als ,,Erdichtungen* (Nachlaf Friithjahr—Herbst 1881, 11[151]; KGW V 2, 397) oder ,Erfindungen‘ aufzufassen, die uns zwar iiber ihren eigenen Ursprung und iiber das Werden tauschen, deren Niitzlichkeit jedoch unbestreitbar ist. In der
von ihm ,,erfundenen starren Begriffs— und Zahlenwelt hat der Mensch ein Mittel gewonnen, sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemichtigen und seinem Gediachtnisse einzuschreiben [...] Die Reduktion der Erfahrun-
gen auf Zeichen [...] ist seine hchste Kraft.“ Daran andert es nichts, da& ,,diese Zeichen—Welt [...] lauter Schein und Trug“ ist. (Nachlaf April-Juni 1885, 14/131]; KGW
VII 3, 184) Eizes sind nun die uns als Lebensbedingung fest ein-
verleibten ,Begriffe‘, von denen wir ohnehin nicht loskommen kénnen. Ein anderes sind die aus diesen erwachsenen metaphysischen Begriffe und Vernunft-Vorurteile, die Nietzsche zu destruieren trachtet. »Freigeworden von der Tyrannei der ,ewigen‘ Begriffe“, schreibt Nietzsche 1885, bin ich andrerseits fern
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Der ,Begriff' Tat zeigt an, da8 die Wahrheitsgriindung mit dem Werk, mit Also sprach Zarathustra, faktisch vollzogen ist. Das Werk ist als Tat »eine Entscheidung [...] gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, ge-
heiligt worden war‘. Mit ihm ist die Entscheidung getroffen. Es kommt
Nietzsche darauf an, mit dem Begriff der Tat das Entschiedene, das schon
Vollzogene, als das zu fassen, was nicht mehr riickgiingig zu machen ist. Im Ausgang von der griindenden Tat soll alles Handeln seine Bestimmtheit und
Eindeutigkeit erhalten. Die Entscheidung ist Scheidung: In der Welt des Werdens ist die ,Wahrheit‘ gegen das bisher fiir wahr Gehaltene durchzusetzen und zu behaupten. Dazu bedarf es der Herrschaft. Deshalb stellt Nietz-
sche in Ecce homo Zarathustra als einen ,,weltregierende[n] Geist“ vor; der
aus Vogelschau—Héhe segnende Zarathustra, der sich noch zur Billigung des von ihm Verworfenen durchringt, tritt in den Hintergrund.””” Seinem
Ja-sagen ohne Ausnahme und Abzug will Nietzsche gleichwohl — sogar
davon, mich deshalb in den Abgrund einer skeptischen Beliebigkeit zu stiirzen: ich bitte vielmehr, die Begriffe als Versuche zu betrachten, mit Hiilfe deren bestimmte Arten des Menschen geziichtet* werden kénnen (Nachla& 35[37]; KGW
VII 3,
248). Die machtigen Gesetzgeber der Zukunft, welche ihre Ideale und Wertschat-
zungen gegen alle durchsetzen sollen (vgl. oben Abschnitt 13, S. 237f.), sollen als
Geister dazu im Stande sein, ,,einen Begriff fest zu setzen, fest zu halten“ und somit ,,das Fliissigste, den Geist fiir lange Zeit zu versteinern und beinahe zu verewi-
gen wissen“ (Nachla& April—Juni 1885, 34(88]; KGW VII 3, 169). Darin ist die
hohe Bedeutung ausgesprochen, die Nietzsche der Erfindung neuer ,Begriffe* zumift, Mit der Umwwertung der Werte wird zugleich der Kampf der neuen gegen die alten ,Begriffe‘ aufgenommen. Im Antichrist spricht Nietzsche davon, daf er in seiner ,Genealogie der Moral‘ ,,den Gegensatz—Begriff einer vornebmen Moral und einer ressentiment—Moral psychologisch vorgefiihrt* habe (Der Antichrist 24;
KGW VI 3, 190). Im ,,Wort Immoralist“ und in der ,,Formel ,Jenseits von Gut und Bése‘ will er nach einer spaten Aufzeichnung von der ,,Leuchtkraft dieser Ge-
gen—Begriffe* Gebrauch gemacht haben, um in den ,,Abgrund von Leichtfertigkeit und Liige hinabzuleuchten, der bisher Moral hie&“ (Nachla8 Oktober 1888, 23
[3]; KGW VIII 3, 413). - In der blo&en Aufklirung iiber die uns einverleibten wie iiber unsere ,héchsten‘ metaphysischen ,Begriffe‘ stoSen wir auf den ,,negative[n] Charakter der , Wahrheit‘ — als Beseitigung eines Irrthums, einer Illusion. Nun war
die Entstehung der Illusion eine Férderung des Lebens — -“. Nietzsches Aufzeichnung bricht hier ab (25[165]; KGW VII 2, 54). Fiir die beiden Gedankenstriche
Nietzsches kénnen wir vielleicht setzen: folglich brauchen wir neue ,Illusionen‘, die das Leben kraftig beférdern.
6 Eece homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 363. 7 Vel. dazu oben S. 256ff.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
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esteigerte — Geltung im Dionysischen verschaffen, Hiervon wird im nich-
sten Abschnitt noch niher zu handeln sein,
Im Begriff der Tat als dem, was entschieden ist, liegt ein Festgelegtsein auf
das, was aus ihr folgen soll. Das geforderte , Wirkliche' stellt im Verhiiltnis zur Vielfalt des ,Moglichen‘ eine Verengung dar. Nietzsche ist darum bemiiht.
die Notwendigkeit des Willens zur Tat zu behaupten und dem Reichtum des
Geistes‘ gleichwohl Rechnung zu tragen. So schreibt er im Riickblick auf Die
Geburt der Tragddie in Ecce homo, damals sei ,,das Nebeneinander der lichte-
sten und der verhangnissvollsten Krifte, der Wille zur Macht, wie ihn nie ein Mensch besessen hat, die riicksichtslose Tapferkeit im Geistigen, die unbegrenzte Kraft zu lernen“, in ihm am Werke gewesen, ,,ohne dass der Wille
zur That damit erdriickt“ worden sei“ An anderer Stelle sucht er den Tatwillen urspriinglicher zu verankern. Die ,,michtigste[n] Kraft zur That, zum Ungeheuren der That“ ist die Voraussetzung selbst fiir die ,,Kraft zur miachtig-
sten Realitat der Vision“.*”’ Kraft und Macht bleiben beim letzten Nietzsche starker noch als zuvor auf Taten gerichtet. Die fiir die Tat konstitutive Entscheidung bereitet sich im Genie, in den ,groSen Mannern‘ dadurch vor, daf,
yhistorisch und physiologisch, lange auf sie hin gesammelt, gehauft, gespart und bewahrt worden ist“. Die Grofen sind ,,Explosiv—Stoffe, in denen eine
ungeheure Kraft aufgehauft ist“. Es geniigt dann ,,der zufalligste Reiz, das ,Genie‘, die , That‘, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen“.
Wie stark im Jahr 1888 die physiologische Betrachtungsweise bei Nietzsche die historische zuriickdrangt, zeigt schon das von ihm angefiihrte Bei-
spiel: Napoleon war der Erbe stiirkerer und dlterer Instinkte als seine Zeitgenossen, deshalb wurde er ,,Herr“ im nachrevolutionaren Frankreich. Unter
anderen Umstiinden hatte sich seine Kraft auf andere Reize hin entladen.**° In einer solchen Erklarung des Genies liegt freilich ein physiologischer Relativismus, den Nietzsche schon des Anspruchs wegen, den er mit seiner eigenen griindenden Tat verbindet, iiberwinden mu&. Dabei erhilt der ,Geist* dann doch auch grundlegende Bedeutung zugesprochen. Die Tat ist, schreibt er, ein , Akt héchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch *
*
3
und Genie geworden ist“.””"
"* ”* ™"
Ecce homo, Geburt 4; KGW VI 3, 312. Ecce homo, Warum ich so klug bin 4; KGW VI 3, 285. Gétzen—Dammerung, Streifziige 44; KGW VI 3, 139. Ecce homo Zarathustra 6; KGW VI 3, 341.
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Allerdings setzt sich zuletzt doch Nietzsches , Wille zur Tat‘ in der extrem
verengten physiologischen Perspektive durch: auf Kosten der philosophi-
schen Erérterung der ,Umwertung aller Werte‘.** Das Problem des Nihilismus, 1887 noch unter dem Vorzeichen des primar geschichtlich bestimmten
Sinnverlusts thematisiert, wird im Jahr darauf unter die Kategorie der décadence gebracht. Der Pessimismus ist dann nicht mehr »Vorform* des Nihilis-
mus, dessen ,,Logik“ in den moralischen Werturteilen bis zur »Werthlosig-
keit des ,letzten Nibilismus“ treibt2® 1888 ist weder der Pessimismus noch
der Nihilismus mehr ein ,,Problem“ fiir Nietzsche, sie zeigen nur noch eine
Symptomatik an. Schon ,,die Frage, ob Nicht-Sein besser ist als Sein » ist ,eine Krankheit, ein Niedergang, eine Idiosynkrasie*. Man kann dann gleich den ,Namen‘ Pessimismus durch den treffenderen des Nihilismus ersetzen. Auch ,,die nihilistischen Religionen insgesamt“ werden von Nietzsche nicht mehr in grofe geschichtliche Zusammenhinge gebracht, sondern ,als syste-
ad
matisirte Krankheits—Geschichten unter einer religiés—moralischen Nomenklatur“ angesehen.**> Nietzsche forciert und verengt zugleich sein Ja—sagen zum Leben, indem er ihm das Nein-sagen als Ausdruck der Krankheit entgegenstellt, die nicht zu kurieren, sondern zu bekampfen ist. Dabei soll ,,die Physiologie zur Herrin iiber alle anderen Fragen“ gemacht werden.’** *? Zur Bedeutung der ,Umwertung aller Werte‘ in Nietzsches Spatphilosophie vgl. Jorg Salaquarda, Umwertung aller Werte, in: Archiv fiir Begriffsgeschichte, Bd. XXII (1978),
Heft 2, 154-174. — In den Planskizzen fiir sein Hauptwerk lat Nietzsche Ende August 1888 den bisherigen Haupttitel Der Wille zur Macht fallen, an seine Stelle tritt: Umuvertung aller Werte, zuvor im Untertitel genannt (vgl. dazu Mazzino Montinari, Nietzsches Nachlaf von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1882, 114-119.). Die ,Umwertung‘ ist dabei ,,eher
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als Kampfschrift“ konzipiert, wie Salaquarda zutreffend schreibt, ,,denn als eine grundlegende philosophische Abhandlung*, - wie zuvor Der Wille zur Macht (Nietzsches ,Antichrist’, in: Wiener Jahrbuch fiir Theologie 2, Wien 1998, 368f.). Nachla& Herbst 1887, 10[58], [192]; KGW VIII 2, 157, 237. Nachlaf Mai—Juni 1888, 17[8]; KGW VIII 3, 327.
Nachla Frithjahr 1888, 14[13]; KGW VIII 3, 15. — Nietzsche stellt (a.a.0., 15f.) speziell ,,die Christlichkeit als Krankheit“ dar; ,,,der Glaube‘ erscheint dabei als »eine Form der Geisteskrankheit*, z.B. ,,die Siinde“ als eine fixe Idee“. — Vgl. z.B. auch Der Antichrist 51; KGW VI 3, 228ff.
Nachlaf Dezember 1888—Anfang Januar 1889, 25[1]; KGW VIII 3, 451£. — Was bei solcher ,Herrschaft der Physiologie‘ herauskommt, sei an zwei Niederschrifte n vom Friihjahr 1888 verdeutlicht. Zur ,,Gesundheit der Seele“ gehGrt nach der ersten
Aufzeichung, da man seine Taten nicht durch Rene »hinterdrein verleumdet. Das
»Wieder—Aufreifen alter Wunden, das Sich—Wailzen in Selbstverachtung und Zerknir-
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
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Nietzsches , Wille zur Tat‘ proklamiert zur Einse
eine grofe Politik, die den Krieg bringen soll: »es tzung dieser Herrschaft wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat“. Es geht Nietzsche nicht um Waffenging e (obwohl er sie niche ausschlie&t), sondern um ,einen Geisterkrieg“, in den der Begriff Politik“
aufgehen soll.*?” Wieder bringt Nietzsche den Geist ins
—_————
schung* sind — nicht anders als die »»Erlésungs—Zustiande‘ im Christen“ — nur verschiedene Symptome desselben Krankheitszustandes. Die solche Symptome erzeugende »psychologische Praktik der Kirchen und Sekten“ will Nietzsche ,,als gesundheits-
gefahrlich in Verruf gebracht sehen. Fiir ihn gehort der grofte Teil dieser Praktik ohnehin »unter die Formen der Hysterie und der Epilepsoidis“. Gleich eingangs hat er ndie Behandlung des Gewissensbisses“ mit einer Kaltwasserkur empfohlen. (Nachla& Frithjahr 1888, 14[151]; KGW VIII 3, 130f.) Die zweite Aufzeichnung gewahrt Einblick in die Voraussetzungen von Nietzsches ,»Physiologismus‘, mit denen er sich
gegen die christliche Praktik wendet. Sie bestehen nicht nur in der ,Ersetzung‘ der »seele‘ des Menschen durch sein ,,Nervensystem“. Er bringt auch seine These von der Zeitumkehbrung in unserem Kausalititsverhaltnis (s. zu dieser Freiheit und Wille, Abschnitt 9, in Nietzsche—Interpretationen II, S. 64f.) in seine Deutung ein. Die Umkehrung gerat hier aber ins Absurde: ,,Um Stindengefiihle anzuregen [...], hat man
den K6rper in einen krankhaften und nervésen Zustand zu bringen“. Dem dient z.B. »die Kasteiung des Fleisches“, die jedoch nicht Ziweck ist, sondern das Mittel, ,,um jene krankhafte Indigestion der Reue méglich zu machen“. Demnach soll ,,die Mifhandlung des Leibes“ erst ,,den Boden fiir die Reihe der ,Schuldgefiihle““ erzeugen, die ,,erklart sein“ wollen. Nietzsche mu dabei diese Reihe als ,,ein allgemeines Leiden“
auffassen, um die Umkehrung plausibel machen zu kénnen, die aber nach einer plausibleren Analyse der Koordinierungsvorgiinge verlangt, als er sie vortragt. (A.a.O., 14[179]; KGW VIII 3, 155f.) — Der grobe Physiologismus der Spatphase Nietzsches
hat sich weit von seiner friiheren reflektierten Aufnahme und Auseinandersetzung
mit zeitgendssischem naturwissenschaftlichen Denken entfernt. — Zu fritheren differenzierteren Rezeptionen zeitgendssischer Physiologie durch Nietzsche vgl. in diesem
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Band Der Organismus als innerer Kampf. Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 364. — Nietzsche ist zuletzt bereit, auf Gewalttatigkeit zu verzichten, wenn der Feind ,aufgibt*. In einer letzten Erwagung heiBt es, es gebe ,,noch wirksamere Mittel, die Physiologie zu Ehren zu bringen als durch Lazarethe“ (Nachla& Dezember 1888—Anfang Januar 1889, 25(14, 15]; KGW VIII 3, 458,
460). — Wenn Nietzsche schreibt, ,,eine richtige Meinung geniigte unter Umstinden schon“, um ,,der Kriege zu entrathen“, so kann ich darin nicht, wie M. Riedel, »die Zuriicknahme gewalttitiger Parteipolitik* sehen. Man mufs die »schrecklichen Vernichtungsphantasien aus dem letzten Jahr vor Nietzsches geistiger Umnachtung iuBerste Konsequenz (Nietzsche in Weimar, Leipzig 1997, 269, 267) schon als eine
seines Denkens stehen lassen. Da& man den Philosophen auf sie festgelegt und aus
Riedel zu Recht. solcher Festlegung ideologische Nahrung gewonnen hat, kritisiert
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Lie
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Spiel. Wir diirfen uns davon aber nicht tauschen lassen: es kann in einem solchen Krieg nicht um den Austausch von Argumenten, etwa um den Streit zwischen
Philosophien gehen. Uber , Wahrheit‘ auf der einen und ,Irrtum* sowie ,Liige’
auf der anderen Seite ist schon (wie oben ausgefiihrt wurde) mit der griindenden
Tat der Umwertung entschieden. Aber weil die Entscheidung die grofe Scheidung zwischen dem Ja und dem Nein zum Leben sein soll, gibt es nur einen Krieg,
den Nietzsche bejaht (wie gegen anderweitige Mifverstindnisse festzustellen
ist). Das ist der Krieg, der ,,zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben“ gefiihrt werden soll. Sind in ihm yalle ,hdheren Stinde‘ Partei*, nimlich gegen das Leben, so muf ,,eine Partei des Lebens“ geschaffen werden, ,,stark genug zur grofen Politik*.?** Nietzsche zeigt sich in alledem als entsetzlicher Vereinfacher des von ihm aufgestellten Gegensatzes von Ja und Nein. Um der Wirkung willen, die er erzielen will, vereinfacht er nicht nur: er stilisiert sich auch selbst zu dem Entsetzli-
chen‘. Seine Emphase der Tat steigert sich dabei zur Forderung nach einem »Todkrieg gegen das Laster; das Laster ist das Christenthum*.*” Sein polarisierendes Denken sieht im Christentum ,,eine Todfeindschaftsform gegen die Realitit,
die bisher nicht iibertroffen worden ist“.**° Die Realitat liegt allein in dieser Welt des Werdens und nicht in einem ,jenseitigen Sein‘, aus dem die bisher herrschenden Werte abgeleitet wurden. Nietzsches Umwertung kehrt deren ,sinn‘ um: Was von ihnen her Tugend genannt wurde, nennt er Laster. ,,Die lasterhafteste Art Mensch* ist fiir ihn ,,der christliche Priester [...]; denn er
lebrt die Widernatur.“*' Und Nietzsche selbst /ert und bringt die ,wahre* Tugend: »Mein Loos will, dass ich der erste anstdéndige Mensch sein muss, dass ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss...“*” ** Nachla& Dezember 1888—Anfang Januar 1889, 25[1]; KGW VIII 3, 451f. °° Gesetz wider das Christenthum; KGW VI 3, 252. - Vgl. hierzu Montinaris erliuternde Hinweise in KSA 14, 448-453. Im Sinne von Nietzsches radikalisiertem Verstandnis seiner Umwertung der Werte als Tat ist es konsequent, daf er mit dem
Gesetz eine neue Zeitrechnung beginnen lat.
38° Der Antichrist 27; KGW VI 3, 195. — Wer einen » lodkrieg‘ fordert, schreibt dem
Gegner nur allzuleicht zu, daf dieser einen solchen schon langst fiihrt. So hat das Christentum Nietzsche zufolge immer schon ,,einen Todkrieg“ gegen den ,,hoheren Typus Mensch gemacht“ (Der Antichrist 5; KGW VI 3, 169).
**! Nachla& Dezember 1888 -Januar 1889, 25[1]; KGW VIII 3, 452.
*? Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 363f. — Im Herbst 1887 notiert Nietzsche
noch im Blick auf die ,alten‘ Werte: ,,Zuletzt, was habe ich erreicht? Verbergen wir
uns dies wunderlichste Resultat nicht: ich habe der Tugend einen neuen Reiz ertheilt, — sie wirkt als etwas Verbotenes. Sie hat unsere feinste Redlichkeit gegen
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
reeds, he crac Mont Vege Merl dh Als diesen Gegensatz stellt Nietzsche sich ,,die
dé
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,Gegenstand’ seines ,ersten Widerspruchs‘. Und noch sein ,zweiter Wid ‘i ht lauft im Kielwasser des ersten. Er ist gegen ,cinen Typus Mane erspruc
der bisher als der héchste galt, die Guten, die Wohlwollenden Wohlihati an Auch gegen sie wird der Vorwurf erhoben, die Realitat nicht Zu sehen ale nicht sehen zu wollen; auch ihre Existenzbedingung ist die Liige (die Nietzsche
aber vor allem an der ,christlichen Dekadenz‘ aufweisen will).** Das, was man bisher noch immer unter ,,Giite“ versteht, ist als »Schwache-Symptom“
fr Zaaih ustra ,unvertraglich mit einem aufsteigendem und jasagendem
Leben“."" Schon in Also sprach Zarathustra hatte Nietzsche die Schidlichkeit der Guten“ angeprangert, weil sie nicht , schaffen“ kénnen.2" Fiir sie muf, gemaf ihrer Wertschatzung, Zarathustra als ,ein Freund der Bésen“ gelten.*”” ,90 fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der Ubermensch
furchtbar sein wiirde in seiner Giite!“, ruft er aus.*“* Die umgekehrte, ,neue' sich, sie ist eingesalzen in das ,cum grano salis‘ des wissenschaftlichen Gewissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisirend, so da& sie nunmehr endlich
die Raffinirten anlockt und neugierig macht; — kurz, sie wirkt als Laster. Erst nachdem wir Alles als Liige, Schein erkannt haben, haben wir auch die Erlaubnif zu dieser sch6nsten Falschheit, der der Tugend, erhalten.“ (Nachla8 Herbst 1887, 10[110]; KGW VIII 2, 184f.; vgl. auch a.a.0.,10[10]; 181} — Nietzsches positive
Intention geht hier zwar vor allem auf Tugend in einem der Renaissance entlehnten Sinne, als virtt
(vgl. a.a.O., 10 [109]; 184). Aber hier argumentiert und differen-
ziert er und vollzieht nicht einfach eine grobschlachtige Umkehrung. 43 Rece homo, Schicksal 2, 6; KGW VI 3, 365f., 368f. —G. Colli schreibt: ,,Nietzsche hat das Bediirfnis, seinen Feind genau auszumachen, ihn zu vereinfachen, die Polemik auf ein einziges Angriffsziel zuriickzufiihren, gegen das er seinen Haf auf die Gegenwart entladen kann. Bei allem, was in ihm EmpGrung hervorruft, sieht er
als gemeinsame Wurzel das Christentum.“ (Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken, Frankfurt a.M. 1982, 153) 4 Ecce homo, a.a.0.; KGW VI 3, 366f.
5 Ecce homo, a.a.O., 366. 6 Also sprach Zarathustra III, Von alten und neuen Tafeln 26-28; KGW VI 1, 261-263.
47 Eece homo, Schicksal 3; KGW VI 3, 367f. —,,Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort , Wahrheit‘ fiir ihre Optik in Anspruch nimmt, so muss der eigentlich
Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein.“ (A.a.O., 368)
** Also sprach Zarathustra Il, Von der wicaachen Kinet KGW VI 1, 181. — Nietz-
sche zitiert den ,Zarathustra‘ in Ecce homo selektiv: immer pointiert von seiner VI 3, 68) (spiiteren) Umuwertung her. So zieht er in Ecce homo, Schicksal 5 (KGW heran, demzufolauch einen anderen Satz aus dem genannten Zarathustra—Kapitel
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Giite Nietzsches ist ein Pradikat der Gréfe, die wiederum als sch6pferische
Stirke verstanden werden muf. Zuspitzung und Verengung der Lebensbejahung leiten Nietzsches Willen zur Tat in Hinweisen auch auf ,Konkretes*. Sie finden in Gétzen—Dammerung in den Forderungen seiner ,Moral fiir Arzte“ einen brutalen Niederschlag. Er verlangt im héchsten ,,Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das riicksichtsloseste Nieder— und Beiseite—Drangen des entartenden Lebens“. Die Schwachen und Kranken haben hier ihre frithere Bedeutung als /ebendiger und erwtinschter Gegensatz zu den Starken verloren. ,,Der Kranke“ ist hier nichts als ,,ein Parasit der Gesellschaft“. Nietzsche wiinscht die Vernichtung oder doch die Selbstvernichtung der Kranken: ,,Wenn man sich abschafft, thut
man die achtungswiirdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches ,Leben‘ in Entsagung, Bleichsucht, und andrer
Tugend*.*”” Insbesondere ,,das christliche Mitleid“ gehért zu den ,Tugenden‘,
die sich in der ,ungesunden Modernitat‘ der Zeit als lebensfeindlich erweisen
sollen. ,,Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer fiihren — das gehGrt zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen,
wir Hyperboreer!“**° Es ist bei alledem festzuhalten, da& Nietzsches radikalisiertes Ja—sagen
zum Leben bei gleichzeitiger Verengung seiner Perspektivik sich von seinen
friiheren, auch schon radikalen Verwerfungen qualitativ unterscheidet. 1884 notiert er z.B., die ,, Verurtheilung des ganzen Prozesses“ des Lebens durch ge die ,héchsten Menschen‘ seinen ,,Ubermenschen — Teufel heissen“ wiirden (Also sprach Zarathustra Il, a.a.O., 182). - Da der Ubermensch in Ecce homo in Zarat-
hustra ,zurtickgenommen‘ wird, zeigt Nietzsches Bemerkung, Zarathustra verberge es nicht, ,,dass sein Typus Mensch, ein relatiy [!] iibermenschlicher Typus, gerade im Verhaltnis zu den Guten tibermenschlich ist“ (ebd.).
*? Gétzen—Dammerung, Streifziige 36; KGW VI 3, 128ff. %° Der Antichrist 7; KGW VI 3, 172. - ,,Nichts ware niitzlicher und mehr zu férdern als ein consequenter Nihilismus der That“, hei&t es in einer NachlaGaufzeichnung. Wie Nietzsche ,,alle Phinomene des Christenthums, des Pessimismus“ versteht,
»80 driicken sie aus: wir sind reif, nicht zu sein; fiir uns ist es verniinftig, nicht zu sein’.“ Er verurteilt das Christentum hier, ,,weil es den Werth einer solchen reini-
genden groGen Nihilismus—Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den
Gedanken der unsterblichen Privat—Person entwerthet hat; imgleichen durch die
Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer wieder durch ein Abhalten von der That a dem Selbstmord ...“ (Nachla& Frithjahr 1888, 14[9]; KGW VIII 3,
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
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bestimmte ,,Religionen“ kénne nur ,ein Urtheil von Mi&rathene n sein!“ Dem schlieft er hier noch die Selbsteinwande an: »freilich, die Migrathen-
sten kénnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen kénnten
wenig werth sein?“*”' Solche grundlegenden Bedenken, die festgehalten und weiter ausgefiihrt, zu Abwandlungen auch von Nietzsches eigenem Denk-
ansatz hiitten fiihren miissen, gehen in seinem letzten Schaffensjahr verloren.
Auch sind der ungeduldigen Tatphilosophie von 1888 Nietzsches Erwigungen von 1885/86 gegeniiberzustellen, denen zufolge die ,,Menschen des
grofen Schaffens“ um der Durchsetzbarkeit ihrer Einsichten willen »an das
bestehende Sittengesetz“ ankniipfen und diese ,,unter dessen Worten und Anscheine einfiihren“ sollen. Dafiir sei es nétig, ,,viele Ubergangs— und
Tauschungsmittel zu erfinden“, was ,die Durchfiihrung so langwieriger Aufgaben und Absichten“ verlange, da dafiir ,,die Lebensdauer Eines Menschen beinahe nichts bedeutet“. Miisse doch ,,vor allem erst eine neue Art angeziichtet werden [...], in der dem namlichen Willen, dem naimlichen
Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbiirgt wird“. Hiernach soll noch »langsam und mit Vorsicht“ die ,,Geistigkeit und Willenskraft* einer starken Menschenart fiir ,,eine Umkehrung der Werthe“ vorbereitet und entfesselt
werden.’ Von diesem Standpunkt aus hat der spite Nietzsche seinen Zielen durch Ubereilung entgegengewirkt. Freilich scheint es nur eine Frage der zu
wahlenden Mittel zu sein, ob die Umwertung durch Krieg oder Verfiihrung herbeigefiihrt wird. Anders steht es, wenn er im Namen Zarathustras von der Herrscher—Kaste
fordert, sie solle (damit Gott ersetzend) ,,das tiefe
unbedingte Vertrauen der Beherrschten sich schaffen“. Zu den kiinftigen Herren der Erde gehort die ,,Verzichtleistung auf Gliick und Behagen. Sie
geben den Niedrigsten die Anwartschaft auf Gliick, nicht sich.“**? Auch die Moglichkeit, da ,,Europa in die Hande des Pébels gerath“, gehért zu Nietz-
sches Erwigungen Mitte der achtziger Jahre. Dann ware es ,,mit der europaischen Cultur vorbei“. Er sucht die Lander zu ,,bezeichnen“, in welche sich »die Cultur zuriickziehen“ kénnte; sie mii&ten ,,durch eine gewisse Un-
zuginglichkeit“ ausgezeichnet sein, Nietzsche nennt Mexiko!*™*
*' Nachla& Frithjahr 1884, 25[438]; KGW VII 2, 125.
°2 Nachla& Juni—Juli 1885, 37[8]; KGW VII 3, 308. - Zur von Nietzsche friiher vorgestellten
Allmablichkeit der Entwicklung zum groferen Menschen, fiir die er 1881 den Heutigen und sich selbst nur ein , Vorlaufer—Dasein‘ zusprach, vgl. oben Abschnitt 12, S. 230f.
*® Nachla8 August-September 1885, 39[3]; KGW VII 3, 350. 4 Nachlat Friihjahr 1884, 25[112]; KGW VII 2, 38.
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Zum Vorverstindnis von Nietzsches unbedingtem Willen zur Tat gehért
die Einsicht in das Offene kiinftiger Méglichkeiten, die ihm vor Augen standen und mit denen er rang. Man kann den maflosen Anspruch, den er
in den Schriften von 1888 erhebt, aus unterschiedlichen Gesichtspunkten
betrachten. Hier geht es darum, diesen Anspruch aus seiner ,Philosophie des Ja—sagens‘ heraus zu begreifen. Am Schlu& von Jenseits von Gut und Bose hatte der Autor die Verfliichtigung dessen erfahren, was er zu verewigen versucht hatte. Alles primar Bejahte hatte sich als hinfallig erwiesen. Zwar wird es, die ewige Wiederkunft des Gleichen vorausgesetzt, wiederkehren,
mit ihm aber auch die gleiche Hinfalligkeit.*** War das Wollen des Bejahten nicht intensiv genug gewesen? Wodurch kénnte die Intensitat noch gesteigert werden? Nietzsches Antwort lautet 1888: durch die wesentliche Tat. Doch mit der verscharften Intention auf die Durchsetzung seines Ideals der
Lebensbejahung und auf dessen Durchbruch in die ,Wirklichkeit* konzentriert Nietzsche die Intensitat seines Wollens, um es zugleich zu verengen. Fiir die letzte Radikalisierung seines ,Aktivismus‘ zahlt Nietzsche auch den Preis literarischer Einengung. Die Pline zu groSen Werken mit systematischem Anspruch werden fallen gelassen (,Der Wille zur Macht‘) oder zuletzt reduziert (,Die Umwertung der Werte‘ auf den ,Antichrist‘). An ihre Stelle treten die
Schriften von 1888, die vor allem im Dienst der genannten Tat stehen.*** Dadurch werden sie selber zu Taten (im Sinne der von Nietzsche angestrebten Umwertung). Die Intensivierung des ,Ja zum Leben‘, die hier ihren Ausdruck findet, ist darauf gerichtet, eine grundlegende Umwandlung in den menschlichen Ordnungen nicht nur zu fordern, sondern sie auch gewaltsam durchzusetzen. Dafiir ist der direkte literarische Angriff das geeignete Mittel.*°’ Nun
*§ Dazu sei auf die Aufzeichnung zu Marc Aurel hingewiesen, die erst in der Zeit zwischen November 1887 und Marz 1888 niedergeschrieben ist: ,,Jener Kaiser hielt
sich bestandig die Verganglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt Alles viel zu
viel werth zu sein, als daf es so fliichtig sein diirfte: ich suche nach einer Ewigkeit
fiir Jegliches: diirfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gieSen — und mein Trost ist, da Alles was war ewig ist: - das Meer spiilt es wieder heraus.“
(Nachla8 11[94]; KGW VII 2, 285)
356
Die Einschrankung des ,vor allem‘ bezieht sich darauf, da die Vorarbeiten zu Der Wille zur Macht z.B. in Gétzen—Dammerung (aber auch in Der Antichrist) einflieBen. Nicht wenige Texte in diesen Schriften sind fiir das vertiefte Verstiindnis von Theoremen Nietzsches von groSer Bedeutung.
**? Reprasentativ dafiir sind vor allem Der Antichrist und das Gesetz wider das Christenthum (KGW VI 3, 252). - Zwar finden wir
auch in Der Antichrist noch
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt
277
wird die Expression wichtiger als die Argumentation, die aufhalt oder auf
Umwege fiihrt (deren Ende sich nicht absehen la&t). Der Ausdruck wird grober
weil die rasche Uberwaltigung des Gegners angestrebt wird. Giorgio Colli
spricht ,von einem unruhevollen Drang zu sofortigem Handeln“ in den letzten
Schriften Nietzsches, der ,,erstmals auf eine unkontrollierbare geistige Involution“ deute.*** Wir lassen diese Erklarung hier beiseite, ohne ihr (relatives)
Recht zu bestreiten.*”’ Der Sachverhalt, den auch Colli beschreibt, erfordert
ein philosophisches Verstandnis. Auf welche philosophische Einstellung Nietz-
sches geht die Veranderung in Denkstil, Sprachausdruck und Publikationsdrang zuriick? Wir finden ihre Wurzel in dem beschriebenen ,Tatwillen‘, der sich in seinem vorangegangenen Denken als eine Méglichkeit der ,Problemlésung‘
zwar vorbereitet hat und sich schon friiher gelegentlich ,meldete‘. Ihre radikale Durchfiihrung im Jahre 1888 fithrt jedoch zum philosophischen Niedergang.
19. Uber das Verneinen im dionysischen Ja-sagen Je entschiedener das Ja auf die griindende Tat und ihre Konsequenzen zugespitzt wird, desto deutlicher scheidet es dasjenige von sich ab, das durch sie verneint wird. Die Steigerung der Intensitat dieses Ja—sagens zieht seine Verengung nach sich; sie erfolgt zu Lasten der Extension des Ja. Wird das
beeindruckende Argumentationen,
die aus den langen Vorarbeiten Nietzsches
herausgewachsen sind und nicht im Extrem seines Angriffs auf das Christentum aufgehen. Aber generell sind die Verscharfung des Tons und vereinfachende Zuspitzungen in den Formulierungen zu konstatieren.
358 Colli fart zu Nietzsches Schriften von 1888 aus: ,,Bei der zeitlichen Dichte (in weniger als einem Jahr halt Nietzsche fiinf oder sechs Schriften fiir abgeschlossen und veréffentlichungsreif) ist es nur natiirlich, da8 diese Schriften im Vergleich zu den friiheren, auch in ihrem Aufbau lange iiberlegten Werken an Umfang verlieren. Die Ungeduld zu publizieren stumpft das architektonische Gefiihl ab. Parallel dazu geht auch die theoretische, in gewisser Hinsicht sogar systematische Tendenz zuriick, die — wie sich aus einer Fiille von Notizen, Fragmenten und Entwiirfen ergibt — in der Periode von Jenseits von Gut und Bose und der Genealogie der Moral eine neve Entwicklung vorbereitet hatte.“ (Distanz und Pathos, a.a.O. [Anm. 343], 151)
* Vel. hierzu auch Uber ,das Ganze‘ und iiber ,Ganzheiten‘, Abschnitt 7, in: Nietzsche-Interpretationen II, S. 168f., insbes. Anm. 102. - Zu Collis Ausfiihrungen iiber Nietzsches Spaitphilosopie und ihre UnzeitgemaGheit‘ s. Exkurs 2 im Anhang
zu dieser Abhandlung: S. 312-314.
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278
bei Nietzsche Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen
ihr Nein-sagen Ja durch jene Tat aber nicht nur cingeschriinkt, sondern durch
und Nein—tun vielleicht sogar vom Nein dominiert?
Diese Frage soll im Ausgang vom »psychologische[n] Problem im Typus des Zarathustra aufgenommen werden, wie es in Ecce homo gestellt wird: Wie kann vder, welcher in einem unerhérten Grade Nein sagt, Nein thut, zu
Allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden
Geistes sein*?*” Es leuchtet ein, da® eine ,dionysische Natur‘, als die Nietzsche seinen Zarathustra sowohl wie sich selbst in diesem Buch versteht,
wdas Nein-thun nicht vom Jasagen zu trennen weiss“."*' Wenn das neue Ja sich den bislang herrschenden Wertesystemen in radikaler Andersartigkeit
entgegensetzt, so wird das Nein-tun zur ihm zugehdrigen Konsequenz. Nietzsche beansprucht mit seinem Widersprechen, ,wie noch nie widersprochen worden ist“, ,,trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes“ zu sein. ,Ich bin ein frober Botschafter, wie es keinen gab[;] ich kenne Aufgaben
von einer Hohe, dass der Begriff dafiir bisher gefehlt hat.“° ,,Das Geschaffene mu8 vernichtet werden, um dem neu-Geschaffenen Platz zu machen“, notiert er schon 1882/83.° Nietzsches ,dionysisches Bekenntnis‘, »die Lust am Vernichten in einem Grade“ zu kennen, die seiner ,,Kraft zum Vernichten gemiiss ist“, entspricht dem primiren Ja—sagen zur Umwertung
aller Werte. Wer, wie sein Zarathustra, ,,ein Schdpfer sein will im Guten und Bosen, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehort das hichste Bése zur héchsten Giite: diese aber ist die schépferische.“°™ Dem Ja des Schaffenden geht hier das Nein des Vernichtens (im ,,erst“) voraus. Gleichwohl leitet auch dabei ein vorgingiges Ja (im Schépfer—sein—wollen) das vernichtende Tun. Das in diesem Tun Verneinte ist aber nicht nur das, was beiseite geriumt werden muff, um fiir das Neue Platz zu schaffen. Das Ja—sagen braucht das zu Verneinende auch und vor allem als ” Ecce homo, Zarathustra 6; KGW VI 3, 3426.
*' Ecce bomo, Schicksal 2; KGW VI 3, 364. ‘2 Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 364.
* Nachla& November 1882-Februar 1883, S[{1], Nr. 234; KGW VII 1, 218. —Nietz-
sche unterscheidet hier die Weisen des Schaffens nur nach a It‘ und ,neu‘ (nicht aber
64
nach aufsteigendem und niedergehendem Leben) . Vgl. hierzu auch §. 242. Ecce homo, Schicksal 2; KGW [ VI 3, 364. — Nietzsche zitiert hier Also sprach Zarathustra Il, Von der Selbst— Uberwindung (KGW VI 1, 145). -— Im zitierten Zu-
sammenhang versteht sich Nietzsche als der ,,bei weitem [...] furchtbarste Mensch,
den es bisher gegeben hat“, was nicht ausschlieBe, da8 er ,.der wohlthitigste sein“
werde. — Zum ,umgewerteten Verstiindnis* yon :Giite® vel. oben S. 2736.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt
279
seinen Gegensatz, an dem es sic Pessimismus, das sich zur nihilistischh entfaltet. So kann n aus dem Nein des en Ver heinung steigert, gerade jene Stirke des Ja zum Leben erwachsen, die die se ij berwinden soll.3 Mehr noch. Der
starke Mensch hat in sich selbst das Leiden nti g, d das den P imi ; Weltverneinu ng treibt. Deshalb fordert sein Wille zur Macht sopar den’Willen zum Leiden‘.”” Alles Werden, das zu héheren Gestaltungen drangt, verlangt
nach dem, was es iiberwinden kann. Deshalb findet Nietzsche nicht erst beim .
.
6
:
,dionysischen’ Menschen ,,im Jasagen [...] Verneinen und Vernichten“, sondern in allem aufsteigenden Leben.”
Auferste Bejahung und Verneinung gehdren demnach pals Einheitsgefiihl
von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens“? noch enger zusammen, als ihre Entgegensetzung im Tat—willen zuerst erkennen lat. Der fiir die Umwertung als primar herausgestellte Aspekt der Entscheidung als Scheidung,*” die sich das zu Verneinende nur entgegensetzt, reicht nicht aus, um das dionysische Ja—sagen in seiner ,Einheit von Ja und Nein‘ zu be-
schreiben. Dieses Ja tragt die Verneinung als fiir es selbst konstitutive Bestimmung in sich. Im Riickblick auf die Konzeption eines ,héchsten Zustands‘ der ,,Daseins-
bejahung“ in der Geburt der Tragédie, des tragisch-dionysischen Zustands,
sieht Nietzsche 1888 den Schmerz, ,,jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen*.*”° Wie das Leiden so gehért auch das unverstellte Leiden—machen zum Leben der Starken und Schépferischen. Aus dem Uberschu ,,von zeugenden und befruchtenden Kriften“ heraus soll ,,der
Reichste an Lebensfiille, der dionysische Gott und Mensch“.— sie sind, wie
wir dargelegt haben, beim spaten Nietzsche zusammengeriickt — ,,sich nicht nur den Anblick des Fiirchterlichen und Fragwiirdigen génnen, sondern selbst %65 ‘Vel. dazu oben Abschnitt 15, S. 250f. 366 Nachla® November
1882—Februar 1883, 5[1], Nr. 225; KGW VII 1, 217. - Zu
Zarathustra 3“ notiert Nietzsche, da& die Bereitschaft zum Leiden eine Frage der Kraft, der Starke des Willens zur Macht sei. Die ,.ganze Noth, im Widerwillen gegen
das Leiden“, die Zarathustra selbst am »Aussprechen des Gedankens hinderte“, sei
aus einem ,,Instinkt der Schwache“ gekommen. Aber: ,,Der Wille zum Leiden ist
sofort da, wenn die Macht gro& genug ist.“ (Nachla& Herbst 1883, 16[79]; KGW
VII 1, 551.)
* Ecce homo, Schicksal 4; KGW VI 3, 366.
“* Nachla& Frithjahr 1888, 14[14]; KGW VIII 3, 16. * Vel. oben S. 268.
*” Nachla@ Frithjahr 1888, 14[24]; KGW VIII 3, 21.
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280
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
die fiirchterliche That und jeden Luxus von Zerstorung, Zersetzung, Vernei-
nung“ erlauben kénnen.°”' Uber die darin gekennzeichnete Besonderheit des jeweiligen schépferischen Tat—willens geht Nietzsche hinaus, wenn er das Dionysische als ,,ein verziicktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens“ kennzeichnet, welches ,,auch die furchtbarsten und fragwiirdigsten
Eigenschaften des Lebens gutheift und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus*. So schreibt er in jenen Aufzeichnungen vom Friihjahr 1888, in denen er auf sein Buch von 1872 eingeht.>” Wenn Nietzsche sich hierbei (wie in Gétzen—Dadmmerung und Ecce homo) wieder auf seine Rede vom Dionysischen in der Geburt der Tragédie bezieht,
so bedarf dies einer differenzierenden Betrachtung. Schon im ,,Versuch einer
Selbstkritik, der zweiten Auflage des friihen Buches vorangestellt, hatte er
iiber dessen ,Fragwiirdigkeit’ gehandelt. Zwei Aspekte heben wir heraus,
unter denen er sein ,,Erstlingswerk“ hier sieht.°”? Zum einen spricht er von seinen friihen ,,Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name Dioynsos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war“, von der grofen »Aufgabe“, an die er ,,bereits in diesem Buche zu riihren wagte“.>”4 Zum
anderen kritisiert er seine damalige ,,Artistenmetaphysik“, die an Schopenhauer und Kant orientiert geblieben sei.*” Im Riickblick von 1888 hingegen
tragt Nietzsche spatere ,Erfahrungen‘ seines Denkens in seine friihe Konzeption des Tragischen ein. Man kann auch umgekehrt sagen, daf er das Dionysische der friihen Schrift bis zu seinen ,letzten Einsichten‘ hin auszieht. Die Differenz zwischen dem Friihen und dem Spiten ist allerdings zu beachten.*”® Wo Nietzsche sie nicht selbst kenntlich macht, hat dies die
! Fréhliche Wissenschaft 370; KGW V 2, 302. *? Nachla& Frithjahr 1888, 14[14]; KGW VIII 3, 16. — Nietzsche spricht in den mit diesem Stiick beginnenden Aufzeichnungen von sich als dem Autor der Geburt der Tragédie in der dritten Person. Er geht aber in dieser Selbstinterpretation tiber dieses Buch auch immer wieder hinaus.
*” Die Geburt der Tragédie, Versuch 1, 2; KGW Ill 1, 6, 7.
4 4.a.0., 3, 6; KGW II 1, 9, 13.
A.a.O., 5, 6; KGW Ill 1, 11£., 13f. 6 Unter anderen hat Martin Heidegger die Verschiedenheit zwischen friihem und spatem Nietzsche in der Begriffsverwendung deutlich hervorgehoben: ,,Wenn Nietzsche am Beginn seiner denkerischen Bahn das Wesen der Kunst, und d.h. der metaphysischen
Tatigkeit des Lebens in demselben Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen
denkt wie an ihrem Ende, so miissen wir sehen, da8 es doch nicht dasselbe ist.“ Sei
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
281
Interpretation zu tun. Im ,Versuch einer Selbstkritik‘ stellt er heraus, daG die Geburt der Tragédie ,nur einen Kiinstler—Sinn und —Hintersinn hinter allem Geschehen“ kenne, einen ,,ganzlich unbedenklichen und unmora-
jischen Kiinstler-Gott“. Dieser lése sich, ,,Welten schaffend, von der Noth der Fiille und Ueberfiille, vom Leiden der in ihn gedrangten Gegensitze*. Er wisse ,nur im Scheine sich zu erlésen“. Eine solche ,Rechtfertigung‘ des Daseins der Welt ,,als asthetisches Phinomen“ hat Nietzsche in den Achtzigerjahren zuriickgelassen,*” zugleich aber auch die Metaphysik eines ,cinfachen‘, aus sich heraus tatigen ,ewigen Willens zur Zeugung‘,
yon dem oben die Rede war.’ Die metaphysischen Anklange in Nietz
dieser Gegensatz doch in der Geburt der Tragédie ,,noch gedacht in der Ausrichtung
der Schopenhauerschen Metaphysik, trotzdem sie sich mit dieser, ja weil sie sich mit dieser auseinandersetzt“. (Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, HGA 43, 121)
Sehr entschieden hat Mihailo Djuri¢ im Hinblick auf Nietzsches Kunstphilosophie den Unterschied zwischen dem Dionysos von Die Geburt der Tragédie und dem des Spatwerks herausgearbeitet; Nietzsches ,,Riickkehr“ zum Dionysischen sei nicht als » Wiederholung des langst durchlaufenen Weges aufzufassen. Ein Zuriick war schon
wegen der in der Zwischenzeit gewonnenen Denkerfahrung nicht méglich.“ (Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985, 264ff., hier: 264) —Im Unterschied dazu vertritt Peter Késter die Auffassung, Nietzsche habe ,,vom Anfang in der ,Geburt der
Tragédie‘ bis zu den spatesten Schriften* den Namen ,Dionysos‘ mit ,,dionysischer GréGe und selbstzerstérerischer Zerfallenheit“ identifiziert. Dem kann man insoweit zustimmen, als Elemente des Dionysischen, wie Késter sie beschreibt, sich in dem genannten Buch finden und vom spaten Nietzsche abgewandelt und ,radikalisiert‘
zur Geltung gebracht werden; niemand wird jede ,Kontinuitit‘ in Nietzsches Reden vom Dionysischen leugnen. Késter jedoch deutet das Dionysische als von Nietzsche in seinem gesamten Werk durchgehaltenes metaphysisches Grundprinzip. So schreibt er: ,,.Der einzelne Mensch, die historische Person ist fiir Nietzsche von Anfang an
nur Werkzeug und Mundstiick des im Innersten der Welt grundgelegten dionysischen Kreisens in der Einheit von Aufbau und Zerstérung. Diese gleiche Grundgewalt, auGer der nichts ist und als die alles (auch der Mensch) , ist‘, heiSt in der Folge dann ,der
377
Wille zur Macht‘. (Die Renaissance des Tragischen, Nietzsche—Studien 1 [1972], 207f.) Doch ,den‘ Willen zur Macht als griindendes Eines gibt es fiir Nietzsche nicht. (Zu meiner kritischen Auseinandersetzung mit Késters Grundauffassung vgl. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Anhang, oben insbes. S. 90-95.) cre 5; KGW III 1, 11. — Zur Erlésung im apollinischen Schein vgl. oben S. 192, of.
37k
Vel. S. 280, dazu Anm. 372. - Sylvain de Bleeckere hat die beiden Momente
herausgearbeitet, an denen Nietzsches Geburt der Tragdédie als tragische Philosophie gescheitert ist: Dieses Buch stehe erstens mit der Rede vom ,,Ur—Einen“ in der » Tradition des metaphysischen Voluntarismus von Schelling und Schopenhauer‘;
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282
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
sches Schriften und in seinen nachgelassenen Ausfiihrungen zum Dionysischen von 1888 erweisen sich genauer beschen als Selbstzitate. Wenn er in Gétzen—Dammerung von der ,,Psychologie des Orgiasmus als eines
iiberstr6menden Lebens— und Kraftgefiihls“ bei den Griechen handelt und ausfiihrt, erst ,,im Opfer seiner héchsten Typen“ werde ,,der Wille zum Leben [...] der eigenen Unerschdpflichkeit* froh, so weist er damit auf die Metaphysik des sich ,individuierenden Ur—Willens‘ der friihen Schrift zuriick (,,das nannte ich dionysisch“, namlich in der Geburt der
Tragédie).°” Fiir das Verstindnis des ,Opfers seiner selbst‘, zu dem sich der Mensch der Uberfiille gedriingt sehen kann, bedarf der spatere Nietzsche nicht mehr metaphysischer Annahmen. Allein aus dem sich fortwihrend weiterzeugenden Leben als den Prozessen von Willen zur Macht erwachst nicht nur die Selbst—Steigerung, sondern auch die Selbst—-Verschwendung, zu welcher das
,wahre‘ Opfer gehért.**° Nietzsche sucht im ,,Reichthum an Person“ als ,,Eine zweitens bilde in ihm die tragische Kunst ,,innerhalb der Welt des Scheins“ nur ,,ein metaphysisches Trostelement, weil es der gré6&tmégliche Widerschein des metaphysischen Unsichtbaren ist“: der einzigen Wirklichkeit, des Dinges an sich. In der Geburt der Tragidie zeige sich noch ,,Nietzsches damalige[r] Verbundenheit mit der Dekadenz
der europaischen Kultur“, wobei de Bleeckere an dessen geistige Verwandtschaft mit Wagner denkt. — Er weist auch auf die Uneinheitlichkeiten von Nietzsches erstem Buch hin, in dem ,,weder die Willensmetaphysik noch die Kulturphilosophie ,,in einem kohdrenten Kapitel entwickelt“ sind, sondern ,,sich abschnittsweise tiber die 15
Kapitel“ erstrecken. Erst Also sprach Zarathustra ist ,,die tragische Philosophie Nietzsches“. (,Also sprach Zarathustra‘: Die Neugestaltung der ,Geburt der Tragidie’, in Nietzsche—-Studien 8 [1979], 270-288, hier: 271-274, 284ff.)
*” Gétzen—Ddammerung, Was ich den Alten verdanke 5; KGW VI 3, 154. — Eine erginzende Bemerkung zu Nietzsches ,Konzeption‘ des Dionysischen und ihrer
» Wirkung* findet sich in Exkurs 3 im Anhang zu dieser Abhandlung: S$. 315-317. 380
Nietzsche weist jedes Verstindnis von ,Opfer‘ im Sinne des Nichtegoistischen als
unwahrhaftig zuriick. Er zielt auf iiberlieferte Vorstellungen, wenn er Zarathustra sagen la8t: ,, Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender mit tausend Handen: wie diirfte ich Das noch — Opfern heissen!“ (Also sprach Zarathustra
IV, Das Honig—Opfer; KGW VI 1, 292. Vel. dazu NachlaS Winter 1884-85; 31[5 1];
KGW VII 3, 98) —,,Wer wirklich Opfer bringt, weif, daB es keine Opfer waren!“ So Nietzsche zum Schein ,antiegoistischer Aufopferung’, in der man sich fiir etwas ,weggibt’,
das man liebt, (Nachlaf Friihjahr 1884, 25[155]; KGW VII 2, 50. Vel. hierzu Jenseits von Gut und Bose 220; KGW VI 2, 160f.) — Aus der ,selbstischen‘ Schépferkraft entspringt auch die Forderung, ,,das Gliick der Gegenwiartigen zum Opfer [zu] bringen fiir die zukiinfligen Menschen“ (Nachla8 Herbst 1883, 17[78]; KGW VII 1, 589).
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt
283
Gesinnung“ zusammenzudenken, was »Nach gemeiner Auf fassung entgegengesetzte Gesinnungen sind“: zum einen »das Herr—-werden—wollen *
a
Ubergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf alles zu haben“; zum Ub strémen und Abgeben“ , auf dem ,,die groS anderen ,,dasas Uber en Opfer sandund
die groBe Liebe“ beruhen. Nun mégen zwar beide Einstellunge n von einem
,Jasagen“ der Person »ZU sich“ getragen sein. Allerdings bleibt doch zweifel-
haft, ob die unterschiedlichen Weisen von Steigerung und ,Verschwendung‘
nicht sehr wesentlich voneinander verschiedenen Typen von ,Gréfe‘ des
Menschen zuzuordnen
sind. Die im vorigen Abschnitt beschriebene Ge-
walt-tatigkeit des Umwerters aller Werte lit sich kaum mit derjenigen
,Gesinnung* zusammenschlie&en, die das liebende »Abgeben‘ als Sich—schenken kennzeichnet.**! Wenn
Nietzsche 1882 in seinem amor fati ,nur noch ein Ja—sagender sein“
will, fiir den ,,wegsehen“ die ,,einzige Verneinung“ sein soll, so findet in solcher »Liebe“ eine der beiden genannten ,Gesinnungen‘ Ausdruck, wahrend die andere zuriickbleibt.*” 1888 hei&t es vom amor fati, er besage: ,,dionysisch zum Dasein
stehn“. Doch dabei beschreibt Nietzsehe, vor allem im Riickblick auf sein eigenes
Leben,’ daf es ,,die Grésse am Menschen“ ausmache, das Notwendige zu ,lieben“, d.h. ,,dass man Nichts anders haben will, vorwarts nicht, riickwérts
nicht, in alle Ewigkeit nicht*.*** Die eigentliche Problematik des Zugleich von Ja und Nein im Dionysischen kommt dabei nicht zum Austrag: Wie der eigene ,Wille zur Tat‘, der das zu Vernichtende von dem fiir die Zukunft 81 Nachla& Herbst 1887, 10[128]; KGW VIII 2, 196. — Letzterem kommt die Kenn-
zeichnung von ,uns Immoralisten‘ nahe, da& wir ,,unser Herz weit gemacht“ haben fiir alle Art Verstehn,
Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir
suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein.“ (Gétzen—Dammerung, Moral als Widernatur 6; KGW VI 3, 81) — Vgl. zu dem oben angedeuteten Gegensatz: Vf., Nietzsche, 5. Kapitel, a.a.O. [Anm. 18], 116-134.
