Nietzsche-Interpretationen: I Über Werden und Wille zur Macht [Reprint 2011 ed.] 9783110802788, 9783110134513

Volume I of this two-volume interpretation of Nietzsche’s writings contains papers on this central topic in Nietzsche’s

178 80 15MB

German Pages 412 Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
1. Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches
2. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht
Vorbemerkung
1. Vorläufige Charakterisierung des Willens zur Macht
2. Bemerkungen zur Nachlaß-Problematik
3. Die Bedeutung des Nachlasses in K. Schlechtas Nietzsche-Verständnis
4. Zu Äußerungen Nietzsches über den Willen zur Macht im veröffentlichten Werk
5. Zur Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches Prinzip
6. Wille zur Macht als Eins und Vieles
7. ,Wille zur Macht’ im Singular
8. Die vielen Welten und die eine Welt
9. ,Die‘ Willen zur Macht in ,der‘ Welt
10. Wille zur Macht als Interpretation
Anhang: Zu kritischen Einwänden gegen meine Nietzsche-Deutung von 1971
1. Zu Nietzsches und Heideggers Verständnis von Metaphysik
2. Einfachheit oder Vielheit des Willens zur Macht
3. Logische Gegensätze und Kampf der Gegensätze im Machtgeschehen
3. Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche
Vorbemerkung: Zu Nietzsches naturwissenschaftlichen Studien
1. Nietzsches Roux-Lektüre
2. Phänomenalismus und Wissenschaft
4. Roux’ Grundgedanken und deren Aufnahme durch Nietzsche in den Jahren 1881 und 1883
5. Mechanistische und teleologische Naturerklärung
6. Befehl, Kraftauslassung, Reiz
7. Der Leib als Herrschaftsgebilde
Aus dem Schlußwort zur Diskussion des Vortrags
Exkurs: Hinweis auf die ‚Entwicklungsmechanik‘. Wilhelm Roux contra Hans Driesch
4. Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche
1. Vorbemerkungen zum Verständnis von Hochmut und Demut
2. Hochmut und Demut bei Kant
3. Stolz und Eitelkeit bei Schopenhauer
4. Stolz und Eitelkeit bei Nietzsche
5. Die wetteifernde Eitelkeit bei Kant. Das Prinzip des Gleichgewichts bei Kant und Nietzsche
6. Der Antagonismus der Menschen bei Nietzsche
7. ,Individualismus‘ als Wille zur Gleichheit bei Nietzsche
8. Nietzsches Verständnis von ,Solitär-Person‘ im Unterschied zum Personbegriff von Kant und Schopenhauer
Exkurs: Über Stärke und Schwäche der Solitär-Personen
5. Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche
Leitfaden für den Weg der Abhandlung
Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werdensfluß
1. Über die Historie und das Werden
2. Zur Bedeutung des Werdens in der frühen Philosophie Nietzsches
3. Über den Menschen in einer Welt des ,absoluten‘ Werdens
4. Vom Vernunft-Vorurteil
5. Über Sprache und Grammatik
6. Über Subjekt und Prädikat im Urteil
7. Vom Urteil vor der Vernunft
8. Über das Gedächtnis als Voraussetzung unseres Urteilens
9. Über Urteil und Wertschätzung
10. Über die Vielheit der Wertschätzungen und den freien Geist
11. Über die Vielheit der Wertschätzungen und deren Zerfallen im modernen Menschen
12. Vom Schaffen und Dichten
13. Von neuen Idealen und höchsten Menschen
14. Über aufsteigendes und niedergehendes Leben
Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt
15. Über das Ja-sagen, das Nein-sagen und die ewige Wiederkunft des Gleichen
16. Über die Ausweitung und die Intensivierung des Ja-sagens
17. Über das verewigende Ja-sagen in Jenseits von Gut und Böse
18. Über das Ja-sagen zur ,höchsten Tat‘ in den Schriften von 1888
19. Über das Verneinen im dionysischen Ja-sagen
20. Vom primären Ja-sagen zur ,höchsten Bejahung‘. Über den Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen
Exkurse
Exkurs 1: Ergänzende Bemerkungen zu Abschnitt 17: Über das verewigende Ja-sagen in Jenseits von Gut und Böse
Exkurs 2 (zu Abschnitt 18): Anmerkung zu Giorgio Collis Verständnis von Nietzsches ,Unzeitgemäßheit‘
Exkurs 3: Bemerkungen zu Nietzsches ‚Konzeption‘ des ‚Dionysischen‘
Exkurs 4. Über das Ja-sagen im extremen Verwerfen
6. Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis‘ philosophischer Nietzsche-Interpretation
1. Das sogenannte Hauptwerk
2. Alfred Baeumler und ,das System‘ Nietzsches
3. Wille zur Macht und ewige Wiederkehr
4. Heidegger und die Kompilation
5. Vom ‚Willen zur Macht‘ zum ,Zarathustra‘
6. Die Auffassung von Karl Jaspers
7. Karl Löwith und die Philologie
8. Die Kontroverse zwischen Löwith und Schlechta
9. Eugen Fink
10. Die Kompilation und kein Ende
Nachweise
Siglen
Personenregister
Sachregister
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Nietzsche-Interpretationen: I Über Werden und Wille zur Macht [Reprint 2011 ed.]
 9783110802788, 9783110134513

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Wolfgang Müller-Lauter Über Werden und Wille zur Macht

1749

I

1999

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Wolfgang Müller-Lauter

Über Werden und Wille zur Macht Nietzsche-Interpretationen I

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1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche-Interpretationen / Wolfgang Müller-Lauter. — Berlin ; New York : de Gruyter 1. Über Werden und Wille zur Macht. - 1999 ISBN 3-11-013451-9

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Buchbinderische Verarbeitung: Strauss-Offsetdruck GmbH, 69509 Mörlenbach

Vorwort In diesem Band sind Abhandlungen vereinigt, in denen ich mich mit den wesentlichsten Aspekten von Nietzsches Philosophie auseinandersetze: Werden und Wille zur Macht. - Die Beiträge dieses Bandes sind in einem Zeitraum entstanden, der mehr als drei Jahrzehnte umfaßt. Zwei von ihnen, der erste und der vorletzte, werden hier zum ersten Mal veröffentlicht: (1) der Vortrag Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches (1966), der die Keimzelle für mein Buch Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (1971) gebildet hat, und (5) die in den Jahren 1997 bis 1999 ausgearbeitete Studie Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche. Den zuerst in dem Vortrag von 1966 1 (und dem Buch von 1971) thematisierten Konsequenzen, die sich aus Nietzsches Rede vom Willen zur Macht angesichts seiner Grundvoraussetzung der einzigen Welt des unablässigen Werdens ergeben, bin ich 1973/74 in der Abhandlung Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht weiter nachgegangen (2). 2 Dabei ging es mir darum, die

1

2

Über Vortrag und frühere Veröffentlichung der Beiträge dieses Bandes informieren die Nachweise im Anhang zu diesem Band. - Die Grundlage für die Ausarbeitung des oben genannten Vortrage bildete die Großoktavausgabe (GA); die zunächst von mir herangezogene Schlechta-Ausgabe (SA) hatte sich wegen ihrer sehr begrenzten Wiedergabe von Nietzsches Nachlaß als untauglich erwiesen. Von der Kritischen Gesamtausgabe der Werke (hg. G. Colli und M. Montinari) war noch kein Band erschienen. Die Stellenangaben und Verweise erfolgen, dem Manuskript entsprechend, nach der GA. Ihnen sind nachträglich die Angaben nach KGW beigegeben worden. Die Ausarbeitung des Vortrage und der daraus hervorgegangenen Abhandlung erfolgte ebenfalls auf der Grundlage der GA (vgl. Anm. 1). Allerdings konnten schon einige Bände der Nachlaßedition der KGW (V 2, VIII 2 und VIII 3) herangezogen werden. Deshalb ist die Zitationsweise in dieser Abhandlung unterschiedlich. Nur dort, wo ich mich schon primär auf die KGW beziehen konnte, wird diese an erster Stelle aufgeführt. In den anderen Fällen werden zuerst die GA-Stellen genannt, die später nachgetragenen KGW-Stellen in eckigen Klammern dahinter gesetzt. Spätere Zusätze und Ergänzungen des Textes auf der Grundlage der KGW werden ebenfalls in eckigen Klammern gebracht. Ein Teil der sehr langen Fußnoten zur damaligen Diskussion meines Nietzsche-Buches ist als Exkurs der Abhandlung nachgestellt worden.

VI

Vorwort

Vielheit von im Kampf stehenden wie auch miteinander kooperierenden »Willen zur Macht' als Letztgegebenheiten herauszuarbeiten, die nicht auf das Eine eines metaphysisch Gründenden zurückgeführt werden dürfen (in welch letzterem Sinne Nietzsches Rede vom Willen zur Macht zumeist aufgefaßt worden ist). Immer treffen wir auf nur zeitweilig ,im Werden' geeinte Vielheiten, die, als Quantitäten vorgestellt, ihren Umfang mehren oder verlieren und zuletzt zerfallen. In ihrem »Grunde' finden wir nicht unteilbare »Atome' oder »Monaden' (auch solche »Einheiten' gibt es nicht), sondern immer schon und immer nur »Mehrheiten'. In einer für die »Bewährung' dieser »Lehre' wesentlichen Richtung habe ich Nietzsches Gedanken 1977/78 in der Abhandlung Der Organismus als

innerer Kampf. DerEinfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche verfolgt

(3). 3 In ihr geht es darum, den Primat der aktiven Kräfte in den Prozessen der Natur (vom Protoplasma bis zur komplexen Organisation des menschlichen Leibes) darzustellen. Die konstitutive Bedeutung der »Willen zur Macht' im Organischen gewinnt Nietzsche in der Aufnahme und kritischen Abwandlung von Bestimmungen der zeitgenössischen Naturwissenschaften wie »Selbstregulation', »Lebensreiz', »Kraftauslassung' und »Abundanz'. Er wendet sich dabei gegen Darwins »Überschätzung des Einflusses äußerer Umstände' bei der Organbildung. Aber er kritisiert die mechanistische Deutung der Naturvorgänge z.B. von Roux und weist zugleich auch die teleologischen Auslegungen dieser Prozesse zurück. Indem Nietzsche alle Organisation primär aus der Stärke und Durchsetzungskraft interner Machtkonstellationen heraus deutet, schlägt er einen eigenen Weg zwischen den eingefahrenen Deutungsmustern ein. Willen-zur-Macht-Prozesse liegen nicht nur den Bildungen der Natur, sondern auch denen der Kultur zugrunde. Im Anschluß an die für Nietzsches Denken bedeutsame philosophische Tradition der Neuzeit habe ich 1995 in

dem Essay Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche (4)4 '

4

Erst in dieser Abhandlung konnte ich uneingeschränkt auf die Bände der KGW zurückgreifen. - Ergänzungen gegenüber dem Erstdruck (vgl. Nachweise) sind, abgesehen von den hinzugekommenen Zwischenüberschriften, in eckige Klammern gesetzt. Ein schon im Erstdruck gegebener Exkurs zu »Roux und Driesch' ist hier an das Ende des Textes verschoben worden. In diesem Falle ist die hier abgedruckte Fassung die ursprüngliche; die zuvor veröffentlichte und übersetzte ist eine gekürzte Fassung (vgl. Nachweise). Deshalb werden die Unterschiede der beiden Fassungen nicht markiert. - Spätere Zusätze sind in eckige Klammern gesetzt.

Vorwort

VII

sozialphilosophische Aspekte von Nietzsches Verständnis von Macht und Kampf herausgestellt. Seine Ausarbeitung des .Individualismus' als .Phänomen* des Willens zur Macht wird in der Gegenüberstellung mit Kants Verständnis des kulturbildenden Antagonismus, der sich aus der vergleichenden Selbstliebe des Menschen, im Ausgang von dessen ungeselliger Geselligkeit, entwickelt, verdeutlicht. Die Bedeutung, welche die Möglichkeiten der Selbsteinschätzung des Menschen gegenüber anderen durch Kant, Schopenhauer und Nietzsche zugesprochen wird (z.B. in ,Stolz' und .Eitelkeit'), bringt deren unterschiedliches Verständnis von Person zum Ausdruck. Erfährt Kants Begriff der Person als moralische Persönlichkeit schon bei Schopenhauer eine Auflösung in das Erscheinungswesen, so negiert Nietzsche auch noch Schopenhauers Gedanken der intelligiblen Verwurzelung der Person, die in der vorgängigen Charakterwahl des einzelnen Menschen beruhen soll. Nietzsche spricht vom .Reichtum der Solitär-Person', der allein aus dem Wachstum von inneren Kräften in der einzig gegebenen .Welt des Werdens' entsteht; die großen (und einsamen) Menschen sollen das Fundament .aristokratischer Gesellschaften' bilden können. Die Abhandlung Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen (5) geht von Nietzsches .Erfahrung' des Verfalls der Autoritäten und der überlieferten .Werte' in der Moderne aus.5 Die das wissenschaftliche Denken im 19. Jahrhundert kennzeichnende „Verflüssigung aller Begriffe, Typen und Arten" (Zweite Unzeitgemäße Betrachtung) bildet für Nietzsche die große Herausforderung, der er sich auf unterschiedliche Weise stellt. Schließlich erhebt er zu seiner .Grundvoraussetzung': es gebe .nichts Festes, nichts Beständiges', vielmehr sei .alles im Flusse'. Sein .Heraklitismus' radikalisiert noch die zeitgenössischen Tendenzen. Wenn nichts .ist', vielmehr alles nur .wird', so bedarf die .Fiktion' von Sein, ohne die wir nicht leben könnten, der Erklärung aus den Prozessen des Werdens. Nietzsches .genealogische Ableitung' unserer .Grundirrtümer' ist vielschichtig und kohärenter, als seine Interpreten zumeist gesehen haben. - Der Erste Teil der Abhandlung nimmt die Frage nach der Möglichkeit unserer Urteile auf und verfolgt sie im Sinne von Nietzsches .entwicklungsgeschichtlichem' Denken bis zu den prälogischen .Bedürfnissen' der frühesten Lebewesen zurück. Die .Geltung' unserer Urteile beruht auf unserem Glauben, dieser auf unseren (uns einverleibten) Wertschätzungen, die ihrerseits auf die ursprunghafte Aktivität des Machtwollens verweisen. - Der Zweite Teil rückt das mit dem Wertsetzen .des' Willens zur 5

Der Übersicht über die Ausführungen der Abhandlung dient der ihr vorangestellte Leitfaden für den Weg der Abhandlung (S. 173-180).

VIII

Vorwort

Macht gesetzte Ja-sagen des Menschen ins Thema. Der Weg führt vom vor-bewußten Ja-sagen über dessen Ausdrücklich-werden bis zur umfassenden Lebensbejahung, der die Gestalten der Lebensverneinung entgegenstehen. Nietzsches Philosophie des Ja-sagens vollendet sich im Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen, der im dionysischen Ja seinen letzten Ausdruck findet.

Die Abhandlung Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis' philosophischer Nietzsche-Interpretation von 1994 (6) 6 schließt den Band ab. In ihr gehe ich auf die Wirkung der von Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast herausgegebenen Kompilation von 1 9 0 6 auf die einflußreichsten deutschen Nietzsche-Deutungen (Baeumler, Heidegger, Jaspers, Löwith, Schlechta und Fink) ausführlicher ein als bei früheren Gelegenheiten.7 Die Orientierung an Nietzsches angeblichem »Hauptwerk4 hat die Frage nach dem, was er unter dem Wort Wille zur Macht verstanden hat, immer wieder fehlgeleitet. Philologische und philosophische Fragen sind in der Diskussion um die Kompilation häufig miteinander vermengt worden. Daß Nietzsche seinen zeitweiligen Plan, ein Buch unter diesem Titel zu schreiben, zuletzt aufgegeben hat, besagt nicht etwa, daß er den Grundaspekt seiner mit diesem Wort verbundenen ,Weltsicht' fallen gelassen hätte. 8 Die Entstehung dieses wie des Bandes II meiner Nietzsche-Interpretationen geht auf Gespräche zurück, die ich nach dem Empfang des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt 1996 mit Herrn Dr. Robert Cram vom Verlag de Gruyter & Co geführt habe. Eine Sammlung meiner Arbeiten, die an verschiedenen Orten publiziert wurden und deshalb nicht leicht zugänglich waren, war von Nietzsche-Forschern häufig gewünscht

6

7

8

Die wenigen Zusätze gegenüber der veröffentlichten Fassung (siehe die Nachweise) sind in eckige Klammern gesetzt. Zur Auseinandersetzung zwischen Löwith und Schlechta vgl. in diesem Band schon die Abschnitte 2 bis 4 von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. Sie trägt auch noch sein Vorhaben unter dem letzten ,Haupttitel' Die Umwertung aller Werte, den er von September 1888 an seinem letzten literarischen Projekt gibt. Nietzsche will in ihm dem ,starken Machtwollen' des Menschen der Zukunft vielmehr - in freilich problematischer Weise - die Richtung weisen. Der Antichrist steht von November 1888 an für die gesamte Umwertung aller Werte, nicht mehr bildet er wie zuvor nur deren Erstes Buch. In Ecce homo wird der von ihm apostrophierte stärkste .Wille zur Macht' zum umwertenden .Willen zur Tat' (vgl. dazu Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen in diesem Band, insbes. die Abschnitte 18 und 19).

Vorwort

IX

worden. Freilich konnte ich mich nicht zu einem bloßen Wiederabdruck von schon Veröffentlichtem entschließen. Mein Wunsch war, neben früheren Untersuchungen, die Beachtung gefunden hatten, auch solche Arbeiten aufzunehmen, die den letzten Stand meiner Forschung widerspiegeln. Dazu mußten einige durchgesehen und oft erhebÜch erweitert, andere fertiggestellt oder überhaupt erst geschrieben werden. In den beiden Bänden wollte ich sowohl die Kontinuität als auch Wandlungen und Umbrüche in Nietzsches Philosophieren noch schärfer herausstellen als in dem von mir bisher Veröffentlichten. Die Verwirklichung dieses anspruchsvollen Planes erforderte viel Verständnis von seiten des Verlags; Herrn Dr. Cram und Frau Dr. Gertrud Grünkorn danke ich für Ermutigung und großzügige Entscheidungen, durch die sie meine Arbeit wesentlich unterstützt haben. Johannes Neininger hat den Band redaktionell sorgfältig betreut und schließlich noch den Satz übernommen. In dieser knappen Formulierung sind diffizile Arbeitsgänge zusammengefaßt, die durch ,letzte Änderungen' des Autors noch vermehrt wurden. Auch hat er das Personenregister und das Sachregister erstellt. Ich danke Johannes Neininger für die Mühen, die er mit alledem auf sich genommen hat. Durch seine Betreuung meiner Arbeiten über viele Jahre hinweg hat er mir unentbehrliche Hilfe geleistet. Zu danken habe ich ferner Marco Brusotti, der Teile meiner späten Abhandlungen mitgelesen und die Lektüre mit seinem Rat begleitet hat. Schließlich gilt mein Dank Frau Inge Siegel für komplizierte Abschreibearbeiten von Manuskript auf Diskette und Frau Lakshmi Kotsch für das Lesen von Korrekturen.

Berlin, den 10. Juli 1999

Wolfgang Müller-Lauter

Inhalt

Vorwort

V

1. Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

1

2. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

25

Vorbemerkung

25

1. Vorläufige Charakterisierung des Willens zur Macht

26

2. Bemerkungen zur Nachlaß-Problematik

28

3. Die Bedeutung des Nachlasses in K. Schlechtas NietzscheVerständnis

30

4. Zu Äußerungen Nietzsches über den Willen zur Macht im veröffentlichten Werk

32

5. Zur Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches Prinzip

38

6. Wille zur Macht als Eins und Vieles

39

7.,Wille zur Macht' im Singular

44

8. Die vielen Welten und die eine Welt

53

9. ,Die' Willen zur Macht in ,der' Welt

58

10. Wille zur Macht als Interpretation

68

Anhang: Zu kritischen Einwänden gegen meine Nietzsche-Deutung von 1971

88

1. Zu Nietzsches und Heideggers Verständnis von Metaphysik

88

2. Einfachheit oder Vielheit des Willens zur Macht

90

3. Logische Gegensätze und Kampf der Gegensätze im Machtgeschehen

93

XII

Inhalt

3. Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche Vorbemerkung: Zu Nietzsches naturwissenschaftlichen Studien 1. Nietzsches Roux-Lektüre 2. Phänomenalismus und Wissenschaft 4. Roux' Grundgedanken und deren Aufnahme durch Nietzsche in den Jahren 1881 und 1883 5. Mechanistische und teleologische Naturerklärung 6. Befehl, Kraftauslassung, Reiz 7. Der Leib als Herrschaftsgebilde Aus dem Schlußwort zur Diskussion des Vortrags Exkurs: Hinweis auf die ,Entwicklungsmechanik'. Wilhelm Roux contra Hans Driesch

97 97 100 103 109 116 119 126 136 138

4. Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche 1. Vorbemerkungen zum Verständnis von Hochmut und Demut 2. Hochmut und Demut bei Kant 3. Stolz und Eitelkeit bei Schopenhauer 4. Stolz und Eitelkeit bei Nietzsche 5. Die wetteifernde Eitelkeit bei Kant. Das Prinzip des Gleichgewichts bei Kant und Nietzsche 6. Der Antagonismus der Menschen bei Nietzsche 7.,Individualismus' als Wille zur Gleichheit bei Nietzsche . . . 8. Nietzsches Verständnis von ,Solitär-Person' im Unterschied zum Personbegriff von Kant und Schopenhauer Exkurs: Uber Stärke und Schwäche der Solitär-Personen . . .

166 170

5. Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche Leitfaden für den Weg der Abhandlung

173 173

Erster Teil. Ober Urteilen und Wertschätzen im Werdensfluß..

1. Über die Historie und das Werden 2. Zur Bedeutung des Werdens in der frühen Philosophie Nietzsches

141 141 142 144 150 154 159 162

181

181 190

Inhalt

XIII

3. Uber den Menschen in einer Welt des »absoluten' Werdens 4. Vom Vernunft-V ο r urteil 5. Uber Sprache und Grammatik 6. Über Subjekt und Prädikat im Urteil 7. Vom Urteil v o r der Vernunft 8. Über das Gedächtnis als Voraussetzung unseres Urteilens 9. Über Urteil und Wertschätzung 10. Über die Vielheit der Wertschätzungen und den freien Geist 11. Über die Vielheit der Wertschätzungen und deren Zerfallen im modernen Menschen 12. Vom Schaffen und Dichten 13. Von neuen Idealen und höchsten Menschen 14. Über aufsteigendes und niedergehendes Leben Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt . . . . 15. Über das Ja-sagen, das Nein-sagen und die ewige Wiederkunft des Gleichen 16. Über die Ausweitung und die Intensivierung des Ja-sagens 17. Über das verewigende Ja-sagen in Jenseits von Gut und Böse 18. Über das Ja-sagen zur ,höchsten Tat' in den Schriften von 1888 19. Über das Verneinen im dionysischen Ja-sagen 20. Vom primären Ja-sagen zur,höchsten Bejahung'. Über den Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen Exkurse Exkurs 1: Ergänzende Bemerkungen zu Abschnitt 17: Über das verewigende Ja-sagen in Jenseits von Gut und Böse 1.1. Knappe Darstellung des Weges des »freien Geistes' zu einer »Philosophie der Zukunft' 1.2. Zur Formel circulus vitiosus deus 1.3. Über das Philosophieren der Götter und über das Lachen 1.4. Über ,das Genie des Herzens' Exkurs 2 (zu Abschnitt 18): Anmerkung zu Giorgio Collis

197 199 204 207 210 214 218 223 227 230 234 238 248 248 252 25 9 266 277

286 3Q2 302 302 307 309 311

Inhalt

XIV

Verständnis von Nietzsches ,Unzeitgemäßheit' 312 Exkurs 3: Bemerkungen zu Nietzsches »Konzeption* des ,Dionysischen' 315 Exkurs 4. Über das Ja-sagen im extremen Verwerfen . . . . 318 6. Der Wille zur Macht als Buch der ,Krisis' philosophischer Nietzsche-Interpretation 1. Das sogenannte Hauptwerk 2. Alfred Baeumler und ,das System' Nietzsches 3. Wille zur Macht und ewige Wiederkehr 4. Heidegger und die Kompilation 5. Vom ,Willen zur Macht' zum ,Zarathustra' 6. Die Auffassung von Karl Jaspers 7. Karl Löwith und die Philologie 8. Die Kontroverse zwischen Löwith und Schlechta 9. Eugen Fink 10. Die Kompilation und kein Ende

329 329 333 336 339 349 353 357 360 368 370

Nachweise Siglen Personenregister Sachregister

375 379 381 385

Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

„Oh die falschen Gegensätze! Krieg und ,Frieden'! Vernunft und Leidenschaft! Subjekt und Objekt! Dergleichen giebt es nicht!" (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[140]; KGW V 2, 3 9 1 )

„Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten ..." (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52)

Die dem Werke Nietzsches immanenten Gegensätze haben seinen Interpreten schon immer zu schaffen gemacht. Zwar löst sich in vielen Fällen das Gegeneinander in ein Nacheinander auf, wenn es im Rahmen der philosophischen Entwicklung Nietzsches betrachtet wird, deren übliche Einteilung in drei oder in fünf Phasen die auffälligsten Umbrüche zu markieren gestattet. Vieles Unvereinbare aber bleibt: auch in den fundamentalen Aussagen Nietzsches. Die Skala der Reaktionen auf diesen Sachverhalt reicht in der Nietzsche-Literatur von der Erklärung, daß sich die Beschäftigung mit einem Denken nicht lohne, dem es an innerer Geschlossenheit mangele, über die Auffassung Nietzsches als eines Dichterphilosophen, von dem keine Strenge des Begriffs erwartet werden dürfe, bis zu den mannigfachen Bemühungen um die innere Einheit seines Denkens, ja bis zu den Versuchen einer nachträglichen Systematisierung. Nicht selten ist auch die Frage aufgeworfen worden, woher es denn komme, daß dieser Philosoph in so extremer Weise in Gegensätzen denke. Oft hat man sich dabei mit dem Hinweis begnügt, daß Nietzsche ein in sich gespaltener, ein von Widersprüchen zerrissener Mensch gewesen sei. Materialien für eine solche psychologisierende Auffassung sind an vielen Stellen seines Werkes zu finden. So schreibt er in Ecce homo: „Abgerechnet, daß ich ein decadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz".1 Ein andermal notiert er: „Ich würde an jedem einzelnen meiner Affekte zu Grunde gegangen sein. Ich habe immer 1

Ecce homo, Warum ich so weise bin 2; GA XV 13.

2

Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

einen gegen den anderen gesetzt." 2 Folgen wir jedoch Nietzsches Selbstzeugnissen, so finden wir, daß er in seiner Philosophie nicht seine persönliche Gegensätzlichkeit auszutragen sucht, sondern diejenige, die das moderne Zeitalter prägt. Er sieht seine Aufgabe darin, wie es in einer nachgelassenen Aufzeichnung heißt, „den ganzen Umkreis der modernen Seele" zu umlaufen, „in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben". 3 Bei solchem Unternehmen stellt er fest, daß die gesamte Moderne im Zeichen von Widersprüchen steht. In ihr herrsche geradezu ein Chaos von widersprechenden Wertschätzungen. Wir alle haben, so sagt er, „wider Wissen, wider Willen Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe". Der Mensch des 19. Jahrhunderts sei der vielfache Mensch - und als solcher „das interessanteste Chaos", 4 das es vielleicht bisher gegeben habe. Die lebendige Erfahrung der Widersprüche seiner Zeit bildet die Wurzel von Nietzsches Philosophieren. Aus ihr erwachsen seine Geschichtsphilosophie und seine Moralkritik, sein Verständnis des europäischen Nihilismus wie auch seine Versuche zu dessen Uberwindung. Von all dem soll jedoch im folgenden nicht oder nur beiläufig die Rede sein. Es soll hier darum gehen, die Struktur des Gegensatzes in ihrer fundierenden Bedeutung für Nietzsches Verständnis der Wirklichkeit überhaupt herauszuarbeiten. Deshalb wird dieser Vortrag von Nietzsches allgemeinen Äußerungen zum Problem des Gegensatzes ausgehen, zu seiner Interpretation der Logik überleiten, von ihr her auf die das Seiende als solches konstituierende Gegensätzlichkeit stoßen und schließlich die Gegensatz-Struktur des Willens zur Macht aufweisen, - des letzten Faktums, zu dem wir, nach Nietzsche, hinunterkommen können. Es kommt mir darauf an, einem philosophischen Weg nachzugehen. Kritische Einwände gegen Nietzsche sind an vielen Stationen dieses Weges möglich. Kritik am Einzelnen ist jedoch erst dann sinnvoll, wenn der Weg wenigstens ein Stück weit abgeschritten ist. Nietzsche - wie jeder Philosoph - will erst in seinem wesentlichen Anliegen verstanden sein, ehe er kritisiert wird. Die folgenden Ausführungen sollen sich auf einen solchen Versuch des Verstehens beschränken.

2 3 4

Nachlaß, GA XII 224;[November 1882-Februar 1 8 8 3 , 4 [ 1 1 ] ; KGW VII1,114]. WzM, GA XVI 378; [Nachlaß Herbst 1887, 9[177]; KGW VIII 2, 104]. Nachlaß, GA IX 391, WzM, GA XVI 297; [Der Fall Wagner, Epilog; KGW VI 3, 47; Nachlaß Herbst 1887, 9[119]; KGW VIII 2, 68].

Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

3

Wenden wir uns nun Nietzsches wesentlichen Äußerungen zur Gegensatz-Problematik zu. In ihnen scheint sich selber ein Gegensatz aufzutun. Zum einen führt Nietzsche aus, man sei fruchtbar nur „um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein".5 Ein Klassiker zum Beispiel müsse „alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben". 6 Es ist Nietzsches grundsätzliche Überzeugung, „daß mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß". 7 Suche man die Kehrseite zu beseitigen, so schwinde auch das Ideal der Vorderseite hin, das man doch gerade erhalten sehen möchte. 8 Die Gegensätze gehören komplementär zueinander. Daher gelte es, die Gegensatz-Spannungen zu fördern in Richtung auf das Entstehen des höchsten Menschen. Dieser wäre derjenige, „welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte, als dessen Glorie und Rechtfertigung" 9 . Das Dasein, d.i. für Nietzsche die grundlegende Wirklichkeit des Lebens überhaupt, ist demzufolge in sich selbst schon gegensätzlich. Umso befremdlicher klingt es, wenn Nietzsche andererseits bestreitet, daß in der Wirklichkeit überhaupt Gegensätze zu finden seien. So schreibt er: „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes - und von da aus fälschlich in die Dinge übertragen." 10 Und so fordert er, „daß man die Gegensätze herausnimmt aus den Dingen, nachdem man begreift, daß wir sie hineingelegt haben". 11 Der damit auftretende Widerspruch erweist sich bei näherem Zusehen freilich als Schein. Um dies deutlich zu machen, soll zunächst der fundierenden Bedeutung der Logik für die Gegensätze nachgefragt werden. Dabei ist zu beachten, daß für Nietzsche die Logik selbst ein Gewordenes ist. Ihre Grundsätze sind nicht ein Letztes, Irreduzibles. Sie entspringen der „Nöthi-

5 6 7 8

9 10 11

Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 3; GA VIII 86. WzM, GA XVI 264; [Nachlaß Herbst 1887, 9[166]; KGW VIII 2, 97]. WzM, GA XVI 296; [Nachlaß Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 185]. „Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren halten": Menschliches, Allzumenschliches II (Meinungen) 81; GA III 46. - Gegen die Anhänger sozialistischer Theorien schreibt Nietzsche: „Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab." (WzM, GA XVI 327; [Nachlaß November 1887-März 1888, 11[141]; KGW VIII 2, 307]). WzM, GA XVI 296; [Nachlaß Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 185]. WzM, GA XVI 56; [Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48], WzM, GA XV 231; [Nachlaß Herbst 1887, 9[121]; KGW VIII 2, 70].

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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

gung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsere Existenz ermöglicht wird".12 Diese Nötigung ist eine „subjektive", d.h. eine aus den besonderen Lebensbedingungen des Menschen erwachsende und insofern „eine biologische Nöthigung" 13 . Vor aller ,Logik' herrschte die Unlogik. In deren „Reich", so schreibt Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft, gingen diejenigen Wesen zugrunde, „welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen". „Wer zum Beispiel das .Gleiche4 nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem ähnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Ahnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es giebt an sich nichts Gleiches - , hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen."14 In Wahrheit aber hat das Ähnliche nichts mit einem vermeintlich Gleichen zu tun. Es „ist kein Grad des Gleichen : sondern etwas vom Gleichen völlig Verschiedenes". Und die Ähnlichkeit ist nur eine Ähnlichkeit „für uns".15 - In Menschliches-Allzumenschliches ist der Ursprung des Logischen sogar bis zur Pflanze zurückverlagert worden; für sie sind „gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt".16 In der Vielfalt solcher und anderer genealogischer Versuche, die sich noch in den Niederschriften der achtziger Jahre finden, bleibt durchgängig die Auffassung bestimmend, daß der aller Logik vorausgehende und sie begründende Akt im Gleichmachen des an sich selbst Ungleichen be-

12 13

WzM, GA XVI 34: [Nachlaß Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII 2, 82], WzM, GA XVI 2 8 ; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[152]; KGW VIII 3, 126]. Zum Vorwurf des Biologismus gegen Nietzsche vgl. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bände, Pfullingen 1961,1, 615ff.

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Die fröhliche Wissenschaft, 111; GA V 152. - „Jede uns fördernde Erkenntniss ist ein Identificiren des Nichtgleichen, des Ähnlichen d.h. ist wesentlich unlogisch. Wir gewinnen einen Begriff nur auf diesem Wege und thun nachher, als ob der Begriff .Mensch' etwas Thatsächliches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist." (Nachlaß, GA X 172; [Sommer 1872-Anfang 1873, 19[236]; KGW III 4, 81]).

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Nachlaß, GA XII 2 8 ; [Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [ 1 6 6 . 2 3 7 ] ; KGW V 2, 4 0 3 , 429]. Menschliches, Allzumenschliches I, 18; GA II 3 5 . - Vgl. Nachlaß, GA XIII 2Iff.; [Juni-Juli 1885, 38 [14]; KGW VII 3, 341ff.].

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steht.17 Durch das Gleichmachen erhalten sich die Lebewesen. Später führt Nietzsche es auf den Willen zur Macht zurück. Jedenfalls steht es letztlich nicht im Dienste eines ,Willens zur Wahrheitvollzieht sich in ihm doch 18 eine grundlegende Fälschung alles Geschehens . Die Konstruktion von Identischem verfälscht die Wirklichkeit aber nicht nur, insofern sie Verschiedenes zum Gleichen macht. Schon daß etwas als mit sich selbst identisch angenommen wird, ist eine Setzung, der nichts Wirkliches entspricht. Das Gleich-machen wird hier zum Fesi-machen. Im unaufhörlichen Werden und Vergehen, dem nach Nietzsche in Wahrheit Realen, kann es nichts Beständiges, also auch kein ,Ding' im Sinne von Substantiellem geben. Die Annahme von Dingen bildet nun die „Voraussetzung für den Glauben an die Logik". Wie das Atom, so ist auch das Α der Logik „eine Nachkonstruktion des ,Dinges'"19. Es ist dem Realen so wenig angemessen wie dieses, dem im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht. Die logischen Grundsätze formulieren nicht dem Seienden selber zukommende Wahrheiten, sie sind lediglich Imperative zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt.20 Zwar finden wir uns immer schon in einer logisch erscheinenden Welt vor. Dies aber nur deshalb, weil wir, „längst bevor uns die Logik selber zum Bewusstsein kam, nichts gethan haben, als ihre Postulate in das

Geschehen hineinlegen "u

Daß die Logik wirklichkeitsinadäquat ist, läßt sie keineswegs entbehrlich werden. Sie war ursprünglich „als Erleichterung gemeint: Als Ausdrucksmittel",21 sie ist uns inzwischen habituell geworden. Insofern sind wir „neces17

18

19 20 21 22

„Vor der Logik, welche überall mit Gleichungen arbeitet, muss das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch fort, und das logische Denken ist ein fortwährendes Mittel selber für die Assimilation, für das Sehen -wollen identischer Fälle." (Nachlaß, GA XIII 236; [August-September 1885, 40[33]; KGW VII 3, 377]) Hierbei wirken Begriffsbildung und Sinneswahrnehmung zusammen. Auch die letztere wird von der Nötigung zum Gleichmachen bestimmt. Ihr „Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten" wird vom Verstand „unterstützt" (WzM, GA XVI34; [Nachlaß Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII 2, 82]). Dazu und zum folgenden s. die spätere Arbeit Vfs., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/ New York 1971, lOff. WzM, GA XVI 29; [Nachlaß Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54], WzM, GA XVI 29; [Nachlaß Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 53]. WzM, GA XVI 31; [Nachlaß Herbst 1887, 9[144]; KGW VIII 2,81]. WzM, GA XVI 47; [Nachlaß Juli-August 1888, 18[13]; KGW VIII 3, 336],

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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

sitirt zum Irrthum",23 wie es in Götzendämmerung heißt. Soweit läßt Nietzsche die Logik auch gelten. Ohne ihre Fiktionen könnte der Mensch nicht leben. Ihre Falschheit tut ihrer Lebensdienlichkeit keinen Abbruch. Seine Kritik richtet sich allein darauf, daß sie später als absolute Wahrheit gewirkt hat. Die Logik zweifelt nicht daran, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können. Dabei macht es keinen Unterschied, ob sie in den Dingen selber ihre angeblichen Wahrheiten zu finden meint oder ob sie diese als reine Erkenntnisse ansieht, die aller Erfahrung vorhergehen. In beiden Fällen wird davon abgesehen, daß es sich bei ihren Grundsätzen um nichts anderes als um regulative Glaubensartikel handelt.24 Eine bloß scheinbare Welt wird als die wahre ausgegeben und über die Wirklichkeit gelegt: die Logik entartet zur Zwei-Welten-Lehre der Metaphysik. - Aber bleiben wir bei der Logik. Die gegebenen Hinweise sollten lediglich den Horizont für die Frage nach dem Ursprung der Gegensätze aus der Logik abstecken. Dieser Ursprung kann nun herausgearbeitet werden. Das Gleich- und Festmachen konstituiert die Logik. Seinen für die Gegensatzproblematik wesentlichen Ausdruck findet es im Satz vom Widerspruch. Dieser scheidet die Möglichkeit aus, daß ein und derselben Sache zur gleichen Zeit entgegengesetzte Prädikate zukommen können. In ihm „regiert" letztlich das von Nietzsche als grob und falsch charakterisierte Vorurteil, man könne nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben,25 wie im Satz von der Identität der oberflächliche „,Augenschein' herrscht", „dass es gleiche Dinge giebt". 26 Dass es uns „misslingt", dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen, ist für ihn nur „ein subjektiver Erfahrungssatz" ohne sachgegründete Notwendigkeit.27 So sagt er, das „Nicht-widersprechen-können beweise ein Unvermögen, nicht eine .Wahrheit'".28 Der Satz des Widerspruchs gelte nicht bei den Dingen, „die Verschiedenes, Entgegengesetztes sind".29 Die Wirklichkeit der Gegensätze wird von Nietzsche in Schutz genommen gegen die Ansprüche der Logik. Dabei steht ihm allerdings vor Augen, daß aus dem logischen Postulat der Widerspruchslosigkeit nun selber eine freilich nur scheinbare Gegensätzlichkeit erwächst, die jedoch den wirklichen Gegensatzcharakter des Lebens

23 24 25 26 27 28 2?

Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft in der Philosophie" 5; GA VIII 79. WzM, GA X V I 4 2 ; [Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[4]; KGW VIII1,274]. WzM, GA XVI 30; [Nachlaß Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54], WzM, GA XVI 32; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[23]; KGW VII 3, 285]. WzM, GA XVI 28; [Nachlaß Herbst 1887, 9[97], KGW VIII 2, 53]. WzM, GA XVI 28; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[152]; KGW VIII 3, 126]. Nachlaß, GA IX 187; [Ende 1870-April 1871, 7[110]; KGW III 3, 171],

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verschleiert. Die Ausscheidung entgegengesetzter Bestimmungen aus einem Sachverhalt kann das Ausgeschiedene nicht schlichtweg negieren, da es faktisch vorgefunden wird. Sie trennt es nur von dem ab, das mit sich selbst identisch sein soll. Das Abgetrennte kann dann nach dem Schema der Identität in sich weiter gegliedert werden. So wird eine Vielheit von für sich Gesetzten gedacht. Wenn die Logik nun zum „Kriterium des wahren Seins" erhoben wird und in Metaphysik umschlägt, dann werden die ursprünglich subjektiven Ausdrucksmittel in die Wirklichkeit hineinprojiziert. Im zitierten Aphorismus aus dem Nachlaß von 1887 heißt es weiter: „Alle jenen Hypostasen: Substanz, Prädikat, Subjekt, Objekt, Aktion usw." werden „als Realitäten" gesetzt.30 Die Wirklichkeit wird auseinandergerissen und erst nachträglich ein commercium der angeblich Insichselberberuhenden konstruiert, z.B. mittels des Schemas von Kausalität. In der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: „Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren"~}x Dem Glauben an Kausalität liege zugrunde „die Trennung des .Thuns' vom ,Thuenden', des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Processes von einem Etwas, das nicht Process, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist". 32 Wo die scheinbaren Realitäten sich nicht ohne weiteres in einen Zusammenhang bringen lassen, nehmen sie sich „für ein gewisses Maß an Optik" als Gegensätze aus. Um solche handelt es sich aber in Wahrheit nicht: die als Dinge gesehenen und miteinander verglichenen Geschehenskomplexe weisen nach Nietzsche bloß eine Gradverschiedenheit auf, z.B. „eine Verschiedenheit im Tempo des Geschehens", wie im Falle des vermeintlichen Gegensatzes Bewegung-Ruhe. 33 Und da es „leichter" sei, „Gegensätze zu denken als Grade", 34 führe uns „schlechte Gewohnheit" dazu, „auch noch die innere

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33 34

WzM, GA XVI 30; [Nachlaß Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54], Die Fröhliche Wissenschaft, 112; GA V 154. WzM, GA XVI 109; [Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[139]; KGW VIII 1, 134], vgl. auch 52ff.; [Nachlaß Frühjahr 1888,14[98]; KGW VIII3, 66ff.]; ferner Genealogie der Moral, 1. Abhandl. 13; GA VII 326ff., Nachlaß, GA XIII 60, 62; [Herbst 1885-Herbst 1886, 1[38.39.43]; KGW VIII 1, 15f.] und Nachlaß, GA XIV 328f.; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[78]; KGW VIII 1, 96f.]. WzM, GA XVI 55f.; [Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48], Nachlaß, GA XII 101; [Frühjahr-Herbst 1881, 11[115]; KGW V 2, 380]. Vgl. auch WzM, GA XV 166f.; [Nachlaß Herbst 1887, 9[107]; KGW VIII 2, 61]: „Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäss, weil leichter fasslich."

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Natur, die geistig-sittliche Welt nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen". 35 So entstehe schließlich „der Grundglaube der Metaphysiker": „der Glaube an die Gegensätze der Werte"?6 Soviel über den Ursprung der vermeintlichen, als wirklich geglaubten Gegensätze aus „denen der Logik".37 Nicht dem Gebrauch der Logik, die für den Menschen unentbehrlich ist, wohl aber der Annahme einer aus den logischen Grundsätzen resultierenden Gegensätzlichkeit gilt Nietzsches Kritik. Nun wurde aber schon darauf hingewiesen, daß er andererseits gegen den Satz vom Widerspruch die Wirklichkeit der Gegensätze ins Feld führt. Gleichwohl stoßen wir hier nicht auf Unvereinbares. Dem genaueren Zusehen zeigt sich nämlich, daß Nietzsche allein jede als absolut verstandene Gegensätzlichkeit bestreitet, in der für sich Bestehende, in sich Beruhende unvermittelt einander gegenüberstehen sollen. Wohl aber behauptet er eine immanente Gegensätzlichkeit der Weltwirklichkeit. Sie soll in den konkreten Entgegensetzungen beruhen, in die sich die eine Welt immer schon entfaltet hat und ständig weiter entfaltet. Es ist das Grundmotiv seines Denkens (nach der Überwindung des Einflusses insbesondere der Schopenhauerschen Metaphysik), das hier ins Spiel tritt: gegen jede Art von metaphysischem Dualismus die Einheit des Wirklichen zu behaupten. Die wirklichen Gegensätze, die sein Philosophieren zugesteht, sollen einander nicht ausschließen, sie sollen voneinander abgeleitet werden können. Der zweite Aphorismus des ersten Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse läßt Nietzsches Auffassung noch deutlicher hervortreten als frühere Ausführungen. Er wendet sich hier gegen den Schein, der Wille zur Wahrheit könne nicht aus dem Willen zur Täuschung entspringen, die selbstlose Handlung nicht aus dem Eigennutze, die interesselose Kontemplation nicht aus der Begehrlichkeit. Der metaphysischen Folgerung: „die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen Ursprung haben", dieser liege „im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im ,Ding an sich'" - hält er entgegen, daß der „Werth jener guten und verehrten Dinge" gerade darin bestehen könne, daß sie „mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich" seien.38 Von der Methode der Ableitung eines Phänomens aus dem ihm Entgegengesetzten macht 35 36

37 38

Menschliches, Allzumenschliches II, (Wanderer) 67; GA III 67. Jenseits von Gut und Böse 2; GA VII 10. WzM, GA XVI 56; [Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48]. Jenseits von Gut und Böse, 2; GA VII lOf.