2 Froéhliche Wissenschaft 276; KGW V 2, 201. - Hier hei&t es: ,,Ich will keinen Krieg
gegen das Hassliche fiihren. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankliger anklagen.“ * Nachla& Friihjahr-Sommer 1888, 16[32]; KGW VIII 3, 288. — Nietzsche spricht hier von seinem eigenen philosophischen Weg, der durch den aufersten »Willen
zum Nein“ zum ,,Umgekehrten hindurch* fihrt und ihn im amor fati siberwindet*
(ebd.). Der Bezug auf die eigene ,,innerste Natur“ kann das ,Nein‘ des durchlitte-
nen ,gro&en Schmerzes‘ und auch das lange »Siechthum* als »das Nothwendige,
aus der Hohe gesehn und im Sinne einer grossen Okonomie“ bejahen. (Nietzsche contra Wagner, Epilog 1; KGW VI 3, 434) ™ Ecce homo, Warum ich so klug bin 10; KGW VI 3, 295.
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244
Ober das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche
Gewollten scheidet, es in cinem damit bejahen kénnen soll. Das ,Oberstrémen‘
im verncinenden Tatwillen und in der bejahenden Zuwendung kénnen nicht zusammenfallen, es sci denn: der Tatwille bejahe sich allein in der Selbstliche. Doch Nietzsches ,,Bejahen und Gutheifven aus cinem liberstromenden Gefiihle von gestaltender Macht* drangt ja tiber das Selbst hinaus. Die Liebe ist darin auch ,nicht Licbe zu den Menschen oder zu Géttern, oder zur Wahrheit, sondern
Liebe zu einem Zustand, cinem geistigen und sinnlichen Vollendungs—Geftibl*.”’ Die Liche ist auf diesen Zustand gerichtet, sie fallt nicht mit ihm zusammen. Er ist ~ als dionysischer Zustand — mehr und Hoheres als die Liebe zu ihm. Die Liche weist den cinzelnen Menschen tiber sich hinaus. Deshalb widerspricht
auch scin Opfer nicht dem Ja—sagen zu sich selbst. Vielmehr kann er in dieser Weiu: der Selbst—,Verncinung! sogar dic héchste Steigerung seiner Selbst-Bejahung, erreichen.™ Fiir den ,dionysischen‘ Menschen kommt es darauf an, ,die
ewige Lust des Werdens selbst zu scin*,’”” welche mit dem Leiden und dem Schmerz cin ,inheitsgeftihl' bildet. Zarathustra sagt und ,tut‘ nicht nur ,Nein‘, cr hat in alldem (und ihm vorweg) ,die harteste und furchtbarste Einsicht
in dic Realitét*, Doch auch sie Jat ihn zuletzt nicht noch ,Nein‘ zum Leben sagen, Selbst der Gedanke der ewigen Wiederkunft dieser Realitat bildet fiir ihn ,,keinen Kinwand gegen das Dasein“. Vielmchr bildet er fiir Zarathustra
,cinen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein*.”” ?
Wachla’ Friihjahr 1884, 25[451); KGW
VII 2, 129. — Nietzsche zieht hier die
»hilosophie ale Liebe zur Weisheit® noch aus zur Licbe zu dem genannten Voll-
endungs—Zustand, Hr weist ,hinaufzu dem Weisen als dem Begliicktesten, Machtigsten, der alles Werden rechtfertigt und wieder will.“ Die Aufzeichnung schlieft
mit den doppelt unterstrichenen Worten ,,wirkliche Liebe!“ (cbd.) ” Nietzsche will zur ,bOchsten Bejabung* gelangen als zu cinem ,Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fremden und Fragwiirdigen des Dascins selbst...“(ece homo, Die Geburt der Tragédie 2; KGW VI 3, 309).
Kin Ja mit Vorbchalt ist noch die Selbstbejahung des Starken allein um der Erhaltung seiner besonderheit willen. Diese ,Hinstellung* steht als ,verengter Egoismus‘ im Gegensatz zum ,weiten Egoismus‘, aus dem die oben beschriebene Selbst~Steigeruny als Selbst—Verschwendung herauswachsen kann. Jener Versuch
des Festhaltens an cinem erreichten Status, die Sclbst—Kestandigung, scheitert am weiterschreitenden Werden, Flir unseren Zusammenhang ist wesentlich, daf wolches Festhalten sich dem radikalen dionysischen Nein verweigert und sich damit gugleich dem dionysischen Ja zum Leben verschlie&t.
? Cuzen—Ddmmerung, Was ich den Alten verdanke 5; KGW VI 3, 154. Vgl. Ecce homo, Die Geburt der Tragddie 3; KGW VI 3, 310. 8 Hece homo, Also sprach Zarathustra 6; KGW VI 3, 343, - Vgl. hierzu und zum
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Zweiter Tcil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
285
In Ecce homo schlie&t Nietzsche das Nein-sagen und Nein-tun des dionysisch verstandenen Gcistes mit dem ,ungeheuren unbegrenzten Ja—und
Amen-sagen* zusammen, von dem in Also sprach Zarathustra,
Vor Son-
nen—Aufgang, die Rede ist.” Doch die in diesem Kapitel geschilderte
Erfahrung Zarathustras lat sich nur schwer mit dem ,Tat—Willen‘ des letzten
Nietzsche vercinbaren. Zarathustras »ganzer Wille“ will dort in den reinen »Licht-Abgrund“ des noch nichtlichen Himmels iiber sich »hinein fliegen“.
Er ha&t alle ,,Zich-Wolken* von Gut und Bése, welche die Reinheit dieses
Himmels beflecken, aber er ha&t auch noch seinen eigenen Ha&, der den »Himmel Zufall* befleckt. Auch die Paukenschlige von Zarathustras ,,.Donner“ rauben ihm das ,,Ja! und Amen!“ der Reinheit des Himmels, das ihm mit diesem ,,gemein“ ist. Im ,Himmel Ohngefahr“, der iiber allen Dingen steht, will ,,kein ,ewiger Wille“, gibt es keinen ,Zweck‘, Zarathustra ist ,,ein
Segnender und Abgriinde“ tragt Von solchem homo verstchen,
ein Ja—sager“, wenn jener Himmel um ihn ist: ,in alle er da noch sein ,,segnendes Ja-sagen“. segnenden Ja—sagen her kann man die Ausfiihrung in Ecce Zarathustra sage ,,zu Jedem das Giitigste“, er fasse ,,selbst
seine Widersacher, die Priester, mit zarten Hiinden“ an und leide ,,mit ihnen
an ihnen“. Dionysisch ist fiir Nietzsche aber nicht nur Zarathustras ,,Zugianglichkeit zum Entgegengesetzten“, sondern auch die Harte, die sich nicht da-
rum schiert, was durch sie zerstért wird. Als ,,cinen letzten Gesichtspunkt [...] fiir cine dionysische Aufgabe“ hebt Nietzsche schlieflich einmal mehr hervor, da zu ihr ,,die Lust selbst am Vernichten in entscheidender Weise“
gchére. Der dionysische Zarathustra in Ecce homo, der zugleich das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein hat, ist in der ihm immanenten Gegensitz-
lichkeit tiber-menschlich.””
Beim spiiten Nietzsche durchdringen sich Vernichtungswille der Tat und Bejahung auch des Verneinten auf cine Weise, die keine ,Synthese‘ zulatt.
Was er verflucht, miifte er zugleich segnen. In der dionysischen Gottheit mag
er die Extremformen von Ja und Nein, Liebe und Vernichtung, Segen und
Fluch zusammenlaufen lassen konnen. Dem philosophischen Denken entzieht
sich solche Einheit; ,Gétter‘ freilich kann man noch mit ihrer Absurditit beladen.*”! folgenden oben S. 256ff.
™ Also sprach Zarathustra IMI; KGW VI 1, 204f.
3, 342, 347. ™ Eece homo, Also sprach Zarathustra 6 und 9; KGW VI
“! Im Hinblick auf ,,die dionysische Vereinigung cines Nein und Ja zum gleichen Gegenstande und in cinem Atem“ bedarf es, wie Emanuel Hirsch geschrieben
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286
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
20. Vom primdren Ja—sagen zur ,héchsten Bejahung‘. Uber den Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen Es ist Nietzsches duferste Intention, alle Verneinung und Vernichtung in
das héchste Ja—sagen hineinzunehmen. Das héchste Ja ist fiir ihn als das »{reudigste, iiberschwanglich—iibermiithigste Ja zum Leben“ zugleich das ,,letzte“ Ja. Dieses Ja soll ,,nicht nur die héchste Einsicht“ bilden, es gilt ihm auch als
»die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestitigte und
aufrecht erhaltene“.*”” Nietzsche deutet in dem zitierten Zusammenhang auf die Wiederkunftslehre hin, als ob er schon zur Zeit der Entstehung der Geburt
der Tragédie den Begriff des Dionysischen mit ihr verbunden hatte. Solches andeutende Hineinlegen des Spiiten in das Friihe kann er aus seiner Riickblicks—Einstellung in Ecce homo rechtfertigen. Ihr gemaf& lauft sein friiheres Ja—sagen auf das hier ausgesprochene letzte Ja hinaus. Wenn das Verstiindnis des Dionysischen in seinem ersten Buch auch noch nicht zur ,héchsten Einsicht‘
durchgedrungen sei, so weise es doch mit innerer Notwendigkeit auf sie vor. Man kann jedoch den umgekehrten Weg einschlagen. Man kann fragen,
wie Nietzsches letztes Ja aus dem Anfang heraus zu verstehen ist. In welchem hat, ,,nicht grofen Scharfsinns, um das Urbild dieses Dionysos zu sehen: Luthers Gott, der zugleich Richter und Vater, héchster Zorn und héchste Liebe ist“. In der Tat ist in Luthers Rechtfertigungslehre ,,zuerst ausgesprochen“ worden, ,,daf im absoluten Betracht zu einem Endlichen zugleich Ja und Nein gesagt, es zugleich gesetzt und aufgehoben werden miisse“. So ist fiir Hirsch ,,Dionysos [...] ein naturalistisches Nachbild des lutherischen Gottesbegriffes, das Dionysische
ein naturalistisches Nachbild der lutherischen Frommigkeit“. Darin liegt, bei aller Vereinfachung in der Gegeniiberstellung, gleichwohl mehr als nur ein Funke von Wahrheit. (Nietzsche und Luther, Luther-Jahrbuch 1921, 61-106; zit. nach dem Wiederabdruck mit einem Nachwort von J. Salaquarda, in: Nietzsche-Studien 15 [1986], 398-439, hier: 419) — Hirsch verweist auf die Ent-
schiedenheit, mit der sich Nietzsche gegen Luthers Gottesverstindnis gewandt hat. So schreibt Nietzsche in der Vorrede zu Morgenréthe (1886), fiir die ,,gefahrlichste aller SchluSfolgerungen“: ,,credo quia absurdum est“, sei ,,die deutsche Seele“ schon immer besonders empfanglich gewesen (3; KGW V 1; 7). Seine
eigene offensichtlich auch, — was seine Philosophie des Dionysischen nicht plausibler macht. * Ecce homo, Die Geburt der Tragédie 2; KGW VI 3, 309. — Angesichts von Nietzsches fundamentaler Kritik an den Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Denkens ist dessen Inanspruchnahme fiir die ,Tiefe‘ des Wiederkunftsgedankens nur als persuasive Argumentation anzusehen. Vgl. dazu unten S. 294 Anm. 419.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt
Sinne ist der Wiederkunftsgedanke die ,Kons Teleologie, die diesem die Rich
:
verborgene
eigenen Voraussetzungen nicht ins Spiel bringen. Nietzsches Ja zur ce Bejahun ewi die extensi
vste Wiederkunft des Gleichen stellt zweifellos der sein Philosophieren gelangen kann. Dies schlie&t nicht aus dat es ame
yon mehreren ,Ausziehungen‘ des primaren Ja-sagens darstellt. Nietzsches friihe dionysische Metaphysik, das (,vordionysische‘) Ja—sagen Zarathustras
die Selbstproblematisierung Nietzsches in Jenseits von Gut und Bose. der
Tat-wille in der Bejahung der Umwertung im Spatwerk waren dann als be-
sondere Auspragungen und Ausarbeitungen eines svorgiingigen Ja neben die
Wiederkunftslehre zu stellen. Jedenfalls miissen sie nicht nur als Vorstufen
des letzten Dionysismus Nietzsches ausgefaft werden. In diesem Abschnitt soll der Wiederkunftsgedanke aus dem anfinglichen
Ja-sagen heraus dargestellt werden. Dieses will sich als schaffend bewahren.
Darin sucht es immer erneut ein Anfang zu sein. Als der von Nietzsche persénlich gelebte Impuls tritt dies in einem Riickblick auf Die Geburt der Tragédie von 1883 und 1885 heraus. Er schreibt hier: ,,Ich habe mich immer darum bemiiht,
die Unschuld des Werdens mir zu beweisen: und wahrscheinlich wollte ich so das Gefiihl der vélligen ,Unverantwortlichkeit‘ gewinnen [...]: um Ziele
zu verfolgen, die sich auf die Zukunft der Menschheit beziehen“*.°”’ Als ein Immer—wieder—Anfangen aus einem Ja—setzen heraus kann auch Nietzsches
Kennzeichnung seines Denkens als einer ,,Experimental—Philosophie“ verstanden
werden. Er sagt von ihr, daf er sie lebt. Als gelebte Philosophie nimmt sie »versuchsweise selbst die Méglichkeiten des grundsitzlichen Nihilismus vorweg“.
Auch darin noch wird sie von einem primiren Ja—sagen getragen. Deshalb kann sie ohnehin nicht ,,bei einem Nein, bei einer Negation stehen“ bleiben.
Sie sucht schlieflich ,,bis zum Umgekehrten*
hindurchzudringen: ,,bis zu einem
dionysischen Jasagen zur Welt ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl*.°”* — Auf den Gewinn eines primaren Ja-sagens ist auch die dritte und letzte Verwandlung gerichtet, von der Zarathustra spricht. Sie fithrt zur ,Unschuld des Kindes‘, die er als ,, Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja—sagen” beschreibt.*” * Nachla& Frithjahr—-Sommer 1883, 7(7]; KGW VII 1, 245f. Vgl. Nachla8 Juni—Juli
1885 36[10]; KGW VII 3, 277.
” Nachla& Friihjahr-Sommer 1888, 16[32]; KGW VIII 3, 288f.
,
” Also sprach Zarthustra 1, Von den drei Verwandlungen; KGW VI 1, 27. - un x sFreiheit‘ vgl. Freibeit ,Unschuld des Werdens‘ und Nietzsches Verstindnis von Wille, Nietzsche—Interpretationen I], Abschnitte 16-18.
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288
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Das Schaffen bedarf des anfanglichen, ersten Ja—sagens. In ihm griindet
Nietzsches letztes und héchstes Ja zum Leben. Wir haben oben die Aktivitit
des primiiren Ja—sagens des Menschen herausgestellt.”* In unserem Zu-
sammenhang ist vom Ja—setzen als dem Ja—sagen des starken Menschen zu sich selbst auszugehen, das sich auf ,das Ganze‘ von Bejahungen und Vernei-
nungen auszuweiten sucht.>” Fiir den Wiederkunftsgedanken ist wesentlich,
da in diesem Ja—sagen die Tendenz auf Selbstbehauptung, auf Ausweitung und Machtsteigerung liegt. Deshalb ist das Schaffen auf unbegrenzte Dauer aus. Im unaufhérlichen Werdensflu& kann es aber kein dauerhaftes Sein
geben. Deshalb intendiert der Wille zur Macht des Starken die Wiederher-
stellung des Bejahten und in letzter Konsequenz dessen unendliche Wiederkunft. Das darin Gegriindete des ewigen Kreislaufs ist aber nicht der faktische, sich wiederholende Proze&. Die Wiederkunft des Gleichen ist Gedanke, welcher gelehrt wird, um zum Glauben werden zu kénnen. Die Einverleibung des Gedankens ist dabei Nietzsches ,Ziel‘. Er bleibt aber darin, gerade
von Nietzsches Denkvoraussetzungen aus, ,nur‘ Interpretation des ,besonderen Lebewesens‘ Mensch, das die bisherige ,Entwicklung des Lebens* in sich aufgenommen und auf spezifische Weise weitergefiihrt hat.°”® Der Weg, den Nietzsche vom anfanglichen, d.h. allen besonderen Entfaltungen vorgingigen Ja zu seinem letzten und héchsten Ja geht, bedarf der Erlauterung. Diese soll im folgenden in neun Schritten vorgenommen werden. 1. Nietzsche zufolge liegt allen Urteilen und Erkenntnissen (schon den
Wahrnehmungen unserer Sinne) ein Ja—sagen zugrunde. Sowohl jedes erste wie auch alles weitere Ja—sagen stellt in sich ein Wertschatzen dar. Dieses ist als Wert—setzen zugleich ein Ja—setzen, das sich als Wille zur Macht im
Kampf mit ihm entgegenstehenden Setzungen auspragt. Als ,Urteilen‘ im weitesten Sinne des Wortes ist das Ja—sagen notwendig ein besondertes 6 Vel. insbes. S. 228ff., S. 245ff., S. 248f. *? Vel. oben Abschnitt 15, S. 248ff. - Zum ,Sein ‘ des Menschen gehért, daf er in sich auf die Vielheit von Affekten und Trieben trifft, von denen jeder sich selbst bejaht und sich machtvoll auszuweiten trachtet. Beim ,starken Menschen‘ sind sie
39K
im Sinne des aufsteigenden Lebens organisiert (vgl. dazu oben insbes. die Abschnitte 11, S. 228f., und 14, S. 241ff.). Vgl. dazu Uber ,das Ganze‘ und tiber ,Ganzheiten’, in: Nietzsche-Interpretationen II, Abschnitte 22.3, 22.5 und 22.6. — Der Schein der Einschrankung (im ,nur‘) mu8 aufgehoben werden, Auch hinter das Interpretieren kann nicht zuriickgegangen werden (s. Punkt 4, unten S, 290f.).
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
289
Wertschitzen, das auf anderes besondertes Wertschiitzen trifft.°’ Daraus erwachsen Unterwerfungs— und Anpassungsprozesse zwischen den Wertschatzungen. Ihr Gegensatz kann im Machtkampf zu Extre mformen wechselseitiger
Verneinung fiihren.“° »Zum Lebenkénnen der Werthschit zungen
gehart“, da sie ,,vernichtet“ werden kénnen, notiert Nietzsche. Im Wert-
schatzen mu8 ,,der Schépfer [...] immer ein Vernichter sein. Das Werth-
schatzen selber aber kann sich nicht vernichten: das aber ist das Leben.“ 2. Wie das Wertschatzen, so kénnen auch das Urteilen und das Ja—sagen
als solche im Leben nicht vernichtet werden. Wertschatzen, Urteilen, Ja—sa-
gen fallen in eins mit dem Willen zur Macht. Wille zur Macht ist immer wertschatzend, urteilend, ja—sagend. Mit diesen Bestimmungen kennzeichnet Nietzsche das gegeniiber allen Besonderungen primar Gegebene des Lebens, das nicht von anderem ,abgeleitet‘ werden kann, auch nicht wechselseitig von einander‘.*”* Auch ist das mit diesen Bestimmungen Genannte® nicht ,geworden‘. Nietzsche notiert: ,,Man kann das, was die Ursache dafiir ist,
dafs es iiberhaupt Entwicklung giebt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung iiber Entwicklung finden; man soll es nicht als ,werdend‘ verstehn wollen, noch weniger als geworden... der , Wille zur Macht‘ kann nicht
3 Vel. dazu oben insbes. Abschnitt 9, S. 218-223, Abschnitt 14, S. 239f.
409 Vel. oben Abschnitt 15, S. 248ff. 1 Nachla& November 1882—Februar 1883, 5[1], Nr. 234; KGW VII 1, 218. 2 Das schlie&t ein, da& ,sekundare‘ Urteile auf ,primaren Wertschatzungen‘ beruhen kénnen und daf zu jenen wiederum ein gewissermafen ,tertiires Ja‘ gesagt werden kann, wie umgekehrt ein urteilsmafiges Ja—setzen die Grundlage fiir besondere Wertschitzungen bilden kann.
43 Die Verschiedenheit der Namen fiir das Anfangliche und Unhintergehbare er-
méglicht zugleich dessen Ausziehung in unterschiedliche Richtungen. So kommt in der ,Logik‘ das ,Urteilen‘ zu besonderer Auspragung, in der ,Moral‘ und ,Moral-
philosophie‘ das ,Wertschatzen‘. Fir das ,Asthetische‘ und fiir die ,Kunst‘ kann als
Ausgangsbetrachtung dienen, daf alles Schatzen in sich ,Schmecken“ und damit »Geschmack* ist. (Nachla8 Sommer 1883, 12[9]; KGW VII 1, 419) Nicht nur ist dieser urspriinglichen Bedeutung des schmeckenden Schatzens gem ,,alles Leben
[...] Streit um Geschmack und Schmecken“, wie Zarathustra ausfiihrt, sondern er
selbst ist zuletzt nichts anderes als das, wofiir er streitet: ,,ein Geschmack". (Also
sprach Zarathustra II, Von den Erhabenen; KGW VI 1, 146. Nachlaf Sommer 1883, 12[43]; KGW VII 1, 429. — Vel. hierzu VE, Nietzsche und Heidegger als nibilistische Denker. Zu Gianni Vattimos ,postmodernistischer’ Deutung, Nietzsche~Studien 27 [1999], 52-81, hier: 72-74.)
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290
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja~sagen bei Nietzsche
geworden sein“.** — Insofern das Ja—setzen gleichermafen fundamental ist wie der Wille zur Macht, sucht Nietzsche es noch in der Wurzel radikaler
und totaler Selbst—Verneinung des Menschen aufzuweisen.*” 3. Die genannten Bestimmungen gehen nicht auf getrennte ,Instanzen‘ zuriick, sondern sie stellen Benennungen fiir ,das Selbe‘ dar, hinter das nicht
zuriickgegangen werden kann und das wir iiberall antreffen. So hat Nietzsche zufolge nichts im Leben , Wert‘, auer seinem ,Grade an Macht‘, und
im Urteil des befehlenden Philosophen: ,so soll es sein!“, setzt ein Wille zur Macht Werte, ohne daf dieser als etwas anderes denn als das aktive ,Ja—setzen‘ verstanden werden darf.*” ,Das Selbe‘ kann mit verschiedenen
Worten benannt werden, von denen ausgehend Nietzsche es in ,besondere Richtungen‘ hin entfaltet. Es stellt keine ,Einheit* im Sinne von Einfachheit dar, keine ,Wesenheit an sich‘, noch auch ein ,Allgemeines‘. Das mit jenen Worten Bezeichnete ,ist‘ zwar in allem Werden ,am Werke‘, aber es ist
deshalb nicht etwas vom Werden Ablésbares oder gar etwas, das auch auBerhalb des Werdens gegeben ist.*™ 4, Jenes nicht—allgemeine ,Selbe‘ ist nur als das Viele in der Verschiedenheit von Perspektiven gegeben. Nietzsche versteht dabei den ,,Perspektivismus“ als ,,eine complexe Form der Spezifitat“.“” Schon das anfangliche Ja im primiren Urteilen ist ein spezifisches Ja—sagen, das sich jeweils von anderem Ja-sagen unterscheidet. Auch in den komplexeren Urteilen und ausgepragten Wert-
schatzungen wird die Spezifitat nicht iiberwunden oder abgelegt. Wie alle Wertschatzung perspektivisch ist, so ist jedes Urteil ein besonderes Urteil, mag es auch aus einer Vielheit von Urteilen hervorgehen oder mit anderen Urteilen
,formell‘ zusammenstimmen.*"”” Dem entspricht, da jeder , Wille zur Macht‘ “°* Nachla8 November 1887—Marz 1888, 11[29]; KGW VIII 2, 289. -Vgl. hierzu Nachla& August-September 1885, 40[61]; KGW VII 3, 393: Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen.“
5 Vel. hierzu Exkurs 4 am Schlu8 dieser Abhandlung: S. 318-328.
*°6 Vel. oben Abschnitt 14, S 244f. “7 Vel. oben Abschnitt 15, S. 248f. “8 In bezug auf Nietesches Lehre vom Willen zur Macht vgl. hierzu die Abschnitte 5 und 6 der unter diesem Titel stehenden Abhandlung, oben S. 38-44. 4? Nachla& Frithjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165. *!° Im Hinblick auf das Schatzen als Sschmecken‘ kann die Besonderung in ,asthetischer
Hinsicht‘ zum Vorschein gebracht werden. Das ,Individuum‘, selber etwas im fortlaufenden Wandel Begriffenes, hat ,,einen wechselnden Geschmack“. Der ,,Masseninstinkt“ nétigt dem Einzelnen einen ,,Normalgeschmack* auf. (Nachla& Friih-
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
291
eine Vielheit von Interpretationen ,ist‘, Auch das Interpretieren im weite
Verstiindnis Nietzsches stellt eine der Grundbestimmungen des Lebens ae
yon denen Nietzsche ausgeht.*"' Das Interpretieren ist dabe; wie das Wert. schiitzen: Kampf. Aus Kimpfen erwachsen beim Menschen z.B. die Erweiterung faktischer Interpretationen zu iibergreifenden Deutungen von Zusam-
menhingen oder auch reduktive Verengungen eines Horizonts von Bejahtem (z.B. als Folge von Uberwaltigungs— oder Anpassungsprozessen). 5. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit der Erweiterung des Ja—sagens zu. Diese bleibt der perspektivischen Spezifitat auch dann unterworfen, wenn sie
sich auf ,das Ganze‘ ausdehnt. ,,Die , Welt‘ ist fiir Nietzsche dabei , nur ein Wort fiir das Gesammtspiel“ von je besonderen Aktionen mit dem ihnen zu-
gehérigen ,Interpretationshorizont'. ,,Jedes Kraftcentrum hat fiir den ganzen Rest seine Perspektive, seine ganz bestimmte Werthung, seine Aktions—Art, seine
Widerstandsart“.*”* Wir diirfen uns unter dem ,Gesamtspiel‘ nicht eine groGe harmonische Einheit vorstellen. Gegeben ist ,in Wahrheit‘ nur das Gegen— und Miteinander von perspektivischen ,Scheinbarkeiten‘, welche als solche die Realitdt“ ausmachen.*” Neben, hinter oder iiber der ,,scheinbaren Welt“
gibt es kein ,anderes‘, kein ,wahres‘, kein wesentliches Sein“.*" Es bleibt keine
jahr—Herbst 1881, 11[156]; KGW
V 2, 399f.) Es kommt darauf an, den darin
zugedeckten‘ individuellen Geschmack zur Geltung zu bringen. Die ,,Singularitat der Passion“, die sich in den héheren Naturen durchsetzt, laft sich nicht ,,begreifen“, weil sie ein irreduzibler Anfang ist. (Nachla& Herbst 1880, 6[175]; KGW V 2, 572E.)
‘1 Vel, dazu Nietzsches Lebre vom Willen zur Macht, Abschnitt 10: Wille zur Macht als Interpretation, oben S. 68-88. ‘2 Nachla& Friihjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 163. —Im Ausgang vom ,,nothwendigen Perspektivismus“ gilt nach Nietzsche, da ,,jedes Kraftcentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus die ganze tibrige Welt construirt, d.h. an seiner Kraft mift, betastet, gestaltet... (Nachla& Frithjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165). - Zum
perspektischen Welt—Bilden des Menschen sei auf das Schaffen und Dichten verwiesen, da8 wir im Ersten Teil dieser Abhandlung herausgestellt haben. (Vgl. hierzu die Abschnitte 12 und 13, oben $. 227-238) Der Mensch arbeitet und dichtet stindig an seiner Welt, auch wenn er sich dessen nicht bewuft wird.
des Reagirens". Zwar ‘” Ebd. - ,,Die spezifische Art zu reagiren. ist die einzige Art 4 pt 2
oe , ‘ wissen wir nicht, ,,wie viele und was fiir Arten es Alles giebt“. Aber alles, was ,ist‘, geht in perspektivische Aktionen und Reaktionen auf. (Ebd.)
ahlt nach ‘Die scheinbare Welt“ wird ,,nach Werthen angesehen, geordnet, ausgew ichkeits-Gesichtspunkt in Hinsichtoe Werthen“, in unserem Falle ,nach dem Niitzl ; “. auf die Erhaltung und Macht—Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal Gegensatz zum (A.a.O., 162) — Die ,Scheinbarkeit‘ darf nicht als ,Erscheinung‘ im
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292
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
Welt ,,noch iibrig [...], wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hatte
man ja die Relativitdt abgerechnet*.*"* Auch das Ja—sagen zur Welt bleibt in eine je—besondere Perspektive eingebunden, selbst wenn es alle anderen Perspektiven als diese selbst bejaht. Bei letzterer Bejahung kann es sich dann immer nur um (sekundire) ,Billigungen‘ aus dem eigenen spezifischen (primaren)
Ja-sagen heraus handeln. Eine Allbejahung ohne sekundares Ja~sagen mag
Zarathustra dem wolkenlosen Himmel ablesen. Dieses Ja bleibt aber, seiner
perspektivenfreien Reinheit wegen, schweigend und unbestimmt.*"° Zuletzt
kann es uns nur als metaphorische Spiegelung der Sehnsucht Zarathustras nach unbegrenzter Erweiterung seiner Ja—Perspektivik gelten. 6. Unter dem Aspekt der perspektivischen Spezifitat miissen wir schlie6lich Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen sehen. Zwar ist ein starkeres oder intensiveres Ja~sagen im Werdensflu8 nicht denkbar,
als es sich im unendlichen Wieder—wollen des Gleichen ausdriickt; insofern stellt der Wiederkunftsgedanke die ,letzte und héchste Bejahung* dar. Aber auch Gedanke und Glaube an die unbegrenzte Zahl der Wiederholungen des , Welt—Geschehens‘ bleiben in der Je—Besonderheit des Bejahenden verwurzelt. Jedes Ja—sagen priigt von seinem besonderen Ja—setzen her seine ,schein-
,Ding an sich‘ verstanden werden. Es gibt fiir Nietzsche nicht eine Wirklichkeit jenseits der ,scheinbaren Welt‘: ,,.Die Welt ist nicht so und so: und die lebenden Wesen sehen sie, wie sie ihnen erscheint. Sondern: die Welt besteht aus solchen lebenden Wesen, und fiir jedes derselben giebt es einen kleinen Winkel, von dem
aus es mit, gewahr wird, sieht und nicht sieht.“ (Nachla8 Ende 1886-—Friihjahr 1887; 7[1]; KGW VIII 1, 257) - ,,Schein [,] wie ich es verstehe, ist die wirkliche
und einzige Realitat der Dinge“, notiert Nietzsche in einer Aufzeichnung ,,gegen das Wort ,Erscheinungen‘“. Mit dem Wort Schein ist zugleich ausgedriickt: ,,seine Unzugdnglichkeit fiir die logischen Prozeduren und Distinktionen: also ,Schein‘ im Verhaltni8 zur ,logischen Wahrheit“. Diese bildet jedoch nicht nur den Gegensatz zum ,Schein‘, sondern setzt diesen voraus. Die ,logische Praxis‘ ist ,,selber nur an
einer imaginaren Welt méglich“; die ,erscheinerrde Welt‘ wiederum widersetzt sich »der Verwandlung in eine imaginative ,Wahrheits—Welt“ der Logik. ,,Ein bestimmter Name‘ fiir die einzige Realitit des Scheins wire ,,,der Wille zur Macht‘,
namlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaSbaren fliissigen Protheus—Natur aus“. (NachlafS August-September 1885, 40[53]; KGW VII 3, 386) Auch dabei gilt fiir ,den‘ Willen zur Macht, da es ihn faktisch nur in der
Vielheit perspektivischer Machtwillen gibt, “’ Ebd, — ,,Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduzirt sich auf den Gegensatz ,Welt‘ und ,Nichts‘ —“ (ebd.).
“6 ‘Vel. hierzu und zum folgenden oben Abschnitt 16, S. 256ff. und Abschnitt 19, S. 285.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt
293
bare Welt‘, jedes ist nach seinen besonderen und abgestufte n primaren und sekundaren Perspektiven von den anderen verschiede n. Was es in deren
mine konkret wiederwollen kann, ) ist nur d er Wiederkunft aut fd den Ja—sagenden
perspektivisc
eingegrenzte Geschehenszusammenhang
Die spezifischen Bejahungen sind zwar nach Aktions— und Widerstandsart
aufeinander bezogen. Doch bleiben sie dabei (und gerade wegen dieser Weise von Beziehung) einander entgegengesetzt. Kein Wesen kann die Perspekti-
ve eines anderen Wesens slibernehmen*, Wenn es sie ,bejaht‘, so bejaht es die
in seine eigene Perspektive hineinverwandelte andere Perspektive. Diese selbst bleibt als sie selbst auSerhalb seines Horizontes. Der Bejahende, der
alles bejaht, was ist, war und sein wird, geht in seinem Bejahen zwar iiber
sein eigenes Leben hinaus. Er antizipiert wie Zarathustra sowohl einen beja-
henswiirdigeren Zustand als auch einen noch entschiedeneren Ja—sager zur
Wiederkunft (den Ubermenschen). Er kann auf ,,die Hohe der H6hen, in der
Geschichte der Cultur“ vorblicken, die in dem »Augenblick“ erreicht ist, in
dem der ,,Reiz des Lebens“ am gr6ften ist. Das Ma
hierfiir ist, ,da& der
miachtigste Gedanke ertragen, ja geliebt wird“.*” Doch wird auch darin die Spezifitat des besonderen Kreisgangs nicht verlassen. Das Ja—sagen eines
endlichen Wesens bliebe noch in Gestalt der Liebe zur ewigen Wiederkunft des Gleichen abstrakt, wenn es nicht die Vielheit der bejahten Beziige von seinem eigenen konkreten endlichen Ja aus perspektivisch konturierte. Als eine ,Haupttendenz‘ seiner Lehre hat Nietzsche daher gefordert, ,,die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise [zu] pflanzen!“ Ja—sagen zu
allem besagt auf dieser Ebene,
,iiberall‘ darauf hinwirken, daf die Men-
schen zu ihrem Leben und zu ihrer ,erscheinenden Welt‘ Ja sagen.*"* Dies ‘7 Nachla& Sommer—Herbst 1882, 2[5]; KGW VII 1, 42f. - Reinhard Léw schreibt, Nietzsche habe ,,den Wiederkunftsgedanken von Anfang an nicht nur als einen
individualistischen Imperativ gedacht. Sein Erzichungs— und Steigerungsinteresse richtet sich auf den einzelnen nur insoweit, als er Bedingung fiir die Erhéhung der
Kultur und des Typus im ganzen ist“ (Nietzsche Sophist und Erzieher. Philosophi-
sche Untersuchungen zum systematischen Ort von Friedrich Nietzsches Denken.
Weinheim 1984, 136). Dem kann unter dem Vorbehalt zugestimmt werden, da
die héhere Kultur von Nietzsche nur als Zusammenspiel von einzelnen (unter zuletzt um die Rangordnungsverhiltnissen) verstanden wird. Es geht auch in ihr Entstehung der grofen Einzelnen.
~ In der Konsequent * Nachla@ Friihjahr—Herbst 1881, 11[183]; KGWV 2, 410.groBe Tolerant . vas hier ,,eine neue dieser ,Haupttendenz‘ fordert Nietzsche Leben ,,erdenkt, mm wir ‘ ra : ie auch ,,jeder Einzelne“ fiir die Liebe zu seinem Geschmack Be it, wen re gelten lassen, [...] so sehr es oft wider seinen
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche
kann in der Mitteilung und in der Lebre des Gedankens der Wiederkunft geschehen.
7. Die Mitteilung der ewigen Wiederkunft des Gleichen hat den Charakter der allgemeinen Aussage. Soll in ihr doch nicht nur zum Ausdruck gelangen, da derjenige wiederkehrt, der sie mitteilt, auch nicht nur, daf diejenigen wiederkehren, denen sie mitgeteilt wird. Vielmehr sagt die Leh-
re‘: Alles was ist, kehrt unendliche Male wieder. Der allgemeine Gedanke
kann zur ,Theorie‘ ausgebaut werden, um ihm argumentative Uberzeu-
gungkraft zu verleihen.*” Entscheidende Wirkung hat Nietzsche dem Gedanken dadurch zu verlei-
hen gesucht, da er ihn im Gestus der Verkiindung vorgetragen hat. Seine
zelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!“ Von solcher altruistischen Einstellung finden sich in Nietzsches spaterer Verkiindigung des Wiederkunftsgedankens, der jeden in ,seine Welt‘ stéGt, nur noch Spuren. — 1881 zeigt sich bei Nietzsche neben der Tendenz zur ,neuen grofen Toleranz‘ allerdings auch schon als seine ,zweite Haupttendenz‘ die ,,Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdachtigen suchen“. Die Feindschaft wird dabei schon als »lodkampf* gefordert. Aber solche Rede ist hier noch weniger buchstablich zu nehmen als im Spatwerk. Nietzsche will die Mittel des Kampfes zugleich als Mittel der lebensbejahenden Freude ansehen: ,,Also lachen, spotten, ohne Verbitterung vernichten!“ (Ebd.)
Die Erérterung theoretischer Aspekte der Wiederkunft in der Vorstellung eines faktischen, d.h. iiber—endlichen, quasi-objektiven Kreisgeschehens gehdrt zu Nietzsches Darstellung dieser Lehre und vor allem zu ihrer Vermittlung. Sie sind dem ,Gedanken und Glauben‘ an die Wiederkunft aber nachgeordnet. Fiir die Verwirklichung seiner Aufgabe, die Menschen von der ,Wahrheit‘ des Wiederkunftsgedankens zu iiberzeugen, kann Nietzsche sonst destruierte naturwissen-
schaftliche Denkweisen durchaus beiziehen. Um ein Uberedungs—Argument handelt es sich auch bei Nietzsches Hinweis, der Gedanke der ewigen Wiederkunft stelle die tiefste Erkenntnis dar, weil sie ,am strengsten‘ wissenschaftlich erwiesen sei (vgl. oben S. 286). Dies gilt z.B. auch fiir Nietzsches Ausfiihrung: ,,Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaft-
lichste aller méglichen Hypothesen.“ (Nachla8 Sommer 1886—Herbst 1887, $[71,6]; KGW VIII 1,217) Wesentlich ist fiir Nietzsche bei alledem, da die Menschen das Allgemeine des Gedankens in ihre ,scheinbaren Welten‘ hineinnehmen und damit zur héchsten Bejahung ibres Lebens gelangen sollen. — Zur Problematik der Wissenschaftlichkeit und zur vieldiskutierten Problematik der Beweisbarkeit der ewigen Wiederkunft s. Uber ,das Ganze‘ und tiber , Ganzheiten‘, Nietz-
sche—Interpretationen Il, insbes. Abschnitte 20 und 21.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
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,Mitteilung‘ in Also sprach Zarathustra ist y i =. 420 epee, . Der Inhalt der Verkiindung ist ,allgemein‘, beam Noe nach jeden Menschen. Schon in der Fréblichen Wissenschaft hat Nietzsche seinen Leser vor die Méglichkeit gefiihrt, da der Gedanke ,,Gewalt“ iiber ihn bekime und ihn ,,verwandeln“ kénne. , Die Frage bei Allem und Jedem
wwillst du diess noch einmal und noch unziihlige Male?‘ wiirde als das grosste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen!“?! Der
Leser soll das
Allgemeine zu seinem Besonderen machen.
Darum geht es Nietzsche selbst dort noch, wo er die Allgemeinheit des
Gedankens eigens unterstreicht. Dies geschieht, wenn er ihn als Formel
vorstellt. Im Riickblick auf seine erste Aufzeichnung zur Wiederkunft im Jahr 1881 bezeichnet er den »Ewige—Wiederkunfts—Gedanke[n]“ als die »héchste Formel der Bejahung, die iiberhaupt erreicht werden kann“.*” Analog hierzu schreibt Nietzsche auch: ,,Meine Formel fiir die Grésse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwarts
nicht, riickwarts nicht, in alle Ewigkeit nicht.“*) Im Nachlaf heift es, ,zur Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Liigenhaftesten“ habe er ,,die Formel ,dionysisch‘ in den Handen“
gehabt.*** Die genannten Formeln fiir ,das Héchste‘ im Sinne Nietzsches sind zwar verschieden, das in ihnen ,Zusammengezogene‘ betrifft aber ,das-
selbe‘.*?°> Wir miissen zunichst sein Verstindnis von ,Formeln iiber 0 Der ,,Verkiindiger® tritt mit dem Anspruch auf, daf er die Zukunft ankiindigt. Da8 er sich zur Verkiindigung durchringen mu, da& er den ankiindigt, auf den diese vorweist, verleiht dem Kundgegebenen zus&tzliches Gewicht. Vgl. Also sprach Zarathustra Il, Der Genesende 2; KGW VI 1, 272f. Vgl. dazu z. B. Nietzsches Notiz: ,,Im Gliick verkiindet er [sc. Zarathustra] den Ubermenschen und dessen
Lehre.“ (Nachla& Herbst 1883, 16[3]; KGW VII 1, 522)
*! 341; KGW V 2, 250. "2 Ecce homo, Also sprach Zarathustra 1; KGW VI 3, 333.
23 Ecce homo, Warum ich so klug bin 10; KGW VI 3, 295. Vel. Nachla& Friihjahr-Sommer 1888, 16[32]; KGW VIII 3, 288.
4 Nachla& Herbst 1887, 9[42]; KGW VIII 2, 18f.
|
an: Er bezeichnet “5 Um den ,Gedanken‘ herum siedelt Nietzsche andere Formeln héchster Selbstbesinnung »Umwerthung aller Werthe“ als seine ,Formel fiir einen Akt
fiir der Menschheit (Ecce homo, Schicksal 1; KGW VI 3, 363), als »eine Formel dem aus er zitiert ein solches Schicksal, das [sc. in Nietzsche selbst] Mensch wird“, —_, “in J cin ae ,Zarathustra‘ (a.a.O., 2; KGW VI 3, 364). ,.Formel meines eile priiche un dmmerung
in Gétze hej es in ee asein ayeZiel...“, “ hei&t We ‘ GO an-—Da gerade Linie, eine
17] — Mietzaches sacie
44; KGW VI 3, 60) und im Antichrist (1; K
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296
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
haupt‘ herausstellen, um das Verhiltnis der Allgemeinheit des ,Ewigen—Wiederkunfts—Gedankens‘ zur Je—Besonderheit seiner Aufnahme
klaren zu kénnen. Grundsitzlich gilt, da Formeln nicht ein vom Menschen unabhingiges Allgemeines auszudriicken imstande sind. Das gilt schon fiir die ,wissenschaftlichen Formeln‘, von deren Charakter und Wirksamkeit Nietzsche ausgeht, wenn er eigene Formel—Pragungen vornimmt. In ihnen gelangt auch keine ,Gesetzmafigkeit‘ zum Ausdruck. Vielmehr sind sie abkiirzende Bezeichnungen zur Erleichterung des Umgangs mit einem vom Menschen als ,regelmaig* wahrgenommenen Geschehen. Wir haben es also bei den Formeln nicht mit ,Erkenntnissen‘ zu tun.*”° Vielmehr sind sie wie unsere ,Begriffe‘ Erdichtungen, mit denen wir Macht iiber die Vielheit der ,Dinge‘ im Werden
gewinnen.™” So ist ein ,,,Naturgesetz“ zuletzt nichts anderes als eine ,,Formel fiir die unbedingte Herstellung der Macht—Relationen und —Grade“.** Nietzsche hat erkannt, daf ,Formeln‘ und ,Begriffe‘ — gerade ihrer iiber-
greifenden Allgemeinheit wegen und ungeachtet ihrer ,Irrtiimlichkeit‘ — in hohem Mafe als Instrumente des Kampfes und der Herrschaft tauglich sind. Er gie&t — im Spatwerk immer haufiger — Aspekte oder ,Resultate‘ seiner sehr komplexen ,Einsichten‘ in Formeln, um sie in vereinfachter Gestalt im Kampf fiir seine Umwertung aller Werte ,schlagkriiftig’ wirksam einsetzen zu konnen. Im Friihjahr 1884 hatte er noch notiert, da ,,Begriffe und Formeln nur sein
kénnen: Mittel der Verstindlichung und Berechenbarkeit, die praktische
Anwendbarkeit ist Ziel: da der Mensch sich der Natur bedienen kénne, die bestimmtere Fassung des Begriffs ,Leben‘“ kommt in seiner ,,Formel“ zum Ausdruck: »Leben ist Wille zur Macht“. (Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886, 2[190]; KGW
VIII 1, 1593 vgl. a.a.O., 7[14]; KGW 426
VIII 1, 321)
Nietzsche spricht von der ,,Illusion, da& etwas erkannt sei, WO Wir eine mathematische Formel fiir das Geschehen haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!“ (Nachla Ende 1886-Friihjahr 1887, 2[88]; KGW VIII 1, 103) Er ist dem
Wozu solcher Formel—Bildungen nachgegangen: ,,Wenn ich ein regelmaGiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phanomens erleichert, abgekiirzt usw.“ (A.a.O., 7 [14]; KGW VIII 1, 307) Aber noch der Begriff ,,,RegelmaGigkeit’ der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck“, eine Zurechtmachung
des Menschen:
,,wie als ob hier eine Regel
befolgt werde“. Solche Regelma&igkeit ist ,,kein Thatbestand“, so wenig wie ,Gesetzmaigkeit’.
,,.Wir finden eine Formel,
um
eine wiederkehrende
Art der Folge
~ auszudriicken". (A.a.0., 2[142]; KGW VIII 1, 135, vgl. 2[139], a.a.0., 133f.) os Zur Funktion der Begriffe vgl. oben S. 267f., Anm. 325. Nachla8 Herbst 1885—Friihjahr 1886, 1[30]; KGW VIII 4, 13.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
297
verniinftige Grenze“.”? In der spiiteren Pri : Formeln, welche die kiinftige Herrschaft lebensbeiahender his
ne
vorbereiten sollen, iiberschreitet Nietzsche diese Grenze. In einer Er ‘gens iiber ,,das vollkommene Buch“ yom Herbst 1887 stellt er sich u.a. als Aufgabe
,sammlung ausdniicklicher Worte. Vorzug fiir militirische Worte Braatetoorts fiir die philos ophisc hen Termin i: womodg lich deutsc h nd gar Formel ausgeprigt. «430 me
Das Allgemeine entspringt Nietzsche zufolge aber immer dem individuellen
Wollen, und es dient nur den ,besonderen Willen‘. Auch fiir die neuen Formeln seiner Philosophie gilt, da sie nur ,sind‘, insofern der Mensch sie in irgend
einer Weise aufnimmt.**' ,,.Die Werthe fiir seine Handlungen entnimmt er zuletzt doch sich selber: weil er auch die iiberlieferten Worte sich ganz individuell
deuten mu&. Die Auslegung der Formel ist mindestens pers6nlich, wenn er
auch keine Formel schafft: als Ausleger ist er immer noch schaffend.“* Jeder
entscheidet in der ,Aufnahme‘ des Gedankens auf seine Weise, was dieses Allgemeine in der Besonderheit seines Welthorizonts bedeutet. Das gilt auch fiir den, der die ewige Wiederkunft des Gleichen verneint und selbst fiir den, der dem Gedanken jede Bedeutung abspricht. 8. Das Allgemeine ist auch beim Lehrer der Wiederkunft als das Verallgemeinerte eines Je—besonderen nichts anderes als das Medium der Selbstinterpretation des Menschen, der sein ausgespanntes und héchstes Ja-sagen vor sich und vor andere bringt. In der Lehre lernt auch der Lehrende das Ja-sagen immer besser.*?? ,, Wir lehren die Lehre — es ist das stirkste Mittel, sie uns 29 Nachla@ Friihjahr 1884, 25[308]; KGW VII 2, 87.
4 NachlaS Herbst 1887, 9{115]; KGW VIII 2, 65. 41 Auch die von ihm bekampfte ,alte‘ Welt-Auslegung hat Nietzsche auf verein-
fachende Formeln gebracht, um sie in solchen Fixierungen wirksam bekampfen zu kénnen. Wir finden bei ihm Formeln fiir die iiberlieferte Moral, fiir die décadence usw. So spieGt er in Jenseits von Gut und Bose 46 das Absurdissimum“ der christ-
das lichen , Nomenklatur“ auf. Mit der paradoxen »Formel ,Gott am Kreuze““ habe
(KGW VI Christentum ,,eine Umwerthung aller antiken Werthe* vorgenommen.
Gottesbegriffs 2, 64f.) Auch in der metaphysischen Abwandlung des christlichen jede
,Diesseits’, fiir findet Nietzsche ,,in Gott die Formel fiir jede Verleumdung des
-
Liige vom , Jenseits“. (Der Antichrist 18; KGW VI 3, 183)
Den oben zitierten ®2 Nachla& Winter 1883-1884, 24[33]; KGW VII 1, 705.ist -etwas Absolutes, alle
Satzen hat Nietzsche vorangestellt: ,,.Das Individuum Handlungen ganz sein eigen.“ . Wiederne ™ Auch fiir die gedankliche Selbstvertiefung desjenigen, der ashlee
kunft ,glaubt‘, gibt es keinen anderen Weg als den durch das
Medium
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Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
selber einzuverleiben, hei&t es schon in Nietzsches erster Niederschrift des Gedankens vom August 1881. Nietzsche geht in ihr von der ,,Einverleibung der Grundirrthiimer“ aus und weist auf ,,das neue Schwergewicht“ vor: ,,die ewige Wiederkunft des Gleichen“. Wir konzentrieren uns auf diese Gegeniiberstellung, um deutlich zu machen, worin die Bedeutung der Einverleibung
der Lehre bestehen kann.*™* Eine Vorstellung (oder ein Verhalten) ,sich einverleiben‘, bedeutet bei Nietzsche: sie auf eine Weise verinnerlichen und als verinnerlichte so ,fest
machen‘, daf sie die kiinftigen Erfahrungen vorgingig immer schon prigen.*® Dabei gibt es graduell unterschiedlich ,haltbare* Einpragungen. Wir kénnen uns Meinungen einverleiben, deren Dauer sehr begrenzt sein
kann; Uberzeugungen sind haltbarer, aber nicht unrevidierbar; was uns zur
Gewohnheit oder zum Gefiihl geworden ist, kann unterschiedliche Grade von Tragfihigkeit aufweisen; Instinkte haben eine Festigkeit, die unaufhebbar erscheint. Das uns Eingepragte, mit dessem Hilfe wir ,Erfahrungen
machen‘, hat sich in einer langen Geschichte entwickelt und gehért zu unseren Lebensbedingungen schlechthin. gemeinen, da wir in die Entwicklung unserer Vernunft und unserer Sprache einge-
bunden sind. Vgl. hierzu Gétzen—Dammerung, Die ,Vernunft‘ in der Philosophie 5; KGW
VI 3, 71f. — Dies schlie&t nicht aus, da& der Wiederkunftsgedanke als
»Offenbarung“ oder ,,Inspiration“ aufgetreten sein kann, wie Nietzsche dies in Ecce
homo beschreibt (Also sprach Zarathustra 3; KGW VI 3, 337f.) — Da& Nietzsche
der Wiederkunftsgedanke ,als allgemeiner‘ aus der antiken Philosophie bekannt war, da@ ihm dariiber hinaus die kosmologischen
Diskussionen um
die ewige
Wiederkehr (vor allem in den siebziger Jahren seines Jahrhunderts) bekannt waren, ist von groBer Bedeutung (vgl. hierzu P. D'lorio, Cosmologie de l'Eternel Retour, in:
Nietzsche-Studien 24 [1995], 63-123). Aber man mu6 zugleich sehen, da& Nietzsche 1881 ,das kosmologische Problem‘ zu einem ,existenziellen* wird. — In
gewissem Sinne sind die vielen Autoren, die Nietzsche in der ,kosmologischen Debatte‘ mit der Wiederkunftstheorie konfrontierten, gleichwohl als seine ,Lehrer‘
anzusehen: fiir einen ,allgemeinen Aspekt‘ des Gedankens. Nach dessen Verwandlung in die Grundfrage an das Sinn— und Selbstverstindnis des Menschen, welche die ,Offenbarung* Nietzsches ausmacht, tritt er selbst als ,Lehrer‘ auf, der auch
allgemein und ,kosmologisch‘ argumentiert, freilich mit seiner auf die Verainderung des Menschen und auf die Zukunft der Menschheit gerichteten Zielsetzung.
434
Nachlaf Frithjahr—Herbst 1881, 11[141]; KGW V 2, 392. - Nietzsche bringt schon in dieser Aufzeichnung unsere ,Grundirrtiimer‘ in ein mehrdeutiges Verhilt-
435
Vgl. dazu und zum folgenden: Abschnitte 7 und 8 in Freiheit und Wille, Nietz-
nis zum Wiederkunftsgedanken.
sche-Interpretationen II.
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Zweiter Teil. Blicrzaches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
299
Dies trifft insbesondere fiir die uns einverleibten Grundirrtiimer zu. Sie
sind an uns in einer langen Kette der »Entwicklung‘ vererbt worden ‘Die Wesen, welche das Ahnliche rasch unter ein fingiertes ,Gleiches‘ zu aiken mieren vermochten, hatten im Kampf gegen Feinde wie im Gewinn von
Nahrung eine héhere ,,Wahrscheinlichkeit des Fortlebens“ als die genauer sehenden und langsamer ,schlieRenden‘, Menschen, die gar ,,wesentlich anders“ empfanden als ihre Artgenossen, wurden als ,Verriickte‘ angesehen. Sie ,,sind bei Seite gedrangt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen‘; die extremen ,Ausnahmen‘ gingen zugrunde. Der Normalmensch‘ aber hat sich erhalten.*** Um die Uberwindung von dessen Dominanz aber geht es
Nietzsche in der Lehre des Wiederkunftsgedankens. Die kiinftige ,,stdrkere
Art Mensch“ setzt den ,,niedrigeren“ Menschen aber immer auch voraus: als ,ein breites Fundament“, auf dem er stehen kann.?” — Aus unseren Grundirrtiimern vermag die Wiederkunftslehre dabei nicht herauszufihren. Sie tragt zwar dem Werden auf ihre besondere Weise Rechnung, baut dabei aber
auf unseren ,uralt einverleibten‘ Fiktionen auf.4*8 Eine analoge Macht, wie sie jene Irrtiimer ausgeiibt haben und ausiiben,
méchte Nietzsche auf den Wiederkunftsgedanken iibertragen sehen. Wiirde er ,einverleibt* werden, so kénnte er in der Menschheit eine héhere ,ziichtende Aufgabe* erfiillen, als sie von den ,fest vererbten Irrtiimern‘ im Interesse
des Lebens schon iiber lange Jahrtausende hin wahrgenommen worden ist. “6 Frébliche Wissenschaft 111; KGW V 2, 149. Nachla@ Frithjahr—-Herbst 1881,
11[252]; KGW V 2, 435.
‘37 Nachla& Herbst 1887, 9[17]; KGW VIII 2, 10. — Nietzsche sieht aber auch, da die Dominanz der durchschnittlichen Normalmenschen zu einem ,,gewisse[n] Stillstand“ fiihren kann, der ,,den Ausschlu& und das langsame Aussterben der hé-
heren, gefahrlicheren, absonderlichen [...] Menschen mit sich“ bringen wiirde, wie schon friiher die ,Ausnahmen‘ ausstarben. ,,Die Absicht auf gleiche Rechte und
endlich auf gleiche Bediirfnisse“, welche ,,eine beinahe unvermeidliche Consequenz unserer Art Civilisation des Handels und der politischen Stimmen~Gleichwerthigkeit ist, beférdert jenen Stillstand. (Nachla8 November 1887
Marz 1888, 11[157]; KGW VIII 2, 317)
“* Zwar ist der Gedanke, ,,daf Alles wiederkehrt, [...] die extremste Anndherung einer
Welt des Werdens an die des Seins“. Auch besteht ,,der héchste Wille zur Macht“ darin, dem Werden den Charakter des Seins aufzuprdgen“. Doch ist dies nur durch eine ,2ztwiefache Falschung, von den Sinnen her und vom Geiste her“ még-
lich. Durch sie allein erhalten wir eine Welt des Seienden [...], des Verharrenden,
Gleichwerthigen usw.“ (Nachla8 Ende 1886—Frithjahr 1887, 7[54]; KGW VIII 1,
320)
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300
Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen bei Nietzsche
9. Dem Wiederkunftsgedanken steht auf dem Wege seiner Einverleibung eine lange Geschichte bevor, die Nietzsche hinsichtlich der Méglichkeiten seiner unterschiedlichen Aufnahme durch die Menschen bedacht hat.*”” Wir ziehen hier nur seine Vorstellungen von den Wirkungen heran, welche die Wiederkunftslehre hatte, wenn sie sich durchsetzte. Dann riickte der Wiederkunftsgedanke allen Menschen so ,auf den Leib‘, da sie sich ihm stellen miif&ten. Er wiirde dann eine ziichtende Rolle spielen. Bei deren Beschreibung durch Nietzsche treffen wir auf Parallelen zu seiner Kennzeichnung der Herrschaft der einverleibten Grundirrtiimer, welche weitgehende Abwei-
chungen von diesen nicht duldet. Wird der Wiederkunftsgedanke in der Zukunft ,,immer mehr [...] siegen“, so miissen ,,endlich“ diejenigen, die nicht an ihn ,glauben‘, ,,aussterben“. Der siegreiche Gedanke wird zum herrschenden werden, dem sich niemand mehr wird entziehen kénnen. Wer ihn nicht ertragt, geht zugrunde. ,,Nur wer sein Dasein fiir ewig wiederholungs-
Oo p) sail ie
fahig halt, bleibt brig: unter solchen aber ist ein Zustand mdglich, an den noch kein Utopist gereicht hat!“** In Analogie zum Ausschlufverfahren der von der Norm extrem abweichenden ,Ausnahmen‘ aus der Gesellschaft als Verriickter sieht Nietzsche eine Zeit voraus, in der ,,die Weltmiiden“ von den ,,Lebensmuthigen“ ausgestoBen, verachtet ,,oder in Irrenhauser“ gesperrt
—
werden."
.) 1
10. Ubrig bleiben, folgen wir dieser ,Utopie Nietzsches‘, schlie@lich nur diejenigen, die mit sich selbst zugleich ,ihre‘ ewig wiederkehrende Welt des Werdens auf eine Weise bejahen, welche in sich ein Verewigen ist. Die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens hatte dann eine hohe Stufe erreicht. Auf ihr wiirde es dann nur noch Bejahende geben, was durchaus einschlief&t, daf sie in ihrer perspektivischen Spezifitat einander wechselseitig — auf welche Weise auch immer — verneinen. Zum Schlu& sei noch auf die Intensivierung des Ja—sagens durch die Verinnerlichung des Wiederkunftsgedankens verwiesen. Der Gedanke soll
~ QO -
** Im Hinblick auf sein Verstindnis der Wiederkunftslehre als Religion der Religionen habe ich “© Nachla& Zeit auf (Nachla&
von dieser Geschichte gehandelt in Nietzsche, a.a.O., 153ff. Frithjahr—Herbst 1881, 11[338]; KGW V 2, 471. — Nietzsche stellt unsere ,,die groBe Probe: wer halt den Gedanken der ewigen Wiederkunft aus?“ Friihjahr 1884, 25[290]; KGW VII 2, 81) - Auch hier heift es: ,, Wer zu
vernichten ist mit dem Satz ,es giebt keine Erlésung‘, der soll aussterben.“ Gemeint
ist allgemein die Erlésung vom unaufhérlichen Werdensflu&, besonders im Auge
hat Nietzsche dabei immer das Christentum als Gegensatz zu seiner Philosophie. “! Nachla@ Friihjahr 1884, a.a.O.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja~sagen in der Welt und zur Welt nicht nur als Gedanke bejaht werden, das
301
];
derkunft erhoben werden. Dieser Glaube fuBt niches gaben a die Wiehalten im theoretischen Sinn. Fiir-wahr—halten ist bei Nietrs hoe cine nehin e eine abgeleitete, spite‘ Form eines Glaubens. Glauben ist nicht
das primaire Ja—sagen (und als die unter Punkt 3 und 4 genannt an es als baren Grundphinomene) »Lebensbedingung“, ungeachtet dessen, dat ‘la
Geglaubte ,,trotzdem falsch sein“ kann (wie schon der Glaube an das
vundle.
gende eigene Ich‘ es ist). ,Ohne die ungeheure Sicherheit des Glaubens und Bereitwilligkeit des Glaubens wire Mensch und Thier nicht lebens-
fabig“. Auch ist ein ,unbedingter Glaube, daB es so sein mu wie es ist, [...] Fundament alles Wachsthums und Starkwerdens“.** Der Glaube af dis
Wiederkunft soll von solchem ,anfanglichen Glauben‘ ausgehen wie das shéchste und letzte‘ Ja—sagen vom primiren Ja. Versuchen wir uns eine Vorstellung von der vollendeten
Einverleibung
des Wiederkunftsgedankens im Sinne Nietzsches zu machen. Auf dieser héchsten Stufe der Verinnerlichung des Gedankens wire das letzte und umfassende Ja—sagen
dergestalt einverleibt, da& der Glaube eine quasi—
transzendentale Funktion ausiiben wiirde. Er wiirde unser je—spezifisches Verhalten so grundlegend bestimmen, wie es schon durch die uns einverleib-
ten ,Grundirrthiimer“ gepragt wird. ,,Wir leugnen“, schreibt Nietzsche in Der Antichrist, ,,dass irgend Etwas vollkommen gemacht werden kann, so
lange es noch bewusst gemacht wird*.** Ein Wesen, das sich den Gedanken vollkommen ,einverleibt‘ hatte, wiirde jeden gelebten Augenblick seiner Existenz als einen zugleich ,ewigen‘ auffassen miissen, wie dem Menschen derzeit — auf Grund der ihm einverleibten Vernunft-Vorurteile — ,Dauern-
des‘ und ,Gleiches‘ begegnet, obwohl es dergleichen in ,der*‘ Welt des
Werdens nicht gibt.*”
1886-Friih*2 Nachla& Juni—Juli 1885, 38[3]; KGW VII 3, 325f. Vel. Nachlaf& Ende jahr 1887, 7[63]; KGW VIII 2, 325f. “® Nachla& Frithjahr—Herbst 1881, 11[286]; KGW V 2, 448f. “* Der Antichrist 14; KGW VI 3, 179. “’ Vel. Die frabliche Wissenschaft 110; KGW V 2, 147.
a
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Exkurse
Exkurs 1: Ergdnzende Bemerkungen zu Abschnitt 17: Uber das verewigende Ja-sagen in Jenseits von Gut und Bése
1.1. Knappe Darstellung des Weges des ,freien Geistes* zu einer ,Philosophie der Zukunft‘
Wenn Nietzsche in Jenseits von Gut und Bése die ,,neue Gattung von Philosophen“ beschreibt, die er heraufkommen sieht, so hiillt er sie in mancherlei Ratselhaftigkeit. Mehrdeutig spricht er von ihnen als von Versuchern, mit welchem Namen er sowohl einen ,,Versuch“ als auch ,,eine
Versuchung“ verkniipft.“* ,Freie Geister‘ sollen auch sie sein, sogar ,,sehr freie Geister“. Durch die Steigerung in der Kennzeichung hebt Nietzsche sie zum einen gegen den zeitgendssischen ,,Missbrauch“ in der Rede von Freigeistig-
keit in Europa und Amerika ab. Seinen ,freien Geistern‘ geht es ,,wider den Geschmack“, sich in einer allgemeinen Wahrheit festzumachen. Sie sagen: »»Mein Urtheil ist »zein Urtheil; dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das
Recht“. Da sie kein ,,Gemeingut“ anerkennen, gehéren sie nicht ,,unter die Nivellirer“, die als ,,Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner smodernen Ideen‘“ den Namen der freien Geister zu Unrecht fiihren.**” coc
Nietzsches freie Geister wagen sich ins Offene neuer und bislang unbekannter menschlicher Mdéglichkeiten. Als ,ser freie Geister‘ unterscheidet er sie zum anderen auch von jenen freien Geistern, die er sich als ,,Schadenersatz fiir mangelnde Freunde“ in schwerer Zeit ,,erfunden“ hatte.** In den nach
Jenseits von Gut und Bose geschriebenen Vorreden zu den Neuausgaben von Menschliches, Allzumenschliches | und II sucht er eine Briicke von seinen
friiheren Entwiirfen des ,freien Geistes‘ zu dessen spaterer Aufgabenstellung
zu schlagen. Daf er dabei sein fritheres Verstandnis von seiner spiteren Philosophie her umdeutet, bleibt hier auBer acht.**? Fiir die ,Zukunfts “4 Jenseits von Gut und Bose 42; KGW VI 2, 35. “7 Jenseits von Gut und Bose 43, 44; KGW VI 2, 5é6f. “48 Menschliches, Allzumenschliches 1, Vorrede 2; KGW IV 2, 9. “” Nietzsches Einstellung zu Menschliches, Allzumenschliches wechselt im spateren Riickblick mehrfach und bleibt ambivalent. Dies betrifft auch die Position des ,freien
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Exkurse
303
philosophie* von Jenseits von Gut und Bose ist aber bedeutsam, da8 der Weg zu ihr in den Vorreden von Nietzsches eigenen Erfahrungen her dargestellt wird. In ihnen treten einige Stationen des Ubergangs zu den ,sehr freien
Geistern‘ deutlicher hervor als in Jenseits von Gut und Bése.*° Die Unabhingigkeit, zu der Nietzsches freier Geist gelangen kann, ist ,,die Sache der Wenigsten“ und ,,ein Vorrecht der Starken“.**! Er wird den ,schlechten‘ ,,Geschmack fiir das Unbedingte* abgelegt haben, welcher der verehrenden Seele in seiner Jugend eignet und der sich noch im Argwohn und der Verachtung des friiher Verehrten, ja in der Rache an der eigenen
»selbst—Verblendung“ geltend gemacht hat.** Er wird weder ,,an einer Person hangen bleiben; und sei sie die geliebteste*, auch nicht an den ,,eignen Tugenden“, noch zuletzt auch ,,an seiner eignen Loslésung, an jener wolliisti-
gen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Hohe fliegt, um immer mehr unter sich zu sehn*.* Nicht an der Loslésung ,,hangen bleiben“, Geistes‘ in den beiden Biichern, — Hier mu8 der Hinweis darauf geniigen, da8 er 1885 an einer neuen Ausgabe dieses Werkes gearbeitet hatte. Dieser Versuch scheiterte;
aus dem Scheitern geht die Niederschrift von Jenseits von Gut und Bése hervor. Uber jenen Versuch schreibt er am 24.1.1886 an Heinrich Késelitz, ,,der letzte Sommer
und leider auch dieser Winter“ seien ,,auf die Umarbeitung dieses einleitenden Buches verschwendet worden: nun will ich’s von der Seele haben.“ Er bemiiht sich darum, die noch vorhandenen Exemplare der Erstausgabe von seinem Verleger Schmeitzner aufzukaufen, um sie zu vernichten. (Brief Nr. 664, KGB III 3, 142)
‘5° Vel. hierzu die Anmerkungen 419, 420, 421, 426, in welchen der Weg von den freien Geistern zu den sehr freien Geistern naher und erganzend erlautert wird. ‘5! Tenseits von Gut und Bose 29; KGW VI 2, 43f. ‘52 Jenseits von Gut und Bose 31; KGW VI 2, 45f. 453 Jenseits von Gut und Bése 41; KGW VI 2, 54f. -— ,,Man darf vermuthen“, heift es in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches |, 3, ,,dass ein Geist, in dem der
Typus ,freier ,Geist* einmal bis zur Vollkommenheit reif und siiss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslésung gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und fiir immer an seine Ecke und Saule gefesselt schien“. Was ,,die junge Seele“ anbetete und liebte, verfallt plétzlich dem »Argwohn“ und einem ,,Blitz von Verachtung“.(IV 2, 9f.) Als das ,Wovon‘ seiner
grofen Loslésung nennt Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II (1-3) seinen ehrfiirchtig verehrten ,,ersten und einzigen Erzieher“, den »grossen Arthur Schopenhauer“, und Richard Wagner. Schon die dritte und die vierte der Unzeitgemdfen Betrachungen stellten nach dem hier vorgenommenen Selbstriickblick ein ,,Abschiednehmen“ dar, zu dem schon eine ,,geheimnisvolle Gegnerschaft“ gehdrte. Einen Ausdruck von ,,Gelassenheit“ habe diese Gegner-
schaft erst in Menschliches, Allzumenschliches gefunden (IV 3, 4f., 6).
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
hei@t fiir Nietzsche dabei, sich nicht im Unbestimmten verlieren und sich
nicht ,,fast gleichgiiltig* selbst verschwenden, sondern ,,wissen, sich zu
bewahren: starkste Probe der Unabhingigkeit*.*”*
Die sehr freien Geister Sffnen sich den eigenen Verborgenheiten. Sie sind »dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm“ in sich selbst; sie sind ,,zu
. jedem Wagniss“ bereit, dank ,,einem Uberschusse von ,freiem Willen“; sie sind ,,Erobernde“, ob sie auch ,,Erben und Verschwendern gleich sehn“. Auch sind sie ,Ordner und Sammler“ und ,,erfinderisch in Schematen“. Dabei sind sie ,,Freunde der Einsamkeit“, — und in alledem vielleicht Vorlaufer cae .
der neuen Philosophen.*” Als einen ,,mittleren Zustand“ auf dem Wege des , freien Geistes* beschreibt Nietzsche u.a. das ,,Gefiihl von Vogel—Freiheit, Vogel—Umblick, Vogel-Ubermuth, etwas Drittes, worin sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben“. Noch hat der freie Geist aber darin keine eindeutige Richtung seines Wollens gefunden: ,,Man lebt nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschliipfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder emporfliegend; man ist verwohnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat“. (Menschliches, Allzumenschliches 1, 4; KGW
IV 2, 12)
44 Jenseits von Gut und Bose 41; KGW VI 2, 55. — Nach der ,,krankhaften Vereinsamung“, der Wiiste seiner ,,Versuchsjahre“ (Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 4; KGW IV 2, 11), liegt ein Fortschritt in der Genesung des freien Geistes
(gegeniiber jenem in Anm. 453 beschriebenen ,mittleren Zustand‘) darin, da& er sich wieder dem Leben annahert, ,,langsam freilich, fast widerspanstig, fast misstrauisch“ (a.a.0., 5; KGW IV 2, 13). Endlich jedoch, ,,unter den Lichtern einer noch ungestiimen, noch wechselnden Gesundheit“, beginnt sich ,dem freien, immer freieren Geiste [...] das Rathsel jener grossen Loslésung zu entschleiern“, Er
erfahrt als eine Art Antwort auf seine Fragen: ,,,Du solltest Herr iiber dich werden, Herr auch iiber die eigenen Tugenden. [...] Du sollst Gewalt tiber Dein Fiir und
Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus— und wieder einzuhiangen, je nach deinem héheren Zwecke.“ (A.a.0., 6; KGW IV 2, 14f.) In solchem 455
Herr—werden iiber sich liegt der Sinn der oben genannten »Selbstbewahrung‘.
Jenseits von Gut und Bose 44; KGW VI 2, 58f. - Die Rede vom , freien Willen‘ darf
nicht mifverstanden werden. — In Jenseits von Gut und Bése 21 heift es, in dem »Verlangen nach ,Freiheit des Willens““ verberge sich ,,nichts Geringeres“, als ,,causa
sui* sein zu wollen, worin ,,der beste Selbst-Widerspruch* stecke, ,,der bisher ausgedacht worden ist“. Mit dem s,Unbegriff* ,,freier Wille“ streicht Nietzsche auch
dessen mechanistisch gedachte »sUmkehrung“, derzufolge die Ursache ,driickt und stOBt', ,,bis sie ,wirkt““. (KGW VI 2, 29f.) ,,Die Kunstler“ haben da »eine feinere Witterung“ als die Naturwissenschaftler. Sie wissen, ,,dass gerade dann, wo sie Nichts mehr ,willkiirlich‘ und Alles nothwendig machen, ihr Gefiihl von Freiheit, Feinheit,
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Exkurse
305
Nach den ,Extremerfahrungen‘ duGerster Weltverneinung und deren
Umschlag in das ,umgekehrte Ideal*® blicken die freien Geister vor auf den
Philosophen als den Menschen ,,der umfanglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen fiir die Gesammt—Entwicklung des Menschen hat“. Er ist der starke Mensch, der sich nicht nur ,,der jeweiligen politischen und wirth-
schaftlichen Zustande“ zu seinen Zielen bedienen wird, sondern auch der
Religionen. Fiir ,,die Starken, Unabhingigen, zum Befehlen Vorbereiteten und
Vorbestimmten“ ist z.B. »Religion ein Mittel mehr, um Widerstinde zu
iiberwinden, um herrschen zu kénnen“.*” Angesichts der von Nietzsche
konstatierten ,,Gesammt—Entartung des Menschen" steigert sich die Bedeutung der Ausschau ,,nach neuen Philosophen“, welche ,die Anstésse“ zur ganzlichen Umwertung der bisherigen Werte geben sollen und gar die ,,Vorausgesandten“ eines Wollens zu sein haben, das ,,den Willen von Jahrtausen-
den auf neve Bahnen zwingt“, ins kaum Erme6liche.*® Damit die kiinftigen Philosophen neue Werte schaffen und damit ,,das
Wohin? und Wozu? des Menschen“ bestimmen kénnen, bediirfen sie der Vorbereitung. Zur ,,Erziehung“ solcher ,eigentlicher Philosophen‘ mag es
notig sein, daf sie selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden“ haben, auf denen ,,die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie [,] stehen Vollmacht, von schpferischem Setzen, Verfiigen, Gestalten auf seine Héhe kommt — kurz, dass Nothwendigkeit und ,Freiheit des Willens‘ dann bei ihnen eins sind“. Solche ,,Erfahrung“ tragt auch das ,,acht philosophische Beieinander einer kiihnen, ausgelassenen Geistigkeit, welche presto lauft“, samt ihrer ,,dialektischen Strenge
und Nothwendigkeit“. (Jenseits von Gut und Bose 213; KGW VI 2, 152, 151) — Auch
fiir die oben zitierte Ausfiihrung vom ,Uberschuf an freiem Willen‘ sei auf die Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches | verwiesen. Von einem solchen Uberschu8 geht Nietzsche schon aus, wenn er auf die ,,wilden Versuche[n] und Seltsamkeiten“ am
Beginn der grofen Loslisung des sich befreienden Geistes zuriickblickt. Im ,,erste[n] Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst—-Werthsetzung“, im »Wille[n] zum freien Willen“ stecke zwar ,, Willkiir und Lust an der Willkiir“. Aber
darin ist solcher Wille zur Freiheit so wenig liberum arbitrium und so wenig von Notwendigkeit befreit wie in der Phase einer ,,reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens* ist (3 und 4; KGW IV 2, 10-12). Es ist die Kraft des jeweiligen Willens zur Macht, die sich in alledem geltend macht; Nietzsche hat von ihr in anderem Zusammenhang als vom Instinkt der Freiheit gehandelt (Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 16-19; KGW VI 2, 337-345. S. hierzu Freiheit und Wille bei Nietzsche, Nietzsche—Interpretationen II, Abschnitt 17). 456 Jenseits von Gut und Bose 55, 56; KGW VI 2, 72E. 57 Jenseits von Gut und Bose 61; KGW VI 2, 77f.
“58 Tenseits von Gut und Bése 203; KGW VI 2, 128ff.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
bleiben, — stehen bleiben missen“. Ein solcher ,wirklicher‘ Philosoph ,,muss
selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und iiberdies Dichter und Sammler und Reisender und Rathselrather und Moralist und ,freier Geist‘ und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werthgefiihle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Hohe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Hohe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu kénnen“. Das Zusammentragen des Gewesenen
aber teilt Nietzsche noch den ,philosophischen Arbeitern‘ als Aufgabe zu: diese sollen alles bisher Geschehene und Geschitzte iibersichtlich, iiberdenk-
lich, fasslich, handlich“ machen.*” Solche Uberwaltigung der Vergangenheit,
welche in jedem Faflichmachen liegt, stellt nur ,,die Vorarbeit“ dar. Sie
schafft ,,die Vorbedingungen“ dafiir, da die ,eigentlichen Philosophen ihre »Aufgabe* erfiillen kénnen, die ,,etwas Anderes“ von ihnen »verlangt“.* Sie
sollen Werte schaffen und durchsetzen, wofiir sie Gesetzgeber sein und — wie wir schon hinsichtlich ihrer Urteile gehdrt haben — befeblen miissen, was sein soll.’ Darin ist ihr ,, Wille zur Wahrheit: ,,Wille zur Macht“.2?
**? Tenseits von Gut und Bose 211; KGW VI 2, 148f. “69 Jenseits von Gut und Bose 211; KGW VI 2, 148. —Formulierungen wie: ,,die Aufgabe selbst will etwas Anderes“ (ebd.), verweisen bei Nietzsche natiirlich nicht auf eine
verborgene Teleologie. Dies gilt auch fiir noch starker teleologisch klingende Ausfiihrungen. So la&t er den freien Geist wie folgt eine Antwort auf das ,,Rathsel der Loslésung* geben: ,,,Wie es mir ergeht, so sagt er sich, muss es Jedem ergehn,
in dem eine Aufgabe leibhaft werden und ,zur Welt kommen‘ will. Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, — lange, bevor er diese Aufgabe selbst in’s Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfiigt iiber uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt.“ (Menschliches, Allzumenschliches 1, Vorrede 7; KGW IV 2, 15. Vel. zum Schwangerschafts—Topos auch Jenseits von Gut und Bose 248; KGW VI 2,
199.) In der Loslésung ist nicht etwa schon die Aufgabe keimhaft angelegt. Der freie Geist stellt sich der Aufgabe, weil er der geworden ist, der er ist. Sie war seinem Werden
nicht vorgangig als Ziel seines Weges eingeschrieben. Erst indem und
nachdem die Aufgabe gestellt worden ist, la&t sich das zuvor Geschehene als Vorbereitung fiir sie verstehen. Nietzsche spricht demgema& von Ziveckgemafheit in einer ,Entwicklung‘, die nicht mit Zweckmafigkeit verwechselt werden darf. (S. hierzu Nachla& Sommer—Herbst 1884, 16[134]; KGW VII 2, 183. Vgl. dazu in: Der Organismus als innerer Kampf, in diesem Buch S, 130f., insbes. Anm.153.) 461
Jenseits von Gut und Bose 211; KGW VI 2, 149. - Vgl. oben Abschnitt 13, S. 237f.
- Nietzsche erértert in Aph. 205 die Schwierigkeit fiir den ,heutigen‘ Philosophen, angesichts von ,,Umfang* und ,,Thurmbau der Wissenschaften“ nicht mehr zur
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Exkurse
307
Zuletzt fiihrt Nietzsche seinen Leser in Jenseits von Gut und Bose zu dem Gedanken, daf Gétter philosophieren.** Wenn hierbei Dionysos als ,,Versu-
cher—Gott“ gekennzeichnet wird, so klingt darin an, worauf die Suche der
freien, sehr freien Geister‘, ihnen selbst verborgen, gerichtet war, die sich den Philosophen der Zukunft als einen Versucher vorgestellt hatten.*“ Womit versucht Dionysos philosophos den Philosophen Nietzsche? Er will den Menschen ,,,noch Ein Mal stirker, béser und tiefer‘“ machen; ,,,auch schoner‘“.* 1.2. Zur Formel ,circulus vitiosus deus‘ Sie hat den Nietzsche—Interpreten von jeher viele Fragen aufgegeben; man-
che haben freilich einen Bogen um sie gemacht. Man wird in der Formulierung,
angesichts von Nietzsches Neigung zu Mehrdeutigkeiten, sicherlich auch eine ironisch—polemische Anspielung auf den Zirkelbeweis und damit auf den Formalismus der Logikkritik sehen kénnen, welche an jenem moniert, daf er das
zu Beweisende bereits vorausgesetzt hat. Aber das ist im Verhiiltnis zur Hauptsache nur ein Nebengedanke. ,, Wir trauen unseren Augen und Ohren nicht“,
sagt Heidegger und interpretiert vitiosus, von vitium her, als ,,das Gebrechen, »Hohe“, zum ,,Uberblick, Umblick, Niederblick“ — und damit nicht zum ,Befehlen‘ und ,Fiihren‘ zu kommen.
“©? Tenseits von Gut und Bose 211; KGW VI 2, 148f. = Jenseits von Gut und Bose 294; KGW
VI 2, 246. — Vgl. hierzu oben S. 261ff. und
nachstehend die Exkurse 1.2. und 1.3.
‘64 Jenseits von Gut und Bose 42; KGW VI 2, 55. — Vgl. oben S, 302.
“65 Jenseits von Gut und Bose 295; KGW VI 2, 249. - Vel. hierzu Nachla& Herbst 1885—Herbst
1886, 2[25]; KGW
VIII 1, 74: ,,,Du scheinst mir Schlimmes im
Schilde zu fiihren, sagte ich einmal zu dem Gotte Dionysos; namlich die Menschen zu Grunde zu richten?‘ — , Vielleicht, antwortete der Gott, aber so, da dabei etwas fiir mich herauskommt.‘ — , Was denn? fragte ich neugierig. — ,Wer denn? solltest du
fragen.‘ Also sprach Dionysos und schwieg darauf in der Art, welche ihm zu eigen war, namlich versucherisch. — Ihr hattet ihn dabei sehen sollen! Es war Frihling, und alles Holz stand in jungem Safte.“ In einer spateren Niederschrift antwortet der Gott auf die Frage, ob er den Menschen zugrunde richten wolle: ,,... aber so,
da8 dabei etwas fiir ibn herauskommt“ (Nachla& Anfang 1886-—Friihjahr 1886; KGW VIII 1, 180, Hervorheb. v. Vf.). Durch die Akzentsetzung wird noch (wie in
Jenseits von Gut und Bése) unterschieden, was in Wir Furchtlosen ganzlich zusammengehért: was zuletzt ,zherauskommen* soll, ist ,,der dionysische Gott und
Mensch“, der einen Uberschu& ,,von zeugenden und befruchtenden Kriiften“ hat (Die fréhliche Wissenschaft 370; KGW V 2, 302).
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
das Leiden, das Zerstérerische“. Die Wiederkehr erscheint ihm dabei als der »widrige Ring“, der ,,selbst der Gott“ sein soll. Er zieht eine andere Frage
Nietzsches aus Jenseits von Gut und Bése 150 heran: ,, ... und um Gott herum wird Alles — wie? vielleicht zur , Welt‘? —“.* Aber er hatte hier vor allem auf
Jenseits von Gut und Bése 55 Bezug nehmen k6nnen, in welchem Aphorismus
die Ausfiihrung iiber den circulus vitiosus deus vorbereitet wird. Nietzsche beschreibt in ihm drei Sprossen der groGen ,,Leiter der religi6sen Grausamkeit*, Zuerst habe man seinem Gotte Menschen geopfert; dann, ,,in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte die stirksten Instinkte, die man besa, seine Natur“. Was konnte zum Schlusse noch geopfert werden? Man mufte ,,endlich einmal alles Tréstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukiinftige Seligkeiten und
Gerechtigkeiten opfern“. Aus Grausamkeit gegen sich selbst konnte man ,,den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten“. Zuletzt mufte man ,fiir das Nichts Gott opfern — dieses paradoxe Mysterium der
letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches eben herauf kommt,
aufgespart‘.**” Der Anbetung des Nichts nachgehen, verlangt von Nietzsche: »den Pessimismus in die Tiefe“ denken, noch hinter die Philosophie Schopenhauers zuriickgehen zum buddhistischen Nirwana und auch da noch tiefer graben, ,,mit einem asiatischen und iiberasiatischen Auge in die weltverneinend-
ste aller méglichen Denkweisen hinein und hinunter“ blicken. Am tiefsten Punkte nihilistischen Bewuftseins aber haben sich Nietzsches ,,Augen fiir das
umgekehrte Ideal aufgemacht*. Aus dem 4ufersten Nein kann der Mensch zum umfassendsten Ja gelangen, das noch alle Grausamkeiten in sich hineinnimmt und das auch ihn selbst noch iibergreift. — Ausfiihrungen Nietzsches “6 Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendlindischen Denken. Die ewige Wiederkunft des Gleichen, HGA 44, 67-69. Jenseits von Gut und Bose 15 0; KGW
VI 2, 99. — Heidegger nimmt diese Fragen zum Anlaf, um iiber Nietzsches angeblichen ,Atheismus‘ zu handeln (a.a.0., 69-71).
Er weist darauf hin, da& Zarathu-
stras Gott—losigkeit nicht gegen Nietzsches Fragen nach Gott ins Feld gefiihrt
werden kénne. Zarathustra beginne, ,,indem er untergeht, Zarathustras Anfang ist sein Untergang* (a.a.O., 70f.). Vgl. dazu Nachla& Mai—Juni 1888, 17[4], 5; KGW VII 3, 324f.: ,,... wie viele neue Gétter sind noch méglich! — Zarathustra selbst freilich ist blof ein alter Atheist. Man verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er
wiirde —; aber Zarathustra wird nicht ...“. - K. Léwith schreibt zu diesem Satz
zutreffend, ,,da& erst die Epiphanie des Dionysos den Unglauben Zarathustras
glauben lehrt. Nietzsche selber [...] hat sich das Géttliche offenbart“ (Nietzsches
Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, in: Samtliche Schriften 6, 167). “7 KGW VI 2, 72.
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Exkurse
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zum Dionysischen beriicksichtigend hat van Tongeren cine knappe, aber treffende Erliuterung der Formel gegeben: ,,,circulus‘ deutet auf den Wechsel von
,bauen‘ und ,zerstéren‘ hin, in dem sich die Wandelbarkeit des Dionysos ausdriickt; ,vitiosus‘ meint das Boshafte dieses verfiihrerischen Gottes“,*™
1.3. Uber das Philosophieren der Gétter und tiber das Lachen
Dies ist ,,cine Neuigkeit, welche nicht unverfanglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen méchte“: jedenfalls unter den konventionellen Philosophen, vielleicht nicht so bei Nietzsches ,Freunden‘, d.h. denen, die schon sehr freie Geister sind.“ — Die Rangordnung der Philosophen wird von Nietzsche hier am ,,Range ihres Lachens“ festgestellt, ,,bis
hinauf zu denen, die des goldnen Gelichters fahig sind“. Daf die Gétter beim Philosophieren ,,auf eine iibermenschliche und neue Weise zu lachen wissen“
kénnten, soll mit ihrer Uberlegenheit ihr Ja zum Ausdruck bringen, dem sich ein Nein der Spottlust beigesellen kann, lachen sie doch ,,auf Unkosten aller ernsten Dinge“. Das Stiick trigt die Uberschrift: ,,Das ol ympische Laster*.*”°
In Also sprach Zarathustra verwandelt sich der Hirt, der der Wiederkunfts—Schlange den Kopf abgebissen hat, in den Ubermenschen, der lacht, wie ,,niemals noch auf Erden [...] je ein Mensch“ lachte. Er lacht als ein Befreiter.*”' Zarathustra spricht vom ,,lachenden Sturm, welcher allen Schwarz-
siichtigen, Schwarsiichtigen Staub in die Augen bla&t!“ Hier soll das Ja als Lachen das Nein zum Leben niederringen. Die ,, h6heren Menschen“ sollen nicht nur iiber sich selbst hinweg tanzen, sondern auch lernen, iiber sich hinweg
zu lachen. Zarathustra spricht hier das Lachen ,,heilig“, das noch Abstand zu
sich selbst gewinnt.*” Gilles Deleuze hat das Lachen, das Tanzen und das Spielen (des Kindes)*”?
am Schlu seines Nietzsche—Buches*”* zusammengestellt. Er bezieht sie unterschiedlich auf Zarathustra und Dionysos. Bei Zarathustra stellen diese drei 468 P. van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik, a.a.O. [Anm. 307], 286. “© Jenseits von Gut und Bose 295; KGW VI 2, 248. * Jenseits von Gut und Bose 294, a.a.O. ‘| Also sprach Zarathustra U1, Vom Gesicht und Rathsel 2; KGW VI 1, 198. *2 Also sprach Zarathustra 1V, Vom héheren Menschen 20; KGW VI 1, 363f.
‘3 Vel. Also sprach Zarathustra 1, Von den drei Verwandlungen; KGW VI 1, 26f. “* Nietzsche und die Philosophie [Paris 1962], itbers. v. B. Schwibs, Miinchen 1976,
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
»die jasagenden Michte der Umwertung dar: das Tanzen wertet Schweres in Leichtes um, das Lachen Leiden in Freude, das Wurfspiel Niedriges in Hohes.
Auf Dionysos bezogen aber bilden Lachen, Tanzen und Spielen die bejahenden Miichte der Reflexion und der Entwicklung. Das Tanzen bejaht das Werden und das Sein des Werdens; das Lachen, die Lachausbriiche bejahen das Viele und das Eine des Vielen; das Spielen endlich bejaht den Zufall und die Notwendig-
keit des Zufalls.“*7> Darin ist viel Richtiges, aber es reicht nicht aus, um die Vielfalt des von Nietzsche besonders unter dem Lachen Verstandenen herauszuarbeiten. — Eindrucksvoll sind die Ausfiihrungen von van Tongeren: ,,Im Lachen, Singen und Tanzen entkommt derjenige, der sich selbst als gegenstreitige Vielheit verwirklicht, dem Absolutheitsanspruch jeder Philosophie sowie der Einheit, die jedes verstiindliche Reden herstellt.“ Er verweist auf Zarathustra, den ,,Tanzer“ und den ,,Wahrlacher“, der kein ,,Unbedingter“ ist, sondern ,,Spriinge und Seitenspriinge liebt“.*”* Van Tongeren hebt hervor, da in solchen Spriingen die eine Position neben die andere“ gesetzt werden kann. Von daher [aft sich sowohl die aphoristische Schriftstellerei Nietzsches verstehen wie auch
die dieser zugrundeliegende ,,philosophische Praxis des Perspektivismus*.*””
~ Richtig ist auch, da& man sich im Lachen — wie Steffen Dietzsch schreibt — ,,Distanz und Nihe zugleich* schafft; da& man durch das Lachen ,,Widerspriiche, Briiche und Paradoxien in der Kultur, im Denken und Leben, kurz: die Absurditit
historischer oder auch natiirlicher Vorgange“ auszuhalten imstande ist.*” Lachen und Tanzen kénnen auflésen und befreien. So kann durch sie ein jeweils anderes und Neues freigesetzt werden; aber sie bringen aus sich heraus nichts Neues. Man kann vielleicht gar iiber die Fragen und Schwierigkeiten, auf die man gestofen ist, hinweglachen, hinwegsingen, hinwegtanzen. So ruft auch Nietzsche im Epilog zu Wir Furchtlosen ,,die Geister“ der ,Fréhlichen
Wissenschaft‘ heran, die nichts mit der ,,rabenschwarzen Musik“ des grofen Ernstes zu tun haben wollen, die zuvor erklang, und diesem ,,das boshafteste,
munterste, koboldartige Lachen“ entgegenstellen. Das ,, Vormittagslied“, das die Geister zum frohlichen Tanz anstimmen wollen, soll so sein, ,,dass es die
Grillen nicht verscheucht, — dass es die Grillen vielmehr einlidt, mit zu singen, mit zu tanzen“.*” — Zum spottlustigen, iibermenschlichen ,goldnen Gelachter 15 A.a.O., 208f.
“6 A.a.0., [Anm, 307], 240-243; vgl. dazu: Also sprach Zarathustra 1V, Vom héheren Menschen 18; KGW VI 1, 362. "7 &.a.O., [Anm. 307] 241.
8 Pathos und Philosophie, in: Fort Denken mit Kant, Essen 1996, 147.
” Die frobliche Wissenschaft 383; KGW V 2, 319.
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Exkurse
311
der Gétter‘ gehGrt jedoch auch — wie zum ,,Wahrsager“ Zarathustra als dem »Wahrlacher“"” - das Kiimpfen und Herrschen als Wille zur Macht. Nietzsche kénnte wenig dagegen einzuwenden haben, wenn man selbst seine Gotter in die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen hineinnimmt. So hat die (zu Nietzsches
Zeit noch nicht etablierte) vergleichende Ethologie das menschliche Lachen mit dem Triumphgeschrei der Graugiinse in eine iiberzeugende Analogie oder sogar Homologie gebracht: als Befriedungszeremonie vor dem Hintergrund
urspriinglicher Aggression.**!
1.4. Uber ,das Genie des Herzens‘ Vom ,,Genie des Herzens“ als dem geborenen ,,Rattenfiinger der Gewissen“ heift es in Jenseits von Gut und Bése u.a., da& seine ,,Stimme bis in die
Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss“, da es zu seiner ,,Meisterschaft“ gehore, ,,dass er zu scheinen versteht — und nicht Das, was er ist, sondern, was Denen, die ihm folgen, ein Zwang mebr ist, um sich naher an ihn zu drangen, um ihm immer innerlicher und griindlicher zu folgen [...]“. Das Genie
des Herzens errat auch ,,den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Giite und siisser Geistigkeit unter triibem, dickem Eise [...]“."** — Nietzsche
zitiert die Passage iiber das Genie des Herzens vollstiindig in Ecce homo”, wo er sie selbstironisch als ,,ein curioses Stiick Psychologie“ kennzeichnet.
Wenn er an dieser Stelle ,,jede Muthmassung dariiber“ verbietet, wen er hier beschreibe, so ist dies nichts als cin Element seiner Selbststilisierung. — Dies hat noch seine Feinheit; wenn ,das Genie des Herzens* freilich von der
Schwester ,entschliisselt‘ wird, geht jede Nuancierung verloren. Elisabeth Férster—Nietzsche hat ein Vorwort ihrer Lebensbeschreibung des Bruders mit dem ausfiihrlichen Zitat von Jenseits von Gut und Bose 295 beschlossen. Ihr 48° Also sprach Zarathustra 1V, Vom héheren Menschen 18; KGW VI 1, 362. - Vgl. Die Geburt der Tragédie, Vorrede; KGW Ill 1, 16.
441 Konrad
Lorenz, Das sogenannte Boése. Zur Naturgeschichte der Aggression,
Wien 1963; zit. nach der Ausgabe Miinchen *1976, 174ff. — Zuzustimmen ist auch Lorenz’ Umkehrungsgedanken, da8 ,,mit der Ausschaltung des Aggressions-
triebes aus dem menschlichen Leben [...] sehr wahrscheinlich eine sehr wichtige und spezifische menschliche Fahigkeit, nimlich das Lachen“, verschwinden wiir-
de (a.a.0., 248).
* Jenseits von Gut und Bose 295; KGW VI 2, 247. 3 Biicher 6, KGW VI 3, 305 f
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
Schlu@satz lautet: ,, Mein Bruder nennt diesen grofSen Verborgenen: Dionysos,
~ aber glaubt mir, meine Freunde, das ist nur ein Pseudonym, in Wahrheit hei&t er: Friedrich Nietzsche.“*"* Daf von Dionysos die Rede ist, geht auch aus einem der gestrichenen
Schliisse von Ecce homo, Jenseits 2, hervor: ,,Was sagt doch, hinter einer
kleinen Psychologie meines gro&en Lehrers Dionysos, die den Schlu’ des Buchs macht, dieser selbst? [...]“*** — In der Sache legt es sich nahe, bei der Rede vom Genie des Herzens an Die Geburt der Tragédie zu denken, zumal
Nietzsche selbst in Jenseits von Gut und Bose 295*** an seine ,,Erstlinge“
erinnert. In Die Geburt der Tragédie ist bei der Erérterung des Dionysischen Das im Verhaltnis zum Apollinischen vom ,,Herzen der Natur“ die Rede. dionysische Herz der Natur fande dann im Genie des Herzens als Dionysos philosophos eine personifizierte Auspragung. — Vor allem eine Ausfithrung
Nietzsches zur ,,Operngenesis“ in Die Geburt der Tragédie kénnte als frither, freilich stark verwandelter Vor—Gedanke zum Gesprach zwischen Dionysos und dem Autor von Jenseits von Gut und Bése aufgefa&t werden. Dieser Ausfiihrung zufolge gab es ,,eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natiirlichkeit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Giite und Kiinstlerschaft, erreicht hatte: von welchem vollkommenen Urmenschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues
Ebenbild wir noch wiren: nur miissten wir einiges von uns werfen, um uns selber wieder als diesen Urmenschen zu erkennen [...].“*%*
Exkurs 2 (zu Abschnitt 18): Anmerkung zu Giorgio Collis Versténdnis von Nietzsches ,Unzeitgemafheit*
Colli begniigt sich nicht mit dem Hinweis auf Nietzsches letzte Erkrankung, wenn er auf die Gewaltsamkeit und Uberstiirzung der Schriften von 4 Das Leben Friedrich Nietzsche’s, 1 2, Leipzig 1904, VI 85 KSA 14, 499
“86 Jenseits von Gut und Bose, a.a.O., 248. 7
3 und 4; KGW
III 1, 35, 37 f.
“* KGW III 1, 120. -J. A. Geijsen hat in seinem Buch Geschichte und Gerechtigkeit. Grundziige einer Philosophie der Mitte im Friihwerk Nietzsches, Berlin/New York 1997, die Rede vom ,Herzen der Natur‘ zu einer Grundbestimmung bes. von Die
Geburt der Tragédie erhoben, vgl. dazu ebd. 146 ff.
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Exkurse
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1888 eingeht. Er findet den Philosophen ,,im Hinblick auf die Beziehung zwischen seinem Denken und seinem literarischen Handeln“ in einer aus-
weglosen Situation. Zu ihrer Erklarung beschreibt er die Entwicklung
Nietzsches als bestimmt durch den Kampf gegen seine Zeit. In allen seinen
Schriften stecke Nietzsche ,,die Grenzen seiner Unzeitgema&heit* ab. Entweder setze er dem ,Zeitgemafen‘ eine ihm kontrare Vision entgegen oder er demoliere die Werte und Glaubensinhalte der Moderne. Auf beiden Wegen vergroGere er ,,einen anfiinglichen RiS“ zwischen sich und seiner Zeit, der
schlieflich ,,zur vélligen Zerstérung“ seiner selbst fiihre.**’ Im Jahre 1888
seien ,,UnzeitgemaGheit und Gegenwart fiir Nietzsche zu zwei miteinander unvereinbaren Positionen geworden‘, sei der ,,Abstand zwischen ihnen selbst ins Grenzenlose gesteigert*. Gerade an diesem Punkte erliege er ,,der Hallu-
zination von einer wundersamen Konvergenz. Er phantasiert, da fiir sein Denken, fiir seine Person nunmehr die ZeitgemaGheit anbreche — aber darin
ist er bereits nicht mehr zurechnungsfahig.“*”° — Colli iibersteigert Nietz-
sches Unzeitgema&heit bis zur ganzlichen Disparitat mit der gesamten Moderne. Wer Nietzsche interpretiere, d.h. ihn in irgendeiner Weise auf die Gegenwart (im weiteren Sinne) beziehe, erkenne nicht ,,Nietzsches Un-
zeitgemaSheit in ihrer ganzen Radikalitat“ an. Colli iiberhoht Nietzsche damit auf eine eigentiimliche Weise, die ihn ginzlich aus der Geschichte heraushebt. So kann es ihm zufolge nicht darum gehen ,,zu sehen, was uns Nietzsches Denken heute bringt, wo es die modernen Probleme erfa&t, sie bereichert und anregt. In Wirklichkeit dient sein Denken nur einer einzigen Sache: uns von unseren sdmtlichen Problemen zu entfernen, uns iiber all unsere Probleme hinausschauen zu lassen. Denn die Probleme seiner Gegen-
wart sind noch die unserer Gegenwart.“*”' Diese Entgegensetzung, ja Polarisierung der Unzeitgemafsheit Nietzsches mit seiner (und damit auch unserer) Zeit ist allerdings grotesk. Nietzsche selbst hat es als seinen ,,Ehrgeiz“, seine ,,Tortur“ und als sein »Gliick“ bezeichnet, ,den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen“
und ,,in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben*.*”? Wenn er der ,,Unabhangigkeit“ alles zu opfern bereit ist, so ,,wahrscheinlich“, wie er selbst vermutet, deshalb, ,,weil ich die abhangigste Seele habe und an allen kleinsten
89 Distanz und Pathos, a.a.O. [Anm. 343], 152, 151. 9
Aa.O.,
a
A.a.O., 155f.
1546,
* NachlaS Herbst 1887, 9[177]; KGW VIII 2, 104.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
Stricken mehr gequiilt werde als andere an Ketten“.*”? Nietzsches UnzeitgemiaGheit lebt aus der Bemiihung, die eigene Zeit zu durchdringen, durch sie hindurch iiber sie hinaus zu gelangen. Uber sie hinaus will er freilich nur wieder in die geschichtliche Zeit hineinfiihren. — Colli beschrankt Nietzsches Tendenz auf ,ZeitgemaGheit‘ auf dessen ,geheimen Wunsch zu direktem
Eingreifen“, der sich zwar erst 1888 radikalisiert, aber, worauf Colli zutref-
fend hinweist, z.B. schon im ,,Schwirmen fiir Wagner“ in den Basler Jahren
oder im ,,prophetische[n] Ton des Zarathustra“ anzutreffen ist.”* Mit der
Kritik an dieser Intention Nietzsches stimme ich iiberein, wie oben in
Abschnitt 18 deutlich geworden sein diirfte. In den nachgelassenen Fragmenten vom Frithjahr 1888 bis Anfang 1889 findet Colli ,,die andere Seite des Philosophen, jene, die Nietzsche verborgen
halten wollte: einen nach Leben Diirstenden, der sich selbst zur Abstraktion
verurteilt und gezwungen ist, in dieser seine Stimulantien zu suchen, einer, dem alles, was er beriihrt, zu blutleeren Schatten wird“. Die zutreffende
Einsicht in die Intensivierung der Lebensbejahung in Nietzsches letzter Denkphase wird hier durch eine iiberzogene Entgegensetzung von Abstraktion und ,Theorie‘ auf der einen und ,Leben‘ auf der anderen Seite entstellt.
Nietzsche war der Sache seines Denkens nach auch durchaus nicht ,,an einem toten Punkt angekommen“, wie Colli meint. Abstrakt ist vielmehr seine Vorstellung, Nietzsche hatte die ,abstrakten Begriffe‘ und leeren ,,Hiilsen der
Philosophie nach simtlichen méglichen Mustern kombiniert und die widerspriichlichsten, paradoxesten Bedeutungen daraus abgeleitet“.*”> Die bohrende Untergriindigkeit und Eigenstandigkeit von Nietzsches lebensbezogenem
Philosophieren wird in diesen Darlegungen verkannt.*”°
8 Nachla® Ende 1880, 7[91]; KGW V 1, 665. % Distanz und Pathos, a.a.O., 152.
5 A.a.O., 140, 139. ** Wenn Colli es als verfehlt ansieht, ,,sich auf der Ebene der historischen Auslegung“ mit Nietzsche ,,auseinanderzusetzen“, so weist er zugleich auf seine Diskrepanz zu Montinaris Nietzsche-Deutung wie zu dessen Verstindnis seiner Editionsaufgabe hin. Vgl. zu den gegensiitzlichen Auffassungen der beiden Begrinder der Kritischen Gesamtausgaben Nietzsches: Giorgio Campioni, Leggere Nietzsche. Alle origini dell‘ edizione Colli-Montinari. Con lettere e testi inediti, Pisa 1992. Ders., Mazzino Montinari in den Jahren von 1943-1963, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), XV-LX. Ders., ,Die Kunst, gut zu lesen‘. Mazzino Montinari und das Handwerk des Philologen, in: Nietzsche—Studien 18 (1989),
XV-LXXIV.
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Exkurse
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Exkurs 3: Bemerkungen zu Nietzsches ,Konzeption' des ,Dionysischen‘
1. Im Riickblick auf die Zeit der Entstehung der Geburt der Tragédie schreibt
Nietzsche in Ecce homo, er habe ,,das wundervolle Phiinomen des Dionysischen als der Erste begriffen“. Als das einzige Gleichniss und Seitenstiick“ der
Geschichte zu seiner ,innersten Erfahrung“ habe er jenes Phanomen ,entdeckt“.*”” Dieses Entdecken und jenes Begreifen mu in der Tat auf die Besonderheit von Nietzsches ,innerster Erfahrung‘ bezogen werden. Das
schlieft die Riickfrage nach seinen ,Quellen‘ und nach den Anregungen nicht
aus, die zur Bildung ,seines Begriffs‘ des Dionysischen gefiihrt haben. Wie er mit der theoretischen Diskussion des Gedankens des unendlichen Kreisgeschehens in seiner Zeit vertraut war, ehe ihm der Gedanke der ewigen
Wiederkunft des Gleichen ,aufleuchtete‘,*”* so konnte er in der Geburt der Tragédie an die asthetischen und literarischen ,Bezugnahmen‘ auf Dionysos im 18. und 19. Jahrhundert wie auch an die Dionysos—Mythologie der Romantik ankniipfen.*” Es lag aber nicht in Nietzsches Interesse, sich ausdriicklich in diese Tradition hinéinzustellen. Um sein ,Originares‘ geltend
zu machen, stellte er seinen Begriff des Dionysischen gegen dessen Verstindnis in seiner Zeit*. An schroffen Entgegensetzungen ist ihm mehr gelegen als an differenzierenden Erérterungen.*”’ So vereinfacht und vergrébert er in Gétum sein eigenes, ,wahreres* Verstehen der Griechen von deren ,Nichtverstehen‘ abzuheben. Goethe ,,verstand [...] die Griechen nicht“, weil er nicht in die Tiefe
~
zen—Ddmmerung Winckelmanns und Goethes ,,Begriff“ des Griechischen,
Instinkt‘ ,,das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens“ verbiirgte.*”'
ya
der ,,dionysischen Mysterien“ hinabsah, in denen sich dem ,hellenischen
7 Ecce homo, Die Geburt der Tragédie 2; KGW VI 3, 309. 8 Ecce homo, Also sprach Zarathustra 3; KGW VI 3, 337. - Zur zeitgendssischen Diskussion vgl. oben S. 297f., Anm. 433. Vel. hierzu Max L. Baeumer, Das moderne Phdnomen des Dionysischen und seine ,Entdeckung’ durch Nietzsche, Nietzsche—Studien 6 (1977), 122-153, hier: 133ff. Manfred Frank, Gott im Exil. Vorlesungen iiber die neue Mythologie, Il. Teil, Frankfurt a.M. 1988, 9-80
$0 Baeumer schreibt 1977, Nietzsches ,,rhetorische Ubertreibungen“ seien so ,,effektiv gewesen, ,da® heute nur mehr wenige etwas von der Vorgeschichte des Dionysischen im 19. Jahrhundert und von der machtvollen Epiphanie des Dionysos in der friihen deutschen Romantik wissen“ (a.a.0., 133).