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Nietzsche bekanntlich mannigfaltigen Gebrauch. Die Genealogie des Logischen aus dem Unlogischen, auf die wir stießen, ist ein Beispiel. Überhaupt gilt ihm der Wille zum Nichtwissen, zum Unwahren, als der Grund allen Wissenwollens. Letzteres ist nur die „Verfeinerung", nicht aber der (absolute) Gegensatz des ersteren.39 Die Genealogien Nietzsches, insbesondere die seiner moralkritischen Entlarvungspsychologie, haben zu nicht geringem Teile die Faszination mitbegründet, die sein Denken in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ausgeübt hat. Im Gegenschlag dazu ist immer wieder auf ihre Fragwürdigkeiten, vor allem auf ihre Simplifikationen und Gewaltsamkeiten, hingewiesen worden. Die im einzelnen oft berechtigten Nietzsche-Kritiken bleiben dabei freilich zumeist dem Vordergründigen verhaftet. Wesentlicher ist es, die Grundbemühung des Philosophierens Nietzsches zu würdigen: den Gegensatzcharakter des Daseins als ein Faktum, ja als eine Letztgegebenheit zu akzeptieren, ohne damit einem metaphysischen Dualismus anheimzufallen. Kann denn aber Nietzsche überhaupt noch ernsthaft von Gegensätzen sprechen, wenn er sie aus einander ableitet und nur eine Verschiedenheit des Grades zugesteht? Ist der affirmative Gebrauch des Begriffs Gegensatz, von dem schon eingangs gesprochen wurde, vielleicht nur uneigentliche Ausdrucksweise, bei der man ihn nicht behaften sollte? Läßt denn seine Lehre vom Continuum des haltlosen Geschehens als des wahrhaft Wirklichen einem tatsächlichen Gegeneinanderstehen überhaupt noch Raum? Doch gerade in der Ausarbeitung dessen, was dieses Geschehen ausmacht, trifft Nietzsche auf die wirklichen Gegensätze. Um sie aufzufinden, müssen zuvor die Konsequenzen aufgezeigt werden, zu denen seine Leugnung des Beständigen zugunsten des reinen Prozesses gelangt. Die Fiktion von Beständigem resultiert aus dem Gleich- und Fest-machen. Das Wesen, das diese Akte vollzieht, ist aber selber ursprünglich nicht schon ein mit sich selbst gleiches. Zwar versteht es sich als solches. Dies aber nur darum, weil es sich als mit sich selbst identisch feststellt. Auch hier gilt, daß „nicht die Gleichheit", die „zu leugnen" sei, sondern „das Gleich -setzen und Zurecht-machen" den „Thatbestand" bilde.40 Ja, erst nach dem Vorbild solchen Selbstverständnisses sollen wir „die „Dinglichkeit erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt" haben.41

39 40 41

Jenseits von Gut und Böse, 2 4 ; GA VII 41. WzM, GA XVI 14; [Nachlaß Herbst 1887, 10[19]; KGW VIII 2, 131]. WzM, GA XVI 5 5 ; [Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 47],

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Wie gehen wir in der Konstituierung unseres Selbstverständnisses vor? Wir glauben „an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls", die uns gegeben sind. Diese Einheit führen wir auf einen dem Mannigfaltigen solcher Erfahrungen gemeinsamen Grund zurück. Letzterer wird als die eine Ursache verstanden, aus der als Wirkung all das hervorgehen soll, was mit dem genannten Glauben umgriffen wird. Da die Realitätsgefühle eine Ursache anzuzeigen scheinen, werden sie selbst als gleich gesetzt. Der Ursache geben wir z.B. den Namen des ,Subjekts'. Nietzsche schreibt: „,Subjekt' ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände in uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber wir haben erst die .Gleichheit' dieser Zustände geschaffen".42 Wie läßt sich dann aber dieses ,Wir' charakterisieren, das aller Selbstidentifikation vorausgeht? So wenig diesem Ursprünglichen der Titel .Subjekt' angemessen ist, so wenig auch der des Ich. Das Ich, das Nietzsche als unseren ältesten „Glaubensartikel" bezeichnet,43 ist ihm nur ein anderes Wort für das Subjekt. Wie er von diesem sagt, es sei „nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes",44 so heißt es von jenem, es sei hinzuerdacht, hinzuerfunden: und zwar vom Denken „zur Vielheit seiner Vorgänge" hinzuerfunden.45 „Durch das Denken wurde das Ich gesetzt".46 Die Vielheit der Denkvorgänge sei aber nur senseite": „Symptom viel innerlicheren und gründlicheren Geschehens".47 So sieht man sich wiederum auf das verwiesen, was Nietzsche Geschehen nennt. Als Geschehen muß auch das verstanden werden, was sich selbst als .Individuum' mißversteht: Das .Individuum' ist in Wahrheit „der ganze Process in gerader Linie",48 schreibt er einmal. Es ist unaufhörlich sich Wandelndes. Der Wandel vollzieht sich .gründlich': es liegt kein Bleibendes zugrunde, woran er geschieht. In solcher Einsicht löst sich .das Individuum' in eine Vielzahl von .Individuen' auf, die in unendlich kleinen Augenblicken nacheinander folgen.49 Diese Charakterisierung reicht freilich 42 43 44

45 46 47 48 49

WzM, GA XVI, 14; [Nachlaß Herbst 1887, 10[19]; KGW VIII 2, 131]. WzM, GA XVI 112; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50]. WzM, GA XVI 12; [Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323]. WzM. GA XVI 7 1 ; [Nachlaß Sommer 1883, 8[25]; KGW VII 1, 352], WzM, GA XVI 12; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[3]; KGW VII 3, 325]. Nachlaß, GA XIII 5 9 ; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[146]; KGW VIII 1, 137]. WzM, GA XVI 2 1 6 ; [Nachlaß Herbst 1887, 9[30]; KGW VIII 2, 13]. Nachlaß, GA XII 4 5 ; [Frühjahr-Herbst 1881, 11[156]; KGW V 2 , 4 0 0 ] .

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nicht aus. Zu fragen ist doch: was hält dieses Mannigfaltige gleichwohl in jenem Zusammenhang, der von einem Prozeß zu reden gestattet? Was überhaupt ermöglicht das Geschehen in seinem Nacheinander? Das Nacheinander wird nach Nietzsche durch das Miteinander einer Vielheit von Kräften konstituiert. Immer wieder stellt Nietzsche den Menschen als eine solche Vielheit heraus. In einem nachgelassenen Fragment heißt es: „Das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht, - und nach den anderen wie ein Subject nach einer einflussreichen und bestimmenden Aussenwelt hinsieht. Der Subjectpunkt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe wie Nähe und Ferne, und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Qualitätsgraden ist."50 Innerhalb des Zusammenspiels einer Vielheit von Kräften und Trieben übernimmt je einer die Herrschaft. Da aber jeder von ihnen „eine Art Herrschsucht" ist, mit ihm zugehöriger „Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte",51 ist die Herrschaft nur im Kampf zu erringen und zu verteidigen. Unter dem Wort Kampf müssen hierbei nach Nietzsche „auch das Verhältniss des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Verhältniss des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben" verstanden werden.52 Das somit gegebene Gegeneinander der Triebe resp. Kräfte ist die Bedingung allen Geschehens.53 Dieses kann nie zum Stillstand kommen, denn „durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt".54 „Ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt" (legt aus, entfaltet seine Perspektive) „und will seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthümer wird sofort wieder die Handhabe für einen anderen Trieb".55 So habe der Mensch „eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet".56 Mit den entgegengesetzten Trieben würden weitere ,bewegt'.57 Jeder dieser Triebe fühle

50 51 52

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Nachlaß, GA XI 235; [Herbst 1880, 6[70]; KGW V 1, 541]. WzM, GA XVI12; [Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[60]; KGW VIII1,323]. Nachlaß, GA XIII 62, vgl. 258f.; [August-September 1885, 40 [55]; KGW VII 3, 387, vgl. Sommer-Herbst 1884, 26[276]; KGW VII 2, 220]. „Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf..." (WzM, GA XVI 57; [Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 49]). Nachlaß, GA XI 283; [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540]. Nachlaß, GA XII 7; [Frühjahr-Herbst 1881, 11[119]; KGW V 2, 381]. WzM, GA XVI 344; [Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[59]; KGW VII 2, 289]. Nachlaß, GA XI 283; [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540].

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sich in Hinsicht auf jeden anderen gehemmt oder gefördert, geschmeichelt, jeder habe sein eigenes Entwicklungsgesetz (sein Auf und Nieder, sein Tempo u.s.w.)· In ihrem „Für und Wider", 58 im „Wettstreit der Affekte", 59 bilden sich Parteiungen und zerfallen wieder, die Herrschaften lösen einander ab: der Subjektpunkt springt herum. „Zusammenspiel und Kampf" in einer solchen Vielheit liegen „unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde".60 Damit sind wir zu den wirklichen Gegensätzen Nietzsches durchgedrungen, die vor aller Logik liegen sollen. Diese ist nur Ausdruck der Machtverhältnisse von Trieben und Kräften. Deren Jiampf'' bildet die „Herkunft der logischen Functionen". 61 „Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab." 62 Hält man an dem nun erreichten Punkte inne, um das bisherige Ergebnis der Destruktionen Nietzsches in näheren Augenschein zu nehmen, so drängt sich die Vermutung auf, das Destruierte erneuere sich hinter ihrem Rücken. Aus ,dem Individuum' sind eine Unzahl von »Individuen' hervorgegangen, das Ego der Person hat sich als eine Mehrheit von personartigen Kräften erwiesen, das Subjekt sich in „eine Vielheit von Subjekten"63 zerspalten. Bilden am Ende die verworfenen, der Logik entstammenden metaphysischen Scheinrealitäten nicht doch die Sphäre des wahrhaft Wirklichen? Zwar hat sich die cartesische Substantialität des denkenden Ich, gegen die Nietzsche immer wieder polemisiert,64 als unhaltbar erwiesen. Aber besteht ihm zufolge

58 59 60 61 62 63 64

WzM, G A X V I 1 2 ; [NachlaßEnde 1886-Frühjahr 1 8 8 7 , 7 [ 6 0 ] ; KGW VIII1,323]. WzM, GA XVI 100; [Nachlaß Herbst 1883, 16[33]; KGW VII 1, 537]. WzM, GA X V I 1 6 ; [Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 4 0 [ 4 2 ] ; KGW V I I 3 , 3 8 2 ] . Nachlaß, GA XIV 3 2 ; [Frühjahr 1884, 2 5 [ 4 2 7 ] ; KGW VII 2, 121]. Die Fröhliche Wissenschaft, 111; GA V 153. WzM, GA X V I 1 6 ; [Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 4 0 [ 4 2 ] ; KGW V I I 3 , 3 8 2 ] . Von großer Bedeutung für die Entwicklung dieser Polemik - und nicht für sie allein - ist der Einfluß von A. Spir und G. Teichmüller auf Nietzsches Denken gewesen. Vgl. dazu K . - H . Dickopp, Nietzsches Kritik des Ich -denke, Diss. 1965. Auf die Bedeutung, die Teichmüller für Nietzsches philosophische Entwicklung zukommt, hat zuerst H. Nohl (Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt. Zeitschr. für Philos. und philos. Kritik, Bd. 149, 1913) aufmerksam gemacht.

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denn nicht das Ich aus einer Vielzahl von Substanzen? Nur in der Antwort auf die Frage, wem Substantialität zugesprochen werden dürfte, scheint die Differenz zu Descartes zu beruhen. Aber eine solche Kritik nähme Nietzsche beim Wort, wo ihm die Worte fehlen: „Wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene [...] zu bezeichnen",65 heißt es im Nachlaß. Will er, trotz seiner immer wieder ausgesprochenen Überzeugung von der „Unmittheilbarkeit der letzten Einsichten"66 von ihnen Kunde geben, so muß er sich der überlieferten Sprache der bekämpften Metaphysik bedienen. Er übernimmt deren Begriffe, allerdings ohne zu meinen, mit ihnen könne man etwas »begreifen'. Daß dies nicht möglich sein soll, haben die grundsätzlichen Hinweise auf seine Logik-Kritik schon deutlich gemacht. Der Begriff versagt in zweifacher Hinsicht gegenüber der Wahrheit des wirklich Vorhandenen: erstens insofern er fixiert, wo sich in Wahrheit haltloses Geschehen vollzieht;67 zweitens insofern er „lauter ungleiche Fälle" sich als gleich subsumiert; er entsteht allerdings erst „durch Gleichsetzen des nicht Gleichen".68 Nietzsche verwirft daher alle Worte, sofern mit ihnen der Anspruch des Begriffs erhoben wird, und gebraucht sie lediglich als »Zeichen'. Sie sollen auf Sachverhalte nur hinweisen. Man muß durch sie hindurchgehen, das begriffliche' hinter sich lassen, um zu dem zu gelangen, was »wirklich vorhanden' ist.

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68

Nachlaß, GA XIV 37; [August-September 1885, 40[8]; KGW VII 3, 363]. Nachlaß, GA XIV 419; [vgl. August-September 1885, 40[50]; KGW VII 3, 385]. „Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudrücken." (WzM, GAXVI172; [Nachlaß November 1887-März 1888,11[73]; KGW Vm 2,279]).

„Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", GA X 195; KGW III 2,374. - Nietzsche fährt an der zitierten Stelle fort: „So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ,Blatt' wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correct und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen ehrlich; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die »die Ehrlichkeit' hiesse, wohl aber von zahlreichen individualisirten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlung bezeichnen; zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: »die Ehrlichkeit'."

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Das Problem des Gegensatzes in der Philosophie Nietzsches

Als Zeichen für das sich der Benennung Entziehende verwendet Nietzsche Worte wie Subjekt, Ich, Individuum, Person. Und er verwirft sie, sobald er auf sie als auf Begriffe reflektiert. Dasselbe gilt für die Worte, mit denen er die Seinsweise des wahrhaft Wirklichen kennzeichnet: Trieb, Kraft, Affekt. Das Wort „,Trieb' ist ihm nur eine Übersetzung in die Sprache des Gefühls aus dem Nichtfühlenden". 69 Es sei auch noch niemals „eine Kraft constatirt" worden, sondern immer nur „Wirkungen, übersetzt in eine völlig fremde Sprache". 70 Und auch Affekte seien nichts anderes als „eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht gebe".71 Wir sollten „sie leugnen und als Irrthümer des Intellekts behandeln". 72 Gelegentlich zieht sich Nietzsche nach solchen Destruktionen der metaphysischen Begrifflichkeit auf weitgehend formalisierte Bestimmungen des Wirklichen zurück. So, wenn er dieses als „dynamische Quanta" charakterisiert, die in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten stehen. 73 Natürlich darf man auch diese Bestimmung nicht ,begrifflich' verstehen. Im Ausgang von ihr kann aber das Eigentümliche der wirklichen Gegensätze im Sinne Nietzsches vollends herausgearbeitet werden. Hierbei ist zu beachten, daß die Charakteristika, die in der Analyse des ,Ich' herausgestellt wurden, für das Wirkliche schlechthin zutreffen. Die oben dargelegte ,Perspektivik' ist nach seinen Darlegungen auch „im Reiche des Unorganischen" wirksam. 74 Oder auch, wie er radikaler formuliert: es gibt „keine unorganische Welt". 75 Es gibt nur Leben, d.h.: unaufhörliche Prozesse von Kraftfeststellungen.76 Der Geschehenszusammenhang, den wir ,Ich' nennen, ist nichts als eine besondere Konkretion des Lebens. Das Spannungsverhältnis der dynamischen Quanten zueinander macht ihr „Wesen" aus.77 Sie bestehen nicht erst für sich, um dann in ein Verhältnis zueinander zu geraten. Sie sind nur in der (unaufhörlich wechselnden) Bezogenheit aller auf alle. Die Spannung innerhalb des Beziehungsfeldes 69 70

71 72 73 74 75 76 77

Nachlaß, GA XIII 2 5 4 , [Frühjahr-Sommer 1 8 8 3 , 7[25]; K G W VII 1, 258]. WzM, GA XVI 104f., vgl 128f.; [Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1886, 2[159]; K G W VIII 1, 1 4 1 , vgl. Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24[9]; K G W VII 1, 689f.]. WzM, GA XVI 1 3 4 ; [Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24[20]; K G W VII 1, 699]. WzM, GA XVI 135; [Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24[21]; K G W VII 1, 701]. WzM, GA XVI 1 1 3 ; [Nachlaß Frühjahr 1 8 8 8 , 14[79]; K G W VIII 3, 51]. WzM, GA XVI 1 4 4 ; [Nachlaß Juni-Juli 1 8 8 5 , 36[20]; K G W VII 3, 284]. Nachlaß, GA XIII 8 1 ; [April-Juni 1 8 8 5 , 34[247]; K G W VII 3, 224], Vgl. WzM, GA XVI 1 1 7 ; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[22]; K G W VII 3, 284]. WzM, GA XVI 1 1 3 ; [Nachlaß Frühjahr 1 8 8 8 , 14[79]; K G W VIII 3, 51].

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resultiert aus dem Gegeneinander der Quanten. Quanten stehen einander entgegen: damit wird eine ursprüngliche, qualitative Verschiedenheit der Gegensätze geleugnet, hinter deren Behauptung Nietzsche immer den bekämpften metaphysischen Dualismus auftauchen sieht. Zwar empfinden wir nach Nietzsche notwendigerweise „blosse Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes [...], nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reducirbar" sein sollen.78 Doch was wir da Qualität nennen, sei nur „eine perspektivische Wahrheit für uns; kein ,Ansich'". 79 Die bloßen Quantitätsdifferenzen ergeben nur eine Gradverschiedenheit des Wirklichen, welchen Begriff Nietzsche ja dem des Gegensatzes gelegentlich seiner Kritik an Logik und Metaphysik entgegensetzt, wie wir gehört haben. Nietzsche sieht aber andererseits, daß die Reduktion des Qualitativen auf Quanten für die Deutung des .Geschehens' nicht ausreicht: „In einer rein quantitativen Welt wäre Alles todt, starr, unbewegt", schreibt er. Die Welt ist aber in unaufhörlicher Bewegung. Die Dynamik der Quanten läßt sich nur unter der Annahme eines bestimmten quale verstehen. Insofern lassen sich nicht alle Qualitäten auf Quantitäten zurückführen.80 Es gehöre „zur Dynamis noch eine innere Qualität", führt er aus.81 Diese muß eine einzige sein, wenn denn im Wirklichen nur quantitative (Grad-)Unterschiede auffindbar sind. Alles Geschehen setzt ein Gegeneinander voraus. Dann muß das, was dieses Gegeneinander konstituiert, das gesuchte quale sein. Bestimmt Nietzsche es als Kraft, so gilt: „es giebt nur Eine Art Kraft". 82 Die Verwendung dieses Namens legt es zwar nahe, an den Kraftbegriff der Mechanik zu denken. Aber dieser ist für Nietzsche nur „ein leeres Wort". 83 Es soll die Ursache von Bewegungs- und Formänderungen von Körpern benennen, ohne zu sagen, was da im Grunde am Werke ist. Daher bedarf es zumindest „einer Ergän-

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80 81 82

83

WzM, GA XVI 65; [Nachlaß Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[ 14]; KGW VIII1, 244]. WzM, GA XVI 64; [Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[36]; KGW VIII 1, 201]. - „Eine Qualität existirt für uns, d.h. gemessen an uns. Ziehn wir das Maass weg, was ist dann noch Qualität!" (Nachlaß, GA X 152; [Sommer 1872-Anfang 1873, 19[156]; KGW III 4, 468]). WzM, GA XVI 65; [Nachlaß Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[14]; KGW Vm 1, 244]. WzM, GA XVI 104; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 289]. WzM, GA X V I 2 4 3 , vgl. 152f.; [Nachlaß Oktober 1 8 8 8 , 2 3 [ 2 ] ; KGW VIII 3 , 4 1 0 , vgl. Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 92f.]. WzM, GA XVI 105; [Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[88]; KGW VIII 1, 103],

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zung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden". 84 Dieser innere Wille darf aber nicht im Sinne der aristotelischen Tradition aufgefaßt werden: es handelt sich nicht um die bloße Verwirklichung eines immer schon als Anlage Vorgegebenen. Nietzsche sucht aus dem Wollen die vorgegebenen Zwecke zu eliminierenw.85 Daher bekämpft er das teleologische Denken mit großer Entschiedenheit. Und er entdeckt noch in Schopenhauers Lehre vom blinden Willen, welcher gleichwohl imstande sein soll, sich einen Intellekt zu seinem Dienste zu erfinden, „eine verkappte Teleologie". 86 Nun muß sofort die Möglichkeit eines weiteren Mißverständnisses ausgeräumt werden, das sich einstellen könnte, wenn Nietzsche die einzige Qualität mit dem Namen ,Wille' belegt. Hinweise auf seine Kritik an Schopenhauers Willenslehre können hier zur Klärung beitragen. Mit besonderem Nachdruck wendet er sich gegen die These von der Einfachheit des Willens. Schopenhauer habe, so führt Nietzsche aus, damit nur ein „Volks-Vorurtheil übernommen 87 und übertrieben". In Wahrheit sei der Wille nicht „etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verständliches", 88 sondern „etwas 89 Complizirtes, Etwas, das nur als Wort: eine Einheit ist". Der Handelnde glaubt zwar an die Unmittelbarkeit und an die Unhintergehbarkeit seines Wollens, er versteht es als etwas, das wirkt, als ein Vermögen. 90 Aber dabei täuscht er sich. Er bemerkt nichts „von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muß", damit es zur

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WzM, GA XVI 104; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[31]; KGW VII 3, 287]. Nachlaß, GA XIII 133; [Winter 1883-1884, 24[11]; KGW VII 1, 691]. - Natürlich meint Nietzsche nicht, das Wollen müsse zweckfrei sein. Vielmehr gilt: „Wollen: ist gleich Zweck-Wollen" (WzM, GA XV 336; [Nachlaß Winter 1883-1884, 24[15]; KGW VII 1, 694]). Dessen Unterschied zu einem durch den Entelechie-Gedanken geprägten Willensbegriff tritt schon in den Niederschriften heraus, in denen er sich gegen Hegels teleologisch bestimmtes Geschichtsdenken wendet. Er schreibt in diesem Zusammenhang u.a.: „Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar: dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas andres. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen." (Nachlaß, GA X 275; [Sommer-Herbst 1873, 29 [72]; KGW III 4, 268f.]). Nachlaß, GA XI 161; [Sommer 1880, 4[310]; KGW V 1, 507]. Jenseits von Gut und Böse, 19; GA VII 28. Die Fröhliche Wissenschaft, 127; GA V 165. Jenseits von Gut und Böse, 8; GA VII 28. Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft" in der Philosophie 5; GÄ VIII 80.

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Handlung kommen könne. Und er ahne nichts „von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun". 91 Was also das naive Bewußtsein und, auf seiner Basis, Schopenhauer Wille nennen, ist nicht das gesuchte quale Nietzsches. Es ist dies so wenig für ihn, daß er das Gegebensein eines solchen Willens überhaupt bestreiten kann. „Es giebt keinen Willen", aufgefaßt als ein Einfaches, das, einer Ich-Substanz zugehörig, unserem Tun als Ursache zugrunde liegen könne.92 Auch ihn haben wir nur „zu gewissen Erscheinungen des Bewußtseins [...] hinzugedichtetw.93 Als solche Erdichtung ist er selber „bereits eine Wirkung, und nicht der Anfang und die Ursache".94 ,Der Wille' teilt also das Los der anderen oben abgehandelten Selbstbestimmungen des in Wahrheit komplexen Menschen: er wird von Nietzsche als bloßer Schein einer Einfachheit aufgefaßt, der von einer sich auf diese Weise verbergenden Vielheit bewirkt wird: wir seien „eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat".95 Der Schein bleibt dem Bewußtsein verborgen, weil es selber nichts anderes als die Bildung solchen Scheins ist: Nietzsches „Kritik der neueren Philosophie" zielt darauf, daß die letztere angebliche ,Tatsachen des Bewußtseins4 zu ihrem Ausgangspunkt genommen hat, ohne den „Phänomenalismus in der Selbst-Beobachtung" zu durchschauen.96 Dem „gewöhnlich als einzig gedachten Bewusstsein" liege das „unzählig Vielfache in den Erlebnissen" von „vielen Bewusstseins" zugrunde,97 wie Nietzsche im Blick auf die „ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen"98 darlegt, die den menschlichen Leib ausmachen.99 Im „Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthigen Intel-

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Die Fröhliche Wissenschaft, 127; GA V 165. WzM, GA XVI15; [Nachlaß Herbst 1887, 9[98]; KGW VIII2, 55]; vgl. Nachlaß, GA XII 267; [Sommer 1883, 13[1]; KGW VII 1, 440]. Nachlaß, GA XIII 262, vgl. auch 265; [Sommer 1883, 12[30]; KGW VII 1, 424, vgl. auch Sommer-Herbst 1884, 27[24]; KGW VII 2, 281f.]. Nachlaß, GA XIII 254; (Frühjahr-Sommer 1883, 7[25]; KGW VII 1, 258]). Nachlaß, GA XII 156; [Herbst 1881, 12[35]; KGW V 2, 480]. WzM, GA XVI 6, vgl. auch 6 - 1 2 ; [Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[204]; KGW VIII 1, 165, vgl. auch Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323; November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[113]; KGW VIII 2, 295; Frühjahr 1888, 14[122.152]; KGW VIII3,93ff., 126f.; Frühjahr 1888, 15[90]; KGW VIII3,252ff.]. Nachlaß, GA XIII 249; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304]. Nachlaß, GA XIII 247f.; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 302]. Eine solche ,Selbsterfahrung' soll sich grundlegend von der Selbstbeobachtung unterscheiden, in der ein .Subjekt' seine .Subjektivität' in den Blick zu nehmen sucht,

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ligenzen" bekomme der Intellekt „nur eine Auswahl von Ergebnissen vorgelegt [...], dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und fasslich gemachte, also gefälschte Ergebnisse, - damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und Übersichtlich-machen, also Fälschen, fortfahre",100 das den Lebensbedürfnissen einer durch eine bestimmte Machtkonstellation organisierten Vielheit dient. Wurde bisher nur auf den Kampf innerhalb einer Vielheit verwiesen, so muß nun darüber hinaus auch das Verhältnis von Vielheiten zueinander als ein Gegensatz-Kampf betrachtet werden. Nur diejenige Vielheit kann dabei den Kampf gegen eine andere bestehen, die als ein Einfaches in Erscheinung tritt, d.h., die die ihr immanenten Herrschaftskämpfe verbirgt, und zwar nicht nur den anderen Vielheiten, sondern auch sich selbst: das Einfache muß vor seiner Wahrheit, der es konstituierenden Vielheit, „geschützt und abgeschlossen" bleiben. Nur so kann das vorbereitet werden, „was man gemeinhin »einen Willen* nennt": der Willensakt.101 Dieser erscheint dann im abgeschirmten Bewußtsein des Intellekts als unableitbare Gegebenheit, obwohl er nach Nietzsche nur „eine Resultante" darstellt, „eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize" folge.102 Hinter dem Bewußtsein und dem Willen treten also „eine Menge Bewußtseins und Willens" hervor, und zwar „in jedem complicirten organischen Wesen". 103 Nur in solchen grundlegenden Willen kann daher Nietzsches einzige Qualität zu finden sein. Er hat schließlich für sie den Namen Wille - von jener „Selbst-Bespiegelung des Geistes" (WzM, GA XVI 18; [Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 4 0 [ 2 1 ] ; KGW V I I 3 , 3 7 1 ] ) , in der der Intellekt sich über sich selbst täuscht. Sie gelangt über den Phänomenalismus des letzteren hinaus zu den wirklichen inneren Fakten: „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils miteinander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen" (Nachlaß, G A X I I I 1 6 9 ; [Sommer-Herbst 1884, 27[27]; KGW VII 2 , 2 8 2 ] ) . Im „Ausgangspunkt vom Leibe [...] gewinnen [wir] die richtige Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als,Seelen' oder .Lebenskräfte'), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen." (WzM, GA XVI 17f.; [Nachlaß August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370]). 100

Nachlaß, GA XIII 2 4 9 ; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304].

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Ebd. Der Antichrist, 14; GA VIII 230. Nachlaß, GA XIII 2 2 7 ; [Frühjahr 1884, 25[401]; KGW VII 2, 112].

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zur Macht geprägt. Auf diesen führt er die schon herangezogenen Charakterisierungen des wahrhaft Wirklichen zurück: nicht nur die Kraft soll letztlich als Wille zur Macht verstanden werden, 104 auch die Affekte seien nichts als „Ausgestaltungen" des Willens zur Macht, der „die primitive Affekt-Form ist",105 und auch von den Trieben heißt es, daß man sie auf diesen zurückführen könne. Zu einem der Pläne aus der Zeit 1 8 8 2 - 1 8 8 5 notiert sich Nietzsche: „Unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhängig von unseren Werthschätzungen: diese entsprechen unsern Trieben und deren Existenzbedingungen. Unsre Triebe sind reducirbar auf den Willen zur Macht",106 Dabei gilt es, Intellekt und Wille nicht als bloße Folge eines nur triebhaft bestimmbaren Willens zur Macht anzusehen. „Eine Art Geist", selbst „Gedächtnis" setzt Nietzsche „bei allem Organischen voraus". 107 Wir lassen hier beiseite, daß noch das Anorganische im Willen zur Macht verwurzelt ist. Festzuhalten aber ist: Der Wille zur Macht ist als letzter „Grund und Charakter aller Veränderung" 108 der Welt „Essenz", 109 wie es in Jenseits von Gut und Böse heißt. Er stellt das einzige quale dar, das in seinen mannigfachen Gradabstufungen die Welt konstituieren soll. Die „Strahlung von Machtwillen" stehe hinter allem, was als Kraft erscheine. Ein Kraftquantum sei in Wirklichkeit ein „Machtquantum", oder schärfer: „ein Quantum ,Wille zur Macht'". Die Qualität des quantitativ Verschiedenen, seine Essenz, wird als „Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren", näher bestimmt. 110 Der ,Sinn' des Vergewaltigens ist die schon oben charakterisierte Herrschaft. Herrschaft aber setzt Macht voraus. Insofern alles Wollen Macht will, ist es nach Nietzsche ein JEtwas- Wollen". Dieses Etwas könne vom Willen nicht abgezogen werden. Wo dies geschehe, werde der Wille nicht mehr als das gedacht, was er sei.111

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Vgl. WzM, GA XVI 104; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[31]; KGW VII 3, 287]. WzM, GA X V I 1 5 2 , vgl. auch 2 2 1 ; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [121]; KGW VIII 3, 92, vgl. auch Herbst 1887, 10[57] ; KGW VIII 2, 156]. Anhang zu WzM, GA X V I 4 1 5 ; [Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 4 0 [ 6 1 ] ; KGW VII 3, 393]. Nachlaß, GA XIII 2 3 2 ; [Frühjahr 1884, 25[403]; KGW VII 2, 113]. WzM, GA XVI 149; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[123]; KGW VIII 3, 95]. Jenseits von Gut und Böse, 186; GA VII 115. WzM, GA XVI 111; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50]. WzM, 133, vgl. 155f.; [Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[114]; KGW VIII 2, 2 9 7 , vgl. Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 92f.].

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Doch auch die Bezeichnung,Wille zur Macht' gibt zu den Mißverständnissen Anlaß, auf die schon bei der Erörterung anderer Bestimmungen, die Nietzsche für das Letztgegebene heranzieht, eingegangen wurde. Vielleicht nicht zuletzt deshalb hat Nietzsche kein Buch unter diesem Titel veröffentlicht: es blieb bei Plänen und Entwürfen. Im folgenden soll von Mißverständnissen, die Nietzsche zurückweist, die Rede sein. Dabei soll auf das Eigentümliche des Willens zur Macht nur insoweit eingegangen werden, als es für die Herausarbeitung der Problematik des Gegensatzes bei Nietzsche nötig erscheint. Der Wille zur Macht darf nicht als Prinzip gedacht werden. Was damit gemeint ist, läßt sich an der Differenz zwischen Nietzsches und Schopenhauers Willenslehre explizieren: Nietzsche ersetzt nicht Schopenhauers Willen zum Leben durch den Willen zur Macht. Dieser ist auch nicht ein Wille „en miniature", der als das nun wahrhaft Einfache noch hinter dem vermeintlich einfachen Willen Schopenhauers stünde. Argumentierte Nietzsche so, dann bliebe er noch immer dem metaphysischen Denkschema Schopenhauers verhaftet. Er sucht aber überhaupt nicht das Vielfache aus einem Prinzip zu deduzieren, ihm stellt sich umgekehrt alle Einheit als Produkt einer wirklichen Vielheit dar. Der Gedanke Nietzsches ist bei der oben dargestellten Destruktion des Subjekts schon deutlich geworden und konnte bei der Destruktion unseres angeblich einfachen Willensbewußtseins wieder aufgenommen werden. Hier kommt es nun darauf an, das Mißverständnis auszuschalten, die durch Gegensätze konstituierte Vielheit weise ihrerseits auf eine letzte Einheit zurück, der sie entspringe. Nietzsche sagt ausdrücklich, es sei „nicht nöthig", hinter der Vielheit z.B. der Affekte „eine Einheit anzusetzen".112 Sind auch die Affekte (wie noch das .Geistige') auf den Willen zur Macht,reduzierbar', so bildet dieser noch nicht das Eine, in dem jene gründen. Denn immer schon und immer nur sei eine „Vielheit von ,Willen zur Macht*: jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen"113 gegeben, wie Nietzsche es in Hinsicht auf den Menschen besonders eindringlich darlegt. Auch wenn über diesen hinausgefragt wird, auch wenn ,die Welt' in ihrer Ganzheit in den philosophischen Blick gerät, so zeigt sich, wie Nietzsche sagt: ,J)iese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts ausserdem/"114 Das wiederum heißt jedoch nichts anderes als: sie ist „als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte". Mit seiner Rede von der Einheit 1.2

Nachlaß, GA XIII 2 4 5 ; [August-September 1885, 4 0 [ 3 8 ] ; KGW VII 3, 379].

1.3

Nachlaß, GA XIII 7 0 ; [Herbst 1885-Herbst 1886, 1[58]; KGW VIII 1, 21]. WzM, GA XVI 4 0 2 ; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 339].

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des Vielen zielt Nietzsche nicht auf eine metaphysische Wurzel, sondern auf die wechselseitige Bezogenheit, ja: Abhängigkeit der Vielen voneinander, die diese in den Zusammenhang der einen Welt bringt. Dieser Zusammenhang soll so eng sein, „dass jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt". 115 Grundsätzlich gelte (wie es in einem Nachlaß-Aphorismus heißt): „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins" ist.116 Daß sich solche Einheit der Organisation und des Zusammenspiels allein durch das Gegeneinander der Vielen, ihren Kampf miteinander, bildet und ständig umbildet, ist hinlänglich deutlich geworden. Es gilt dies aber noch im Hinblick auf ,den' Willen zur Macht ausdrücklich zu machen, da dieser ,Begriff' zu einer Quelle von Mißverständnissen in der Nietzsche-Literatur geworden ist. Nietzsche schreibt: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äussern; er sucht also nach Dem, was ihm widersteht"117. Deshalb könne die Macht eines Willens danach geschätzt werden, „wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushalte und sich zum Vortheil umzuwandeln" wisse.118 Was ihm aber Widerstand zu leisten vermag, kann ebenfalls nur Wille zur Macht sein, wenn dieser denn das einzig Wirkliche sein soll. Jede Äußerung von Willen zur Macht setzt also schon eine Mehrheit von Willen zur Macht voraus. Die Wirklichkeit, auf die Nietzsches Philosophieren letztlich trifft, ist die in Gegensätzen aufeinander bezogene und in solcher Beziehung die eine Welt bildende Vielheit von Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist zwar die dem quantitativ (d.h. machtmäßig) Verschiedenen gemeinsame Qualität. Diese Gemeinsamkeit darf aber nicht auf die Einheit eines gründenden Prinzips reduziert werden: Es gibt diese Qualität nur in der Vielheit quantitativer Verschiedenheit. Andernfalls könnte sie nicht Wille zur Macht sein, weil es kein Entgegengesetztes mehr gäbe, das die Übermächtigung gestattete. Von der Qualität so reden, als bestünde sie in irgendeiner Weise ,an sich', ,vor' den quantitativen Besonderungen, heißt Nietzsche im Sinne einer Metaphysik

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WzM, GA XVI115; [Nachlaß Herbst 1885-Heibst 1886, 2[143]; KGW VDI1, 135]. WzM, GA XVI 63; [Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[87]; KGW VIII 1,

102]. 117

118

WzM, GA XVI 123, vgl. 156; [Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88, vgl. Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 93] und Nachlaß, GA XIII 274; [Sommer-Herbst 1884, 26[275]; KGW VII 2, 220]. WzM, GA XV 416; [Nachlaß Herbst 1887, 10[118]; KGW VIII 2, 190].

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mißverstehen, gegen die er sich mit aller Entschiedenheit gewandt hat. Als ein Beispiel hierfür sei Heideggers Auslegung des Willens zur Macht herangezogen. Nach Nietzsche, so führt Heidegger aus, habe das Leben nicht nur „den Drang zur Selbsterhaltung" im Sinne des Darwinismus, es sei „Selbstbehauptung".119 Sich selbst behaupten aber könne das Leben nur, wenn es sich ständig selbst übermächtige. Der Wille zur Macht sei dieses Sichübermächtigen.120 Der sich hierin zeigende „Steigerungscharakter des Willens"121 lasse diesen von Machtstufe zu Machtstufe schreiten.122 Er übersteige und überhöhe „je sich selbst". So besagt schließlich,Wille zur Macht' für Heidegger: „das Sich-ermächtigen der Macht zur eigenen Ubermächtigung". 123 Nach dieser Auslegung ist der Wille zur Macht nicht auf andere Machtquanten, auf andere Willen zur Macht gerichtet, sondern auf sich selbst. Er bewegt sich allein im Bereich seines eigenen Wesens. Heidegger isoliert in seiner Auslegung die Qualität von den Quanten, in denen sie allein gegeben ist. Daher ist für ihn die genannte „Selbstbehauptung" nichts anderes als „ursprüngliche Wesensbehauptung". Bei allem „Über-sich-hinaus-wollen" des Willens zur Macht handelt es sich daher nach seiner Deutung um ein „ Z u - s i c h selbst-kommen, sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens finden und behaupten". Heidegger hat den Willen zur Macht damit zu einem sich aus sich selbst entfaltenden, gleichwohl bei sich bleibenden, ja: letztlich in seinen eigenen Ursprung zurückgehenden metaphysischen Prinzip gemacht. Die Gewaltsamkeit dieser Interpretation wird verständlicher, wenn bedacht wird, daß sie aus dem Versuch erwächst, Nietzsche in die als Wesensgeschichte des Willens ausgelegte Geschichte der Metaphysik einzubeziehen, und zwar als deren Vollender. Hier kann nur darauf aufmerksam gemacht werden, in welchem Maße sich Heidegger ein sachgemäßes Verständnis des Willens zur Macht durch die Bemühung versperrt, diesen in Verbindung zu Begriffen der philosophischen Tradition zu bringen. Er sucht nämlich „die innere Beziehung von Nietzsches Willens zur Macht zu δυναμις, ενέργεια und εντελέχεια des Aristoteles" herauszustellen. In Nietzsches Begriff der Macht meint er wiederzufinden: einmal das Vermögendsein zu [...] im Sinne der δύναμις, zum anderen auch den Vollzug der Macht im Sinne der ενέργεια und schließlich das schon erwähnte 119 120 121 122 123

Nietzsche, a.a.O., I 72. A.a.O., II 103. A.a.O., I 73. A.a.O., II 103. A.a.O., II 36.

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Zu-sich-selbst-kommen (nämlich in seine Wesenseinfachheit) im Sinne der έντελέχεια.124 Nun ist schon angedeutet worden, in welchem Maße sich Nietzsche gerade gegen die aristotelische Tradition wendet. Daß er sich in seiner kritischen Zersetzung von Überkommenem gerade an diesem orientieren muß, daß auch er gelegentlich dem schon Überwundenen wieder anheimfällt, sei dabei unbestritten. Daß aber schließlich die eigentümliche Gestalt, die Nietzsches Willensbegriff in seiner schärfsten Ausarbeitung erfährt, nichts mehr mit den genannten aristotelischen Bestimmungen gemein hat, dürfte aus dem Ausgeführten genugsam erhellen. Der These Heideggers, Wille zur Macht sei „immer Wesenswille", „nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen",125 muß also entschieden widersprochen werden. Freilich besteht dieser Wille faktisch nie als vereinzelter, isoliert, sondern nur in der Vielheit gegensätzlich aufeinander bezogener Willen. Andererseits aber bleibt ein Problem. Die Willen zur Macht sind zwar nicht isoliert vorkommende, aber doch, und zwar gerade in ihrer Bezogenheit aufeinander, die aus sich selbst heraus Mächtigen. Was aber sind sie dann in sich selbst? Diese Frage verschärft sich noch, wenn bedacht wird, daß sie für Nietzsche die Letztgegebenheit darstellen. Sie entspringen weder einem metaphysischen Prinzip noch lassen sie sich aus dem Ganzen der Welt ableiten. Konstituieren sie doch allererst das in sich flutende Meer, das die Welt in Nietzsches Sicht ist. 126 Sie können weder Atome noch Substanzen sein: der Destruktion dieser wie auch der ihnen verwandten Begriffe gilt ja, wie gezeigt wurde, Nietzsches Bemühen. Die Frage: „Wer will Macht?" 127 ist absurd, wenn in ihr nach einem letzten Träger des Machtwillens gefragt wird. Was aber soll dann das sein, das aus sich heraus mächtig ist? „Es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren", schreibt Nietzsche einmal.128 Im gleichen Textstück spricht er von „Monaden": freilich dürfe man von ihnen, wie von „Atomen", nur „relativ" reden, weil damit immer „eine gröbere Welt von Bleibendem" gesetzt werde. In der Tat erinnern Nietzsches ,Willenspunkte' am ehehsten noch an die immateriellen „points metaphysiques" des Leibniz. Auch seine Ausführungen zum „Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum - und nicht nur der Mensch - von 124 125 126 127 128

A.a.O., I 7 3 - 7 8 . A.a.O., I 73. Vgl. WzM, GA XVI 4 0 1 ; [Nachlaß Juni-Juli 1885, 3 8 [ 1 2 ] ; KGW VII 3, 339], WzM,GA XVI 156; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52]. WzM, GA XVI172; [Nachlaß November 1887-März 1888,11 [73]; KGW VIII2,278fJ.

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sich aus die ganze übrige Welt" konstruiere,129 lassen an die Leibnizische Monadologie denken. Man darf diese Verwandschaft freilich nicht überbewerten. Die ,Monaden' Nietzsches sind weder konstant noch .fensterlos', noch gar sind sie ,Entelechien' im Sinne des Leibniz. Wenn auch für Nietzsche „die kleinste Welt die dauerhafteste ist", so ist sie doch nicht ewig.130 Seinem Willen zur Macht am Ende doch noch eine Substantialität (nämlich im Leibnizschen Sinne) zuzusprechen, verbietet sich also. Der „Kampf der Atome" führe „bei gewissen Stärkeverschiedenheiten" dazu, daß „aus zwei Atomen Eins" werde. Ebenso gelte umgekehrt: „aus Eins werden Zwei, wenn der innere Zustand eine Disgregation des Macht-Centrums bewerkstelligt."131 Dasjenige, was aus sich heraus mächtig ist, ist also selber ein sich ständig Änderndes, Machtaufbauendes oder Machtabbauendes. Nietzsches Rede von der Vielheit der Willen zur Macht setzt keine fixen Einheiten voraus. Das philosophisch Letzte, auf das Nietzsche stößt, ist nie ein faktisch (quantitativ) Letztes: jedes Quantum an Willen zur Macht kann nicht nur noch wachsen, sondern auch immer noch abnehmen, nicht nur sich neue Quanten einverleiben, sondern auch ständig weiter zerfallen. Auf die Frage aber, was denn die unablässig sich wandelnden Organisationen von Willen zur Macht sowohl zusammenbringe und in sich zusammenhalte wie auch zerfließen lasse, ist die letzte Antwort: es sind Gegensätze, die alle Aggregation wie auch alle Disgregation ermöglichen, und zwar sowohl die Gegensätze, die einer Organisation je immanent sind, als auch diejenigen, die ihr ,νοη außen', von einer anderen Organisation her, entgegentreten. Der Wille zur Macht ist des Gegensatzes bedürftig, der freilich selber nur Wille zur Macht sein kann. Der Gegensatz macht ihn allererst zum Willen zur Macht.

129

WzM, GA XVI 114; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165]. - Der Perspektivismus Nietzsches gerät nicht in Widerstreit mit der Lehre vom kontinuierlichen Fluß alles Geschehens. Wir müssen uns „das Ganze der organischen Welt" als „die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich" denken (Nachlaß, GA XIII 8 0 ; [April-Juni 1885, 3 4 [ 2 4 7 ] ; KGW VII 3, 223]).