51 Was ich den Alten verdanke 3, 4; KGW VI 3, 151-154, hier: 153.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
2. Wenn Nietzsche unter dem ,, Wort Dionysos“ die ,,griechische Symbolik“ beschreibt, von der er sagt: ,,ich kenne keine héhere“,™ so fiihrt er auf, was er selber in ihr zusammengefaft hat. Sein Umgang mit der antiken mythologischen Uberlieferung ist dementsprechend freiziigig.°°’ Da& Nietzsches ,,erweiterte Verwendung die Begriffe ,Dionysos‘ und ,dionysisch“ iiberfordert, gilt dabei
fiir alle Phasen seines Werkes.° Zu Recht kann man von einer ,,Konstruktion“ des ,psychologischen Phinomens Dionysos‘ sprechen.*” Doch Nietzsches Deutungsanspruch entzieht sich ohnehin den historischen
und erst recht ,wissenschaftlichen‘ Kriterien. In der Auslegung seiner ,innersten Erfahrung‘ nimmt er sich das Recht, ,,mit der Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“, sich selber als ,,den ersten tragischen Philosophen“
zu bezeichnen.™ In seiner ,tragischen Philosophie‘ begreift er nicht nur ,,das °° Gétzen—Dammerung, Was ich den Alten verdanke 4; KGW VI 3, 153f. °° Am Beispiel von Nietzsches Heranziehung des Mythos von der Zerstiickelung des Zagreus in der Geburt der Tragddie 10 (KGW III 1, 68) exemplifiziert Barbara von Reibnitz Nietzsches Verfahrensweise: ,,Es zeigt sich, daf das, was er als Referat antiker mythologischer Tradition vorstellt [...], vielmehr eine Verkniipfung von Referat und Auslegung ist — wobei verschiedene Traditionen so referiert und
interpretiert werden, als handele es sich um eine zusammenhangende Uberlieferung (die gerade im Fall des Zagreus—Mythos au@erst heterogen und variantenreich ist). Durch dieses gezielt eklektizistische Verfahren schafft Nietzsche einen neuen Mythos, den er als solchen noch einmal allegorisch liest, um aus ihm die ,Mysterienlehre der Tragédie‘ ableiten zu kénnen [...]. In dieser zwiefachen Lesung bildet der
Zagreus—Mythos die ,Abbreviatur‘ der gesamten ,isthetischen Metaphysik‘ der Geburt der Tragédie und gewissermafen das Herzstiick der gesamten Schrift.“ (Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, ,Die Geburt der Tragidie aus dem Geiste der Musik‘ (Kapitel 1-12), Stuttgart/ Weimar 1992, 259ff., hier: 259f.) 54 Vol. Dieter Bremer, Nietzsches Dionysos und Platons Eros, in: AROPHORETA, FS U. Hélscher, hg. v. A. Patzer, Bonn 1975, 50. 55 Hubert Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart/Weimar 1995, 156ff., hier: 156. — Nietzsche
will in seiner ,,Psychologie des Orgiasmus als eines iiberstrémenden Lebensgefiihls“ zugleich ,,die Briicke zur Psychologie des tragischen Dichters“ ,erraten‘ haben. (Gétzen—Dammerung, Was ich den Alten verdanke 5; KGW VI 3, 154) Er zitiert diesen Aphorismus auszugsweise in Ecce homo (Die Geburt der Tragédie 3; KGW VI 3, 310). — Aristoteles miSverstand ihm zufolge das Tragische, indem er dessen Bedeutung fiir den Menschen darin sah, ,,von Schrecken und Mitleid loszu&kommen* (ebd.; vgl.
hierzu Nachla& Oktober-November 1888; 24[1,9]; KGW VIII 3, 440f.). - Zum Einflu8 von Jakob Bernays auf Nietzsches ,psychologische Neuerungent in der Tragddienschrift vgl. Cancik, a.a.0., 56f. °° Ecce homo, Geburt der Tragédie 3, KGW VI 3, 310f. — Nietzsche schreibt hier, selbst
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Exkurse
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Wort ,Dionysisch™ (dies wire ihm noch zu wenig, ware zu distanziert); er
begreift ,,sich in dem Wort ,dionysisch‘*.°””
Schon deshalb hat Nietzsche ,,keine Wiederbelebung der griechischen
religidsen Erfahrung* angestrebt, wie Mihailo Djuri¢ zutreffend fest-
stellt.°°* Djurié beruft sich dabei auch auf Karl Jaspers’ Ausfiihrung, da es Nietzsche nicht einmal um ,,ein Verstehen“ des antiken Mythus gehe, sondern um ein Symbol fiir seine ,,Weltvision“, in welcher ,,ewige Wiederkehr, Wille zur Macht und dionysisches Leben in eins genommen sind“. Um solcher Darstellung von ,Einheit‘ willen habe Nietzsche ,,die bewuGte Wahl eines Symbols“ vollzogen, ,,das ihm fiir sein eigenes Philosophieren brauchbar scheint“.°” Mit solcher Formalisierung schie&t Jaspers’ Deutung freilich iiber das Ziel hinaus; sie legt den Eindruck nahe, als sei die ,;Wahl‘ des Dionysischen ,zufallig‘, als sei dieses vielleicht gar durch ein anderes Sym-
bol ,ersetzbar‘ gewesen. Solcher Abstraktion gegeniiber ist darauf zu bestehen, daf die griechische Uberlieferung der lebendige Ausgangs— und Bezugspunkt Nietzsches gewesen und geblieben sind, in welchem Mafe auch immer dionysische und orphische Mysterien in seiner besonderen ,Konzeption‘ zusammengeflossen sind.*'” den grofen griechischen Philosophen habe die nétige ,,tragische Weisheit“ zur letzten dionysischen Einsicht gefehlt; nur bei Heraklit bleibt Nietzsche ,,ein Zweifel“ daran (a.a.O., 311; vgl. dazu oben Abschnitt 2, S. 195). 5°” Ecce homo, Die Geburt der Tragédie 2; KGW VI 3, 310, 309.
508 Nietzsche und die Metapbysik, a.a.O. [Anm. 376], 267.
°° Nietzsche. Einfiihrung in das Verstindnis seines Philosophierens, Berlin *1947, 372f., 371f. — Da es fiir Nietzsche ,,eigentlich kein Ganzes gibt oder geben soll“, vermége er ,,gleichsam nur eine Stimmung des Ganzen“ zu erzeugen. Jaspers bringt damit — wie auch in anderen Zusammenhingen — Nietzsches Grundbestimmungen in ein unbestimmtes Schweben, das dessen Denken nicht gerecht wird. Hinter seiner Deutung steht allerdings die Einsicht, daf$ Nietzsche einerseits vom Ganzen der Welt spricht und ,das Ganze‘ zugleich bestreitet. An diesen Grenzpunkt sind nur wenige Interpreten gelangt. — Vgl. hierzu ausfiihrlich: Uber ,das Ganze‘ und
iiber ,Ganzheiten‘ in Nietzsches Philosophie, Nietzsche-Interpretationen II. 51° Als Kampfbegriff gegen das Christentum eignet sich das Dionysische auch wegen seiner historischen Bedeutung, die Nietzsche ihm als Wurzelphanomen der abendlindischen Kultur zuspricht, — ungeachtet von deren ,Entartung* in der Sokratik. So stellt Nietzsche im Spatwerk den ,,Dionysos der Griechen“ und in dessen Namen den heidnischen Kult als die ,,Form der Danksagung und Bejahung des Lebens“ und damit als ,,religiése Bejahung“ der christlichen Lebensverneinung gegeniiber. Das Ja der tragischen Menschen schlo&, so schreibt er, noch ,,das herbste Leiden“ in sich; ,,der in Stiicke geschnittene Dionysos ist eine Verheifung ins Leben; er wird ewig wieder geboren und aus der
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
Exkurs 4: Uber das Ja—sagen im extremen Verwerfen 1. Als Gewordener und Werdender kann der Mensch erkennen, daf sein
Ja zum Leben sich allem verdankt, was ihm vorhergegangen ist und damit auch dem, was ihm entgegensteht. Das bedeutet zugleich, daf er in jedem GutheiSen eines Erlebnisses auch alles ihm Entgegengesetzte, auch das von ihm Verurteilte, nicht nur verneinen kann, sondern es ebenfalls bejahen
mu&.*'' Das Jasagen des Stirksten schlie&t ausdriicklich das Ja zu dem vom Leben Verurteilten‘ ein. Wie aber steht es um die ,Verurteilten‘ selbst? Steckt ein Ja auch noch im nihilistischen Verwerfen der Welt? Oder sind die Schwachen, die daran zerbrechen, Neinsagende ohne jedes Ja?
Nietzsche findet selbst in der Wurzel noch des extremen Verwerfens ein Ja. Um dies darzutun, setzen wir bei einer Form der Verneinung an, die Nietzsche im Friihjahr 1888 unter psychologischen Gesichtspunkten erértert. Es geht dabei um das Ressentiment der ,physiologisch‘ ,,Schlechtweggekommenen“, das sich ,,im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoism“, — des eigenen Egoismus beim Christen, des fremden z.B. beim Sozialisten oder Anarchisten — entladt.°” Nietzsche fragt im Anschluf hieran der grundsatzlichen ,,Schwierigkeit* nach, die ihm ,,der Begriff ,verwerfliche Handlung“ (d.h. das Urteil: ,eine Handlung ist verwerflich‘) macht. Er geht dabei von der Voraussetzung aus, die er schon im Ausgang vom ,Gutheifen‘ eines Faktums dargelegt hat. Wer ein Erlebnis bejaht, billigt damit alles ihm Vorausgegangene; denn ohne dieses ware jenes Bejahte nicht. In diesen umfassenden Zusammenhang hineingestellt, kann auch keine verwerfliche Handlung wirklich verworfen werden. Da ,,Jegliches [...] mit Zerstérung heimkommen“. Diesem ,,Typus“ gelte ,,das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen*, wahrend der Gegen—Typus, der ,,Gekreuzigte“, das Leiden als ,,.Einwand gegen dieses Leben“ ansehe und als ,,Weg zu einem
seligen Sein“, der iiber das Leben hinausweise und aus ihm hinausfiihre. (Nachla& Friihjahr 1888, 14[89]; KGW VIII 3, S8f.) — Wie ,Dionysos'‘, so ist auch ,der Gekreuzigte‘ (wie auch ,Gott am Kreuz‘ und ,Christus am Kreuz‘) ein Symbol Nietzsches, das fiir die dekadente Moral als ,,Grundtendenz des spateren Christentums* steht, ,,als dessen eigentlichen Stifter Nietzsche Paulus ansetzte“ (J. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, in: Nietzsche, hg. v. J. Salaquarda, Darmstadt 1980, 296ff.). SI
»Indem ligungen *? Nachla& merung,
man Alles billigt, billigt man auch alle vorhandenen und gewesenen Bilund Verwerfungen!“ (Nachlaf8 Sommer 1884, 25[358]; KGW VII 2, 103) Friihjahr 1888, 14[29, 30]; KGW VIII 3, 24-26. — Vgl. Gotzen—DamStreifziige 34; KGW VI 3, 126f.
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Exkurse
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Allem verbunden“ ist, besagt die Verwerfung einer Handlung die Verwerfung
,von allem‘. Man diirfte nichts als verwerflich »weghaben wollen“, weil man
nichts einzelnes »ausschlieSen wollen“ kann. Man ist in jedem besonderen Verwerfen immer zugleich auf ,alles‘ bezogen. Daraus folgt: ,,Eine verwerfliche
Handlung: hei&t eine verworfene Welt iiberhaupt..“.*" Kann man die ganze
Welt verwerfen? Nietzsche bestreitet dies. Da er dem Ja den grundlegenden
Vorrang gegeniiber jedem Nein—sagen zuspricht,"* mu er bemitht sein, noch
im genannten extremen Verwerfen eine fundamentale Bejahung aufzuweisen. Bei den Beispielen, von denen er im herangezogenen Zusammenhang ausgeht,
ist seine psychologisch—physiologische Betrachtungsweise schon zuvor ,erfolg-
reich‘ gewesen. Der Sozialist, der ,,mit einer schénen Entriistung ,Recht‘, ,Gerechtigkeit‘, ,gleiche Rechte‘ verlangt“, macht sich ,,ein Vergniigen“ mit dem, woran er leidet. Die Dominanz seines Ja in der Verneinung der bestehenden Gesellschaft ist unverkennbar. Nicht anders sieht Nietzsche den »Christen: ,die Welt‘ wird von ihm verurtheilt, verleamdet, verflucht — er
nimmt sich selber nicht aus*.*" Nietzsche nivelliert die Unterschiede zwischen den beiden Weisen des Verwerfens, da es ihm hier auf den ,,Hafs gegen den Egoismus“ ankommt. Dieser soll auf einer Tauschung beruhen. Noch die »Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoism (des eigenen oder fremden)*< sei ,,ein Instinkt der Selbsterhaltung“.*'* Noch
im ,,Geschrei“ seiner Selbstverurteilung tut ein ,krankes‘ Ego sich wohl, »Verleumdung“ der Welt ist ihm ,,cine Erleichterung*.°'” Das Ja zu sich selbst
des solcherart Leidenden findet darin Ausdruck, da er ,,sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet*.*™ 513, Nachlaf Friihjahr 1888, 14[31]; KGW VIII 3, 26. - Man darf also nichts ausschlieSen,
wenn man anderes (z.B. eine andere Handlung) nicht ausschlieSen will. Trifft die genannte Voraussetzung zu, dann kann ,,nichts von Alledem, was iiberhaupt geschieht, [...] an sich verwerflich sein: denn man diirfte es nicht weghaben wollen“, will man nicht auch, zugleich mit allem Geschehen, eine nicht verworfene Handlung weghaben (ebd.).
514 Vel. Abschnitt 15, oben S. 248ff. 58 Nachla& Frithjahr 1888, 14[30]; KGW VIII 3, 25. - Fiir Nietzsches spate Charakterisierung des Christen ist vor allem seine Tolstoi—Lektiire bestimmend gewesen ist. S. dazu die Vorbemerkung der Herausgeber von KGW VIII 2, VI-VIIL. 516 A a.0., 14[29]; KGW VIII 3, 25. - ,Der Cultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmaGig auftritt (ebd.). 57 A.a.O., 14[30]; KGW VIII 3, 25f. 518 Gotzen—Dammerung, Streifziige 34; KGW VI 3, 127. - ,,Die Objekte dieses Rach—Bediirfnisses als eines Lust-Bediirfnisses sind Gelegenheits—Ursachen: der
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
Selbst wenn man scheinbar die ganze Welt und mit ihr noch sich selbst verwirft, so tut Nietzsche dar, verlaift man doch nicht den Boden eines noch fiir diese Verneinung konstitutiven Ja—setzens, bestehe dies auch nur in der verborgenen Selbstbejahung des Ressentiments. Im Ausgang vom Begriff der verwerflichen Handlung geht er iiber die genannten Exempel hinaus. Er denkt
den Gedanken der Weltverwerfung zuende, um an dem Punkte, an dem sie wahrhaft alles umfaft, als ihre ,logische Konsequenz‘ den Umschlag des Nein in das Ja aufzuweisen. In einer verworfenen Welt, so fiihrt er aus, ,,wiirde auch das Verwerfen verwerflich sein ...“. Dieser ,dialektischen Reflexion‘ gema& scheitert der Begriff ,verwerfliche Handlung‘ an der Totalitat, zu der er in
Nietzsches Argumentation ausgeweitet wird. Das Verwerfen des Verwerfens fiihrt zu seiner Selbstaufhebung, d.h. es schlagt in Bejahung um: ,,Und die Consequenz einer Denkweise, welche Alles verwirft, ware eine Praxis, die Alles bejaht ...“.°” 2. Wir stellen der Argumentation Nietzsches die entgegengesetzte Konsequenz gegeniiber, wie sie Schopenhauer aus der Verwerfung der Welt gezogen hat. Bei ihm geht es (im Unterschied zum ,Sozialisten‘ und zum ,Christen‘) in der ~ Tat darum, da das erkennende Denken zur totalen Willensverneinung gelangt. Derjenige, der ,,sein eigenes Leiden nur als Beispiel des Ganzen betrachtet“,
der seinen Blick ,,vom Einzelnen zum Allgemeinen erhoben hat“, soll ,,mittelst bloer Erkenntnif? und demnichst Aneignung der Leiden einer ganzen Welt“ zur Nichtigkeit allen Lebens, ,,nicht des eigenen allein“, vordringen.*”° Als der Intellekt, ,,der die wahre Beschaffenheit des Lebens erkannt hat und in
Folge hievon es nicht mehr will“, wird er sich von diesem ,,abwenden“. Er vermag den Willen zu erlésen, und zwar ,als ganzen‘. Die ,Praxis‘ der Willensverneinung, die sich aus dieser Einsicht ergibt, vollendet sich nach Schopenhauer
auf dem Weg der ,Heiligen‘.™ In der Ausweitung des ,Begriffs' der verwerflichen Handlung auf eine verworfene Welt hebt der solcherart Verneinende hier nicht den Begriff in sein Gegenteil hinein auf, sondern sucht — gerade in praxi — das faktische Ende seiner selbst und der ,verworfenen Welt‘ herbeizufiihren. Wie stellt sich (der spatere) Nietzsche zu dieser Konsequenz? Zum ersten sieht er in Schopenhauers Philosophie ,,immer noch die Folge des gleichen Ideals
Leidende findet iiberall Ursachen, seine kleine Rache zu kiihlen, - ist er Christ [...], so findet er sie in sich...“ (ebd.).
* Nachla& Frithjahr 1888, 14[51]; KGW VIII 3, 26. 2° Die Welt als Wille und Vorstellung I, Ziircher Ausgabe; Bd. II, 488-490.
1 Die Welt als Wille und Vorstellung Ml, Ziircher Ausgabe; Bd. IV, 747, 748.
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Exkurse
394
[...], welches den christlichen Theismus geschaffen hat“. Schopenhauer hat
seine Nahe zu christlichen Idealen selbst immer wieder betont. Nietzsche geht nicht nur in die Psychologie des Ressentiments zuriick, wenn er die Lebensfeindlichkeit der Setzung des Ideals im Sinne von Unbedingtheit, von Vollkommenheit auf eine Weise herausarbeitet, daf er in ihr ein ihr zugrunde liegendes Ja aufdeckt: das Ja zu einer anderen Welt als der nach Nietzsche einzig gegebenen. Jene Welt ist eine blofe Fiktion dessen, der Nein sagt zu der Welt, die er verwirft. Da ist der Unterschied nicht gro, welche Namen man diesem ,,,Nichts“* gibt, das man dem Leben entgegenstellt (um es zu sverleumden’): ,,man sagt dafiir Jenseits‘; oder ,Gott’; oder ,das wahre Leben;
oder Nirvana, Erlésung, Seligkeit ...“.° Schopenhauer wird ,,als hartnackiger Moral—Mensch [...] zum Welt-Verneiner“ und endlich ,,zum ,Mystiker““°™ Das bedeutet aber nicht, da Nietzsche darauf verzichtet, als Wurzel dieser lebensverneinenden Philosophie das persénliche Ja—sagen Schopenhauers herauszustellen. ,,Unterschatzen wir es namentlich nicht“, schreibt er in Zur Genealogie der Moral, ,,dass Schopenhauer, der die Geschlechtlichkeit in der That als persénlichen Feind behandelt hat [...], Feinde néthig hatte, um guter Dinge zu bleiben; [...] dass er ziirnte, um zu ziirnen, aus Passion: dass er krank geworden wire [...] ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit
und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben“*. Das alle Verneinung Schopenhauers durchschwingende Ja hat verhindert, da8 er Pessimist geworden ist: ,,er war es nicht, so sehr es auch wiinschte“.>*> *22 Nachla8 Herbst 1887, 10[150]; KGW
VIII 2, 205f.
323 Der Antichrist 7; KGW VI 3, 171.
54 Nachla& Herbst 1885—Herbst 1886; 2[106]; KGW VIII 1, 111. - Das fiktive ,,Unbedingte“,
das
setzten, konnte
Christentum
Schopenhauer
und
Metaphysik
zwar nur noch
als ,,héchste
Vollkommenheit“
,,als Gegensatz zum Ideale [...]
denken, als ,bésen blinden Willen‘: dergestalt konnte er dann ,das Erscheinende‘ sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht
525
jenes Absolutum von Ideal auf - er schlich sich durch...“ (Nachla& Herbst 1887, 10[150]; KGW VIII 2, 206). 3. Abh., 7; KGW VI 2, 567. —Schopenhauers ,Egoismus‘ steht hinter dem von ihm behaupteten ,,Werth des asketischen Ideals“. Auch Philosophen seiner Art ,,denken an sich, — was geht sie der ,Heilige‘ an! Sie denken an Das dabei, was ihnen gerade das Unentbehrlichste ist: Freiheit von Zwang, St6érung, Lirm, von Geschiften,
Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, diinn klar, frei, trocken, wie die Luft auf Héhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Fliigel bekommt [...]“. (A.a.O., 8; 569f.) — Hier wie anderwarts in dieser Abhandlung wird man das asketische Ideal auch als Nietzsches
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Zweiter Teil. Nictzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
Doch die psychologische Deutung Schopenhauers ist fiir Nietzsches anhaltende und eindringliche Auseinandersetzung mit dessen Philosophie nicht wesentlich bestimmend gewesen. Seit seiner friihen Beschaftigung mit ihr treffen wir auf ihre unterschiedlichsten Einschatzungen. Je eindeutiger er in seinem Spatwerk Pessimismus und Nihilismus als physiologische Niedergangserscheinungen auffa&t, desto schiirfer fallt seine Kritik aus, desto massiver werden auch die ,praktischen Konsequenzen‘, die er gegen Schopenhauers
Verneinung des Lebens gezogen sehen will. In seinem letzten Schaffensjahr schreibt er: Der Pessimismus ,,beweist sich erst durch die Selbst—Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik,
nicht bloss mit , Wille und Vorstellung‘, wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen —, man muss Schopenhauern zuerst verneinen ...“°*°
3. Nietzsche fiihrt hier also die Logik der Welt-Verwerfung selbst bis zu
ihrer Konsequenz von Selbstmord oder Tétung des Pessimisten.” Wir kénnen hierbei unbeachtet lassen, da Schopenhauers Ziel der Willensverneinung den Selbstmord ausschlie&t. Fiir uns ist von Bedeutung, wie Nietzsche hier die Logik der Selbst— und Weltverwerfung zuende denkt. ,Der Schritt weiter‘,
iiber Schopenhauers Philosophie hinaus, fiihrt nicht zur Konsequenz der Verwerfung des Verwerfens — und damit zur Bejahung — wie im oben dargestellten dialektischen Raisonnement Nietzsches. Er bleibt vielmehr in der Immanenz der Bewegung des Verwerfens, die er zur Konsequenz der Selbstausléschung des Pessimisten fiihrt.°”*
526
cigenes Ideal entdecken kénnen. Gétzen—Ddmmerung, Streifziige 36; KGW VI 3, 128ff.
7 Vl. dazu oben S. 274. 8 Nietzsche hat in der Aufzeichnung tiber das Verwerfen mit dem Gedanken, da »das Werden ein groGer Ring ist“ (Nachla& Frithjahr 1888, 14[31]; KGW VIII, 3, 26), dem Pessimismus/Nihilismus eine Grenze gesetzt. Diese ,Funktion‘ der Wiederkunftslehre verdient héchste Beachtung; sie dient zugleich der Abwehr und der Uberwindung von Nietzsches eigenem Nihilismus. Ist ,,das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend“, so werden wir vor den
Gedanken der Dauer ,,in seiner furchtbarsten Form gestellt. Es gibt gerade kein »Finale ins Nichts“ (Nachla8 Sommer 1886-Herbst 1887, 5{71, 6]; KGW VII 1, 217), das der Pessimist anstrebt und ersehne; er kehrt diesem Gedanken zufolge
als der, der er war, unendliche Male wieder. — Die Selbstausléschung des Pessimisten behalt gleichwohl einen (relativen) Sinn, denkt man Nietzsches Konsequenzen zuende. Er wird seinen Lebensweg unendliche Male nur bis zum ,Zeitpunkt‘ seiner ,verwirklichten‘ Selbstverwerfung durchlaufen, — und schlie&t sich , fiir ewig’ von cinem Weiterleben fiber ihn hinaus aus.
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Exkurse
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Deutlich zu machen war damit, da& Nietzsches sLogik‘ des Umschlags nur
den Schein einer ,allgemein giiltigen Folgerichtigkeit‘ erweckt. In seinem Verstindnis ist alles Allgemeine und Formale immer ein ,Spites‘, »Abgeleitetes‘, das auf vorgangige Wertsetzungen zuriickgeht. Sie verbergen sich meist im Allgemeinen.™” Stellen wir Nietzsches ,Dialektik des Umschlags‘ unter
die von ihm erarbeiteten Voraussetzungen des ,Urteilens‘, so finden wir sie
von der Dominanz eines besonderen und starken Ja—sagens zum Leben bestimmt. Wenn er mit der ,Schwierigkeit‘ einsetzt, die der Begriff ,verwerfliche Handlung‘ ihm darbietet, so hat er die Weichen schon in Richtung der Aufhebung dieses ,negativen‘ Begriffs gestellt. Weil das Ja vorherrscht, vermag es Nietzsches Argumentation durch die Verneinung der Totalitat hindurch zur Allbejahung zu tragen. Wir kénnen Nietzsches Selbstaufhebung des verwerfenden Urteils als ein
beilaufiges Gedankenexperiment ansehen, vielleicht auch als persuasives Argument, dazu dienend, die Unaufhebbarkeit des Ja noch in radikal vernei-
nenden Haltungen zu ,demonstrieren‘. Im letzteren Sinne kénnte es Menschen des ,aufsteigenden Lebens‘ iiber ,Anfechtungen‘ in ihrer Geschichte
hinaustragen. Wer schon weit im ,Niedergang‘ begriffen ist,*° wird freilich andere Konsequenzen zichen miissen: seien sie ,christlicher‘, ,sozialistischer® oder ,Schopenhauerischer Art‘. Die extrem Verneinenden will Nietzsche aus seinem extremen Ja—sagen zum Leben heraus zuletzt in die Selbstzerst6rung treiben. Nietzsches letzte physiologistische Radikalisierungen bringen die Ja—sagenden und die Nein-sagenden als Gesunde und Kranke in die schroffste
Entgegensetzung. Sein ,Ja zur héchsten Tat‘**' verengt und macht borniert.* Die Durchsetzung des ,gesunden Lebens‘ um jeden Preis ist geeignet, die Kultur des differenzierenden Nein—sagens (die immer auch ein vielfalti-
ges Nein zu jenem Leben impliziert) zu ersticken. Das Nein—sagen des Bejahenden soll in jener Durchsetzung zum ,Todkrieg* gegen das ,Ungesunde‘ gesteigert werden. Nietzsche reiSt damit auseinander und stellt gegeneinander (dabei auf seine Weise abstrakt denkend), was sich in seinem friiheren Philosophieren
fruchtbar durchdrungen hat. Dessen ,Dialektik’ kinnte an seinem wechsel529 Vel. dazu Abschnitt 14, oben S. 238ff.; zu unseren Vernunft-Urteilen vgl. oben Abschnitt 4-6, S. 199ff. 530 7 dieser Unterscheidung Nietzsches vgl. Abschnitt 14, oben S.239ff.
531 Vel. Abschnitt 18, oben S. 266ff. 532 Vg}. dazu und zum folg. oben S, 272ff.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
reichen Verstiindnis Schopenhauers herausgestellt werden. Hier sei der in Gétzen—Dammerung geforderten Praxis der Verneinung Schopenhauers als
letztem Schritt ,pessimistischer Logik‘ eine friihere Aufzeichnung Nietzsches entgegengehalten. In ihr trifft man auf die von ihm gedachte und ,erlebte Logik‘ des Umschlags von auGerstem Nein zum ,héchsten Ja‘. Er spricht hier von der pessimistischen ,,Verdiisterung“, die geschichtlich ,,im Gefolge der Aufklirung“ aufgekommen sei. Er selbst sei noch tiefer als andere in diese Verdiisterung gelangt; bei der ,,deutschen und christlichen Enge und Folge—Unrichtigkeit Schopenhauers* sei er nicht stehen geblieben, sondern habe »die principiellsten Formen“ der Verneinung aufgesucht. ,,Um aber diesen
extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner ,Geburt der Tragédie‘ heraus klingt) ohne Gott und Moral allein zu leben, muBte ich mir ein Gegenstiick erfinden. Vielleicht weif ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daf& er das Lachen erfinden mufste.“° In Jenseits von Gut und Bése 56 hat er Gedanken und Formulie-
rungen dieser Aufzeichnung aufgenommen.*** Nietzsche schreibt dort, er habe ,,in die weltverneinendste aller méglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt“. Er habe ,,vielleicht ebendamit“, ohne es eigentlich
gewollt zu haben, ,,sich die Augen fiir das umgekehrte Ideal aufgemacht: fiir das Ideal des iibermiithigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“.>*
Von diesem Ideal haben wir an anderer Stelle dieser Studie gehandelt. Hier geht es darum, den der ,Logik‘ vorgingigen
536
,existenziellen‘ Umschlag
der ,prinzipiellsten Weltverneinung‘ in die Weltbejahung herauszustellen. Da& er sich ,vor—logisch‘ vollzieht, erhellt aus der Ausfiihrung Nietzsches, da seine Augen sich fiir jenes Ideal gedffnet hatten, ,ohne da er es eigentlich wollte‘. Ohne die Dominanz eines primiaren Ja hitte sich (nach Nietz*§ Nachla8 Juni—Juli 1885, 36[49]; KGW VII 3, 295. *4 KGW VI 2, 72f. - Da es im Dritten Hauptstiick von Jenseits von Gut und Bose
um ,,das religidse Wesen“ geht, ist in ihm der geschichtliche Hervorgang der Verdiisterung aus der Aufklarung nicht aufgenommen worden, desgleichen nicht der Riickblick auf Die Geburt der Tragddie. Zu den ,prinzipiellsten Formen‘ des Pessimismus hat Nietzsche in der Aufzeichnung das Stichwort ,Asien‘ in Klammern gesetzt, In Jenseits von Gut und Bose 56 ist von ,,einem asiatischen und iiberasiatischen Auge“ die Rede; der Blick steht dabei nicht mehr ,,im Bann und Wahne
der Moral“, wie dies sowohl bei Buddha als auch bei Schopenhauer der Fall ist (ebd.).
*® Jenseits von Gut und Bose 56, a.a.O. © Vel. Abschnitt 17, oben S. 259ff. - Zum ,géttlichen Lachen‘, vgl. S. 309ff.
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Exkurse
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sches eigenen Voraussetzungen) diese Offnung nicht einstellen kénnen, wie sie sich ja auch bei den Pessimisten nicht eingestellt hat, bei denen das Nein pravaliert blieb. Andererseits mute das Nein bei Nietzsche selbst stark‘
genug sein, damit er die extreme Weltverneinung ,in sich‘ ausbilden konnte. Nach seinem ,physiologischen‘ Selbstverstindnis in Ecce homo ist er ,krank‘ und ,gesund‘ in einem, aber, was entscheidend ist, ,,im Grunde gesund“.
Nietzsche fiigt hinzu: ,,Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen“, wie er sich gesund gemacht habe. Kénne doch ,,fiir einen typisch Gesunden
[...] Kranksein
sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein“. Zuriickblickend bemerkt Nietzsche, daf es ,,die Jahre meiner niedrigsten Vitalitat waren
[...], wo ich aufhorte Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst—
Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthi-
gung...“.”” Das tiefste Leiden lie ihn ,ein Gegenstiick erfinden': das dionysische Ideal. Nietzsche fiihrt also seine Dialektik des Umschlagens der verworfenen Welt in eine bejahte selbst auf die physiologische Entgegensetzung von skrank‘ und ,gesund‘ zuriick. Diese stellt allerdings, wie gesagt werden mu, eine Abstraktion dar, in welcher die Vielfalt der fiir die Geschichte des Pessimismus wesentlichen Vermittlungen (z.B. durch die ,Aufklarung’‘) verloren geht oder in ihrer Bedeutung gemindert wird. Auch ist das Schema krank—gesund zu arm, um den an Stationen und Differenzierungen reichen Weg von Nietzsches ,,lange[r] Erfahrung“ in der ,, Wanderung durch Eis und
Wiiste“ philosophisch angemessen erschlieSen zu kénnen, jener Wanderung, welche durch ,,die Méglichkeiten des grundsatzlichen Nihilismus* hindurch
zum ,,dionysischen Jasagen zur Welt“ gelangt.**® 4. Wir kniipfen ein letztes Mal an Nietzsches ,Begriff* der verwerflichen Handlung an. In der Totalitét einer ,verworfenen Welt‘, auf die hin er ausgezogen worden ist, wird das Verwerfen selber verworfen. Die zuvor als verwerflich begriffene Handlung verliert damit ihre Verwerflichkeit, sie wird
bejaht. Ausgeweitet auf die Welt, fiihrt diese ,dialektische Bewegung‘ des Gedankens zur Bejahung von allem. Vorstellungen im Sinne von Hegels Bewegung des spekulativen Begriffs diirfen wir dabei nicht ins Spiel bringen. Nietzsche versteht das Verwerfen des Verwerfens nicht als Negation der Negation im Sinne von Hegels 537 Warum ich so weise bin 2; KGW VI 3, 264f. — Vel. hierzu Abschnitt 14, oben S. 243.
538 Nachla& Friihjahr-Sommer 1888, 16[32]; KGW VIII 3, 288f; vgl. dazu oben S. 287.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja—sagen in der Welt und zur Welt
dreifacher Aufhebung, durch welche ein ,verniinftiger Proze&‘ vorangetrieben wird. Schon gar nicht kann es fiir Nietzsche einen Standpunkt des Absoluten geben, von dem aus das Ganze der Wirklichkeit als ,das Wahre‘ erscheint. Es ist die ,Praxis‘ des Einzelnen, in welcher allein der Umschlag
in das Ja zu allem bei Nietzsche sich vollzieht. Man darf auch nicht an eine — Hegel verwandte — ,Aufhebung* durch Nietz-
sche denken, wenn er im von uns herangezogenen Zusammenhang fortfahrt: ' »Wenn das Werden ein groGer Ring ist, so ist Jegliches gleich werth, ewig,
nothwendig ...“*"? Zu fragen ist aber, ob Nietzsche hier nicht den Standpunkt des Einzelnen zuriicklaGt, um vom Ganzen her alles einzelne zu denken. Die ,Gleichwertigkeit* von allem liegt in jenem Bejahen, das Nietzsche zufolge ,Jeglichem‘ als solchem eigentiimlich ist. Der Schlusatz der Aufzeichnung tiber das Verwerfen lautet: ,,an sich redet Alles, was ist, das Ja“. Er weist auf deren Anfang zuriick, zu Nietzsches These: ,,es kann nichts Verwerfliches an sich geben“. Wenn nun nichts ,an sich‘ verwerflich ist, so
kann demzufolge ,etwas‘ iiberhaupt nur verworfen werden ,,in allen Correlationen von Ja und Nein, von Vorziehen und Abweisen, Lieben und Hassen“, worin sich immer ,,nur eine Perspektive, ein Interesse bestimmter Typen des
Lebens* ausdriickt.°* Dem ,an sich‘ wird damit entgegengesetzt, was ,nur‘ ein Interesse ,fiir sich‘ ist.°*' Wenn Nietzsche derart vom An-sich spricht, so meint er weder Hegels dialektisches ,An—sich‘, noch restituiert er gar einen Dualismus, den er grundsatzlich, und eigens auf Kants Ding an sich bezogen, zuriickgewiesen hat. Er riickt mit dem einschrankenden, relativierenden ,nur‘ des Interesses seinen
Grundansatz der Perspektivitit auch nicht an die zweite Stelle, wie man auf
den ersten Blick vermuten kénnte. Es gibt fiir Nietzsche nicht ein ,allgemeines‘ Ja—sagen von Jeglichem, das vor oder unabhdngig von dessen immer schon perspektivischem Ja gegeben wire. Er zielt mit seinem ,an sich‘ auf das, was Jeglichem zukommt, insofern es iiberhaupt ,als etwas‘ ,wirksam‘ ist. Das ,an 53 Nachla8 Friihjahr 1888, 14[31]; KGW VIII 3, 26.
540 Ebd. — Vel. dazu Nietzsches ,,Kritik der subjektiven Werthgefiihle“, die uns, wie im Falle des Gewissens, eine ,,Handlung verwerflich“ erscheinen lassen. Aber ,,wir wissen bei weitem nicht genug, um den Werth unserer Handlungen messen zu kénnen; es fehlt uns
zu alledem die Méglichkeit objektiv dazu zu stehn; auch wenn wir eine Handlung verwerfen, sind wir nicht Richter, sondern Partei...“ (A.a.O., 15[92]; KGW VIII 3, 255).
*4! Der von uns gewahlte Ausdruck , fiir sich‘ dient der gedanklichen (nicht faktischen) Abhebung des notwendig ,Egoistischen‘ und Perspektivischen von dem, was Nietzsche unter dem Begriff ,an sich‘ ins Spiel bringt.
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Exkurse
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sich‘ meint das in allen Perspektiven (in jedem , fiir sich‘) schwingende, von ihnen aber nicht faktisch oder ontologisch ablésbare Ja. Und er dringt zu diesem ,Ja in allem‘ aus seiner eigenen jasagenden Philosophie heraus vor. Wenn Nietzsche Charakteristika aufzuweisen sucht, die ,fiir Jegliches‘ gelten sollen, kann er gleichwohl, wie sich gezeigt hat, sprachliche Anklange an ,metaphysische* Bestimmungen nicht vermeiden. Wir miissen jedoch in jeder seiner Ausfiihrungen die nominalistische Relativierung mithéren, an-
dernfalls verfehlen wir sein philosophisches Anliegen. Die Rede vom ,an sich‘ bringt nur das von der Konkretion der Lebensprozesse abgezogene (abstrakte)
und insofern allgemeine Moment der Bejahung zum Ausdruck. Die Allgemeinheit mu in die Konkretion hinein ,aufgehoben‘ werden. Das heift: Es gibt
fiir Nietzsche de facto nur differentes Ja—sagen bei Jeglichem: nicht nur hinsichtlich dessen, was jeweils bejaht wird, sondern auch hinsichtlich der Intensitit der Bejahung.
Auch bilden die verschiedenen Ja—Sagenden den groGen Ring des Werdens nicht, indem sie einander einfach ablésen. Jegliches, das ,an sich‘ bejaht, steht
vielmehr (als ,fiir sich‘) im stiindigen Kampf mit anderem; es ist tiberhaupt nur als etwas in der Entgegensetzung ,seiner‘ Perspektive gegen andere Perspektiven. Auf das ,fiir sich‘ von Jeglichem bezogen, miissen wir jedenfalls ein (unter Umstiinden sich als Neinsagen verbergendes) schwaches Ja von einem stirkeren Ja und schlieflich vom héchsten, dionysischen Ja unterschei-
den. Ohnehin gehért zu jedem spezifischen Ja—sagen immer auch ein vielfaltiges Nein-sagen. Dem Gegeneinander von Jeglichem, das ,im Grunde‘ ja sagt, trigt Nietzsche mit der Rede vom , Willen zur Macht‘ Rechnung. Auch hier handelt es sich um eine ,Grundbestimmung’, die es nur in jeweiligem Fiir—sich gibt. Die Grundbestimmung ist zugleich ,Grenzbestimmung*. Dies wird deutlich, wenn er in hypothetischer Rede ,,die Welt von innen“ ,ansieht‘, sie auf ihren ,intelligiblen Charakter‘ hin als ,Wille zur Macht‘ bezeichnet.*” Wille zur Macht ist auch die Weise, in der ,Jegliches‘ in der Welt ,an sich‘ Ja sagt. Ein solches
vorgiingiges Ja steckt noch im Nein-sagen eines perspektivischen ,Fiir—sich*. Wie Nietzsche sogar in der Verwerfung der Welt (unter Einschluf des Verwerfenden) das Ja—sagen aufdeckt, so bleibt ihm zufolge auch noch jeder 5? Jenseits von Gut und Bose 36; KGW VI 2, 51. - Die Frage, ob nicht auch Nietz-
sches Metaphysikkritik ein Nenbedenken von ,Grenzbestimmungen‘ wie der oben genannten nahelegt, muf hier beiseite gelassen werden. — Zu den hier herangezogenen und weiteren Grenzbestimmungen Nietzsches als unableitbaren Grundbestim-
mungen vgl. oben Abschnitt 20, Punkte 3 und 4, S$. 290-292.
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Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
Wille[n] zum Nichts“, jeder ,,Widerwille[n] gegen das Leben“, doch immer
das ein ,,Wille“, dh. ein Wille zur Macht. ,,Eher“ will der Mensch »noch
Nichts wollen, als nicht wollen“. Denn ,,er braucht ein Ziel“, das er bejaht,
— und sei es das auBerste Nein.* Auch hier ist das Verwerfen ,nur’ eine Perspektive, deren ,von sich her‘ der Verneinung nicht in ihrem an sich‘ des primaren Ja—sagens aufgeht. Das Verwerfen kann sich nicht auf eine Weise negieren, die zum ,Ja—an-sich‘ fiihrt. Wohl aber kann es (unter verschiedenen Voraussetzungen) in ein Bejahen-fiir—sich umschlagen, d.h. eine andere
Perspektive gewinnen. Daf Jegliches im grofen Ring des Werdens ,,gleich werth, ewig, nothwen-
dig“ ist,°* wird aus der héchsten und weitesten Perspektive eines Ja—Sagen-
den heraus gesagt. In solchem Fiir-sich gelangt das An-sich aber nicht zu einem An-und-Fiir-sich. Nur als individuell besondertes Ja—sagen hat es in Nietzsches Philosophie seinen Ort. Der grofe Ring des Werdens ist ein Bild oder ein Schema Nietzsches. Als letzteres bleibt es bezogen auf das ,abstrakte An—sich‘. Die Gleichwertigkeit
des Ja—sagens in ihm ist z.B. vom ,,Leier—Lied“ zu unterscheiden, das dem ,genesenden‘ Zarathustra von seinen Tieren gesungen wird: ,,Alles geht. Alles kommt zuriick; ewig rollt das Rad des Seins. [...] ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.“**> Das Gleich—wertige des An-sich ist hier als die Gleich—giiltigkeit des Fiir—sich gesetzt. Dies ist noch deutlicher im verachtlichen Murmeln des Zwergs der Fall:
,,,Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit
selber ist ein Kreis.““°** Im Unterschied zu solchen Vorstellungen, in denen das Abstrakte féilschlich als das Konkrete verstanden wird, setzt sich Zarathustra der vollen Konkretion des Gedankens (des ,an sich‘ im ,fiir sich‘) aus. Dies geschieht z.B. in der Vorstellung, da der Mensch, dessen er iiberdriissig
ist, immer wiederkehrt. Es war die vom Wahrsager vorhergesagte kiinftige Traurigkeit, der sich Zarathustra gegeniiber gesehen und die er iiberwunden hatte. Sie besteht in der nihilistischen Gleich—giiltigkeit, die auf ihre Weise alles ,fiir sich‘ auf ein ,an sich‘ reduziert: ,,,Alles ist gleich, es lohnt sich
Nichts. Wissen wiirgt.‘“°"”
*** Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 1, 28; KGW VI 2, 357, 430. *
Nachla@ Frithjahr 1888, 14[31]; KGW VIII 3, 26.
** Also sprach Zarathustra Il, Der Genesende 2; KGW VI 1, 268f. ** A.a.O., Vom Gesicht und Rathsel 2; KGW VI 1, 196. *? A.a.0., Der Genesende 2; KGW VI 1, 270. — Vgl. Also sprach Zarathustra ll, Der
Wahrsager; KGW VI 1, 168f.
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Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis‘ philosophischer
Nietzsche—Interpretation Federico Gerratana in memoriam
1. Das sogenannte Hauptwerk
Die 1890 mit Vehemenz einsetzende Wirkung der Biicher Nietzsches fiihrt zunachst nicht iiber Vordergriindiges hinaus und bleibt bei Mif8verstandlichem und Mifverstandenem hangen. Seine Philosophie wird als Rechtfertigung des
radikalen Egoismus interpretiert (und nicht selten in die Nahe Max Stirners geriickt). Der Wille zur Macht gilt allein als moralzerstérendes und tyrannisches Prinzip, bis noch vor der Jahrhundertwende mit Erérterungen zu Nietzsches Kulturphilosophie und zu seiner Moralkritik differenziertere Interpretationen in den Vordergrund riicken.’ Seine Kritik am biirgerlichen Zeitgeist spricht vor allem Kiinstler und Literaten an. Noch 1904 sieht sich Hans Vaihinger
genotigt, gegen diejenigen zu polemisieren, die Nietzsche iiberhaupt nicht als Philosophen gelten lassen wollen.’ Angesichts dieser und anderer Verwirrungen mag es nicht unverstindlich sein, daf& Elisabeth Férster—Nietzsche, die Schwester und Nachlafverwalterin Nietzsches, den Wunsch nach einem ,,Hauptprosawerk“ au®ert, das in Abhebung von Also sprach Zarathustra nicht als philosophische Dichtung wirken, sondern systematischen Anspriichen geniigen sollte. Schon 1896 schrieb sie, es miisse ,,so bald wie méglich das Schlu8wort in der Entwickelung meines Bruders gesprochen werden, weil inzwischen der Irrthum riesengrof wiichse, da mein Bruder nur unzusammenhiingende Bruchstiicke einer Philosophie
gegeben hat“.* Dieses Schlufwort suchte sie mit Zusammenstellungen aus '
Dazu s. Gisela Deesz, Die Entwicklung des Nietzsche—Bildes in Deutschland (Diss. Bonn, bei Erich Rothacker), Wiirzburg 1933, 9-39. —Vgl. zu dieser Arbeit: Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph — Psychologe - Antichrist, iibers. v. Jorg Salaquarda, Darmstadt 1982, 483f.
2 3
Vel. das Vorwort zur 3. Auflage seiner Schrift Nietzsche als Philosoph, Berlin 1916 (Feldpostausgabe), 8f. Brief an Clara Gelzer—Thurneysen, zit. n. David M. Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche—Archivs. Elisabeth Férster—Nietzsche, Fritz Koegel, Gustav Naumann, Josef Hofmiller. Chronik, Studien und Dokumente. Supplementa Nietzscheana 2,
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Der Wille zur Macht als Buch
dem Nachla& ihres Bruders zu sprechen. Da Nietzsche selbst in Jenseits von Gut und Bose (1886) wie auch in Genealogie der Moral (1887) sein (freilich nur zeitweilig) geplantes Buch Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe angekiindigt hatte, konnte schon dieser Titel der Kompilation einen Schein von Authentizitat verleihen. In der von ihr als Leiterin des Nietzsche—Archivs veranlaten Grofoktavausgabe hat sie 1901 gleichzeitig mit den (Nachla8—) Banden XI und XI], denen IX und X (1903) folgten, eine erste Fassung jenes , Hauptprosawerkes* herausgeben lassen; der erste Wille zur Macht enthielt 483 Aphorismen aus
Nietzsches nachgelassenen Aufzeichnungen. Ihr Name steht fiir Vorwort und Nachbericht der Edition. Ernst Horneffer, gemeinsam mit seinem Bruder August und mit Peter Gast Herausgeber, hat schon fiinf Jahre spater geschildert, auf welche Weise dabei — wie auch bei der Publikation anderer Nachlaf&bande — in Weimar verfahren wurde. Franz Overbeck beipflichtend, erklart er die Tatigkeit von Frau Férster—Nietzsche als ,,verfriiht, iiberstiirzt, dilettantisch“. Nicht einmal die ,,allererste, notwendige Voraussetzung fiir eine iiberlegte
und planmafige Ausgabe“, die Durchsicht des ganzen Nachlasses, war erfiillt. Sie hatte die Archivleiterin, die ,,immer alles schnell von der Hand weg“ arbeitete, zu lange aufgehalten. ,,Es sollten schnell Bande heraus“, noch wahrend
»unentziffert, unabgeschrieben [...] haufenweise die Manuskripte* dalagen, »von denen niemand ahnte, was sie enthielten“. Um ,,Schlimmeres zu verhiiten“, fanden sich die drei Herausgeber bereit, ,,etwas Provisorisches“ herzustellen.*
Berlin/New York 1991, 50. - E. Férster—Nietzsche suchte in der Folgezeit ,,den
Beweis zu erbringen, da Nietzsche durch den Ausbruch der Krankheit an der eigentlichen Ausarbeitung seiner Philosophie gehindert worden sei und daf folgerichtig in diesem Nachlaf% wenigstens bruchstiickhaft das Wesentliche gefunden werden miisse. [...] LieSe sich ein solches Hauptwerk aus Nietzsches Nachlaf-
papieren als eine Art Torso konstruieren bzw. rekonstruieren, so war damit auch Nietzsches Philosophie gerettet.“ (Eckhard Heftrich, Zu den Ausgaben der Werke und Briefe von Friedrich Nietzsche, in: Buchstabe und Geist, Zur Uberlieferung und Edition philosophischer Texte, hg. v. W. Jaeschke u.a., Hamburg 1987, 117-136, hier: 123f.). Ohnehin bildete Nietzsches Krankheit fiir nicht wenige Interpreten ein Vehikel, um seine Philosophie unter psychopathologische Kategorien zu subsumieren. (Fiir eine derartige friihe Nietzsche—Kritik, der die Schwester ebenfalls entgegenzuwirken suchte, sei auf das Kapitel ,Der Geisteskranke‘ in der Dissertation von Deesz, a.a.O. [Anm. 1], 16-22, verwiesen.) Ernst Horneffer, Nietzsches letztes Schaffen, Jena 1907, 44f. (vgl. 54), 50f. — Zu Horneffers Ausfiihrung, es gebe ,,nur eine Méglichkeit, Nietzsches Nachlaf zu edieren“, man
miisse namlich ,,die Manuskripte Nietzsches unter jedem Verzicht auf eigene Anordnung
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Der Wille zur Macht als Buch
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In mehrfacher Hinsicht verfuhren Elisabeth Férster—Nietzsche und Peter Gast noch verantwortungsloser, als sie 1906 eine giinzliche Neubearbeitung des Willens zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe mit nunmehr 1067
Aphorismen herausbrachten.’ Sie legten auch der neuen Ausgabe denselben
Plan Nietzsches (vom 17.3.1887) zugrunde, nach dem schon der erste Wille zur Macht eingerichtet worden war. ,,Seiner Kiirze und Einfachheit* wegen
hatte er den Vorzug vor anderen Planen erhalten.* Jene Eigenschaften gestatteten es in der Tat, nach Belieben Aphorismen in ihn ,,hinein[zu]stopfen“*.’
Die Kompilation von 1906 wurde unverindert in die Binde XV und XVI der Grofoktavausgabe von 1911 aufgenommen, trotz schon friihzeitig gegen sie vorgebrachter grundsitzlicher Kritik. Daf ihr allgemein kanonische Bedeutung zugesprochen wurde, ist vor allem der Autoritat zuzuschreiben,
welche die Schwester Nietzsches als Erbin des Philosophen und seines Nachlasses mitbrachte und die sie als Archivleiterin und Herausgeberin mit Herrschaftswillen, mit Geschick und durch Intrigen ausbaute.® Daf sie sich geistige Reputation in Sachen des Bruders mittels der Falschung von dessen Briefen und Zusammenstellung, Wort fiir Wort genau so berausgeben, wie sie vorliegen“(51),
hat Peter Gast in dem von ihm benutzten Exemplar am Rande notiert: ,,Das Publikum lat sich eine solche Ausgabe nicht bieten. Die Kenner, denen eine solche Ausgabe ein wahres Entziicken sein wiirde, sind in zu groSer Minderheit.“ Montinari, der diese Notiz mitgeteilt hat, findet in ihr Gasts Eingestindnis der ,,wissenschaftliche[n] Unhaltbarkeit seiner Kompilation“ (Mazzino Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs, in : Nietzsche lesen, Berlin‘New York 1982, 177f.). Von den 483 Aphorismen sind 17 bei der zweiten Ausgabe des ,Willens zur Macht‘ »verschwunden“, wie Montinari schreibt; fiinf davon hat Otto Weiss ,,im Anhang
seiner Ausgabe als ,zweifelhafte Texte‘ wiedergegeben, obwohl sie echte Nietzsche-Texte sind. Der ersten Fassung gegeniiber war die neue eine Verschlechterung auch darum, weil sie 25 zusammenhingende, oft sehr wichtige Texte auseinandergeris-
* 7 *
sen und dadurch auf 55 vermehrt hatte.“ (Montinari, Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche lesen, a.a.O. [Anm. 4], 14f.) Die Zerstiickelung des Fragments Der europdische Nibilismus, eines in sich abgeschlossenen Textes von 16 Abschnitten, (datiert ,,Lenzer Heide, den 10.Juni 1887“, KGW VIII 1, 5[71], 215-221) in die Aphorismen 4, 5, 114, 55 von WzM? bildet das augenfillige Beispiel fiir den verantwortungslosen Umgang der Herausgeber mit Nietzsches Nachla8. Der Text war in der ersten Fassung von WzM (1901) noch als ganzer abgedruckt worden. Otto Weif, Vorrede zum ,Willen zur Macht‘, GA XV (1911), XXXIV. Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, Miinchen 71959, 107f. Dazu Horneffer, a.a.O. [Anm. 4], 56f., 66. — Er macht sich in der kleinen Schrift u.a. zum Anwalt Franz Overbecks, dem Elisabeth Férster-Nietzsche noch nach
seinem Tod mit Verleumdungen und Verunglimpfungen nachsetzte.
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Der Wille zur Macht als Buch
hinzugelogen hatte, wurde der Offentlichkeit erst durch Schlechtas Edition in den fiinfziger Jahren bekannt.’ Anfangs hatte die Herausgabe der Kompilation noch keine bedeutenden Folgen. Im ersten Weltkrieg, in dem sich ,,im Tornister des intelligenten deutschen Soldaten“ der Zarathustra finden sollte’ (eine preisgiinstige ,Kriegsausgabe* des Buches zog bald die Verdoppelung des Absatzes nach sich), riickten andere Aspekte von Nietzsches Werk in den Vordergrund als die oben genannten. Dabei wurde es (zum ersten, aber nicht zum letzten Male) Gegenstand der Propaganda. In Deutschland erschienen Zusammenstellungen von Aphorismen
aus Nietzsches Biichern und simplifizierende Abhandlungen iiber seine Stellung zum Kriege, ohne daf dabei Der Wille zur Macht schon die Funktion eines Hauptwerks iibernahm. Nietzsche blieb darin ebenso umstritten wie bei den Auseinandersetzungen um sein angebliches ,,Deutschtum*. In England und
Frankreich hatte man Nietzsche eine ideelle Mitschuld am Krieg zugesprochen.
Die ,,Nietzschediimmerung“, die Alfred Déblin 1917 deshalb fiir das Kriegsende prophezeit hatte," blieb jedoch aus. Stattdessen begann sich ein tieferdringendes Interesse an der Philosophie Nietzsches zu regen, das seinen Niederschlag in beachtlichen Publikationen fand, die allerdings noch partiell orientiert blieben. Ihnen ist hier nicht nachzugehen. Erst in den dreifiger Jahren wurden in Deutschland mehrere wirkungsreiche Gesamtdeutungen vorgelegt. Ihren Verfassern ging es vor allem um die Fragen nach dem Grundgedanken und der inneren Einheit von Nietzsches Denken. Die Auffassung legte sich nahe, da beides sich in der Orientierung am ,,systematischen Hauptwerk“ Nietzsches aufweisen lassen k6nne. An ihm blieb in der Tat die Wirkungsgeschichte seiner Philosophie
fiir fast vier Jahrzehnte vorwiegend orientiert.’” * SATII, Philologischer Nachbericht, 1409ff. © [Th. Kappstein], Nietzsche, der Philosoph des Weltkriegs. Zu seinem 70. Geburtstag
ll 12
am 15. Oktober, StraSburger Post Nr. 10228, 1914. Zit. n. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. Il, Berlin/New York 1983, 574f. Schon 1913 waren mehr als 100 000 Exemplare des Buches gedruckt worden. Im Brief an H. Walden, zit. nach Krummel, a.a.0. [Anm 10], 638. Deesz schreibt am Anfang ihrer 1932 abgeschlossenen Dissertation (a.a.O. [Anm. 1], 81): ,,Bisher hatten die N-Interpreten wie N selbst den Zar. oder die Gen. d.M. fiir
die gr6&te Leistung Ns angesehen. Diese Position ist in der N—Interpretation ganzlich tiberwunden.“ Habe doch A. Baeumler — dem Deesz durchaus kritisch gegeniibersteht — ,den gewaltigen metaphysischen Hintergrund der Philosophie Ns zu enthiillen“ unternommen, welcher ,,nach ihm als ein streng geschlossenes System dem letzten
unvollendet gebliebenen Werke Ns zugrunde“ liegt, ,,dem W.z.M., der jetzt als Ns Hauptwerk erscheint“. ,,Mit der Philosophie des W.z.M. stellt sich N nach der Auffassung
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Der Wille zur Macht als Buch
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2. Alfred Baeumler und ,das System‘ Nietzsches
Zu einer wesentlichen philosophischen Wirkung gelangt die Kompilation Der Wille zur Macht mit Alfred Baeumlers Nietzsche—Buch von 1931 sowie durch die Nachworte und Einfiihrungen, die er seinen Nietzsche—Editionen von 1930 an beigab.” Baeumler ist durch sie zum einfluGreichsten Befiirworter Baeumlers an die Seite der gré&ten Denker der Neuzeit.“ — Um Nietzsche ,,zu einem Philosophen nach vertrautem Muster zu machen“, haben seine Schwester und ihre
Helfer ein ,,systematisches Hauptwerk“ geschaffen, schreibt Jorg Salaquarda 1987. Dies sei nicht zu rechtfertigen, aber ,,heute weitgehend historisch“ zu sehen. ,,Wir
kénnen uns fragen, ob durch dieses Vorgehen nicht sogar in gewissem Umfang Nietzsche fiir die Philosophie ,gerettet* worden ist.“ (Auswirkungen der neuen Nietzsche—Ausgabe auf die deutsche Nietzsche—Forschung, in: Nietzsche und Italien. Ein Weg vom Logos zum Mythos?, Akten des deutsch-italienischen Nietzsche—Kolloquiums 1987, hg.
vom Italienischen Kulturinstitut Stuttgart, Tiibingen 1990, 25-37, hier: 26f.). Die Herausstellung des Metaphysikers Nietzsche auf der Grundlage des , Willens zur Macht‘ und der GA hat jedoch den Zugang zum Eigentiimlichen von dessen Denken mehr versperrt als erdffnet.
1930 lief die Schutzfrist fiir den Nachlaf Nietzsches ab. Zu den Vorgangen davor und danach sei auf Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche—Archivs, a.a.O. [Anm. 3],
101ff. verwiesen. — 1931 beginnen die Verhandlungen des Archivs mit dem Verlag C. H. Beck zur Begriindung einer Historisch—-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Nietzsches; der erste Band von BAW (BAB wird hier ausgeklammert) erscheint 1933,
bis zu ihrem kriegsbedingten Abbruch sind fiinf Bande (mit Schriften und Aufzeichnungen von der Kindheit bis zum Jahre 1869) ediert worden. — Die Planung dieser Ausgabe fiihrt notwendig zur Problematisierung des ,Hauptprosawerks‘. Walter F. Otto spricht 1934 von der schwierigen Arbeit, die den Herausgebern des Nachlasses von Nietzsches letzten Schaffensjahren bevorstehe: ,,Denn was von ihnen gefordert wird, ist nichts Geringeres, als die Niederschriften aus dem Gedankenbereiche des , Willens zur Macht‘ zum ersten Male ohne eigenwillige Redaktion genau so vor[zu]legen, wie sie sich in
den auGerordentlich schwer lesbaren und yon neuem zu entziffernden Manuskriptheften finden.“ (In: Bericht tiber die neunte ordentliche Mitgliederversammlung der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche—Archivs, Weimar 1935) In seinem Vorbericht zu BAW
hatte Hans Joachim Mette im Hinblick auf die Nachla&publikation des Archivs geschrieben, aus wissenschaftlicher Sicht sei es ,,nicht sehr gliicklich, wenn auch zeitweilig berechtigt“ gewesen, ,,die fiir Nietzsches Denken wesentliche Form der unverbundenen
aphoristischen Niederschrift in den einzelnen Heften zu zerstéren und die einzelnen Satze des Nachlasses nach systematischen Gesichtspunkten zu ordnen“. Demgegeniiber bedeute ,,der Beschlu& der Stiftung Nietzsche-Archiv, diesem Nachlaf in der Kritischen Gesamtausgabe seine urspriingliche Gestalt wiederzugeben, [...] eine befreiende Tat“. (H. J. Mette, Der handschriftliche Nachlaf Friedrich Nietzsches, Leipzig 1932, 81f.;
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des Philosophen in der Zeit des Nationalsozialismus geworden, iibrigens nicht
ohne dabei auf ideologische Gegnerschaft zu stoBen."* In seiner Interpretation
wirken zweifellos Elemente der Kriegspropaganda nach. ,,Wie richtig haben unsere Feinde wahrend des Weltkriegs das Germanische in Nietzsche empfunden“, namlich als ,,den Siegfriedangriff auf die Urbanitat des Westens“, schreibt er am Ende seines Buches.’ Solche Elemente treten am starksten in dessen unsiglichem zweiten Teil iiber den Politiker Nietzsche hervor, dem nicht nur das Wort im Mund, sondern auch der Gedanke im Kopf herumgedreht wird; sie finden sich auch in der Herausstellung von Nietzsches ,,Kriegernatur“ neben seinem angeblichen ,,Germanismus“.'® Wahrend Nietzsche bislang ,,fiir die grofe Menge [...] der Dichter des Zarathustra geblieben“ sei, und ,,auf die feineren Geister“ vor allem als Moralist und Psychologe und dabei als ,, Virtuose des geistreichen und knappen Gedankenstils* gewirkt habe, so sei nun die
zit. n. Montinari, Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, a.a.O. [Anm.5], 16.). Doch die Kritik wird noch eingedimmt. Wohl auf Elisabeth Forster—Nietzsches Einspruch hin hat Mette in seinem Sachlichen Vorbericht zur Gesamtausgabe Friedrich Nietzsches (BAW 1 1, CX XII) die deutlichen Hinweise auf die wissen-
schaftliche Unhaltbarkeit der Kompilation durch sehr gemaGigte Ausfiihrungen ersetzt. An deren Schluf heift es, ,,hinsichtlich der NachlaShefte“ sei ,,ein méglichst ungekiirzter
Abdruck in der originalen Reihenfolge vorgesehen — soda die Anordnung der bisherigen Ausgaben demnach in Fortfall kommen wiirde“. In einer FuSnote hierzu erhalt die von Frau Férster—Nietzsche und Gast ,,vorgenommene Zusammenstellung der Aphorismen aus dem Bereiche des Willens zur Macht“ eine Ausnahmestellung eingeraumt. Sie werde ,,ihren bleibenden Wert behaupten“, weshalb es sich empfehlen werde, sie ,neben der Historisch-kritischen Gesamtausgabe in einem Sonderbande als solche kritisch zu publizieren“. Gerechtfertigt wird das mit dem Hinweis, diese ,,Aphoris-
men-Sammlung“ sei ,,unter geschickter Verwertung der Intentionen Nietzsches“ vorgenommen worden. Diese Ausfiihrung lief natiirlich fiir unterschiedlichste Auf-
fassungen Raum. Grundsatzlich infragegestellt wurde die Kompilation in ihr jedenfalls nicht mehr. Man konnte sogar (nahm man die friiheren AuGerungen Mettes und Ottos nicht zur Kenntnis) die Meinung daraus ziehen, die sich geschickt an Nietzsches Intentio-
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nen orientierende Zusammenstellung sei fiir das Verstindnis von dessen Philosophie ergiebiger als der Abdruck der ungeordneten Aufzeichnungen. So wird z.B. Lowith gegen Schlechta argumentieren (s. im folg. S. 363-367). S. dazu Hans Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, Diss. Kiel 1970.
8 Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 182. © A.a.O. [Anm. 15]. — Vgl. dazu: M. Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukdcs, a.a.0. [Anm. 4], 185ff.
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Der Wille zur Macht als Buch
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Zeit gekommen, ,,das Riesenwerk seines Nachlasses“ zur Geltung zu bringen."” Gegen die Auflésung von Nietzsches ,,Erscheinung in lyrische Fragmente und
Aphorismen“ stellt er den Systermdenker, dessen Sache ,,Einheit, nicht Vielheit“
sei. Fiir die Einheit soll Der Wille zur Macht als ,,das philosophische Hauptwerk Nietzsches* die Grundlage abgeben. Dessen innere Systematik ist freilich leichter behauptet als dargelegt. Baeumlers Ausfithrung, ,,in vier gewaltigen Teilen
baut sich das Ganze auf“, bedarf sogleich der Korrektur. Hier hat weder Nietzsche, noch ein Ganzes sich selbst aufgebaut; ein Ganzes liegt iiberhaupt nicht vor." Mit wenigen allgemeinen und zum Teil verschleiernden, ja unrichtigen Ausfithrungen hat Baeumler dem ,Hauptwerk‘ Authentizitat zugesprochen: Nietzsche selbst soll ,,die Verteilung des ausgedehnten Gedankenmaterials
auf diese vier Biicher am 17. Marz 1887 in einer Disposition vorgenommen“ haben.” Es gebe ,,noch einige andere Dispositionsentwiirfe aus dem Sommer und dem Herbst des gleichen Jahres, die sich aber nicht viel von dem ersten unterscheiden*.”° Zunichst sei ,,eine unvollstindige und willkiirliche Auswahl des Gedankenmaterials im Jahre 1901 zum Druck gegeben worden‘; die Ausgabe des Willens zur Macht von 1906 ordne ,,alle Fragmente“ auf Grund der genannSo Baeumler in seiner Entgegnung auf Josef Hofmiller (zit. n. Montinari, Nietzsche 18
zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukdcs, a.a.0. [Anm. 4], 172f.). Baeumler, Nachwort zu: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Leipzig 1930, KTA 9, 699. - Zu Baeumlers unangebrachter Inanspruch-
nahme des Begriffs eines ,Ganzen‘ vgl. Eckhard Heftrich, Nietzsches Philosophie. Identitat von Welt und Nichts, Frankfurt a.M. 1962, 18ff.
'. Baeumler, a.a.O. [Anm. 18], 700. - Im Nachwort von 1964 zu diesem Band, das der Kritik von Karl Schlechta an der Kompilation Rechnung zu tragen sucht, formuliert Baeumler iibrigens vorsichtiger: ,,auf vier Biicher“, lat also das auf den
Plan vom 17.3.1887 fixierende ,,diese“ fort: ein bemerkenswertes (stillschweigendes) Eingestandnis! — 1964 fiigt er der oben zitierten Ausfiihrung noch hinzu: ,,zu
der er (sc. Nietzsche) sich selbst ein Register angelegt hat“ (700). Er hat sich sowohl 1930 wie 1964 an Otto Weif‘ verwischende Ausfiihrung in GA XV, XXXVII gehalten. (Wei vollfiihrt in seinem Vorwort tibrigens wahre Eiertanze zwischen Elisabeth Férster—Nietzsches Behauptungen und dem Textbefund.) Zum Sachverhalt vgl. Montinari, Nietzsches Nachlaf von 1885 bis 1888 oder Textkritik
und Wille zur Macht, in: Nietzsche lesen, a.a.O. [Anm. 4], 103ff. 20 Nachwort zu Der Wille zur Macht [1930], a.a.0. [Anm. 18], 700. —Im Nachwort von 1956 werden aus ,noch einigen‘ ,,viele andere Dispositionsentwiirfe“. Die Behauptung, sie unterschieden sich ,,nicht viel“ voneinander, lat Baeumler fallen; statt dessen heift es apodiktisch: ,,Es gibt keinen Grund, daraus eine Ungiiltigkeit [!?] des bevorzugten Entwurfes abzuleiten.“ — Zu den betrachtlichen Unterschieden cf. Heftrich, a.a.O. [Anm. 18], 23ff.
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Der Wille zur Macht als Buch
ten Disposition an.”! Baeumler iibernimmt einfach diese Auswahl und Ordnung in seiner eigenen Ausgabe, ohne sich selbst iiber die Besonderheiten des Nachlasses und dessen Veréffentlichung kundig gemacht zu haben.” Baeumlers Wille zu Nietzsches System forderte ,das Hauptwerk* nicht weniger
als der Ehrgeiz von dessen Schwester. Deshalb preist er auch sie und Peter Gast: ,,Der Gedankenzusammenhang* sei im Willen zur Macht ,,aus einem
lebendigen Mittelpunkt erzeugt und genahrt“. Die Erstellung von Nietzsches »Gedankenbau* durch die Herausgeber sei ,,nur auf Grund einer intimen
Kenntnis des Materials“ méglich gewesen.” In der Neufassung seines Nachworts (1964) nennt er, vorsichtiger geworden, das Buch nur noch ,,ein historisches Dokument“, das ,,Gast uns hinterlassen hat“. Wer wie dieser ,,in der Umgebung
Nietzsches so lange und so teilnehmend gelebt“ habe, vermittle uns ,,etwas, das fiir Verst’iindnis und Rekonstruktion [sic!] des , Willens zur Macht‘ unentbehr-
lich bleiben wird“.** Baeumler beriicksichtigt dabei nicht, da& Gast in der
Umgebung der Schwester Nietzsches lebte, als er die Kompilation miterstellte.” 3. Wille zur Macht und ewige Wiederkehr Indem er aber nach dem lebendigen Mittelpunkt des Systems bei Nietzsche fragt, kann er bei dieser Zusammenstellung schon Anfang der dreiGiger Jahre 21
Nachwort zu: Der Wille zur Macht [1930], a.a.O. [Anm. 18], 700. — Da& die ,,un-
vermeidliche Willkiir“ der Herausgeber ,,durch die [...] Disposition vom Friihjahr 1887 weitgehend gebunden erscheint“ (700f.), wie Baeumler 1930 schreibt, ist eine
geradezu groteske These. — 1956 lat er die Worte ,,und willkiirliche* fiir die Kennzeichnung der Kompilation von 1901 fort; da® die zweite Ausgabe des Willens zur
Macht nicht weniger willkiirlich ist als die erste (vgl. dazu — exemplarisch — das oben in Anm. 5 Ausgefiihrte), war inzwischen durch Schlechtas Edition offenkundig gemacht worden. — Statt ,,alle Fragmente“, in welcher widersinnigen Formulierung 1930 — wie schon in der Rede von der ,Unvollstandigkeit‘ des ersten Willens zur
Macht — einmal mehr Baeumlers Ganzheitsidee zum Vorschein kommt, heift es 1956
»1067 Aphorismen“. 1930 spricht Baeumler noch davon, daf es auch ,,der Sorgfalt der Herausgeber“ zu verdanken sei, ,,da% uns das kiihnste und wichtigste philosophische Werk des 19. Jahrhunderts erhalten geblieben ist“. (A.a.O. [Anm. 18], 700) 23 A.a.O. [Anm. 18], 699f. 4 A.a.O. [Anm. 19], 702. 25 Vel. dazu Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukdcs, a.a.O. 22
{Anm. 4], 176ff.
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Der Wille zur Macht als Buch
337
nicht stehenbleiben. Als Zentrum von dessen Philosophieren entdeckt er das »Herz‘, aus dem seine Begriffe kommen sollen. ,,Nietzsche dachte intuitiv,
[...] jeder seiner Gedanken ist ein Funke aus dem namlichen gliihenden Zentrum. Am ,,Hauptwerk*“ wird festgehalten, es ,,stellt die Welt in prazisen
Visionen vor uns hin“. Nietzsches ,,Arbeiten“ bestand im ,,Sammeln von Funken“. Aber der ,,Zusammenhang der Begriffe“ ist ,,vorhanden“ und kann
,»jederzeit zu logischer Deutlichkeit gebracht werden“. Dies ist Sache der Interpreten: ,,Wenn man sein Werk beurteilen will, dann muf man die logische
Arbeit der Zusammenfiigung, zu der er keine Zeit hatte, selbst tibernehmen.“ Baeumler nimmt auf sich, was Frau Forsters und Gasts Aufgabe nicht mehr sein konnte. Freilich fordert die Reduktion des Denkens Nietzsches auf das Wesentliche der ,,Weltansicht“ des heroischen Realismus durch Baeumler nun
doch die Aussonderung von Gedanken des Philosophen. Nicht nur diirfen wir uns nicht an die ,verschiedenen Gesichter‘ halten, welche die von ihm selbst ver6ffentlichten Schriften darbieten; wir miissen allen ,, Vordergrund“,
den er ,,unmittelbar“ gibt, zugunsten ,,seines Hintergrundes“ zuriicklassen, dessen er ,,unerschiitterlich gewif ist.?”
Im Zuge seiner Systematisierung spaltet Baeumler Nietzsches Philosophie in einen objektiven und einen subjektiven Teil. Zu letzterem zahlt er den Gedanken der ewigen Wiederkunft, der im Widerspruch zur Lehre vom Willen zur Macht stehen soll. Nur eines kann nach Baeumler gelten: entiweder der erstere oder die letztere. Jener Gedanke ,,scheint dazu da, um das System aufzuheben“. Aber er ist, ,, von Nietzsches System aus gesehen, ohne Belang“. Er wendet mit ihm ,,ins Subjektive“, was sich objektiv—systemgem4 als
Unschuld des Werdens und Ziellosigkeit des Daseins im Willen zur Macht 6
Nietzsche der Philosoph und Politiker, a.a.O. [Anm. 15], 14ff. — Im ,,Denktypus*
Nietzsches liege die ,, notwendige Einseitigkeit“ des intuitiven Philosophen. Deshalb habe er nicht ,,den unnachsichtlichen Forderungen des logischen Bewuftseins Geniige* getan. (Die Unschuld des Werdens, Einfiihrung [1930], KTA 10, XXIII.) -
Nietzsches genealogische Kritik z.B. des Satzes vom Widerspruch bleibt bei Baeumler unberiicksichtigt, wenn er seine Interpretation vor das Entweder des Willens zur Macht und das Oder der Wiederkunftslehre fiihrt. Der Intuitionist Bacumler macht hier die formale Logik zum Herrscher iiber die Metaphysik. Wenn denn iiberhaupt ein Widerspruch zwischen den beiden Lehren bestehe, so hat Martin Heidegger dagegen eingewandt, so ware er, wie wir seit Hegel wissen, ,,nicht notwendig ein Beweis gegen die Wahrheit eines metaphysischen Satzes, sondern ein Beweis dafiir“ (Nietzsche |, Pfullingen 1961, 30f.; in der (Vorlesungs—)Fassung heift es noch iiber7
spitzt: ,,im Gegenteil ein Beweis dafiir“: HGA 43, 25.) A.a.O. [Anm. 15], 5, 9.
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Der Wille zur Macht als Buch
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darstellt. Im Grunde ist der Wiederkunftsgedanke ,,religionsstifterahnlich“, er hat in der Philosophie keinen Platz. Im angeblichen ,Hauptwerk‘ ist er ,,ein erratischer Block“. So kann der SchluSaphorismus (WM 1067) die Geltung, die er als ,,die ideale Formel fiir das philosophische Weltbild Nietzsches* einzunehmen beansprucht, in der Konsequenz von Baeumlers Gedankengang
nicht behalten. Entweder Heraklitismus oder Dionysismus: man hat ,,nur die
Wahl, entweder den ,Willen zur Macht‘ als das eigentliche System Nietzsches aneiechen, oder aber dieses System zu verwerfen*.”* Faktisch verlangt er die
Exstirpation der Wiederkunftslehre aus Nietzsches eigentlicher Philosophie.” Baeumler brauchte eigentlich ein anderes ,, Hauptwerk“ — freilich unter dem Titel der Kompilation. Nietzsches System — als Zusammenhang seiner
Intuitionen‘ — geht eben doch nicht im Willen zur Macht auf, der ,,ein Torso“
geblieben ist. Der ganze Nachlaf ist nun das System — man muf nur die »fliichtigen Notizen“ auszusondern wissen. Die Zusammenstellungen von Aufzeichnungen Nietzsches, die Baeumler unter dem Titel Die Unschuld des Werdens
1931
publiziert hat, sollen zum ,,feste[n] Bau“ der Gedanken
Nietzsches in einem wesentlicheren Sinne als die von ihm selbst publizierten Schriften gehéren. Zugleich geht damit auch das ,Hauptwerk‘ in den »Gedankenstrom“ des Nachlasses seit Morgenréthe ein, der sich ,,dem Ziele“ zuwalzt, das doch keine werkmafige Erfiillung gefunden hat — ,,obwohl ein System da ist“.°° Im Nachwort zum Willen zur Macht hat Baeumler uns 1930
verraten, wie das ,Hauptwerk‘ Nietzsches hatte schlie&en sollen, da doch Aph. 1067 ,,das Bruchstiickhafte des Ganzen“ (allzu) ,,schmerzlich fiihlbar“ macht.
Er entla&t den Nietzsche—Leser mit Aph. 1054, der ,,die heroische Gesamtstimmung des ,Willens zur Macht‘ noch einmal zum Ausdruck bringen“ soll: **
A.a.O. [Anm. 15], 81, 83. - Baeumler sieht sein Buch als Neubeginn der Nietzsche—Deutung; ,,Die Frage liegt nahe, ob nicht das gesamte Nietzscheverstandnis
dieser Jahrzehnte, verlockt durch die Pfeife des dionysischen Rattenfingers, einen falschen Weg gegangen ist.“ (85) 29
Damit verbindet sich notwendig eine Reduzierung der Bedeutung des Zarathustra. Er ist fiir Baeumler lediglich der nicht gehdrte Ruf an mégliche Gefahrten. (Nietzsche der Philosoph und der Politiker, a.a.O. [Anm. 15], 81.) Dieses Buch ist nach ihm ,,die Stimme der menschlichen Einsamkeit“. In ihm ist ,eine Seelenhaltung, nicht eine Lehre“ gestaltet. Fiir sein nur ,Subjektives‘ stiftet Baeumler dann noch ein
groBes Wort: ,,es ist das Grundbuch der heroischen Humanitat“, neben deren Begriff 30
»alles, was sonst von ,Humanitit‘ gesagt wird, zu bloSem Geschwiitz herabsinkt. (Nachwort zu: Also sprach Zarathustra, Leipzig 1930, KTA 5, 237f, 245.) Die Unschuld des Werdens, Einfiihrung, a.a.O. [Anm. 26], XVIII, XXIII, XVI,
XXXI, XVI, XXV.
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»Der grofte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe. Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwéren, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille den Untergang will‘. Verhiitung der VermittelmaGigung. Lieber noch Untergang!“*! Der ,gro&e ziichtende Gedanke‘ der ewigen Wiederkunft, auf den sich Nietzsche (und auch noch die Kompilatoren)
bezogen hatten, ist zwar von Baeumler durchgestrichen worden, dafiir wird der Untergangs—Heroismus gewissermafen doppelt unterstrichen.”
4. Heidegger und die Kompilation
|
Von ,,einem verstindigen Nachwort“ Baeumlers hat Martin Heidegger gespro-
chen, als er den Hérern seiner ersten Nietzsche—Vorlesung 1936/37 die Taschen-
|
ausgabe des Willens zur Macht ,,fiir den Handgebrauch* empfahl.*’ Dieses Urteil verwundert nur dann, wenn die zeitweilige Gemeinsamkeit der beiden Phi-
}
losophen unberiicksichtigt bleibt. Baeumlers Ausfiihrungen, in diesem Buch sei nicht ,,die Rede von Problemen ,an sich‘, auch nicht von Lésungen ,an sich“, es gehe darin um die Angelegenheiten ,,des wirklich existierenden Menschen“;
|
L 1
seine Ausfiihrungen zur Harte und Unerbittlichkeit des Schicksals, von Not und Untergang des Menschen und selbst die Kennzeichnung Nietzsches als
31 Nachwort zu: Der Wille zur Macht [1930], a.a.0. [Anm. 18], 709. 32 Gegen die undifferenzierte Heranziehung von Nietzsches Metapher des Hammers als notwendiger neuer Waffe durch Baeumler bringt Heidegger zutreffend die Wiederkunftslehre zur Geltung (HGA 44, 165). Vgl. dazu schon seine Ausfiihrung HGA 43, 76f.: ,mit dem Hammer philosophieren‘ hei&e am wenigsten ,,grob
draufschlagen, zertriimmern“, sondern ,,die Gestalt aus dem Stein herausschlagen“ und vor allem: ,,alle Dinge abklopfen und hGren, ob sie jenen bekannten hohlen Ton
geben oder nicht“. Mit der letzten Formulierung bezieht sich Heidegger auf das Vorwort von Gétzen—Ddammerung. — Vgl. Karl Lowiths Ausfiihrung zum ,,bildne-
rische{n] , Hammer ““, den die Wiederkunftslehre ,,in der Hand des michtigsten Menschen“ darstellt, ,,der deshalb der miichtigste ist, weil er bei sich selber den
Willen zum Nichts tiberwunden hat* (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 71956, zit. n. Simtliche Schriften [im folgenden unter der Sigel SS mit Band— und Seitenzahl zitiert], 6, 209). - Zu Baeumler und seiner
Wirkung heift es, Nietzsches Bild ,,iiberschlug sich in der Nietzsche—Karikatur des Dritten Reichs, das in der Tat ,mit dem Hammer‘ philosophierte“ (SS 6, 107; vgl. Léwiths Ausfiihrungen in Rezensionen von 1958: SS 6, 511, 513f.).
3
HGA 43, 13.
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Der Wille zur Macht als Buch
»Diktator der Zukunft“ fanden bis etwa 1935 durchaus Entsprechungen in Heideggers Gesinnung.** Auch wenn Heidegger sich schon zu Beginn seiner Vorlesung, die er unter dem Titel Nietzsche. Der Wille zur Macht angekiindigt hatte, in schroffen Gegensatz zu Baeumler stellt, so bleibt doch dessen nicht
unbedeutender Einfluf auf sein Herangehen an Nietzsche unverkennbar.”* Auch er orientiert sich zuniichst an Der Wille zur Macht,” und zwar am dritten Buch, 4
Baeumler, Nachwort zu: Der Wille zur Macht [1930], a.a.O. [Anm. 18], 709, 703, 705. — Heidegger und Baeumler waren ,,iiber die Beschaftigung mit Nietzsche seit den ausgehenden zwanziger Jahren bekannt“, in Heideggers ,nationalsozialistischer Phase‘ standen sie in Verbindung (s. Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M./New York 1988, 241ff., vgl. 186f., 194f., 215f.). ~ Zur anfanglichen Verwandtschaft mit Baeumler sei noch aus Heideggers Vorlesung von 1937 verwiesen auf die Ausfiihrungen zur Umwertung und die diesbeziigliche Rede von Nietzsches Erfahrung der ,,Not“ (HGA 44, 180, 195) und von
der Entscheidung angesichts des Nihilismus, ob wir den ,,Untergang“ wollen (193).
Auch die ,,Zuchtwerte“, von denen er spricht (185), erinnern an die Betonung des
Erziehungsgedankens im Sinne von Baeumler. Daf derartige Ausfiihrungen in Nietzsches Philosophie die gemeinsame Wurzel haben, versteht sich dabei ebenso
wie die grundlegenden Unterschiede bei deren Interpreten.
*5 §. Nachwort des Herausgebers, HGA 43, 293. Der prazisierende Zusatz als Kunst wurde durch die von Heidegger in den folgenden Jahren gehaltenen Nietzsche—Vorlesungen notwendig. 36
Man kann diesen (sonst unbeachtet gebliebenen) Einflu8 auch iiberschatzen wie
Endre Kiss, der, unter wissensoziologisch—ideologiekritischem Aspekt, Baeumlers
»positive politische Metaphysik“ die Nietzsche-Deutung Heideggers
,,bis zum
Ende des Dritten Reiches im Banne der Baeumlerschen Ansatze“ sieht. Zwar kann auch Kiss nicht von Heideggers Distanzierung gegeniiber Baeumler absehen. Er versteht sie als ,,Revolte gegen Baeumler“, in der aber nicht iiber dessen ,,Paradig-
ma“ hinausgegangen werde. Solche Behauptungen sind nur auf der Grundlage grober Simplifizierung mdéglich. (Die Stellung der Nietzsche—Deutung bei der Beurteilung der Rolle und des Schicksals Martin Heideggers im Dritten Reich, in: Zur philosophischen Aktualitét Heideggers, Bd. 1, Philosophie und Politik, hg. v. D. Papenfuss und O. Péggeler, Frankfurt a.M. 1990, 425-440, hier: 430-432,
435-437). — Wenn man auf die politische Bedeutung von Heideggers Nietzsche—Vorlesungen abhebt, so ist in diesem Falle die Argumentation von Victor Farias tiberzeugender, da die Auseinandersetzung mit diesem Philosophen ,,fiir die
indirekte, jedoch ebenso radikale wie polemische Konfrontation der Philosophie Heideggers mit den offiziellen Ideologen besonders gut geeignet* sein muBte. (Heidegger und der Nationalsozialismus. Aus dem Spanischen und Franzésischen 37
iibers. v. K. Laermann, Frankfurt a.M. 1989, 337f.). Die zweite um das Doppelte vermehrte Ausgabe von Nietzsches ,Willen zur
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das Baeumler ,,vielleicht das wichtigste“ nennt.* Er iibernimmt von diesem die (ginzlich unangemessene) Kennzeichnung der Ausgabe von 1901 als ,,sehr unvollstindig*.*” Gewichtiger noch ist, da er Baeumlers These folgt, das von
Nietzsche selbst Veréffentlichte sei ,,immer Vordergrund‘, seine ,,eigentliche
Philosophie“ bleibe als ,,NachlaG* zuriick.”” In ihrer Konsequenz liegt fiir beide Philosophen, da Also sprach Zarathustra nur die ,,Vorhalle“ fiir den ,,Hauptbau“
des Willens zur Macht darstellt.*' Damit sind fiir die erste Wegstrecke einige Pflécke gesteckt. Dariiber hinaus diirfte er bei mancher Fragestellung von Baeumler stimuliert worden sein, so in seiner Ausarbeitung des Gedankens der Gerechtigkeit, dem er von der Vorlesung von 1939 an zentrale Bedeutung fiir das Verhialtnis von Wahrheit und Wille zur Macht bei Nietzsche zugesprochen
Macht“ steht an der Spitze der Aufzahlung, in der Heidegger 1972 die wichtigsten Werke nennt, welche ,,die erregenden Jahre zwischen 1910 und 1914“ fiir ihn
bestimmten. Es folgen die Namen Kierkegaard, Dostojewski, Hegel und Schelling, Rilke, Trakl, Dilthey (HGA 1, 56). — Vgl. Heideggers Ausfiihrung 1936/37 zur Nietzsche—Wirkung auf die Generation, ,,die 1909 bis 1914 an den deutschen Universititen studierte“: HGA 43, 272.
°° Nachwort zu: Der Wille zur Macht [1930], a.a.0. [Anm. 18], 707£.- Vgl. zum ,Grundlegenden und Aufbauenden‘ des 3. Buches Heidegger HGA 43, 29, 36ff. —-Hingegen
hat Heftrich das 3. Buch (gegen Baeumler) als das ,,konfuseste* hinsichtlich der Textzusammenstellung bezeichnet (Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 18], 39 ff).
°°
HGA 43, 12. —Vgl. dazu auch oben Anm. 5 und Anm. 19. - 1939 spricht Heidegger von der ,, Vermehrung der aufgenommenen Niederschriften“ in der Ausgabe von 1906 gegeniiber der von 1901 (HGA 47, 16); diese Kennzeichnung benennt deren Unterschied noch immer unrichtig. -— 1936/37 driickt sich Heideggers Uberschatzung des
*°
Werkcharakters der Kompilation von 1906 auch darin aus, daf er von deren einzelnen Stiicken sagt, sie seien ,,zumeist nicht einfache, halbfertige Bruchstiicke und fliichtige Bemerkungen, sondern sorgfaltig ausgearbeitete ,Aphorismen‘““ (HGA 43, 14). HGA 43, 11.—Vegl. dazu oben S. 337, ferner z.B. Baeumlers Einfithnung in: Die Unschuld des Werdens, a.a.O. [Anm. 26], IX, wo der Vordergrund der veréffentlichten Biicher
dem Nachla& als Hintergrund (und zugleich als Hauptwerk) entgegengestellt wird. ‘|
HGA 43, 15. — Wie die urspriinglichen Herausgeber bezeichnet auch Baeumler in seinem Nachwort zu Der Wille zur Macht [1930] Also sprach Zarathustra als ,,die Vorhalle“ fiir den ,,Gedankenbau“ des ,Hauptwerks‘ (700; so auch in seinem Nietzsche—Buch, a.a.O. [Anm 15], 56). Nietzsche hat zwar in mehreren Briefen
von Also sprach Zarathustra als der Vorhalle gesprochen (Heidegger zitiert seinen Brief vom 7.4.1884 an Overbeck in HGA
sprach Zarathustra
14, 14f.), in Ecce homo jedoch Also
als Losung des ,jasagenden Teils‘ seiner Aufgabe gekenn-
zeichnet, dem ,,die neinsagende, neinthuende Hilfte“ gefolgt sei (KGW VI 3, 348;
vgl. Heftrich, Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 18], 39ff.).
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hat. Bacumlers Ausfithrungen zu Macht und Gerechtigkeit schon konzentrieren
sich auf diejenigen NachlaGaufzeichnungen, auf die Heidegger spater immer
wieder zuriickgreift.*? Natiirlich geht Heidegger ganz andere Denkwege als Baeumler; die Sachdivergenz zu diesem (z.B.) in bezug auf den letzteren Punkt
hat er zurecht betont.*? Der Gegensatz der beiden Philosophen auch in der Nietzscheinterpretation ist augenfiallig und wird im folgenden Thema sein. Heidegger ist die Abgrenzung von Baeumler in seinen Nietzsche-Vorlesungen
wichtig gewesen; sie werden von zahlreichen kritischen Anspielungen auf diesen
durchzogen. Aber die Vermutung sei geaduGert, da8 — neben der wesentlichen Wirkung der Schriften Ernst Jiingers“ — nur von Baeumlers Deutung her bedenkenswerte Anregungen auf Heideggers Zugang zu Nietzsche erfolgt sind. Den Hauptpunkt des Gegensatzes finden wir in Heideggers entschiedener Zuriickweisung von Baeumlers Auffassung der Wiederkunftslehre. Wenn dieser Nietzsches ,,schwersten Gedanken“ und ,,Gipfel der Betrachtung“ fiir dessen »ganz personliche ,religiése' Uberzeugung“ ausgibt, so verrate dies, daf er weder
den metaphysischen Charakter dieser Lehre noch den des Willens zur Macht
begriffen habe. Wenn Heidegger sagt, die Lehre von der ewigen Wiederkehr passe Baeumler ,,nicht in seine Politik oder er meint mindestens, sie passe nicht
dazu“,* so liegt in der angedeuteten Alternative immer noch ein Element von Gemeinsamkeit. Denn in Nietzsches Rede von ,grofer Politik‘ haben Baeumler wie Heidegger (dieser in freilich eingeschranktem Mae) dessen Kampf gegen den Nihilismus als Kampf gegen ,Demokratismus‘ und ,Individualismus‘ ausge-
driickt gefunden und bejaht. Sie verbinden ihre Hoffnungen mit Nietzsches *”
43
HGA 47, 245-273;
1941/42 zahlt Heidegger die Gerechtigkeit zu den fiinf
Grundworten Nietzsches (HGA 50, 4ff., 62ff.). Vgl. auch: Nietzsches Wort ,Gott ist tot’, in: Holzwege, HGA 5S, 245ff. - In Baeumlers Nietzsche—Buch, a.a.O. [Anm. 15], s. bes. 77f., vgl. auch 65ff., 73fE. Anhang zur Vorlesung vom SS 1939, HGA 47, 297f. — Kiss findet auch hier ein Verharren Heideggers im ,,Paradigma“ Baeumlers. Seine »ldentifizierung des
Willens zur Macht als Seinsgesetz mit der Gerechtigkeit* bejahe ,,praktisch den
konkreten Gehalt des Willens zur Macht vollkommen‘; fiir ihn heit das z.B. ,»im
44
Klartext: die Realitét im Dritten Reich ist ,gerecht‘* (Die Stellung der Nietzsche-Deutung, a.a.O. [Anm. 36], 437). Dazu: Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universitat/Das Rektorat 1933/34, Frankfurt a.M. (1983, 24f. — Vgl. auch: Zur Seinsfrage (1955),
in HGA 9, 385-426, — Vgl. VE., Uber den Nihilismus und die Moglichkeit seiner Uberwindung, in: ,,Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche,
“S
Martin—Heidegger—Gesellschaft Schriftenreihe Bd. 3, 1994. HGA 43, 24-26.
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,gutem Europier‘ unter Betonung des Volkhaften. Auch in diesem Gemeinsamen
sind sie aber zugleich geschieden, weshalb Heidegger in der herangezogenen Vorlesung gegen ein Verstandnis des Willens zur Macht polemisiert, ,,wie irgendeine Ansicht von ,Politik* sich das gerade zurechtlegt“.** So haben die fiir Baeumler wesentlichen Bestimmungen des ,Germanischen‘ oder auch der
Rasse bei Heidegger keinen Raum. Heidegger steht auch gegen das zeitgendssische ,,Neue“, das ,,in der Gestalt der ,politischen Wissenschaft‘* aufgetreten
war. Wenn er schon bald die Gegnerschaft nicht nur Ernst Kriecks, sondern auch Alfred Baeumlers zu spiiren bekam,” so erhielt er sich doch einen gewissen Respekt vor dessen Nietzsche—Buch, das er noch 19339 als ,,beachtlich“ einstuft,
insofern Nietzsche darin ,,aus der psychologisierenden und existentiellen Mifdeutung“ (womit auf Klages und Jaspers gezielt wird) gelést wird.” Im Gegensatz zu Baeumler geht es Heidegger um die ,innige‘ Zusammengehorigkeit der Lehren von der ewigen Wiederkunft und vom Willen zur
Macht sowie der geschichtlich geforderten Umwertung aller bisherigen Werte.” Schon dem Gang der ersten Vorlesung kann man entnehmen, da die Orientierung an der Kompilation fiir Heideggers Interpretation nicht ausreicht. Geplant war der Beginn mit dem 4. (dem letzten) Kapitel (gema& der
Einteilung der Herausgeber).*° Heidegger bleibt jedoch nicht nur in den diesem zugeordneten Fragmenten befangen. Vielmehr sieht er sich gendtigt, Texte aus den von Nietzsche ver6ffentlichten Schriften (von der Geburt der Tra-
gédie bis zu Gétzen—Dammerung) und dem Nachlaf auSerhalb des Willens zur Macht heranzuziehen. Mit der Vertiefung in die Sache wird ihm deutlich, daf wichtige Zusammenhiinge (etwa: Nietzsches Umdrehung des Platonismus) ,,von der uns vorliegenden Gestaltung des ,Willens zur Macht‘ aus gese-
hen, insofern recht schwer“ einzusehen sind, ,,als die zusammengestellten Textstiicke aus ganz verschiedenen Manuskripten genommen sind, die sich
iiber die Jahre 1882 bis 1888 erstrecken. Aus den Originalmanuskripten Nietzsches ergibt sich ein ganz anderes Bild.“ *'
©
HGA 44, 172. - Zum Thema ,grofe Politik‘: Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, a.a.O. [Anm. 15], 171ff.; Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht
als Kunst, HGA 43, 193ff. *”
Die Selbstbehauptung der deutschen Universitat, a.a.O. [Anm. 44], 22f., 406.
*
Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, Anhang. HGA 47, 297.
*? °°
HGA 43, 20ff. HGA 43, 39.
31 HGA 43, 251,
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Deren zeitliche Einordnung und ihr Ort in Verhiltnis zu anderen Aufzeichnungen wurden fiir Heideggers Interpretationen von nun an immer wichtiger. Spiitestens im Jahre 1937 arbeitete er auch mit Kopien von Nietz-
sche—Handschriften. Die Vorlesung im Sommersemester dieses Jahres: Nietz-
sches metaphysische Grundstellung im abendldndischen Denken, konzentriert
sich ginzlich auf die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Die
Behandlung dieses Themas erforderte die verhiltnismafig breite ,,Erérterung
philologischer Fakten und Fragen“.** Denn die Abgriindigkeit und Bedeu-
tungsvielfalt des in bezug auf den Wiederkunftsgedanken von Nietzsche Niedergeschriebenen verlangt um der angemessenen Verstehbarkeit willen
die Beriicksichtigung aller seiner relevanten AuGerungen, der im veréffentlichten Werk wie der im Nachla&.*? Ist dieser Gedanke ,,Nietzsches Haupt-
gedanke“, der ,,als der Gedanke der Gedanken notwendig alles Denken
Nietzsches von Grund auf bestimmt“, wie Heidegger iiberzeugt ist, so werden
die Aufzeichnungen seiner ,,Besinnungen einen ganz verschiedenen Charakter
haben je nach dem Bereich und der Richtung und der Reife, in der sich gerade Nietzsches philosophische Arbeit bewegt“. In der differenzierenden Betrachtung des Nachlasses versucht Heidegger ,,eine vorlaufige Kennzeichnung des Bestandes an ausdriicklichen Aufzeichnungen zur Wiederkunftslehre, und
zwar in zeitlicher Folge“. Diese ist im Gegenzug zu den unzulanglichen Aufteilungen der GroSoktavausgabe aus Sachgriinden erforderlich.’ ,,Die
2
So die Herausgeberin (Marion Heinz) von HGA 44, 250. — Zur Vorbereitung auf
die Vorlesung im SS 1937 hatte er sich ,,brieflich mit prazisen Anfragen beziiglich der Anordnung und Datierung von Nietzsche~Aphorismen“ an Karl Schlechta, den damals leitenden Herausgeber von BAW, gewandt (HGA 44, 253).
5}
Heidegger weist darauf hin, da Nietzsche seine Lehre in vielen Hinsichten ,,nicht entfaltet und manches im Dunkeln gelassen“ hat, daf ,,aber gewisse Andeutungen [...] es immer wieder klar“ machen, ,,wieviel mehr er bei diesen Gedanken erfuhr und wufte, gemessen an dem, was er aufzeichnete oder gar darstellte“* (HGA 44,
146). Hinter dieser Aufzeichnung steht die gleiche Deutungsfigur, die Heidegger schon seiner Rezeption von Nietzsches ,,drei Arten von Historie“ in der Zweiten
Unzeitgemdfen zugrundelegt: ,,Der Anfang seiner ,Betrachtung* lat vermuten, daf er mehr verstand, als er kundgab.“ (Sein und Zeit, HGA 2, 523) ** HGA 44, 74f. - Den bisherigen Herausgebern des Nachlasses will Heidegger keinen Vorwurf daraus machen, da sie ,,das ganze sogenannte ,Material‘ schon in
bestimmte Ordnungen gebracht“ haben. ,,Uber die Mangelhaftigkeit der bisherigen Ausgabe hinweg bleibt es doch das Verdienst der ersten Herausgeber — vor allem von P. Gast -, daf sie uns iiberhaupt Nietzsches handschriftlich zuriickgebliebene Arbeiten in einer lesbaren Ubertragung zuginglich gemacht haben“.(a.a.O., 75)
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ganze Ratlosigkeit der Herausgeber“ noch bei der 3. neugestalteten Ausgabe des Bandes XII, der Unveréffentlichtes zum einen von 1881/82 und zum anderen von 1882/86 enthiilt, wird von Heidegger angeprangert: ,,die wichtigsten Textstiicke“ werden im Nachbericht gebracht, die Versuche und Pline zur Wiederkunftslehre unsinnigerweise nach theoretischer Darstellung und poetischer Behandlung unterschieden.* Wenn er sich dem spateren Nachla& (1884-1888) zuwendet, der im Zeichen der Planung eines philosophischen
Hauptwerks steht, so duGert er sich auf seine Weise nicht weniger entschieden gegen die Kompilation unter dem Titel Der Wille zur Macht, als es friihere
oder spitere Kritiker der Zusammenstellung getan haben. Durch deren Herausgeber ist der ,,gesamte“ Bestand®* ,,des Unver6ffentlichen aus dieser Zeit [...] auf die Bande XIII, XIV, XV, XVI“ der GroSoktavausgabe ,,verteilt“ worden, und zwar ,,in einer Form, die sehr irrefiihrend ist. Heidegger referiert die langst bekannten Fakten: Nietzsche hat ,,nur zeitweilig (1886/87)*
ein Hauptwerk unter dem Titel Der Wille zur Macht geplant; ein solches Werk
»ist von Nietzsche nicht nur nie herausgegeben, es ist auch niemals als Werk gestaltet worden, so wie Nietzsche ein solches Werk gestaltet hatte. Es ist auch nicht in der vollendeten Ausarbeitung unterwegs unvollendet liegengeblieben“. Nicht einmal von ,,Bruchstiicken“ fiir ein solches Werk kénne gesprochen werden, ,,da die Bruchstellen und Fugen, die unmittelbar auf
andere dazugehdrige Stiicke verweisen sollen, gar nicht kenntlich sind“, fehle doch die ,,Durchgestaltung“, die dem einzelnen Stiick eine ,,festgefiigte Stelle“ zuweise. Was haben wir de facto nach dem ,,Eingriff der NachlaSherausgeber“? Scheinbar, ,,falschlicherweise“, ein Hauptwerk des Philosophen; in Wahrheit ,,nur eine willkiirliche Auswahl von Aufzeichnungen Nietzsches“.
Heideggers Kritik an der Nachla8kompilation ist aus der Erfahrung erwachsen, daf diese eine sachgerechte philosophische Nietzsche-In°°
HGA 44, 76f.
56 Hierin irrt sich Heidegger: erst die BAW, die abgebrochen wurde, hat den Vorsatz gehabt, den ,,gesamten Bestand“ zu ver6ffentlichen, und erst Colli und Montinari
haben dies unternommen. Fiir den spaten Nachlaf (um den es hier geht) fehlen noch die Nachberichtbinde der KGW, in denen u.a. auch noch bislang unveréffentliche Aufzeichnungen Nietzsches publiziert werden sollen. (Uber das Edi-
tionsverfahren fiir diese Bande ist noch keine Entscheidung getroffen worden.) {Nachtrag 1998: Inzwischen haben Verlag und Herausgeber die Erweiterung der KGW
um eine IX. Abteilung beschlossen. Die Arbeiten an ihr haben begonnen;
KGW IX wird Nietzsches nachgelassenen Aufzeichnungen von 1885 bis 1889 in manuskriptgetreuer Heftedition umfassen, wie dies zuerst Ernst Horneffer vorgeschwebt ist (vgl. oben Anm. 4).]
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terpretation wesentlich behindert. Er fiihrt aus, dafs das sogenannte »Werk*
im vorhinein die Auffassung von Nietzsches Philosophie aus dieser Zeit
vorbestimmt“ hat, ja ,,die Auslegung von Nietzsches Philosophie aus der entscheidenden Zeit auch griindlich miGleitet hat“.*’ Voraussetzung fiir deren hinreichende Deutung ist die Orientierung an der durchsichtig ge-
machten ,faktischen‘ Textgrundlage. Als Interpreten ist Heidegger an der Geltendmachung der Wiederkunftslehre im Gegensatz zur zeitgendssischen
Nietzsche—Rezeption gelegen.** So muf er die auf jene bezogenen Stiicke,
welche die Herausgeber in Der Wille zur Macht ,,bunt durcheinander gewiirfelt“ haben, erst einmal in eine chronologische Ordnung bringen — in dem Ma6e, als ihm das damals méglich sein konnte —, um sie auf verantwortbare
Weise auslegen zu kénnen.*’ Wenn Heidegger ausfiihrt, das sogenannte ,Werk‘ Der Wille zur Macht habe ,,die Auslegung von Nietzsches Philosophie aus der entscheidenden Zeit auch griindlich mifleitet“, so hat er auch Baeumler, den Verachter des Wiederkunftsgedankens, im Visier. Unter Beiziehung von Planen Nietzsches aus dem Friihjahr und Sommer 1888 legt er dar, ,,daf& die ewige Wiederkunft Grund und Mitte auch und gerade des geplanten Hauptwerkes“ gewesen sei. Die genannte Mifleitung habe die ,,Irrmeinung“ nach sich gezogen, der
Gedanke sei beim spiiten Nietzsche zuriickgetreten. An eine ,,Philosophie des Willens zur Macht“, welche sich nicht mit der Wiederkunftslehre ,,ver-
tragen“ kénnen soll, haben auch ,,die Herausgeber des so betitelten Werkes“ 57 HGA 44, 158ff. ** Heideggers Deutung — in Gegensatz zu Baeumlers Auffassung (auf welche — als der
damals dominierenden — die Vorlesung immer wieder anspielt) — formuliert: ,,Die
Frage nach dem Willen zur Macht ist eingeordnet der Philosophie der ewigen
Wiederkehr“ (HGA 44, 162; vgl. dazu seine Ausfiihrungen zu Nietzsches ,Planen‘:
157f., 161ff.). Hierzu steht nicht in Widerspruch, wenn Heidegger 1939 Nietz-
sches Gedanken vom Willen zur Macht seinen einzigen Gedanken nennt. Denn fiir
ihn sagt dieser dasselbe wie der Wiederkunftsgedanke, in dem er sich vollendet (HGA 47, 12).
*
HGA 44, 169. —- Heidegger geht es darum, ,,unbeirrt durch das sogenannte, von
den Herausgebern zusammengestellte ,Werk‘ ,Der Wille zur Macht das festzustel-
len, was innerhalb des handschriftlichen Nachlasses aus der Zeit 1884—88 iiber die Wiederkunftslehre vorliegt. Wir sind dabei, da wir den Nachla& nicht in seinem unmittelbaren wirklichen Zustand vor uns haben, auf die Wiedergabe angewiesen,
die durch die Herausgeber eine bestimmte Gestalt angenommen hat, von der wir uns aber leicht freimachen kénnen“ (HGA 44, 161). Heidegger tiberschiitzt dabei
die Zuverlissigkeit der Nachla8—Edition der GA betriichtlich.