130

WzM, G A X V I 1 7 2 ; [Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[73]; KGW VIII2, 278]. Nachlaß, GA XIV 3 2 5 ; [ Herbst 1885, 43[2]; KGW VII 3, 4 3 9 ] ; vgl. WzM, GA X V I 1 2 3 ; [Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII2, 88] und Nachlaß, GA XIII 2 5 9 ; [ Herbst 1885-Herbst 1886, 2[68]; KGW VIII2, 90], Nachlaß, GA XIV 3 7 ; [August-September 1885, 40[8]; KGW VIII 2, 363],

131

Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

Vorbemerkung Wenn Nietzsche schreibt, die Welt sei der Wille zur Macht und nichts außerdem, so scheint er uns mit dieser klaren Aussage einen Schlüssel zum Verständnis seines Denkens in die Hand zu geben, mit dessen Gebrauch die philosophischen Interpreten vertraut sind: Er nennt den Grund des Seienden und bestimmt von ihm her das Seiende im ganzen; sein Denken ist Metaphysik in dem uns aus der langen Geschichte der abendländischen Philosophie geläufigen Sinne. Das Verständnis dieses Denkens stellt uns dann nicht vor grundsätzlich neue Probleme. Mag Nietzsche sich auch ausdrücklich gegen die Metaphysik wenden, so können wir uns doch rasch davon überzeugen, daß er von dieser nur in der Bedeutung einer Zweiweltentheorie spricht. Sehen wir von einer solchen Verengung ab, so ist Nietzsches Anspruch, seine Philosophie sei keine Metaphysik, doch wohl nicht aufrecht zu erhalten. Nietzsche verlängert nur, so könnten wir sagen, die Kette metaphysischer Weltdeutungen um ein weiteres Glied. Heidegger hat der Philosophie Nietzsches eine besondere Bedeutung innerhalb der Geschichte der Metaphysik zugesprochen. Er deutet sie als Vollendung der abendländischen Metaphysik, insofern sich in der in ihr vollzogenen Umkehrung der Metaphysik deren Wesensmöglichkeiten erschöpfen sollen. In Nietzsches Denken geschieht aber noch mehr: die Zerstörung der Metaphysik aus ihr selbst heraus. Es läßt sich zeigen, daß ihr gerade als der höchsten Aufgipfelung der .Metaphysik der Subjektivität' diese Subjektivität ins Grund-lose hinabsinkt. Der metaphysische ,Wille zum Willen' wird in der Gestalt des Willens zur Macht, der sich als er selbst durchschaut, zum gewollten Wollen, das nicht mehr auf ein Wollendes, auf den Willen, zurückverweist, sondern nur noch auf das Gefüge von Wollendem, welches sich, auf sein letztes faktisches Gegebensein hin befragt, ins Un-fest-stell-bare entzieht. Kein Zweifel, daß Nietzsche Metaphysiker bleibt. Kein Zweifel, daß er Metaphysik restauriert: so etwa, wenn er in der Wiederkunftslehre die höchste Annäherung des Werdens an das Sein denkt. Aber wesentlicher scheint mir, daß hinter den von ihm immer wieder aufgerichteten Fassaden in Konsequenz seines unablässigen Fragens Metaphysik

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zerfällt. Die volle Bedeutung dieses Vorgangs könnte nur im Rahmen einer weitgespannten Erörterung angemessen interpretiert werden, in der Metaphysik in ihrer Vielschichtigkeit zum Problem gemacht würde. In dieser Untersuchung geht es um die Frage nach dem Willen zur Macht. Wir wollen versuchen, uns dabei gänzlich im Horizont der Philosophie Nietsches zu bewegen. Es wird sich zeigen, welche komplexe Problematik hinter der so einfach klingenden Aussage steht, die Welt sei der Wille zur Macht und nichts außerdem.1 In diese Problematik wollen wir Schritt für Schritt eindringen. Angesichts ihrer Komplexität erscheint es mir angebracht, mit der Anführung einiger charakteristischer Aussagen Nietzsches über das zu beginnen, was er unter »Wille zur Macht' versteht. Sie sollen einen ersten Zugang zu dem eröffnen, was im folgenden expliziert wird.2

1. Vorläufige Charakterisierung des Willens zur Macht Wille zur Macht ist nicht ein Spezialfall des Wollens. Ein Wille ,an sich' oder ,als solcher' ist eine bloße Abstraktion: faktisch gibt es ihn nicht. Alles Wollen ist Nietzsche zufolge Etwas-Wollen. Das in allem Wollen wesenhaft gesetzte Etwas ist: Macht. Wille zur Macht sucht zu herrschen und seinen Machtbereich unablässig zu erweitern. Machterweiterung vollzieht

1

In Grundzügen habe ich meine Deutung des ,Willens zur Macht' in meinem Buch Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin-New York 1971, vorgelegt. In ausführlicherer Kritik haben sich bisher mit ihr auseinandergesetzt: W. Weischedel in einem Diskussionsbeitrag unter dem Titel Der Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Müller-Lauters mit Martin Heidegger, in: Zeitschr. f. philos. Forsch. 27/1 (1973), 7 1 - 7 6 undP. Köster in Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation. Kritische Überlegungen zu Wolfgang Müller-Lauters Nietzschebuch, in Nietzsche-Studien 2 (1973), 3 1 - 6 0 . Ich werde im folgenden auf die wesentlichen Einwände vor allem dieser Kritiker, soweit sie sich auf die Problematik des Willens zur Macht beziehen, in Anmerkungen eingehen. Sie stehen teils unter dem Text, die umfangreicheren werden im Anhang zusammengestellt; unter dem Text wird auf sie hingewiesen. Auch darüber hinaus meine ich den Einwänden im Zuge meiner Ausführungen Rechnung getragen zu haben.

2

Die nachstehenden Ausführungen sind hervorgegangen aus einem Vortrag, den ich unter dem Titel Überlegungen zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht auf Einladung der Wijsgerig Gezelschap am 13. Mai 1973 in Löwen gehalten habe.

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sich in Überwältigungsprozessen. Deshalb ist Machtwollen nicht etwa nur „»begehren', streben, verlangen". Z u ihm gehört der Effekt des Commando's".3 Kommando und Ausführung gehören in dem Einen des Willens zur Macht zusammen. So ist „ein Machtquantum ... durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet". 4 Überall findet Nietzsche den Willen zur Macht am Werke. „Am deutlichsten" läßt sich „an allem Lebendigen ... zeigen, daß es alles thut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden ...". 5 Aber auch im unorganischen Bereich ist der Wille zur Macht das einzig Tätige. Nietzsche grenzt sich von Schopenhauers »Willen zum Leben' als Grundform des Willens ab: „das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur M a c h t , - es ist ganz willkürlich zu behaupten, daß Alles danach strebe, in diese F o r m des Willens zur Macht überzutreten". 6 Nicht nur in dem, was herrscht und seine Herrschaft ausdehnt, äußert sich der Wille zur Macht, sondern auch in dem Beherrschten und Unterworfenen. Selbst „das Verhältniß des Gehorchenden zum Herrschenden"

3

4 5 6

Nachlaß November 1887-März 1888, 11[114]; KGW VIII 2, 296 WM 668). Die von Nietzsche veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorbereiteten Werke werden unter möglichst genauer Angabe von Schrift und Abschnitt, Aphorismus etc. aus der KGW zitiert. Der Nachlaß wird, soweit schon in dieser Ausgabe erschienen, ebenfalls nach der KGW, ansonsten nach der GA zitiert. Da für den in der KGW bisher veröffentlichten Nachlaß der achtziger Jahre zum Teil noch gar keine Konkordanzen zur Verfügung stehen (V 1 und 2), zum Teil nur solche von der KGW zur GA (VIII 2 und 3), ist es möglich, daß aus dem einen oder anderen schon in der KG W erschienenen Nachlaßfragment noch nach der GA zitiert wurde. Sofern Texte aus der KGW nachgewiesen werden, die in früheren Ausgaben in der Nachlaßkompilation ,Der Wille zur Macht' abgedruckt sind, wird in Klammern auch die Aphorismus-Nummer dieser Kompilation angegeben, ohne auf eventuelle Unterschiede in der Entzifferung und Abgrenzung des Aphorismus bzw. auf Textveränderungen, die die Herausgeber der GA vorgenommen haben, einzugehen. [Beim hier vorgelegten Wiederabdruck des Textes von 1974 konnten die dort nur nach GA zitierten Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches durch die Stellenangaben nach KGW ergänzt werden. Sie werden in eckigen Klammern nachgestellt. Deutlich werden soll dadurch, daß die Konzeption der Abhandlung überwiegend auf der Grundlage der GA erfolgt ist. Die später allein nach KGW nachgetragenen Ergänzungen haben nicht zu Modifkationen meiner Deutung geführt.] Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50 (WM 634). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 93 (WM 688). Ebd. (WM 692).

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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

muß „als ein Widerstreben" im genannten Sinne verstanden werden. 7 Auch der Mensch ist - in welchen Verhaltensweisen auch immer - im Grunde Wille zur Macht. Nietzsche führt alle unsere intellektuellen und seelischen Tätigkeiten auf unsere „Werthschätzungen"' zurück, die „unseren Trieben und deren Existenzbedingungen" entsprechen. In einer nachgelassenen Aufzeichnung heißt es dazu weiter: „Unsere Triebe sind reduzirbar auf den Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen." 8 Damit wird deutlich, daß für Nietzsche „das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist".9 Diese ersten Ausführungen zur Thematik des Willens zur Macht orientierten sich am Nachlaß Nietzsches. Es fragt sich, ob eine solche Orientierung legitim ist. Sollte man sich in einer so wichtigen Frage nicht besser allein oder wenigstens primär - an die von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften halten? Wie steht es denn um die philologische Zuverlässigkeit des edierten Nachlasses? Welches philosophische Gewicht haben die von Nietzsche nicht publizierten Aufzeichnungen im Verhältnis zu dem von ihm autorisierten Werk?

2. Bemerkungen zur

Nachlaß-Problematik

Der größere Teil von Nietzsches unveröffentlichten Aufzeichnungen ist, soweit er unmittelbare Relevanz besitzt, im Rahmen der sogenannten ,Groß-Oktav-Ausgabe' der Nietzsche-Diskussion zugänglich gemacht worden. Der vollständige Nachlaß wird freilich erst vorliegen, wenn die von G. Colli und M. Montinari veranstaltete Kritische Gesamtausgabe zu ihrem Abschluß gelangt sein wird. Schon nach den bisher veröffentlichten Bänden dieser Ausgabe kann allerdings gesagt werden, daß sich die Nietzsche-Forschung auf Grund des nun erst bekannt gemachten Materials in vielerlei Hinsicht vor eine neue Situation gestellt sieht. Ob aus den bisher noch unveröffentlichten Texten wesentliche neue Einsichten für eine Beantwortung der fundamentalen Fragen nach dem Willen zur Macht erwachsen können, läßt sich derzeit nicht sagen. Ich 7 8

9

Nachlaß; GA XIII, 62; [August-September 1885, 40[55]; KGW VII 3, 387], Nachlaß; GA XIV, 327, vgl. GA XVI, 415. [August-September 1885, 40[61]; KGW VII 3, 393]. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[80]; KGW VIII 3, 52 (WM 693).

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wage es zu bezweifeln: nicht zuletzt deshalb, weil die früheren Herausgeber gerade ihr ein besonderes Augenmerk geschenkt haben. So ist unter dem Titel ,Der Wille zur Macht' zuerst im Jahre 1901 eine auf 483 Aphorismen begrenzte, im Jahre 1906 eine andere, 1067 Aphorismen enthaltende Zusammenstellung von nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches erschienen. Deren Herausgeber orientierten sich bei ihren Kompilationen an einem von zahlreichen Plänen, die Nietzsche für ein künftiges Werk zwar entworfen, aber nicht verwirklicht hat. Indem sie ihrem Unternehmen Nietzsches Disposition vom 17.3.1887 zugrunde legten, stellten sie, Nietzsches sehr allgemeiner Gliederung folgend, Texte zusammen, die in mancherlei Hinsicht unterschiedlichen Charakters sind und nur zu einem - wenn auch beträchtlichen - Teil zur Klärung dessen, war er unter dem ,Willen zur Macht' versteht, beitragen. Zwar sind darüber hinaus auch jeweilige Auswahl und systematisierende Ordnung der Aphorismen mehr als fragwürdig, von editorischer Leichtfertigkeit im einzelnen ganz zu schweigen. Ferner läßt sich aus anderen Nachlaßbänden der G r o ß - O k tav-Ausgabe Bedeutsames für Nietzsches Verständnis des Willens zur Macht gewinnen. Daß das Problem des Willens zur Macht ins öffentliche Bewußtsein trat, und zwar im guten, philosophisch fragenden Sinne wie auch im schlechten, schlagwortartigen Gebrauch, dies ist jedoch vor allem darauf zurückzuführen, daß mit der Ausgabe von 1906 ein Buch unter dem Titel ,Der Wille zur Macht' erschien und zur Wirkung gelangte, von dem behauptet wurde, es stelle das philosophische Hauptwerk Nietzsches dar. Es verbietet sich, von einem solchen Hauptwerk Nietzsches zu sprechen. Aber es verbietet sich auch, die in den genannten Kompilationen wie in anderen Bänden der Groß-Oktav-Ausgabe veröffentlichten Aphorismen und Fragmente als bloßen Nachlaß beiseitezuschieben. Zwar bedarf es der Differenzierung zwischen ,echtem Nachlaß' einerseits und paraphrasierenden Exzerpten, die Nietzsche anfertigte, sowie ,Vorstufen' zu von ihm selbst noch Veröffentlichtem andererseits. Hier wird die neue Kritische Gesamtausgabe noch wesentliche Einsichten eröffnen. Aber schon um das Verhältnis zwischen früheren Niederschriften und späteren, für die Publikation umgearbeiteten Texten steht es im Falle Nietzsche nicht so wie bei anderen Autoren. Nietzsche hielt nicht nur viele seiner Einsichten zurück. Er gab auch mancher von ihnen in seinen Schriften nur in verdeckender, lediglich andeutender Weise oder auch in hypothetischer Form Ausdruck. Der Hinweis auf die eigentümliche Bedeutung des Nachlasses Nietzsches verliert an Befremdlichkeit, wenn wir hören, daß

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Nietzsche sich selbst als der Versteckteste aller Versteckten verstanden hat. 10 In Jenseits von Gut und Böse schreibt er sogar, man liebe seine Erkenntnis nicht mehr genug, sobald man sie mitteile. 11 Und in einer nachgelassenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1887 heißt es: „Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? ... Aber ich notire mich, für mich." 12 Was Nietzsche zurückgehalten hat, bekommt von solchen Äußerungen her besonderes Gewicht. So finden sich gute Gründe für M. Heideggers Auffassung, daß „die eigentliche Philosophie Nietzsches [...] nicht zur endgültigen Gestaltung und nicht zur werkmäßigen Veröffentlichung, weder in dem Jahrzehnt zwischen 1879 und 1889 noch in den voranliegenden Jahren", gekommen sei. Was Nietzsche selbst veröffentlicht habe, sei „immer Vordergrund". Die eigentliche Philosophie Nietzsches sei als ,Nachlaß' zurückgeblieben.13

3. Die Bedeutung des Nachlasses in K. Schlechtas

Nietzsche-Verständnis

Der an der besonders markanten Ausführung Heideggers exemplifizierten Bewertung des Nietzsche-Nachlasses steht als das andere Extrem die Uberzeugung K. Schlechtas gegenüber, Nietzsche habe „sich völlig eindeutig, völlig unmißverständlich in den von ihm selbst veröffentlichten oder von ihm zur Veröffentlichung eindeutig bestimmten Werken ausgesprochen. In bezug auf eine echte Verständnismöglichkeit bleibt nichts Wesentliches zu wünschen übrig." Man müsse Nietzsche nur in dem verstehen wollen, was er publiziert habe.14 Schlechta hat eine vielbeachtete Ausgabe von Nietzsches 10 11 12 13

14

Nachlaß; GA XII, 275 [November 1882-Februar 1883,4[120]; KGW VII1,151], Jenseits von Gut und Böse 160; KGW VI 2, 100. Nachlaß Herbst 1887, 9[188]; KGW VIII 2, 114. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961; hier: 1,17 [Daß Nietzsche in den von ihm selbst veröffentlichten Schriften „kaum vom Willen zur Macht gesprochen" habe, ist für Heidegger „ein Zeichen dafür [...], daß er dies Innerste der von ihm erkannten Wahrheit über das Seiende als solches möglichst lange behüten und in den Schutz eines einmalig einfachen Sagens stellen wollte". A.a.O., II, 264.]. K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 2 1 9 5 9 , 1 1 , vgl. 90 und im Nachwort zu Schlechtas Nietzsche-Ausgabe, SA III, 1433. -Daß Schlechta die Möglichkeit nicht ausschließt, im noch nicht edierten Nachlaß könne sich noch wichtiges Material finden, zeigt eine Bemerkung im Philologischen Nachbericht zu seiner Nietzsche-Ausgabe: „Wenn ich gesagt habe: ,Der Wille zur Macht' biete nichts Neues, so bezieht sich

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Werken in drei Bänden herausgebracht, die seither von nicht wenigen Autoren als einzige Textgrundlage für ihre Interpretationen herangezogen wird. Diese Ausgabe beschränkt sich freilich nicht, wie nach der dargelegten Auffassung ihres Herausgebers zu erwarten wäre, auf die Veröffentlichungen Nietzsches. Vielmehr hat Schlechta in den dritten Band seiner Edition - neben anderen Texten - die in der 1906 erschienenen Ausgabe des ,Willens zur Macht' zusammengestellten Nachlaßstücke aufgenommen. Man kann hierin eine Inkonsequenz Schlechtas sehen. Doch das geschichtliche Gewicht', das Nietzsches angeblichem Hauptwerk in der Literatur zugesprochen wurde, läßt es ihm gerechtfertigt erscheinen, die Texte der Kompilation ,Der Wille zur Macht' erneut und vollständig zu veröffentlichen. Dies geschieht allerdings so, daß Schlechta die systematische Zusammenstellung der früheren Herausgeber auflöst und statt dessen eine streng chronologische Anordnung der Aphorismen herzustellen sucht, aus denen die Kompilation besteht. Letzteres ist ihm nicht zureichend gelungen und konnte ihm, da ihm die Originalmanuskripte nicht zur Verfügung standen, auch nicht gelingen. Das Verdienst der Ausgabe Schlechtas besteht nicht zuletzt darin, daß er die Hauptwerk-Legende für das öffentliche Bewußtsein endgültig zerstört hat. Daß er jedoch allein diejenigen Texte publizierte, die schon die Herausgeber der Kompilation von 1906 ausgewählt hatten, zeitigte allerdings den fatalen Effekt, daß die Benutzer seiner Ausgabe allein diesen Teil des Nachlasses vor Augen hatten und dieser so im Unterschied zu dem von Schlechta nicht publizierten Nachlaß erneut besondere sachliche Relevanz erhielt. Dabei hatte Schlechta zu recht darauf hingewiesen, daß es eigentlich nicht erklärbar sei, wieso die Herausgeber von ,Der Wille zur Macht' nicht auch diejenigen Aufzeichnungen Nietzsches in ihre Aphorismen-Sammlung aufgenommen haben, die als ,weiterer Nachlaß' in den Bänden XIII und XIV der Groß-Oktav-Ausgabe zu finden sind. Man kann den gleichen Vorwurf gegen Schlechta selbst vorbringen: wenn schon Bemühung um chronologisch geordnete Nachlaß-Edition, weshalb dann nicht chronologisch geordnete Einbeziehung des ,weiteren' Nachlasses?"15 Hat

15

diese Behauptung nur auf die genannte Nachlaß-Auswahl. Allerdings sieht es mit dem in der G[roß] Ofktav] Afusgabe], XHff. (1903f.) Publizierten auch nicht besser aus - aber meine Behauptung bezieht sich nicht auf den ganzen Nachlaß. Das kann gar nicht sein, denn dieser Nachlaß ist ja ζ. T. noch gar nicht oder nicht einwandfrei entziffert; es gibt also noch unbekannte Texte darin." (SA III, 1405f.) In einem Bericht über die Vorüberlegungen der Herausgeber einer italienischen Übersetzung von Nietzsches Werken und Nachlaß schreibt M. Montinari: (Wir konnten) „auch keinen rechten Gebrauch der Schlechta-Ausgabe zu unseren

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Schlechta nicht faktisch - wenn auch entgegen seiner erklärten Intention - einer Höherbewertung der Niederschriften Vorschub geleistet, die in ,Der Wille zur Macht' publiziert worden sind? 16

4 . Zu Äußerungen

Nietzsches

über den Willen zur Macht im ten Werk

veröffentlich-

Die geringe Einschätzung der philosophischen Relevanz des veröffentlichten Nachlasses Nietzsches durch Schlechta hatte eine Kontroverse zur Folge, in der es auch um die sachliche Problematik des Willens zur Macht ging. K. Löwith warf Schlechta vor, eine neue Nietzsche-Legende verbreitet zu haben,

16

Zwecken machen. Wir hatten zwar in deren ersten zwei Bänden eine meist getreue Wiedergabe der Erstdrucke Nietzsches vor uns, im dritten Band aber hatten wir - obwohl einigermaßen chronologisch geordnet - genau dasselbe Material, das 1906 durch die Veröffentlichung der zweiten Ausgabe des .Willens zur Macht' bekannt wurde. In Florenz hätten wir freilich noch ein weiteres über Schlechta hinaus machen können: wir hätten nämlich mit Hilfe des Apparats von Otto Weiß zum ,Willen zur Macht' (im 16. Band der Großoktavausgabe) manche grobe Verstümmelung beseitigen können; außerdem hätten wir auch den ersten einbändigen ,Willen zur Macht' (1901) zu Rate ziehen und dadurch eine gewisse Anzahl wichtiger Fragmente bergen können, welche sonderbarer Weise aus dem zweiten endgültigen, doch viel umfangreicheren ,Willen zur Macht' (1906) verschwunden waren; endlich hätten wir aufgrund der Manuskriptverzeichnisse in den Bänden XIII und XIV der Großoktavausgabe die für den .Willen zur Macht' benutzten Manuskripte (also die, welche in den Bänden X V und XVI der Großoktavausgabe auch verzeichnet waren) ergänzen können. Auf diese Weise hätten wir einen umfangreicheren, nach den Manuskripten einigermaßen chronologisch geordneten Nachlaß aus den 80er Jahren herstellen können." Das Zitat ist der Originalfassung eines Aufsatzes Montinaris entnommen, die mir der Vf. freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Er ist in einer von D. S. Thatcher vorgenommenen Übersetzung ins Englische unter dem Titel The New Critical Edition of Nietzsche's Complete Works (in: The Malahat Review 24, Victoria 1972, 1 2 1 - 1 3 4 ) publiziert worden. [Vgl. inzwischen die Abhandlung Montinaris: Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche lesen, Berlin/ New York 1982, 1 0 - 2 1 . ] Eine gründliche und detaillierte Kritik an Schlechtas Verfahren hat E. Heftrich in seinem Buch Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts (Frankfurt a.M. 1962, 2 9 1 - 2 9 5 ) vorgelegt. Auf sie sei hier nachdrücklich hingewiesen.

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die nämlich, „daß es den Willen zur Macht als ein von Nietzsche gestelltes und durchdachtes Problem von weitester Herkunft und größter Tragweite nicht gäbe." 17 In seiner Antwort führt Schlechta aus 18 , er bestreite natürlich nicht, „daß Nietzsche in dem von ihm veröffentlichten Werk des öfteren den Willen zur Macht als eine Grundeigenschaft des Lebens" apostrophierte, so etwa, wenn er Zarathustra sagen lasse: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht". Aber wo Nietzsche „diesen seinen Gedanken auseinanderzulegen und zu präzisieren" suche, sei er zu einem „vorzeigbaren Resultat" nicht gelangt. Dieses Urteil Schlechtas läßt sich nicht aufrechterhalten. Zwar bietet das von Nietzsche autorisierte Werk keine zureichende Grundlage für ein Verständnis des Willens zur Macht. Die Abgründigkeit dessen, was er mit diesem Wortgefüge zu nennen sucht, ö f f n e t sich nur, wenn man den Nachlaß heranzieht. Schlechta zufolge aber bietet der in der G r o ß - O k tav-Ausgabe publizierte N a c h l a ß nichts N e u e s gegenüber dem, was Nietzsche in seinen Veröffentlichungen gesagt hat. So gelangt er zu der grundsätzlichen Überzeugung, daß es dem Gedanken des Willens zur Macht an Tragfähigkeit mangele. Aber wenn sich auch in Nietzsches Schriften oft nur , Vordergründiges' zum Willen zur Macht findet, so ist ihnen für eine Klärung dieses Problems doch mehr zu entnehmen, als Schlechta wahrhaben will. Lassen wir uns hier nur auf das ein, was Schlechta selber anführt. In seiner Antwort an Löwith legt er „zwei Proben" aus Werken Nietzsches vor, die er als repräsentativ für das erörterte Problem betrachtet. Sie sind - so will Schlechta zeigen - nicht nur miteinander unvereinbar. Jede der beiden Ausführungen soll darüber hinaus auch in sich selbst problematisch sein. Im folgenden werde ich die beiden ,Proben' einer genaueren Betrachtung unterziehen. Ich verstehe die in ihnen herangezogenen Texte ebenfalls als repräsentativ für das von Nietzsche Veröffentlichte. Die ,erste Probe' Schlechtas ist der Aphorismus 36 in Jenseits von Gut und Böse'. Nietzsche stellt hier seinen Gedanken des Willens zur Macht im Kontext einer Reihe von Überlegungen vor, die in die Form von Hypothesen gekleidet sind. Sie brauchen hier im einzelnen um so weniger vorgeführt zu werden, als es dem Interpreten Schlechta allein um den hy-

17 18

K. Löwith, Zu Schlechtas neuer Nietzsche-Legende, Merkur 12, (1958), 782. Zu den im folgenden herangezogenen Ausführungen Schlechtas s. Der Fall Nietzsche, a.a.O. [Anm. 14], 120-122.

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pothetischen Charakter geht, welcher sich in Wendungen ausdrückt wie: „Gesetzt, dass ...", „man muss die Hypothese wagen „ - gesetzt endlich, dass es gelänge ..." - und dergleichen. Nietzsche schließt seine Ausführungen ab mit der Überlegung: „... so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem. - " 1 9 Schlechta findet die Vorsicht bemerkenswert, mit der sich Nietzsche in dieser seiner ersten veröffentlichten Auseinanderlegung der Problematik des Willens zur Macht äußert. Daß Nietzsche den Konjunktiv wählt: die Welt wäre ,Wille zur Macht' und nichts außerdem, veranlaßt ihn zu schreiben: „Das klingt für einen Gedanken, der tragen soll, nicht sehr zuversichtlich." Gegen Schlechtas Auffassung läßt sich zweierlei ins Feld führen. A. Nietzsche spricht in dem herangezogenen Aphorismus nicht nur hypothetisch. Nachdem er geschrieben hat: „ - Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären", fügt er die Parenthese ein: „ - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist - " . Zu recht schreibt E. Heftrich: „Das deutliche notum est der Parenthese aber schränkt die Hypothese, als welche der Aphorismus durchgeführt wird, ein; ja, setzt sie gänzlich in die Klammer. Damit wird, was in der Parenthese steht, zur Lösung, zum Grundsatz (,mein Satz')." 20 Mit der Einfügung geht Nietzsche in der Tat über die von ihm in jenem Aphorismus als frag-würdige Annahmen vorgetragenen Überlegungen hinaus und nennt in ihr seine Grundüberzeugung. Von mangelnder Zuversicht kann da wohl nicht gesprochen werden. B. Der genannte Aphorismus steht in Jenseits von Gut und Böse unter dem Zwischentitel Der freie Geist (Zweites Hauptstück). Die freien Geister sollen die nejuen „Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstände"21 sein^ wie Nietzsche schon vorher, im Ersten Hauptstück seines Buches, schreibt. Er empfiehlt ihnen ihre „Maske und Feinheit", auf

19 20 21

Jenseits von Gut und Böse 3 6 ; KGW VI 2, 50f. Heftrich, Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 14], 72. Jenseits von Gut und Böse 2; KGW VI 2, 11.

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daß man sie verwechsle. Hierin soll sich ihr Stil ausdrücken. 2 2 Sie stellen einen Ubergangstypus dar: es geht Nietzsche darum, wie es in einer Notiz zu den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode heißt, „den Zugang zum Verständniß eines noch höheren und schwierigeren Typus zu erschließen, als es selbst < d e r > Typus des freien Geistes ist: - es führt kein anderer Weg zum Verständniß". 23 Betrachtet man die im Aphorismus 3 6 von Jenseits von Gut und Böse vorgeführten Gedankenexperimente unter diesem Aspekt, so wird man A. Baeumler in seiner Kritik an Schlechta zustimmen müssen. Baeumler schreibt, es sei verfehlt, „ein Stilmittel als eine sachliche Distanzierung im Hauptpunkt" auszulegen. 24 In einer abschließenden Bemerkung zu Schlechtas erster ,Probe' sei auf eine nachgelassene Aufzeichnung Nietzsches hingewiesen, die uns im folgenden noch näher zu beschäftigen haben wird. 2 5 Sie stammt aus dem Jahre 1 8 8 5 und gehört zu den Materialien, die er bei der Abfassung von Jenseits von Gut und Böse berücksichtigte. Nietzsche hat sich am Schluß dieser Aufzeichnung in ähnlicher Weise über die Welt als Wille zur Macht geäußert. Der uns in diesem Zusammenhang allein interessierende Unterschied zwischen den beiden Texten 2 6 besteht nun darin, daß Nietzsche

22 23 24 25 26

Jenseits von Gut und Böse 25; KGW VI 2, 38. Nachlaß; GA XIV, 349; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[17]; KGW VIII 1, 72]. A. Baeumler, Nachwort zu ,Der Wille zur Macht' in: KTA 9 ( 10 1964), 714. Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 401f.; [Juni-Juli 1885,38[12]; KGW VII3,338f.]. Zur Problematik des Verhältnisses von veröffentlichtem und nachgelassenem Text vgl. Heftrich, Nietzsches Philosophie, a.a.O., 69ff. - Man kann darüber hinaus noch eine frühere Fassung des Schlusses des Aph. WM 1067 heranziehen, die in GA XVI, 515 abgedruckt ist. [Als Vorstufe von KGW VII 38[12] abgedruckt in KSA 14,727.] K. Löwith hat im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit L. Klages in seinem Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stuttgart 2 1956, 97) die beiden Fassungen gegenübergestellt. Die erste Fassung rückt den „Willen zum Wieder-und-noch-einmal-Wollen" in den Vordergrund. Sie könnte nur unter Einbeziehung der Problematik von Nietzsches Wiederkunftslehre interpretiert werden, die im Rahmen dieser Abhandlung ausgespart bleiben muß. Löwith schreibt: „Während in der ersten Fassung das Problem eines Wollens der ewigen Wiederkehr im Bilde der wechselseitigen Spiegelung von Weltverfassung und Selbsterhalten dadurch eine scheinbare Lösung findet, daß das Sichselberwollen der Welt als ein Sich-immer-wieder-Wollen von der ewigen Wiederkunft her gedacht ist und der menschliche Wille als ein zurück und voran wollender sich ebenfalls im Kreise bewegt, wird die Fragwürdigkeit eines Wollens der Fatalität in der zweiten Fassung mit der abrupten Formel vom,Willen zur Macht', der im Menschen und in der Welt

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sich in dem früher niedergeschriebenen Text nicht hypothetisch, sondern mit unzweideutiger Entschiedenheit ausspricht: „... - wollt Ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlich-

sten? -Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem!"27 Es

wird im folgenden noch zu zeigen sein, mit welcher unangefochtenen Uberzeugtheit Nietzsche die Weltwirklichkeit von seinem Grundgedanken des Willens zur Macht her denkt. Geht es um die Herausarbeitung von Nietzsches letzten ,Einsichten' und nicht um die Problematik der Fragehaltung der »freien Geister 4 , so verdient hier - wie in anderen Fällen aus anderen Gründen - der Nachlaßtext, der ,Vorstufe' ist, den interpretatorischen Vorrang gegenüber der veröffentlichten Fassung. Indem wir Schlechtas zweite .Probe' heranziehen, geraten wir tiefer in die Schwierigkeiten hinein, die sich einstellen, wenn nach dem Willen zur Macht gefragt wird. Mochte man aus dem ersten Text schließen können, Nietzsche suche nach einem metaphysischen ,Grundprinzip', auf das sich alle »wirkenden Kräfte' zurückführen lassen könnten, so verweist die Stelle, die Schlechta nun heranzieht, auf eine andersgeartete Struktur des Willens zur Macht. Es handelt sich um den Aphorismus 12 der zweiten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral29, aus dem er allerdings nur einige wesentliche Passagen berücksichtigt. Nach seiner Meinung ist dieser Text „mindestens ebenso aufschlußreich" für den Mangel an Tragfähigkeit von Nietzsches Gedanken wie der zuvor von ihm herangezogene. Nietzsche wendet sich hier ebenso gegen den Gedanken einer Teleologie in der Natur wie auch gegen den herrschenden Zeitgeschmack, „welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens". Schlechta findet, daß beide von Nietzsche abgelehnten Positionen, sowohl der „progressus auf ein Ziel hin", als auch die ,mechanistische Unsinnigkeit', nur

27 28

einfach derselbe sein soll, eher verdeckt als zur Sprache gebracht." (A.a.O., 98.) Löwith findet, daß Nietzsches Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkunft einander widersprechen. Dementgegen habe ich in meinem Nietzsche-Buch ihre Vereinbarkeit aufzuweisen versucht (a.a.O., 135ff.). Es geht mir dort u. a. darum, zu zeigen, inwiefern der höchste Wille zur Macht die ewige Wiederkunft des Gleichen wollen muß. Von meiner Deutung her löst sich der Schein einer sachlichen Diskrepanz zwischen den beiden Textfassungen auf. Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 402; [Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 339]. Zur Genealogie der Moral II, 12; KGW VI 2, 3 2 9 - 3 3 2 .

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„verbale Gegenpositionen" im Verhältnis zu Nietzsches »eigentlichem' Weltverständnis darstellen, das in der Annahme „einer Welt des absoluten Zufalls" bestehe. Nun ist für Nietzsche ,Zufall' und ,Zufall' zweierlei, wie auch »Notwendigkeit' und »Notwendigkeit' für ihn zweierlei ist: je nachdem, ob er diese Wörter im Sinne »mechanistischer' Begrifflichkeit oder im Zusammenhang seiner Deutung des Willens zur Macht gebraucht. Wenn Schlechte etwa meint, Nietzsches Kraftbegriff stamme „aus dem Arsenal der positivistischen Naturwissenschaft", so nimmt er nicht ernst genug, was Nietzsche im letzten Teil des Aphorismus von der modernen Entwicklung der „strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften" sagt. »Demokratischer Idiosynkrasie' gegen alles Herrschaftliche entspringend, verkennen sie, so etwa die zeitgenössische Physiologie, das Wesen des Lebens, seinen Willen zur Macht. „Damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden [...] Kräfte haben". Der Wille zur Macht wird hier von Nietzsche als Pluralität von Kräften vorgestellt. Gerade dies irritiert Schlechta. Im Bemühen, den Gedanken der Vielheit deutlich herauszustellen, überzieht er ihn. Er akzentuiert, daß Nietzsche von »voneinander unabhängigen Überwältigungsprozessen' spricht. Schlechta bemerkt dazu: „Sind die Überwältigungsprozesse tatsächlich voneinander unabhängig, so ist jeder Zwischensinn Unsinn." Mit dem Wort »Zwischensinn' spielt er offensichtlich auf »den' Willen zur Macht an. Freilich zitiert er unvollständig, und zwar in einer Weise, die das von Nietzsche Gemeinte entstellt. Ergänzen wir die Formulierung, die Schlechta aus dem Aphorismus 12 herausgezogen hat, wenigstens soweit, als dies für das Verständnis des Textes unumgänglich ist. Nietzsche schreibt: »„Entwicklung' eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist [...] die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen ...". Diese sind also mehr oder minder voneinander unabhängig. Damit wird die Unabhängigkeit eingeschränkt. Auch Überwältigungsprozesse, die »mehr' Unabhängigkeit voneinander haben, sind doch nicht völlig voneinander unabhängig, wie Schlechta interpretiert. Daß Nietzsche, der die Bezogenheit von allem auf alles andernorts so betont, in diesem Zusammenhang von Unabhängigkeit spricht, hat seinen Grund darin, daß er hier gegen jede kausal oder teleologisch orientierte Bestimmung von Geschehensabläufen polemisiert. In der Relation zu solchen Bestimmungen sind die Überwältigungsprozesse der Machtwillen, die in Wahrheit alle »Entwicklungen' konstituieren, mehr oder minder voneinander unabhängig.

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Dessenungeachtet haben die beiden »Proben' Schlechtas uns vor zwei scheinbar unvereinbare Deutungsmöglichkeiten der Lehre vom Willen zur Macht geführt. Hat Nietzsche das Problem des Willens zur. Macht nicht tatsächlich unzureichend „durchdacht"? Denn entweder ist doch der Wille zur Macht das Prinzip, welches die Welt gründet, oder die Welt ist das ungegründete, prinziplose Zusammenvorkommen von Vorgängen, in denen jeweils „ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist", wie es in dem herangezogenen Aphorismus heißt.

S. Zur Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches

Prinzip

In den Nietzsche-Interpretationen überwiegt die Auffassung, der Wille zur Macht sei als das metaphysisch Gründende zu verstehen. Selbst wenn man es ablehnt, den Willen zur Macht als „eindeutig" metaphysischen Willen im Sinne Schopenhauers aufzufassen - nämlich als „ein in sich gegründetes, substantielles und transzendentes Prinzip der Wirklichkeit" - , so kann man doch immer darauf beharren, daß Nietzsche „die vielen konkreten Willen zur Macht doch schließlich als Manifestationen eines einheitlichen, die ganze Wirklichkeit bestimmenden Prinzips denkt", wie dies W. Weischedel tut.29 Seine Deutung bleibt - ungeachtet aller sonstigen Unterschiede - der von Jaspers verwandt, welcher ausführt, Nietzsche substantiiere das eigentliche Sein zum Willen zur Macht innerhalb einer transzendenzlos gedachten Wirklichkeit, in der Welt,reiner Immanenz'30. Unter wieder ganz anderem Vorzeichen geht auch Heidegger von der sich selbst erhaltenden und sich selbst übermächtigenden Einzigkeit des Willens zur Macht aus. Im Sich-selbst-übermächtigen trete der „Steigerungscharakter" des von Nietzsche ausgelegten Willens hervor31. Und W. Schulz hat, in Übereinstimmung mit Heideggers Interpretation, ausgeführt, wogegen der Wille zur Macht angehe, das sei „kein Äußeres mehr, sondern immer nur er selbst". Er überwinde immer nur sich in ewig sich setzender Selbstaufhebung.32 Diese Hinweise mögen genügen. [Vgl. dazu im Anhang 29 30

31 32

W. Weischedel, Der Wille und die Willen, a.a.O. [Anm. 1], 76 und 75. K. Jaspers, Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 2 1 9 4 7 , 310. S. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 30ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 21ff. W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Tübingen 1957, 101.

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zu dieser Abhandlung: 1. Zum Verständnis von Metaphysik bei Nietzsche und Heidegger] Daß Nietzsche - insbesondere im Nachlaß - sehr häufig von dem Willen zur Macht spricht, scheint Deutungen von der eben genannten Art zu untermauern. Und wenn er, wie schon ausgeführt wurde, von der Welt schreibt, sie sei der Wille zur Macht und nichts außerdem, so verbietet sich scheinbar jede Auffassung, in der die Wirklichkeit im Verständnis Nietzsches nicht als metaphysisch gegründete Einheit angesehen wird. Daß es in derselben Niederschrift heißt, die Welt sei als „ein Ungeheuer von Kraft [...] zugleich Eins und ,Vieles"', schließt eine metaphysische Deutung im genannten Sinne nicht aus. Läßt sich doch ,das Viele' von ,dem Eins' her begreifen. Gleichwohl will ich im Ausgang von dieser Bestimmung Nietzsches ein andersartiges Verständnis von Wille zur Macht und Welt entwikkeln. Ich meine, daß es dem angemessener ist, worum es Nietzsche geht.

6. Wille zur Macht als Eins und Vieles Die Welt ist Eins und Vieles. Die Welt ist der Wille zur Macht. Danach läßt sich vermuten, daß auch der Wille zur Macht Eins und Vieles ist. Gehen wir davon aus, der Wille zur Macht sei Eins. Wie kann dann dieses Einssein verstanden werden? Das Eins als theologisch oder metaphysisch Gründendes weist Zarathustra zurück. „Böse" heißt er „all diess Lehren vom Einen".33 Auch ist Eins für Nietzsche keineswegs ,das Einfache'. „Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht ,wahr'. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins, noch auch nur reduzirbar auf Eins" 34 . Was aber besagt dann Einheit für Nietzsche? Er antwortet: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist"35. Dies nötigt uns, auch das Eins des Willens zur Macht unter diesem Aspekt zu bedenken. Das Viele tritt in den Vordergrund. Nur eine Mannigfaltigkeit kann zur Einheit organisiert werden. Bei dem organisierten Vielen muß es sich um ,Machtquanten' handeln, wenn denn die eine Welt nichts anderes ist als der Wille zur 33 34 35

Also sprach Zarathustra II, Auf den glücklichen Inseln, KGW VI 1, 106. Nachlaß Frühjahr 1888, 15[118];.KGW VIII 3, 272f. (WM 536). Nachlaß, W M 5 6 1 ; GA XVI, 6 3 ; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[87]; KGW VIII

1, 102].

40

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Macht. Ich kann nun an das anknüpfen, was zu Schlechtas .zweiter Probe' ausgeführt worden ist. Der Wille zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streite liegenden Kräften. Auch von der Kraft im Sinne Nietzsches kann man Einheit nur in der Bedeutung von Organisation aussagen. Zwar ist die Welt „eine feste, eherne Größe von Kraft", sie bildet „ein Quantum von Kraft".36 Aber dieses Quantum ist allein im Gegeneinander von Quanten gegeben. Zu recht bemerkt G. Deleuze: „Toute force est [...] dans un rapport essentiel avec une autre force. L'etre de la force est le pluriel; il serait proprement absurde de penser la force au singulier."37 Sind die Kräfte aber nichts anderes als die .Willen zur Macht', so läßt sich auch Heideggers Behauptung nicht aufrecht erhalten, Wille zur Macht sein „nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen", Wille zur Macht sei „immer Wesenswille".38 Als Spiel und Gegenspiel von Kräften resp. Machtwillen enthüllt sich die Welt, von der Nietzsche spricht. Bedenken wir zunächst, daß die Zusammenballungen von Machtquanten sich unablässig mehren oder mindern, so kann nur von sich fortlaufend ändernden Einheiten gesprochen werden, nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen. Nietzsche radikalisiert seine Auffassung noch durch die Bemerkung, daß jede solche Einheit als ein „Herrschafts-Gebilde" nur „Eins" bedeute, jedoch „nicht eins" sei.39 Das Eins ist nicht. Dann ist auch der Wille zur Macht nicht Eins. Die Einheit von Ηerrschafts-Gebilden, in denen eine Vielheit von Machtquanten zusammengefügt ist, hat kein Sein. Andererseits aber sagt Nietzsche, wie wir gehört haben: Die Einheit ist Einheit als Organisation. Gerät Nietzsche hier nicht in Widerspruch mit sich selbst? Wenn wir an „die .Vernunft' in der Sprache" glauben, so müssen wir die Frage bejahen. Doch für Nietzsche ist die Sprach-Vernunft „eine alte betrügerische Weibsperson". Nichts habe bisher „eine naivere Überredungskraft gehabt", so heißt es im glei36

Nachlaß, W M 1067 und 6 3 8 ; GA XVI, 4 0 1 und 115; [Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 3 3 9 und Herbst 1885-Herbst 1886, 2[143]; KGW VIII 1, 135],

37

G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 3 1970, 7. M. Heidegger, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], I, 73. - Heidegger führt aus (a.a.O., II, 36): „Statt,Wille zur Macht' sagt Nietzsche oft und leicht mißverständlich,Kraft'." Nachlaß, W M 5 6 1 ; GA XVI, 63; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[87]; KGW VIII 1, 102]. - [Vgl. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [115], KGW V 2, 380: „Ein noch so complicirter Trieb, wenn er einen Namen hat, gilt als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen."]

38

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chen Zusammenhang, „als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen!" 40 Nietzsche ist überzeugt, daß die Sprache uns täuscht, wenn wir das Wort beim Wort nehmen, d.h. wenn wir bei ihm stehenbleiben und uns nicht durch es hinweisen lassen auf die Sachverhalte, die in ihm nicht aufgehen. Weil Nietzsche solcherart hinweisend spricht, kann er sowohl ,ist' sagen und dem ,ist' zugleich Wirklichkeit absprechen. Gefragt werden muß freilich, in welchem Sinne es kein Sein gibt. ,Sein' ist Nietzsche zufolge „eine leere Fiktion". Daß er sich mit dieser Behauptung auf Heraklit berufen zu können glaubt41, zeigt wie schon sein Hinweis auf die Eleaten an, welche „Beschränkung des Seins", mit Heidegger zu reden 42 , für Nietzsches Seinsverständnis konstitutiv ist: das Sein wird dem Werden entgegengesetzt und als ,Täuschung' aus diesem abgeleitet43. Als das dem Werden Entgegengesetzte gilt ,Sein' als das Beständige. Der Gedanke der Beständigkeit verträgt sich nun aber durchaus mit dem Gedanken der Vielheit. Nietzsche bemerkt: „ - Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand ,.." 44 . Nietzsche unterliegt einer solchen Verführung nicht. Wenn es kein Sein im Sinne von Beständigem gibt, dann gibt es auch keine Atome. Nicht nur das Eins eines organisierten Herrschafts-Gebildes hat kein solches ,Sein', sondern auch das Viele, das in einem Gebilde .zusammenspielt', »ist4 nicht, sofern es als aus festen Einheiten zusammengesetzt gedacht wird. Das Viele von Machtquanten ist also nicht als Pluralität von quantitativ irreduziblen 40 41 42 43

44

Götzen-Dämmerung, Vernunft 5 ; KGW VI 3, 72. Götzen-Dämmerung, Vernunft 2; KGW VI 3, 69. M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, 7Iff. Gelegentlich gebraucht Nietzsche das Wort ,Sein' allerdings auch im Sinne von ,Leben'. Dann wird Sein selber als das Werden verstanden. Auch in der Bedeutung von ,Wesen', von ,Wirklichkeit', von .besonderem Seienden' wie von .Seiendem im ganzen' findet es manchmal Verwendung. Götzen-Dämmerung, Vernunft 5; KGW VI 3, 72. - Köster kritisiert meine im Hinblick auf Nietzsche vorgenommene Differenzierung zwischen fixierendem Begriff und hinweisendem Wort (Die Problematik..., a.a.O. [Anm. 1], 40). Die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen sind von J. Salaquarda (in Der Antichrist, Nietzsche-Studien 2 (1973), 91ff.; hier: 133ff.) weitergeführt und vertieft worden. Aus Salaquardas Ausführungen erhellt, wieso Nietzsche seinen .Begriffen' ζ. B. „eine eigene Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders" zukommen lassen kann (Nachlaß; GA XIV, 3 5 5 ; [Juni-Juli 1885, 37[5]; KGW VII 3, 305f.])

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Letztgegebenheiten, nicht als Pluralität von unteilbaren ,Monaden' zu verstehen. 45 Machtverschiebungen innerhalb der instabilen Organisationen lassen aus einem Machtquantum zwei werden oder aus zweien eines. Wenn wir uns der Zahlen in einem fest-stellenden und abschließenden Sinne bedienen, so muß gesagt werden, daß die »Zahl' der Wesen immer im Fluß bleibt.46 Es gibt kein .Individuum', es gibt kein letztes unteilbares Quantum Macht, zu dem wir hinunterkommen. Nietzsche nimmt für sich in Anspruch, .radikal' zu denken, insofern er „die »kleinste Welt' als das überall-Entscheidende entdeckt" habe47. Dieses Kleinste kann als faktisches nie ein Letztes sein. Es ist als Welt immer ein Gebilde, das konstituiert ist durch „Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben". Ein Herrschafts-Gebilde ,ist' nicht Eins, es bedeutet Eins. Was meint hier »bedeuten'? In Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche, Wollen erscheine ihm vor allem als „etwas Complicities, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist" 48 . Daß uns die Sprache Einheiten vorgaukelt, haben wir schon vernommen. Doch das Bedeuten ist ursprünglicheren Wesens als das Sprechen. Sprechen ist eine Ausdruckweise des Machtwollens. 49 Es besiegelt, was vorgängig schon als etwas ausgelegt worden ist. Alle Aus-

45

46 47

Wenn ich die Annahme zurückweise, man könne Nietzsches Willen zur Macht eine Substantialität im Leibnizschen Sinne zusprechen (Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 32f.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 23f.), so verbirgt sich dahinter nicht der Gedanke, den Willen zur Macht komme Substantialität in irgendeinem anderen Sinne zu, wie Köster argwöhnt (Die Problematik..., a.a.O. [Anm. 1], 43ff.). Ich gerate auch nicht in die Gefahr einer Substantialisierung, wenn ich, Nietzsches Gedankengängen folgend, den Menschen als Einheit von relativer Eigenständigkeit verstehe. ,Der Mensch' erwacht in meiner Deutung nach seiner vorangegangenen „Destruktion" damit nicht „zu neuem Leben", wie Köster schreibt (a.a.O., 46), er ist vom Beginn meiner diesbezüglichen Ausführungen an (Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 1 8 f f D a s Problem des Gegensatzes, oben S. 9ff.) als zur Einheit organisierte Vielheit von Kräften im Blick. Vgl. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 33. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[37]; KGW VIII 3, 28.

48

Jenseits von Gut und Böse 19; KGW VI 2, 26.

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„Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen »das ist das und das', sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz", heißt es in Zur Genealogie

der Moral (I, 2; KGW VI 2, 274).

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legung erwächst aus dem Machtstreben der Herrschafts-Gebilde. Diese legen sich dasjenige zurecht, was sie überwinden, vielleicht sich einverleiben wollen oder gegen das sie sich zur Wehr setzen. Das Zurechtmachen ist immer ein fälschendes Gleichmachen und Festmachen. Das gleich und fest Gemachte ist für den Zugriff oder auch für die Abwehrhaltung eines Machtwollens präpariert.50 Nietzsche schreibt: „Wenn ich alle Relationen, alle »Eigenschaften* alle ,Thätigkeiten* eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung." 51 ,Das' Ding bedeutet dem Auslegenden Eins, obwohl ihm in Wirklichkeit nur eine Vielheit gegenübersteht. Doch auch ,der' Auslegende ist nichts anderes als eine Vielheit „mit unsicheren Grenzen" 52 . Wir sind „eine Vielheit, welche sich eine Einheit eingebildet hat", notiert Nietzsche53. Als Mittel, mit dem ,ich' ,mich' über ,mich selbst' täusche54, dient das Bewußtsein, der Intellekt. Zwar muß es „eine Menge Bewußtseins und Willen in jedem complizirten organischen Wesen geben", doch „unser oberstes Bewußtsein hält für gewöhnlich die anderen geschlossen."55 Das Herrschafts-Gebilde, das ich bin, gibt sich sich selbst durch dieses Bewußtsein als Eins zu bedeuten: durch „Vereinfachen und Ubersichtlichmachen, also Fälschen". Auf diese Weise werden die scheinbar einfachen Willensakte möglich.56 Aus all dem dürfte deutlich geworden sein, daß Nietzsche immer faktische Vielheiten von Willen zur Macht im Blick hat, die jeweils Eins im Sinne von Einfachheit bzw. Stabilität bedeuten, in Wahrheit jedoch komplexe und unaufhörlich sich wandelnde Gebilde ohne Beständigkeit sind, in denen sich ein Gegeneinander von in mannigfachen Abstufungen organisierten Kraftquanten abspielt. Mit welchem Recht kann Nietzsche dann aber immer wieder von dem Willen zur Macht sprechen, als wäre er nicht nur in der 50 51 52 53 54

" 56

S. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 1 Iff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 3ff. Nachlaß Herbst 1887, 10[202]; KGW VIII 2, 246 (WM 558). Nachlaß; GA XIII, 80; [Frühjahr 1884, 25[96]; KGW VII 2, 29]. Nachlaß; GA XII, 156; [Herbst 1881, 12[35]; KGW V 2, 480]. „Ich und Mich sind immer zwei verschiedene Personen." Auch mein JVi/cA' ist „erdichtet und erfunden" (Nachlaß; GA XII, 304; [Sommer-Herbst 1882, 3[1] 352 und 3[1] 333; KGW VII 1, 96 und 93f.]) Nachlaß; GA XIII, 239f.; [Frühjahr 1884, 25[401]; KGW VII 2, 112]. Nachlaß; GA XIII, 249; [Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304]. - Vgl. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 25f.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 16ff.

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charakterisierten Vielheit gegeben, als wäre er faktisch Eins? Als gründe der Wille zur Macht als Einfaches die Welt? [Vgl. hierzu im Anhang zu dieser Abhandlung: 2. Zur Diskussion über Einfachheit oder Vielheit von, Willen zur Macht' S. 9Off.] 7 . , Wille zur Macht' im Singular Nietzsche gebraucht den Singular in dreifacher Bedeutung. In der ersten Bedeutung wird der Wille zur Macht auf das Ganze des Wirklichen bezogen. Wir haben gehört: Die Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem. Das Ganze in seiner Mannigfaltigkeit wird mit dem Namen ,Der Wille zur Macht' benannt. Worauf weist dabei der Gebrauch des Singulars hin? Nietzsche bringt mit ihm zum Ausdruck, daß der Wille zur Macht die einzige Qualität ist, die sich auffinden läßt, was immer man auch in Betracht zieht. 57 Wir müssen uns aber davor hüten, die Qualität in irgendeiner Weise zu substantialisieren, sei diese Weise auch noch so sublim. Es gibt die Qualität nicht als etwas Für-sich-bestehendes, nicht als Subjekt oder Quasi-Subjekt, auch nicht als das Eine, dessen „Hervorbringungen" erst die komplexen Gebilde von relativer Dauer sind, wie Heidegger ausführt 58 . Die einzige Qualität ist vielmehr immer schon in solchen quantitativen Besonderungen gegeben, sonst könnte sie diese Qualität nicht sein. Ist doch jeder Wille zur Macht auf den Gegensatz zu anderen Machtwillen angewiesen, um Wille zur Macht sein zu können. Die Qualität ,Wille zur Macht' ist nicht ein wirkliches Eins; dies Eins besteht weder in irgend einer Weise für sich, noch ist es gar ,Seinsgrund'. ,Wirkliche' Einheit gibt es allein als Organisation und Zusammenspiel von Machtquanten. Spricht Nietzsche vom Willen zur Macht als der einzigen Qualität, so läßt er sehr häufig den Artikel fort. Dadurch wird besonders deutlich, daß es sich bei dem Machtwillen nicht um ein Prinzip oder ein ens metaphysicum handelt. Dies geschieht auch in zwei Formulierungen Nietzsches, die besonders gern herangezogen werden, um seine Philosophie in ein metaphysisches Schema zu pressen, in das sie nicht paßt. So spricht er im Zusammenhang einer Schopenhauer-Kritik in Jenseits von Gut und Böse von der „Welt, deren

57

58

S. hierzu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 21ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 21f. M. Heidegger, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], II, 106.

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Essenz Wille zur Macht ist - " 5 9 , und im Nachlaß heißt es (wie schon eingangs zitiert), „das innerste Wesen des Seins" sei „Wille zur Macht". Ob Nietzsche nun schreibt: „der Wille zur Macht" oder „Wille zur Macht", er meint doch immer die einzige Qualität, abgesehen selbstverständlich von den Fällen, in denen er mit der Bezeichnung ,der Wille zur Macht' einen Machtwillen in seiner besonderen Konstitution herausstellt. Nun zur zweiten Bedeutung von Nietzsches .singularischer Redeweise'. Da der Wille zur Macht die einzige Qualität des Wirklichen ist, kann Nietzsche den Singular auch im Hinblick auf allgemeine Bestimmungen anwenden, mit denen üblicherweise Mannigfaltiges in Bereiche zusammengefaßt wird oder die in irgendeiner sonstigen umfassenden Weise Bedeutung haben. Als Beispiel sei der Entwurf eines Planes vom Frühjahr 1888 herangezogen, der die Überschrift trägt: „Wille zur Macht. Morphologie." In dieser Aufzeichnung stellt Nietzsche die Titel zusammen:

„Wille zur Macht

als,Natur'

als Leben als Gesellschaft als Wille zur Wahrheit als Religion als Kunst als Moral als Menschheit" 60 . Uns können hier weder die einzelnen Titel noch die Reihenfolge ihrer Zusammenstellung beschäftigen. Im Ausgang von dieser Aufzeichnung soll deutlich gemacht werden, wie (der) Wille zur Macht nicht verstanden werden darf. Er ist nicht ein der Welt Zugrundeliegendes, das Leben hervorbringt oder sich als Kunst entäußert oder sich als Menschheit verwirklicht. Vielmehr sind die von Nietzsche aufgeführten .Gestaltungen' ihrem Wesen nach: Wille zur Macht. Dieses Wesen in den verschiedenartigen ,Bereichen' sichtbar zu 59 60

Jenseits von Gut und Böse 186; KGW VI 2, 109. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[72] ; KGW VIII 3, 46. - Unmittelbar vor diesem Text findet sich folgende Aufstellung Nietzsches: „Wille zur Macht als ,Naturgesetz' ^ i l l e zur Macht als Leben Wille zur Macht als Kunst. Wille zur Macht als Moral. Wille zur Macht als Politik Wille zur Macht als Wissenschaft. Wille zur Macht als Religion" (A.a.O., 14[71]).

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machen, ist die Aufgabe einer „Morphologie des .Willens zur Macht'", von der auch in einem anderen Plan Nietzsches aus der ersten Jahreshälfte 1 8 8 8 die Rede ist61. Dies gilt gerade dann, wenn der Wille zur Macht in bestimmten Ausdrucksweisen (nicht Hervorbringungen!) verborgen bleibt. Aus einem weiteren Entwurf Nietzsches aus dem gleichen Jahre, der die Überschrift trägt: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe", sei ein Teil der Gliederung angeführt. Er zeigt, in welcher Weise der Wille zur Macht ζ. B. als Moral und Religion verstanden werden muß: „II.

Die falschen Werthe. 1) Moral als falsch [...] 2 ) Religion als falsch 3 ) Metaphysik als falsch 4 ) die modernen Ideen als falsch III. Das Kriterium der Wahrheit. 1) der Wille zur Macht" 6 2 Moral und Religion sind in ihren überlieferten, das Zeitalter noch immer bestimmenden Gestaltungen vom Wesen des Willens zur Macht, auch wenn in ihnen dieses Wesen in einer Verkehrung erscheint. Das Kriterium für ,falsch' und ,wahr' ist in dem zu finden, was Wille zur Macht unverdeckt als Wille zur Macht ist. „In einer Steigerung des Machtgefühls" tritt es zutage 63 . 61

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63

Nachlaß; Frühjahr 1888, 14[136]; KGW VIII3,112. -Nietzsche legt Wert auf die Feststellung, daß morphologische Darstellungen nichts erklären können, sondern lediglich Tatbestände zu beschreiben in der Lage sind: s. Nachlaß, WM 645; GA XVI, 118f. und GA XIV, 331; [Juni-Juli 1885, 36[28]; KGW VII 3, 226 und Sommer-Herbst 1884, 27[67]; KGW VII 2, 291]. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16[86]; KGW VIII 3, 311f. [Nietzsche wendet sich gegen den Satz,Simplex sigillum verum' (und speziell gegen Descartes' Wahrheitskriterium der perception clara et distincta) und fragt: „Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältniß zu unserem Intellekt steht? - Wäre es nicht anders? daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt, und folglich als wahr bezeichnet wird?" (Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 5Of.) ] Nachlaß, WM 534; GA XVI, 45. - Vgl. August - September 1885, 40[15]; KGW VII3, 366f. - [„Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, - sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinzulegen, als [...] ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, ,an sich' fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den .Willen zur Macht'". (Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 49); vgl.

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Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Die allgemeinen Gestaltungen und Bestimmungen sind nicht nur,falsch', insoweit in ihnen besondere Inhalte zu Einheiten zusammengefaßt werden. Sie sind schon ihrer Allgemeinheit wegen ,falsch'. Zumindest gilt das, wenn dem Allgemeinen ,Existenz' zugesprochen wird. Auch dem Willen zur Macht, gedacht gar als allgemeines und höchstes Prinzip, kommt keine Existenz zu. Faktisch gibt es ihn als die einzige Qualität nur in Machtquanten, bzw. als Wesen (Was-sein) nur im unüberblickbar vielfältigen Wirklichsein als Wirksamsein (Daß-sein), bzw. als Essenz nur in der Fülle gegenstrebiger ,Existenzen'. - „Die ,höchsten Begriffe', das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe", so lesen wir in Götzen—Dämmerung, bilden „den letzten Rauch der verdunstenden Realität" 64 . Solches Allgemeine

64

schon die Beschwörung der Wahrheit aus dem Grabe", Nachlaß Herbst 1883, 21[6], KGW VII 1, 638, ferner Nachlaß Frühjahr 1884, 25[311]; VII 2, 88)] - Zu Nietzsches Wahrheitskriterium vgl. auch Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 1 0 8 - 1 1 5 . Götzen-Dämmerung, Vernunft 4; KGW VI 3, 70. - Heidegger sucht darzulegen, „wie in Nietzsches Metaphysik der Unterschied von essentia und existentia verschwindet, warum er verschwinden muß im Ende der Metaphysik, wie gleichwohl gerade so die weiteste Entfernung vom Anfang erreicht ist" (Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], II, 476). Im Zusammenhang seiner metaphysikgeschichtlichen Betrachtungen versteht Heidegger den Willen zur Macht als essentia, die ewige Wiederkehr des Gleichen als existentia. Eine solche Zuordnung ist Nietzsches Denken unangemessen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Für das hier zu Erörternde ist wesentlich, daß schon hinsichtlich des Willens zur Macht das Verhältnis Essenz - Existenz bedacht werden muß. Zwar scheint auch dabei der Unterschied zu verschwinden: zumindest zeugen die herrschenden Nietzsche-Deutungen dafür. Wenn es sich um ein „Verschwinden" handelt, dann gilt allerdings Heideggers im zitierten Zusammenhang vorgebrachter Satz, daß sich ein solches Verschwinden „nur zeigen" lasse, „indem versucht wird, den Unterschied sichtbar zu machen". Dies soll oben versucht werden. Zum Verständnis des Wesens des Willens zur Macht im metaphysischen Sinne faßt Heidegger einige Bestimmungen des Willens, die sich bei Nietzsche auffinden lassen, zusammen: „Wille als das über sich hinausgreifende Herrsein über [...], Wille als Affekt (der aufregende Anfall), Wille als Leidenschaft (der ausgreifende Fortriß in die Weite des Seienden), Wille als Gefühl (Zuständlichkeit des Zu-sichselbst-stehens) und Wille als Befehl". Zu recht lehnt es Heidegger ab, aus diesen und weiteren möglichen Bestimmungen „eine der Form nach saubere ,Definition', die all das Angeführte aufsammelt, herzustellen". (Nietzsche, a.a.O., I, 70f.) Auch im Fortgang dieser Untersuchung wird auf ,Definitionen' verzichtet: mit ihnen verfiele man der von Nietzsche unterlaufenen Logik. Was die von Heidegger genannten Bestimmungen angeht, so interessiert hier vor allem die erste. Wie ist das über sich hinausgreifende Herrsein zu verstehen? Heidegger deutet es als Sichüber-

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ist nur ein Rauch, die Realität besteht im je besonderen Gesamtspiel von Aktionen und Reaktionen, die innerhalb komplexer Gebilde von Kraftzentren gesteuert werden.65 Hiervon ist auszugehen, bei ihnen der Anfang zu machen. Eine der »Idiosynkrasien der Philosophen' besteht aber darin, „das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt (sc. die »höchsten' und allgemeinsten Begriffe) - Leider! denn es sollte gar nicht kommen! ... und den Anfang als Anfang." Stützt man sich auf die Vernunft (soweit diese nicht dem historischen Sinn Rechnung trägt und das zu Ende denkt, was die Sinne bezeugen), so bleibt man bei der „Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft" stehen, was da heißt bei „Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie". Oder bei „Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik." Nietzsche sagt von diesen sich in verschiedenen inhaltlichen oder formalen Bestimmungen allgemeiner Art bewegenden Disziplinen: „In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor". 66 Auch im Hinblick auf diejenigen ,allgemeinen Bestimmungen' (im Rahmen dieser Ausführungen muß es bei diesem undifferenzierten Ausdruck bleiben), die nicht - als eigentlich entbehrlich - ,am Ende' kommen, sondern die für menschliches Existieren unentbehrlich geworden sind, spricht Nietzsche von Unwirklichkeit und .Falschheit': „Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit ... Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichmächtigen des Willens. Das „eine einheitliche Wesen des Willens zur Macht regelt die ihm eigene Verflechtung. Zur Ubermächtigung gehört solches, was als jeweilige Machtstufe überwunden wird, und solches, was überwindet. Das zu Überwindende muß einen Widerstand setzen und dazu selbst ein Ständiges sein, das sich hält und erhält. Aber auch das Überwindende muß einen Stand haben und standhaft sein, sonst könnte es weder über sich hinausgehen, noch in der Steigerung ohne Schwanken und seiner Steigerungsmöglichkeit sicher bleiben." (A.a.O., II, 269f.) Das Überwindende bedarf des Widerstands des zu Überwindenden. Hierin stimme ich mit Heidegger überein. Wenn er jedoch das faktische Gegenspiel von Übermächtigenden und zu Übermächtigenden als Stufengang,eines Einheitlichen' begreift (s. z.B. a.a.O., II, 36 und 103), so erhebt er das Wesen des Willens zur Macht zu einem absoluten Seienden, das sich aus sich selbst zur Vielfalt entfaltet und gleichwohl in sich bleibt. Damit aber wird Nietzsches Gedanke verfehlt. Vgl. dazu auch im Anhang S. 88f. 65 66

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[184] ; KGW VIII 3, 162f. (WM 567). Götzen-Dämmerung, Vernunft 4 und 3; KGW VI 3, 70.

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keit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist."67 Auch hier ist das .Falsche' Umwandlung des wahren Wesens des Willens zur Macht. Dieses wahre Wesen kann jedoch in allem Umgewandelten, ja noch als Bedingung von Möglichkeit und Notwendigkeit solcher Umwandlung aufgewiesen werden. Dies wird in einer anderen Aufzeichnung Nietzsches deutlich. Sie nennt: .„Zweck und Mittel' .Ursache und Wirkung' Als Ausdeutungen (nicht als That.Subjekt und Objekt' bestand) und inwiefern vielleicht .Thun und Leiden' nothwendige Ausdeutungen? (als .Ding an sich und .erhaltende') - alle im Sinne eines Erscheinung' Willens zur Macht."68 Betrachtet man etwas als Zweck oder als Mittel zu einem Zweck, so hat man keinen Tatbestand vor Augen, man nimmt eine Ausdeutung vor. Auch wenn Machtwollen eine solche Ausdeutung ernötigt, so erhält das Ausgedeutete damit nicht die Dignität von Wirklichem.69 Im zuletzt zitierten Text spricht Nietzsche von einem Willen zur Macht. Damit geraten wir in die Problematik der dritten Bedeutung, die der Singular bei ihm erhält. Ein Wille zur Macht ist ein besonderer, von anderen unterschiedener Machtwille. In der herangezogenen Aufzeichnung ist offenkundig vom Menschen als einem Willen zur Macht die Rede. Wille zur Macht meint hier nicht nur die Essenz der Wirklichkeit als solcher, sondern ein Wirkliches in seiner Wirklichkeit. Oft, besonders häufig in kurzen Nachlaßaufzeichnungen, ist nicht eindeutig zu unterscheiden, ob Nietzsche dieses oder jene meint. Nicht selten geht er in seinen Erörterungen vom einen zum anderen über. Ich ziehe ein Beispiel hierfür aus einem Text heran, in dem u. a. die schon angeschnittene Frage nach der Weise des Gegebenseins von .Zweck' behandelt wird. Nietzsche schreibt, „daß alle .Zwecke', .Ziele', .Sinne' nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht" und „daß der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Thun und Wollen 67 68

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A.a.O., 5; KGW VI 3. 71. Nachlaß, WM 589; GA XVI, 91; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[147]; KGW VIII 1, 137]. Nietzsche nennt die .anscheinende Zweckmäßigkeit' auch einmal „die Folge [...] [des] Willens zur Macht" (Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2. 50; W M 552). - [Zur Problematik von Ausdeutung s. im folg. Abschnitt 10.]

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eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben ist, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind ..." 70 Der Ubergang ist hier leicht aufzufinden. Bis zum letzten Komma in der zitierten Passage wird von der Wesensallgemeinheit des Willens zur Macht gesprochen. Wenn es anschließend heißt, daß wir selbst Wille zur Macht ,als Gebot' sind, so denkt Nietzsche existierende,Seiende' als Willen zur Macht. In dieser Bedeutung ist selbstverständlich nicht nur der Mensch, sondern jede organisierte Einheit von Machtquanten ein Wille zur Macht. So notiert Nietzsche: „ - die größere Complicirtheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder - wenn das Vollkommenheit ist, so ergiebt sich ein Wille zur Macht im organischen Proceß, vermöge dessen herrschaftliche gestaltende befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend."71 Wenn Nietzsche in solcher Weise von einem Willen zur Macht spricht, so setzt er mit der singularischen Rede den Plural als gegeben voraus. Dies gilt natürlich auch für diejenigen Äußerungen, in denen er ,Wille zur Macht' mit einem Possessivpronomen verbindet. So ist ζ. B. jedes Volk durch seinen besonderen Willen zur Macht ausgezeichnet. Zarathustra sagt, daß über jedem Volke eine Gütertafel als die Tafel seiner Uberwindungen hänge; sie sei „die Stimme seines Willens zur Macht". 72 In einer nachgelassenen Aufzeichnung schreibt Nietzsche, ein Volk, das noch an sich glaube, verehre „die Bedingungen, durch die es obenauf ist", durch Projektion seines Machtgefühls in seinen Gott. Dieser stelle „die aggressive und machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur Macht dar ...". 73 Wir dürfen uns durch das Possessivpronomen nicht in die Irre führen lassen: die Völker ,besitzen' ihre unterschiedlichen Machtwillen nicht neben anderem, was ihnen noch eigentümlich wäre. Sie sind besondere Machtwillen - und nichts außerdem. Dies gilt für alles, dem Nietzsche Wirklichkeit zuspricht. Jedes Spezifische' ist das, was es ist, allein als ,sein' Wille zur Macht. Nietzsche führt im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft aus, „daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen ( - sein Wille zur 70 71 72 73

Nachlaß November 1887 - März 1888, 11[96]; KGW VIII 2, 286f. (WM 675). Nachlaß, W M 644; GA XVI, 118; [Ende 1886-Frühjahr 1887,7[9]; KGW VIII1,305]. Also sprach Zarathustra I, Von tausend und Einem Ziele; KGW VI 1, 70. Nachlaß Mai-Juni 1888, 17[4]; KGW VIII 3, 321.

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Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangiren (,vereinigen'), welche ihm verwandt

genug sind: - 50 conspiriren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter ..." 74 . Ein Wille zur Macht in diesem Sinne ist eine sich gegenüber anderen Machtwillen besondernde Organisation von Machtquanten. Die Besonderung ist in sich immer schon ein Zurückstoßen des Widerstrebenden, sie ermöglicht die Überwältigung wie die Unterwerfung, die Einverleibung und das Arrangement in bezug auf anderes, das sich besondert. Sich sondern und in der Sonderung sich agierend und reagierend beziehen auf das andere sich Sondernde: auf diese Weise vollzieht sich alles Geschehen. Uns ist „keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt", schreibt Nietzsche. Und damit wir nicht meinen, hier sei vom .einzigen' Willen zur Macht die Rede, müssen wir weiterlesen: „Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Ubergreifen von Macht über andere Macht statt hat." 75 Hat ein Wille zur Macht „die Übermacht über eine geringere Macht erreicht", so arbeitet „letztere als Funktion der größeren" 76 . Die Rede von einem Willen zur Macht, der sich einen anderen unterwirft, ist natürlich eine Vereinfachung. Daß ein Wille zur Macht jeweils ein hierarchisch strukturiertes Gefüge vieler besonderer Machtwillen darstellt, hat Nietzsche in seinen Ausführungen zum menschlichen Leib besonders eindringlich dargelegt.77 „Man kann es nicht zu Ende bewundern", schreibt er, „wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann - " 7 8 . Wieder werden wir von dem ,Einen' auf die ,Vielen' verwiesen, die in sich selber je organisierte und instabile Einheiten, ohne 74 75 76 77

78

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[186]; KGW VIII 3, 165f. (WM 636). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 5 2 (WM 689). Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 5 0 (WM 552). „Am Leitfaden des Leibes" - wie Nietzsche oft formuliert - sollen wir am besten erfahren können, was wir selbst sind. Dieser sei im Vergleich mit dem Geist „das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt" (Nachlaß, W M 532, vgl. 4 9 2 ; GA XVI, 44, vgl. 18; [August-September 1885, 4 0 [ 1 5 ] ; KGW VII 3, 3 6 7 , vgl. 4 0 [ 2 1 ] ; KGW VII 3, 370f.]. Nachlaß; GA XIII, 247f.; (Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 302].

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einen beständigen Seinskern, sind. „Auch jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren [...], gelten uns nicht als Seelen-Atome, vielmehr als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt." Um die gründende Wirklichkeit der Vielheit für all das, was sich als Einheit ,zu bedeuten gibt4, vollends deutlich zu machen, hat Nietzsche dem zitierten Satz eine Parenthese eingefügt. Er spricht von „jene(n) kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren (richtiger: von deren Zusammenwirken das, was wir ,Leib' nennen, das beste Gleichniß ist -)". 7 9 Was Nietzsche jeweils einen Willen zur Macht nennt, ist faktisch Gegenspiel und Zusammenspiel von vielen in sich ebenfalls zu Einheiten organisierten Willen zur Macht. Und jeder Wille ist seinerseits in das Gegen- und Miteinander eines umfassenderen Machtwillens eingefügt. So bildet ζ. B. ein Mensch ein Machtquantum, das zahllose Machtquanten in sich organisiert. Er selber gehört in Gegensatz zu und im Verein mit anderen Menschen umfassenderen ,Organismen' an. Die Frage stellt sich, welcherart das äußerste Organisierte, der weitestgespannte Wille zur Macht ist. Als „die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen", nennt Nietzsche: Völker, Staaten, Gesellschaften.80 Im Unterschied zu den »allgemeinen Gestaltungen und Bestimmungen', die nur Ausdrucksweisen, Ausdeutungen,,Folgen', oder »Anzeichen'81 des Willens zur Macht darstellen, sind sie wirkliche Herrschaftsgebilde. Da in ihnen, als existierenden Organismen, das Wesen des Willens zur Macht in faktischem Daß-sein gegeben ist, können die genannten letzten und höchsten Organismen „zur Belehrung über die ersten Organismen benutzt werden".82 Ist hier doch eine Rück-Übersetzung des falschen Allgemei79 80 81 82

Nachlaß; GA XIII, 248f.; Quni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 303]. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[316]; KGW V 2, 461. Zur Genealogie der Moral II, 12; KGW VI 2, 330. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [316]; KGW V 2 , 4 6 1 . - Nietzsche spricht von den letzten Organismen im Plural: Völker, Staaten, Gesellschaften. Bedarf doch jeder Wille zur Macht eines Gegenwillens, um Wille zur Macht sein zu können. Über den genannten drei letzten Gebilden noch ein allerletztes als faktisch bestehend anzunehmen, verbietet sich daher. So kann Nietzsche sagen: „Die .Menschheit' avancirt nicht, sie existirt nicht einmal..." (Nachlaß Frühjahr 1888, 15[8]; KGW VIII3,202; WM 90). Daß er den Ausdruck,Menschheit' häufig bei der Darstellung seiner eigenen Anliegen verwendet (ζ. B. im Sinne von Masse, von Summe aller Menschen, von Wesen aller Menschen) muß hier unerörtert bleiben. Die Menschheit ist jedenfalls für ihn kein Organismus und damit nicht ein Wille zur Macht. [S. dazu Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[222], KGW V2,425, wo Nietzsche sich gegen philosophi-

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nen in das wahre Besondere nicht nötig. Das Wesen von Besonderung in der Weise von Organisation, wie es für alle Machtquanten konstitutiv ist, läßt sich an den Makro-Organismen leichter herausarbeiten als an den ,kleineren Einheiten'. Mögen nun auch im Hinblick auf menschliche Organisationsformen die drei genannten Gebilde die ,letzten' sein, so bleibt doch die Frage, ob nicht die Wirklichkeit im Ganzen, die Welt, organisierte Wirklichkeit ist. Fände die Frage eine bejahende Antwort, dann müßte noch einmal die Möglichkeit der Existenz des Willens zur Macht als des Wirklichkeitsgrundes geprüft werden. Wir sind von zwei Behauptungen Nietzsches ausgegangen: die Welt sei Eins und Vieles; die Welt sei der Wille zur Macht und nichts außerdem. Wir haben dann der Vermutung Raum gegeben, daß auch der Wille zur Macht Eins und Vieles sei. Das Ergebnis unserer bisherigen Überlegungen lautet: Es existiert nur eine Vielheit von Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist eine essentielle Bestimmung. Wirkliche Einheit kommt einem Willen zur Macht allein als Zusammenspiel im Gegensatz zu anderen Machtwillen zu. Im folgenden soll die erste Behauptung Nietzsches thematisiert werden: die Welt sei Eins und Vieles.

8. Die vielen Welten und die eine Welt In dem herangezogenen Satz bedeutet ,Welt' das, was man das ,A11 des Seienden' oder das ,Seiende im ganzen' zu nennen pflegt. Nun ist dies nicht die einzige Bedeutung von Welt in der Philosophie Nietzsches. So schreibt er: „Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraus setzen, als

sehe Erörterungen wendet, „die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln es ist der Gegensatz meiner Tendenz." Ihm geht es um „möglichst viele wechselnde verschiedenartige Organismen, die zu ihrer Reife undFäulniß gekommen ihre Frucht fallen lassen; die Individuen, von denen zwar die meisten zu Grunde gehen, aber auf die Wenigen kommt es an." Der Sozialismus wird von Nietzsche in diesem Zusammenhang als „Gährung" gesehen, der „eine Unzahl von Staats-experimenten ankündigt, also auch von Staats-Untergängen und neuen Eiern."]

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ihre Außenwelt."83 Welt ist demzufolge einmal ein Ganzes: Welt des Organischen. Wenn wir in der gleichen Niederschrift lesen, „daß es keine unorganische Welt giebt", so können wir unter ,Welt' als Welt des Organischen das Ganze der Wirklichkeit verstehen. Zum anderen ist in der Aufzeichnung von den erdichteten kleinen Welten der besonderen Wesen die Rede. Die Vermutung liegt nahe, solche Erdichtungen hätten kein besonderes Gewicht. Wesentlich scheint allein der erstgenannte ,Weltbegriff' zu sein. Wenn wir jedoch hören, daß das in ihm gefaßte Ganze die Aneinanderfädelung der Wesen mit den .kleinen Welten' bildet, so werden wir doch wieder von jenem an diese gewiesen. Und wenn wir uns daran erinnern, daß Nietzsche die .kleinste Welt' das überall-Entscheidende nennt 84 , so ist es wohl sinnvoll, die Frage nach Nietzsches Verständnis von Welt von diesem Entscheidenden her zu entfalten. Die Rede von den kleinen und kleinsten Welten erwächst aus Nietzsches Willen-zur-Macht-Pluralismus. „Jedes Kraftcentrum hat für den ganzen Rest" der Kräfte, zu denen es sich verhält, „seine Perspektive d. h. seine ganz bestimmte Werthung, seine Aktions-Art, seine Widerstandsart". Ein solches perspektivisch wertendes Agieren und Reagieren konstituiert jeweils „eine Welt". Dem Einwand, auf diese Weise gelange man immer nur zu scheinbaren Welten, hält Nietzsche entgegen: „Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet."85 Die Relativität aber gehört wesenhaft zu den sich gegeneinander organisierenden Willen zur Macht. So lebt infolge der unaufhebbaren Perspektivität „jedes von uns verschiedene Wesen [...] in einer anderen Welt, als wir leben"86. Kann nur von perspektivischen Welten gesprochen werden, so löst sich das Problem ihrer angeblichen Scheinbarkeit auf. Nietzsche stellt die Frage: „ - Ist für uns die Welt nicht nur ein Zusammenfassen von Relationen unter einem Maaße?" Der nächste Satz enthält die bejahende Antwort: „Sobald dies willkürliche Maaß fehlt, zerfließt unsere Welt!" 87 Wenn es keinen .absoluten Maßstab' gibt, dann „bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, [...] von Schein zu reden ,..".88 83 84 85 86

87 88

Nachlaß; GA XIII, 80; [April-Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3, 223]. Vgl. oben S. 42. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[184]; KGW VIII 3, 162f. (WM 567). Nachlaß, WM 565; GA XVI, 65; [Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[14]; KGW VIII 1, 244]. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[36]; KGW V 2, 352. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[184] ; KGW VIII 3, 163 (WM 567).

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Die Entfaltung der Welt-Problematik scheint zu dem gleichen Ergebnis zu führen wie die Erörterung des Willens zur Macht. Vom Singular werden wir auf den Plural verwiesen. Nehmen wir Nietzsches Ausführungen zur Perspektivität ernst, so bleibt uns unverständlich, mit welchem Recht er noch von der Welt sprechen kann. Müssen wir nicht folgern: es gibt nicht die Welt, es gibt nur Welten? Doch Nietzsche gebraucht den Ausdruck ,die Welt' immer wieder im Sinne von Wirklichkeit im ganzen. Am Anfang dieses Abschnittes haben wir auch ein Beispiel dafür herangezogen, daß er das Verhältnis der vielen kleinen Welten zur Welt als ganzer bedenkt. Wir müssen daher versuchen, dieses Verhältnis zu klären. Dabei ist festzuhalten, daß wir unsere Perspektivik nicht in Abzug bringen können, um auf diese Weise die Welt übrig zu behalten. „Die Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben, [...] existirt nicht als Welt ,an sich'".89 Setzen wir nun voraus, es gebe die Welt als das Ganze von Wirklichkeit, so können wir die Aussage des zitierten Satzes ins Positive wenden. Zu dieser Welt gehören dann unsere besonderen Lebensbedingungen und damit unsere Perspektiven, wie zu ihr die perspektivisch bestimmten Aktionen und Reaktionen aller Einzelwesen gehören. Wenn Nietzsche sagt, die ,Welt' sei „nur ein Wort für das Gesammtspiel dieser Aktionen"90, so bedeutet das, daß er die Welt als „Welt der Kräfte"91 auffaßt. Jede Kraft entwirft sich zwar eine eigene Welt. Aber dieses je Eigene führt nicht zur Abkapselung gegenüber den Welten der anderen Kräfte. Ist doch jede Kraft (d. h. jeder Wille zur Macht) auf die anderen Kräfte in Widerstreit oder in Akkomodation bezogen. Zwar hat die Welt, „unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht". Aber sie bildet doch als das Aggregat aller Kräfte das,Material' für alle besonderen Weltentwürfe. Nicht aus den „Summirungen" der perspektivischen Welten ergibt sich die Welt: sind jene doch „in jedem Falle gänzlich incongruent"92. Auch die ,Aneinanderfädelung', Von der oben die Rede war, stellt keinen Zusammenhang der besonderen Welten her. Wohl aber ist die Welt die Summe der Wesen, die Welten erdichten, die Summe der Kräfte, die faktisch gegeben sind. Die Summe der Kräfte ist Nietzsche zufolge begrenzt. „Das Maaß der All-Kraft ist bestimmt, nichts »Unendliches'."93 Er nennt die Welt „eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich 89 90 91 92 93

Nachlaß Nachlaß Nachlaß Nachlaß Nachlaß

Frühjahr 1888, 14[93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568). Frühjahr 1888, 14[184] ; KGW VIII 3, 163 (WM 567) Frühjahr-Herbst 1881, 11 [148]; KGW V 2, 396. Frühjahr 1888, 14[93]; KGW VIII 3, 63 (WM 568). Frühjahr-Herbst 1881, 11[202]; KGW V 2, 421.

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nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen"94. Nietzsche nimmt nicht nur eine Begrenzung der Gesamtsumme von Kraft an, sondern auch eine Begrenzung der möglichen Zahl von Kraftlagen. Er gerät dabei in Widerspruch mit sich selbst: die unendliche Teilbarkeit der Kräfte, durch die jeder Gedanke an eine Quasi-Substantialität der Willen zur Macht ausgeschlossen wird, läßt dem Gedanken von unendlich vielen Kräfte-Kombinationen Raum. Nietzsche muß jedoch eine Begrenzung der Kraftanlagen annehmen, wenn denn seine hier nicht zu erörternde Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen kosmologische Gültigkeit haben soll.95 Zur Begründung der Begrenztheit notiert er: „Das unendlich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende Kraft voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernähren, mit Überschuß ernähren!"96 Die Argumentation hat Überzeugungskraft im Hinblick auf die Unveränderlichkeit der Kraftmenge: Die Annahme einer unendlich wachsenden Gesamtkraft ist absurd. Doch sind, so ist hier gegen Nietzsche einzuwenden, unendlich wechselnde Kraftkombinationen innerhalb der gleichbleibenden Kraftmenge keineswegs ausgeschlossen, wenn denn die Kraftquanten unendlich teilbar sind. Unsere Frage nach der Welt orientiert sich an der Problematik des Willens zur Macht. Für sie ist wesentlich, daß Nietzsche seinem Begründungsversuch hinzufügt, die Annahme, das All sei ein Organismus, widerstreite dem Wesen des Organischen.97 Und so wenig die Welt als All ein lebendiges Wesen ist98, so wenig ist sie eine Organisation in irgendeinem anderen Sinne. Nun haben wir gehört, daß Einheit nur als Organisation Einheit ist. Deshalb kann Nietzsche vom All nicht als von der einheitlichen Welt sprechen. Es ist aufschlußreich, daß er in einer späteren Niederschrift die Möglichkeit zurückweist, die Welt sei das ,A11' als Einheit: „Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird". Noch aufschlußreicher ist die Begründung, die er hierfür gibt. Zu solcher Einheit müßte „irgend eine Kraft, ein Unbedingtes" gehören. „Man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und 94 95 96 97

98

Nachlaß, WM 1067; GA XVI, 401; [Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 335]. Vgl. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 180ff. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[213]; KGW V 2 423. Ebd. - Vgl. auch Nachlaß; GA XII, 60; [Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [201]; KGW V 2 , 4 2 0 ] : „Wir müssen es (sc. das All) als Ganzes uns gerade so entfernt wie möglich von dem Organischen denken!" Die fröhliche Wissenschaft 109; KGW V 2, 145.

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Gott zu taufen." Zur Konstituierung der Einheit des Alls bedürfte es eines ursprünglich Gründenden, welches die totale Vielheit organisierte. Damit aber verfiele man dem von Nietzsche bekämpften metaphysischen Vorurteil. So fordert er: „Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste Unsre."99 Damit verwirft Nietzsche ausdrücklich den Gedanken, die Welt könne in dem Willen zur Macht als einem faktisch bestehenden Seinsgrund verwurzelt sein. ,Die' Welt ist kein All als Einheit, wenn denn alle Einheit Organisation ist. Gibt es doch keine sie zu einem Ganzen organisierende Grundkraft. Von einer Welt zu sprechen hat dann für Nietzsche nur die Bedeutung, daß er eine begrenzte Kraftmenge annimmt, die in unablässiger Veränderung begriffen ist. Um begrenzte Kraftmengen handelt es sich auch, wenn Nietzsche von der organischen Welt, der unorganischen Welt und dgl. in einem bereichhaften Sinn redet. Solche ,Welten4 existieren nicht für sich, auch stellen sie keine organisierten Einheiten dar. Es handelt sich dabei um Einteilungen aus letztlich heuristischen Gründen. ,Die Welt' ist Chaos, wie Nietzsche sagt100: Gesetzlosigkeit von Aggregationen und Disgregationen von Kräften. Da die Welt nicht ein organisiertes Ganzes ist, so gibt es auch nicht den Willen zur Macht als das diese konstituierende ens metaphysicum. Es existieren nur Vielheiten von Willen zur Macht, der Wille zur Macht existiert nicht.

99

Nachlaß, WM 331; GA XV, 381; [Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[62]; KGW VIII 1, 325]. - [S. auch schon Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[201]; KGW V 2, 420: „Das modern-wissenschaftliche Seitenstück zum Glauben an Gott ist der Glaube an das All als Organismus·, davor ekelt mir. Also das ganz Seltene, unsäglich Abgeleitete, das Organische, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen Allgemeinen Ewigen machen! Dies ist immer noch Vermenschung der Natur! Und eine verkappte Vielgötterei in den Monaden, welche zusammen den All-Organism bilden! [...] Phantasterei! - Wenn das All ein Organismus werden könnte, wäre es einer geworden!"]

100

So führt Nietzsche ζ. B. im Nachlaß (November 1887-März 1888, 11 [74]; KGW VIII 2, 279; WM 711) aus, „ - daß die Welt durchaus kein Organism ist, sondern das Chaos".