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nicht gedacht, ,,die immerhin doch sorgfaltiger arbeiteten als die nachkommenden Beniitzer und Darsteller“.® Der Hieb gegen den nachgekommenen,
nur iibernehmenden ,Herausgeber‘ des , Willens zur Macht‘ Baeumler sitzt,
er wird gefiihrt — von dem prasumtiven Herausgeber einer Neubearbeitung des ,Hauptwerks‘. Zumindest hat Heidegger derartiges in der Zeit seiner Mitgliedschaft im Wissenschaftlichen Ausschu& fiir die Herausgabe der
Historisch—kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Nietzsches pratendiert.*' Wie Marion Heinz, Herausgeberin der Nietzsche—Vorlesung
von 1937, mitteilt, iibernahm er ,, Vorarbeiten zur Neuausgabe des , Willens
zur Macht“, iiber die bisher nichts Naheres bekannt ist.© Seine Uberlegungen zu einer Neuedition des spaten Nachlasses Nietzsches sind wohl auf eine zusammenfassende und zugleich (wie wir aus dem schon Ausgefiihrten
schlieSen kénnen) chronologisch orientierte Edition des spateren Nietzsche—Nachlasses in systematisierender Absicht hinausgelaufen. Darauf la&t schon seine Ausfiihrung von 1940 schlieGen, es verrate ,,die Ahnungslosigkeit* der Herausgeber des ,Willens zur Macht‘, da& diese die metaphysikgeschichtlich entscheidenden Aufzeichnungen Nietzsches zu Descartes nicht
»in das NachlaSbuch“ aufgenommen haben.* Das Entscheidende aber hat Heidegger schon 1936/37 mit seinen Vorbehalten gegeniiber der Histo-
risch—kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe, welche fiir ihn ,,ganz in die Reihe der Unternehmungen des 19. Jahrhunderts gehért“, verraten: »Nur in der wirklichen Bereitstellung des eigentlichen , Werkes‘ (1881-89)*
kénnte diese Ausgabe ,,zukiinftig“ sein, und dafiir sei der ,historistische‘ »Grundsatz der Vollstandigkeit* unangemessen, wie auch die ,,Art der biographisch—psychologischen Erlauterung [...] eine Ausgeburt der psycho-
logisch—biologischen Sucht der Jetztzeit“ darstelle.™
6
-HGA 44, 158-173.
6S! Heidegger und Paul Heyse wurden Ende 1935 in den Wissenschaftlichen Ausschu8 fiir die Historisch—kritische Gesamtausgabe gewahlt, nachdem Emge und Spengler zuriickgetreten waren. Walter F. Otto wurde anstelle von Emge Vorstandsmitglied der Stiftung Nietzsche-Archiv. $. dazu Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche—Archivs, a.a.O. [Anm. 1], 114f. — [Nachtrag 1998: Zu diesen und den
anschlieSend erérterten Fragen s. inzwischen die wichtige und aufschluGreiche Abhandlung von M. Heinz und Th. Kisiel, Heideggers Beziehungen zum Nietzsche-
Archiv im Dritten Reich, in: Annaherungen an Martin Heidegger, FS Hugo Ott, hg. H. Schafer, Frankfurt/New York 1996, 103-136.]
°° ®% *
HGA 44, 251ff. HGA 48, 254, 235. Es ist zweifellos ein Zufall, da& Heideggers Kritik an BAW in Grundziigen mit
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In seiner Nietzsche-Vorlesung von 1939 sucht Heidegger einzelne »Stiicke“ aus der NachlaSkompilation aus, die den Gedanken des Willens
zur Macht auf gesammelte Weise méglichst hell zur Sprache bringen. Das
Verfahren des Auswahlens lat fiir ihn eine kiinftige Nachlafedition nicht iiberfliissig werden. Heidegger schwebt vor, ,,eine Neugestaltung von Nietzsches Niederschriften zu erwirken“, die ,dem verborgenen Gedanken-gang zum Willen zur Macht“ besser gerecht wird als die bisherigen Editionen. Er begreift sie gar als ,,eine geschichtliche und geistige Aufgabe der Deutschen, der gegeniiber alle technisch—naturwissenschaftlichen ,Pro-
bleme‘ z.B. nur als Spielereien bezeichnet werden miissen; eine Aufgabe, die auch dann bestehen bleibt, wenn niemand etwas davon ahnt; eine Aufgabe, die durch noch so viele Biicher ,iiber‘ Nietzsche niemals von der Stelle, sondern noch endgiiltiger ins Verborgene kommt, wohin sie ja
auch gehért.“® Heideggers Emphase hat ihre Wurzel nicht in philologischer Leidenschaft und nicht in einem philosophischen Nietzscheanismus. Er sieht im ,,Grundgedanken* vom Willen zur Macht die Vorbereitung der ,,Entscheidung“ iiber die Geschichte der abendlandischen Metaphy-
sik.** — Das ,,Eigentliche* der Editionsarbeit ist nach Heidegger ,,niemals [...] zu leisten“, wenn Nietzsche nicht ,,als Ende der abendlandischen Metaphysik“ begriffen ,und zu der ganz anderen Frage nach der Wahrheit des Seins iibergegangen“ worden ist.” Heideggers Edition eines , Willens zur Macht‘ hatte, so la&t sich schlieSen, Nietzsches spite Aufzeichnungen auf seine
eigene Konzeption der Geschichte der Metaphysik hin
geordnet.
einem amtlichen Gutachten iibereinstimmt, das im Gutachtenanzeiger, Beilage zur »Biicherkunde*, yom Februar 1938 erschien. Der (anonyme) Gutachter bezeichnet
die Bande ,,als eine Entartung philologischer und psychologischer Wissenschaftsmethoden“, spricht von deren Verfallen in ,,wissenschaftliche[s] Alexandriner-
tum“, kritisiert die editorische Intention auf Vollstindigkeit und kommt zu dem Schlu&: ,,Diese Gesamtausgabe der Werke Nietzsches mu daher sowohl in ihrer
Grundhaltung als auch in ihrer einzelnen Ausfiihrung als ein Musterbeispiel einer Verwissenschaftlichung groSer Werke und Persénlichkeiten abgelehnt werden.“
(Akten Stiftung Nietzsche-Archiv Weimar, GSA 72/1582) [S. hierzu M. Heinz/-
Th. Kisiel, a.a.O. [Anm. 61], 120ff.]
8° HGA 47, 17-19. 6 HGA 47, 11. * HGA 43, 12f.
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5. Vom ,Willen zur Macht‘ zum ,Zarathustra‘
Heideggers Deutung des Geftiges, ,,in dem ewige Wiederkunft, Wille zur Macht, Umwertung aller Werte gleich urspriinglich einig zusammengehéren“,
welches nicht mit einem ,,,System‘ Nietzsches“ verwechselt werden soll,” ist hier so wenig nachzugehen wie seinen in der Folgezeit immer wieder entfalteten Ausfiihrungen zu Nietzsche als dem Vollender der Metaphysik. Aber dargetan werden mu& im behandelten Zusammenhang, da Heideggers Schwie-
rigkeiten im Umgang mit der Kompilation Der Wille zur Macht noch wachsen, wenn er Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis 1939 erortert. Diese Vorlesung ist strker als die iiber die Wiederkunftslehre darauf angewiesen, sich ,,mit dem vorliegenden Buch zu behelfen“. Dies geschieht freilich so, daf er sich, wie im Blick auf sein Auswahlverfahren schon dargelegt wurde, »von vornherein und iiberall* von der darin ,,vorgelegten Anordnung“ freimacht und damit ,,das Durcheinandermengen von Stiicken aus ganz verschiede-
nen Zeiten“ vermeidet. In seiner Vorlesung von 1940, Nietzsche: Der europdische Nihilismus, fragt Heidegger, ob nicht auch andere Stiicke ,,mit gleichem, ja sogar mit mehr
Recht* unter diesen Haupttitel des Ersten Buches von Der Wille zur Macht gehérten, die in den anderen Biichern oder iiberhaupt nicht in diesen Nachlaf-
band aufgenommen worden sind. Jedenfalls verbietet es sich ihm ,,von selbst“, sich ,,dem heillosen Zickzack der von den Herausgebern angefertigten Zusammenstiickelung“ auszuliefern. Auch hier trifft er eine eigene Auswahl von zu erdérternden Stiicken, die seinen Interpretationsgang leiten.” Von diesem her wirft er Seitenblicke auf das (wie er es zurecht nennt) Durcheinanderge-
mengte, Zusammengestiickelte, Gedankenlose, Undurchsichtige, nicht Stichhal-
tige und sehr Verwirrende, deshatb Mifdeutbare der vorliegenden Kompilation Der Wille zur Macht.” Herausgebererwigungen Heideggers in Sachen Nietzsche liegen schon Jahre zuriick, als er in der abgebrochenen Vorlesung von 1944/45 (Einleitung in die Philosophie. Dichten und Denken) von der ,,Anfertigung dieses verhang-
6
HGA 44, 176f. - Schon zur Vorlesung tiber Nietzsche im WS 1936/37 hat Heidegger notiert: ,,,I0as System‘? Nein! Nicht weil System abgelehnt - sondern nicht an der Zeit. Etwas anderes — aber? und deshalb die ,Plane‘ — nicht Systementwiirfe.* (HGA 43, 281)
*”
HGA 48, 20ff.
”
HGA 48, 19ff.,108,132f.
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nisvollen Buches“ durch die Schwester Nietzsches und Peter Gast spricht.”" 1954 ist noch einmal von dem Buch die Rede, ,,das man aus dem Nachlaf Nietzsches zusammengestoppelt hat“. Heideggers Zugang zu Nietzsche hat
sich freilich inzwischen vom spaten Nachlaf auf ein von diesem ver6ffentlichtes Werk verlagert. Der Titel des Vortrags, dem die letzte Auferung entnom-
men ist, lautet: Wer ist Nietzsches Zarathustra?” Eine Vorstufe fiir die
veriinderte Orientierung Heideggers bildet schon die Erwagung von 1939,
da& am Ende der Geschichte der abendlindischen Metaphysik, das Nietzsche
fiir ihn reprisentiert, ein ,, Werk“ im Sinne der gro&en Werke der neuzeitlichen
Philosophie nicht zu erwarten gewesen sei, wie sie Descartes, Kant, Hegel, Schelling vorgelegt haben. Eine derartige Erwartung stelle eine verfehlende »Voraussetzung“ dar, die ,,dem Wesen und der Art des Gedankens vom Willen
zur Macht zuwiderlauft‘, und damit dem in ihm beschlossenen metaphysischen Endcharakter. Da& Nietzsche ein Werk iiber den Willen zur Macht nicht vollendet hat, kann man z.B. historisch, psychologisch, biographisch erkliren. Man kann die gewachsene Stoffiille oder die Spezialisierung der Wissenschaften als Grund fiir die Nichtvollendung heranziehen oder auch Nietzsches angeblichen Mangel an systematischer Kraft. Wesentliches wiirde man nur ansprechen, wenn man behauptete, da sich ihm ,,die innere Gestalt seines einzigen Gedankens*“ versagt hatte, der in der Einheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkunft beschlossen ist. Heidegger halt hier schon dagegen: ,,Aber vielleicht hat sie sich gar nicht versagt; vielleicht liegt das Versagen nur bei denen, fiir die Nietzsche seinen Gedanken—gang ging, die aber diesen Gang verschiitten*.” Daf Nietzsche ein Werk iiber den Willen zur Macht nicht vollendet hat, ,,k6nnte nur bedeuten, daf die innere Gestalt“ seines ,,einzigen
Gedankens* sich ihm versagt hat. ,,Aber vielleicht hat sie sich gar nicht versagt; vielleicht liegt das Versagen nur bei denen, fiir die Nietzsche seinen Gedan-
ken-gang ging, die aber diesen Gang verschiitten“.“ Seine Metaphysik bildet »die vorletzte Stufe“ der sich vollendenden Metaphysik, zu welcher durchaus die Nichtvollendbarkeit eines ,Hauptwerkes‘ gehdrt, ohne daf die Bedeutung
des auf ihr Gedachten gemindert wird. Die letzte Stufe bedarf der Philosophie iiberhaupt nicht mehr, obwohl sie ,,das Geriist fiir eine vermutlich lange
dauernde Ordnung der Erde“ bildet.”” Die Festmachung Nietzsches an der 7
HGA 50, 108.
”
Vortrage und Aufsdtze, Pfullingen 1954, 101-143.
™
HGA 47, 11, 15f.
> HGA 47, 10-18.
Uberwindung der Metaphysik, in: Vortrige und Aufsiitze, a.a.O. [Anm. 72], 81, 83.
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Gestaltlosigkeit seiner Spatphilosophie wird beim spiten Heidegger durch die Orientierung an der Gestalt Zarathustras abgelést, ohne daf damit Nietzsches Stellung in der Geschichte der Metaphysik verandert wird. Aber
nun ist es nicht mehr der diffuse Nachla&, der deren Ende reprisentiert, sondern das von diesem selbst veréffentlichte Buch Also sprach Zarathustra, an das sich das Verstindnis des Philosophen halten soll. Doch ,,kein Denkender zeigt sich bis zur Stunde, der dem Grundgedanken dieses Buches gewachsen
ware und seine Herkunft in ihrer Tragweite ermessen kénnte“, heift es 1954 bei Heidegger. Eine Aufzeichnung aus dem Willen zur Macht, die ihm schon in den dreifiger Jahren wesentlich war, zieht er (auch) 1954 heran, um nun zu betonen, daf
sie ,,aus der Zeit unmittelbar nach der Vollendung* des Zarathustra, aus dem Jahr 1885, stammt. Er verleiht ihr dadurch Gewicht im Sinne seiner Neu-
orientierung.” Sie ist jedoch seit seiner ersten Nietzsche-Vorlesung von zentraler
Bedeutung fiir ihn gewesen. Ohne Ubertreibung lat sich sagen, daf er in ihr die metaphysischen Grundeinsichten Nietzsches zusammenschiefen sieht.
In keinem anderen Falle ist ihm die chronologische Einordnung eines Nachlaftextes so wichtig gewesen wie in diesem. 1943 hat er seine Manuskriptgestalt beschrieben; das ist fiir sein Vorgehen durchaus ungewohnlich.”” Nach der Handschrift Nietzsches meint er ,,die genannte Aufzeichnung“ — wie 1954 — in die ,,Zeit 1885/86“ situieren zu kénnen, — nur heift es hier noch, sie stamme also ,,aus den beiden Jahren, in denen die Ausarbeitung des geplanten Hauptwerkes beginnt“; von der Zeit nach dem ,Zarathustra‘ ist nicht die Rede. 1946 stellt
er sie gewissermafen in die Mitte. Die Datierung auf 1885 verweist auf die Zeit, ,in welcher Nietzsche nach dem ,Zarathustra‘ sein systematisches metaphysisches Hauptwerk plante*.”* — 1939 hatte er noch die Bedeutung des Stiickes durch die (unrichtige) Behauptung unterstrichen, da es ,,im letzten
Jahr 1888 seine endgiiltige Form erhielt“, es solchermaGen damals allein auf
"©
”
Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: Vortrage und Aufsatze, a.a.O. [Anm. 72], 101,
120. — Deshalb erwahnt er hier sogar, da in ,,einer eingeklammerten Nebenbemerkung des Textes [...] eigens Zarathustra genanne“ wird. Der Anfang des abendlindischen Denkens. Heraklit. Vorlesung SS 1943, HGA SS, 105. — Heidegger fiihrt aus, daf& die Aufzeichnung einer ,,Vorarbeit von siebenundneunzig Blittern und Doppelbliattern“ zugehért, ,,die zwei zuniichst gebundenen Quartheften entstammen und Aufzeichnungen enthalten, die sich von 1882 bis 1888 erstrecken“ (ebd.).
™
HGA
5, 332f.
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Nietzsches spiiten Nachla& hin ausrichtend.” - Von Montinari ist die Aufzeichnung auf die Zeit Ende 1886 bis Friihjahr 1887 datiert worden.
Schon am Anfang seiner Vorlesung von 1936/37 zicht er diese ,,Stelle, die ausdriicklich als zusammengreifende Uberschau kenntlich gemacht ist“ — durch
den Titel Rekapitulation — gegen den Nietzsche—Heraklitismus (Baeumlers)
heran. Wichtig sind ihm vor allem der erste und der dritte Satz: ,,.Dem Werden
den Charakter des Seins aufzupragen — das ist der héchste Wille zur Macht.“ Und: ,,Da& Alles wiederkebrt, ist die extremste Anndherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung.“ Natiirlich kann man schon
in der letzteren Kennzeichnung Nietzsches die besondere Bedeutung der Aus-
fiihrung ausgedriickt finden, wobei man freilich dessen hiufige Verwendung von Hyperbeln in Rechnung stellen mu&. Aber Heidegger kommt es ohnehin nicht nur und auch nicht primar auf den ,Héhepunkt‘ der Betrachtung an, sondern auf Nietzsches ,,Zusammennahme des Hauptsichlichsten seiner Philosophie in wenigen Satzen“, wie er 1937 den Begriff ,,Rekapitulation“ erlautert.*' Ob er in der Folgezeit im Riickgang auf den Anfang der Metaphysik ”
HGA 47, 317.
*° Er gibt den bereinigten Text der Aufzeichnung in KGW VIII 1, 7[54], 320f. wieder. *!
HGA 43, 21f. - HGA 44, 228f. Hierbei hei&t es, daS Baeumler den Satz iiber den Gipfel der Betrachtung in seinem Nietzsche—Buch ,,unterschlagt“. Dies fiihrt zu Heideggers Verdikt: ,,Es eriibrigt sich jedes Wort iiber eine solche Verkiindigung Nietzsches“, welche ,,die Wiederkunftslehre wegzuinterpreticren sucht“(229). Aber Heidegger hat nicht genau hingesehen. Baeumler zitiert den Satz auf S. 79 seines
Buches und braucht ihn auf S. 80f., die Heidegger angibt, nicht zu wiederholen. — In der Vorlesung Was heift Denken? vom WS 1951/52 wird ebenfalls im Ausgang vom ,,unterstrichenen Titel* die Aufzeichnung als ,,wiederholende Zusammenfassung der Metaphysik Nietzsches“ aufgefaft (Tiibingen 1954, 46). - Der Hinweis mag nicht iiberfliissig sein, da das Wort Recapitulation in einem bestimmten Sinne lingst zu
Heideggers aktivem Sprachschatz gehérte, ehe jener Titel im Willen zur Macht fiir sein Nietzsche—Verstindnis die beschriebene Bedeutung erlangte. Friedrich Wilhelm von Herrmann berichtet, daf Heidegger ,,in seiner Marburger Zeit bis in die ersten
Jahre seiner zweiten Freiburger Lehrtatigkeit [...] zu Beginn der Vorlesungsstunde die wiederholende Zusammenfassung der Hauptgedankenschritte der voraufgegangenen Stunde“ anhand von eingelegten Zetteln extemporierte, welche mit ,,Recap.“ iiberschrieben waren und nur wenige Worte bzw. Notizen enthielten. ,,Um die Mitte
der dreifiger Jahre herum sprach er nicht mehr von ,Recapitulationen‘, sondern von , Wiederbolungen“: an die Stelle der ,,Notizzettel* traten sorgfaltig, ausgearbeitete Texte, in denen nunmehr ,,die Erweiterungen, Erginzungen und neuen Formulierun-
gen“ tiberwiegen. (Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner Gesamtausgabe letzter Hand, in: Edition und Interpretation. Freiburger Universititsblitter, Heft 78,
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Heraklit oder Anaximander interpretiert, immer reprasentiert die ,Rekapitula-
tion‘ Nietzsches das ,Ende‘ von deren Geschichte."* Noch 1954 heift es, dieser
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versammle unter der ,,unterstrichene[n] Uberschrift“ die Hauptsache seines
Denkens aus einer ,,ungewdhnlichen Hellsicht in wenige Sitze“.*?
Doch die Uberschrift, durch welche Heidegger dem Text herausragende Bedeutung verliehen sieht, stammt — nicht von Nietzsche, sondern von Peter Gast. Dieser hat sie — zweifellos in eigener systematisierender Absicht — iiber
den letzten ,Aphorismus‘ gesetzt, mit dem er den letzten Abschnitt des von ihm zusammengestellten Dritten Buches von Der Wille zur Macht beschlieft.** Hinzuzufiigen ist, da& es in diesem Falle nicht erst der Edition von Colli/ Montinari bedurft hatte, um diese Zutat (als nicht von Nietzsches Hand
stammend) zu erkennen. Heidegger hiitte in seinem Handexemplar der GA von 1911 in den Anmerkungen des Herausgebers Otto Weif den Sachverhalt dargestellt finden kénnen.® Aber er hat wohl an der irrtiimlichen Meinung festgehalten, Der Wille zur Macht, wenn er auch kein ,, Werk“ Nietzsches sei,
enthalte ,,.nur solches, was Nietzsche selbst niedergeschrieben hat“.*° 6. Die Auffassung von Karl Jaspers Karl Jaspers hat die Not der Nietzsche—Interpretation angesichts der Nachlafedition ebenso erfahren wie Heidegger. Aus seiner anderen Deutungsrichtung ergeben sich aber andere Editionsvorstellungen als bei diesem. Zwar geht es auch ihm um den verborgenen Nietzsche, der aber verweist ihm zufolge auf zahllose Méglichkeiten des Existierens. Zur Systematik seiner Denkschritte
*
1982, 85-102, hier: 89-91.) Es ist durchaus denkbar, daf die grundlegende Bedeutung, die Heidegger der Uberschrift in der Kompilation beima&, dazu beigetragen hat, da er das Wort Recapitulation von der zweiten Hialfte der dreifiger Jahre an nicht mehr fiir die Kennzeichnung seiner Vorlesungsiibergange verwenden mochte. Heraklit. Der Anfang des abendlandischen Denkens. Vorlesung SS 1943, HGA SS, 108. — Der Spruch des Anaximander (1946), in: Holzwege, HGA 5, 332f.
83
Wer ist Nietzsches Zarathustra ?, a.a.O. [Anm. 76], 120. - Zur vorangegangenen
Inanspruchnahme der ,Rekapitulation® in Heideggers Vorlesung von 1939 vgl. HGA 47, 317. ,,Die unterstrichene Uberschrift* riickt auch 1941/42 in den Vorder-
grund, vgl. HGA 50, 35f.
*
GA XVI, Aph. 617, S. 101f.
*’ Zu der in Heideggers Besitz befindlichen Ausgabe s. die Aufstellung der Herausgeber in HGA 45, 291f.
% HGA 47, 16.
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gehért nach Jaspers immer auch deren Zerbrechen. Keine Vereinfachung hilt stand. Nietzsche zeige ,,kein Gehause zum Unterschlupf*, sondern Wege, durch
die ein ,,Aufschwung des Menschseins“ méglich werden soll. Jaspers’ Auslegung
will ,,die urspriinglichen philosophischen Bewegungen“, die sich in Nietzsches Schriften und in seinem Nachla& aufzeigen lassen, in ihren zahlreichen ,,Spiegelungen am Ende durch eigenes Denken wirklich [...] erfassen“.” Er hat in seinem 1936 erschienenen Nietzsche—Buch die Kritik an den vorliegenden Ausgaben
in Editorische Wiinschbarkeiten verpackt, die er in einem Anhang formuliert.™ Zwar bezeichnet auch er es, wie Heidegger, als ,,die grofe Aufgabe der Zukunft, durch rechte Ausgaben die fiir das Nietzsche—Studium [...] notwendigen Grundlagen zu schaffen“. Im Unterschied zu diesem wie auch zu Baeumler favorisiert oder bekampft er nicht bestimmte Gedanken oder Lehren Nietzsches. Ihm ist an der Sichtbarmachung der Vielgestaltigkeit von Nietzsches Denken gelegen: In der ,,Méglichkeit umgreifender Darstellung aller seiner Motive“, so schreibt
er, beruht ,,die Wahrscheinlichkeit des Treffens meiner einenden zentralen Deutung*.” Jaspers méchte ,,jede Wendung“ von Nietzsches ,,Gedanken *” Nietzsche. Einfiihrung in das Verstandnis seines Philosophierens, Berlin 1936, 10f. "Nietzsche, a.a.O. [Anm. 87], 464-467. - Alle folgenden Zitate dieses Abschnitts sind diesem Anbang entnommen. *” Notizen zu Martin Heidegger, hg. v. H. Saner, Miinchen/Ziirich 1978, 217. — Jaspers findet in Heideggers Herausstellen des ,begrifflich—spekulativen‘, ,metaphysischen‘ Philosophen eine ,,Beschrankung“ auf ,,das System‘ Nietzsche“, insofern es jenem um ,,den vermeintlich einzigen Gedanken darin* gehe (179). Er fragt, ob ,,das fiir Nietzsche Wesentliche getroffen“ wird, ,,wenn ewige Wiederkehr, Wille zur Macht, Umwertung aller Werte zur Mitte wird, zum Mafstab, zum Hintergrund alles anderen?“, und er findet in der 1961 verdffentlichten Fassung von Heideggers Nietz-
sche-Vorlesungen ,,eine enorme Simplifikation“, die der von Ludwig Klages und Baeumler ,,analog“ sein soll. Jaspers muf freilich einraumen, da Heidegger gerade jene Linien herausarbeite, die fiir Nietzsche selbst von 1881-1888 ,,wesentlich* waren.
Aber er sieht auch sie im Zeichen von Nietzsches ,,Experiment des Erkennenden“ (190f.). Dieser Charakter von Nietzsches Philosophie wird von Heidegger in der Tat kaum beriicksichtigt. Wo jener ,,den Typus dogmatischer Metaphysik als unwillkiirliches Vorbild“ habe, gleitet er nach Jaspers ,,unter voriibergehender Preisgabe
des Versuchscharakters* vom ,,Wesen [...] seines Denkens ab“ (198f.). — Heidegger hatte seinerseits moniert, Jaspers gehe es um Nietzsche nur als Person im Sinne einer
»moralisierenden Psychologie der Existenz des Menschen“, nicht um die Frage nach dem ,,abendlindischen Dasein und unserer Zukunft“ (HGA 43, 26f.). Jaspers notiert dazu, da8 die wechselseitigen Kritiken ,,erst in der Explikation klar“ werden kénn-
ten(Notizen, 209f.). Doch letztlich hat er die Einsicht langst gewonnen: ,, Wir begegnen uns in scheinbarer Nahe unter radikalem Absto8en.“ (229) Wenn er im Blick auf
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bewegung*“ verfolgen, ,,in jeden Winkel“ mitgehen,”’ ,jede Uberwindung“
miterfahren. Solches Dringen in die ,,Tiefe“ ist — in einem vergleichsweise »ungew6hnlichem Mafe - davon abhingig, ob das von Nietzsche Uberlieferte im Druck vollstdndig”' und ,,durch rechtes Beieinander“ dargeboten wird. Die vorliufige Veréffentlichung des Nachlasses in den von den Herausgebern (der GA) bestimmten Ordnungen mu durch eine manuskriptgetreue Wiedergabe ersetzt werden.” Die jene Publikation beherrschende Abzweckung auf ,,méglichst
lesbare Werke“ ist aufzugeben. Nietzsches eigene Ordnungen sollen in der Folge ihrer Aufzeichnung abgedruckt werden, nicht aber ist ,,die eine oder andere
durchzufiihren, da der Grund der Bevorzugung einer Ordnung doch beim Herausgeber, nicht bei Nietzsche lige“.”®
das Nietzscheverstandnis eine mit Heidegger ,,gemeinsame [...] Ubergangsposition“ konstruiert, so findet er ein Auseinandergehen ,,nach radikal verschiedenen Richtungen“ mit nur scheinbaren ,,Entsprechungen“, in denen jede der Positionen als ,,ein Zerrbild oder Umdrehung oder Davonlaufen“ gegeniiber der anderen erscheint (193f.). Aus seiner Sicht ist Heidegger mit der Kehre zur Seinsgeschichte in eine Gnosis gefliichtet. Seine Uberwindung der Metaphysik, insbesondere der Nietzsches, vollziehe sich »durch Einverleibung und Uberschreiten“ der groBen Philosophen (194). Heideggers Verstehen subsumiere die Denker unter die ,,schon eingenommenen Positionen* in einem ,,Zugreifen, das dem Autor mit der Originalitat auch die Urspriinglichkeit abspricht“ (212).
”
Vel. WzM 1031 (Nachla8 1887, KGW VIII 2, 9 [177], 104): ,.Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben —
aw
Auch von den bei Nietzsche zutage tretenden ,,endlosen Wiederbolungen“ la&t sich
mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Gliick.“
Jaspers so wenig, abschrecken, daf er alles, ,,was Nietzsche irgendwann aufschrieb, gedruckt“ wissen will, ,um sein Denken zuginglich zu machen“. Bei den Wiederholungen ist eigens ,,den Modifikationen nachzugehen, durch welche der Grundgedanke
seiner platten Fixierbarkeit beraubt wird, die er in einzelnen Satzen annimmt“. Welche »Sachen“, ,,die hundert Zitate zu einem Thema méglich machen, welche anderen dagegen vielleicht durch nur eine einzige Stelle Gewicht erhalten“, bedarf der Konstatierung. ,,Erst die bewufte Kenntnis der Wiederholungen macht bereit fiir das Bemerken solcher einmaligen Satze“ (17f.). — Auch die BAW wollte ,,in genauer zeitlicher 92
Folge“ alle Wiederholungen Nietzsches bringen (Emge, Vorwort I, 1, XI). Da8 im Falle von Der Wille zur Macht die Ordnung ,,teilweise“ von Nietzsche stammt, lat ihn nicht zégern, die Auflésung des ,Werkes‘ zu fordern. ,,Mir scheint, daG sogar die Trennung des ,Willens zur Macht‘ von dem in den Banden 13 und
>
14 (sc. der GA, erg. M-L) wiedergegebenen Nachlaf, ferner die Ordnungen innerhalb der Bande nicht klarend wirken.“ So argumentiert auch schon Emge im Vorwort zur Gesamtausgabe (BAW I, 1,
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Der Wille zur Macht als Buch
Die Prinzipien der chronologischen Folge (ohne Riicksicht auf »mangelnde[n] Ordnung*)"* und der Vollstdndigkeit bilden die Grundpfeiler fiir Jaspers Vorstellung von einer Neuausgabe des gesamten und nicht nur des spiten Nachlasses, welche neben den von Nietzsche selbst veréffentlichten Schriften durch eine kommentierte Briefausgabe (die Briefentwiirfe einschlieSend) und eine Ausgabe von Berichten von Zeitgenossen Nietzsches erganzt werden
sollte.* Erst mit ,,diesen drei umfassenden, Vollstandigkeit erfordernden
Ausgaben“ wire die ,,Grundlage fiir ordnende Ausgaben“ hergestellt, die Jaspers fiir nétig ansieht, ,,um den einzelnen sachlichen und persénlichen Zusammenhiangen nachgehen zu kénnen“.”* Man wiirde sich taéuschen, sihe man in VIII): ,,Jede Auswahl, auch wenn sie mit sorgsamster Uberlegung vorgenommen wird, ist dem Einwand der Subjektivitit des Herausgebers ausgesetzt.“ Jaspers‘
» Wiinschbarkeiten“ entsprechen iibrigens in wesentlichen Punkten dem schon1934 vom wissenschaftlichen Ausschuf verdffentlichten risch~kritische Gesamtausgabe (BAW und BAB). 94
,Programm‘
der histo-
“Die Reihenfolge, in der Nietzsche sich seine Gedanken aufschrieb, ist wesentlich,
und soweit cine Anschauung mdglich ist, sollte sie nicht gestért werden.“ Jaspers kennt natiirlich den haufig vorgebrachten Einwand (er ist noch 1964 von Baeumler gegen Schlechta unter Berufung auf Otto Wei ins Feld gefiihrt worden, s. die spatere Fassung des Nachworts zu: Der Wille zur Macht, a.a.O. [Anm. 19], 1960, 700
ff), da& diese Folge ,,wegen ungeniigender Kenntnis oder Feststellungsméglichkei-
ten unterbrochen werden mu&*“. Aber sie soll in jedem Falle erstrebt werden. (Jaspers erwagt sogar eine ,,Faksimilepublikation“ und verwirft sie nur wegen der »schweren Lesbarkeit“.) 95
Mit der Forderung nach Briefen und Zeugnissen tiber Nietzsche geht Jaspers noch
iiber die von Emge fiir die BAW geforderten vollstandig und chronologisch (“ohne Gruppierungsversuche“) geordnete Edition des gesamten Nachlasses (einschlie8lich der Juvenilia und der Philologica) - au®er den Schriften und Briefen — hinaus. Freilich hatte der bis 1935 unter Emge zustindige wissenschaftliche Ausschu8 der BAW damit mehr versprochen, als er gehalten hat bzw. halten konnte. Geleitet
wird der damalige Ausschu8 von der Einsicht, da8 selbst ,,in erster, fliichtiger Form“ hingeworfene Aufzeichnungen Nietzsches bedeutungsvoll sein kénnen, da niemand wissen kénne, ,,welche Seiten der so reichen und vielseitigen Ideenwelt Nietzsches in 10 oder 20 Jahren im Vordergrund des Interesses stehen werden“.
Emge verweist darauf, daf Nietzsche ,,heute die Aufmerksamkeit des Psychologen, Biologen, Rechtslehrers, Kulturhistorikers“ finde (BAW I 1, XI, VIII). 96
Auf dieser Grundlage waren also auch Editionen unter bestimmten Gesichtspunkten vertretbar, z.B. eine metaphysikgeschichtlich orientierte im Sinne Heideggers. Dieser hat sich jedoch aus seinem Verstindnis von Wissenschaft heraus gegen historisch—kritische Editionen gewandt, die er als vor—stellende Vergegenstiindlichungen von erklar— und tibersehbaren Wirkungszusammenhiingen, die nicht zum
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Der Wille zur Macht als Buch
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solchen Erweiterungen der Nietzsche—,ErschlieSung‘ nur ein vorwiegend psychologisches oder biographisches Interesse (das in einem anspruchsvollen Sinne auch vorliegt”’). Jaspers geht es um die Einsicht in Nietzsches Philosophie, fiir die er seine eigenen Voraussetzungen eines Zugangs mitbringt. Die von ihm unter den ,,Wiinschbarkeiten* beschriebene ,,Aufgabe“ sieht er als »so nur bei Nietzsche“ gegeben an. Hier gilt es, ,nicht das System aus der Verschiittung herauszubringen und das Andere als Schutt liegen zu lassen“, sondern auf ein ,,Ganzes“ aus zu sein, das ,,sich nicht runden kann“ (also kein
Ganzes ist, wie Baeumler behauptet!) und gleichwohl auf nur scheinbar endlosen Wegen philosophische ,,Grundméglichkeiten“ sichtbar werden lassen soll.
7. Karl Léwith und die Philologie Karl Léwith hat sich schon in der zweiten Halfte der dreiSiger Jahre und
spater von Ende der fiinfziger Jahre an im Kampf gegen die Anspriiche der Nietzsche—Philologie befunden. Zu den editorischen Vollstandigkeitswiinschen von Jaspers steht er in schroffem Gegensatz. So sieht er in der ,,liickenlose[n] Ver6ffentlichung* von ,,simtlichen philologischen Notizen, Vorarbeiten, Entwiirfe[n] und Plane[n]“ Nietzsches in BAW eine Gestalt jener ,,alexandri-
nischen Expansion“ am Werke, gegen die der Philologe Nietzsche selber schon angetreten sei. Eine Materialausbreitung, die in der Verifikation von Zitaten zur ,,Philologie der Philologie“ wird, kénne zwar fiir professionelle Philologen von Interesse sein. Wenn aber nun auch ,,von philosophischer Seite“, niamlich von Jaspers, ,,die vollstandige Publikation alles nur iiberhaupt vorhandenen Materials“ gefordert werde, so kénne sich ,,der Zweifel an der Notwendigkeit dieses Uberflusses an Philologie nur noch auf Nietzsche selbst berufen“.”* Es ,Eigentlichen‘ fiihren k6nnen, ansieht (verwiesen sei hier nur auf seinen Vortrag Die Zeit des Weltbildes von 1938, HGA 5, 75-113, hier: 82ff.). Zu seiner Kritik
an dem Vorhaben von BAW und BAB s.o. S. 347f. 97
Z.B. in seinem Nietzsche—Buch, a.a.O. [Anm. 87], 38ff.
98
Zur neuesten Nietzsche—Forschung, in: Theologische Rundschau. N.F. 10 (1938), 187-199, SS 6 [Anm. 32], 493-504, hier: 499f. - Lowith kritisiert Jaspers‘ Auffassung »des scheinbar so vieldeutigen Nietzsche“, in der sich dessen ,,Rangordnungen des natiirlichen Lebens zu ,Méglichkeiten‘ der Existenz“ verwandeln. ,,Wo Nietzsche ein eindeutiges Ja oder Nein festsetzt, kann Jaspers nur dogmatische Verfestigungen einer transzendierenden Bewegung erkennen.“ (500-503). — Léwith hat in seinen Jaspers—Rezensionen von 1932 und 1933, also schon vor dem Erscheinen von dessen
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verwundert dann nicht, wenn Léwith, nach der Ver6ffentlichung der beiden Nietzsche—Bande Heideggers (1961), in seiner Rezension von Nietzsche—Literatur 1964 schreibt, Heidegger habe, was immer man gegen seine Nietzsche—Deutung vorbringen kénne, darin ,,véllig recht: da das historisch—kritische Aufspiiren alles nur Auffindbaren, sowie alle biographisch—psychologischen Daten, eine Ausgeburt des neunzehnten Jahrhunderts ist und die sachlichen Fragen, vor die Nietzsches Denken uns stellt, nicht férdert, sondern lahmlegt*.” Schon
1938 hat Léwith die Frage aufgeworfen, ,,ob sich eine histo-
risch—kritische Ausgabe von Nietzsche nicht an dessen eigenem Begriff von kritischer Historie orientieren miifte“. Doch bleiben seine Forderungen an eine Edition, ,,welche sich aus Nietzsches eigener Philologie und Philosophie ergeben“ kénnen sollen, im dunklen. Méglicherweise waren sie nicht weniger
problematisch als die von Heidegger angedeuteten Vorstellungen fiir die Edition von Nietzsches Spatwerk. Wenn es sich fiir Lowith ,,gar nicht von selbst versteht, ob eine nach den kritischen Mafstaben der historischen WissenNietzsche-Buch, Nietzsches ,natiirlicheres‘, ,zesiinderes* Verstindnis von ,allgemeiner
Menschlichkeit‘ gegen Jaspers’ Verinnerlichung des Selbstseins ins Feld gefiihrt (Existenzphilosophie, in: Zeitschrift fiir deutsche Bildung 8, 1932, 602-613; Die geistige Situation der Zeit, in: Neue Jahrbiicher fiir Wissenschaft und Jugendbildung 8, 1933, 1-10. SS 8, 1-18, 19-31, hier insb. 16f., 30f.). Weil es das Existieren fundamentalon-
tologisch ,,bruchlos“ aus der Immanenz der In—der—Welt-seins begreift, wird Heideggers Sein und Zeit der transzendenzbezogenen Existenz von Jaspers’ Philosophie mit positivem Vorzeichen entgegengesetzt (SS 8, insb. 11f., 25f. [Anm. 3]). Jaspers hat
noch im (spateren) Heidegger—Kritiker Lowith ,,eine[...] abhangige Schiilernatur“ gesehen und Léwiths Nietzsche-Deutung mit der von Heidegger und Baeumler als unkritisch-metaphysische Auslegung zusammengestellt (Notizen [Anm. 89], 203, 192). Léwith hat aber nicht nur gegeniiber Jaspers, sondern auch gegeniiber Heideggers anthropologischer Einengung mit einem gewissen Recht den umfassenden ,Biologismus‘ von Nietzsches Auffassung des Willens zur Macht geltend gemacht (Heideggers Vorlesungen tiber Nietzsche, in: Merkur 16, 1962, 72-83, SS 8, 242-257). Freilich ist er selbst trotz der ihn von frith an bestimmenden Eindriicke vom ,,Wunder an Organi-
sation“ des Lebendigen bei den ,,mikroskopischen Untersuchungen der Protoplasmastrémungen“ in seinem Biologiestudium (Zi Heideggers Seinsfrage: Die Natur des Menschen und die Welt der Natur, in: Die Frage Martin Heideggers, Heidelberg 1969, 36-49, SS 8, 276-289, hier: 279f.) Nietzsches diesbeziiglichen Erérterungen nicht naher nachgegangen. Er hatte dann die Frage nach der ,Natur‘ nicht von der ,Reflexion‘
auf jene Weise abgeldst, wie er dies den ,Existenzphilosophen‘ gegeniiber getan hat. 99
Rezension
[zweier Biicher von Erich F. Podach], in: Die neue Rundschau 75
(1964), 162-168; SS 526-534, hier: 530.
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schaft gearbeitete Ausgabe iiberhaupt dem Ganzen eines philosophischen Wer-
kes entspricht“, so wire erst einmal der Sinn solcher Rede von und Frage nach ,Entsprechung‘ zu klaren, — von der Problematik eines Werk-,Ganzen‘ bei
Nietzsche ganz abgesehen. Ein definitives Urteil tiber die kritische Ausgabe
werde man sich erst bilden kénnen, schreibt Lowith, ,,.wenn auch der erweiterte Nachla& in neuer Anordnung vorliegt. Besonders die Neubearbeitung des
Willens zur Macht diirfte neben dem unerliflichen Kommentar zum Zarathu-
stra den Hauptherausgebern eine nicht geringe Aufgabe stellen.“ In beiden
Fallen, von denen hier nur der erste interessiert, trigt er freilich eigene (unklar bleibende) philosophische Erwartungen an eine solche Ausgabe heran. Bei
den Herausgebern von BAW ist lediglich von einer kritischen Edition des »Willens zur Macht‘ in einem Sonderband die Rede,'™ nicht von einer ,Neubearbeitung‘*, wie sie vielleicht von Heidegger angestrebt wurde. Von einer manuskriptgetreuen Grundlegung des Nietzsche—Nachlasses, die nach Jaspers
erst die Voraussetzung fiir ,ordnende Ausgaben‘ bilden soll, halt Lowith nicht
viel. Einer neuen Anordnung* auf historisch—-kritischer Basis wird er mit jenen Vorbehalten entgegengesehen haben, denen er spiter gegen Schlechtas ,chronologische Umstellung‘ der Texte des , Willens zur Macht‘ Ausdruck gegeben hat. Léwiths positives Verhaltnis zur Wille—zur—Macht—Kompilation aft sich aus seinem philosophischen Verstandnis von Nietzsches spatem Nachlaf her klaren. Daf dessen Philosophie ein ,,System in Aphorismen“ bilde, ist seine Grundthese, die es ihm gestattet, sowohl das Unbegriindete oder Unentfaltete einzelner Ausfiihrungen als auch die innere Einheit von Nietzsches Denken zusammenzusehen. Daf dieses sich im Wandel von ,Perioden‘ darstellt, markiert ,,das Ganze“ einer ,,Bewegung“, die sich ,,im Kreise riicklaufend schlieft“.!°? Dabei wiederholt die Lehre von der ewigen Wiederkehr die Geburt 10 Zur neuesten Nietzsche—Forschung, a.a.O. [Anm. 98], 497, 498, 494. — Daf Léwith im Blick auf Richard Oehlers ,Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft‘ (1935) zutreffend von einem ,,Nebeneinander einer es buchstablich nehmenden Nietzsche—Philologie und einer willkiirlichen Nietzsche-Deutung* spricht, fiir welche es ,,iiberhaupt kein verpflichtendes Wort mehr gibt, sondern nur verwendbare Ausspriiche“, namlich ,,in zeitansprechenden Auswahlen“ (498), ist ein offenes Wort, das nicht nur auf Oehler (und n.b. nicht nur auf den Umgang mit Nietzsche) zutrifft. (Vgl. auch Léwiths Rezension von Oehlers Buch in: Zeitschrift fiir Sozialforschung, Paris, 6 (1937), 405-407: SS 6, 492.) '' Jedenfalls nach dem ,offiziellen‘ Vorbericht Mettes, vgl. Anm. 13. ' Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, SS 6, 111-123. -
Léwith zieht gern die Ausfiihrung Nietzsches im Brief an Heinrich Késelitz vom
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Der Wille zur Macht als Buch
der Tragédie; die Umwertung betrifft den ,,, Wert des Daseins' als solchen und im Ganzen‘; sie lauft auf ,,die Umkehr des Willens zum Nichts — des Nihilismus‘ — zum Wollen des Seins der ewigen Wiederkehr des Gleichen“
hinaus.'® Léwiths Interpretation versucht ,,Nietzsches Aphorismen im verborgenen Ganzen ihrer eigentiimlichen Problematik nach ihrem philosophischen
Grundrif zu begreifen*. Im , Willen zur Macht‘, dem ,,unvollendet gebliebeund nach dem ,Zarathustra‘ ,,zur vollen nen Hauptwerk“, sollte, was mit "0 : : «ce 105 Entfaltung“ gelangt ist, ,,allseitig systematisch entwickelt werden“. 8. Die Kontroverse zwischen Léwith und Schlechta
Damit sind die Voraussetzungen genannt, unter denen Léwith die Auseinandersetzung mit Karl Schlechta fiihrt, der in seiner Nietzsche—Ausgabe von 1956 die Legende vom , Willen zur Macht‘ als dem ,Hauptwerk‘ des Philoso-
phen zerstdren will. Der Nachlaf ist fiir Schlechta ,,kein zufalliger Nachlag“,
er ist vielmehr das Ubriggebliebene und Uberfliissige, in dem nichts anderes zu finden sein soll als im von Nietzsche selbst verdffentlichten Werk, — dassel-
be in zum Teil vergréberter Form. ,,Was Nietzsche zu sagen hatte, das hat er vernehmlich gesagt.“!* Deshalb hat Schlechta zufolge auch Der Wille zur
Macht ,,nichts Neues“ gebracht.'”’ Doch er ediert nun gerade die Texte, die 22.12.1888 nach der Lektiire von Die Geburt der Tragédie, er habe ,,die absolute Uberzeugung, da Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, — Alles Eins ist und Eins will“ (KGB III 5, 545), als Beleg fiir das verborgene System“ (123) heran (z.B. 113, 121, noch in der Podach—Rezension von 1964: SS 6, 529).
8 SS 6, 129f., vgl. damit Léwiths Ausarbeitung des Verhiiltnisses von Antike und Moderne bei Nietzsche: a.a.O., 238.
4 SS 6, 104. S Nietzsches ,Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‘, 1959, SS 6, 427. 96 SA III (1954), Nachwort, 1433-1438. - Schlechta zieht die Grenzen des wesentlichen Werkes Nietzsches sehr eng. Unter Nietzsches ,eigentliche Schriften‘ zahlt er
die ,,zwischen 1878 und 1889“ von diesem selbst veréffentlichten Biicher (also von
Menschliches, Allzumenschliches an) bzw. »eindeutig fiir die Verdffentlichung bestimmten Werke“, — Zum angeblich nur ,landlaufigen‘ Nachla&, s.a. Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 75,
'” SA III, 1403ff. — Schlechta weist hier darauf hin, da er nicht der erste sei, der »vom Inhalte des ,Willens zur Macht‘ gewissermaGen enttauscht worden“ sei, und
verweist dafiir auf die Ausfiihrungen von Albert Lamm in der Septembernummer
der ,Siiddeutschen Monatshefte‘ von 1906. — Da8 im Nachla8, soweit er ,,noch gar
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in dem ,,.Machwerk“'* von 1906 veréffentlicht worden sind, in seiner Ausgabe
unter dem Titel Aus dem Nachlaf der Achtzigerjabre. Er macht die Leser seiner Ausgabe darin nur mit jenen Stiicken des spiten Nachlasses bekannt, welche
die Kompilatoren ausgewahlt hatten. Deshalb kénnte man die Frage an ihn
selbst weiterreichen, die er diesen gegeniiber aufwirft: , Warum man nicht
auch noch, bei der einmal beschlossenen Grofziigigkeit, die 1435 Aphorismen Aus der Umwertungszeit‘ — s. GA XIII (1903) u. XIV (1904) 3-253 — mit
eingeordnet hat, ist nicht recht erklarlich“.!”
nicht oder nicht einwandfrei entziffert“ worden ist, insofern es ,noch unbekannte
Texte darin“ gibt, sich doch ,Neues‘ finden kénnte, schlieSt Schlechta vorsichtigerweise nicht aus (1405). — Schon von Menschliches, Allzumenschliches an findet er »eine merkwiirdige Monotonie in der Gesamtaussage“: ,,bei aller Mannigfaltigkeit und Brillanz der Formulierungen“, auch bei aller unheimlichen Rasanz ,,im Gefille des Ausdrucks“ der spaten Arbeiten (SA III, 1433-1435). — Auch Léwith hatte in seiner systematischen Nietzsche—Lektiire weniger ,,iiber den bunten Reichtum seiner wechselnden Perspektiven* Erstaunen geauGert, als vielmehr ,,iiber die Bestandigkeit und sogar Einténigkeit seines philosophischen Problems“ (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft, a.a.O. [Anm. 102], SS 124). Es hei&t sogar bei ihm, der ,Wille zur Macht‘ enthalte gegeniiber dem ,Zarathustra‘ ,,nichts prinzipiell Neues“. Damit bringt er jedoch nur zum Ausdruck, daf die Umkehrung
des Nihilismus in diesem Werk schon vollzogen sei. Aber ,Zarathustra‘ bleibt fiir ihn ,,die unumgangliche ,Vorhalle‘ zu der unvollendeten Umwertung aller Werte“ (175f.). Deshalb sagt er gegen Schlechta, der Nachla& der achtziger Jahre prazisiere »mit einer sich steigernden Scharfe und Umsicht [...], was Nietzsches Denken von
Anfang bis zum Ende bewegt hat“. Im iibrigen sei die von jenem ,,bemerkte ,Monotonie‘ der Gesamtaussage fiir alle grofen Denker charakteristisch [...], die etwas
Neues zu sagen haben“. Dariiber hinaus verweist er darauf, da ,,schon die wenigen Seiten des Nachlasses iiber die , Heraufkunft des Nihilismus‘ und die abschlieSende Kennzeichnung der heraklitisch-dionysischen ,Welt* etwas besagen, was Nietzsche in seinem Werk noch nirgends gesagt hat“ (Zu Schlechtas neuer Nietzsche-Legende, in: Merkur 12 (1958), 781-784, SS 6, 513-517, hier: 516, 514f.,
515f.). Da& die Kompilatoren sowohl Nietzsches Aufzeichnung iiber den europaischen Nihilismus zerstiickelt (vgl. hier Anm. 5) als auch ihrerseits mit Aph. 1067
einen ,Abschlu&* des , Willens zur Macht‘ gesetzt haben, ist fiir Lowith ohne erhebli-
che Bedeutung. 108 109
Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 11. Philologischer Nachbericht, SA II], 1396. - Wenn Schlechta schreibt, eine histo-
risch—kritische Gesamtausgabe sei ,,.nirgends erstrebenswerter als im Falle N.“, so nennt er dafiir nur einen prohibitiven Grund: ,,Schon deshalb, weil nur durch eine philologisch einwandfreie Wiedergabe die Pseudowerke als solche evident gemacht werden kénnen* (a.a.0., 1404f.).
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Der Wille zur Macht als Buch
Freilich ist Schlechta von der Uberzeugung der philosophischen Bedeutungslosigkeit des (in GA publizierten) Nachlasses derart durchdrungen, daf er die Wille—zur—Macht-Stiicke nur in seine Ausgabe aufnimmt, um den Mythos,
um die Legende vom Hauptwerk zu zerstéren. Um diese und nicht um Nietzsches Nachla& selbst geht es ihm. So sollen die ,, NachlaS—Enthusiasten* Gelegenheit erhalten, ,,die Texte losgelést von allem Sensationellen des Haupttitels und der Zwischentitel, losgelést von der Hauptwerk—Ambition zu lesen“. Er nimmt
nur auf, ,,was zu einem — meist verhangnisvollen — geschichtlichen Gewicht gekommen ist“.'’” Damit verbaut er sich die Alternative, die ihm Eckhard Heftrich vorgehalten hat: Wenn denn die Kompilation am ideologischen Mi&brauch des Philosophen Mitschuld trage, ware es dann ,,nicht gerade die erste Aufgabe eines Herausgebers, jenen Nietzsche in den Vordergrund zu bringen, der wegen der mangelhaften oder auch verkehrten Publikation seiner nachgelassenen Notizen nicht zur Wirkung kam?“'' — Den Anspruch, ,,durch eine manuskriptgetreu—chronologische* Anordnung fiir die im , Willen zur Macht* zusammengestellten Aufzeichnungen ,,die Ausgangssituation wieder herzustellen*,!” hat Schlechta nicht eingelést. Seine Ausgabe hat neue Verwirrung
gestiftet und eine kritische Gesamtausgabe noch dringlicher werden lassen.” "© Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 75, 88, 12. "1! Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm.18], 291. -— Zu Heftrichs grundsatzlicher Kritik an Schlechta s.a.: Zu den Ausgaben, a.a.O. [Anm. 3], 130.