58

Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

9. ,Die' Willen zur Macht in ,derl Welt Über das, was einen Willen zur Macht kennzeichnet, ist das Wichtigste bereits gesagt worden. Im folgenden soll Seiendes in seiner Besonderheit als Machtwille in der Welt aufgewiesen werden. Alle Seienden werden von Nietzsche als Herrschaftsgefüge, als hierarchisch organisierte Machtquanten aufgefaßt. Auch der Mensch ist, wie wir schon gehört haben, ein solches Gefüge. „ - Was der Mensch will, was jeder kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von Macht." 101 Jeder ,Trieb' in ihm ist selber ein Wille zur Macht. Jeder ist „eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte" 102 . Triebe schließen sich zusammen, um den Gegensatz zu anderen Triebkomplexen auszutragen. Die Gegensätze der Triebe führen zu unaufhörlichen Verschiebungen der Machtkonstellationen: „ - durch jeden Trieb wird auch ein Gegentrieb erregt" 103 . Wie in allem, was ist, so muß auch im Menschen „alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von G r a d - und Kraftverhältnissen, als ein Kampf ..."104 gedeutet werden. In diesem Sinne hat Nietzsche das ego als „Mehrheit von personenartige Kräften" beschrieben, „von denen bald diese, bald jene im Vordergrund" stehe und „nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt" hinsehe. Die Herrschaft innerhalb der Triebkomplexe wechselt: „Der Subjectpunkt springt herum." 105 Dieser darf keineswegs als stabiles Eins verstanden werden. Es ist nicht angebracht, hinter der Vielheit unserer Affekte „eine Einheit anzusetzen: es genügt sie als eine Regentschaft zu fassen"106. 101 ,02 103 104 105

106

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[174]; KGW VIII 3, 152 (WM 702). Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12; [Ende 1886-Frühjahr 1887,7[60]; KGW VIII1,323]. Nachlaß; GA XI, 283. [Herbst 1880, 6[63]; KGW V 1, 540]. Nachlaß Herbst 1887, 9[91; KGW VIII 2, 49 (WM 552). Nachlaß, GA XI, 235; [Herbst 1880,6[70]; KGW V1,541f. [KGW liest m. E. unrichtig: „Das Subjekt springt herum". Ein Unterschied in der Sache ist damit nicht gegeben.] Nachlaß, GA XIII, 245; [August-September 1885,40[38]; KGW VII 3, 379], - In einer anderen Nachlaßaufzeichnung heißt es zum Menschen „als Vielheit": „Es wäre falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen absol Monarchen zu schließen (die Einheit des Subjekts)" (Nachlaß GA XIII, 243; [Sommer-Herbst 1884, 27[8]; KGW VII 2, 276f.]). - Nietzsche spricht gelegentlich von einer „Art Aristokratie von .Zellen', in denen die Herrschaft ruht" (Nachlaß, WM 490; GA XVI, 16; [August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382]). Er hebt so die

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Was für den Menschen gelten soll, trifft nach Nietzsche für alles Lebendige zu: „im ,Wirklichkeitsbereich' des Organischen gibt es nichts anderes als komplexe Zusammenhänge von Machtquanten, „eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen", 107 von denen jedes in seiner besonderen Perspektivität gemeinsam mit anderen Quanten oder in Gegensatz zu ihnen um Herrschaft innerhalb relativer Einheiten ringt. Unter diesem Aspekt erscheint selbst ein Protoplasma eine Vielheit von chemischen Kräften"109, der,Einheit' nur zukommt, insofern sich die Vielheit als sich abschirmendes Zusammenspiel ,zu bedeuten' gibt. Vom Menschen bis zum Protoplasma herab gilt nun, daß das Lebendige infolge der Vielheit der in ihm wirksamen Perspektiven das ihm Entgegenstehende in vielfältiger Weise wahrnimmt. Was ihm entgegensteht, ist u. U. nur zeitweise das ihm Entgegenstehende. Ein Organismus kann sich das ihm anfänglich Fremde einverleiben, ist doch Einverleibung eine Grundweise, in der das Machtwollen wirksam ist. In jedem Falle bedarf das Machtwollen des ihm Widerstehenden. „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, - dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, A n - und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. - Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander." 109 „Das sich theilende Protoplasma 1/2 + 1/2 nicht = 1, sondern = 2 " , notiert Nietzsche 110 .

107 108 109

1,0

Vielheit auch im je dominierenden Machtwillen hervor. Nachlaß; [Mai-Juli 1885, 35[59]; KGW VII 3, 259]. Nachlaß; GA XIII, 227; [Mai-Juli 1885, 35[58]; KGW VII 3, 259]. Nachlaß Herbst 1887,9[151]; KGW VIII2, 88 (WM 656). - Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[174]; KGW VIII 3 , 1 5 2 (WM 702). - [Zur Teilung und Assimilation bei den niedersten Lebewesen bis hin zur Konstitution von Kasten bei den höheren Organismen s. a. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[134], KGW V 2, 388ff.]. Nachlaß; GA XIII, 259, vgl. XIV, 325; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[68]; KGW VIII1, 90, vgl. Herbst 1885,43[2]; KGW VII3,439]. [Vgl. Nachlaß Herbst 1887, 9[98], KGW VIII 2, 55f.: ,JCeine Subjekt-,Atome'. Die Sphäre eines Subjektes beständig wachsend oder sich vermindernd - der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend - ; im Falle es die angeeignete Masse nicht organisieren kann, zerfällt es in 2. Andererseits kann es sich ein schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen

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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

Wenn die Welt der Wille zur Macht ist und nichts außerdem, so müssen auch die Vorgänge im unorganischen .Wirklichkeitsbereich' als Machtkämpfe gedeutet werden. Nietzsche nimmt diese Deutung immer wieder im Zusammenhang seiner Kritik am mechanistischen Denken vor. Daß er diesem seine „Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-willens" entgegenstellt, haben wir schon gelegentlich der Erörterung von Schlechtas ,zweiter Probe' vernommen111. In der sachgebotenen Ausführlichkeit kann hier auf Nietzsches Kritik nicht eingegangen werden. Wir müssen uns auf einige Hinweise beschränken, aus denen erhellen soll, wie er von seiner ,Theorie' her die des Mechanismus kritisiert. ,Mechanik" reduziert die Welt „auf die Oberfläche", um sie »„begreiflich"' zu machen. Sie ist „eigentlich nur eine Schematisir- und Abkürzungskunst, eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks, - kein ^ e r stehen', sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung"112. Mechanistisches Denken „imaginirt" die Welt so, „daß sie berechnet werden kann". Es fingirt „ursächliche Einheiten [...], ,Dinge' (Atome), deren Wirkung constant bleibt". Wie hierbei die Übertragung unseres falschen Subjektbegriffs als einer festen Ich-Einheit auf den „Atombegriff" wie auch auf den „Dingbegriff" erfolgt, so steckt auch unsere vorgetäuschte Subjektivität' ζ. B. hinter dem mechanistischen Bewegungsbegriff wie auch dem „Thätigkeitsbegriff (Trennung von Ursache-sein und Wirken)". Die Mechanik hat nun nicht nur dieses psychologische Vorurteil zu ihrer Voraussetzung, sondern auch das Vorurteil, das uns unsere „Sinnensprache" - vor allem beim Begriff der Bewegung - unterschiebt. In der mechanistischen Weltdeutung haben wir „unser Auge, unsere Psychologie immer noch darin".113 Was das konkret besagt, kann am Beispiel des Begriffs Ursache erläutert werden. In einem besonders aufschlußreichen Nachlaßtext Nietzsches, aus dem nur einige Passagen herangezogen werden können, heißt es: „Psychologisch nach-

111 112 1,3

eine neue Einheit bilden. Keine .Substanz', vielmehr Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt .erhalten' will (es will sich überbieten -).] S. oben S. 36f. Nachlaß; GA XIII, 8 5 ; [Sommer 1886-Herbst 1887, 5[16]; VIII 1, 194]. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 51 (WM 635). - In derselben Aufzeichnung ( = W M 634) notiert Nietzsche, es mache keinen Unterschied, ob wir von „der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom", ausgehen. In diesem wird „immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt, - d. h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten."

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gerechnet, kommt uns der ganze Begriff aus der subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind, nämlich, daß der Arm sich bewegt [...] wir unterscheiden uns, die Thäter, vom Thun und von diesem Schema machen wir überall Gebrauch, - wir suchen nach einem Thäter zu jedem Geschehen .. [...] Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes ,Ding' und ,Ursubjekt'.. [...] Endlich begreifen wir, daß Dinge, folglich auch Atome nichts wirken: weil sie gar nicht da sind... daß der Begriff Causalität vollkommen unbrauchbar ist - [...]· Esgiebt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen »Wirkungen* getrennt denke, so habe ich ihn negirt ..." 1H Wir müssen alle „Zuthaten" unserer irrtümlichen subjektiven Überzeugung „eliminiren", um zu dem zu gelangen, was im mechanistischen Wirklichkeitsverständnis verdeckt ist. Wir finden dann „dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem »Wirken* auf dieselben - . " H 5 Auch für den unorganischen ,Wirklichkeitsbereich' gilt der Satz, „daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist". Eine andere Kraft gibt es nicht. Gerade das agierende und reagierende Treiben, die Mehrung und Minderung von Kräften, werden als diese „in unserer Wissenschaft" nicht bedacht, das Bedenkenswerte bleibt hinter dem Ursache-Wirkung-Schema verborgen.116

114 1,5 116

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 66f. (WM 551). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 51 (WM 635). Nachlaß Frühjahr 1888,14[121]; KGW VIII3, 92 (WM 688). - M a n darf Nietzsche nicht mißverstehen, wenn er schreibt: „Der siegreiche Begriff,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als ,Willen zur Macht'" (Nachlaß, W M 619; GA XVI, 104). Deleuze bezeichnet diesen Satz als „un des textes les plus importants que Nietzsche ecrivit pour expliquer ce qu'il entendait par volonte de puissance" (Nietzsche et la philosophic, Paris 3 1970, 56). Er nimmt Nietzsches Ausführung, der physikalische Kraftbegriff bedürfe der Ergänzung („complement") durch den Willen zur Macht, freilich allzu wörtlich. Zwar schreibt er zu recht: „La volonte de puissance [...] n'est jamais separable de telle et telle forces determinees". Es ist ihm auch zuzustimmen, wenn er ausführt: „La volonte de puissance ne peut pas etre separee de la force, sans tomber dans l'abstraction metaphysique." (A.a.O., 57) Die Problematik seiner Interpretation tritt jedoch zutage, wenn er hinzufügt: „Inseparable ne signifie pas identique", und die Unterscheidung einführt: „La force est ce qui peut, la volonte de puissance est ce qui veut" (a.a.O., 57). Damit

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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht

Mit dem Ziel, die Konsequenzen aufzuzeigen, zu denen Nietzsche in der Ausarbeitung seiner Lehre vom Willen zur Macht getrieben wird, sollen in diesem Zusammenhang noch zwei Probleme erörtert werden: das der Wahr-

,differenziert' er, wo Nietzsche nicht,differenziert', nicht differenzieren darf, ohne die innere Geschlossenheit seines Denkens aufzugeben. Es sei für diesen Zusammenhang über das schon Ausgeführte hinaus nur noch auf Nietzsches Ausführungen im Aphorismus 36 von Jenseits von Gut und Böse hingewiesen, in denen es darum geht, „alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht". ,„Wille' kann natürlich nur auf,Wille' wirken [...], man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ,Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist" (KGW VI 2,51). Nietzsche gebraucht den Kraftbegriff in seinen Schriften in zweierlei Bedeutung: zum einen im Sinne des mechanistischen Vorstellens, zum anderen im Sinne von,Wille zur Macht'. Jener muß letztlich genealogisch von diesem her abgeleitet werden. Zwar kann Nietzsche, wenn er von der mechanistischen Denkweise ausgeht, von der Notwendigkeit einer Ergänzung des Kraftbegriffs ,der Physiker' sprechen, die Deleuze als Forderung nach „addition" (er gebraucht in diesem Zusammenhang auch das Wort „ajouter") mit einem »inneren Willen' versteht (a.a.O., 57). Nietzsche denkt hier aber in Wahrheit so wenig,additiv', wie die in einem anderen Aphorismus (WM 634; [Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 49ff.]) verlangte Entfernung des populären mechanistischen Notwendigkeitsbegriffes eine bloß substrahierende Bedeutung hat. Was sich aus der Ersetzung des mechanistischen Kraftbegriffes durch den Nietzsches für das Verständnis der Wirklichkeit ergibt, läßt ein fundamentales Neubedenken der Vorgänge in der Natur unumgänglich werden, wobei keinem ,Restbestand' der Mechanik noch Wahrheit zugesprochen werden kann. Daß Nietzsche damit nicht die Nützlichkeit' der Mechanik bestreitet, steht auf einem anderen Blatt. Davon wird oben noch die Rede sein. P. Valadier führt in Bulletin Nietzscheen (Archives de Philosophie 36/1 [1973], 141) aus, daß die Arbeiten von Deleuze „n'ont pas peu contribue [...] ä l'interpretation de la volonte que defend aussi Müller-Lauter". Ich stimme ihm im Hinblick auf die Gemeinsamkeit einiger Tendenzen bei Deleuze und mir in den Erörterungen der Wille- zur- Macht-Problematik zu; durch seinen Hinweis bin ich überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht worden. Die tiefreichenden Unterschiede der Interpretationen dürfen aber nicht außer acht gelassen werden. Nur ,exemplarisch' konnte von ihnen hier die Rede sein. - [Inzwischen ist der am Anfang dieser Anm. zitierte Text in der KGW publiziert worden (Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[31]; VII 3, 287. Statt „innerer Wille" muß gelesen werden: „eine innere Welt". Daß jeder physikalischen Kraft eine innere Welt (also eine Vielheit von Machtwillen) zugesprochen werden muß (ohne daß man letztlich auf ein,Einfaches' stößt) unterstützt meine Deutung. - S. dazu M. Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, Nietzsche-Studien 13 (1984), 222f., Anm. 34.]

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nehmung im ,unorganischen Bereich4 und das der Notwendigkeit in allem Geschehen. Wir werden uns zunächst dem zweiten zu. A. Wir beginnen mit einer Frage. Weist uns nicht die ausnahmslose Anwendbarkeit der ,Naturgesetze' auf eine ursprüngliche Beständigkeit in allem durch ihre Formeln bestimmten Geschehen? Nietzsche schreibt dazu: „Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein .Gesetz', sondern ein Machtverhältniß zwischen 2 oder mehreren Kräften. Zu sagen: ,aber gerade dies Verhältniß bleibt sich gleich!' heißt nichts Anderes als: ,ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein'."117 „Ich hüte mich, von chemischen ,Gesetzen' zu sprechen ... Es handelt sich [...] um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, so weit dies eben seinen Grad Selbständigkeit nicht durchsetzen kann." 118 An dieser Stelle der in den Gesetzen ausgedrückten Notwendigkeit tritt bei Nietzsche die Notwendigkeit, mit der die Kämpfe der Machtquanten verlaufen. Wenn gilt, „daß eine bestimmte Kraft eben nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft", so bedeutet das, „daß sie sich an einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist - " . Und dies wiederum heißt: „Geschehen und Nothwendig-Geschehen ist eine Tautologie.Es scheint bei der Notwendigkeit zu bleiben, von der auch in der mechanistischen Theorie die Rede ist, wenn sie von Nietzsche auch anders interpretiert wird. Daß dies nicht der Fall ist, wird in Nietzsches Bemühen deutlich, den Geltungsanspruch der Naturgesetze in zweifacher Hinsicht zu bestreiten (ohne dabei die Anwendbarkeit, ja Nützlichkeit dieser Gesetze in Zweifel zu ziehen). Erstens wendet er sich gegen die Überzeugung, die Naturgesetze seien von zeitloser Gültigkeit; zweitens weist er die Auffassung zurück, in diesen Gesetzen werde Geschehen fundamental erfaßt. So schreibt er: „Wir können von keinem ,Naturgesetz' eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen,

1,7 118 1,9

Nachlaß, WM 631; GA XVI, 109; [Heibst 1885-Herbst 1886,2[139]; KGW VIII1,133f.]. Nachlaß, WM 630; GA XVI, 108f.; Quni-Juli 1885, 36[18]; KGW VII 3, 283]. Nachlaß Herbst 1887, 10[138]; KGW VIII 2, 202 (WM 639).

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was so gar nicht existirt."120 Von den chemischen ,Qualitäten'121 heißt es an anderer Stelle, daß sie fließen und sich ändern, „mag der Zeitraum auch ungeheuer sein, daß die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr: denn sie sind grob [...] es ist immer ein Fehler bei der Verwirklichung, folglich eine gewisse Spannweite, innerhalb deren das Experiment gelingt. Aber ebenfalls innerhalb derselben ist die ewige Veränderung, der ewige Fluß aller Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller der Neuheiten während der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht groß genug ist, um die Formel zu widerlegen."122 Die mechanistische Deutung der Wirklichkeit, von den täuschenden Vorurteilen der Sprache, der Sinne und der »Psychologie' geleitet, nimmt die fundamentalen Veränderungen kleinster und feinster Art nicht zur Kenntnis. Sie simplifiziert, indem sie stabile Einheiten fixiert, zwischen denen sie Verbindungen konstruiert. Sich im Groben haltend, stellt sie auf der Grundlage solcher Verbindungen Gesetze fest, denen sie unverrückbare Notwendigkeit zuspricht. Doch solche Notwendigkeit' ist in Wahrheit nicht unverrückbar, ist überhaupt nicht Notwendigkeit. Unablässiges Anderswerden kommt noch dem Kleinsten und Feinsten zu. Nichts bleibt dasjenige, was es zu einem Zeitpunkt ist. Seine Veränderungen überschreiten unter Umständen auch jene ,gewisse Spannweite', die gegeben sein muß, um ein Gesetz, eine Formel in Anwendung bringen zu können. Hinter der »unwahren Notwendigkeit' der Mechanik sucht Nietzsche die .wahre Notwendigkeit' aufzuweisen. Sie besteht darin, daß jedes Machtquantum zu jeder Zeit nur eine bestimmte Konsequenz in seiner Relation zu den anderen Machtquanten ziehen kann. B. Auch die unorganischen »Seienden' sind Willen zur Macht. Ein Machtwille sucht ζ. B. einen anderen Machtwillen zu überwältigen. Zur Überwältigung gehört eine - je spezifische - Weise von »Erkennen' desjenigen, das überwältigt werden soll. Kein Wille zur Macht ist ein »blinder Wille'. Daher 120 121

122

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881» 11[293]; KGW V 2» 452. Daß es in Wahrheit keine Qualitäten gebe, steht am Schluß des im folgenden zitierten Textes. Gibt es doch nur die einzige Qualität »Wille zur Macht'. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881» 11[149]; KGW V 2 , 397. - [Wir dürften nur von ähnlichen »Qualitäten' in den Naturwissenschaften sprechen statt von gleichen·. „Es kommt nichts zweimal vor, das Sauerstoff-atom ist ohne seines Gleichen, in Wahrheit, für uns genügt die Annahme, daß es unzählige gleiche giebt." Nachlaß a.a.O., 11 [237], KGW V 2, 429f.]

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ist Nietzsche genötigt, ein .„Erkennen"'123, ein „Wahrnehmen auch für die unorg Welt" einzuräumen. In einigen nachgelassenen Aufzeichnungen finden wir spärliche Andeutungen hierzu. Er sucht ein solches Wahrnehmen in dessen Unterschied zum Wahrnehmen in der organischen Welt zu charakterisieren. Dabei geht er so weit zu sagen, „in der chemischen Welt" herrsche „die schärfste Wahrnehmung der Kraftverschiedenheit". Schon ein Protoplasma hat, als Vielheit chemischer Kräfte, demgegenüber „eine unsichere und unbestimmte Gesammt-Wahrnehmung eines fremden Dings". Unsicherheit und Unbestimmtheit rühren daher, daß die vielen Kräfte „miteinander kämpfende Wesen" sind, deren Gegensätzlichkeit auch dann zum Austrag kommt, wenn das Protoplasma „sich der Außenwelt gegenüber fühlt". Die Schärfe der Wahrnehmung, die den chemischen Kräften als solchen eigen sein soll, liegt in der Sicherheit und Bestimmtheit. Diese können nur in „festen Wahrnehmungen" gegeben sein, welche Nietzsche dem Unorganischen in der Tat zuspricht. Insofern Festigkeit im Sinne von Beständigkeit das Kriterium des traditionellen Wahrheitsbegriffes ausmacht, kann er vom Wahrnehmen innerhalb der unorganischen Welt.sagen: „da herrscht »Wahrheit'!"124 Ich glaube, man kann eine kaum verhüllte Sehnsucht Nietzsches nach jener ,Wahrheit' aus diesen und anderen Aufzeichnungen heraushören, nach der Wahrheit, deren Destruktion doch ein Hauptanliegen seiner Philosophie bildet. Diese Sehnsucht klingt auch an, wenn er notiert, daß die hinter dem organischen Leben stehende „unorganische Welt... das Höchste und Verehrungswürdigste" sei. „ - Der Irrthum, die perspectivische Beschränktheit" fehle da. Alles Organische stelle schon „eine Spezialisierung" dar. „Der Verlust bei aller Spezialisierung" besteht offenkundig im Verlust an Schärfe und Festigkeit der Wahrnehmungen. Im Mangel an letzteren läge dann die perspektivische Beschränktheit', von der Nietzsche spricht.125 „Alles Fühlen und Vorstellen 123 124 125

Nachlaß; GA XIII, 2 3 0 ; [Sommer 1883, 12[27]; KGW VII 1, 442]. Nachlaß; GA XIII, 227f.; [Mai-Juli 1885,35[51], [53], [58], [59]; KGW VII3,258f.]. Nachlaß; GAXIII, 2 2 8 ; [Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[105]; KGW VIII 1, 31]. - Vgl. dazu Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [70]; KGW V 2, 3 6 6 : „Grundfalsche Wertschätzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehören! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los [...] Die,todte' Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ,todte Welt' überzugehen - und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt [...] Laßt uns die Rückkehr in's Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden

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und Denken" müsse „ursprünglich eins gewesen sein", heißt es in einer anderen Aufzeichnung. „Im Unorganischen muß diese Einheit vorhanden sein: denn das Organische beginnt mit der Trennung bereits."126 Das Eins-sein des Unorganischen bildet die unabdingbare Voraussetzung für die Festigkeit von dessen Perspektiven. „Alles Organische unterscheidet sich vom Anorganischen , daß es [...] niemals sich selbst gleich ist, in seinem Processe."127 Das Anorganische ist also das sich selber Gleiche. Hier projiziert Nietzsche selber die Identität in das ,Verehrungswürdigste' hinein, während er sie doch sonst überall als bloße Projektion entlarvt. Wir dürfen dieser sich ja nur in spärlichen Andeutungen findenden Inkonsequenz Nietzsches nicht allzu großes Gewicht beilegen. Der breit ausgeführte Grundgedanke Nietzsches ist, daß es kein Eins im Sinne von Beständigkeit gibt. Einheit ist immer nur als Organisation eines Gegen- und Miteinander von Machtquanten Einheit. Die hierin gegebenen „Relationen constituiren erst Wesen"128. Wobei immer zu beachten ist: „Daß ein Ding in eine Summe von Relationen sich auflöst, beweist nichts gegen seine Realität."129 Dies gilt natürlich auch für die »kleinsten' unorganischen Einheiten. Kehren wir noch einmal zu Nietzsches Äußerung über die unorganische Welt zurück: da herrsche »Wahrheit'! In derselben Aufzeichnung ist davon die Rede, daß mit der organischen Welt der ,Schein' beginne. Wir können nun Nietzsches Kritik am traditionellen Gegensatzschema Wahrheit - Schein heranziehen. Für unseren Zusammenhang muß der Hinweis auf ihr Ergebnis genügen. Indem Nietzsche vom je perspektivischen Uberwältigen ausgeht, wird jede ,Wahrheit' zum ,Schein' und jeder ,Schein' zur »Wahrheit'. Am Ende löst sich der Gegensatz auf. Jede Erkenntnis, jede Wahrnehmung erweist sich als »Zurechtmachung' von etwas im Dienste eines jeweilig dominierenden Willens zur Macht. Die Zurechtmachungen haben die Form von »Fest-stellungen' des in Wirklichkeit unaufhörlich sich Wandelnden. Um zurechtmachende Fest-stellungen des Widerstehenden handelt es sich bei den Perspektiven des Unorganischen (denen höchstens eine relative »Festigkeit' zugesprochen werden

126 127 128 129

ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt." Nachlaß; GA XIII, 229; [Sommer 1883, 12[27]; KGW VII 1, 422]. Nachlaß; GA XIII, 231; [Sommer 1883, 12[31]; KGW VII 1, 424]. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[122]; KGW VIII 3, 95 (WM 625). Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 13[11]; KGW V 2 , 518.

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kann130) ebenso wie bei den Wahrnehmungen ,aus vielen Augen', wie Nietzsche sie in der organischen Welt konstatiert. Alles Seiende stellt fest, und zwar mit Notwendigkeit. Das Fest-stellen ist ein Grundzug des Willens zur Macht. Nun ändern sich Fest-stellendes und Fest-gestelltes fortlaufend. Will ein fest-stellendes Machtquantum herrschendes Machtquantum bleiben, so muß es auf immer neue Weise (denn es selbst ändert sich unaufhörlich und damit ändert sich seine Perspektivik) das sich ändernde Beherrschte immer neu fest-stellen. Das Wahrnehmen aller Willen zur Macht läßt sich formal beschreiben als die Beziehung von Geschehnissen zueinander, die sich nicht als Geschehnisse erfassen können, sondern sich wechselseitig fixieren, um - dem Geschehen Tribut zollend - jede Fixierung immer wieder fahren lassen zu müssen. 131 Von den Erörterungen zur Wahrnehmung in der unorganischen Welt ausgehend, haben wir das Fest-stellen als Wesenszug herausgearbeitet, der allen Willen zur Macht zukommt. Blicken wir auf die ,Wirklichkeitsbereiche' zurück, die wir, Nietzsches Ausführungen folgend, durchmustert haben, so läßt sich sagen, daß wir überall dieselbe Grundgegebenheit fanden: Prozesse von Aggregationen und Disgregationen der Willen zur Macht. Es fragt sich, ob angesichts dieses Sachverhalts rechtens von ,Bereichen' gesprochen werden kann. Welche Bedeutung kommt Nietzsches Unterscheidung der organischen von der unorganischen Welt zu? Keineswegs dürfen wir eine qualitative Verschiedenheit solcher Bereiche annehmen. Das Protoplasma ist als Synthesis chemischer Kräfte nicht etwas essentiell anderes als die chemischen Kräfte selber. Daß Nietzsche keine Grenzen zwischen ,den Welten' zieht, zeigt sich selbst dort, wo er in der dargestellten problematischen Weise von der Besonderheit des »unorganischen Wahrnehmens' spricht. Vom „Übergang aus der Welt des Anorganischen in die des Organischen" ist da die Rede.132 Wenn er einmal das Organische als Spezialisierung des Unorganischen faßt und ein andermal ausführt, es gebe keine unorganische Welt (worauf in anderem Zusammenhang schon eingegangen wurde133), so liegt hierin nur scheinbar ein Widerspruch. Im ersten Falle denkt er ,genealogisch'.134 Im zweiten Falle

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132 133 134

Ich erinnere an Nietzsches Hinweis, daß ζ. B. der Sauerstoff in jedem Augenblick etwas Neues sei. S. oben S. 64. Zur Problematik, die sich in diesem Zusammenhang für Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ergibt, s. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 9 5 - 1 1 5 . Nachlaß; GA XIII, 227; [Mai-Juli 1885, 35[59]; KGW VII 3, 259]. S. S. 53f. Damit soll nicht gesagt sein, daß sich in Nietzsches Ausführungen zum Verhältnis Unorganisches - Organisches nicht Widersprüche fänden. Wird das Organische

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wendet er sich gegen das mechanische Denken: in der unorganischen Welt herrschen nicht Druck und Stoß, auch in ihr gibt es nur das Gegeneinander von .Organismen' in jenem Sinne, in dem auch Volk, Staat, Gesellschaft Organismen sind. Wir müssen also bei Nietzsche einen engen von einem weiten Begriff des Organismus unterscheiden. Daß wir uns vor der Annahme hüten müssen, die »organische Welt' als ,Wirklichkeitsbereich' werde umfaßt von der organischen Welt als Wirklichkeit im ganzen, bedarf nach dem weiter oben Ausgeführten135 kaum noch der Erwähnung. Die Welt ist nicht organische Welt, sondern Welt von ,Organismen': das Chaos von fortlaufend sich wandelnden Machtorganisationen.

10. Wille zur Macht als Interpretation Wir haben uns Nietzsches Deutung der Wirklichkeit vor Augen geführt. Nun gibt es viele solcher Deutungen. Vermehrt Nietzsches Philosophie nur ihre Zahl, wie wir schon zu Anfang dieser Abhandlung fragten? Oder hat sie einen Vorzug gegenüber den anderen? Wir wollen hier nicht nach einem Vorzug fragen, der ihr von einem anderen Denken her eingeräumt werden könnte. Es geht uns um Nietzsches Selbstverständnis. Er selbst erhebt einen Anspruch auf Überlegenheit gegenüber anderen Weltdeutungen. Indem wir sein Denken auf diesen Anspruch hin befragen, stoßen wir auf das Problem der Begründbarkeit seiner ,Lehre vom Willen zur Macht'. Wir gehen vom Aphorismus 22 in jenseits von Gut und Böse aus.136 Nietzsche weist dort auf die Unzulänglichkeit der mechanischen Weltdeutung hin. Wir kennen seine Argumente schon und haben sie auf der Grundlage anderer Aphorismen und Fragmente, in denen sie eine ausführlichere Darstellung erfahren, erörtert oder wenigstens genannt137. Für das, worum es uns hier geht, ist wesentlich, daß er ,den Physikern' schlechte ,Philologie' einmal aus dem Unorganischen ,abgeleitet', so heißt es in einer anderen Niederschrift, das Organische (im engeren Sinne) sei nicht entstanden (Nachlaß; GA XIII, 2 3 2 ; [Frühjahr 1884, 25[403]; KGW VII 2, 113]). Auch wird die Entwicklung' vom Unorganischen bis zum Menschen manchmal als Aufstieg, manchmal als Abstieg aufgefaßt. 135 136 137

S. S. 56f. KGW VI 2, 31. Vgl. oben S. 37 und S. 60ff.

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vorwirft. Die „»Gesetzmässigkeit' der Natur" sei „kein Thatbestand, kein ,Text"', sondern „Interpretation". Er stellt dieser seine eigene Deutung gegenüber: „Es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem , Willen zur Macht' dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort ,Tyrannei' schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen ,nothwendigen' und ,berechenbaren' Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht." Nietzsche fügt dieser Ausführung nun noch hinzu: „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser - " Der mögliche Einwand der .Physiker' wird nicht nur hingenommen, er wird offenkundig angenommen. Wie die mechanistische Theorie ist auch die Machtwillen-Theorie ,nur' Interpretation. Steht nun nicht Interpretation gegen Interpretation? Muß man dann nicht sagen, daß beide den gleichen Wahrheitsanspruch erheben dürfen? Doch Nietzsche schreibt, wenn die Physiker jenen Einwand erhöben, so sei es ,um so besser'. Inwiefern besser, für wen besser? Der Einwand kommt Nietzsches Deutung gelegen. Er enthält in dem jiuch ... nur' das Zugeständnis, die These von der Gesetzmäßigkeit der Natur sei Interpretation. Wird dies aber zugestanden, so befindet man sich auf der Ebene, wo nach dem Interpretieren als solchem gefragt werden muß. Wer sagt, das und das ist Interpretation, der muß die Frage nach dem, was Interpretation überhaupt ist, Raum gewähren. Interpretation erweist sich als selber interpretationsbedürftig. Nun beansprucht Nietzsche, das Interpretieren angemessen interpretiert zu haben. Jaspers findet bei Nietzsche „die Theorie allen Weltseins als eines bloßen Ausgelegtseins, des Weltwissens als einer jeweiligen Auslegung", welche Theorie „aus einer Verwandlung der Kantischen, kritischen Philosophie" gewonnen sei.138 „Die endlose Bewegung des Auslegens scheint zu einer Art von Vollendung zu kommen im Selbsterfassen

138

K. Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], 290.

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dieses Auslegens: in der Auslegung der Auslegungen „Nietzsches Auslegung, die weiß, daß alles Wissen Auslegen ist", nehme „dieses Wissen in die eigene Auslegung durch den Gedanken" hinein, „daß der Wille zur Macht selber der überall wirkende, unendlich mannigfache Antrieb des Auslegens" sei. „Die Auslegung Nietzsches ist in der Tat eine Auslegung des Auslegens und dadurch für ihn von allen früheren, damit verglichen naiven Auslegungen, die nicht das Selbstbewußtsein ihres Auslegens hatten, geschieden."140 Bei aller Problematik der Nietzsche-Deutung von Jaspers, in deren Zusammenhang diese Ausführungen gehören141, ist dies doch richtig gesehen: Alles Wissen ist für Nietzsche Auslegung, alles Wissen um dieses Wissen ist Auslegung von Auslegung. Wir können nach dem von uns hier Ausgeführten auch sagen: Die Auslegungen in ihrer Mannigfaltigkeit sind Interpretationen von Machtwillen; daß sie dies sind, ist ebenfalls Interpretation. Was das genauer besagt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, soll im folgenden erörtert werden. Zuerst müssen wir uns die Weite von Nietzsches Interpretations-Begriff vor Augen führen. Alle Willen zur Macht legen aus, interpretieren. So sind ζ. B. auch die perspektivischen Wahrnehmungen des Anorganischen Interpretationen. Und nicht nur alle Wahrnehmungen, alle Erkenntnisse und alles .Wissen' sind Auslegungen, sondern auch alle Taten und Ausformungen, ja alle Geschehnisse.142 So handelt es sich ζ. B. „bei der Bildung eines Organs [...] um eine Interpretation". „Der Wille zur Macht interpretirt", das besagt jeweils: „er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt [...] In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden."

139 140 141

142

A.a.O., 296. A.a.O., 299. Auf sie kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Für Jaspers' Verständnis von Nietzsches Auslegung der Auslegung wären insbesondere seine Ausführungen zur Problematik von ,Wahrheit und Leben' heranzuziehen (Nietzsche, a.a.O., 184ff.). Vgl. Nachlaß, GA XIII, 6 4 ; [Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[115]; KGW VIII 1, 34]: „Der interpretative Charakter allen Geschehens. Es giebt kein Ereigniß an sich. Was geschieht, ist eine Gruppe von Erscheinungen ausgelesen und zusammengefaßt von einem interpretirenden Wesen."

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Nietzsche fügt hinzu: „Der organische Process setzt fortwährendes Interpretiren voraus." 143 Die von Nietzsche hier gewählte Ausdrucksweise legt ein Mißverständnis nahe. Man könnte meinen, der Wille zur Macht (ob als ein Machtwille verstanden oder als der Wille zur Macht im Sinne eines ens metaphysicum mißdeutet) sei ein Subjekt, von dem das Interpretieren prädiziert werden könne, das seinerseits die vorgängige Voraussetzung für Prozesse bilde. Wir dürfen der Verführung der Grammatik nicht erliegen und trennen, was untrennbar zusammengehört. So heißt es in einer anderen Aufzeichnung: „Man darf nicht fragen: ,wer interpretirt denn?'". Die Frage ist verfehlt, weil „das Interpretiren selbst [...] Dasein" hat144; es ist „Dichtung", „den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen" 145 . ,Das' Interpretieren hat nicht „Dasein ([...] als ein ,Sein'" im Sinne von Beständigkeit, sondern „als ein Proceß, ein Werden)"146. Wenn wir am Ende des vorigen Abschnitts das Wahrnehmen der Machtwillen als Relation von Geschehnissen zueinander charakterisiert haben, die sich wechselseitig fest-stellen, so läßt sich unter dem hier herausgearbeiteten Aspekt sagen, daß sich Machtwillen als ständig wechselnde Interpretationen gegenüberstehen. Nach alledem wird deutlich, daß Nietzsche gegen den Positivismus ins Feld führen kann: „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen."147 In den uns inzwischen vertrauten Gedankengängen Nietzsches bewegen wir uns weiterhin, wenn wir in Rechnung stellen, daß jede Interpretation perspektivisch ist. Nietzsche, der die philologische Relation Text - Auslegung gern zur Erläuterung der fundamentalen Wirklichkeitsbezüge gebraucht 148 , schreibt, derselbe Text erlaube unzählige Interpretationen149. Denken wir an die unendliche Teilbarkeit der perspizierenden Machtquanten150, so können wir nicht überrascht sein, wenn wir in der Fröhlichen Wissenschaft lesen: „Die

143

144 145 146 147 148

149 150

Nachlaß, WM 643; GA XVI, 117f. ; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[148]; KGW VIII 1, 137f.]. Nachlaß, WM 556; GA XVI, 61; [Herbst 1885-Herbst 1886,2[151]; KGW VIII1,138]. Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12; [Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323]. Nachlaß, WM 556; GA XVI, 61; [HeAst 1885-Herbst 1886,2[151]; KGW VIII1,138]. Nachlaß, WM 481; GA XVI, 1 1 ; [Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[60]; KGW VIII 1, 323], Zum philosophischen „Gleichnis der Auslegung" bei Nietzsche vgl. Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 30], 292ff. Nachlaß; GA XIII, 69; [Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[120]; KGW VIII 1, 35]. S. oben S. 55f.

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Welt ist uns [...] noch einmal,unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst."151 Die Perspektivität jeder Interpretation wird nun zum Problem, das letztlich auf Nietzsches eigenes Philosophieren zurückschlägt, wenn wir bedenken, daß es unter den unzähligen Auslegungen eines Textes „keine »richtige' Auslegung" gibt152. Wir haben kein Recht, ein „absolutes Erkennen" anzunehmen: „der perspektivische, täuschende Charakter gehört zur Existenz".153 Dann ist auch jede Weltdeutung nur eine perspektivisch-täuschende Interpretation, die mechanistische nicht weniger als diejenige, welche das Weltgeschehen als das Chaos von kooperierenden und miteinander kämpfenden Willen zur Macht versteht. ,Die' Welt, als Summe von Kräften aufgefaßt, wäre demzufolge eine perspektivische Weltinterpretation neben zahllosen anderen. Was könnte angesichts der fundamentalen Relativität allen Weltdeutens zugunsten der ,Wahrheit' von Nietzsches Interpretation ausgeführt werden? Nun hat uns Nietzsche selbst ein Kriterium für das gegeben, was er unter Wahrheit versteht. Es beruht in der Machtsteigerung.154 Unter dieses Kriterium wird die „unendliche Ausdeutbarkeit der Welt" gestellt. „Jede Ausdeutung" soll sich dabei als „ein Symptom des Wachsthums oder des Untergehens" erweisen.155 Dient eine Deutung der Machtsteigerung, so ist sie im genannten Sinne wahrer als diejenigen, die das Leben bloß erhalten, erträglich machen, verfeinern oder auch das Kranke separieren und zum Absterben bringen156. Wir wollen zunächst die mechanistische Weltdeutung, die Nietzsche ja immer wieder als den wesentlichen zeitgenössischen Widerpart zu seiner eigenen Philosophie auffaßt157, unter dieses Kriterium bringen. In welchem Sinne die mechanistische Denkweise nur „eine Vordergrunds-Philosophie" ist158, haben wir uns von Nietzsche schon vorführen

151 152 153 154 155

Die fröhliche Wissenschaft (5. Buch) 3 7 4 ; KGW V 2, 309. Nachlaß; GA XIII, 69; [Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[120]; KGW VIII 1, 35]. Nachlaß; GA XIV, 4 0 ; [April-Juni 1885, 3 4 [ 1 2 0 ] ; KGW VII 3, 180]. S. S. 46f. Nachlaß, WM 600; GA XVI, 95; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[117]; KGW VIII 1, 118].

156

Nachlaß; GA XIV, 31; [August-September 1885, 40[12]; KGW VII 3, 365].

157

„Von den Welt-Auslegungen, welche bisher versucht worden sind, scheint heutzutage die mechanistische siegreich im Vordergrund zu stehen" (Nachlaß, W M 6 1 8 ; GA XVI, 103; [Juni-Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 224]). Nachlaß; GA XIII, 82; [April-Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3, 224],

158

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lassen159. Wichtiger noch ist, daß sie falsch ist. Sie schematisiert, kürzt ab, wählt .Bezeichnungen' um der allgemeinen Verständlichmachung willen. Sie fingiert konstante Einheiten, konstante Wirkungen, Gesetze. Sie imaginiert die Welt auf Berechenbarkeit hin. Die „gemeinsame Zeichensprache [...] zum Zwecke der leichteren Berechenbarkeit" dient der Beherrschbarkeit der Natur160. Hier stutzen wir. Wenn durch die mechanistische Perspektivik eine solche Beherrschung wirklich wird, die dazu noch ständig wächst, so mag sie zwar .falsch' sein, insofern in ihr das Geschehen in seinen .wirklichen Abläufen' nicht in den Blick kommt. Ist sie aber nicht im Sinne von Nietzsches Wahrheitskriterium .wahrer4 als alle früheren Weltdeutungen, da sie die Macht des Menschen wie keine andere zuvor gesteigert hat und steigert? Von daher können wir dann verstehen, daß sich Nietzsche gelegentlich anerkennend über diese Weltdeutung äußert. Sie gilt ihm „nicht als die bewiesenste Weltbetrachtung, sondern als die, welche die größte Strenge und Zucht nötig macht und am meisten alle Sentimentalität beiseite wirft". Nietzsche spricht ihr sogar eine selektive Funktion zu mit Worten, die uns an die .Wirkung' erinnern, welche seine Lehre von der ewigen Wiederkunft hervorrufen soll161: Die mechanistische Vorstellung sei „zugleich eine Probe für das physische und seelische Gedeihen: mißrathene, willensschwache Rassen gehen daran zu Grunde".162 Mag die mechanistische Welt-Interpretation auch „eine der dümmsten" sein, ja mag man mit ihr sogar „dem Principe der größtmöglichen Dummheit" huldigen163, so spricht das doch nicht gegen ihre machtsteigernde .Wahrheit'. Mag es sich bei ihr auch um eine Oberflächen-Perspektive handeln, es bleibt doch „wunderbar, daß für unsere Bedürfnisse (Maschinen Brücken usw.) die Annahmen der Mechanik ausreichen". Und mag es sich dabei um „sehr große Bedürfnisse" handeln und „die .kleinen Fehler' [...] nicht in Betracht" kommen164: sind wir mit dieser Interpretation die über die Natur Herrschenden, so muß es doch unerheblich bleiben, ob die Auslegung, dumm, grob, fehlerhaft ist.

159 ,Ä0

162 163

164

Dazu und zum folgenden s. oben S. 62f. Nachlaß; GA XIII, 83f.; [Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 2 2 7 ] ; KGW VII 2. 207], Vgl. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [338]; KGW V 2. 4 7 1 : „Die zukünftige Geschichte: immer mehr wird dieser Gedanke siegen - und die nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterbenl" Nachlaß; GA XIII, 8 2 ; [April-Juni 1885, 3 4 [ 7 6 ] ; KGW VII 3, 163]. Die fröhliche Wissenschaft (5. Buch) 3 7 3 ; KGW V 2, 308. - Nachlaß, W M 6 1 8 ; GA XVI 103; [Juni-Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 288f.]. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[234]; KGW V 2, 4 2 9 .

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Hingegen scheint es nicht ausgemacht zu sein, daß die Einsicht, die Welt sei allein in einer Unendlichkeit perspektivischer Interpretationen der Willen zur Macht gegeben, für das Machtwollen förderlich ist - ganz abgesehen von der weiter unten noch zu erörternden Frage, wie denn eine solche Einsicht über den ausschließlichen Perspektivismus möglich sein kann. Ist die mechanistische Deutung falsch im Sinne von Aufdeckung des wirklichen Geschehens und wahr im Sinne von Nietzsches eigenem Wahrheitsverständnis, so könnte es sein, daß die Deutung der Welt als Vielheit von Willen zur Macht zwar in dem Sinne ,wahr' ist, der dem mechanistischen Weltbild abgesprochen werden mußte, gleichwohl aber verfehlt im Sinne des Wahrheitskriteriums von Machtsteigerung. Liegt der Gedanke nicht nahe, daß die Einsicht in die Relativität unserer Interpretationen unser Machtstreben lähmt, während sich im Nichtwissen um die Relativität unser Machtwollen unbefangen und gerade deswegen erfolgreich entfalten läßt? Nietzsche selbst weist oft genug auf die Notwendigkeit von Unwissenheit oder gar Selbsttäuschung für Zusammenhalt wie Machtmehrung jener Organisation hin, die der Mensch ist. Zu unserer „Subjekt-Einheit", in der wir „Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens" denken müssen, gehört „die gewisse Unwissenheit, in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens": als Bedingung für die organisierende Regentschaft. Wir sollen eine Hochschätzung gewinnen „auch für das Nichtwissen, das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspectivische". Insbesondere für unseren Geist gilt, „daß es für seine Thätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretiren".165 Der ,Psychologe der Zukunft' hat zu beachten, daß „der große Egoismus unseres dominirenden Willens" von uns verlangt, „daß wir hübsch vor uns die Augen schließen"166. Es ist nun zu zeigen, wie sich für Nietzsche letztlich doch, am Maßstab seines eigenen Wahrheitsverständnisses gemessen, die Bewertung von mechanistischer Theorie und Theorie des Machtwillens umkehrt. In jener sind nämlich die Naturgesetze die eigentlichen Herren, wir sollen uns als die diesen Unterworfenen verstehen. „Daß etwas immer so und geschieht, wird hier interpretirt, als ob ein Wesen in Folge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom .Gesetz' Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes 165

166

Nachlaß, W M 492; GA XVI, 17f.; [August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370f.] Nachlaß Frühjahr 1888, 14[27]; K G W VIII 3, 34 (WM 426).