‘2 Philologischer Nachbericht, SA Ill, 1393. Dabei ist der ehemalige Archivleiter, dem die Weimarer Bestande nicht mehr zuganglich waren, auf das Verzeichnis der Fundstellen (in GA XVI von Otto Weif), 480-496, und auf die Konkordanz von
H. J. Mette in BAW (I, Sachlicher Vorbericht, CXXIII-CXXV) angewiesen gewesen. — Heftrich bemerkt hierzu: ,,Selbst wenn man die sog. geschichtliche Wirkung fiir ein echtes Kriterium der Auswahl halt, mu& man den Leser doch dariiber
aufklaren, wie sich diese Auswahl vor dem Hintergrund der ganzen nachgelassenen Notizen ausnimmt— nicht im Hinblick auf den Inhalt, sondern auf die Reihenfolge, wie sie in den Notizbiichern Nietzsches gegeben ist. Ein manuskriptgetreuer Abdruck hat nur dann einen Sinn, wenn er, zugespitzt gesagt, wirklich ein solcher ist, d.h. wenn der Leser nicht unentwegt von dem Zweifel geplagt wird, ob am Ende an dieser und jener Stelle in den Manuskriptheften Nietzsches nicht eine Notiz sich anschlieft, die, wenn tiberhaupt gedruckt, irgendwo in den anderen
Banden der GA, vor allem in XIII und XIV, gesucht werden mu&.“ (Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 18], 292f.) "3" Auf der Grundlage der Anmerkungen (des Apparats) von Otto Weiss (auf die Schlechta
nur héchst unzulinglich hinweist: Philologischer Nachbericht, SA III, 1403) hatten Colli und Montinari ,,einige unbegreifliche Versiumnisse Schlechtas beseitigen k6nnen‘, als sie Anfang der sechziger Jahre eine italienische Ubersetzung von Nietzsches Werken
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Voraussemungtnd en lbeien onees etnaechtas cicNachldieaedit philoionsophisindschen zum Gegenstand insbesondere seiner Auseinandersetzung mit Lowith geworden
dessen Nietzsche-Buch in zweiter Auflage ebenfalls 1956 ersch ienen ist. Da sich
fiir Lowith in dem angeblichen ,Hauptwerk* trotz dessen Unabge schlossenheit das Aphorismen—Ganze Nietzsches systematisch ,gerundet* haben soll, kann
er die Herabminderung des ,Willens zur Macht‘ ,,bis zur Belanglosigkeit* nicht
hinnehmen.'” Er fragt: ,,Bedeutet die Unterscheidung der von Nietzsche selbst
verffentlichten Werke von dem aus Notizheften zusammengestellten Nachlaf, daf dieser philosophisch bedeutungslos ist und nur aus zusammenhanglosen
Bruchstiicken, Abfall— und Nebenprodukten besteht, die in keiner Weise darauf
hinweisen, daf sie als Bausteine fiir ein systematisches Hauptwerk geplant und gedacht wurden?“' Wenn Schlechta ,,den Gehalt des nur bruchstiickhaft vorliegenden Willens zur Macht fiir sachlich uninteressant halt“, so miifte er dieses Urteil ,,auch auf den vollendeten Antichrist ausdehnen, weil dieser und Nachla& planten. Freilich erwies die griindliche Einsicht in die Ausgaben, daf die Priifung der Nietzsche—Manuskripte in Weimar die unabdingbare Voraussetzung fiir eine vertretbare Edition war, - welcher Anspruch die beiden italienischen Herausgeber dazu veranlafte, selber den ganzen Nachla& herauszugeben und eine kritische Gesamtausgabe vorzubereiten. (Montinari, Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche lesen, a.a.O. [Anm. 4], 17-21) — Wesentliche Versiumnisse Schlechtas hatte schon Heftrich herausgestellt: jener hat ,,noch weniger
getan, als er selbst programmatisch als Grundbedingung ansetzt: die Eliminierung aller Eingriffe von fremder Hand. Die Eliminierung ist selbst dort, wo sie ohne Einblick in die Handschriften méglich gewesen ware, #icht immer erfolgt“ (Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 18], 291f., bezogen auf Schlechta: 12). In der Tat hat Schlechta es an Sorgfalt hinsichtlich der ,,Zwischentitel fehlen lassen: entgegen seiner Aussage (Philologischer Nachbericht, SA III, 1403, 1405). Wenn er schreibt, in seiner Ausgabe fehle keine Zeile, kein Wort des Textes von Der Wille zur Macht; ,,nicht beriicksichtigt wurden allein jene Zwischen— und Einzeltitel, welche nach dem klaren Zeugnis der Herausgeber nicht von Nietzsche stammen“ (Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7],
105), so ist er im entgegengesetzten Sinne ungenau gewesen: Er hat z.B. Einzeltitel, die nicht von Nietzsche stammen — wie den Zwischentitel Recapitulation — von Gast iibernommen. Dessen Ausscheidung ware nicht nur unter den ihm gegebenen Bedingungen méglich und im Sinne seiner Edition konsequent gewesen, sie hitte damals auch, noch oder schon, Wirkung fiir die philosophische Interpretation zeitigen konnen,
4 Rezension von: Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, in: Philosophische Rundschau 7, 1959, 119-125, SS 6, 518-523, hier: 518.
"5 Wille zur Macht‘ —ja oder nein? - Zu einer neuen Nietzsche—Ausgabe, in: Berichte und Informationen, Salzburg 4.3.1958, 13, SS 6, 511.
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in den Umkreis der ,Umwertung aller Werte‘ aus dem Prinzip des Willens zur Macht gehért“."* Diese Ausfiihrungen zeigen, da Léwith die Kompilation und das ,Prinzip* bzw. das Interpretament ,Wille zur Macht‘ in eins setzt. Die
in seinem Entwicklungsgedanken steckende Voraussetzung, erst im spaten Nachla& komme Nietzsches Denkbewegung an ihr systematisches Ziel, ist
aber nicht einmal fiir seine eigene Nietzsche—-Deutung unentbehrlich.'”
"6 Zu Schlechtas neuer Nietzsche-Legende, a.a.0. [Anm. 107], SS 6, 523. — Daf schon die Rede von Bruchstiicken Zusammenhang suggeriert (von dem Léwith allerdings ausgeht), hatte (wie oben dargelegt) schon Heidegger gesehen. Jaspers hat den
Anblick yon Nietzsches Werk“ im Gleichnis einer gesprengten Bergwand wiederzugeben versucht, deren Steine, ,,bereits mehr oder weniger behauen, [...] auf ein Ganzes“, ein ,,Bauwerk“ weisen, das aber , nicht errichtet“ ist. Der ,, Triimmerhaufen“ scheint aber — freilich uneindeutige — ,,Bauensméglichkeiten“ freizugeben (Nietzsche, a.a.O. [Anm. 87], 9f.). - Schlechta hat Rudolf Pannwitz‘ Behauptung,
Der Wille zur Macht sei das ,,als solches bezeugte aber nicht vollendete [...], teils aufgebaute teils zu erschlieSende Hauptwerk“ Nietzsches unter Destruktion einiger von jenem gebrauchten Begriffe widersprochen. Er hat dargelegt, man kénne von den Nachla¬izen weder wie Pannwitz von ,,Triimmern“, noch von ,,Abspaltungen“ sprechen. Auch haben wir nicht teils Aufgebautes, teils ErschliefSbares, son-
dern weniger: ,,ein ganz lockeres, weitmaschiges Gespinst ganz und gar problematischer Natur“ (Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 102, 110). Dieses Wenige —
Nietzsches Grundgedanken - gestattet es allerdings, daf& seine Aufzeichnungen zu ,Ganzheiten’
von
,Organismusverbanden‘
,,zusammenschieSen“
kénnen,
wie
Schlechta im Blick auf die veréffentlichten Aphorismenbiicher schreibt. Oder mit einem anderen
,,Gleichnis“ gesprochen:
,,aus der Mutterlauge
kristallisiert ein
Werk aus“ (Philologischer Nachbericht, SA Ill, 1400). Die Mutterlauge, das weit-
maschige Gespinst: mit dem Hinweis auf sie vollzieht Schlechta den Riickgang von den Texten auf sein Verstandnis des ,,Gesamtwerkes“ Nietzsches, das sich ihm in dessen ,,bleibenden Themen“ als ein ,,aufs innigste in sich zusammenhangende[r] Komplex“ darstellt. Im Nachwort zu seiner Ausgabe (SA II! 1438-1440) spricht er von diesem Komplex ,,als einem Gewebe gleichnishaft*, das von bestimmten »Vorstellungen“ als ,,zusammenhaltenden Faden“ durchzogen wird. Schlechta faft
sein Verstindnis des ,,Gesamtwerkes“ Nietzsches in drei allgemeinen Punkten zusammen. Von dessen ,Einheit‘ kann auch bei ihm gesprochen werden, darin liegt die Differenz zu Léwith nicht. Dieser denkt konkreter, differenzierter, orientiert sich an einem Entwicklungsschema, in das er das Buch ,Der Wille zur Macht‘
integriert. Im Rahmen der abstrakteren Vorstellungen des ,einheitlichen Denkens‘ Nietzsches, auf die Schlechta abhebt, bietet der spate Nachla& nichts Neues.
17 Erst in seiner Rezension zu: Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 114], SS 6, 519, moniert Lowith, da ,,umfangreiche andere Nachlaffragmente, z.B. zu einem weiteren Teil des Zarathustra“ in ,,Schlechtas NachlaSband“ fehlen. Gegen
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Die genannte Verwirrung in der entstandenen Kontroverse sei durch weitere Ausfiihrungen belegt. Auch Schlechta unterscheidet nicht hinreichend zwischen Werk und Sache. So schreibt er, ,,mit dem , Willen zur Macht! als der eigentli-
chen Lehre, als dem systematischen Hauptwerk Nietzsches ist es nichts.“!"8 Als ob jene Lehre nur mit diesem Werk Giiltigkeitsanspruch erheben kénne hatte Léwith gefragt, ob die Planung eines systematischen Hauptwerks durch Nietzsche ,,wirklich eine ,Legende“ sei. ,, Widerspricht dem nicht Nietzsche
selber, der die Formel vom , Willen zur Macht‘ nicht nur als Schlagwort gepragt, sondern auch allseitig durchdacht, entwickelt und unermiidlich wie-
derholt hat? Und wie hatte Nietzsche den Zarathustra als eine ,Vorhalle‘
bezeichnen kénnen, wenn er nicht jenen Hauptbau geplant hitte [...]?“"” Die Frage nach der ,Sache‘ ist dabei eingeschoben in zwei Fragen nach dem , Werk‘ oder dem ,System‘. Gegen den auch an anderer Stelle von Léwith gegen Schlechta erhobenen Vorwurf, er verbreite ,,die neue Legende [...], da es den Willen zur Macht als ein von Nietzsche gestelltes und durchdachtes Problem
von weitester Herkunft und grof8ter Tragweite nicht gebe“,’”° wehrte sich dieser in einem Offenen Brief zunichst mit dem richtigen Hinweis darauf, daf er ,,den philologischen Nachweis zu erbringen versucht“ habe, ,,daf es ein von Nietzsche autorisiertes Werk dieses Titels nicht gibt“. Aber schon mit
dem anschlie&enden Satz geht er diesem ,,Umstand“ in unzulanglicher Weise auf den ,,philosophischen Grund“. Er bringt zwei Belege aus Nietzsches Schriften, um darzutun, daf dieser in Jenseits von Gut und Bése ,,fiir einen Gedanken, der tragen soll, nicht sehr zuversichtlich* spreche und daf sich in Zur Genealogie der Moral ebenfalls keine tragfahige Argumentation fiir ihn finde."*' Daf Schlechtas verfehlte These, es gebe bei Nietzsche keinen ,,,echten‘ Nachlaf in dem von ihm bezeichneten Sinn“ hatten sich auch iiberzeugend die von ihm nicht ver6ffentlichten Texte zur Wiederkunftslehre ins Feld fiihren lassen. (Man vergleiche die intensive diesbeziigliche Auseinandersetzung Heideggers mit GA, oben: S. 347f.) Aber Léwith ist im wesentlichen auf die ,Rettung* der Kompilation fixiert geblieben, weil er sie in die eigene Interpretation als systematische Endstation eingebaut hatte. 8 Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 75. "9 Wille zur Macht‘ — ja oder nein?, a.a.O. [Anm, 115], SS 6, 511. 120 7 Schlechtas neuer Nietzsche—Legende, a.a.O. [Anm. 116], SS 6, 515. — Auch hier nimmt Léwith die Vermischung von Sache und Werk vor, wenn er ausfiihrt, ,,daf der ,Wille zur Macht‘ kein bloSer und dazu irrefiihrender Titel ist und noch
weniger eine Erfindung des Nietzsche—Archivs, sondern ein sachlich angemessener Inbegriff fiir ebenso bedeutungsvolle wie ausfiihrliche Gedankenginge, die alles andere als ,uninteressant‘ sind“, wie Schlechta behauptet hatte.
11 Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 6], 120-122. - Zu Schlechtas beiden Proben s.
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Der Wille zur Macht als Buch
es das Problem des Willens zur Macht bei Nietzsche gibt, kann und will
Schlechta nicht leugnen, aber das Lowithsche Wort ,,durchdacht* will er schon nicht mehr gelten lassen; jedenfalls sei Nietzsche ,,zu einem vorzeigbaren
Resultat“ in dieser Sache nicht gelangt.” Letztere Formulierung spieSt Lowith
in seiner Erwiderung an Schlechta auf: ,,nur ein Lehrer, um nicht zu sagen Oberlehrer“, werde Nietzsche auf derartige Resultate hin abfragen. Die Problematik des von dem Philosophen_,,mit Absicht vollendeten Nihilismus“ werde
von Schlechta simplifiziert. Lowith beendet die nicht tief genug dringende
Debatte mit dem Hinweis auf das fiir dessen ,,Nietzschebild charakteristische
Mi€verhiltnis von Philosophie und Philologie, von Einsicht und Akribie“™’. Hinzuzufiigen ist, da8 er 1964 noch die ,Ubertrumpfung*‘ von Schlechtas
»shistorisch—kritische[m] Scharfsinn“ durch Podach nachmeldet. Dieser hatte
dargelegt, daf Schlechta die Aufzeichnungen des , Willens zur Macht’, die in der Regel in den Heften von hinten nach vorn geschrieben worden sind, nicht manuskriptgetreu, sondern in umgekehrter Folge abgedruckt hat.
Léwith hat hierzu — gegen Schlechtas und Podachs editorische Bemiihungen —angemerkt, es sei _,,gleichgiiltig“, ,ob man die Fragmente des , Willens zur Macht‘ in dieser oder in jener Reihenfolge vorgesetzt bekommt. Um sie interpretieren zu kénnen, bedarf es in jedem Fall eines Verstandnisses ihres sachlichen Zusammenhangs und also dessen, was Schlechta ,Kompilation‘ und Podach ,Redaktion‘ nennt. Es bedarf dazu vor allem der Unterscheidung des Wichtigen und Wesentlichen vom Unwichtigen und Unwesentlichen, iiberhaupt einer ,Auslegung‘.“'** Lowith will demgema@ die genannten Vf., Nietzsches Lebre vom Willen zur Macht, oben S. 33-38.
22 Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 122. 3 Rezension von Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, a.a.0. [Anm. 114], SS 6, 522f. — Montinari hat in derartigen Auseinandersetzungen — er bezieht sich dabei sowohl auf die Briider Horneffer als auch auf Schlechta - eine fiir die Nietzsche—Rezeption nicht untypische Vermengung in der Polemik gesehen: ,,cine typische querelle allemande [...] auf Grund einer noch typischeren niaiserie allemande“. Vermengt wurden die beiden grundverschiedenen Fragen nach dem Willen zur Macht ,,als
philosophische[m] Lehrsatz“ und nach dem ,,,Willen zur Macht‘ als Werk“, als »Buch* (Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukdcs, in: Nietzsche
lesen, a.a.O. [Anm. 4], 176, 175). Die zweite Frage ist endgiiltig geklart, womit die
erste ihre Virulenz nicht eingebiift hat. Diese kann in ihrer Bedeutung freilich nur dann zutage treten, wenn man den gesamten Nachla& Nietzsches heranzieht, sind
doch zahlreiche wichtige Aufzeichnungen Nietzsches zum , Begriff‘ des Willens zur Macht in die Kompilation nicht aufgenommen worden. 4 Rezension zu: Erich F. Podach, a.a.O. [Anm. 99], SS 6, 532.
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Der Wille zur Macht als Buch
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Themenzuordnungen und Unterscheidungen nicht allein dem Nietzsche—Ausleger, sondern vor diesem dem NachlaSherausgeber iiberantwortet sehen. Er hatte schon zuvor ausgefiihrt, die manuskriptgetreue Wiedergabe von Ausfiihrungen (z.B. zur ewigen Wiederkehr) ,,an weit auseinanderliegenden und inhaltlich disparaten Stellen“ — im Gegensatz zu ihrer ,,verhiltnis-
mafig iibersichtlich und sinnvoll* gestalteten Zuordnung ,,in den friiheren
Ausgaben“ — verlange von dem, der ,,den Gedankengang im Zusammenhang sowie in seinen Wandlungen und Briichen verstehen will“, da er selber »zusammensuchen und insofern ,kompilieren“ miisse, ,,was dem Problem nach zusammengehért, und andererseits auseinanderhalten, was zufallig chronolo-
gisch beisammensteht“. Doch kann dem ernstzunehmenden Interpreten nicht erlassen werden,
selber nachzupriifen, in welchen Kontexten Nietzsches Wandlungen und Briiche sich vollziehen. Da& Léwith dies nicht fiir notwendig hilt, hat seinen Grund darin, daf er im ,Willen zur Macht‘ eine festere systematische Fiigung vorgepragt sieht, als dies die kritische Textbetrachtung zeigt. Nietzsches ,opus postumum*“ lat, so schreibt er, ,,in der scheinbar heterogenen Masse
dieser Aufzeichnungen das deutliche Geriist und die Bausteine zu einem
abschlieSenden philosophischen Werk“ erkennen.' Zu Léwiths Kritik an Schlechta bleibt noch nachzutragen, daf er in die von ihm herausgegebene NachlafS—Zusammenstellung Friedrich Nietzsche.
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft erstaunlicherweise einen Auszug aus Schlechtas Aus dem Nachlaf der Achtzigerjabre aufnimmt, dessen ,,Unordnung“!* ihm doch nicht zusagt, — und nicht aus dem Willen zur Macht,
dessen Ubersichtlichkeit er doch schitzt.'*” Er verdffentlicht, damit iiber Schlechtas Edition hinausgehend, anschlieSend Werkplane Nietzsches aus der Zeit von 1882 bis 1888.'”* Auch glaubt er 1964 nicht daran, daf ,,die in 25 Fy Schlechtas neuer Nietzsche—Legende, a.a.O. [Anm. 107], SS 6, 516f. Nietzsches ,Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‘, a.a.O. [Anm. 105], SS 6, 431f.
126 SS 6, 518, 520, vgl. 516.
"27 Fast triumphierend merkt er 1959/60 an, da das ,,Nachlafstiick* Schlechtas (4.1. dessen: Aus dem Nachlaf der Achtzigerjabre) ,,wie bisher, unter dem Titel Wille zur Macht und in der bisherigen Anordnung neuerdings gesondert in der Goldmannbiicherei erschienen“ ist (Rezension: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche, a.a.QO. [Anm. 114], SS 6, 520, Anm.).
28 Frankfurt a.M. 1959, 113-168. Seine Auswahl von Werkplanen und Dispositiohatte nen Nietzsches: 169-178. — Im Streit iiber die Ver6ffentlichung der Plane kritiSchlechta Léwith ,,die Weglassung aller Entwiirfe und Dispositionen“ durch
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Der Wille zur Macht als Buch
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Aussicht gestellte, endgiiltige historisch-kritische Ausgabe in italienischer Ubersetzung, die in der Hand von italienischen Gelehrten liegt“ (sc. G. Colli und M. Montinari), ,das schon laingst aus viclen Nietzsche—Ausgaben
zugiingliche Werk auf ganz neue Grundlagen stellen werde“. Da nach seiner
-und in den sechziger Jahren nicht nur nach seiner —- Meinung Nietzsches Zeit vorbei ist, iuert er die Vermutung, ,,da% Nietzsche endgiiltig reif zur
Sektion sein wird, wenn diese neue Ausgabe fertig sein wird*.’”
_
9. Eugen Fink Wahrend Léwith sich immerhin auf die Kontroverse mit Schlechta um
die Nachla8kompilation eingelassen hat, nimmt Eugen Fink in seinem vielgelesenen Buch Nietzsches Philosophie weder von dieser Debatte noch auch
von Schlechtas Edition iiberhaupt Notiz. Zwar bemerkt er gelegentlich, daf man den Eindruck habe, da8 die Herausgeber von Der Wille zur Macht »Aphorismen aufgenommen haben, die der Sache nach schon im Antichrist, in der Gétzendimmerung, im ,Ecce homo‘ ausgewertet worden sind“. Aber abgesehen davon, da dies ein zwar beachtenswerter, nicht aber ein we-
sentlicher Aspekt hinsichtlich der Authentizitat des sog. Prosahauptwerkes Nietzsches ist, bleibt zu konstatieren, da Fink — wie nicht wenige Nietzsche—Interpreten — immer wieder vergifst, daf es sich nicht um eine Zusam-
siert (SS 6, 517). Schlechta hatte darauf verwiesen, daf die in GA XVI als Anhang
veréffentlichten Plane nur eine Auswahl aus einer Vielzahl von Dispositionen Nietzsches darstellen.
Die willkiirliche Auswahl
sei durch das ,,Vorurteil vom
»Hauptwerk*“ geleitet gewesen; er habe dieses Verfahren ,,aus Gewissensgriinden nicht mitmachen“ kénnen (Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 7], 126). Léwith hilt
dem entgegen, daf diese Plane, ,,nebst einigen Briefen, der wichtigste Beweis dafiir sind, da8 die ,Vorhalle‘ des Zarathustra Vorhalle fiir einen geplant gewesenen Hauptbau ist“ (SS 6, 519). Doch wenn es ihm nur um den Aufweis des Faktums von Nietzsches Dispositionen geht, so verlangt er von einer Nachlafedition zu wenig, wenn er sich auf die vom Vorurteil bestimmte Auswahl bezieht. Er selbst gibt noch weniger, wenn er aus der GA—Auswahl eine noch schmalere Auswahl
publiziert. Freilich ist das von ihm Ausgewahlte von tragender Bedeutung fiir seine
eigene Nietzsche—Interpretation, — Allein die manuskriptgetreue Publikation auch
der Plane kann die Grundlage fiir ein Verstiindnis von Nietzsches wechselnden Vorhaben abgeben. ' Rezension zu: Erich F. Podach, a.a.O. [Anm. 99], SS 6, 533f.
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Der Wille zur Macht als Buch
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menstellung Nietzsches handelt. So formuliert er verbliiffenderweise: ,,Mit dem dritten Buch des ,Willens zur Macht‘ nimmt Nietzsche das im Titel des Werkes genannte Thema auf.“ Oder er schreibt: ,,Erst mit dem vierten
Abschnitt ,Der Wille zur Macht als Kunst‘ gewinnt Nietzsche wieder
Grund.“ Oder er spricht vom ,,letzten Abschnitt, der von der Ewigen Wie-
derkunft handelt“, im Anschlu8 an die Rede von Nietzsches ,,Gedankenwerk“.° Kann die Suggestivkraft, welche die Kompilation ausgeiibt hat
und noch ausiibt, iiberzeugender belegt werden als durch den Hinweis darauf, da ein Philosoph vom Range Eugen Finks zugleich weif, hier war nicht Nietzsche selbst am Werke, sondern spiitere Kompilatoren, und sie zugleich, deren Anordnungen folgend, wie ein Werk Nietzsches behandelt? Die Anordnung der nachgelassenen Texte Nietzsches ist alles andere als
belanglos. Jeder Leser kann die Erfahrung machen, da& Nietzsches Aufzeichnungen sich wechselseitig beleuchten und so auf unterschiedliche Weise erhellen: je nach der Folge, in die sie gebracht werden. Dieselben Texte sprechen anders, wenn man sie in der Zusammenstellung von Férster—Nietzsche und Gast liest oder (um nur ein Beispiel anzufiihren) im
Rahmen der Systematisierung von Friedrich Wiirzbach, welcher noch sehr viel mehr Niederschriften des Philosophen in seine Kompilation einbezieht. Schlechta hat zutreffend von der Vielzahl der kurzen Aufzeichnungen
Nietzsches gesprochen, die ,,nur sehr locker und elastisch“ mit der geheimnisvollen ,,Gesamtintention seines Denkens“ verbunden sind und allein im Falle der ,,Kristallisation“ eines Werks ,,zu einem Organismenverband“ zusammengeschossen sind. Erst darin erhalt der einzelne ,Aphorismus‘ seine
besondere (oft mehrfaltige) Bedeutung oder seinen Bedeutungshof, die aus seiner Stellung zu anderen Texten erwachsen. Schlechta beschreibt, wie bei Nietzsches Werkplanen ,,Niederschriften plétzlich Elemente einer neuen, ganz und gar anders gearteten, engeren oder weiteren organisierenden Konzeption werden“.’* Der Philosoph hat um die besondere Wirksamkeit seines ,aphori-
stischen Stils‘ gewuft, — das Wort ,Aphorismus‘ hier immer in einem unspezi'30 Nietesches Philosophie, Stuttgart 1960, 159, 160, 169. 176. 5! Das Vermachtnis Friedrich Nietzsches. Versuch einer neuen Auslegung allen Geschehens und einer Umwertung
aller Werte, aus dem Nachlaf und nach den
Intentionen Nietzsches geordnet von Friedrich Wiirzbach (1940). Wieder ver6ffentlicht unter dem Titel: Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlaf zusammengestellt und herausgegeben, Miinchen 1969. '? Philologischer Nachbericht, SA Ill, 1400.
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Der Wille zur Macht als Buch
fischen und sehr weiten Sinn genommen.’” ,,Zwischen und hinter“ seinen
»kurzen Aphorismen‘ stiinden ,,in Aphorismenbiichern“ gleich den seinigen ,lauter verbotene [verborgene?] lange Dinge und Gedanken-Ketten“, hat er einmal notiert. Aber er lockt mit ihnen und dem ,Zwischen‘, das durch seine Anordnung entsteht, in seine ,,Hdhle“, die ,,ein Labyrinth oder auch ein
Goldschatz“ sein kann.'** Da Nietzsche weder ein Buch unter dem Titel Der
Wille zur Macht noch unter dem der Umuvertung aller Werte geschrieben hat,
miissen wir uns damit begniigen, den reichen Bestand an ungeordneten Mate-
rialien, den er hinterlassen hat, in der einzig moglichen ,Anordnung* zur Kenntnis zu nehmen, die auf ihn zuriickgeht. Die Ausarbeitung gedanklicher
Verbindungen und thematischer Zusammenhiinge ist Sache der Nietzsche-Interpretationen; die Grenziiberschreitung zur Werkanordnung anstelle von Nietzsche verbietet sich aus Griinden philologischer und philosophischer Redlichkeit.
10. Die Kompilation und kein Ende Der Umgang mit den nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches ist schwierig, der mit den verfehlenden und verfalschenden Ausgaben des Weimarer Archivs dariiber hinaus noch fallenreich und gegebenenfalls fatal, wie sich am Beispiel ihres Kritikers Heidegger gezeigt hat, der an fiir seine Deutung wesentlicher Stelle Peter Gasts Uberschrift als eines Nietzsche—Wortes
aufgesessen ist. Zwei weitere Exempel fiir die Fallen, welche die Kompilation stellt, seien noch angefiihrt. - Baeumler hat im Nachwort zu seiner Ausgabe des Willens zur Macht Nietzsches ,,meisterhafte Charakteristik der ,drei
Jahrhunderte‘ und die geradezu unheimlichen Ausfiihrungen iiber den alten '33 Hier kommt es nur darauf an, die kleineren ,organischen Einheiten‘ mit diesem Wort zu benennen, ungeachtet ihrer Linge oder anderer Verschiedenheiten. —
Heidegger hat schon 1940 auf die Verschiedenartigkeit der im Willen zur Macht zusammengestellten Stiicke hingewiesen. Er nennt: ,,Uberlegungen, Besinnungen, Begriffsbestimmungen, Leitsitze, Forderungen, Voraussagen, Aufrisse lingerer
Gedankenginge und kurze Merkworte“ (HGA 48, 20). Die Aufzahlung ist durchaus nicht vollstandig; wichtig ist z.B., da Nietzsches Exzerpte aus den Schriften anderer Autoren als seine (originalen) Texte Einzug in die Kompilation gehalten haben; dies hat - wohl erst zum Teil — die jiingste Quellenforschung aufgewiesen. ™* Nachla& Juni-Juli 1885, KGW VII 3, 37 [5], 305f.
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Der Wille zur Macht als Buch
371
Gegner Rousseau“ gepriesen.'** Nun sind Nietzsches diesbeziigliche Aus-
fihrungen zum 17., 18.und 19. Jahrhundert nichts anderes als Explikationen seiner Lektiiren von Ferdinand Brunetiéres Etudes critiques sur I'histoire de
la littérature francaise (Paris 1887), wie Montinari und im Anschlu an ihn
Elisabeth Kuhn gezeigt haben.’ Baeumlers These, Nietzsches Kenntnis der
gleichzeitigen franzésischen Literatur sei ,,sehr diirftig“ gewesen,” die seine
»Germanismus‘—Auslegung flankieren sollte, wird damit einmal mehr ad absurdum gefihrt. — Mit dem zweiten Exempel gehen wir auf Gilles Deleuze ein, schweifen also kurz auf die gegenwiartige franzésische Nietzsche-In-
terpretation ab. Im Aph. 619 von Der Wille zur Macht lesen wir, da ,,der
siegreiche Begriff ,Kraft“* der Physiker ,,noch einer Erganzung bedarf: es mu ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als ,Willen
zur Macht“. Deleuze bezeichnet diesen Aphorismus als ,,un des textes les plus
importants que Nietzsche écrivait pour expliquer ce qu'il entendait par volonté de puissance“. Er kommentiert ihn im folgenden Wort fiir Wort und gewinnt daraus die fiir seine Interpretation wesentliche Unterscheidung zwischen dem
Willen zur Macht und den Kraften. Nun geniigt schon die griindlichere Durchsicht der Schriften und des Nachlasses Nietzsches, um zu erkennen, daf vom Willen zur Macht als dem differentiellen (und insofern unter-
schiedenen) Element gegeniiber den Kraften bei Nietzsche nicht die Rede sein kann. Deleuzes Satz: ,,La force est ce qui peut, la volonté de puissance est ce qui veut“, errichtet, gewif auf sublimerer Ebene als andere Deutungen, noch immer einen Dualismus,'* den Nietzsche grundsatzlich zugunsten der smonistischen‘ Auffassung von Machtquanten — als sich in standigem Wandel organisierende Vielheiten von Willen zur Macht (welche im Bereich der Naturwissenschaften auch als Krafte interpretiert werden kénnen) — zuriickge-
lassen hat.
"5 A.a.O. [Anm. 18], 706. 86 Montinari, Vorwort zu KGW VII 4/2, VII; Elisabeth Kuhn, ,Cultur, Civilisation, die Zweideutigkeit des ,Modernen’, in: Nietzsche—Studien 18 (1989), 600-626.
87 Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen, Leipzig 1932, 416.
8 Deleuze hat immerhin nicht den Willen zur Macht als metaphysisches Prinzip aufgefa8t, wie dies auch noch Giorgio Colli getan hat. Dieser schreibt: ,,Die Verwandtschaft des neuen philosophischen Prinzips vom , Willen zur Macht‘ mit dem Schopenhauerschen Prinzip vom ,Willen zum Leben‘ ist offenkundig und unbe-
streitbar,“ (Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken. Frankfurt a.M. 1982, 98) - Vgl. hingegen: Vf., Nietzsches Lebre vom Willen zur Macht, insbes. Abschnitt 5-9, oben S. 38-63.
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Der Wille zur Macht als Buch
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Wie Heidegger hat sich Deleuze auf eine Formulierung fixiert, die — nicht von Nietzsche, sondern von Peter Gast stammt. Denn auch der von Deleuze
als einer der wichtigsten Texte beanspruchte Satz vom ,inneren Willen‘ der physikalischen Kraft stellt dessen Formulierung dar. Nietzsche hat notiert, die Erginzung zum siegreichen Kraftbegriff der Physik bestehe darin: ,,es muf ihm eine innere Welt zugesprochen werden“.”” Die Korrektur, die Gast
(nicht nur) in diesem Falle vorgenommen hat (denn die Niederschrift Nietz-
sches ist hier ohne Schwierigkeit zu entziffern), hat eine bezeichnende Nachgeschichte in den in Deutschland weitervertriebenen Ausgaben der
Wille zur Macht-Kompilation gefunden. Stillschweigend ist in deren noch
immer verkauften Nachdrucken die erst von Montinari bekanntgemachte Berichtigung iibernommen worden. Der Benutzer der Ausgaben von Der Wille zur Macht, die im Kréner- und inzwischen auch im Insel—Verlag
erscheinen, mu meinen, schon in diesem habe ,,innere Welt“ und nicht
,innerer Wille“ gestanden. Dies gilt auch fiir die neue italienische Ubersetzung,'*° die der Ausgabe von 1911 zu folgen vorgibt, de facto aber die Kréner—Ausgabe zugrundelegt.'*' Auch ist diese Verinderung des Textes der Kompilation durchaus nicht die einzige, die auf der Grundlage der KGW vorgenommen wurde, wie Marco Brusotti und Federico Gerratana schon
39 KGW VII 3, Juni-Juli 1885, 36 [31], 287. — Zum Sachproblem sei verwiesen auf Martin Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff. Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 211ff., hier insbes.: 222ff.
40 BF, Nietzsche, La volonta di potenza. Saggio di una trasvalutazione di tutti i valori Frammenti postumi ne italiana a cura di dieser Edition s. G. Volonta di potenza
da Peter Gast e Elisabeth Férster—Nietzsche [!], nuova edizioMaurizio Ferraris e Pietro Kobau, Milano 1992. Zur Kritik an Campioni, , Nel deserto della scienza‘. Una nuova edizione della di Nietzsche, in: Belfagor, Firenze 1993, Il 205-226. Dort
finden sich auch Literaturhinweise zur italienischen Diskussion um diese Ausgabe. '! Friedrich Nietzsche. Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Hg. von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Férster—Nietzsche. Mit einem Nachwort von Ralph—-Rainer Wuthenow, Frankfurt a.M. 1992 (InselTaschenbuch). - Unrichtig ist der Hinweis, der vorliegende Text folge der Ausgabe von 1906, auch hinsichtlich der Herausgeberangabe. Die Herabstufung von Fér-
ster—Nietzsche gegeniiber Gast in der Titelei ist schon vor Jahrzehnten in Ausgabe des Kréner—Verlags, Stuttgart, erfolgt. — Von letzterer ist 1980 die Auflage des ,Willens zur Macht‘ mit dem Nachwort Alfred Baeumlers in Fassung von 1964 erschienen; in der friiheren Auflage hatte es noch geheifSen,
der 12. der daf
Peter Gast das erste und dritte, die Schwester Nietzsches das zweite und vierte Buch
,,zusammengestellt*
haben
(700).
Da&
Verlage
derartige Verdinderungen
vornehmen, ohne sie zu begriinden, disqualifiziert sie wissenschaftlich.
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nach einem ersten kursorischen Vergleich der Ausgaben nachweisen kénnen.'” Die stillschweigende ,Nachbesserung‘ des ,Willens zur Macht' durch punktuelle oder partielle Rektifizierung von Nietzsche-Texten wird mit diesen Veranderungen zugleich zur Verfalschung zweiten Grades. Denn wenn man schon, wie die genannten Verlage, die Kompilation um der
,ungeheuren, beispiellos vielleicht zu nennenden Wirkungsgeschichte Nietzsches im 20. Jahrhundert“ willen weiter verdffentlicht bzw. noch
einmal herausbringt,'*? obwohl man — wie jedenfalls Ralph—Rainer Wu-
thenow einrdumt, der die Insel-Ausgabe mit einem Nachwort begleitet — jene ,,als ein Produkt geschickt eingeleiteter Nietzsche—Propaganda getrost
auch als Falschung bezeichnen kann“, so verlangt gerade die Riicksicht auf die Rezeption von Der Wille zur Macht dessen ,korrekten‘, d.h. wortgetreuen
Abdruck. Die (nicht angezeigten) Textinderungen verraten, wie ernst die proklamierte Absicht genommen werden kann. Der Hinweis auf einzelne
»Abweichungen“ der Kompilation von Montinaris Nachlafedition, die Wuthenow in seinem Nachwort auffiihrt,'* entlastet den Verlag und den Autor des Nachworts nicht, zumal die in mancher Hinsicht Aufklarung schaffenden Anmerkungen von Otto Wei in GA XVI nicht einmal erwahnt werden.
“? Vel. dazu deren Aufsatz: ,Dappertutto e in nessun Inogo’. Volonta e potenza di un'edi-
sance, Essai d'une transmutation de toutes les valeurs (Etudes et fragments) [sic!] in der Reihe ,,Le Livre de Poche, Classiques de la philosophie“, Paris 1991, nicht fiir sich geltend machen. Um so stirker muG der Eigenwert der Kompilation von 1901 herausgestellt werden: ,,Sa lecture est néanmoins primordiale, pour qui veut
-
~
zione nietzscheana, in: Giornale critico di filosofia, fasc. 3, 1993, insb. Anm. 7. Dieses Argument kann die Neuausgabe der franzésischen Ubersetzung des ersten »Willens zur Macht‘ von Henri Albert (1903) unter dem Titel La Volonté de Puis-
P f A 7.
143
valablement découvrir les grands chemins philosophiques que Nietzsche a explorés,
défrichés, minutieusement dessinés durant les années qui précéderent sa plongée dans la folie.“ So schreiben Marc Sautet und ein Anonymus als L'Editeur in ihrem
Avertissement. Miihselig hangeln sie sich mit allerlei Peutétres zur falschen Rechtfertigung ihrer Neuherausgabe hindurch. So heift es u.a., es sei nicht lacherlich sich vorzustellen, daf& Nietzsche (unter gegebenen Umstinden) vielleicht auf das Projekt des ,Willens zur Macht‘ zuriickgekommen wire, um es zuendezufiihren. ,,En tout cas, personne n'est habilité 4 trancher dans ce domaine et nous nous garderons bien d'entamer la moindre polémique.“ Jedenfalls miisse der , Wille zur Macht‘ zugleich »comme un document philosophique exceptionnel et, peut—étre, comme l'un des plus grands livres de Nietzsche“. '* Friedrich Nietzsche. Der Wille zur Macht (Insel-Taschenbuch), Nachwort, 715ff.
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Der Wille zur Macht als Buch
,Der Wille zur Macht‘ hat gewirkt. Seine Wirkung ist nicht aus der Geschichte der Nietzsche—Interpretation wegzudenken. Vielleicht hat die
Darstellung der wichtigsten Rezeptionen im deutschen Sprachraum gezeigt, daf diese Wirkungsgeschichte in dem Mafe zu einer Leidensgeschichte wurde, als die Interpreten mit der Vertiefung in Nietzsches Philosophie vor die Unzulinglichkeiten und Mingel der Kompilation gefiihrt wurden. Dies
andert freilich nichts daran, daG fiir die Auseinandersetzung mit den Nietzsche—Deutungen von mehr als zwei Dritteln unseres Jahrhunderts eine kritische Ausgabe des Willens zur Macht, dessen Herausgeber die darin willkiirlich zusammengestellten Aufzeichnungen gekiirzt, verandert, erweitert, zerstiickelt, anders zusammengesetzt haben, ein dringendes Deside-
rat darstellt. Eine kritische Ausgabe miifte die Konkordanz mit den korrekten Texten des Nachlasses (wie auch mit denen anderer Editionen) enthalten und — neben manchem anderen - die notigen chronologischen Aufschliisse, wie auch Hinweise darauf, bei welchen Aufzeichnungen Nietzsches es sich um Exzerpte (oder deren Paraphrasierungen) aus Schriften anderer Autoren handelt. Ein Kommentar mii6te iiber Nietzsches Plaine und Entwiirfe ebenso Aufschluf geben wie iiber die Verfahrensweise des Weimarer Archivs bei der Erstellung des angeblichen Prosahauptwerks Nietzsches.
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Nachweise
1. Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches. Vortrag, gehalten am 13. 2. 1967 in der Kant—Gesellschaft Berlin. Erstver-
offentlichung.
2. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht.
Die Abhandlung ist aus einem am 13. 5. 1973 unter dem Titel Uberlegungen zu Nietzsches Lebre vom Willen zur Macht auf Einladung in der Wijsgerig Gezelschap in Léwen gehaltenen Vortrag hervorgegangen, der unter der
Uberschrift Welt als Wille zur Macht. Ein Beitrag zum Verstandnis von Nietzsches Philosophie in Tijdschrift voor Filosofie 36 (1974), 78-106, ver6ffentlicht worden ist. Eine erheblich erweiterte Fassung der ,Uberlegungen‘ erschien unter dem auch in diesem Bande beibehaltenen Titel in: Nietz-
sche—Studien 3 (1974), 1-60; eine Kurzfassung von ihr in: Jorg Salaquarda (Hrsg.): Nietzsche, Darmstadt 1980, 234-287. Andere Kurzfassungen lagen der japanischen Ubersetzung von Sumiko Ono (Kenryoku e no ishi toshite no sekai, in: Tetsugaku kaishi. Gakushuin daigaku 5, Tokyo 1980, 55-80) und
der englischen Ubersetzung von D. E. Griffin (Nietzsche's Teaching of Will to Power, in: Journal of Nietzsche Studies 4/5, London 1992/93) 37-101;
Wiederabdruck in: Nietzsche. Critical Assessments, ed. by D.W Conway with P.S. Groff, vol. II, (Routledge) London/New York 1998, 204-247) zugrunde.
— Die in diesem Bande publizierte Fassung von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ist 1995 durchgesehen und erginzt worden. In dieser Gestalt lag sie bereits zugrunde den Ubersetzungen ins Brasilianische von O. Giacoia jun. (A doutrina da vontade de poder em Nietzsche, eingeleitet von S. Marton, Sao Paulo, 1997), ins Italienische von C. La Rocca (in: Vf., Volonta di potenza e nichilismo. Nietzsche e Heidegger, Trieste 1998, hier: 27-66); ins Franzosi-
sche von J. Champeaux (in: Vf., Nietzsche. Physiologie de la Volonté de Puissance, hg. und eingel. von P. Wotling, hier: 27-110), ins Japanische von A. Nitta (in: Sieben Essays tiber Nietzsche, Tokyo 1999, hier: 37-124)) und ins Englische von D. J. Parent (als 8. Kapitel von Vf., Nietzsche. His Philosophy of Contradictions and the Contradicitions of his Philosophy, Vorwort von R. Schacht, Urbana and Chicago 1999, hier: 122-160 und 216-230).
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Nachweise
3. Der Organismus als innerer Kampf. Der EinfluB von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche. Erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 26. 3. 1977 wihrend der Tagung Aneigung und Umwandlung. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert. Zuerst erschienen in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 189-235
Ubersetzungen ins Italienische von F. Iurlano (in: La ,biblioteca ideale di Nietzsche, hg. von G. Campioni, A. Venturelli, Napoli 1992, 133-200), ins Franzésische von J. Champeaux (in: Vf., Nietzsche. Physiologie de la Volonté de Puissance, hg. und eingel. von P. Wotling, hier: 111-164), ins Japanische von A. Nitta (in: Sieben Essays tiber Nietzsche, Tokyo 1999, hier: 125 -173),
ins Englische von D.J. Parent (als 9. Kapitel von Vf., Nietzsche. His Phi-
losophy of Contradictions and the Contradictions of His Philosophy, Vorwort
R. Schacht, Urbana und Chicago 1999, hier: 161-182 und 230-241). Der
in diesem Band aufgenommene Text ist durchgesehen und erganzt worden. 4, Uber Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche. Eine gekiirzte Fassung dieser Abhandlung wurde ver6ffentlicht in: Denken der Individualitdt, Festschrift fiir Josef Simon zum 65. Geburtstag, hg. von
Th. S. Hoffmann, St. Majetschak, Berlin/New York 1995, 253-274; sie ist von A, Nitta ins Japanische iibersetzt worden (in: Vf., Sieben Essays tiber
Nietzsche, Tokio 1999, hier: 359-393). — In diesem Band wird die ungekiirzte Fassung publiziert. 5. Uber das Werden, das Urteilen, das Ja—sagen. Die Abhandlung ist aus einem 1996 geschriebenen Beitrag iiber das
Urteilen in einer Welt des Werdens fiir den Band Nietzsche. Theories of Knowledge and Critical Theory: Nietzsche and the Sciences I, ed. von Babette Babich (in cooperation with Robert $. Cohen), Dordrecht: Kluwer Academic
Publishers, hervorgegangen. Dieser ist dort unter dem Titel a World of Becoming. A Reflection on the ,Great Change‘ Philosophy, 159-185, in der Ubersetzung von W. Klein worden. — Die Ausarbeitung zu der in diesem Band erstmalig Abhandlung ist in den Jahren 1997 bis 1999 erfolgt.
On Judging in in Nietzsche’s veréffentlicht erscheinenden
6. Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis‘ philosophischer Nietzsche-Interpretation. Die erste Fassung dieses Textes wurde als Beitrag zur Diskussion iiber eine neue italienische Ausgabe von Der Wille zur Macht in der Anordnung P. Gasts
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Nachweise
377
und Elisabeth Férster—Nietzsches (durch M. Ferraris und P. Kobau, Milano 1992) fiir die Zeitschrift IRIDE, Filosofia e diskussione pubblica, VII nr. 11, Firenze 1994, geschrieben und in der Ubersetzung von A. Kruse unter dem Titel ,La volonta di potenza‘ comme libro della ,Krisis‘ delle Interpretationi filosofiche di Nietzsche in Germania, publiziert (ebd. 170-189). — Die zur Abhandlung ausgearbeitete Fassung erschien in: Nietzsche-Studien 24 (1995), 223-260; sie ist fiir den Druck in diesem Band durchgesehen und
ergiinzt worden. — Ein Auszug wurde unter dem Titel Das Buch Der Wille zur Macht in Heideggers Nietzsche—Interpretationen, in: Information Philosophie 22, Lérrach, 5/1994, 80-92, verdffentlicht.
av
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Siglen
BAW
Friedrich Nietzsche, Werke. Miinchen 1933-1940
BAB
Friedrich Nietzsche, Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Beck, Miinchen 1938-1942
GA
Friedrich Nietzsche, Werke. 19 Bde. und ein Registerband. Naumann (ab
Historisch-kritische Gesamtausgabe.
Beck,
1910 Kréner), Leipzig 1899-1913, 1925 (,,GroSoktav—Ausgabe“)
HGA
M. Heidegger, Gesamtausgabe. Klostermann, Frankfurt a.M. 1975ff.
KGW
Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. de Gruyter, Berlin 1967ff.
KGB
Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. de Gruyter, Berlin 1975ff.
KSA
Nietzsche, Samtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. Deutscher Taschenbuch Verlag, Miinchen, de Gruyter, Berlin und New York 1980, 71988
SA
Nietzsche, Werke in drei Banden. Hg. von K. Schlechta. Hanser, Miinchen 1954-1956
WM
»Der Wille zur Macht“. Bde. XV und XVI der ,,GroBoktav-Ausgabe“. Kroner, Leipzig 1911
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Personenregister Albert, Henri: 360, 373
Darwin, Charles; Darwinismus: 22, 100,
Anaximander: 353
102f., 106, 110f., 113f., 116f., 131f.,
Andler, Charles: 103 Anders, Anni: 103, 105, 108, 196 Apollo, apollinisch: 174, 192f., 266, 280f., 312
135, 138, 185, 204 Deesz, Gisela: 329f., 332
Aristoteles, aristotelisch: 16, 22f., 141,
Descartes, René: 13, 46, 141f., 207, 209, 347, 350 Dickopp, Karl-Heinz: 12
203, 316 Augustinus, Aurelius: 142f.
Deleuze, Gilles: 40, 61f., 309, 371f. Demokrit: 41, 199
Dietzsch, Steffen: 310
Baer, Karl Ernst von: 102, 195 Baeumer, Max L.: 315 Baeumler, Alfred: 35, 94, 331-343,
Dilthey, Wilhelm: 168, 206, 341 Dionysos, dionysisch: 177, 258-266, 281, 286, 307-310, 312, 315-318
346f., 352, 354, 356-358, 366, 370-372 Barfurth, Dieter: 138, 140
D’lorio, Paolo: 298
Bauer, Martin: 62, 372
Dostoevskij, Fjodor: 98, 341
Baumann, Julius J.: 121
Driesch, Hans:
Djurié , Mihailo: 168, 281, 317 Déblin, Alfred: 332 114, 119, 125, 133,
Berlinger, Rudolf: 204 Bernays, Jakob: 316 Bernoulli, Carl Albrecht: 99
Eleaten: 41, 174, 199, 204
Bleeckere, Sylvain de: 28 1f.
Emge, Carl August: 347, 355f.
Blunck, Richard: 105, 192
Empedokles: 105, 111, 204 Eucken, Rudolf: 109
Béning, Thomas: 200 Boll, F.: 111 Borsche, Tilman: 150, Boscovich, Roger: 196, Bremer, Dieter: 316 Brunetiére, Ferdinand: Brusotti, Marco: 121,
138-140
194 214
Farias, Victor: 340 Ferraris, Maurizio: 372
371 150-152, 217,
Flaubert, Gustave: 242 Férster—Nietzsche, Elisabeth:
Fink, Eugen: 257f., 368f.
372 Buddha: 324 Cancik, Hubert: 316
102,
311, 329-331, 334f., 337, 369, 372 Foster, Michael: 103 Frank, Manfred: 315
Campioni, Giorgio: 314, 372
312-314, 345, 353, 362, 368, 371
Galton, Francis: 87 Gast, Peter: 103, 330f., 334, 336f., 344, 350, 353, 363, 369f., 372
Gegenbaur, Carl: 109
Me™
Cicero: 141 Cohen, Hermann: 102 Colli, Giorgio: 28, 235, 273, 277,
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Personenregister
382 Geijsen, Jacobus A.: 312
Gelzer-Thurneysen, Clara: 329 Gerhardt, Volker: 151f., 157f. Gerratana, Federico: 150, 192, 229,
329, 372 Gersdorff, Carl von: 102 Gockel, Heinz: 146
Goethe, Johann Wolfgang von: 241243, 266, 315 Haase, Marie—Luise: 87 Habermas, Jiirgen: 84 Haeckel, Ernst: 102, 109, 114, 133, 138 Hafis: 241 Hartmann, Eduard von: 103, 187, 192,
Jaeschke, Walter: 330 Janke, Wolfgang: 149 Janz, Curt Paul: 192
Jaspers, Karl: 38, 69-71, 78, 80, 82, 95, 137, 193, 317, 343, 353-359, 364 Jesus Christus: 226, 318 Jiinger, Ernst: 84, 178, 262, 342
Kant, Immanuel: 69, 109, 141-149, 151f.,
229
Heftrich, Eckhard: 32, 34f., 92, 146, 243, 330, 335, 341, 362f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 16, 94, 162, 181, 187, 191, 204, 215, 221, 321, 325f., 337, 341, 350
Heidegger, Martin: 4, 22f., 25f., 30, 38-41,
Horaz: 143 Horneffer, August: 103, 330, 366 Horneffer, Ernst:: 330f., 345, 366 Hume, David: 142, 209 Hdlscher, Uvo: 194, 316
44, 47f£., 77, 88-90,
92,
94f., 136, 164f., 230, 257f., 280,
289, 307f., 337, 339-356, 364f., 370, 372
358f.,
Heimsoeth, Heinz: 99 Heinz, Marion: 344, 347f. Held, Klaus: 145, 149
Hennigsfeld, Jochem: 145, 149 Heraklit: 41, 111, 174, 182, 194f., 197,
199, 204, 317, 338, 351-353
Herder, Johann Gottfried von: 156 Herrmann, Friedrich Wilhelm von: 352 Hershbell, Jackson P.: 194
154-161,
163,
166-1 70,
200-204, 207, 209, 218, 280, 310, 326, 350
Kappstein, Theodor: 332 Kaulbach, Friedrich: 156f. Kaufmann, Walter: 161, 329 Kerger, Henry: 216 Kierkegaard, Séren: 98, 193, 341 Kisiel, Theodor: 347f. Kiss, Endre: 340, 342 Klages, Ludwig: 35, 343, 354 Kobau, Pietro: 372 Koegel, Fritz: 329 Kopernikus, Nikolaus: 196 Kratylos: 182 Krieck, Ernst: 343 Krummel, Richard Frank: 332 Kuhn, Elisabeth: 371 Késelitz, Heinrich: 120, 264, 303, 359
Koster, Peter: 26, 41f., 90-95, 281
Hertwig, Oskar: 139 Heyse, Paul: 347 Hillebrand, Karl: 186 Hirsch, Emanuel: 285f. His, Wilhelm: 111 Hoffmann, David M.: 329, 333, 347
Hofmiller, Josef: 330, 335
Laermann, Klaus: 340 Lamarck, Jean—Babtiste: 138, 204 Lamm, Albert: 360
Langreder, Hans: 334 Leibniz, Gottfried Wilhelm: 23f., 42, 204
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Personenregister Lipps, Theodor: 142 Locke, John: 218 Léw, Reinhard: 293
Léwith, Karl: 33, 35f., 261, 308, 334,
Pdggeler, Otto: 340 Podach, Erich F.: 358, 360, 366-368 Portmann, Adolf: 140 Reibnitz, Barbara von: 316 Riedel, Manfred: 271f. Rilke, Rainer Maria: 341
339, 357-361, 363-368
Lorenz, Konrad: 216, 311 Lukdcs, Georg: 331, 334-336, 366 Luther, Martin: 286
Rolph, William Henry: 103, 136, 138 Rothacker, Erich: 329 Rousseau, Jean Jacques: 370 Roux, Wilhelm: 97, 100-103, 105-107,
Malthus, Thomas Robert: 136 Marc Aurel: 276 Marti, Urs: 160
Mayer, Julius Robert: 103, 120f., 125 Mette, Hans Joachim: 333f., 359, 362 Mittasch, Alwin: 97-99, 120f., 125 Mocek, Reinhard: 114, 133, 139f. Montinari, Mazzino: 28, 32, 102, 105,
235, 263, 270, 272,314;
.331,
334-336, 345, 353, 368, 371-373
366,
362f.,
383
Miiller—Lauter, Wolfgang: 26, 62, 88,
90
109-116, 118-120, 122f., 125127, 129, 131-134, 136-140, 222 Rubens, Peter Paul: 241
Riitimeyer, Ludwig: 102f. Salaquarda, Jorg: 41, 102, 144, 161, 181, 187, 229, 270, 286, 318, 329, 333 Saner, Hans: 354 Sartre, Jean Paul: 146, 162 Sautet, Marc: 373
Naegeli, Carl von: 102
Schafer, Hermann: 347 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph:
Napoleon: 151, 269 Naumann, Gustav: 329
Schlechta, Karl: 30-38, 40, 60, 97f.,
145, 149, 281, 341, 350
Neumann, Michael: 146
103, 105, 108,
Nimis, Stephen A.: 194 Nohl, Hermann: 12
336, 344, 356, 359-369
196, 331f., 334-
Schmeitzner, Ernst: 235, 303
Schmidt, Hermann Josef: 192 Oehler, Richard: Ott, Hugo: 340, Otto, Walter F.: Overbeck, Franz:
359 347 333f., 347 97, 235, 330f., 341
Schneider, Georg H.: 103 Schopenhauer, Arthur: 8, 16f., 20, 27, 38, 44, 89, 99,
144-150,
125,
152-154,
136,
141f.,
159, 162f.,
166-170, 174, 185, 192, 204, 241f.,
245, 280f., 303, 308, 320-324, 371 Schrader, Wiebke: 204 Schulz, Walter: 38, 87 Schwibs, Bernd: 309
Pannwitz, Rudolf: 364
Papenfuss, Dieter: 340 Pascal, Blaise: 242 Patzer, Andreas: 316 Paulus: 318 Pestalozzi, Karl: 259 Platon; Platonismus: 343
Shakespeare, William: 266 174, 153, 204,
Simon, Josef: 168, 194, 204 Spemann, Hans: 125, 140 Spencer, Herbert: 130
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384 Spengler, Oswald: Spinoza, Benedict Spir, Afrikan: 12, Stack, George J.:
Personenregister 347 de: 133, 196 104 196
Stegmaier, Werner: 168, 206, 217 Steverding, Bruno: 98 Stirner, Max: 329
Vogt, Johannes Gustav: 372 Wagner, Richard: 150f., 204, 228, 241f., 282, 303, 314
Walden, Herwarth: 332 Wallace, Alfred Russel: 110, 113 Weischedel, Wilhelm: 26, 38, 88-91, 142
Tacitus: 154 Taureck, Bernhard: 89
Teichmiiller, Gustav: 12 Thatcher, David S.: 32
Thomas von Aquin: 141
Wei8, Otto: 32, 331, 335, 353, 356, 362, 373 Whitlock, Greg: 196 Wimmer, Ruprecht: 146 Winckelmann, Johann Joachim: 315 Wohlfart, Giinter: 194: 194
Tolstoi, Leo: 319 Tongeren, Paul van: 261, 264, 309f.