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So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen."167 „Es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetze gehorchen, so daß in Folge ihres Gehorsams wir jedes Mal das gleiche Phänomen haben." 168 Nietzsche, der bekanntlich hinter allen geistigen Erscheinungen der abendländischen Geschichte - und nicht nur dieser ,Sklaven-Moral' wittert, findet sie zu guter Letzt auch hinter der mechanistischen Weltdeutung: „Ich hüte mich, von chemischen ,Gesetzen1 zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack." In Wahrheit wird überall das Stärkere über das Schwächere Herr, da gibt es keine „Achtung vor ,Gesetzen'".169 Wer sich aber als der Gesetzen notwendig Gehorchende auffaßt, der erleidet Einbuße an Gefühl und Bewußtsein eigenen Mächtigkeit und damit Einbuße an dieser selbst. Demgegenüber will Nietzsche „neue Auslegung [...] den zukünftigen Philosophen als Herrn der Erde die nöthige Unbefangenheit" geben170. Nun schien gerade der radikale Perspektivismus den Wollenden in die Befangenheit zu führen. Seine jeweilige Auslegung ist relativ, folglich scheint er als der dies Wissende nur noch in Gebrochenheit denken und mit geschwächter Uberzeugung handeln zu können. Doch dies ist nur der Fall, so sucht Nietzsche zu zeigen, wenn man die Perspektivität nicht in ihrer letzten Konsequenz bedenkt und auf sich nimmt. Fassen wir seinen Gedankengang zusammen: Alle Interpretationen sind perspektivisch; es gibt keinen absoluten Maßstab, an dem man prüfen könnte, welche ,richtiger' ist und welche ,weniger richtig' ist; das einzige Kriterium für die Wahrheit einer Auslegung der Wirklichkeit besteht darin, ob und in welchem Maße sie sich gegen andere Auslegungen durchzusetzen imstande ist. Jede Auslegung hat soviel Recht, wie sie Macht hat. Die Einsicht in die Perspektivität aller Interpretationen, vor die Nietzsches ,Lehre vom Willen zur Macht' führt, kann demzufolge den Machtstarken das ,gute Gewissen' für die unbedingte Durchsetzung ihrer »Ideale' verschaffen. Nur die .Ideale' anderer Machtwillen, anderen Perspektiven zugehörig, stehen ihrem Wollen entgegen. Keine Werte sind ihnen vorgegeben, die sie binden. Würde eine solche Bindung doch eine feststehende welttranszendente oder weltimmanente Autorität voraussetzen. Autorität hat aber jeweils nur der 167 168

169 170

Nachlaß, WM 632; GA XVI, 110; [Herbst 1885-Herbst 1886,2[142]; KGW VID 1,135]. Nachlaß, WM 629; GA XVI, 108; [Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[14]; KGW VIII 1, 307]. Nachlaß, WM 630; GA XVI, 108f.; [Juni-Juli 1885, 36[18]; KGW VII 3, 283]. Nachlaß; GA XIV, 31; [August-September 1885, 40[12]; KGW VII 3, 365.

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überwältigende Machtwille. So müssen die Starken schließlich auch mit dem Glauben daran, sie seien Naturgesetzen unterworfen, brechen, indem sie ihn unter das Wahrheitskriterium der Machtsteigerung bringen. Betrachten wir dies von einem Grundgedanken Nietzsches her: „Der moralische Gott" ist „überwunden". 171 Aber sein „Schatten" wird noch gezeigt. Ihn gilt es noch zu „besiegen".172 Auch die mechanistische Weltdeutung steht noch in diesem ,Schatten'. Der »moralische Beigeschmack', der ihren Naturgesetzen anhaftet, verrät es. Die neue Werte setzende Interpretation künftiger Mächtiger kann ebenfalls nur perspektivisch sein. Dazu gehört, daß sie abgrenzt und auswählt. Vieles nimmt sie, um ihrer Geschlossenheit willen, nicht zur Kenntnis. Das Nichtwissen erhält eine konstitutive Bedeutung für das Interpretieren zugesprochen, es muß sogar zum Nichtwissen«/o//ew werden. Auch das Vergessen ist für das Auslegen der Mächtigen - wie für jede Auslegung - wesentlich. Das Wissen um die Perspektivität selber soll nun aber nicht .vergessen' werden. 173 Gibt dieses Wissen doch frei für die uneingeschränkte Übermächtigung. Sollen die zukünftigen Philosophen zu Herren der Welt werden, so muß ihre Interpretation andererseits auch die dazu nötige inhaltliche Weite' haben. Sie muß die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit wie auch in ihren Besonderungen auslegen, um nicht hinter den schon vorliegenden Gesamtdeutungen zurückzubleiben und dadurch zu unterliegen. Die anderen Weltdeutungen muß sie als Interpretationen entlarven, die sich selbst nur mißverstehen können, weil sie sich entweder überhaupt nicht als Interpretationen verstehen oder zumindest das Wesen des Interpretierens nicht durchschauen. Dies schließt nicht aus, daß sie sich einer anderen Interpretation als eines Instruments bedienen kann, soweit diese der Machtsteigerung nützt, wie das bei der Mechanik in Hinsicht auf die Naturbeherrschung der Fall ist. Sie faßt diese Deutung damit nicht als wahr im Sinne von deren eigenem Geltungsanspruch auf. Wenn Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht die Wahrheit über die Wirklichkeit auszusagen beansprucht, so gerät sie also nicht in Widerspruch mit dem aus dieser Philosophie selber erwachsenden Wahrheitskriterium. Von diesem her gesehen ist sie sogar die einzige konsequente Weltdeutung. Wir bewegen uns im Zirkel. Solche Zirkelhaftigkeit gehört zu

171 172 173

Nachlaß, WM 55; GA XV, 183; [Sommer 1886-Herbst 1887,5[71]; KGW Vffl 1,217]. Die fröhliche Wissenschaft 108; KGW V 2, 145. S. dazu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 118f.

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allem Verstehen. Nietzsche weiß das durchaus, sein Denken wird von diesem Wissen geleitet. „Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: - das Wiederfinden heisst sich Wissenschaft, das Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In Beidem, wenn es selbst ein Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Muth zu Beidem haben - die Einen zum Wiederfinden, die Andern - wir Andern! - zum Hineinstecken!"174 Letzteres besagt natürlich nicht, daß die Einen nur wiederfinden, was die Anderen nur hineingesteckt haben. Hineinstecken und Wiederfinden gehören in der jeweiligen Einheit von Auslegung zusammen. Wohl aber akzentuiert Nietzsche das Hineinstecken als das Entscheidende. Das von ihm Geforderte ist ein Hineinstecken im Schaffen neuer Werte. Das Wiederfinden ist nicht nur ein Aufmerksamwerden auf das Hineingesteckte, sondern darüber hinaus das Entdecken des Hineingesteckten in allem Ausgelegten, das Ausbreiten des Hineingesteckten auf das Verständnis alles Wirklichen. Entfaltet nun Nietzsches Philosophie, die künftige Philosophen zu neuen Wertsetzungen ermutigen will, nicht selber nur das in perspektivischer Interpretation, was sie ursprünglich .hineingesteckt* hat? Kommt in dem, was er schreibt, nicht allein seine besondere Perspektive zu Wort? Schlägt die von ihm behauptete Relativität aller Deutungen nicht auf seine eigene Deutung zurück? Im folgenden versuchen wir, die Zirkelhaftigkeit von Nietzsches Denken aufzuhellen. Es kommt wie bei allem Verstehen darauf an, in den Zirkel „nach der rechten Weise hineinzukommen", um eine Wendung Heideggers zu gebrauchen175. Daß Nietzsche den Anspruch seiner Philosophie, die wahre Weltdeutung zu sein, mit dem aus dieser Philosophie selbst erst entspringenden Wahrheitskriterium begründen kann, haben wir dargestellt. Diesem Kriterium gemäß muß sich eine Deutung gegen die anderen Weltdeutungen durchsetzen. Können sich doch nur darin ihre Stärke und ihre Macht zeigen. Fragen wir genauer nach dem, was Stärke und Macht einer Deutung besagen, so geraten wir tiefer in den Zirkel hinein. Sie lassen sich nicht einfach am ,Erfolg', etwa an der bisherigen Geschichte, ablesen. Ist für Nietzsche doch die Jahrtausende währende Herrschaft des moralisch bestimmten Weltverständnisses nicht Ausdruck von dessen Stärke, sondern das Zeichen von Schwäche. Das Machtwollen ist hier gerade nicht als das wahre Machtwollen freigesetzt. Wir müssen Nietzsches eigene Interpretation von Stärke im Sinne 174

175

Nachlaß, WM 606; GA XVI, 97; [Herbst 1885-Herbst 1886, 2[174]; KGW VIII 1, 152]. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 7 1953, 153.

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von rückhaltlosem Übermächtigenkönnen zugrunde legen, wenn wir den Anspruch seiner Philosophie, sie sei wahrer weil stärker als die anderen Weltdeutungen, nachvollziehen wollen. Und wieder zeigt sich der Zirkel, wenn Nietzsche eine ,vormoralische Periode der Menschheit' annimmt, die die prähistorische Zeit umfassen soll, auf die allererst die moralische Periode folgte. Wir finden hier eine Konstruktion der ,Geschichte' des Menschen, die aus der Rückwendung zu dem, was anfänglich gewesen sein soll, die Notwendigkeit künftiger Stärke in einem nachmoralischen Zeitalter begründen soll. Diese Stärke wäre dann wahre Stärke. Jaspers schreibt, bei Nietzsche werde „in einem Zirkel gedacht, der sich aufzuheben scheint und doch von neuem hervortreibt"176. Der Zirkel kann nicht aufgehoben werden. Blicken wir auf ihn nur als auf eine formale Struktur, so bleiben uns Besonderheit und Radikalität von Nietzsches Interpretation verborgen. Bewegen wir uns in ihm, so können diese sichtbar gemacht werden. Es gilt herauszuarbeiten, daß Nietzsche nicht nur alles Weltauslegen wesenhaft als vom Willen zur Macht konstituiert begreift, sondern daß er auch die Konsequenzen bedenkt, die aus dem Selbstverständnis seiner Philosophie als Auslegung erwachsen. Seine Philosophie des Willens zur Macht kann ja keinen bloß kontemplativen Charakter haben. Sie ist selber Ausdruck des Machtwollens. In ihr wird gewollt, daß die künftigen Werteschaffenden sich als Willen zur Macht verstehen. „Ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts ausserdem!", ruft er den Menschen zu. Das ist ein Appell. Er besagt: ,Begreift endlich, was Ihr in Wahrheit seid! Gott ist tot, bekämpft auch noch seine Schatten! Die Wertetafeln, die Ihr bisher über Euch gehängt habt, haben keine Gültigkeit! Laßt Euch nicht mehr von diesen Werten bestimmen, bestimmt selbst die Werte! Wertet die alten Werte um, schafft aus Eurem Selbstverständnis als Machtwollen heraus neue Werte!' Auch Nietzsche kommt es darauf an, die Welt nicht nur zu »interpretieren', sondern sie zu verändern. Er hat freilich verstanden, daß alles Verändern Interpretieren ist und alles Interpretieren Verändern. Zwar ist auch die moralische Periode der Menschheit durch die Abfolge immer neuer Weltinterpretationen gekennzeichnet. Aber die grundlegende Veränderung steht noch aus. Uber ihre Notwendigkeit gilt es nicht nur zu reflektieren, es muß dazu aufgefordert werden. Aus dem Verständnis des Wirklichen als Wille zur Macht heraus wird Nietzsche zum Verkünder.

176

K. Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 30], 294.

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Wir dürfen aber Nietzsches Philosophie nicht allein unter dem Aspekt von Verkündigung und Appell betrachten, so wesentlich dieser auch für das Verständnis seiner Schriften besonders vom Zarathustra an ist. In der Ausfaltung seiner Interpretation sieht er sich genötigt, den ihr immanenten Denkvoraussetzungen nachzugehen. Erst in der Reflexion auf sie kann seine Philosophie ihren Anspruch auf grundlegende Deutung der Wirklichkeit im ganzen erfüllen. Beginnen wir mit der Frage: Inwiefern kann Nietzsche den Anspruch erheben, seine Interpretation des interpretierenden Wirklichen treffe dessen Interpretationscharakter? Damit rückt noch einmal der perspektivische Charakter allen Interpretierens ins Thema. Im Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche dazu ausgeführt: „Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, [...] ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist - das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte·, zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre)."177 Nietzsches Argumentation ist in sich überzeugend. ,Wir' sind perspektivisch interpretierende Wesen; ob alle anderen Wesen auch interpretieren, vermag unser Intellekt freilich nicht ergründen. Mit der Annahme anderer perspizierender Wesen ist über den besonderen Charakter von deren Perspektiven noch nichts ausgemacht. Wir können nur unter unserer Perspektive sehen; selbst wenn wir unser Perspizieren perspizieren wollen, so bleiben wir unter unserer Perspektive. Nun ist zwar im zitierten Text von der Selbstprüfung des Intellekts die Rede. Deren Unmöglichkeit ist von Nietzsche häufig herausgestellt worden 178 . Aber wieso 177 ,78

Die fröhliche Wissenschaft (5. Buch) 374; KGW V 2, 308f. [S. schon Nachlaß, Herbst 1880, 6[ 130]; KGW V 1 , 5 5 9 : „Der Intellekt ist das Werkzeug unserer Triebe, er wird nie frei. Er schärft sich im Kampf der verschiedenen Triebe, und verfeinert die Thätigkeit jedes einzelnen Triebes dadurch."] - Später schreibt Nietzsche, bezogen auf die Möglichkeit der Selbsterkenntnis des Intellekts: „Es ist beinahe komisch, daß unsere Philosophen verlangen, die Philosophie müsse mit einer Kritik des Erkenntnisvermögens beginnen: ist es nicht sehr unwahrscheinlich, daß

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sollte nur für den Intellekt gelten, daß er nicht um die Ecke sehen kann? Ist doch alles Auslegen, auch wenn es nicht auf den Intellekt beschränkt wird, perspektivisch. Dann aber sind die kritischen Vorbehalte berechtigt, die Nietzsche hier für unser Erkennen von ,anderem Dasein' anführt. Dies wiederum besagt doch wohl, daß, im Lichte kritischer Selbstreflexion des Interpretierens, Nietzsches Ausführungen über das Gegeneinander von perspektivisch interpretierenden Willen zur Macht als der Weltwirklichkeit schlechthin sich als bloße Konstruktion erweisen. Hatte Nietzsche diese Selbstreflexion noch nicht vollzogen, hat er sie nach dem Vollzug wieder vergessen, wenn er vom perspektivischen Wahrnehmen im organischen und unorganischen ,Bereich' spricht? Das kann wohl nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Hat Jaspers recht, wenn er ausführt, Nietzsche habe „alles in seiner Kraft Liegende [...] zur Eröffnung und Offenhaltung des Möglichen" getan, schließe aber „am Ende wieder" zu „durch Verabsolutierung" des Willens zur Macht; die „in schlechthin allen Erscheinungen" durchgeführte „Metaphysik des Willens zur Macht" sei „auch von der Art früherer dogmatischer Metaphysik"™} Jaspers mißversteht Nietzsche, wenn er ihm einen solchen Dogmatismus unterstellt. Aber seine Argumentation bleibt auch in sich unbefriedigend. Was könnte Nietzsche ,am Ende' dazu veranlaßt haben, wieder zuzuschließen, da doch Eröffnen und Offenhalten seine Sache war? Eine Antwort darauf bietet sich allerdings von den in dieser Untersuchung erarbeiteten Voraussetzungen her an. Ist Nietzsches Philosophie selber Machtwollen, das die künftigen Starken zur Übernahme der Macht ermächtigen will, so müssen alle besonderen Auslegungen wie auch die Auslegung der Wirklichkeit als ganzer in den Dienst dieser Aufgabe gestellt werden. Wird den Menschen vor Augen geführt, daß es überall in der Welt Machtkämpfe von Willensquanten gibt, in denen das Stärkere die Oberhand gewinnt, und nichts außerdem, so müssen die starken Menschen angesichts der Ausnahmslosigkeit des ,Gesetzes', daß jede Macht in jedem

das Organ der Erkenntniß sich selber kritisiren kann, wenn man mißtrauisch geworden ist über die bisherigen Ergebnisse der Erkenntniß?" - „Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit,kritisiren1: der Intellekt kann nicht selber seine Grenze, auch nicht sein Wohlgerathensein oder sein Mißrathensein bestimmen." - „Ein Erkenntniß-Apparat, der sich selber erkennen will!! Man sollte doch über diese Absurdität der Aufgabe hinaus sein! (Der Magen, der sich selber aufzehrt! - ) " (Nachlaß; GA XIV, 3; [Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[60]; KGW VIII1,22. - Herbst 1885-Herbst 1886, 2[132]; KGW VIII 1, 131. - Sommer-Herbst 1884, 26[18]; KGW VII 2, 152].). 179

K. Jaspers, Nietzsche,

a.a.O. [Anm. 30], 309f., vgl. ζ. B. 330.

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Augenblick ihre Konsequenz zieht, die letzten, aus ihrem Verwurzeltsein in der Tradition herrührenden ,Hemmungen' verlieren, rückhaltlos ihre Macht im Setzen neuer Werte ausüben. Die Deutung ,der' Welt als ,Wille zur Macht' bildete dann zwar, unter selbstkritischer Prüfung dieser Interpretation, nur eine Fiktion. Von Nietzsches eigenem Wahrheitskriterium her wäre sie gleichwohl Wahrheit. Gegen dieses Verständnis von Nietzsches Weltdeutung läßt sich allerdings sofort einwenden, daß Nietzsche den Starken, denen er mit der Wiederkunftslehre das Äußerste zumutet, in der Lehre vom Willen zur Macht zu wenig zumuten würde. Warum soll ihnen nicht abverlangt werden können, die Fiktion als Fiktion zu durchschauen? Da Nietzsche doch selbst auf die perspektivische ,Beschränktheit' allen Interpretierens aufmerksam gemacht hat, wäre dies um so unverständlicher. Sollen die künftigen Mächtigen - eben um der Macht willen - als die Stärksten zugleich die Weisesten sein180, so darf ihnen der fiktive Charakter der Deutung der ganzen Wirklichkeit gerade nicht verborgen werden. Würden sie sich doch gegenüber dem Hinweis auf den aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus angemessenen Dogmatismus ihrer Interpretation der gesamten Wirklichkeit als die weniger Weisen, also als die Schwächeren ,fühlen' müssen. Wir kommen aus dem Dilemma, in dem wir uns befinden, heraus, wenn wir, uns weiter im Zirkel bewegend, die Interpretation Nietzsches daraufhin befragen, welche Möglichkeiten des Interpretierens sie dem Menschen einräumt und wodurch sie diese bestimmt sieht. Diese Frage ist, so wird sich zeigen, nur scheinbar beantwortet worden, als wir uns auf den Aphorismus 374 in der Fröhlichen Wissenschaft beriefen. Schon die Ausführungen, die der zitierten Passage folgen, nehmen die Möglichkeit ernst, daß die Welt unendliche Interpretationen in sich schließe. Und die Uberschrift des Aphorismus lautet: „Unser neues ,Unendliches'". Zwar können wir dem entnehmen, welches Gewicht trotz aller kritischen Einwände der Gedanke für Nietzsche behält, es gebe auch nichtmenschliches Dasein, das auslegt. Aber die kritischen Einwände werden dadurch doch nicht ausgeräumt. Einen Schritt weiter führt uns eine Nachlaßaufzeichnung, die aus den Jahren 1886 oder 1887 stammt.181 Nietzsche wendet sich dort gegen die „Bescheidenheit der philosophischen 180

181

Zur Problematik, in die Nietzsche gerät, indem er den künftigen großen Menschen und schließlich den Übermenschen als Synthese von Stärke und Weisheit zu denken sucht, s. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 1 1 7 - 1 3 4 . Nachlaß; GA XIII, 48f.; [Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[23]; KGW VIII 1, 246f.].

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Skepsis oder [...] religiöser Ergebung", die vom Wesen der Dinge sage, es sei ihr unbekannt oder zum Teil unbekannt. Sie sei in Wahrheit Unbescheidenheit, insofern sie um die Rechtmäßigkeit der „Unterscheidung von einem ,Wesen der Dinge' und einer Erscheinungs-Welt" Wissen zu haben vorgebe. „Um eine solche Unterscheidung machen zu können, müßte man sich unsern Intellekt mit einem widerspruchsvollen Charakter behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das perspektivische Sehen, wie dies noth tuth, damit gerade Wesen unserer Art sich im Dasein erhalten können, andererseits zugleich mit einem Vermögen, eben dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben an die ,Realität', wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der Einsicht über diesen Glauben, daß er nämlich nur eine perspektivische Beschränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst. Kurz, wir dürfen uns unsern Intellekt nicht dergestalt widerspruchsvoll denken, daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben." Am Schlüsse dieser Betrachtung fordert Nietzsche die Abschaffung der Begriffe ,Ding an sich' und ,Erscheinung'. Ihr Gegensatz sei ebenso „unbrauchbar" wie der „ältere von ,Materie und Geist'". Der unbrauchbare Gegensatz Ding an sich - Erscheinung entspringt einer Denkweise, die einen Widerspruch in unseren Intellekt hineinlegt. Der Widerspruch macht die Unhaltbarkeit der Konstruktion jenes Gegensatzes deutlich. Nietzsche verwendet hierbei aber nicht „ausnahmsweise einmal den Widerspruch als letztes Wahrheitskriterium für seine Behauptungen [...], wie Jaspers im Zusammenhang seiner Interpretation der zitierten Niederschrift ausführt182. Der ,Satz vom Widerspruch' ist für Nietzsche eine grobe und fälschende ,Zurechtmachung', die den wirklichen Gegensatzcharakter des Daseins verschleiert.183 Als unhinnehmbare Widersprüche müssen ihm aber diejenigen gelten, welche zur Aufhebung seines eigenen Wahrheitskriteriums führen. Faktische Machtausübung kann nicht sowohl ,real' möglich als auch unmöglich sein. [Vgl. hierzu im Anhang zu dieser Abhandlung: 3. Gegensätze der Logik und der Kampf der Gegensätze im Machtgeschehen.] Auch unser Intellekt steht im Dienste der Machtausübung, er ist, wie wir gehört haben, ein Organ, das sich die vielen Machtwillen geschaffen haben, welche ,wir' sind. Soll er als Werkzeug dieser Macht182 183

K. Jaspers, Nietzsche, a.a.O. [Anm. 30], 329. S. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 13ff.; Das Problem des Gegensatzes, oben S. 5ff.

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willen den »Glauben an die Realität* konstituieren, so kann er als ein solches Werkzeug nicht zugleich dazu bestimmt sein, diesen Glauben zu negieren, indem er ihn als perspektivische Fiktion auffaßt. Das bedeutet, daß auch im hier diskutierten Falle nicht die Vermeidung von Widersprüchlichkeit im formallogischen Sinne das Wahrheitskriterium bildet - so wenig wie schon Nietzsches Ausführung, ein Werkzeug könne über seine Tauglichkeit als Werkzeug selber nicht befinden, als,logisches Argument' angesehen werden darf - , sondern die faktische Unmöglichkeit, daß demselben Organ des Machtwollens einander wechselseitig aufhebende Funktionen zugeordnet worden sein können. Die Frage, wie es denn dazu kommen konnte, daß der Intellekt sich selber in dem charakterisierten Sinne mißverstehen lernte, ließe sich von Nietzsche her nur im ausgebreiteten Zusammenhang einer Genealogie des menschlichen Selbstverständnisses beantworten. Auf eine solche Darstellung muß hier verzichtet werden. Die Problematik, deren Nietzsche im Hinblick auf den Intellekt als auf ein bestimmtes Organ von seinen Voraussetzungen her Herr zu werden vermag, kommt aber in Hinblick auf das Interpretieren noch einmal auf uns zu. Gewiß können wir nach dem weiter oben Ausgeführten sagen, daß das Selbstverständnis einer Interpretation als Interpretation nicht gegen das Machtwollen gerichtet sein muß, sondern das Interpretieren gerade freisetzen kann und freisetzen soll. Das Interpretieren als ganzes ist nicht auf bestimmte Funktionen eingeschränkt wie der Intellekt. Gleichwohl sind die Fragen nicht abzuweisen: Wie ist es möglich, daß sich das perspektivische Interpretieren überhaupt als solches Interpretieren verstehen kann? Welches Recht kann Nietzsche für seinen Anspruch geltend machen, seine Interpretation sei mehr als eine bloß menschliche Perspektive, sei mehr als gar nur die besondere Perspektive des Philosophen Nietzsche? Wenn wir versuchen wollen, diese Frage aus der Interpretation Nietzsches selbst heraus zu beantworten, so müssen wir davon ausgehen, daß der Mensch für ihn „nicht nur ein Individuum, sondern das Fortlebende Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie" ist.184 Von dieser Voraussetzung her wird uns vollends deutlich, warum die »Analysis und Selbstprüfung des Intellekts' weder etwas über die Richtigkeit unseres Erkennens noch auch Zureichendes über den Intellekt selber auszumachen imstande ist: in ihr wird nicht einmal der Mensch, sondern nur eins seiner ,Werkzeuge' dem Flusse des Werdens entrissen, für sich genommen, isoliert und durch sich selbst auf ,84

Nachlaß, WM 678; GA XVI, 143; [Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[2]; KGW VIII 1, 259].

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seine Tauglichkeit hin angesehen. Nietzsche will dementgegen „den Menschen [...] zurückübersetzen in die Natur", „taub" bleiben „gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: ,du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!'"185 Die Herkunft des Menschen liegt in der Natur, und ,mehr' ist er nicht in einem qualitativen, wohl aber in einem quantitativen Sinne. Das GesamtOrganische lebt in ihm fort. Und insofern alles Organische eine Synthesis von unorganischen Kräften ist, ,lebt' auch das Unorganische in ihm.186 Ältestes, ihm „fest einverleibt", steht mit Jüngerem im Kampf. Der Mensch trägt das Viele in sich, das er interpretiert. Und er könnte es nicht in sich aufgenommen haben, er könnte nicht der Interpretierende sein, der er ist, wenn das Aufgenommene nicht selber vom Wesen des Interpretierens wäre. Nietzsche kann von der genannten Voraussetzung her noch einen Schritt weiter gehen: Daß der Mensch besteht, „damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat". 187 185 186

187

Jenseits von Gut und Böse 230; KGW VI 2, 175. „Das Unorganische bedingt uns ganz und gar: Wasser Luft Boden Bodengestalt Elektricität usw. Wir sind Pflanzen unter solchen Bedingungen", lautet eine Aufzeichnung (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11 [210], KGW V 2,423). Das Bedingende bleibt nicht als Ursache außer uns, wir sind das, was uns bedingt. - [Andererseits gilt: „Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft." (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[143], KGW V2,394.)] Nachlaß, WM 678; GA X V I 1 4 3 ; [Ende 1886-Frühjahr 1887,7[2]; KGW VIII 1, 259]. - Bei Nietzsche sind transzendentales und naturalistisches Denken nicht nur eine Symbiose eingegangen, sie durchdringen einander, verschmelzen gänzlich ineinander. Jede Betonung von Nietzsches Naturalismus bedarf der Korrektur durch den Hinweis darauf, daß alles Seiende interpretiert, Interpretation ist. Und umgekehrt gilt, daß jede Interpretation ,naturhaft' ist. Es ist unzureichend und führt zu Mißverständnissen, wenn man, wie J. Habermas (s. sein Nachwort zu Fr. Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1968), in der Erörterung von Nietzsches Revision des ,Begriffs des Transzendentalen' bei der Perspektivenlehre der menschlichen Affekte halt macht. Diese Perspektivität muß ihrerseits von der Vielfalt der ,naturhaften' Perspektiven her verstanden werden, die in das Menschsein eingegangen sind. Eine solche Deutung ermöglicht es Nietzsche, Aussagen über den Interpretationscharakter auch des unorganischen und organischen Seienden zu machen und zugleich den möglichen Vorwurf zu unterlaufen, seine Philosophie des Willens zur Macht sei dogmatischer Naturalismus. Ansatzpunkte für eine Kritik an Nietzsche sind auch auf der damit gewönne-

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Damit haben wir den Schlüssel zur Antwort auf die beiden gestellten Fragen in der Hand. Nietzsche kann das vielfältige Wirkliche, das naturhaft Seiende, als vielfältiges Interpretieren interpretieren, weil der Mensch selber interpretierendes Wesen ist und dies nur sein kann, weil das, was in ihm zusammenfließt, als unorganisches und organisches Seiendes selber schon interpretiert. Als Synthesis und Vielheit von Interpretationen kann der Mensch seines perspektivischen Interpretierens inne werden, insofern ,der Schwerpunkt herumspringt' und von jedem neuen Punkt aus die Perspektivik wechselt. Das Wissen um dieses Herumspringen hat er, weil er, wie alles Organische, Erfahrungen sammelt, über Gedächtnis verfügt.188 Die Möglichkeit, das Interpretieren zu interpretieren, entspringt so dem Wechsel der Interpretationen. Weder bedarf es dazu eines besonderen Vermögens, noch wird damit die Perspektivität des Interpretierens verlassen. Nietzsche hat einmal zusammengefaßt: „Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt ( - daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind, als bloß menschliche - ) , daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Uberwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, dass jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt - dies geht durch meine Schriften."189 Wir beschränken uns, von dieser Selbstdarstellung Nietzsches ausgehend, auf die Hervorhebung von zwei Gesichtspunkten. A. Machtvermehrung besagt Gewinnung neuer Perspektiven (weil weitere Machtquanten einverleibt worden sind) und damit Erweiterung der Interpretationen. Diese wiederum kennzeichnet die Erhöhung des Menschen. Umgekehrt gilt: „die Mehrheit der Deutung (:) Zeichen der Kraft"190. Die Umkehrung gilt freilich nur dann, wenn die vielen Deutungen sich zur Einheit organisieren lassen und nicht die Disgregation bewirken, wie Nietzsche dies besonders für ,die

188

189

nen Verständnisebene gegeben. Aber sie muß erst einmal erreicht sein, wenn eine sachgegründete Kritik von Nietzsches ,Erkenntnistheorie' versucht werden soll. „Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik", schreibt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral (II, 3; KGW VI 2, 311). Ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit des Versprechenkönnens, gibt er dort Hinweise auf seine Genealogie des Gedächtnisses. Nachlaß, W M 616; GA XVI, 100; [Herbst 1885-Herbst 1886,2[108]; KGW VIII

1, 112]. 190

Nachlaß, WM 600; GA XVI, 95; [Herbst 1885-Herbst 1886,2[117] ; KGW Vm 1,118].

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Moderne' herausstellt191. B. Nietzsches Interpretation der Interpretationen versteht sich selbst nicht als absolute Philosophie. Zwar setzt sich in seinem Denken die Überzeugung durch, daß alles, was ist, Interpretation sei. Aber er schließt nicht aus, daß es doch andere Interpretationen gibt, die nicht in das Menschsein eingegangen sind. Ist der Mensch doch ,nur' das fortlebende Gesamt-Organische „in Einer bestimmten Linie" 192 . Damit wird zugleich die Möglichkeit offen gehalten, daß künftige Menschen, ,Übermenschen', durch Einverleibung von uns Heutigen noch unzugänglichen Interpretationen ihr Wirklichkeitsverständnis im Vergleich mit den jetzt Lebenden noch erweitern könnten. „Die Erkenntniß wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nöthig sind."193 Nietzsches Interpretation bezieht die Möglichkeit, ja Notwendigkeit ihrer eigenen Erweiterung und damit Modifizierung als einen ihr wesentlichen Aspekt in sich selbst ein. Nachdem wir uns auf mannigfache Weise im Zirkel der Interpretation Nietzsches bewegt haben, sei zum Schluß noch einmal auf die Frage nach dem Wer solcher Interpretation eingegangen. Wir haben schon gehört, daß diese Frage unzulässig ist, insofern es nicht erst ein Etwas gebe, das dann interpretiere. Das Interpretieren selber habe Dasein. Nietzsches Perspektivismus als Subjektivismus zu verstehen, ist daher verfehlt. ,„Es ist alles subjektiv', sagt ihr: aber schon das ist Auslegung", schreibt Nietzsche und weist solche Rede zurück.194 In einer längeren Aufzeichnung aus dem Jahre 1885 heißt es: „Der Gedanke [...] taucht in mir auf - woher? wodurch? das weiß ich nicht. Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich umringt und verdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Begehrungen, Abneigungen, auch von andern Gedanken [...] Man zieht ihn aus diesem Gedränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füße [...]: wer das Alles thut, - ich weiß es nicht und bin sicherlich mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs [...] daß bei allem Denken eine Vielheit von Personen betheiligt scheint - : dies ist nicht gar leicht zu beobachten, wir sind im Grunde umgekehrt geschult, nämlich beim Denken nicht an's Denken zu denken. Der Ursprung des Gedankens bleibt verborgen; die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, daß er nur das Symptom eines viel umfänglicheren Zustandes ist; darin daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder 191 192 193 194

S. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 35ff. S. o. S. 83. Nachlaß, WM 615; GA XVI, 100; [Sommer-Herbst 1884,26[236]; KGW VII2,208]. Nachlaß, WM 481; GA XVI, 12; [Ende 1886-Frühjahr 1887,7[60]; KGW VIII1,323],

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minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig [...]: in dem allen drückt sich irgend Etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen aus." 195 An dem, was hier der ,Psychologe' Nietzsche als der sich selbst Beobachtende schreibt - er, der die Selbstbeobachtung sonst so entschieden zurückweist oder zumindest vor ihr warnt - , läßt sich der Geschehnischarakter von Interpretationen deutlich machen. Als Interpretation ist der Mensch Wille zur Macht, gewiß. Aber dieser Wille zur Macht ist die fortlaufend sich wandelnde Organisation von Machtwillen, die in sich selbst organisierte Machtwillen sind. Je umfänglicher' die Machtorganisationen werden, desto abhängiger sind die organisierenden Kräfte von den organisierten. Sind es doch letztlich deren wechselnde Machtkonstellationen, die über die Regentschaft entscheiden. Der Mensch ist eine so komplexe Machtorganisation, daß er nicht mehr erfahren kann, was ihn ,im Grunde' treibt. Er ist Interpretation, aber er wird interpretiert. Er ist Wille zur Macht, aber - als ,Wille des Menschen' - ohnmächtiger Wille zur Macht hinsichtlich seiner Selbstkonstitution.196 Dies einzusehen, heißt das Eingesehene als das letztlich Wahre uneingeschränkt bejahen. ,Amor fati' ist das letzte Wort der Philosophie des Willens

195

196

Nachlaß; GA XIV, 40f.; [Juni-Juli 1885, 38[1]; KGW VII 3, 323f.]. - [Nachtrag 1990: Marie-Luise Haase hat erstens darauf hingewiesen, daß die von mir herangezogene Aufzeichung eine Vorstufe im Nachlaß Sommer-Herbst 1884 (26[92], KGW VII 2, 171f.) hat, und, was noch wichtiger ist, daß sie zweitens auf Nietzsches Lektüre von Francis Galton Inquieries into Human Faculty and his Development (London 1883) zurückgeht. Solche Selbstbeobachtung hatte außer mir auch Walter Schulz (Nietzsche-Studien 12 [1983], 22f.) als originäre Einsicht Nietzsche zugeschrieben. Es bleibe „inhaltlich ohne Konsequenz, wer sich hier beobachtet hatte". Das ist richtig; es bleibt aber beachtenswert, daß Nietzsche auch hier nicht primär aus Selbstbeobachtung geschöpft hatte, wie dies lange genug angenommen worden ist. (Haase, Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, Nietzsche-Studien 18 [1989], 6 3 3 - 6 5 8 , hier: 652ff.)] S. dazu schon Morgenröthe 120: ,„Ich weiss durchaus nicht, was ich thue\ Ich weiss durchaus nicht, was ich thun soll!' - Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: du wirst gethanl In jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer." - „Der Kampf selbst ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich thue, - aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht." (Morgenröthe 129) (KGW V 1, 113, 117; vgl. Morgenröthe 124, KGW V 1, 114). [S. auch Nachlaß, Frühjahr-Herbst 1881, 11 [131]; KGW V 2, 387.]

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zur Macht. Aber auch dieses Wort konnte ihr selbst nur aus ihrer eigenen Abgründigkeit heraus »zugesprochen' werden.197 Nichts wäre verfehlter, der Interpretation Nietzsches unangemessener, als zuletzt doch noch den Willen zur Macht, einem deus ex machina gleich, wenn schon nicht als das eine metaphysische Subjekt, so doch als das eine Grundgeschehnis hervortreten zu lassen. Es gibt für Nietzsche zwar Geschehniszusammenhänge, aber es gibt nicht das Grundgeschehnis. Es gibt nicht das Eine, es gibt immer nur Vielheiten, sich zusammenfügend, auseinandertretend. Nietzsches Philosophieren schließt die Frage nach dem Grund des Seienden im Sinne überlieferter Metaphysik als eine für das wirkliche Geschehen relevante Frage aus.

Anhang: Zu kritischen Einwänden Nietzsche-Deutung

von

gegen

meine

1971

1. Zu Nietzsches und Heideggers Verständnis von Metaphysik In Der Wille und die Willen fragt Wilhelm Weischedel: „Ist Nietzsche Metaphysiker, wie Heidegger will, oder ist er es nicht, wie Müller-Lauter behauptet?" (a.a.O. [Anm. 1], 74) Mit der Frage wird ein gemeinsames Verständnis von Metaphysik bei den Befragten vorausgesetzt. Ob dies zu recht geschieht, soll wenigstens andeutungsweise erörtert werden. Nach Nietzsche entsteht Metaphysik dadurch, daß das Denken „zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet". Es geht Nietzsche immer wieder darum, den „Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten" herauszustellen. (Nachlaß, WM 574; GA XVI, 71; [Sommer 1883, 8 [25]; KGW VII 1, 352]) An Nietzsches eigenem Verständnis von Metaphysik orientiere ich mich, wenn ich auf die Genealogie der Metaphysik aus der Logik eingehe (Vf., Nietzsche, a.a.O. 197

Nietzsches .Fatalismus' gerät nicht in Widerstreit mit seinem Selbstverständnis als desjenigen, der an die Menschen appellieren muß, die Wahrheit der Lehre vom Willen zur Macht auf sich zu nehmen.,Appell' und ,Verkündigung' sind ihrerseits ernötigt, wie dies auch die Aufnahme des Appells durch die künftigen großen Menschen wäre.

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[Anm. 1], 13; vgl. oben S. 6f.) und wenn ich Nietzsches Philosophie von der Schopenhauers abhebe. Für Nietzsche handelt es sich um Metaphysik, wenn „aus einem Ersten, Einfachen eine Vielheit deduziert wird". Daß sich mein eigenes Verständnis von Metaphysik in dieser Formulierung erschöpft, wie Weischedel offensichtlich meint (Der Wille und die Willen, a.a.O., 72), trifft nicht zu. Wichtig ist mir die Herausstellung von Nietzsches Verständnis von Metaphysik auch für meine Auseinandersetzung mit anderen Nietzsche-Interpretationen. Man wird Nietzsche nicht gerecht werden können, wenn man ihm unterstellt, er falle selber in die von ihm gesehene und kritisierte Gestalt von Metaphysik zurück. Dies geschieht bei Heidegger, wie ich zu zeigen versucht habe (Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 1], 3Off.; vgl. oben S. 23f.). Dies geschieht auch bei Weischedel, wenn er schreibt, Nietzsche könne „zwar als der große Zerstörer der überlieferten Metaphysik gelten. Aber das besagt doch nur, daß er diese durch seine Metaphysik des Willens zur Macht ersetzt. Auch er kann im Philosophieren nicht darauf verzichten, ein Absolutum zu ersetzen." (Der Gott der Philosophen, Erster Band, Darmstadt 1971, 455). Von Nietzsches nichtmetaphysischem Denken spreche ich nur, wenn ich in immanenter Darstellung sein Verständnis von Metaphysik zugrunde lege. Versteht man aber unter Metaphysik sehr viel umfassender das Fragen nach dem Seienden im ganzen und als solchem, so muß man auch nach meiner Auffassung Nietzsche als Metaphysiker bezeichnen. Es muß dann freilich auf die Zeichen der Auflösung in Nietzsches Metaphysik geachtet werden: ,das Ganze' ist nur noch als,Chaos' gegeben, das Seiende als solches ist nicht mehr feststellbar'. Deutet man Metaphysik in ihrem ,Wesen' mit Heidegger als Seinsvergessenheit, so stellt Nietzsches Philosophie, in der .Sein' als bloße Fiktion gilt, eine Metaphysik hervorgehobener Art dar. Jedenfalls stimme ich insoweit mit Heidegger überein, als ich nicht bereit bin, Nietzsche aus der Geschichte der Metaphysik, gar aus der Metaphysik der Subjektivität herauszunehmen, wie B. Taureck in seiner Besprechung meines Buches vermutet (in: Wissenschaft und Weltbild 1 9 7 2 , Heft 3, 236f.). Daß die aufs Äußerste gesteigerte Subjektivität zugleich ihren eigenen Zerfall signalisiert, ist oben dargestellt worden (vgl. S. 86ff). Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, um Weischedels eingangs genannte Frage einzugrenzen. Nur insoweit Heidegger dem Denken Nietzsches eine Metaphysik unterstellt, gegen die dieser sich ausdrücklich gewandt hat, erfolgt die in der Frage vorgenommene Entgegensetzung zu recht. Weischedel bleibt selbst nicht bei der Entgegensetzung stehen. Er

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weist darauf hin, daß die Bestimmung des Willens zur Macht als Seinsverfassung durch Heidegger und meine Ausführungen zum Willen zur Macht als der einzigen Qualität „einander näher sind, als es auf den ersten Blick erscheint" (Der Wille und die Willen, a.a.O., 75). In der Tat arbeiten sowohl Heidegger als auch ich den Willen zur Macht als Essenz heraus. Doch schon in der Ausarbeitung dessen, was bei Nietzsche Essenz und Existenz besagen, endet die Gemeinsamkeit.

2. Einfachheit oder Vielheit des Willens zur Macht Sowohl Weischedel als auch Peter Köster wenden gegen die von mir in meinem Nietzsche-Buch vorgelegte Deutung des ,Willens-zur MachtPluralismus' ein, daß Nietzsche doch immer wieder von dem Willen zur Macht spreche. Beide Kritiker beziehen sich dabei auch auf Nietzsches Satz, diese Welt sei der Wille zur Macht und nichts außerdem. Es stelle sich die Frage, so schreibt Weischedel, warum Nietzsche „nicht - im Sinne Müller-Lauters - sagt: Diese Welt ist die unendliche Fülle der Willen zur Macht" (Der Wille und die Willen, a.a.O., 75). Köster führt aus, der Satz hätte „nach Müller-Lauter eigentlich zu lauten [...]: ,Diese Welt ist die (Vielheit von) Willen zur Macht"' (Die Problematik ..., a.a.O. [Anm. 1], 39). Der genannte Satz verlangt in der Tat, wie ich in dieser Abhandlung ausführlich zu zeigen versuche, eine Explikation in die von meinen Kritikern charakterisierte Richtung. In welchem Sinne Nietzsche von dem Willen zur Macht als der Welt sprechen kann, ist in den Abschnitten 7 und 8 herausgearbeiteten worden. Die Folgerung, die Weischedel aus jenem Satz zieht, dieser lege nahe, „daß Nietzsche die vielen konkreten Willen zur Macht doch schließlich als Manifestationen eines einheitlichen, die ganze Wirklichkeit bestimmenden Prinzips denkt", „dies freilich so, daß dieser umgreifende Wille in einzelnen Willen zur Macht Gestalt gewinnt" (Der Wille und die Willen, a.a.O., 75), verweist Nietzsches Denken in jene metaphysische Dimension, die es verlassen hat. Nietzsche verfiele selber jener Verdoppelung der Wirklichkeit, die er bekämpft: der Wille zur Macht bestünde einmal als Umgreifendes, als Prinzip, und dann noch in seinen Besonderungen. Weischedel nähert sich andererseits meiner Auffassung, wenn er schreibt, die vielen Machtwillen seien „darin verbunden, daß sie alle Wesen des Willens zur Macht sind" (a.a.O., 75), der Wille zur Macht habe „seine

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Daseinsweite in den konkreten Willen, deren Verfassung er bildet". Er entfernt sich wieder von ihr, wenn er ausführt, Nietzsche sei „unterwegs von der Metaphysik zur konkreten Realität" (a.a.O., 7 6 ) . Damit denkt Weischedel doch die Vielheit von dem Willen zur Macht als einem sie allererst Gründenden her. Die Problematik einer Deutung, die den Willen zur Macht als ein Quasi-Subjekt ansieht, das sich selber will, tritt in Kösters Auseinandersetzung mit mir deutlich hervor. Köster findet in meinem „Insistieren auf der Vielheit der ,Letztgegebenheiten"' eine ,Jßinseitigkeit" (Die Problematik ..., a.a.O., 48). Der „im Willen zur Macht [...] zweifellos konstitutiv e ^ ) Aspekt der Vielheit" dürfe nicht „auf Kosten des ebenso konstitutiven Aspekts der Einheit" herausgestellt werden (a.a.O., 41). Im Zuge seiner Deutung eines Nachlaßfragments aus dem Frühjahr 1888 (das freilich nun erst unzerstückt und vollständig in KGW VIII 3, 4 9 - 5 1 , Frgm. 1 4 [ 7 9 ] , vorliegt) kommt er zu dem Resultat: „Im Willen zur Macht scheint somit die Vielheit der (mit ihm identischen) Quanten ihren einen Grund zu haben." (a.a.O., 4 1 , Afim. 22) Das erscheint mir fragwürdig. Die Frage, die hier gestellt werden muß, ist die nach dem Verhältnis von »Identität' und ,Grund'. Köster gerät in Gefahr, in einen von Nietzsches Denkvoraussetzungen her unangemessenen Dualismus abzugleiten, wenn er zwischen den Machtwillen des Individuums und dem Willen zur Macht unterscheidet. Was für jene gelte, so schreibt er, könne „nicht ohne weiteres verallgemeinert und auf den Willen zur Macht angewendet werden". Meine Ausführung, alles Einfache stelle sich als Produkt einer wirklichen Vielheit dar, gelte zwar „durchaus für Nietzsches Destruktion des Individual willens, sie gilt aber nicht in gleicher Weise (sie!) für den damit nicht zu verwechselnden (sie!) ,Willen zur Macht'" (a.a.O., 42). Andererseits betont Köster, daß trotz aller Unterscheidung die beiden Bestimmungen zusammengehören. 'Znsammendenken lassen sie sich ihm zufolge jedoch nicht. Der „Gesamtcharakter der Welt und damit der Wille zur Macht meldet sich im undenkbaren und gerade so gewollten Zugleich von Eins und Vielen", wofür „Nietzsche den Begriff des Dionysischen gebraucht" habe. Jedenfalls sei „die dionysische Identität [...] von Nietzsche trotz und wegen ihrer Unmöglichkeit gewollt" worden (a.a.O., 42f.). Trotz des Monitums von Köster (a.a.O., 3 6 , Anm. 16) kann ich auch hier nicht auf Nietzsches Verständnis des Dionysischen eingehen. In Kösters Kritik erhält das Dionysische jedenfalls die Funktion, die Gegensätze im gewollten Undenkbaren zur Synthese zu bringen (a.a.O., 36, vgl. bes. auch 57) und

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von diesem Undenkbaren her die Ausarbeitung von Nietzsches Gegensätzen als rationalistisch abzuqualifizieren (s. dazu im folg. S. 93f.). Wenn Köster sich bei seiner Unterscheidung zwischen dem Willen zur Macht und den Willen zur Macht Nietzsches Gebrauch der Anführungszeichen zuwendet, so steht die Art seiner Argumentation in Kontrast zu der Subtilität ihres Gegenstandes. Er weist darauf hin, daß Nietzsche an zwei von mir zitierten Stellen den Plural in Anführungszeichen setzt, während der Singular nicht in ihnen steht (a.a.O., 48f., Anm. 33). Dies sei „die Feinheit, auf die hier zu achten gewesen wäre". Wenn Köster nun schreibt, es sei „auch sonst fast durchgehend in den anderen Nachlaßtexten [...] der Begriff des Willens zur Macht zunächst singularisch gebraucht und nicht in Anführungszeichen gesetzt", so ist dies, gelinde gesagt, eine Übertreibung. Es gibt viele Ausführungen, in denen Nietzsche den Plural ohne Anführungszeichen setzt. Sie hier aufzuzählen, erscheint mir überflüssig. - Aber auch wenn man von der zitierten, zur Generalisierung tendierenden Äußerung Kösters absieht und seine Forderungen ernst nimmt, daß die Bedeutung der von Nietzsche gesetzten Anführungszeichen „nur dann hervortritt, wenn man den (sc. besonderen) Text als ganzen nimmt", zeigt sich sogleich, daß man den besonderen Text überschreiten muß, um den Sinn dieser Auszeichnungen zu verstehen (a.a.O., 49). Ein instruktives Beispiel hierfür bietet Heftrichs Bemühung, die Anführungszeichen, in die Nietzsche am Beginn des Aphorismus WM 1067 [Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[12]; KGW VII 3, 338] die beiden Wörter „die Welt" genommen hat, zu interpretieren. Es zeigt sich bald, daß Heftrich weit über den langen Aphorismus hinausgehen muß: „denn die Anführungszeichen interpretieren heißt natürlich, den Begriff ,Welt' bestimmen" (Nietzsches Philosophie, a.a.O. [Anm. 16], 54). Auch die Deutung, die mir Köster als Beispiel vorhält - Heideggers Exegese eines Bindestrichs - , ist nur von einem Verständnis des Willens zur Macht her möglich, das nicht aus dem interpretierten Aphorismus zu ziehen ist. Schränkt man Kösters Vorhaltung noch weiter ein, bezieht man sie nur auf die Stelle, von der seine Argumentation ausgeht, nämlich auf Nietzsches Rede von „zwei »Willen zur Macht' im Kampfe", so muß man feststellen, daß Köster seine eigene Deutung nicht nur aus dem herangezogenen Aphorismus (WM 4 0 1 ; [Nachlaß Frühjahr 1888, 14[137], [138], [140]; KGW VIII 3, 113ff.]) gewinnt: daß der Wille zur Macht aus dem Widerspruch von Leben und Nichts „die mannigfachen Gegensätze desjenigen nichtigen Scheins, der ,Welt' geheißen wird, produziert und zugleich vernichtend in sich zurücknimmt" (a.a.O., 49), ist der Textvorlage

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nicht zu entnehmen, wie man der genannten Forderung gemäß erwarten dürfte. Daß auch meine Deutung der Anführungszeichen in der Wendung von den zwei ,Willen zur Macht' im Kampfe sich aus einem Gesamtverständnis von Nietzsches Denken speist, ist selbstverständlich. Es sind hier wie auch anderwärts mehrere Gründe, die eine solche Auszeichnung angebracht erscheinen lassen. In diesem Falle: die extreme Vereinfachung (worauf ich schon in meinem Buch, a.a.O., 76, hingewiesen habe); die Verdeutlichung dessen, daß auch der Wille zum Nichts Wille zur Macht ist; der Sachverhalt, daß die zwei Willen zur Macht (der Starken und der Schwachen) keine faktischen Machtwillen sind, denkt man sie in ihrer Allgemeinheit und nicht als Besonderungen in Organisationen. - Warum Nietzsches Philosophie überhaupt „immer wie eine Philosophie der ,Gänsefüßchen' aussehen" müsse, wie er selbst schreibt (Nachlaß; GA XIV, 355; [Juni-Juli 1885, 37[5]; KGW VII 3, 306]), bedürfte einer eigenen Erörterung.

3. Logische Gegensätze und Kampf der Gegensätze im Machtgeschehen Zu Anfang seiner kritischen Ausführung bezeichnet es Köster als „generelles Charakteristikum" meines Nietzsche-Buches, ich stellte mich „entschieden auf den Boden der rationalen, den Argumenten der Logik vertrauenden Wissenschaft" (Die Problematik a.a.O., 34). Gründlicher konnte meine Interpretation nicht mißverstanden werden. Dieses unangemessene Vorverständnis prägt alle Einwände Kösters, die er im folgenden vorträgt. Es ist um so unverständlicher, als ich meine Nietzsche-Darstellung mit Nietzsches Destruktion der logischen Gegensätzlichkeit beginne, um hinter dieser die wirklichen Gegensätze der Machtwillen aufzuzeigen. Köster findet, daß ich Nietzsches Logikkritik nicht radikal genug auffasse (a.a.O., 40), „daß demzufolge Nietzsches ,Aufhebung' des Satzes vom Widerspruch für den Fortgang der Untersuchung in eigentümlicher Weise ohne durchgreifende Konsequenz bleibt" (a.a.O., 41). Da ich nun aber im Fortgang meiner Untersuchung die Konsequenzen von Nietzsches Logikkritik voraussetze, stellt sich die Frage: Wie kommt Köster dazu, mich bei jener Logik zu behaften, die ich mit Nietzsche zurücklasse? Wo es mir um die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines philosophischen Aufweises der Synthese von Gegen-

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Sätzen bei Nietzsche geht, findet Köster, daß „alle Indizien" darauf hinweisen, daß ich „damit eine rational argumentierende Beweisführung" von Nietzsche erwarte (a.a.O., 57). M u ß ich sagen, daß ich so töricht nicht bin? Wenn ich Gegensätze in Nietzsches Denken konstatiere, so halte ich nach Köster lediglich an ihrer „logischen Unvereinbarkeit" fest (a.a.O., 37). Auch die Vorsicht, mit der ich meine Worte wähle (Plausibilität, Vereinbarkeit, philosophischer Aufweis), hat Köster nicht dazu veranlaßt, seinen Rationalismus-Vorwurf in Frage zu stellen. Man muß den Eindruck gewinnen, daß er widerspruchaufweisend = rational = logisch = wissenschaftlich setzt, und solcher Gleichung, die er unter das Vorzeichen ,Denkbarkeit' bringt, nur das von Nietzsche ,als undenkbar Gewollte' gegenüber sieht. Als ob es nicht ein sich ausweisendes Denken gäbe, das Rationalität hinter sich läßt, als ob es nicht - zum Beispiel - Hegels .Wissenschaft der Logik' gäbe, die den Rechtsanspruch formaler Logik bestreitet. Es ist grotesk, meine Auslegung in dieser Hinsicht „in einem klaren Gegensatz zu Heideggers Umgang mit Nietzsche" zu sehen (a.a.O., 34). Als ob es Heidegger nicht ebenfalls immer wieder darum ginge, die Vereinbarkeit von Nietzsches Aussagen darzulegen. Nennen wir nur die Frage nach dem Verhältnis von Nietzsches Lehren des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr, wie sie sich für Heidegger stellt. Er schreibt in einer Kritik an Baeumlers Nietzschedeutung: „Aber gesetzt, es bestehe ein Widerspruch zwischen beiden Lehren [...]: seit Hegel wissen wir, daß ein Widerspruch nicht notwendig (sie!) ein Beweis gegen die Wahrheit eines metaphysischen Satzes ist, sondern ein Beweis dafür. Wenn ewige Wiederkehr und Wille zur Macht sich also widersprechen, dann ist vielleicht dieser Widerspruch gerade die Aufforderung, diesen schwersten Gedanken zu denken (sie!), statt ins .Religiöse' zu flüchten. Aber selbst zugegeben, es liege ein unaufhebbarer Widerspruch vor und der Widerspruch zwinge zu einer Entscheidung: entweder Wille zur Macht oder ewige Wiederkehr, warum entscheidet sich Baeumler dann gegen Nietzsches schwersten Gedanken und Gipfel der Betrachtung und für den Willen zur Macht?" (Nietzsche, a.a.O. [Anm. 13], I, 30f.) Heidegger stellt Nietzsche uneingeschränkt unter den Anspruch des Denkens; selbst fundamentale Widersprüche bilden für ihn keine Aufforderung, ins .Undenkbare' zu entfliehen; er räumt die Möglichkeit ein, daß es bei Nietzsche unaufhebbaren Widerspruch geben könne, der zur Entscheidung zwingen könne. Bekanntermaßen sieht Heidegger im Unterschied zu Baeumler keinen unaufhebbaren Widerspruch zwischen den beiden Lehren Nietzsches: er sucht vielmehr - selbstverständlich auf seine Weise - ihre Vereinbar-

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keit, ja ihre „innere Einheit" und zwar durchaus „im Gesichtskreis der Metaphysik und mit Hilfe ihrer Unterscheidungen" (a.a.O., II, 14) herauszuarbeiten. Köster will jedoch erkannt haben, daß ich (im Gegensatz zu Heidegger) rationale Maßstäbe an Nietzsche anlege, wenn ich nach der Vereinbarkeit von dessen Grundaussagen frage. Besteht für Köster die Radikalisierung von Nietzsches Bestreitung des Satzes vom Widerspruch darin, daß Nietzsche sich nur noch in Widersprüchen äußern können soll? Was ich oben (S. 82f.) gegen Jaspers anführe, gilt grundsätzlich für Nietzsches Denken: Wenn Nietzsche im Zusammenhang der Darlegung seiner eigenen Position keine Widersprüche zulassen darf, so unterwirft er sich nicht dem Wahrheitskriterium der Logik. Der Anspruch auf ,Stimmigkeit' seines Denkens ist von fundamentaler Art, er wird von formalen Forderungen nach »logischer Übereinstimmung* nicht betroffen. Nur auf diesen Anspruch hin befrage ich in meinem Buch Nietzsches Denken. Einig sind wir, Köster und ich, offenkundig über die innere Unvereinbarkeit von Grundgedanken Nietzsches. Kösters Unterstellung, ich könnte meinen, Nietzsche habe die Unvereinbarkeit „nicht gesehen" (Die Problematik ..., a.a.O., 58), ist absurd: Geht es mir doch gerade darum zu zeigen, wie Nietzsche um Vereinbarkeit ringt. Wenn ich ausführe, die Synthese von Stärke und Weisheit im Ubermenschen könne von Nietzsche nur noch als Geglaubtes offengehalten werden, so springe ich mit dem ,nur noch' nicht aus der immanenten Kritik heraus, wie Köster meint (a.a.O., 58f., Anm. 50), ich messe ihn mit solcher »Einschränkung' auch nicht an einem ,Wissenschaftsanspruch', sondern spreche aus der Forderung heraus, die Nietzsche selbst mit bewundernswürdiger Intensität an sein Denken stellt. Wenn man das Unvereinbare in seiner vollen Unvereinbarkeit herausarbeitet, wird man, wie ich meine, dieser Intensität gerechter, als wenn man die Bewegung seines Denkens im Undenkbaren zur Ruhe geleitet. Gerade letzteres hieße, ,vor den Gefahren die Augen zu verschließen' (a.a.O., 60), die mit Nietzsches Philosophie auf uns zugekommen sind.

Der Organismus als innerer Kampf Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche

Vorbemerkung:

Zu Nietzsches naturwissenschaftlichen

Studien

Im Rückblick auf seine Baseler „Philologen-Existenz" schreibt Nietzsche in Ecce homo, er habe sich am Ende „ganz mager, ganz abgehungert" gefunden: „die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die .Idealitäten' taugten den Teufel was! - Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften, - selbst zu eigentlichen historischen Studien bin ich erst wieder zurückgekehrt, als die Aufgabe mich gebieterisch dazu zwang." 1 Selbst wenn man diese Aussage Nietzsches im Hinblick auf den besonderen Charakter seiner .Autobiographie' relativiert, so bleibt ihr „Wahrheitskern" doch unbestreitbar.2 Schon die große Zahl der von ihm erworbenen oder ausgeliehenen naturwissenschaftlichen Schriften bezeugt seine Bemühungen um ein Verständnis von Sachverhalten, für das ihn sein Bildungsgang nicht vorbereitet hatte.

1

2

Ecce homo, Menschliches, Allzumenschliches 3; KGW VI 3,323. - Vgl. Warum ich so klug bin; a.a.O., 281: „[...] die Unwissenheit in physiologicis - der verfluchte .Idealismus' - ist das eigentliche Verhängniss in meinem Leben, das Uberflüssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen dieses .Idealismus' erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und .Bescheidenheiten' abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe wurde - warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschliessendes?" S. A. Mittasch, F. Nietzsches Naturbeflissenheit, 1950, 7. - Vgl. K. Schlechta, Nachwort zu F. Nietzsche, Werke, III, 1444: „Ich halte es für erlaubt, einiges von diesem Geständnis der dem .Ecce homo' eigentümlichen Koketterie zu Lasten zu schreiben. Aber in bezug auf die radikale Wendung der Richtung seines Hauptinteresses sagt Nietzsche zweifellos die volle Wahrheit." - Schon am 20./21. August 1881 hatte Nietzsche an F. Overbeck geschrieben: „Im Vertrauen gesagt: das Wenige, was ich mit den Augen arbeiten kann, gehört jetzt fast ausschließlich physiologischen und medizinischen Studien (ich bin so schlecht unterrichtet! - und muß so Vieles wirklich wissen!)" (KGB III 1, 117)

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Der Organismus als innerer Kampf

Hierin liegt ein grundsätzliches Problem. Man kann mit K. Schlechta fragen, ob Nietzsche sich je „ernstlich" mit der Naturwissenschaft beschäftigt hat. Schlechtas Antwort darauf lautet, daß die Einblicke, die Nietzsche gewann, jedenfalls genügten, um die »„nihilistischen' Wesenszüge" wissenschaftlichen Denkens zu durchschauen, wie dies auch Dostoevskij und Kierkegaard möglich war.3 Ein solcher Vergleich ist, seiner allgemeinen Berechtigung ungeachtet, nicht nur insofern unangemessen, als er den sehr extensiven (wenn auch disparaten) Studien Nietzsches nicht Rechnung trägt, für die wir auf Seiten der beiden genannten Denker keine Entsprechung finden. In dem Vergleich wird auch die Intensität verkannt, mit der sich Nietzsche in die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Fragestellungen vertiefte. Daß sie kritisch aufzunehmen seien, daß der Weg seines Philosophierens durch sie hindurch führen müsse, ist ihm ständig vor Augen gewesen. Man macht es sich daher auch zu leicht, wenn man, wie B. Steverding, meint, Nietzsches naturphilosophische Gedanken seien „nicht einer intensiven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften" entsprungen, sondern seien „im wesentlichen eine Frucht des allgemeinen wissenschaftlichen Weltbildes', das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Umgang war".4 Zwar hat sich Nietzsches Denken im Medium dieses ,Allgemeinen' entfaltet und ist in mannigfachen Hinsichten nicht über die Kenntnisnahme von Allgemeinheiten hinausgelangt. Andererseits aber hat er sich sehr gründlich in spezielle Untersuchungen vertieft, hat deren Ergebnisse aufgegriffen und für sein Philosophieren fruchtbar gemacht. Der Rekurs auf seine Lektüre und Auswertung derartiger Schriften ist für das Verständnis nicht nur von Nietzsches .naturphilosophischen' Aussagen unentbehrlich. Seine naturwissenschaftlichen Studien schlagen durch auf Fragen vor allem der .Psychologie', der ,Moral', der .Metaphysik', - wie er umgekehrt von diesen aus auf jene zugeht.5 Man kann gegen Nietzsches Verfahren der .Über-

3 4

5

Schlechta, a.a.O. [Anm. 2], 1443f. Nietzsches Verhältnis zu Naturwissenschaft und Naturphilosophie, (ungedr.) Diss. Münster 1951, 5. - Natürlich ist der Einfluß des naturwissenschaftlich ausgerichteten Zeitgeistes auf Nietzsche unbestreitbar. Die Intensität, mit der er den in den naturwissenschaftlichen Publikationen aufgeworfenen Fragen nachging und sie für seine Philosophie fruchtbar machte, wird durch eine solche Aussage jedoch eher verdeckt. Es ist A. Mittasch zuzustimmen, der ausführt, „daß Nietzsches Naturphilosophie weitgehend die Grundlage auch seiner Kulturphilosophie sowie seiner metaphysischen Endgedanken bildet", (F. Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, XIII). Dabei

Der Organismus als innerer Kampf

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tragung' von Problem- und Sachzusammenhängen aus bestimmten Bereichen in »ganz andere' vieles einwenden. Die Einwände treffen jedoch nur Vordergründiges und bleiben unzulänglich, wenn nicht der Nietzsches Methodik leitende Gedanke der gleichartigen Strukturiertheit allen - selbst des verschiedenartigsten - .Geschehens' in den Blick gebracht wird. Dessen grundlegende Strukturen sind Nietzsche zufolge zumeist verdeckt: je nach der Besonderheit des jeweiligen Wirklichen auf unterschiedliche Art. Die wechselweise vollzogene Applikation von Einsichten aus einem Wirklichkeitsbereich auf einen anderen soll das, was im Grunde geschieht, durchsichtiger machen können. Insofern Nietzsches Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Schriften hauptsächlich auf die Herausarbeitung von Grundstrukturen zielt, tritt die fachspezifische Bedeutung der Forschungen, von denen er Kenntnis erhält, zurück. Sie ist ihm oft auch aus Gründen der Sachunkundigkeit unzugänglich. 6 Desungeachtet bewährt sich seine Fähigkeit, die Vorurteile zu erkennen, von denen jene Forschungen ihren Ausgang nehmen. 7 Nietzsche bleibt nicht bei deren Aufweis stehen; im reflektierenden Durchgang durch sie sucht er hinter sie zu gelangen: zum fundamental Strukturierenden. Diese Intention wird auch in den nachstehenden Ausführungen zutage treten, in denen dem Einfluß nachgegangen wird, den die erste große Veröffentlichung des Begründers der ,Entwicklungsmechanik' auf Nietzsche genommen hat.

6

7

darf die Abhängigkeit der Naturphilosophie Nietzsches von seiner Lektüre naturwissenschaftlicher Schriften aber auch nicht überbewertet werden. Mittasch weist auch selbst unter Berufung auf H. Heimsoeth und C. A. Bernoulli darauf hin, daß Nietzsche den ihm eigenen Weg aus sich heraus gehe (a.a.O., 3 1 , 4 4 ) . Dies gilt von der Auswahl bis zur Auswertung der von ihm herangezogenen Literatur. Auf eine elementare Sachunkundigkeit Nietzsches in der Chemie verweist Mittasch in Nietzsches Naturbeflissenheit. Er zieht eine Aufzeichnung aus dem Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881 11[149]; KGW V 2, 397, heran. Wenn Nietzsche dort offensichtlich im Hinblick auf die Zusammensetzung des Wassers - von 9 Teilen Sauerstoff zu 11 Teilen Wasserstoff spricht, so könnte dabei „ein Abschreibfehler gegenüber Schopenhauers Angabe vorliegen, der von ,1 Atom Hydrogen und 9 Atomen Oxygen' geredet hatte [...] (In Wahrheit 8 Gewichtsteile Sauerstoff und 1 Gewichtsteil Wasserstoff, 1 Atom Sauerstoff auf 2 Atome Wasserstoff.)" (a.a.O., 25). Mittasch schreibt, Nietzsche sei „mit einem seltsamen Vermögen ausgestattet, auch ohne tiefgehende fachkundige Studien durch die Oberfläche auf den Grund der Dinge - oder auf den ,Hintergrund' der Dinge - zu schauen" (Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O [Anm. 5], 30).

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Der Organismus als innerer Kampf

1. Nietzsches

Roux-Lektüre

In einer Aufzeichnung über den Darwinismus, die 1886/1887 entstanden ist, wendet sich Nietzsche gegen die Uberschätzung des Einflusses der „äußeren Umstände" bei der Organbildung; sie sei von Darwin „ins Unsinnige" getrieben worden. Nietzsche hält dem entgegen: „das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die .äußeren Umstände' ausnützt, ausbeutet".8 Daß Gestaltung aus dem Inneren erfolgt, ist ein Grundmotiv von Nietzsches Denken. Wir treffen es schon in seinen frühen Schriften an und können es bis zur Herausarbeitung von Bewegungszentren als Willen zur Macht im Spätwerk verfolgen.9 Für die verschiedensten Weisen und Abstufungen von Organisation gilt dieses Von-Innen-her: in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung erscheint es als plastische Kraft des Menschen, die gegenüber dem Andrang der Vielfalt des historisch Überlieferten einen geschlossenen Horizont herstellt, die Vergangenes und Fremdes einzuverleiben und umzubilden oder auch durch Vergessen auszuscheiden vermag;10 auf ein schöpferisches Inneres führt Nietzsche 1885 selbst den physikalischen Kraftbegriff zurück.11 In der Polemik gegen Darwins Überschätzung des Außen bringt Nietzsche die innere Dynamik des Organischen ins Spiel: „Das Individuum selbst als Kampf der Theile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Theile, an ein Verkümmern,,Organwerden' anderer Theile". Die Entstehung eines Organs könne nicht durch den „Nutzen" erklärt werden, den es den Individuen im Kampf ums Dasein bietet: „die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampfe mit äußeren Umständen und Feinden".12

8

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10 11 12

Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[25]; KGW VIII 1, 312. Vgl. 7[9]; KGW VIII 1, 303. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 66. Vgl. 14[82], a.a.O., 54; 14[186], a.a.O.,165. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KGW III 1, 247, 326. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[31]; KGW VII 3, 287. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[25]; KGW VIII1, 312. S. dazu Zur Genealogie der Moral 2. Abh., 12, KGW VI 2, 33 lf.

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101

Bei dieser Argumentation stützt sich Nietzsche vor allem auf eine Arbeit des Anatomen Wilhelm Roux. Schon der Titel dieser Arbeit weist uns darauf hin: Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Roux' Buch erschien im Februar 1881. Es findet sich in Nietzsches Bibliothek; vermutlich hat er es bald nach seinem Erscheinen erworben. Jedenfalls läßt sich eine erste Auswertung der Untersuchungen Roux' schon in Aufzeichnungen vom Frühjahr-Herbst 1881 feststellen. Von dieser Zeit an verwendet Nietzsche spezifische Begriffe Roux', zum Teil mit leichter Abwandlung, bei der Beschreibung organischer Prozesse. So spricht er von „Selbstregulierung", von „überreichlichem Ersatz" und von „Lebensreiz". 13 In der Zeit Frühjahr-Sommer 1883 hat Nietzsche das Buch von Roux erneut gelesen. Schon die im Vergleich zu 1 8 8 1 größere Zahl von Exzerpten, Zusammenfassungen und Auswertungen, die wir in KGW VII1 finden, läßt auf eine Intensivierung seines Roux-Studiums schließen.14 1 8 8 4 setzt sich Nietzsche dann in kritischen Bemerkungen mit Grundbestimmungen Roux' auseinander. 15 Die Kritik erwächst aus seiner Reduktion aller organi 13

14

15

Eindeutigen Niederschlag findet die Aufnahme von Gedanken oder Begriffen Roux' in folgenden Fragmenten von Μ III I, die in KGW V 2 unter der Ziffer 11 abgedruckt sind: 28, 130, 131, 132, 134, 182, 241, 243, 256, 284. - In der Fröhlichen Wissenschaft appliziert Nietzsche Roux' »Kampf der Zellen' bezeichnenderweise auf die Moral: „Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle verwandelt? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist es für sie nothwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regeneriren." Wie sich das .Verhalten' der Zellen zueinander unterscheidet, so müsse man auch zwischen dem „Wohlwollen" der Schwächeren und der Stärkeren unterschieden, „wobei noch zu bedenken ist, dass ,stark' und .schwach' relative Begriffe sind". (118; V 2, 154) Vor allem auf die folgenden Fragmente aus Μ III 4 b (VII 1, Heft 7) ist zurückzugreifen: 8 6 - 9 5 , 98, 174, 178, 190, 194, 196, 197, 211, 273. GA XIII, Aph. 628, S. 259f. - Als Fundstelle dieses Fragments wird von den Herausgebern dieses Bandes Blatt 20 des Heftes W II angegeben; dort findet es sich jedoch nicht. Die Herausgeber der KGW haben seinen ,Ort' bisher nicht feststellen können. Sachgründe sprechen dafür, daß es sich um eine Niederschrift aus dem Jahre 1884 handelt, davon wird in dieser Abhandlung ausgegangen. [Nachtrag 1981: Inzwischen hat M. Montinari das Fragment gefunden und den Zusammenhang aufgeklärt. Zweierlei ist hier wichtig: 1. Die Herausgeber von GA XIII haben irrtümlicher Weise auf Heft W II als Quelle verwiesen, der genannte Text findet sich jedoch in W VII (Blatt 2D). - 2. Der Text bildet zusammen mit

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sehen Prozesse auf den Willen zur Macht. Desungeachtet ist zu sagen, daß Nietzsches Verständnis des Organismus als einer Vielheit von miteinander kämpfenden Willen zur Macht durch seine Roux-Lektüre vorbereitet worden ist. Daß er auch später noch direkt auf R o u x zurückgreift, zeigt die Darwin-Kritik, die wir eingangs herangezogen haben. Wenn in den folgenden Ausführungen ausschließlich vom Einfluß Roux' auf Nietzsche die Rede sein wird, so könnte der Eindruck entstehen, dessen Lektüre anderer einschlägiger naturwissenschaftlicher Schriften sei ohne wesentliche Wirkung auf ihn gelieben. Für Nietzsches Rezeption und für seine übrigens mehrdimensionale Kritik des Darwinismus wäre auf eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zurückzugreifen, die er sich zugänglich gemacht hat; hier eröffnet sich der Forschung noch ein weites Feld. 1 6 Auch hat Nietzsche,

16

GA 259 die Fortsetzung der Vorstufe zu Jenseits von Gut und Böse 12 und wird vom Herausgeber der KGW im kritischen Apparat zu Jenseits von Gut und Böse 13 mitgeteilt werden.] - Zur Kritik Nietzsches an Grundbestimmungen Roux' nach seiner zweiten Lektüre von dessen Buch vgl. bes. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[272], [276]; KGW VII 2, 219, 221. Gebrauch von Begriffen Roux' finden wir im Nachlaß Frühjahr 1882, 25[333], [426] und Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[138]; KGW VII 2, 93, 120, 183. - Von ,Selbst-Regulierung' als organischem Prozeß spricht Nietzsche auch noch, nachdem er gegen Roux' vermeintliches Verständnis dieses Begriffs polemisiert hat. S. Nachlaß August-September 1885, 40 [37]; KGW VII 3, 378; Jenseits von Gut und Böse 36, KGW VI 2, 51. Eine wesentliche Orientierung über den Darwinismus hat Nietzsche aus F. A. Langes Geschichte des Materialismus (1866) gewonnen (s. seinen Brief an C. v. Gersdorff vom 16.2.1868, KGB 12,257f.j. Die erheblich erweiterte Fassung des Buches (21873/75) hat Nietzsche erst in der 4. Auflage von 1882 eingesehen, wieJ. Salaquarda nachgewiesen hat. Lange geht 1875 in detaillierten Ausführungen auf die Darwinismus-Diskussion ein; ihnen kann Nietzsche Anregungen für seine eigene Kritik entnommen haben. Allerdings sind in der von H. Cohen herausgegebenen 4. Auflage des Buches von Lange die Anmerkungen nicht abgedruckt worden, denen Nietzsche ζ. B. Literaturhinweise hätte entnehmen können. (Vgl. dazu Salaquarda, Nietzsche und Lange, NietzscheStudien 7 [1978], 2 3 6 - 2 5 3 , hier: 240, Anm. 20.) - Nietzsche hat aber auch unabhängig von Lange schon in der Basler Zeit lebhaften Anteil an der Diskussion um die Entwicklungslehre genommen. E. Förster-Nietzsche berichtet, daß er 1869 in der Auseinandersetzung zwischen E. Haeckel auf der einen und L. Rütimeyer, C. E. von Baer und C. v. Naegeli auf der anderen Seite sich zugunsten der letzteren engagiert habe (Das Leben Friedrich Nietzsches, 1904, II 2, 521f.). - Nietzsche hat auch v. Naegelis späteres Buch Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (1884) angeschafft und durchgearbeitet, in dem er wie bei Roux (wie schon in früheren Ausführungen v. Naegelis, wie auch bei Lange, wie auch andernorts) Einwände gegen Darwins Hervorhebung

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wie sich an seinen Niederschriften von 1 8 8 1 nachweisen läßt, in der Zeit seiner ersten Roux-Lektüre J. R. Mayers Schrift Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhang mit dem Stoffwechsel ( 1 8 4 5 ) - neben anderen Arbeiten dieses Autors - gelesen und M. Fosters Lehrbuch der Physiologie ( 1 8 8 1 ) für seine physiologischen Studien herangezogen. 17 Aber schon seine Aufzeichnungen aus jenem Jahre bezeugen, daß ihn Roux' Buch in besonderem Maße zu einem tieferdringenden Verständnis der physiologischen Vorgänge angeregt hat. 18

2. Phänomenalismus und Wissenschaft Wir beginnen unsere Ausführungen zur Sache damit, daß wir in Kürze beschreiben, auf welche Weise und mit welchen Ergebnissen Nietzsche in Morgenröthe und im gleichzeitigen Nachlaß von 1 8 8 0 bis 1 8 8 1 das Innen des menschlichen Individuums thematisiert, um die Bedeutung einschätzen zu können, die schon die erste Beschäftigung mit Roux für ihn gewinnen mußte. 19

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des äußeren Einflusses bei der Organbildung finden konnte (a.a.O., 326ff.). - Zur Bedeutung von W. H. Rolphs Abundanztheorie für Nietzsches Darwin-Kritik in den achtziger Jahren vgl. unten Anm. 174. Zur Wirkung, die Mayers Schriften auf Nietzsches Verständnis der Naturvorgänge ausgeübt haben, s. im folgenden Anm. 103. - Der Anfang von Fragment 11 [131] (KGW V 2, 387) ist aus Fosters Buch (524) gezogen. P. Gast und A. Horneffer haben in ihrem Nachbericht zu GA XIII (367f.) auf drei Bücher hingewiesen, die Nietzsche 1883 „am meisten angeregt" hätten. Sie nennen neben Roux' Arbeit: G. H. Schneider, Der tierische Wille (1880) und E. v. Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (1879). Bezüglich von Roux entsteht der falsche Eindruck, als habe sich Nietzsche mit dessen Buch erst im Spätsommer 1883 beschäftigt. - Schon Ch. Andler hat darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche in biologischen Fragen „avec predilection" Roux konsultiert habe. Dabei konnte er weder schon auf den vollständig veröffentlichten und chronologisch zuverlässig geordneten Nietzsche-Nachlaß zurückgreifen, noch stand ihm die erste Auflage des Buches von Roux zur Verfügung, die Nietzsche ausgewertet hat. Aber auch aus der zweiten Auflage von 1895 erkannte er, trotz Roux' Umarbeitung, daß „Wilhelm Roux a fourni ä Nietzsche un grand nombre des arguments qu'il produira contre le darwinisme vulgaire. II l'a enracine dans le neo-lamarckisme dont Rütimeyer lui avait donne la premiere formule." (Nietzsche. Sa vie et sa pensee. Paris 1920ff. Zit. n. d. Ausg. v. 1958, II, 525f.). Für Nietzsches frühe Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen sei auf K. Schlechta und A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfän-

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Nietzsches Darlegungen verraten vor allem den auch in späteren Jahren noch wirksamen Einfluß von A. Spir und F. A. Lange. Er schreibt: „Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, - nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!"20 Unsere „Ergründung innerer Vorgänge und Triebe" wird durch die mangelnde Differenzierungsfähigkeit der Sprache und die daraus folgende Ungenauigkeit von Beobachten und Denken behindert: „Wir sind Alle nicht Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte [...] haben."21 Immer wieder weist Nietzsche auf die Unbekanntheit der Innensphäre des ,Subjekts' hin. Zumindest bleibt nichts „unvollständiger [...] als das Bild der gesamten Triebe", die den Menschen konstituieren.22 Was uns bei der Vorbereitung einer Handlung als Kampf der Motive bewußt wird, ist ein über den wahren Vorgang täuschender Vordergrund. Was sich im Hintergrund, besser im Untergrund, vollzieht, ist „etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes". Wahrscheinlich ist da der eigentliche Kampf im Gange: unbewußte Gewohnheiten, unberechenbares Körperliches, kaum faßbare Gefühle für Andere, plötzlich auftretende Affekte, dies und vieles mehr wirkt aufeinander. Jedenfalls bleibt uns dieser Kampf verborgen, „und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich thue, - aber welches Motiv damit gesiegt hat, erfahre ich nicht".23 Dementsprechend sind „unsere moralischen Urtheile und Werthschätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang [...], eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen".24 Doch nicht nur die „Moral" steht „im Dienste physiologischer Funktionen",25 „all unser sogenanntes Bewusstsein" ist „ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text". 26 Das physiologisch Zugrundeliegende wird gefühlt, darin zeigt sich seine unbestreitbare Faktizität. Das Gefühlte kann mehr oder weniger phantastisch ausgelegt werden, damit wird eine Abstufung hinsichtlich der Angemessenheit der Auslegungen angedeutet. Die naturwissenschaftliche ,Kommentierung' der unbekannten physiologi-

20 21 22 23 24 25

26

gen seines Philosophierens, Stuttgart 1962, verwiesen. Morgenröthe 116, KGW V 1, 107. Morgenröthe 115, KGW V 1, 105f. Morgenröthe 119, KGW V 1, 109. Morgenröthe 129, KGW V 1, 117. Morgenröthe 119, KGW V i l l i Nachlaß Frühjahr 1880, 2[55]; KGW V 1, 372. Morgenröthe 119, KGW V 1, 111

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sehen Vorgänge ist für Nietzsche offensichtlich weniger phantastisch als die Beschränkung auf bloße Selbsterfahrung. Dies zeigt sich ansatzweise, wenn er den gemutmaßten eigentlichen inneren Kampf einmal in mechanistischer Ausdrucksweise beschreibt als „ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen".27 Aber die Verborgenheit des Physiologischen kann auch die Wissenschaft nicht aufheben. Fassen wir einen leiblichen Vorgang, ζ. B. das Kauen, „wissenschaftlich genauer", so treffen wir auf „eine Unzahl von leiblichen Bewegungen". Aber „ihren Prozeß vermögen wir nur in Symbolen (des Tastsinns Hörens Sehens von Farben) und in einzelnen Stücken und Momenten zu fassen". Das „Wesen" dieses Prozesses bleibt uns „eben so fremd wie sein fortdauernder Verlauf. Dies schreibt Nietzsche noch im Frühjahr 1881. 28 Bei aller Aufgeschlossenheit für die naturwissenschaftliche Forschung dominiert zunächst die erkenntnis- und sprachkritisch begründete Skepsis,29 als Nietzsche wenig später die Lektüre des Buches von Roux aufnimmt. „Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen", heißt es in seiner ersten auf Roux bezogenen Niederschrift. Daß auch der Anatom von Kampf, Sieg, Herrschaft, Widerstreit und dergleichen sprechen konnte, mußte ihn beeindrucken. Aber andererseits stellt Nietzsche sofort die Frage, ob es zulässig sei, derartige Begriffe unserer affektiven Selbsterfahrung auf das Unbekannte zu übertragen. Handelt es sich dabei nicht nur um „intellektuelle Ausdeutungen, dort wo der Intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen meint"?30 Andererseits übersetzt er schon in den anschließenden 27 28 29

30

Morgenröthe 129, KGW V 1, 117. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[12]; KGW V 2, 343. Vgl. dazu R. Blunck, F. Nietzsche, Kindheit und Jugend, 1953, 158; Schlechta-Anders, a.a.O. (Anm. 19], 5 5 - 5 9 . Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[128]; KGW V 2, 385. - Nietzsche führt als solche intellektuelle Ausdeutungen „Liebe" und „Haß" an. Er bezieht sich dabei offensichtlich auf Roux' Hinweis, daß die prinzipielle Lösung des Problems der Zweckmäßigkeit schon bei Empedokles gefunden worden sei (Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, a.a.O., 1). Wenn die KGW im Nietzsche-Fragment „,Ärger', ,Liebe', ,Haß"' schreibt, so vermute ich einen Lesefehler; das Wort „Ärger" ergibt im Kontext keinen Sinn. Im Rückgriff auf den Roux-Text legt sich die Lesart „Kräfte" nahe.[M. Montinari hat mir nach der Veröffentlichung dieser Abhandlung gezeigt, daß Nietzsche „Ärger" geschrieben hat. S. dazu inzwischen Montinaris Ausführung in KSA 14, 645. Ich hätte mich vor der Veröffentlichung dieses Textes bei ihm kundig machen sollen. Was die Sache angeht, so vermute ich nun

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Aufzeichnungen die von Roux beschriebenen „Eigenschaften des niedersten belebten Wesens in unsere ,Vernunft'", um zu zeigen, daß dabei moralische Triebe entstehen.31 Unter dem Eindruck der Analysen Roux' vollzieht er eine erneute Umkehrung: gerade die Vernunft kann durch die Ergebnisse der anatomischen und physiologischen Forschung in ihre Grenzen gewiesen werden. Insbesondere philosophische Vernunft ist „ohne Wissen [...] etwas ganz Thörichtes". Der „Einbildung der Vernunft" gar, das Zentrum der körperlichen Vorgänge zu sein, hält Nietzsche eine Formulierung entgegen, die er wörtlich dem Buch von Roux entnimmt: „Die Centralisation ist gar keine so vollkommene". 32 Schon diese Hinweise zeigen, daß Nietzsche durch Roux in die Richtung auf Anerkennung wissenschaftlicher Forschung gedrängt wird. - Solchem ,Positivismus' steht freilich der sprachkritische Vorbehalt gegenüber: „Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede." 33 Dieser Vorbehalt Nietzsches ist aber kein Einwand. Wir dürfen nicht meinen, er erwarte von einer formalisierten, gar mathematisierten Wissenschaftssprache mehr Sachangemessenheit als von einer .Bildersprache'. Mathematik wie Logik beruhen vielmehr „auf Voraussetzungen, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht", insofern sie ζ. B. Identitäten fingieren.34 Daß die Erkenntnis des Menschen, auch die naturwissenschaftliche, notwendig in Bildersprachen eingebunden ist, gehört schon zu den frühen Überzeugungen Nietzsches. Bleibt die Frage, welche Art von Bildhaftigkeit den Vorrang verdient. Wir greifen auf eine Niederschrift aus dem Jahre 1872 zurück, in der es heißt: „Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren." 35 Also findet auch ein Kampf zwischen den Bildersprachen statt. Dann muß einer wissenschaftlichen Bildersprache, die vom Bild des Kampfes ausgeht, der Vorzug vor anderen eingeräumt werden. Dann ist der Kampf ein so .elementares Phänomen', daß die

31 32

33 34 35

- nicht aus Eigensinn - einen Schreibfehler Nietzsches. Auf andere Weise vermag ich die Formulierung nicht zu deuten.] Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[134]; KGW V 2, 388ff. A.a.O., 11 [132]; 388. Roux, Der Kampf der Theile im Organismus (hier: 65) wird im folgenden unter dem Sigel R zitiert. A.a.O., 11[128]; 385. Menschliches, Allzumenschliches I, 11; KGW IV 2, 27. Nachlaß Sommer 1872-Anfang 1873, 19 [87]; KGW III 4, 36.

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Rede von ihm über unsere »angelernten Affektgefühle' hinaus in ursprünglichere Dimensionen zurückweist; ist ,Lernen' gemäß dem Ausgeführten doch selber ein Kampf. Diese Bemerkungen sollen nicht etwa die aufgetauchten sprachphilosophischen Probleme lösen, 36 mit denen Nietzsche, wie wir noch sehen werden, auch in der Folgezeit gerungen hat. Sie sollen allein dem Verständnis dafür dienen, daß der anfängliche Vorbehalt gegenüber Roux' Bildersprache zurücktritt und der unbefangenen Aufnahme von dessen wissenschaftlichen Erkenntnissen Platz macht. Dabei findet Nietzsche zunächst, daß Roux' Beschreibung der physiologischen Zusammenhänge zu einem ,Bild' des menschlichen Leibes führt, das wesentlich von unserer durch affektive Erfahrungen bestimmten Vorstellung unterschieden ist. Im Herbst 1881, also nach der ersten Beschäftigung mit Roux, vernehmen wir daher einen ganz anderen Ton in Nietzsches Aufzeichnungen als noch im Frühjahr des gleichen Jahres: „Wie kalt und fremd sind uns bisher die Welten, welche die Wissenschaft entdeckte! Wie verschieden ist z. B. der Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern und der ,Leib', wie ihn der Anatom uns lehrt!" Was die Wissenschaft zeigt, ist zwar eine „wildfremde" Welt. Doch dieses Fremde ist nun nicht mehr das Unerkennbare. Es ist vielmehr eine „eben entdeckte neue Welt, der größte Widerspruch mit unserer Empfindung!" Die Erwartung, die Nietzsche nun in die Wissenschaft setzt, tritt zutage, wenn er fortfährt: „Und doch soll allmählich ,die Wahrheit' sich in unseren Traum verket-

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Ergänzend sei nur auf Nietzsches Bemühen von 1881 hingewiesen, den Menschen als Bild-Gestalter zu begreifen. Seine Überlegungen führen ihn einmal sogar zu der Konsequenz: „Das Ichgefühl umschaffen! Den persönlichen Hang schwächen! An die Wirklichkeit der Dinge das Auge gewöhnen! Von Personen soviel wie möglich vorläufig absehen! Welche Wirkungen muß dies haben! [...] Uns von den Dingen besitzen lassen (nicht von Personen) und von einem möglichst großen Umfang wahrer Dingel Was daraus wächst, ist abzuwarten: wir sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen: und wir sollen so sein, wie diese Fruchtbarkeit uns nöthigt zu sein [...] Die Bilder des Daseins sind das Wichtigste bisher gewesen - sie herrschen über die Menschheit." (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [21]; KGW V 2,348f.). Nur wenig später heißt es: „Sich die Vortheile eines Todten verschaffen [...] Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und den ganzen Überschuß von Kraft auf Aas Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer sein!!" (a.a.O., 11[35]; 352) Wie so oft zeigt sich auch hier Nietzsches unfestgelegtes Abtasten von Möglichkeiten des Menschseins.