Wiirzbach, Friedrich: 369
Trakl, Georg: 341
Wuthenow, Ralph—Rainer: 372f.
Tullius: 143 Zagreus: 316,
Vaihinger, Hans: 329 Valadier, Paul: 62 Vattimo, Gianni: 289 Venturelli, Aldo: 150 Virchow, Rudolf: 109, 112
Zarathustra: 33, 39, 50, 127, 136, 169f., 177-179, 235, 245, 251f., 256260, 264, 266-268, 273-275, 278f., 282, 284f., 287, 289, 292f., 295, 308-311, 314, 328, 351
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Sachregister Abschatzen, abschatzend: 236
Abstammungslehre: 102 Abstraktion, abstrakt: 26, 60, 217, 314, 317, 325 Abstraktion, abstrakt: 26, 60f., 131, 205, 216-218, 255, 293, 314, 317, 323, 325, 328, 364 Affekt, affektiv: 1, 12, 14, 19f., 27, 47, 58, 84, 104-107, 123-126, 142, 161, 171, 175, 218f., 221, 241, 288 Aktivitat, aktiv: 115, 125, 130, 176, 228, 231, 245f., 248f., 288
All: 53, 56f., 192, 255
Altruismus: 164, 319 Amor fati: 88, 283, 295
Anlage: 16, 56, 141, 143, 155-157
Antagonismus: 155-157, 159-161, 172 Anorganisches, anorganisch, unorganisch:
14, 19, 27, 54, 57, 60f., 63-68, 80, 84f., 113, 120, 122, 160, 175, 212, 222 anpassen:
110,
113,
118,
130, 139, 230, 246, 249, 289, 291 Adaption: 108
AuGenwelt: 54, 58, 65, 219 Basel: 97, 102, 194, 196, 314 Befehl, Befehlende: 47, 119f., 122, 124-
126, 128f., 177, 210, 237f., 305f. Bejahen, Bejahung: 18, 128, 145, 180,
203, 231, 248-250, 253, 276, 279, 283-288, 291-295, 300, 317-320, 322f., 325-328 Ja—Charakter,
Ja—setzen:
171, 173, 176-180, 203, 248-250, 252-257, 259-261, 266, 268, 270, 274, 276-279, 283-293, 297, 300302, 318, 320f., 323, 326-328 BewuStsein, bewuft: 5, 12, 17f., 20, 29, 31, 43, 46, 70, 75, 103f., 116, 131, 136, 143, 145f., 148, 153, 163, 173, 181f., 203, 209, 211-213, 218, 222-224, 236, 248, 291, 308, 317, 337, 355
unbewut:
104, 131, 162, 164, 192,
207, 218, 232, 306
vor—bewuBt: 174, 179f., 214, 222
Akkomodation: 55 a priori: 174, 201f., 209 Aristokratie, aristokratisch: 58, 130, 133,
166, 172, 266 arrogantia: 143, 147 Asketismus, asketisch:
Auslésung, auslésen: 120f., 125, 137 Autoritat: 75, 141, 150, 161, 169, 193, 331
Ja-sagen,
An-sich: 6, 16, 152, 154, 206-208, 326, 328
Anpassung,
75-80, 86, 211, 246, 297, 314, 316
168, 171, 189,
235, 321 Atheismus, Atheist: 308
Atom: 5, 23f., 41, 52, 59-61, 99, 196, 198f., 213, 232 Aufgang, Aufgangs-Instinkte: 243f., 257,
272, 285
Auslegen, Auslegung: 37, 42f., 69-73,
Bildung: 17, 52, 70, 97, 112, 127, 131,
136, 139, 157, 164, 182f., 215,
219, 236, 296 Biologie, Biologismus, biologistisch: 124, 229, 358 Béses: 39, 101, 146, 154, 225, 237,
251, 273, 278, 285, 307, 311, 321
Bosheit: 145, 154, 159 Chaos:
2, 57, 68, 72, 89,
188, 227,
231, 255 Charakter: 34, 82, 116, 145f., 149,
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Sachregister
386 155, 163, 165-168, 327
Chemie, chemisch: 59, 63-65, 67, 75,
Dynamik, dynamisch: 14f., 60f., 100 dynamis, d¥vaytc: 15, 22
99, 125, 175, 187, 213, 233, 373
Christen, christlich: 141f., 147, 176, 201, 226, 229, 246, 257, 261, 268,
Fgoismus, egoistisch: 74, 145f., 151, 154,
270-274, 276f., 295, 297, 300, 317321, 323f., 329, 364, 368
282, 284, 318f., 321, 326, 329 Finheit: 1, 8, 10, 16-18, 20f., 34, 39f.,
Christentum: 246, 257, 261, 272-274, 277, 297, 300, 317f., 321
Dauer, Dauerfahigkeit: 7, 24, 44, 48, 64, 105, 111, 113, 116, 133f., 139, 146,
180, 188, 197, 200, 213, 220, 230f.,
244, 247£., 251, 275, 288, 298, 301, 322, 350 Daf&-sein: 47, 52 Dekadenz, décadence, décadent: 1, 217, 228, 237, 242£., 270, 273, 282, 297 demokratisch, Demokratismus: 37, 171f.,
246, 302, 342
Deutscher, deutsch, Deutschland: 136, 181f., 186, 228, 286, 297, 315, 324, 329, 332f., 341-343, 348, 358f., 361, 372, 374
Deutung: 15, 64, 72, 74, 76f., 79, 81, 85, 111, 119, 123, 136, 291, 316
Deutungsprinzip: 111 Dichten, Dichter: 5, 55, 176, 190, 230f., 233-235, 237, 246, 251, 291, 349
Dichtung: 14, 17, 54, 71, 176, 197, 2321., 235, 267, 296, 329
Ausdichtung: 197, 232 erdichten: 55, 176, 190, 210, 233 Erdichtung: 14, 17, 54, 232, 267, 296 Differenz: 13, 15, 20, 132, 152, 257 Diktator: 339
157, 159f., 164, 184-186, 188, 229,
42-44, 47f., 50, 52f., 56-60, 66, 74,
77, 85, 91-94, 111., 126, 167, 178,
185f., 200, 210, 213, 221, 226, 253, 255, 257f. 279, 281, 290-292, 295f., 304, 310f., 327, 332, 335, 350, 359, 364 Einerleiheit: 123 Einfaches: 5, 16-18, 20, 30, 39, 50, 62, 74, 89, 91, 121, 126, 185, 199, 205, 210, 215f., 272£., 277, 281, 297, 341 Finfachheit: 16f., 22f., 43f., 90,
237, 285, 317,
43f., 179, 238, 290,
331
Einheiten: 1, 24, 40-42, 47, 52£., 57, 59f., 64, 66, 73, 98, 111, 120, 174, 210, 213, 215, 370 Eins: 3, 7, 9, 17f., 20£., 24, 28, 39-45,
49, 53, 58, 66, 69, 79, 82f., 91f., 103, 107£., 119, 131, 143, 162, 165, 168, 170, 173f., 192-194, 196, 198,
203, 209, 212, 226, 233, 236, 242f.,
247, 251, 265f., 281f., 284, 289, 292, 299, 305, 308, 317, 328, 337, 348, 352, 354, 358, 360, 364 Eins—sein: 66
Einverleibung, einverleiben: 24, 43, 51, 59, 84-86, 122, 180, 182, 205, 215,
Distanz: 35, 162f., 170, 222, 256, 265,
221f., 225, 230, 233, 267£., 288, 298-301, 355 Empfinden, Empfindung: 6, 11, 19, 65f.,
273, 277, 310, 313f., 317, 340, 371
70, 79, 107£., 116, 120, 146, 174f.,
Dogma, dogmatisch, Dogmatismus: 80f.,
192, 194-197, 203, 205f., 210f.,
84, 226, 306, 354, 357 Dualismus: 8f., 15, 91, 110, 162-167, 170, 326, 342, 371 Dummheit: 73, 97, 117, 195, 308
214, 216, 219f., 222, 224, 231, 233,
245, 263
empfindungslos: 66, 211 empirisch: 111, 145, 149, 192
Scanned with CamScanner
Sachregister energeia, évépye.a: 22 England, englisch: 32, 117, 332 entelecheia, évteAE yer: 22¢. Entelechie-Gedanken: 16 Entelechien: 24
343, 349
Erkenntnis~Apparat: 80, 201
Entwicklung: 1, 12, 37, 64, 68, 99f., 102, 109-111, 114f., 119, 122, 125f., 133, 135, 137-140, 154-157, 160-162, 174-176, 180, 184-187, 191f., 211-213, 215, 221, 225, 236, 240, 248f., 275, 277, 288f., 298f., 305f., 310f., 313, 329, 364
Entwicklungsforschung: 109 Entwicklungsgedanken: 364 Entwicklungsgeschichte: 137, 174, 176,
311 Entwicklungsgesetz: 12
Erkenntnisbedingungen: 202 Erkenntniskritik: 200 Erkenntnisphanomen: 184 Erkenntnisvermégen: 79 Erkenntniswille: 234f.
Erkenntnistheorie: 48, 85, 201, 216
Erlésung: 146, 152, 192, 251, 259, 271, 281, 300, 321 Ernahrung: 115, 119-121,
134f.
Erscheinung, Erscheinungs—Welt: 17f., 49, 63, 69f., 75, 80, 82, 120, 126, 145-147, 149, 158, 167f., 174, 176, 179, 192, 207, 242, 250, 292, 321f., goo Essenz, essentia, essentiell: 19, 45, 47, 49,
Entwicklungslehre: 102, 110, 185, 187 Entwicklungsmechanik: 99, 109, 111,
115, 119, 138, 140
53, 67, 79, 90, 310
Ethik, ethisch: 116, 135, 144, 147f. Eudamonologie, eudimonologisch: 147-
Entwicklungsphysiologie: 110, 114, 133 Entwicklungsproblem: 111 Erde: 57, 75, 170, 189, 194, 196, 236,
238, 251, 267, 271, 275, 309, 350 Erdregierung: 228
Erfahrung, Erfahrungsméglichkeit, Erfahrungssatz: 2, 6, 10, 17, 54, 85, 107, 120, 145, 153, 160, 178, 193, 202f., 206, 211, 216-218, 237, 255, 263, 265, 267, 280F., 298, 303, 305, 315-317, 325,
387
105, 181, 226, 285, 340,
345, 369 Erhaltung: 22, 113, 115f., 127, 130, 133f., 140, 153, 174f., 197, 202, 206, 214, 220-222, 227, 236, 244f., 247,
249, 266, 284, 292, 319 Erhaltungs—Tendenzen: 130 Erhaltungsbedingungen: 214, 220 Erhaltungsprinzip: 134 Erkenntnis: 4, 6, 30, 48, 66, 70, 79, 84f., 105-110, 121, 146, 152, 162, 165,
174, 184f., 187, 196, 200-202, 206,
216, 228, 230, 234f., 288, 294, 296,
149, 152
Europa, Europaer, europaisch: 2, 159, 162, 187, 194, 204, 229, 275, 282,
302, 331, 339, 343, 349, 361 Ewigkeit, ewig: 4, 24, 38, 63-65, 87, 135, 173, 178, 180, 185, 191f., 194f., 212, 229, 241f., 252, 257, 259f., 262f., 265-268, 276, 279-281,
283-285, 288, 295, 300-302, 315, 317, 322, 326, 328 verewigen: 178, 241, 259, 262, 268, 276, 300, 302
Verewiger: 263, 265 Existenz, existentia, existentiell: 4, 19, 28,
47, 53, 72, 90, 97, 108, 182, 213,
219, 221, 228, 231, 244, 273, 301,
343, 354, 357f.
Experiment, experimentell: 35, 53, 64,
109f., 139f., 176, 236, 287, 323, 354 Explosion: 120, 137 Fatalismus, Fatalitit: 35, 88 Fiktion, fiktiv, fingieren: 6, 9f., 41, 60, 81,
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Sachregister
388
83, 89, 106, 174f., 197, 207-209, 213, 216, 233, 239, 299, 321 Florenz: 32 Frankreich, franzésisch: 269, 332, 371, 373 Freiheit: 74, 120, 128, 142, 146, 152, 157f., 161, 164-166, 168f., 225, 235, 243, 248, 271, 287, 298, 304f., 321 befreien, Befreiung: 173, 175, 305, 310, 334 Ganzes, Ganzheit: 18, 20, 23f., 44, 51, 53-57, 76, 89, 109, 113, 127-130,
140, 156, 186f., 194, 210, 223, 237,
244, 253-255, 259f., 264, 277, 288,
291, 294, 317, 320, 326, 335f., 338, 357, 359f., 3636.
Gattung: 156, 202, 213, 221, 244, 247, 292, 302
Gediachtnis, Gedichtnisarbeit:
175, 214-219, 267
19, 85,
Gefiihl: 3, 14, 46f., 75, 86, 104, 106, 124, 129, 143, 152, 169, 183, 190,
208-211, 215, 218, 262, 277, 284,
287, 298, 304
Gegensatz: 1-3, 6f., 9, 15, 18, 20f., 24,
278, 285, 299, 302-307, 309-311, 316, 330, 332, 334 freie Geister: 34-36, 154, 170, 175, 189, 223, 225-227, 262, 302-307,
309
Geisterkrieg: 271 Genealogie, genealogisch: 4, 9, 62, 67, 83, 85, 89, 153, 160, 162, 165, 171, 174, 187, 203, 205, 210, 212, 337 Gerechtigkeit: 157, 159, 164, 171, 184, 190, 235, 237, 308, 312, 319, 341f. Geschichte, geschichtlich: 22, 25, 31, 47, 73, 75, 77£., 85, 89, 110, 125, 137, 142, 154, 156, 159f., 165, 173f., 176, 180f., 183f., 187, 189, 191f., 194, 197, 199, 204f., 208, 216, 218, 225, 230f., 236, 244, 246-248, 270, 293, 298, 300, 311, 313-315, 323-325, 332, 343, 347f., 350f., 353, 355f., 362, 372-374
Geschichtsdenken: 16 Geschichtsphilosophie: 2, 156, 159 Geschichtsschreibung, Historie: 181184, 186, 189, 229, 344, 358 Geschmack: 159, 220, 243, 265, 289291, 294, 302f.
58f., 66, 82, 91, 94f., 140-142, 144, 148, 188, 198, 204, 207, 229, 236, 241-243, 272-274, 278-281,
Gesellschaft: 45, 52, 68, 84, 109, 129, 132f., 153, 155f., 163f., 166, 169, 171f., 231, 274, 300, 319, 333, 342 Gesetz: 7, 34, 57, 63-65, 69, 73-75, 80, 117, 123f., 143, 157-159, 167, 176,
283f., 289, 292, 300, 321, 340, 342f.,
200, 214, 226, 238f., 244, 266, 268,
38, 42-44, 526., 118, 126, 137, 166-168, 172, 210, 217, 226, 249, 252, 268, 346, 357, 367
Gegensatzlichkeit: 2, 6, 8, 65, 93, 225,
285 Gehorsam: 74f., 118, 127, 130f., 222, 224
gehorchen: 11, 27, 75, 120, 124-126, 128, 131, 210, 223
122,
Geist: 17, 19f., 34-36, 51, 74, 82, 117f.,
272, 276, 296, 306 Gesetzgeber: 74, 176, 238f., 268, 306
Gesetzgebung: 143, 158, 244, 266 Gesetzlosigkeit: 57 GesetzmaGigkeit: 69, 123, 296 Gesundheit: 182, 234, 265, 270, 304 Gesundheitslehre: 173, 188 Gewalt, Gewaltsamkeit: 9, 22, 100, 157-
122, 127, 153f., 162, 170, 175, 181,
159, 227F., 235, 265, 271, 283, 295,
183, 189-191, 205, 215, 222f., 225-
304, 306, 312 Gewissen: 75, 146, 271, 273, 305f., 311,
227, 235, 262, 266, 268-271, 275,
Scanned with CamScanner
Sachregister
326, 368 Gewohnheit, Gewéhnung: 7, 54, 60, 104, 109, 141, 171, 175, 183, 208, 216,
221, 262, 298 Glaube: 4-8, 10, 57, 73, 76, 82f., 150, 153, 160, 174-176, 179f., 195£., 200, 202-205, 207f., 210-214, 218f., 222, 226-229, 231, 233, 238f., 245,
248, 270, 286, 288, 292, 294, 301,
308, 313 Gleichgewicht: 113, 154, 157-159 Gleichgiiltigkeit: 146, 148 Gott: 8, 38, 50, 57, 61, 76, 78, 89, 141f., 161, 177, 190, 204, 225, 260-262, 264f., 275, 279, 281, 285f£., 297, 304, 307-309, 315, 318, 321, 324, 342
Grausamkeit: 145, 163, 308
389
173, 210, 301 Ich—Einheit: 60 Ich—Substanz: 17
Ichgefiihl: 107 Ideal, Ideale: 3, 75, 97, 117, 149, 151, 159, 167, 177, 189f., 201, 233-238, 242-244,
246f., 249, 259f., 264f.,
268, 276, 305, 308, 312, 320-322 324f. Idealismus, idealistisch: 97, 233, 250
Idee, Ideenwelt: 46, 154f., 156, 158f., 161, 191, 218, 270, 302, 356 Identitat, identisch: 5-7, 9, 32, 48, 66, 91, 106, 200, 203, 214, 335
Individualismus, Individualwillen, Individuation: 134, 145-147, 162-167, 170, 342
Individuum, individuell: 10, 12, 14, 42,
Griechen, griechisch: 111, 141, 188, 194, 199, 204, 263, 282, 315-317
83, 91, 100, 103, 116, 134, 141, 146f., 156, 162, 165-167, 185,
Giite: 50, 169, 171, 235, 241, 244, 266, 273f., 278, 311f. Gutes: 97, 154f., 159f., 239, 273f., 278
197f., 213, 221, 223, 227, 232, 236, 290, 297
Instinkt: 50, 97, 160f., 168f., 171f., 175,
Hamburg: 186
185, 201, 209, 215, 217-219, 227, 231, 234, 237, 244, 247, 249, 264,
Hedonismus: 250
269, 275, 279, 298, 305, 308, 315,
Herde:
127, 129, 156, 161, 166, 171f.,
235 Herdenmoral: 161
Herren: 42, 74, 76, 130, 158, 235, 238, 275
Herr—werden: 70, 171, 178, 227, 283, 304 Herren der Erde: 75, 238, 275 Herrenrecht: 42
?
319, 325 Interpretation: 68-78, 81f. 83-89, 93, 137, 140, 152, 168, 179, 201, 214,
242, 288, 291
Irren, Irrtum: 200, 204, 212, 214, 231, 233, 241, 272, 300
Irrtumswelt: 231 Italien, italienisch: 32, 333, 362f., 368, 372
Herrschaft: 11f., 18f., 21, 27, 37, 40-43,
52, 58f., 77, 105, 119, 126f., 129,
Jena: 109
132-134, 161, 166, 171, 181, 190, 199, 206, 220f., 236f., 244, 247, 267f., 270f., 296f., 300, 331
Kampf, kampfen: 11f., 18, 21, 24, S8E.,
Herrscher: 275, 337
Ich: 10, 12, 14, 17, 43, 60, 107, 129,
65, 72, 79, 82, 84, 87, 92f., 97, 100-
102, 104-107, 109-116, 119-122, 124, 127, 129-133, 134f., 137-139, 157, 164f., 172, 174f., 177, 179,
Scanned with CamScanner
Sachregister
390 183,
192, 215, 221f., 224f., 228f.,
332, 334
231, 236, 247, 249, 252, 254, 264f.,
Kultur: 98, 154-157, 159f., 179, 181-
268, 270f., 288, 291, 294, 296f., 299, 306, 313, 317, 327, 339, 342,
183, 220, 282, 293, 310, 317, 323, 329, 333, 356
357
Kunst, Kunstwerk, Kiinstler, kiinstlerisch: 45, 60, 77, 159, 168, 181, 183, 185,
Kausalitat, kausal: 7, 37, 109f., 119, 122, 124, 131, 139f. 145, 208f., 246, 271
kausal—mechanisch: 122, 131
188,
192f., 200, 220, 234, 237,
240-242, 262f., 280-282, 289, 304,
312, 314, 329, 340, 343, 369
kausal—-morphologisch: 109 Kausalitats—Bediirfnis: 209 Kausalitats—Instinkt: 209
Kausalitats—Interpretation: 123 Kausalitits—Sinn: 209 Kausalititsbegriff: 208, 246 Kausalitatsverhaltnis: 271
Ursache: 7, 10, 13-15, 17, 48f., 60f., 79, 84, 113, 117, 120, 123-125, 146, 200, 207-210, 232, 241, 246, 289, 304, 319f.
Ursache-=sein: 60 Ursache—Wirkung: 61 Ursachenart: 125 Kraft: 11, 14f., 19f., 24, 34, 37, 39f., 42f., 48, 51, 53-58, 61-63, 65, 80,
85, 100, 107f., 117, 119-128, 130, 133-135,
137, 155, 164, 169,171,
173, 175, 177-179, 182, 188-190,
Lebewesen: 5, 59, 110f., 115, 135, 139. 175£., 182, 210, 212, 219, 231, 248,
288, 311 Leib: 2, 17f., 51f., 107, 112f., 116, 126f., 129f., 132-134, 136, 145, 175, 210, 215, 223f., 231, 271, 300
Leiblichkeit: 113, 116, 127, 215
Leid, Leiden: 1, 47-49, 121, 123, 133, 145-147, 151f., 163, 170, 184, 192, 240, 250, 256, 258f., 265f., 271,
275, 279, 281, 284, 307, 310, 317320, 325, 348, 374 Logik: 2-8, 12f., 15, 47f., 82, 88, 93-95, 106, 174f., 201, 203, 205f., 216, 220f., 223, 230, 239, 270, 289,
292, 307, 322-324, 337 _—_Liige, liigen:
13,
272£., 295, 297
151, 200, 205, 268,
194£., 209, 220, 224, 228, 230-232, _ Lust: 65, 211, 219, 221f., 225, 250, 278, 244, 249, 265, 267, 269, 278f., 282, 291, 294, 305, 350, 371f.
Krafteverhiltnis: 128
284f., 305, 319
Macht: 19-29, 31f., 34-40, 42, 44-46,
Kraftauslassung: 119-122, 133
49-53, 55, 57-62, 64, 68-71, 73,
Kraftauslésung: 125, 137
75, 77£., 80-82, 85, 87, 90-94, 115,
Kraftbegriff: 15, 37, 61f., 100, 372
120-124,
127f.,
133-135,
146,
Kraftfeststellung: 14, 134
151-153, 157f., 161, 163f., 169,
Kraftkombination: 56 Kraftlehre: 121
175f., 179, 184, 190, 192, 220, 223f., 244-246, 249, 252, 258f.,
Kraftquanten: 43, 56
269f., 276, 279, 281, 284, 288-292,
Kraftverhaltnis: 11, 58
295f., 299, 306, 311, 317, 327-333,
Kraftvorstellung: 224
335£., 339-341,
Kraftzentrum: 23, 179
352-356, 360f., 363-365, 367-374
Krieg: 1, 127, 170, 186, 271f., 275, 283,
343, 345f£., 349f.,
Machtauferung: 134
Scanned with CamScanner
Sachregister Machtanspriiche: 69 Machtausiibung: 82 Machtausweitung: 134 Machterweiterung: 26, 85 Machtgefithl: 46, 50, 123, 127, 134, 249 Machtgeschehen: 82, 93 Machtkonstellation: 18, 58, 87, 258
Machtorganisation: 68, 87 Machtquantum, Machtquanten: 19, 22,
27, 39-42, 44, 47, 50-53, 58f., 636, 66f., 71, 85, 371
Machtsteigerung: 72, 74, 76, 177, 245,
249, 288 Machtstreben: 42, 74 Machtstufe: 22, 48
Machtverhiiltnis: 12, 63, 123, 158 Machtvermehrung: 85 Machtverschiebung: 42 Machtverschiedenheit: 70 iibermichtigen: 22, 38, 48 Marburg: 352 Maschine: 73, 117f. Maschinen-Charakter: 118 Maschinenwesen: 117 Materialismus: 102 Mathematik, mathematisch: 48, 106, 184f.
Mechanik, mechanisch: 15, 60, 62, 64,
68, 73, 76, 101, 111, 113, 117-119, 120, 122, 128, 130f., 158
Mechanismus: 12, 16, 60 Menschheit, Menschentum: 45, 52f., 78, 87, 107, 153, 155f., 159-161, 176, 186, 190f., 208, 228f., 231f., 267,
269, 287, 295, 298f., 308, 312 Metaphysik, metaphysisch: 6-9, 12f., 14f., 20-23, 25f., 38f., 41, 44, 46-48, 57, 84, 80, 88-91, 94, 98, 110, 136, 139, 142, 147, 152, 154,
161, 165, 167f., 200f., 203-205, 210, 223, 239, 258, 267f., 280-282, 287, 297, 308, 316f., 321, 327,,
391
332£., 337, 340, 342, 344, 348-352,
354£.,358, 371 antimetaphysisch: 189 ens metaphysicum: 44, 57, 71
Metaphysiker: 8, 25, 88f., 154, 333
metaphysikgeschichtlich: 47, 347, 356 Metaphysikkritik: 258, 327 nichtmetaphysisch: 89 Mexiko: 275
Mitleid: 144, 146, 150, 171, 274, 316 Monaden: 23f., 42, 57, 213
Monadologie, 255
monadologisch:
24,
Moral, moralisch: 2, 9, 13, 45f., 75-78, 98, 101, 104, 106, 115f., 121, 132, 142-144, 147, 149, 155-157, 159-
161, 163-165, 167-169, 185, 191, 202, 204f., 217, 221, 225, 229, 232,
234, 239, 244, 247, 254, 258, 261f., 268, 270, 273f., 281, 283, 289, 297,
306, 308f., 318, 321, 324, 329, 334, 354 Moralist: 217, 306, 334 Moralitat: 116, 164f., 217, 225 Moralkritik: 2, 261, 309, 329 Moralphilosophie, moralphilosophisch: 142, 147, 155f., 161, 167, 217, 289 Mythologie: 75, 147 Mythos: 316, 333, 362
Nation: 165, 186, 229, 334, 340 Natur: 8, 13, 36f., 45, 50, 57, 62-64, 69, 73f., 76, 84, 97-99, 103, 106, 108, 111, 116f., 120, 123, 125, 131, 133, 135f., 138, 141-143, 146, 148,
154-157, 159f., 168f., 172, 174,
183-185, 194f., 200, 213, 229, 238, 258, 278, 283, 291f., 296f., 304, 308, 312, 358, 364, 371 Naturbeherrschung: 76 Naturerklarung: 116f. Naturgesetz: 45, 63, 74, 76, 123, 296
Naturphilosophie: 98f.
Scanned with CamScanner
Sachregister
392 Naturalismus: 84
Naturwissenschaft: 37, 50, 64, 97f., 106,
108, 120, 133, 168, 174, 184f., 194f., 304, 371
Nein-sagen:
178, 248, 251, 254, 270,
278, 285, 319, 323, 327
Neuzeit, neuzeitlich: 200, 239, 333, 350 Nichts, Nicht—Sein: 92f., 174, 192, 245,
270, 292, 308, 321f., 327f., 339, 360
Nichtseiendes: 174 Niedergang: 176, 189, 243-246, 252,
Person: 3, 12, 14, 43, 86, 107, 143, 145, 164-168, 170-172, 178, 236, 261, 266, 274, 280-283, 303, 313, 354
Persénlichkeit, persénlich: 2, 107, 143, 155, 163, 167, 186f., 197, 218, 228,
287, 297, 321, 342, 348, 356 Solitar—Person, solitar: 166, 170-172 Perspektive, perspektivisch: 11f., 14f., 23f., 54f., 58£., 65-67, 70-77, 7986, 154, 172, 177-180, 183, 189, 204, 220f., 224, 226f., 232, 248f.,
255f., 259, 270, 274, 290-293, 300, 310, 326-328, 361
270, 272, 277, S226.
Niedergangs—Instinkte: 244 Nihilismus, nihilistisch: 2, 98, 108, 186, 189, 204, 250f., 270, 274, 279, 287,
289, 308, 318, 322, 325, 328, 331,
Multiperspektivitat: 227 Perspektivenlehre: 84 Perspektivik: 14, 55, 67, 73, 85, 177-
179, 183, 256, 274, 292 Perspektivismus, Perspektivitat: 12, 14,
340, 342, 349, 360f., 366
Notwendigkeit: 6, 37, 49, 62-64, 67,
74, 78, 86, 122, 128, 170, 193, 199, 202, 269, 286, 305, 310, 357
Notwendigkeitsbegriff: 62 Niitzlichkeit, niitzlich: 62f., 74, 116, 153, 158, 212, 218; 206, 220,223, 230, 238f., 267, 274, 291
Objektivation: 145, 163 Organ: 37, 50, 63, 70, 80, 82f., 100,
105, 110-112, 118, 120, 126, 128, 135, 195, 222, 230
23f., 54f., 59, 67, 72-76, 84-86, 177-179, 183, 226, 255f., 274, 290-292, 310, 326 Pessimismus, pessimistisch, Pessimist: 147, 154, 160, 189, 241, 250, 270, 274, 279, 308, 321f., 324f.
Phantasie: 104, 232 - Phanomenalismus: 17f., 103, 108 Physik, physikalisch: 61f., 68f., 100, 123, 125, 371f.
Physiologie, physiologisch: 37, 97, 110, 114, 116, 125, 127, 132, 161, 178, 185, 210, 246, 2706.
Organbildung: 100, 102, 133 Organwerden: 100 Organisation, organisieren: 21, 24, 39f., 42, 44, 51, 53f,, 56f., 66, 74, 85, 87, 93, 100, 111, 133, 135, 175, 237,
358, 369, 371 Organismus: 52, 56-59, 68, 97, 101f.,
Physiologismus: 271 Pluralitat: 37, 41f., 50, 52, 54f., 90, 92,
136 Politik, politisch, Politiker: 45, 151, 178, 271f., 299, 305, 338, 342f. Positivismus: 71, 106
124,
ProzeB: 11, 46, 51, 102, 105, 111, 134,
126, 128-131, 134, 137, 139, 222, 224, 236, 271, 306, 364
198, 204, 212f., 215, 221, 236, 288, 326 ProzeGeinheit: 111 Prozessualitit: 198
105f.,
111,
113f.,
119,
122,
Organismen: 4, 52f., 59, 68, 105, 110,
112, 115, 117, 133, 138, 140, 213, 220f., 369
Pradikat: 6f., 203, 206-209, 274
Scanned with CamScanner
Sachregister
Psychologie, psychologisch: 1, 9, 48, 61, 64, 98, 120, 125, 150f., 202, 268, 271, 278, 282, 311f., 316, 318f., 321f., 343, 347f., 350, 354, 3576.
Psychologe: 74, 87, 329, 334, 356
Qualitit: 11, 13, 15f, 18f., 216, 44, 47, 63f., 90, 185, 218 quale, qualitas: 13, 15, 17, 19 Qualitatsgrade: 11 Quantitat, quantitativ: 15, 19, 21, 24, 41, 44, 84, 115, 183 Quantitats—Differenz: 15 Quantum, Quanta: 14, 19, 24, 40, 42,
61, 63, 120-122, 220 Rache: 242, 303, 319f. Rang, Rangordnung: 3, 18, 120, 122,
393
291f., 328, regieren: 130, Reiz: 18, 108, 173-175,
337f. 159, 191, 268 114f., 119, 121, 124-128, 186, 211f., 216, 225, 236,
269, 273, 293
Anreiz: 125f. Gegen-Reize: 126, 128
Relativismus, relativ, Relativitit: 1, 23, 42, 44, 54, 59, 66, 72, 74f., 77, 101, 112f., 128, 148, 172, 182, 195, 213,
215,220, 255, 269, 292, 326f.
Religion: 45f., 77, 125, 155f., 160, 181, 240, 270, 275, 300, 305 religids—moralisch: 270 Ressentiment: 268, 318-321 Revolution: 159f., 186 Romantik, romantisch, Romantiker: 189, 240f., 315
129, 148, 160f., 165, 176, 210, 222,
226, 236, 246, 249, 261, 293, 309, 357 Rangverschiedenheit: 3
Schein, scheinbar, Scheinbarkeit: 3, 6-8,
Rasse: 73, 163, 227, 343 Rationalitat, rational, rationalistisch: 92-
199£., 204f., 226, 259, 267, 273, 281f., 288, 291-294, 320, 323, 330, 345, 355
95, 135 Raum: 9, 51, 53, 56, 69, 100, 109, 111f.,
139, 145f., 149, 192, 196, 214, 231,
251,255; 257, 259, 267, 334, 343
Realitét, real: 7, 10, 12, 48, 66, 82f., 91, 97, 123, 133, 145f., 148, 164, 168f., 178, 192, 210, 232, 266, 269, 272f.,
130, 157-159,
152, 154, 157, 168, 174, 192£., 197,
Schema, schematisieren: 7, 44, 60f., 126,
167f., 174-176, 199, 203, 205f., 208,
216, 232, 234, 242f., 304, 325, 328 Schicksal: 193, 241, 257, 265, 267-269, 271-274, 278f., 295, 306, 308, 339f. Schmerz: 21, 65, 221, 266, 279, 283f.
Schépfer, Schépfen, schdpferisch: 100,
284, 291f., 342 Scheinrealitat: 12 Rechte:
12, 17, 36, 48, 54, 66, 92, 131, 146f.,
216, 232f., 240-242, 246, 257, 266,
162, 164, 166,
274, 278f., 280, 282, 289, 304
171, 299, 319 Rechtskonzeption: 158 Rechtsordnung: 157
Schwiche, Schwachung: 63, 75, 77, 81,
Vorrecht: 152, 164, 303
Schwiche-Symptom: 273 Schwergewicht: 129f., 252, 295, 298
Rechtfertigung: 3, 152, 212, 265, 281, 286, 295, 329
101, 144, 153, 158f., 170, 177, 220, 226-229, 244, 273, 279
Reduktion, reduktionistisch: 3, 15, 20f.,
Schwerpunkt: 85, 149 Seele: 2, 7, 18, 50, 52, 116, 132, 141,
157, 179, 202, 221, 229, 267, 276,
151, 153, 169, 177, 181, 190, 213, 221, 229, 231, 257-260, 263-266,
28, 39, 41, 60, 101, 117, 122, 125f.,
Scanned with CamScanner
Sachregister
394
270E., 273, 286, 303, 311, 313, 338, 355
Seelen-Atome: 52 Seelen—Monas: 213
Seelenhaltung: 338 Sein: 7f., 25, 28, 38, 40f., 45, 48, 71, 89, 146, 152, 172, 174, 182, 192, 194£, 197f., 199f., 203f., 207, 210f., 213, 226, 241f., 270, 288, 291, 299, 310,
317f., 321, 328, 348, 352, 360 Selbst: 22, 27, 38, 47, 61, 97, 114, 117, 119, 142, 151, 186, 211, 219, 234, 254, 261, 284, 320, 358, 362 Selbstachtung: 141, 149 Selbstbejahung: 127, 260, 284, 320 Selbstbeobachtung: 17, 87, 197f. SelbstbewuGtsein:
198f.,212
70,
145,
162,
Selbsterfahrung: 17, 105
Selbsterhaltung, Selbsterhaltungstrieb: 22, 115, 133, 140, 153, 245, 319 Selbstliebe: 143f., 147, 155-157, 284
Selbstschatzung: 143, 167 Selbstregulation, Selbstregulierung: 101f, 109-111, 113, 115, 118f., 122, 132f., 139f., 222
Selbstsein: 164 Selbstiiberwindung: 170, 245f., 278
Selbstverkleinerung: 217 Selbstverneinen: 246, 284, 290, 322 Selbstvernichtung: 274 Selbstwert: 142, 150, 158 Selektion, selektiv: 73, 113f., 116, 131,
273 Selektionsprinzip: 114 Selektionstheorie: 114
Sinn: 48, 57, 161, 183, 186f., 189f., 197, 209, 250, 272, 281, 304, 322
179, 183-186, 189f., 196f., 200F., 203-205, 209, 213, 215, 218-220, 223, 225, 232, 235f., 241f., 245f., 248, 254f., 257f., 267, 272f., 276, 282f., 287-290, 295, 298f., 301, 313, 321, 323, 325f., 338, 340, 350-352, 354, 356f., 363 Sitten: 142f., 157, 167, 275 sittlich: 8, 103, 143, 147, 155f., 167, 170
Skepsis: 82, 105, 108, 265 Sozialismus, Sozialist: 53, 153, 164f., 318-320 Spiel: 8, 20, 40, 100, 127f., 177f., 199, 202, 219, 222, 225, 230f., 239f., 258, 272, 287, 309f., 325f., 348 Zusammenspiel: 11f., 18, 21, 39, 44, $§2£., $9,:129%., 132, 223, 293 Spontaneitat: 119, 126, 130, 233, 245, 248 Sprache: 13f., 35, 40-42, 60, 64, 104, 147, 168, 174, 198, 200, 204-207,
225, 258, 263, 298, 348
Sprechart: 106, 123, 125 Staat, staatlich: 16, 52f., 58, 68, 133, 157f., 160, 164, 166, 169, 227, 237
Starke, der Starke, stark: 3, 24, 63, 76—78, 80f., 93, 95, 101, 121f., 124, 133,
153, 169-171, 177, 182, 190, 195, 217, 220, 225, 228f., 242, 244, 247-250, 254, 269, 272, 275, 274, 279, 284, 288, 303, 305, 312, 323, 325 Stolz, stolz: 77, 141-144, 147-152, 158,
161-163, 166-170, 187, 248 Subjekt: 1, 7, 10, 12, 14, 17f., 20, 25, 44,
49, 58-60, 71, 74, 86, 88f., 91, 104, 126, 167, 174, 197-199, 206-210, 212f., 220, 239, 246, 337f., 356
Sinne: 5, 13f., 16, 21-25, 28f., 37-43, 47-49, 51f., 5S5f., 58, 60, 62, 64-66,
Subjektivismus, Subjektivitat, subjektiv: 4,
68, 71-74, 76f., 83f., 88, 90, 113, 116, 122, 126f., 129, 143, 146 -148, 156, 158, 163, 166-169, 171f., 175,
6f., 17, 25, 60f., 86, 89, 195, 200, 202, 259, 3376, 356 Substanz, Substantialitat, Substantialisie-
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Sachregister rung: 7, 12f., 17, 23f., 42, 48, 56, 59,
114, 200, 232
superbia: 141-143, 147 System, systematisch: 1, 21, 31, 59, 84,
129, 132, 134, 151, 163, 167, 179, 183, 186, 210, 221, 237, 253, 276f., 293, 329, 332f., 335-338, 349-351, 353f., 357, 359-361, 363-365, 367,
369 Tauschung: 8, 41, 123, 147, 198, 200, 233, 266, 275, 319 Tauschungscharakter: 200
Tauschungsmittel: 275 Tat: 17, 23, 34, 46, 49, 65, 70, 90, 129, 146, 155, 178, 193, 201, 258, 266-272, 274-280, 283-287, 315, 320, 323, 331f., 334, 339, 354, 363 Tatwille: 178, 269, 277, 284
. Teleologie, teleologisch: 16, 36f., 110, 113, 116-119, 129-133, 136, 139, 223, 226, 287, 306 Antiteleologe, antiteleologisch: 117
395
137, 177f., 229f., 235, 245, 252f., 256f., 259, 262, 265f., 273f., 293, _ 295, 309Ff. Uberwindung, tiberwinden: 2, 8, 48, 50, 85, 136, 159, 236, 245f., 249F., 252f., 278, 299, 322, 342, 350, 355 Umwertung: 178, 268, 270, 272, 274-276, 278E., 287, 296, 305, 310, 335, 340, 343, 349, 354, 360F., 364, 369f., 372 Unendliches, unendlich: 10, 55f., 70-72, 74, 81, 90, 156, 177, 183, 191, 193, 195f., 229, 261, 288, 292, 294, 315, 322
Unendlichkeit: 74, 229, 261 Urteil: 171, 173-177, 179, 181, 189, 201-204, 207, 210f., 214, 217-222, 231, 233, 235f., 238-240, 243, 246, 248f., 267, 288-290, 306, 318, 323, 339, 359, 364 Verurteilung: 247 Vorurteil: 6, 57, 60, 64, 99, 154, 160, 174, 200, 203, 229, 267, 301, 368
Theologie, theologisch, Theologen: 39, 48, 143, 160, 202, 264, 270, 357
Trieb, triebhaft: 11f., 14, 16, 19, 28, 34, 36, 40, 58, 62, 70, 79, 87, 97, 100, 104-106, 109, 112, 115, 120f., 123,
128f., 133, 143, 155f., 160-162,
165f., 168, 175, 178, 185, 191f., 205, 209, 215,218E, 221, 227, 229; 236,
246, 252, 254, 262f., 265f., 276F., 280, 283-285, 288, 296, 302, 304,
vanitas: 147, 153 Verantwortlichkeit, Verantwortung: 165, 243, 248, 305
Verborgenheit, verborgen: 8, 17, 36, 46, 50, 61, 81, 86f., 104-105, 108, 124, 132, 136, 155, 157, 160, 178, 191,
196, 241, 262, 280, 287, 304,
306-308, 311f., 314, 320, 348, 353,
360, 370
306, 311, 326, 329f., 333, 344,
Vererbbarkeit, Vererbung, vererbt: 4,
351-353, 355-357, 366, 370, 372 Triebfeder: 156, 191f. Tugend: 118, 141-143, 154, 189, 222,
138£,, 175, 221f., 215£.,/225,,233, 299 Verfall: 193, 228f., 234, 239, 348 Vergessen: 13, 76, 100, 173, 182, 215, 287 Vernunft, verniinftig: 1, 6, 16, 40f., 47f.,
235, 243, 245, 272-274, 303f. Uberflu8, iiberfliissig: 97, 135, 138, 188, 241f., 245, 357, 360 Uberfiille, Uberma: 240, 245, 282 Ubermensch, iibermenschlich; 81, 86, 95,
106, 127, 129f., 143f., 146, 155-158,
160f., 167, 174, 187, 193, 199-202, 204, 209-211, 214, 2176. 221, 267,
Scanned with CamScanner
396
Sachregister Was-sein: 47
274, 297f., 301, 323, 326
Vernunft—Metaphysik: 161, 210 Vernunft-Vorurteil: 174, 200, 267, 301 vor—-verniinftig: 211, 214, 217f. Versprechen, Versprechenkénnen:
85,
Weisheit: 81, 95, 154, 229, 235, 257, 263, 284, 316 Welt: 4-6, 8, 12, 14f., 19-21, 23-26, 32, 34-40, 42, 44f., 53-58, 60-62, 65-69, 71-78, 80-82, 85, 89-92, 98,
249
104,
107f.,
118,
122f.,
144f.,
Verstand: 5, 34, 200f., 217, 310 Verstehen: 60, 77, 126, 179, 206, 232,
147, 150, 152, 154, 173, 176f., 179f., 183, 187, 191-193, 196-198,
239, 315, 317 Vielheit: 7, 10-12,
200, 202-206, 208f., 213, 230-234, 236, 245f., 248, 250, 252-257,
17f., 20f., 23f., 37,
40-44, 52f., 57-60, 62, 65, 74, 856, 88-91, 102, 112, 121, 124, 127, 130,
259f., 265, 267-269, 272, 279, 281f., 287, 291-294, 297, 299-301,
133, 140, 165, 174f., 179, 200, 213,
305f., 308,
221-224, 227, 235-237, 264, 288, 290-293, 296, 310, 335, 371 wachsen, wachsen—wollen: 3, 24, 50-52,
56, 59, 70, 97, 107, 110f., 134, 161,
170, 172f., 175, 185, 210f., 214, 222, 224f., 234, 240f., 277, 284, 349-351 Wachstum: 111, 113, 115, 135 Wahrhaftigkeit: 201
Wahrheit: 4-8, 10f., 13, 15-18, 30, 37,
43, 45-47; 62, 64-66, 69f., 72-78,
81-83, 88, 94f., 97, 99, 107£., 121, 126, 143, 155, 159, 162, 164, 173, 175, 178, 190-193, 198, 200f., 203, 205f., 219, 221, 229, 234f., 238,
242f., 245, 267f., 272f., 284, 286, 291f., 294, 302, 306, 312, 328, 337, 341, 345, 348 verum: 46 Wahrheitsanspruch: 69, 173
Wahrheitsbegriff: 65 Wahrheitsgriindung: 268 Wahrheitskriterium: 46f., 73f., 76f., 81-83, 95 Wahrheitsverstindnis: 74 Wahrnehmen, Wahrnehmung, Wahrnehmungsfahigkeit: 65-67, 70f., 80, 122, 175, 195, 200, 214, 216, 218f., 248,
288
317-322,
324f., 327,
332, 334f., 337f., 352, 356, 358, 361, 372 Welt—Auslegung: 72, 297 Welt—Interpretation: 73 Weltanschauung: 192
Weltbegriff: 54 Weltbejahung: 108, 260, 324 Weltbild: 74, 89, 98, 193, 338, 356 Weltdeutung: 25, 60, 68, 72f., 75-78,
81 Welten: 6, 24, 53-55, 57, 67, 107, 281, 294 Weltgeschehen: 72, 260
Weltgeschichte: 192 Weltimmanenz: 256 Weltsein: 69
welttranszendent: 75, 261 Weltverfassung: 35 Weltverneinung: 154, 279, 305, 324f.
Weltvernichtung: 108 Werden: 5, 11, 13, 25, 41, 48, 56, 58,
71, 84, 152, 161, 174f., 179, 1816, 184-186, 188, 190-200, 204f., 207, 209-213, 220f., 223f., 226, 230, 233, 236, 241f., 244, 246, 250, 252, 254, 267f., 272, 279, 284, 287f., 290, 292, 296, 299-301, 306, 310, 318, 322, 326-328, 337f., 341, 352
Scanned with CamScanner
Sachregister
Werdensflu&: 181, 288, 292, 300 Unschuld
des Werdens:
287, 337f.,
341
Wert: 2, 8, 19, 28, 46, 54, 65, 70, 75-78, 81, 85, 104, 143, 147-150, 153-155, 158, 161f., 165, 167-169, 171, 173, 175-179, 181, 186, 204, 211, 218-
229, 231-233, 236-241, 244, 247-
252, 254, 267f., 270, 272-276, 278, 283, 288-291, 294-297, 305f., 313, 321, 323, 326, 330f., 334f., 343, 349, 354, 360f., 364, 369f., 372 Abwertung: 127, 225 Entwertung: 186
Wiederkehr, Wiederkunft: 35f., 47, 56, 73, 94, 137, 179f., 231, 248, 251f., 254, 257, 260f., 276, 284, 286f., 292-294, 297f., 300, 308, 315, 317, 336f., 339, 342-344,
346, 349f.,
354, 359-361, 367, 369 Beweisbarkeit: 94, 294, 307 Wiederkunftsgedanke: 177, 180, 192,
234, 251-253, 256f., 286-288, 292294, 298-301, 338, 344, 346
Wiederkunftslehre:
25, 35, 81, 195,
257, 286f., 299f., 322, 337-339, 342, 344-346, 349, 352, 365
Wille: 5, 8£., 16-23, 25-27, 34-36, 38f.,
43, 45-49, SIE, 54, 59, 616, 64, 74, 80, 86-91, 93, 103, 117, 119-124,
397 Willensquanten: 80 Willenswesen: 230
Wille zur Macht: 2, 5, 19-29, 32-40,
42-62, 64, 66-72, 74-76, 78, 80f., 84f., 87-94, 100, 102, 119-122, 124-126, 130£., 133-137, 152, 161, 164, 167, 169, 172, 175f., 179, 192, 209, 216, 220, 223-225, 244-246, 249, 2516, 257, 265, 269f., 276, 279, 281f., 288-292, 295, 299, 305F., 311, 317, 327-329, 337f, 341-343, 346, 348-350, 352, 354, 358, 364-366, 371 Machtwille: 19, 23, 37, 40, 44f., 4953, 58, 62, 64, 69-71, 74f., 82, 87,
90f., 93, 124, 126, 137, 164, 177, 244f., 254, 292
Machtwillen—-Theorie: 69 Machtwollen: 27, 42f., 49, 59, 74, 77£., 80, 83, 176
Wille-zur-Macht—Kompilation: 29, 31, 134, 330-336,
27,
338f., 341,
343, 345, 349, 352, 359, 362, 364366, 369f., 372-374
Willkiir, willkiirlich: 18, 27, 54, 128, 133, 169, 176, 195, 222, 225, 245, 264, 304f., 335f., 345, 354, 359, 368, 374 Wissenschaft, wissenschaftlich: 4, 7, 12,
126, 129, 131, 135f., 140f., 144147, 149, 152, 154, 158f., 162f., 168f., 175, 178f., 185, 189, 198,
16f., 26, 37, 45, 48, 50, S6f., 61, 64, 71-73, 76f., 79, 81, 89, 93-95, 97-99, 101-111, 116f., 120, 126, 133, 135, 137f., 159, 168, 174, 181,
216f., 222-225, 228, 230-232, 234,
183-186,
238f., 241, 245f., 248, 250, 252, 263, 265f., 269-272, 274-276, 279-283,
200f., 207-209, 224, 230f., 234, 236, 238, 240-242, 246, 252, 263,
285, 288, 297f., 304-306, 320-322, 327f., 336, 339, 359f., 362, 371. Etwas-Wollen: 19, 26 Willens—Punktationen: 23 Willenslehre: 16, 20
Willensphilosophie: 241 Willenspunkte: 23
189f., 194-196,
198,
265, 271, 273, 280, 283, 286,
294-296, 299, 301, 304-307, 310,
316, 331, 333f., 343, 347f., 350, 356, 358, 371.
Wissenschaftler: 108
Zahl: 42, 52, 56, 68, 97, 101, 166, 221,
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Sachregister
398
Ziichtung,
231f., 267, 292 Zeichen: 2, 13f., 30, 48, 73, 77, 85, 87, 89, 131,
168,
ziichten:
109,
111,
113,
116, 133, 136, 239, 247, 299f., 339
Ziichtungsprozesse: 111
192, 206, 216, 223,
234, 243, 247, 267, 345, 354 Zeit: 6, 79, 109, 145f., 192, 195f. Zelle: 58, 101, 105, 112, 115f., 122, 126, 130, 133f., 139, 195, 224 Zentralisation, Zentrum: 106, 129, 228 Zerfall: 89, 134, 173, 186, 227, 231,
Zufall, Zufalligkeit: 16, 36f., 121, 166, 187, 202, 214, 228, 237, 263, 285,
310, 347 Zukunft: 74, 108, 136, 154, 173, 176, 178, 186-189, 191, 217, 226, 228f.,
234f., 238, 241, 252, 258f., 261,
267f., 283, 287, 295, 298, 300, 302, 306f., 339, 354, 359f., 367
237, 281
Zerstérung, zerstren: 25, 154, 175, 186,
Zweck: 16, 32, 43, 49, 60, 73, 101, 105,
231, 241, 280f., 313, 317, 323
Zerstérenwollen: 241 Zerstérer: 89, 228, 230f., 267, 307 Zerstérer—Kraft: 231
108, 110, 113, 117f., 122, 130-132,
146f., 149, 151, 156, 159, 164, 167f., 186, 208, 213, 220, 223f.,
227, 232, 271, 285, 304, 306
Ziel: 36, 49f., 62, 108, 122, 130, 156, 161, 172, 180, 184, 187F., 190, 236, 238, 275, 287f., 295f., 298, 305f.,
Zweckesetzen: 131 zweckfrei: 16
317, 322, 328, 337f., 364
ZweckmaGigkeit,
Ziellosigkeit, ziellos: 225, 227, 337, 373 Zucht: 73, 110, 114, 116, 305, 340 Zuchtwahl: 110, 114 Zuchtwerte: 340
105, 306
110f.,
zweckmaGig:
113f.,
130-132,
49, 224,
Zwecktatigkeit: 131
Zweideutigkeit, zweideutig: 36, 241, 243, 257, 262, 295, 371
SBD / FFLCH/ USP SECAO DE: FILOSOFIA AQUISICAO:
DOACAO/
TOMBO: 234089 CNPQ
PROC,5229801/1996-1 / PATR/618289-00 DATA:
26/03/03
PREGO:
R$ 119,54
XQ
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un ISBN 3-11-013451-9 www.deGruyter.com
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