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ten und - wir sollen einmal wahrer träumen]"37 Diese Niederschrift ist bemerkenswert. Wir träumen: der Phänomenalismus behauptet nach wie vor das Feld. Wir können wahrer träumen: die neuen Entdeckungen der Wissenschaft lösen bisherige Verborgenheiten auf. Wir sollen einmal wahrer träumen: damit wird eine Aufgabe für die Zukunft gestellt. Das herangezogene Fragment gibt ein gutes Beispiel für Schlechtas Hinweis ab, daß es offen bleibt, wie Nietzsches allgemeine Skepsis, die auch der wissenschaftlichen Wahrheit gilt, mit seiner .positivistischen' Zuversicht in Ubereinstimmung zu bringen ist.38 Die 1881 neu vollzogene Zuwendung Nietzsches zur Naturwissenschaft bedarf der näheren Klärung ihres Zieles. Es geht ihm dabei nicht um Erkenntnis als solche, sondern um deren Bedeutung für die Existenz des Menschen. Dies zeigt schon seine Bemerkung über den Wissenschaftler, die er seiner Aufzeichnung über das,wahrere Träumen' anschließt: „Es ist eine ganz neue Lage - auch sie hat ihre Erhabenheit, auch sie kann heroisch aufgefaßt werden: obschon es noch niemand gethan hat." Die wissenschaftlichen Menschen arbeiten in „einem von ihrem Empfinden abgeschlossenen Reiche": „für sie ist die Wissenschaft vornehmlich etwas Strenges, Kaltes, Nüchternes - kein erschütternder Ausblick, kein Wagniß, kein Alleinstehen gegen alle Dämonen und Götter. Die Wissenschaft geht sie nichts an - das giebt ihnen die Fähigkeit dazu] Hätten sie Furcht oder Witterung des Ungeheuren - so ließen sie die Hand davon."39 Bekanntlich hat Nietzsche selbst im Laufe seines Schaffens unterschiedlich zu diesem Ungeheuren Stellung bezogen. Hier nimmt er die Herausforderung an. Die von ihm zuerst 1870 ausgesprochenen nihilistischen Konsequenzen der Wissenschaft40 werden vom Gedanken einer langfristigen Veränderung des Menschseins durch Adaption insbesondere physiologischer Erkenntnisse abgelöst. Derzeit, so heißt es 1881, haben „die alten physiologischen Irrthümer spontane Kraft [...] Lange lange Zeit können wir die neuen Erkenntnisse nur als Reize verwenden - um die spontanen Kräfte zu ent-

37 38 39 40

Nachlaß Herbst 1881, 14[2]; KGW V 2, 521. Vgl. Schlechta-Anders, a.a.O. [Anm. 19], 57. Nachlaß Herbst 1881, 14[3]; KGW V 2, 521. „Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, dass die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung." (Nachlaß Winter 1969/70-Frühjahr 1970, 3[11]; III 3, 62; vgl. dazu a.a.O., 3[55]; III 3, 75 f.) Hierzu vgl. Schlechta-Anders, a.a.O. [Anm. 19], insbes. 5 Off.

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laden." 41 Dabei „kann man dem Nächsten Kleinen Flüchtigen Bedeutung geben", indem man es ζ. B. „als Wurzel der Gewohnheiten begreift". 42 Wir finden hierin die Frucht von Nietzsches erster Roux-Lektüre. Es ist für seine Erkenntniseinstellung bezeichnend, daß er Forschungsergebnisse des Anatomen sofort auf Aspekte menschlicher Lebensgestaltung überträgt. Schon in der zweiten Aufzeichnung, die Rouxsche Bestimmungen aufnimmt, heißt es: „Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung, Raum und Zeit ebenfalls. Die Selbstregulierung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten der Praxis." 43 Doch über solche anthropologischen Anwendungen hinaus gewinnt Roux in den späteren Jahren wesentliche Bedeutung für Nietzsches philosophisches Verständnis des Organischen. Wir gehen im folgenden von Roux aus, um dies deutlich zu machen.

4. Roux' Grundgedanken und deren Aufnahme durch Nietzsche in den Jahren 1881 und 1883 Daß in dem Neuen, das Nietzsche in dem Buch von Wilhelm Roux fand, sich eine neue naturwissenschaftliche Disziplin ankündigte, konnte er nicht wissen. Roux, Schüler von C. Gegenbaur, E. Haeckel und R. Virchow, ist der Begründer der experimentellen und kausal-morphologischen Entwicklungsforschung, der er 1884 den Namen „Entwicklungsmechanik" gab. 44 41 42 43

44

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [173]; KGW V 2, 4 0 5 . Nachlaß a.a.O., 11 [167]; KGW V 2, 404. Nachlaß a.a.O., 11 [130]; KGW V 2, 386. - Zu Nietzsches Gedanken der Züchtung, wie er aus den dargestellten Zusammenhängen erwächst, sei auf Nachlaß a.a.O., 11 [276]; KGW V 2, 445f. verwiesen. Roux versteht unter mechanistischem Geschehen „streng gesetzmäßiges Geschehen", wobei er, durch seine Jenaer philosophischen Studien bei R. Eucken (1877/78) angeregt, zunächst von Kant ausgegangen ist. - den Mißverständnissen, die sein Begriff der Entwicklungsmechanik bei seinen Fachkollegen hervorgerufen hat, s. seine Ausführungen in: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstel-

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Ihre spätere weltweite Ausbreitung ist hier ebensowenig darzustellen wie ihre wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung für den gegenwärtigen Stand der aus ihr hervor gewachsenen Entwicklungsphysiologie. Auch die spätere selbstkritische Stellung Roux' zu seinem , Kampf der Theile' bleibt hier unberücksichtigt. Für uns ist bedeutsam, daß er schon in seiner Schrift von 1881, die er teilweise im Jahr zuvor seiner Habilitationsarbeit zugrunde gelegt hatte, Bestimmungen und Erklärungsgründe herausgearbeitet hat, die auch seine späteren Untersuchungen leiteten. Vor Roux hatte sich die Anatomie im wesentlichen auf die Beschreibung und den Vergleich organischer Gestaltungen beschränkt. Wie fragwürdig sich Roux' experimentelle und kausalanalytische Methodik für die zeitgenössische deskriptive Anatomie ausnahm, zeigt eine von ihm mitgeteilte Äußerung eines seiner Lehrer nach dem Erscheinen von ,Der Kampf der Theile „Schreiben Sie nie wieder so ein philosophisches Buch, sonst werden Sie nie Ordinarius der Anatomie." Schon „das Streben nach ursächlicher Erkenntnis der Gestaltungen der Lebewesen wurde [...] mit diesem Tadel belegt", bemerkt Roux dazu in seiner Autobiographie. 45 Wir wenden uns nun dem Buch von Roux zu. Bei der Darstellung seines Anliegens und seiner Grundgedanken ziehen wir zugleich Nietzsches Rezeption heran, und zwar sowohl die Aufzeichnungen von 1881 als auch die von 1883. Roux will die von Darwin und Wallace begründete Entwicklungslehre ergänzen, da ihr Prinzip der natürlichen Zuchtwahl für die Erklärung der „feineren inneren Zweckmäßigkeiten der thierischen Organismen" untauglich sei. 46 So lassen sich ζ. B. die vielfältige und komplizierte Differenzierungen aufweisenden Eigenschaften der Blutgefäßwandung nicht dadurch erklären, daß sie, als zunächst zufällig vorkommende Variationen, im Kampf ums Dasein gezüchtet worden sein könnten. 47 Will man nicht in „die Teleologie" und damit in einen metaphysischen Dualismus zurückfallen, den Darwin „glücklich" beseitigt hatte,48 so muß man von der Annahme einer internen Selbstregulierung und Selbstdifferenzierung durch Prozesse funktioneller Anpassung ausgehen. Was damit gemeint ist, sei an dem schon eingeführten Beispiel erläutert. Die Entwicklung der Blutgefäße wird durch das strömende

45 46 47 48

lungen, hrsg, v. L. R. Grote, I, 1923, 145f. A.a.O., 152f. RIV. R 38. R 3 4 , vgl. 236.

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Blut in bestimmte Richtung gedrängt. „Organ wirkt also auf Organ." 49 Genauer betrachtet erweist sich ein solches Wirken als ein Miteinanderkämpfen von Teilen des Organismus, das Roux auf den unterschiedlich differenzierten Organisationsstufen beschreibt. Zweifellos nimmt Roux den Begriff des Kampfes im Ausgang von Darwin auf, auch wenn er ihn zur Erklärung innerer Züchtungsprozesse benutzt. 50 Er geht aber bis zu Heraklit und Empedokles zurück, um darzutun, wie frühzeitig schon erkannt worden sei, daß dauerhafte und zweckmäßig organisierte Einheiten gerade aus dem Streit einander entgegenwirkender Kräfte herauswachsen. Nietzsche bezieht diese historischen Hinweise in seine erste Reflexion über Roux ein.51 Roux sieht in ihnen angezeigt, daß die „philosophische, principielle Lösung" des Entwicklungsproblems schon im anfänglichen griechischen Denken gefunden wurde, dann aber „gänzlich verloren" ging und erst „auf dem mühsamen Wege empirischer, wissenschaftlicher Detailforschung [...] vollkommen neu entdeckt werden" mußte. 52 Wichtig ist, daß Roux den Kampf als einen mechanischen Vorgang auffaßt. Wir beschreiben diesen Vorgang in aller Kürze an seiner Darstellung des Kampfes der kleinsten organischen Prozeßeinheiten, der Zellteile (Molekel), in der Periode des Wachstums. 53 Dasjenige Teilchen, das im Stoffwechsel rascher assimilieren kann und demzufolge rascher regeneriert, wird sich räumlich stärker entfalten als ein benachbartes Teilchen, das eine geringere Affinität aufweist. Das erste Teilchen wird dem zweiten „damit den Platz wegnehmen". Bei der Wiederholung dieses Prozesses wird das zweite weiter zurückgedrängt und im Falle der längeren Dauer dieses Vorgangs „schließlich schwinden". Wie bei diesem Kampf um den Raum werden auch beim Kampf um die Nahrung - im Falle eines Nahrungsmangels - diejenigen Teilchen siegen, deren Regenerationsgeschwindigkeit größer ist. Ubersteigt schließlich in einer Prozeßeinheit die Assimilation den Verbrauch, so daß „Überkompensation des Ver-

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"

Über die Verzweigungen der Blutgefäße. Eine morphologische Studie. Jenaische Zeitschrift f. Naturwiss. Neue Folge, V, 1878. Vor Roux haben schon W. His und F. Boll den Kampf ums Dasein zur Erklärung bestimmter Gewebeprozesse herangezogen, freilich ohne den Kampf zum grundlegenden Deutungsprinzip zu erheben. S. dazu W. Roux, Über die Selbstregulation der Lebewesen, in: Arch. f. Entwicklungsmechanik, XIII, 1902, 6 4 3 ; ders., Ges. Abb. I, Leipzig 1895, 263, 315. S. oben S. 105f. Anm. 30. - Vgl. R 64f. R2f. R 73ff.

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brauchten", d. h. Wachstum, eintritt, während die anderen Zellteilchen nicht in solchem Maße assimilieren, so wird eine solche Einheit „die Alleinherrschaft" in der Zelle gewinnen. Schließlich nennt Roux als dritte Weise des Kampfes in der Zelle den direkten Kampf. In ihm siegen neu auftretende Eigenschaften über alte, indem sie diese zerstören oder sich assimilieren. Roux betont besonders die Heftigkeit des Kampfes um den Raum. Sie muß dort, „wo alles zu einer räumlichen Einheit verbunden an einander liegt und sich drängt", größer sein als beim Kampf der Individuen untereinander. Nietzsche hat im Jahre 1883 Zusammenfassungen der von Roux beschriebenen Vorgänge aufgezeichnet.54 Dabei ist ihm ein Aspekt besonders wichtig, von dem Roux ausgeht. Nietzsche notiert: „Der Kampf um Nahrung und Raum findet in der Zelle statt, sobald eine Ungleichheit in den Bestandtheilen ist." 55 Kurz vorher finden wir einen Hinweis auf Roux' grundsätzliche Ausführung, daß die Ungleichheit der Theile die Grundlage des Kampfes ist;56 aus ihr, so heißt es an der angegebenen Stelle bei Roux, „ergiebt sich der Kampf von selber infolge des Wachsthums und [...] auch schon einfach infolge des Stoffwechsels."57 Schon 1881 hatte Nietzsche aus Roux' Buch gezogen: „Verschiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern - die Gleichheit ist ein großer Wahn." 58 Die im Kampfe zutage tretende Verschiedenheit der Teile weist auf ihre „relative Selbständigkeit" hin. Daß diese Selbständigkeit „selbst in den höchsten Organismen" aufgezeigt werden kann,59 hat in Nietzsches späterem Verständnis des Leibes als einer Vielheit lebender Wesen seine Ausprägung gefunden. Roux bezieht sich bei seinem von Nietzsche festgehaltenen Aufweis der genannten Selbständigkeit auf eine Veröffentlichung seines Lehrers R. Virchow, in der die Transplantationsfähigkeit von Zellen beschrieben worden war.60 Wie Roux den Kampf als konstituierendes Prinzip der Bildungsvorgänge auf den Ebenen der Zellen, der Gewebe und der Organe herausarbeitet, 54

Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[86]; KGW VII 1, 280. Vgl. R 73ff., 87, 7 6 - 7 8 . - Nachlaß a.a.O., 7[95]; KGW VII 1, 2 8 2 f (S. 283, Ζ 5 muß statt „leichte" gelesen werden: „leichter".). Vgl. R 76, 73, 79, 80.

55

Nachlaß Nachlaß R 69. Nachlaß Nachlaß R 65 f.

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a.a.O., 7[95]; KGW VII 1, 282. - Vgl. R 76. a.a.O., 7[93]; KGW VII 1, 282. - Vgl. R 69. Frühjahr-Herbst 1881, 11[32]; KGW V 2, 388. - Vgl. R 71. Frühjahr-Sommer 1883, 7[92]; KGW VII 1, 282. Vgl. R 65.

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können wir hier im einzelnen nicht verfolgen. Nietzsche hält im Zuge seiner Lektüre von 1883 auch genau fest, wo bei Roux der innere Kampf über den reinen Auslesecharakter hinausweist. Dies geschieht beim Kampf der Gewebe. Der Kampf wird hier „zu einem regulierenden Princip", dem „Princip der funktionellen Selbstgestaltung der zweckmäßigsten Größenverhältnisse".61 Auch Roux' Gedanke der organischen Selbstregulation ohne vorgegebene Zweckmäßigkeit geht in Nietzsches Auslegung der Leiblichkeit ein. Die gegebenen Hinweise zu Roux müssen ausreichen, um das Eigentümliche seines Verständnisses organischer Prozesse deutlich zu machen. 62 Im Unterschied zu anorganischen Vorgängen trägt der Lebensprozeß „die Ursache seiner Erhaltung in sich selberu. Schon in der Assimilation, der Aneignung und Umwandlung von ,Fremdem', vollzieht sich eine gewisse Selbstproduktion des Organischen, für die wir auf der Seite des Anorganischen lediglich in der Flamme eine Entsprechung finden. Hingegen ist die Überkompensation des Verbrauches (Nietzsche sagt dafür: der überreichliche Ersatz) allein den organischen Wesen eigen. Sie bestimmt das Wachstum und ermöglicht spezifische Lebensleistungen. Schließlich wird die Dauerfähigkeit der Lebensprozesse durch deren Selbstregulation (Nietzsche sagt dafür: Selbstregulierung) gewährleistet, die gewissermaßen das ökonomische Gleichgewicht in einem Organismus herstellt. Die funktionale Abgestimmtheit in einem Ganzen, die der Begriff der Selbstregulation zum Ausdruck bringt, erwächst nach Roux ebenfalls aus dem züchtenden Kampf der Teile. Selbstregulation erfolgt mechanisch, nicht nach einem teleologischen Prinzip. Roux hält den Gedanken der relativen Selbständigkeit der Teile durch: ihr „Nutzen für das Ganze liegt durchaus nicht in der Absicht der Theile. Die Theile leben blos für die eigene Erhaltung". Daß sich nur diejenigen Eigenschaften der Teile erhalten haben, die der Dauerfähigkeit eines Ganzen dienten, wird von Roux auf die ,äußere' Selektion im Sinne der Lehre Darwins zurückgeführt. 63 Schon hieraus erhellt, daß Roux in seiner Untersuchung nicht „die Bedeutung des von Darwin und Wallace aufgestellten Prinzipes des Kampfes der Individuen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an die äusseren Bedingungen" beschneiden will. Aus dem internen Kampf der Teile erklärt er jene inneren Zweckmäßigkeiten, die sich nicht aus dem

61 62 63

Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[190]; KGW VII 1, 310f. Vgl. R 97, 98, 102. Zum folg. vgl. R 215ff. R 219f.

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Kampf der Individuen ableiten lassen. Der Kampf der Teile leistet eine Vor-Auslese für den ,Kampf ums Dasein': „Das Verhältniss beider Kampfesarten" ist „derartig, dass aus dem vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigen und am stärksten reagierenden Substanzen oder richtiger Processen der Kampf der Individuen um das Dasein überall diejenigen speciellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen geeignet sind." 64 In Nietzsches Aufzeichnungen zu Roux von 1883 tritt die Bedeutung des ,zweiten Kampfes* zurück. Er notiert Stellen, in denen Roux die Unzulänglichkeit der Darwinschen Ableitungen betont. Wir finden ζ. B. einen Hinweis auf Roux' Erklärung der Möglichkeit des Überganges der Tiere aus dem Wasser zum Land,65 der nur durch „die gleichzeitige Ausbildung von Tausend, ja Million zweckmässigen Einzeleigenschaften hat stattfinden" können. Diese Gleichzeitigkeit läßt sich nach Roux allein aus dem Prinzip der funktionellen Selbstgestaltung erklären, nicht aber aus Darwins Selektionsprinzip, das nur die sukzessive Ausbildung zweckmäßiger Eigenschaften zuläßt. Nietzsche findet hier offenkundig einen Beleg für den von ihm vertretenen Vorrang des Von-Innen-her gegenüber dem Außen. Ein anderes Mal zitiert Nietzsche eine Stelle aus Roux, in der dieser auf die Einseitigkeit der darwinistischen Erklärungsweise eingeht: „Bisher hat man alle guten Eigenschaften eines Organismus bloß aus der Auslese im Kampf ums Dasein unter den Individuen abgeleitet!"66 Schließlich geht Nietzsche auf Roux' Beschreibung von Prozessen ein, bei denen der Reiz lebensnotwendig wird. Er schreibt dazu: „Es sind die höchsten Prozesse." Und er zitiert Roux: „Alles dies geschieht ohne den Kampf der Individuen." 67 64

65 66 67

R 327f. - Sowohl Darwin als auch Haeckel nahmen Roux' Untersuchungen mit großer Anerkennung auf (S. R. Mocek, Wilhelm Roux - Hans Driesch. Zur Geschichte der Entwicklungsphysiologie der Tiere. 1974, 72). Darwin bezeichnet sie schon 1881 als das „bedeutungsvollste Buch über Entwicklung, welches seit einiger Zeit erschienen ist" (Roux, Ges. Abh. I, a.a.O.[Anm. 50], 141). Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[98]; KGW VII 1, 281. Vgl. R 39ff. Nachlaß a.a.O., 7[194]; KGW VII 1, 312. - Vgl. R 110. Nachlaß a.a.O., 7[98]; KGW VII 1, 283. - Vgl. R 8 1 - 8 3 . - Die Unabhängigkeit des Kampfes der Teile von Darwins Selektionstheorie hat Roux 1902 unter dem Eindruck der Kritik an den Prinzipien Darwins hervorgehoben. Selbst wenn erwiesen wäre, so führt er aus, daß der Kampf ums Dasein und die geschlechtliche Zuchtwahl keinen Anteil an der Entstehung der Arten gehabt hätten, „so muss ich betonen, dass dies noch nichts gegen meine Ableitungen von der Wirkung des Kampfes der Theile im Organismus einschließen würde". Beziehen diese sich doch

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Auf die Problematik der Reizeinwirkung müssen wir noch näher eingehen, da sie für Nietzsches Verständnis organischer Prozesse besondere Bedeutung gewinnt. Es ist ein wesentliches Anliegen von Roux, die Wirkung der funktionellen Reize zur Geltung zu bringen. Diese Reize beeinflussen den Kampf der Teile gewissermaßen von außen her. Sie wirken in mannigfacher Weise auf die Teile: primär trophisch, d. h. die Ernährung steigernd, darüber hinaus aber auch differenzierend und gestaltend. Roux unterscheidet im Leben aller Teile zwei Perioden: in der ersten Phase entfalten, differenzieren und vergrößern sich die Teile aus sich selbst; in der zweiten findet das Wachstum, in bestimmten Fällen sogar der vollständige Ersatz des Verbrauchten, nur unter Reizeinwirkung statt.68 So kann eine völlige Abhängigkeit der Lebensprozesse vom Reiz entstehen: Roux spricht dann vom „unentbehrlichen Lebensreiz".69 Die Abhängigkeit hebt die Selbstgestaltung der Teile aber nicht auf. Nietzsche stellt bezeichnenderweise diesen Aspekt besonders heraus und überträgt ihn auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt: „Der aktiven quantitativen und qualitativen Nahrungs-Auswahl der Zellen, welche die ganze Entwicklung bestimmen, entspricht, daß der Mensch sich auch die Ereignisse und Reize auswählt, also aktiv verfährt unter all dem zufällig auf ihn Eindringenden gegen Vieles also abwehrt. Roux p. 149."70 Solche Übertragungen finden wir in Nietzsches Roux-Notizen von 1883 häufig. 71 Immer wieder werden physiologische Sachverhalte von ihm »moralisch gewendet'. 72 So notiert er zum „Einfluß der Reize auf die schnellere Assimilation - in der Moral: Vermehrung der Macht da, wo eine Fülle feinster Verletzungen vorkommen und dadurch das Bedürfniß der Aneignung gesteigert wird." 73 Auch hier legt Nietzsche den Akzent auf die Aktivität in der Reizverarbeitung. Das geschieht noch massiver, wenn er schreibt: „meine Aufgabe: die guten Triebe so zu

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72 73

„auf die Entstehung der allgemeinsten Gewebsqualitäten, der Selbsterhaltungsqualitäten und der aus ihnen folgenden allgemeinsten Gestaltungsvermögen {Über die Selbstregulation der Lebewesen, in: Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen, XIII, 1902, 633ff.) R 180, vgl. 200. R 81; Nietzsche, Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[98]; KGW VII 1, 283. Nachlaß a.a.O., 7[196]; KGW VII 1, 312. Vgl. Nachlaß a.a.O., 7[94], 7[90]; KGW VII 1, 282, 281. Vgl. dazu R 63. - Nachlaß a.a.O., 7[92]; KGW VII 1, 281 f. Vgl. dazu R 107, 110 - Nachlaß a.a.O., 7[174]; KGW VII 1, 306 f. Vgl. dazu R 110. Nachlaß a.a.O., 7[86],[87]; KGW VII 1, 280f. Nachlaß a.a.O., 7[95]; KGW VII 1, 282f. Vgl. R 80.

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stellen, daß sie Hunger bekommen und sich bethätigen müssen."74 Er knüpft hier zweifellos an Roux' Aussage an: J)ie Dauerprozesse müssen Hunger haben".75 In seinen Überlegungen zur Moralproblematik nimmt er einmal auch den .zweiten Kampf' im Sinne Roux' auf und argumentiert Darwinistisch': „Das Auslesen im Kampf der Individuen wird diejenigen Eigenschaften zur dauernden Erhaltung auswählen, welche sich für das ganze Individuum nützlich erweisen. Also: es müssen viele Arten Moral entstehen - der Kampf ihrer Träger und der Sieg bringt die Art Moral zu dauernder Erhaltung, welche dem Mächtigsten zum Leben nützlich und unentbehrlich ist."76 In späteren Niederschriften wird Nietzsche freilich hervorheben, daß die natürliche Selektion im Sinne Darwins gerade nicht die ,beste Moral' mit den ,höheren Individuen' verbindet, wie er es in der zitierten Aufzeichnung für möglich hält. Aber wenn er auch 1883 den „Kampf der verschiedenen Moralen" gegeneinander als „Mittel ihrer Ausbildung" bezeichnet,77 so finden wir doch auch in der gleichen Zeit die radikalere - weil die Moralität unterlaufende - „praktische Consequenz", die er anläßlich der zweiten Roux-Lektüre zieht: „Umänderung der Charaktere. Züchtung an Stelle des Moralisirens. Mit direkter Einwirkung auf den Organism zu arbeiten statt mit der indirekten der ethischen Zucht. Eine andere Leiblichkeit schafft sich dann schon eine andere Seele und Sitte. Also Umdrehenl"78 Wir sehen: wie 1881 soll die Physiologie in den Dienst einer grundlegenden Veränderung des Menschen gestellt werden.

5. Mechanistische und teleologische Naturerklärung Im Jahre 1884 beschäftigt sich Nietzsche mit Grundbestimmungen Roux' unter einem anderen leitenden Aspekt. Es geht ihm um die methodische Frage nach der Angemessenheit und Leistungsfähigkeit der mechanistischen und

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Nachlaß a.a.O., 7[88]; KGW VII 1, 281. R 222. Roux erläutert hier: „Dieses Wort ist hier natürlich nicht als bewusste Empfindung, sondern in der Bedeutung einer stärkeren Affinität zur Nahrung bei stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen." Nachlaß a.a.O., 7[98]; KGW VII 1, 283 f. Vgl. R 84. - Vgl. dazu Nietzsches Applikation des Kampfes der Zellen auf die Moral schon in Fröhliche Wissenschaft 118; s. dazu oben S. 101, Anm. 13. Nachlaß a.a.O., 7[170]; KGW VII 1, 305. Nachlaß a.a.O., 7[97]; KGW VII 1, 283.

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der teleologischen Naturerklärung. Er sucht die Unzulänglichkeit beider Erklärungsweisen aufzuzeigen, wobei er jedoch der mechanistischen Ableitung wesentliche Vorzüge gegenüber der teleologischen zuspricht. Zu seinen „Voraussetzungen" zählt er: „keine End-,Ursachen'. Selbst bei menschlichen Handlungen erklärt die Absicht das Thun gar nicht"7* Zustimmend konstatiert er den „Sieg der antiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulativer Hypothese 1) weil mit ihr allein Wissenschaft möglich ist 2) weil sie am wenigsten

voraussetzt und unter allen Umständen erst ausprobiert werden muß"*° Er

äußert sogar einmal die „Vermuthung, daß alle Eigenschaften des Organischen selber uns deshalb aus mechanischen Gründen unableitbar sind, weil wir selber erst antimechanische Vorgänge hineingesehen haben: wir haben das Unableitbare erst hineingelegt".81 Andererseits bemerkt er, daß auch „alle unsere mechanischen Gesetze [...] aus uns" sind, „nicht aus den Dingen! Wir construiren nach ihnen die ,Dinge'." 82 Die mechanistische Erklärung dient der „,Berechenbarkeit' zu praktischen Zwecken"83, aber damit verzichtet sie „zuletzt auf ein Begreifen".84 Die Reduktion der organischen Prozesse auf Druck und Stoß, die ihrerseits nicht erklärt werden können, huldigt nach einer Aufzeichnung von 1885 „dem Principe der größtmöglichen Dummheit".85 Entsprechend heißt es schon 1884: „Das Ideal ist, das complicirteste aller Maschinenwesen zu construiren, entstanden durch die dümmste aller möglichen Methoden." 86 Dumm ist die mechanistische Denkweise, insofern sie ,das Geistige' unberücksichtigt läßt,

das „das Wesen des Organischen auszumachen"' scheint.87 Das,Geistige' findet Nietzsche im „Auswählen des Wichtigeren, Nützlicheren, Dringlicheren"; es besteht als Schätzen schon im Willen der niedrigsten Organismen.88 Zugleich 79 80 81 82 83 84 85 86 87

88

Nachlaß Frühjahr 1884, 25[96]; KGW VII 2, 29. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[386]; KGW VII 2, 250. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[336]; KGW VII 2, 95f. Nachlaß a.a.O., 25[427] ; KGW VII 2 , 1 2 1 . Nachlaß a.a.O., 25[96]; KGW VII 2, 29. Nachlaß a.a.O., 25[314]; KGW VII 2, 89. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[34]; KGW VII 3, 288. Nachlaß Frühjahr 1884, 25 [316]; KGW VII 2, 89. Nachlaß a.a.O., 25[356]; KGW VII 2, 102. - Vgl. Nietzsches Hinweis auf „die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der ,kleinstmöglichen Kraft' und der grösstmöglichen Dummheit" in Jenseits von Gut und Böse 14, KGW VI 2, 22, ferner Götzen-Dämmerung, Streifzüge 14, KGW VI 3, 114: „Darwin hat den Geist vergessen ( - das ist englisch!)". Nachlaß a.a.O., 25[433]; KGW VII 2, 123.

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wendet er sich jedoch gegen das Geistige als teleologisches Prinzip: „Bisher sind beide Erklärungen des organischen Lebens nicht gelungen, weder die aus der Mechanik, noch die aus dem Geiste", letzteres wird von Nietzsche noch besonders betont. Gegen eine Heranziehung beider Methoden zum Zwecke symbolischer Erklärung hat er freilich nichts einzuwenden.89 Wir treffen Nietzsche in solchen vieldeutigen Stellungnahmen bei seinem Bemühen an, einen dritten Weg zur Erklärung des Organischen einzuschlagen, der in gewisser Weise zwischen den geschilderten Wegen verlaufen soll. Die dabei vollzogenen Abgrenzungen erwecken oft den Eindruck, als kritisiere er jede der beiden Methoden von der anderen her. Dies kann an seinen Äußerungen zur Selbstregulierung im Frühjahr 1884 deutlich gemacht werden. Einmal zeigt ihm die Selbstregulierung an - im Gegensatz zu der Bedeutung, die Roux ihr gibt - , daß der „Maschinen-Charakter in allem Organischen" gänzlich fehlt. „Im Verhältniß der Organe zu einander müssen schon alle Tugenden geübt werden - Gehorsam, Fleiß, Zu-Hülfe-kommen, Wachsamkeit."90 Man könnte hieraus schließen, er bestreite den mechanistischen Standpunkt von einem teleologischen her. Aber um die gleiche Zeit, da Nietzsche „die Methode der mechanistischen Weltbetrachtung [...] als einstweilen bei weitem die redlichste" preist,91 heißt es auch, daß es in ihr noch „von teleologischen Ausdeutungen" geradezu wimmele. Unter diesen wird die Bestimmung der Selbstregulierung angeführt, die freilich vorerst noch nicht „zu entbehren" sei. Hieraus zu entnehmen, Nietzsche lege es auf eine ,reine' mechanistische Lösung ihrer Problematik an, würde uns ebenfalls in die Irre führen. Die mechanistische Denkweise verdient den Vorzug vor der teleologischen; ihre eigene Redlichkeit fordert von ihr, daß sie sich von teleologischen ,Restbeständen' befreit. Daß Nietzsche in diesem Zusammenhang vor allem Roux im Blick hat, zeigt sich darin, daß er nun „die Ausdeutung des Hungers, als sei er auf ,Ersatz', wohl gar auf ,überreichlichen Ersatz' gerichtet", als „ein tiefes und gefährliches Mißverständnis" teleologischen Ursprungs ansieht.92 Auch in einer Aufzeichnung von Sommer-Herbst des gleichen Jahres wendet sich Nietzsche gegen die teleologische Färbung' von Roux' Bestimmung »überreichlicher Ersatz' und kritisiert dessen Ver89 90 91 92

Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 6 8 ] ; KGW VII 2, 164. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[126]; KGW VII 2 , 120. Nachlaß a.a.O., 2 5 [ 4 4 8 ] ; KGW VII 2, 128. GA XIII 259f. (S. dazu oben Anm. 15.) - Nietzsche führt in der zitierten Aufzeichnung unter den vorerst unentbehrlichen teleologischen Bestimmungen nach ,Selbstregulierung' noch „Anpassung" und „Arbeitstheilung" auf.

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ständnis von Selbstregulierung.93 In der sich anschließenden Ausführung ist dann zum ersten Male vom Willen zur Macht „in den Funktionen des Organischen" die Rede. 94 Nietzsches schon von langer Hand vorbereitete eigene Deutung des Kampfes im Organismus erfährt von da an ihre ins einzelne gehende Ausarbeitung. Roux hat mit dem Wort Selbstregulation nicht die Vorstellung von zwecktätiger Spontaneität verbunden, wie sie in,vitalistischen Deutungen' anzutreffen ist. 95 Mit der Vorsilbe »Selbst-' wollte er allein die kausalmechanische Bestimmtheit der Vorgänge im Organismus betonen.96 Nietzsches Verständnis der Selbstregulierung hebt sich sowohl von vitalistischen wie von mechanistischen Deutungen ab. Er findet in diesem Begriff „die Fähigkeit der Herrschaft über ein Gemeinwesen vorausgesetzt", welche weder mechanisch noch teleologisch begründet werden kann. „Die Fortentwicklung des Organischen ist nicht an die Ernährung angeknüpft", heißt es nun in offensichtlicher Polemik gegen die Hervorhebung der Wirkung trophischer Reize durch Roux. Es ist vielmehr „das Befehlen und Beherrschenkönnen", das die „Selbst-Regulierung" leitet.97 Der auch von Roux verwendete Begriff der Herrschaft wird seines mechanistischen Charakters durch die ergänzende Bestimmung „Befehlen" entkleidet.

6. Befehl, Kraftauslassung, Reiz Nietzsche hat das, was er unter Befehlen versteht, im Laufe der Jahre 1884 und 1885 immer subtiler herausgearbeitet. Wir müssen das Befehlen als ein Wollen auffassen.98 Der Wille als Befehl wird charakterisiert als: „gespannt, klar, ausschließlich Eins im Auge, innerste Überzeugung von der Überlegenheit, Sicherheit, daß gehorcht wird". Nietzsche spricht vom „,Überlegenheitsgefühl 93 94 95

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Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[272]; KGW VII 2, 219. Nachlaß a.a.O., 26[273]; KGW VII 2, 219. Vgl. hierzu im Anhang den Exkurs: Hinweis auf die ,Entwicklungsmechanik'. Wilhelm Roux contra Hans Driesch, unten S. 138ff. Zur genaueren Bestimmung des .Selbst' bei Roux wäre auf seine Scheidung von Determinations- und Realisationsfaktoren einzugehen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[272]; KGW VII 2, 219. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[389]; KGW VII 2, 109f.

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des Befehlenden' in Hinsicht auf den Gehorchenden". Die (täuschende) Erfahrung der „Freiheit des Willens" stellt sich dar in der Empfindung: „ich bin frei, und Jener muß gehorchen".99 Aus der Abhängigkeit des Gehorchenden vom Befehlenden erklärt sich die physiologische „Rangordnung der Organe und Triebe", der „Unterschied von niederen und höheren Funktionen". 1 0 0 Rangordnungen erwachsen aus Kämpfen, die sich bis in die einfachsten organischen Prozesse hinab verfolgen lassen. Aber auch derartige Prozesse will Nietzsche ursprünglicher begreifen als die Naturwissenschaftler seiner Zeit. So notiert er 1 8 8 4 : „Wenn zwei organische Wesen zusammenstoßen, wenn es nur Kampf gebe um das Leben oder die Ernährung: wie? Es muß den Kampf um des Kampfes willen geben." 101 In den entsprechenden Vorgängen will „das Lebendige seine Kraft auslassen"',102 in seinen Kraftauslassungen 103

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Nachlaß a.a.O., 25[436]; KGW VII 2, 123. Vgl. Jenseits von Gut und Böse 19, KGW VI 2, 26. Nachlaß a.a.O., 25 [411]; KGW VII 2, 115. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[276]; KGW VII 2, 220. Nachlaß a.a.O., 26[277]; KGW VII 2, 220. Nietzsches Verständnis von Kraftauslassung bedürfte hinsichtlich des Begriffs der ,Auslösung' einer ausführlichen Erörterung. Sie muß hier beiseite gelassen werden, da seine Verwendung durch Nietzsche nicht auf den Einfluß Roux', sondern auf den J. R. Mayers zurückzuführen ist. Mittasch, vorzüglicher Kenner sowohl Nietzsches als auch Mayers, ist diesem Einfluß in seinem Buch Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O., sehr ausführlich nachgegangen. Seine für wesentliche Aspekte von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht aufschlußreichen Hinweise haben bisher nicht die Beachtung gefunden, die sie verdienen. Nietzsche gebraucht Begriffe wie (Kraft-) Auslösung und Explosion seit 1881 immer wieder. Was er damit meint, wird zureichend nur verständlich, wenn man auf seine Lektüre des Mayerschen Aufsatzes Über Auslösung (1876) rekurriert, den er in dem Exemplar von Mayers Mechanik der Wärme ( 2 1873) eingebunden fand. An H. Köselitz schreibt er am 16. 4. 1881 in einem Nachsatz: ,„Über Auslösung' ist für mich das Wesentlichste und Nützlichste in Mayer's Buche." (KGB III 1, Nr. 104, 85). Mayer führt in seinem Aufsatz alle Bewegungserscheinungen - von der anorganischen Wirklichkeit über die organischen Prozesse bis hin zur Psychologie - auf Auslösungen zurück, die nicht mathematisch (nach zählbaren Einheiten) faßbar sind. Nietzsche nimmt Mayers Ausführungen zum Thema »kleine Ursachen - große Wirkungen' auf. So in Wir Furchtlosen, dem 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Nietzsche unterscheidet hier, Mayer folgend, „zwei Arten von Ursache", die treibende Kraft und die dirigierende Kraft. Die erstere ist „ein Quantum von aufgestauter Kraft", die zweite in Wahrheit „ein kleiner Zufall zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr auf Eine und bestimmte Weise ,auslöst': das Streich-

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geht es um Macht und nichts anderes. Dieser von Nietzsche in den folgenden Jahren immer wieder ausgeführte Grundgedanke sei an zwei Aufzeichnungen vom Herbst 1 8 8 7 und vom Frühjahr 1 8 8 8 exemplifiziert. In ihnen wird der ,einfachste Fall' erörtert, der „der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, was ihm widersteht - nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht." „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, - dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma" 104 , das in sich selbst „eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen" darstellt. 105 Von dieser Tendenz ausgehend, beschreiben wir den Weg eines organischen Willens zur Erweiterung seiner Macht. In seinen Kraftauslassungen geht es ihm darum, „stärker zu werden". Dies kann er nur im Kampf mit ihm Widerstehendem, das er suchen muß. 106 Solchem Suchen liegt ein Wahrnehmen des

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holz im Verhältniss zur Pulvertonne". (Aph. 360, KGW V 2, 289f.) Das Exempel Nietzsches gehört zu den einfachen Beispielen, mit denen Mayer seine genannte Abhandlung einleitet. Vgl. dazu Mittasch a.a.O. [Anm. 5], 119, der eine Vielzahl von weiteren Belegen für die Übernahme von Mayers Auslösungsgedanken durch Nietzsche anführt (a.a.O., 120-126). Auch Mayers Verständnis von ,Reiz' und »Regulierung' verdankt Nietzsche wesentliche Anregungen. Mittasch resümiert: „In Nietzsches Kraftlehre (und Trieblehre) hat Robert Mayers Wirklehre, einschließlich Auslösungslehre, auf längere Zeit die einzige starke Nachwirkung und ausgedehnte Weiterführung gefunden" (a.a.O., 127). - [Nachtrag 1988: Zu Nietzsches Aufnahme des Begriffs »Auslösung' schon 1880 im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der von J. J. Baumann (in: Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilosophie, Leipzig 1879) vertretenen Willenstheorie s. M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbes. 56 ff.] Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII2, 88. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[174]; KGW VIII 3, 152. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[59]; KGW VII 3, 259. Die Unlust als Hemmung oder Widerstand ist demgemäß „ein nothwendiges Ingrediens aller Thätigkeit (alle Thätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll). Der Wille zur Macht strebt also nach Widerständen, nach Unlust", heißt es schon 1884 (Nachlaß, 26[275]; KGW VII 2, 220). „Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und Unlust nach einer Vergeudung von Macht" müssen freilich unterschieden werden. Letztere ist Erschöpfungssymptom, ursprünglicher noch „Unfähigkeit zum Widerstand" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[174]; KGW VIII 3, insbes. 153). Die erstrebte Unlust im Aufsuchen von Widerständen zeigt an: „Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens (gegen ,Glück' als ,ZieP)" (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, KGW VII 2, 220).

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ihm Entgegengesetzten zugrunde, das sich im Verlauf allmählicher Entwicklungen ausgebildet hat, wobei „jede kleinste Zelle jetzt Erbe der ganzen organischen Vergangenheit"' ist.107 Im Frühjahr 1884 führt Nietzsche aus, er setze „Gedächtniß und eine Art Geist bei allem Organischen voraus";108 wir haben eingangs dieses Abschnitts schon darauf hingewiesen.109 Hat ein Wille zur Macht einen ihm entgegengesetzten ,aufgesucht', so strebt er dessen Überwältigung an. „Aneignung und Einverleibung" vollzieht sich - im Falle des Gelingens der Überwältigung - als „ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Uberwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat."110 Das Überwältigte kann, wie auch immer ,umgebildet', vom Überwältiger in Dienst genommen werden. Damit ist Rangordnung gegeben, die in den komplexen organischen Gestaltungen zu den Prozessen der Selbstregulation führt, die eine Fortsetzung des Kampfes" zwischen Befehlenden und Gehorchenden darstellt.111 Roux hatte den inneren Kampf als kausal-mechanisches Geschehen aufgefaßt und damit sowohl die Wirkungsweise der Teile aufeinander als auch die Notwendigkeit des Ablaufs der Vorgänge im Organismus erklärt. Nietzsche zufolge kann die mechanistische Theorie zwar diese Vorgänge zum Zwecke ihrer Berechenbarkeit beschreiben, ein Erklären im Sinne des Begreifens jedoch liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Aber führt Nietzsches Reduktion der ,mechanischen' Geschehensabläufe auf Kämpfe von Willen denn weiter? Zunächst ist festzustellen, daß diese Reduktion den Abläufen nicht den Charakter der Notwendigkeit nimmt. „Geschehen und Nothwendig-Geschehen ist eine Tautologie", schreibt Nietzsche. Kann doch „eine bestimmte Kraft eben nichts anderes sein [...] als eben diese bestimmte Kraft", sie läßt sich an „einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders" aus, „als ihrer Stärke gemäß ist".112 Die Kraftauslassungen des Lebendigen sind als ein Wollen immer auch ein Müssen; „beide Worte wiegen mir gleich!", heißt es in einer schon her-

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Nachlaß Sommer 1883, 12[31]; KGW VII 1, 424. Vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[156]; KGW VII 2, 188. Nachlaß, 25[403]; KGW VII 2, 113. Zur Wahrnehmung in der anorganischen Welt s. Nachlaß Mai-Juni 1885, 35[53], [58], [59]; KGW VII 3, 258f. Vgl. dazu Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in diesem Band S. 64ff. Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[276]; KGW VII 2, 2 2 0 . Nachlaß Herbst 1887, 10[138]; KGW VIII 2, 201f.

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angezogenen Aufzeichnung von 1884. 113 Man darf aus solchem Müssen nur nicht auf „die Gesetzmäßigkeit der Natur" schließen; 114 „die angeblichen ,Naturgesetze' sind nichts als Formeln für Pachtverhältnisse'". 115 „Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz."116 Nietzsche führt alles Geschehen auf „ein Übergreifen von Macht über andere Macht" zurück.117 Wir haben dieses Übergreifen in seinem Ablauf beschrieben, aber damit ist noch nicht erklärt, wie Wille auf Wille wirken kann. Wenn es nach Nietzsche „gar keine andere Causalität als die von Wille zu Wille" gibt, 118 so schließt das ein, daß sie von anderer Art sein muß als die vom mechanistischen Denken erfaßbare Wirkungsweise. In Jenseits von Gut und Böse fordert Nietzsche zu einer Umkehrung auf. Er fragt, ob das ,Gegebene' unserer menschlichen „Welt der Begierden und Leidenschaften" nicht ausreicht, um „auch die sogenannte mechanistische (oder ,materielle') Welt zu verstehen".119 Treffen wir in dieser vielleicht die »gleichen Realitäten' an wie in uns? Wir müssen uns, so schreibt Nietzsche 1885, „der Analogie des Menschen zu Ende bedienen": das gilt für die Physik wie für die Biologie.120 Wenn Nietzsche noch 1&81 gegenüber Roux den Vorbehalt erhob, dieser verwende die ,Sprechart' unserer Affekte, um die kleinsten biologischen 113 1,4 115

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Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 2 7 7 ] ; KGW VII 2, 220f. Nachlaß August-September 1885, 4 0 [ 5 5 ] ; KGW VII 3, 387. Nachlaß April-Juni 1885, 3 3 [ 2 4 8 ] ; KGW VII 3, 224. Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1 8 8 5 , 3 6 [ 1 8 ] ; a.a.O., 2 8 3 ; Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 3 9 [ 1 3 ] ; a.a.O., 353. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW V I I I 3 , 5 0 . - Den Unterschied zwischen der mechanistischen und seiner eigenen Deutung des Geschehens charakterisiert Nietzsche im Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1 8 8 6 wie folgt: „Der völlig gleiche Werlauf aber die höhere Ausdeutung des Verlaufs!! Die mechanistische Einerleiheit der Kraft, aber die Steigerung des Machtgefühls!" (A.a.O., 1[119]; KGW VIII1, 34) Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 52. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[15]; KGW VII3, 236. - Genau genommen gilt, „daß der Begriff Causalität vollkommen unbrauchbar ist - aus einer nothwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Causal-Verhältniß ( - das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen zu machen) Die Causalitäts-Interpretation eine Täuschung [...] Es giebt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts [...] In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend". (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 67) Jenseits von Gut und Böse 36, KGW VI 2, 50f. Vgl. Nachlaß August-September 1885, 4 0 [ 3 7 ] ; KGW VII 3, 378f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[31]; KGW VII 3, 2 8 7 .

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Prozesse darzustellen, so erscheint es ihm nun durchaus angemessen, unsere Affektsprache zur Erklärung allen Geschehens zu gebrauchen. Er rechtfertigt sein Verfahren in Jenseits von Gut und Böse mit dem Grundsatz der Methodensparsamkeit: man müsse versuchen, mit einer einzigen Art von »Kausalität' auszukommen. Bewähre sich seine Erklärungsweise, so gewinne man das Recht, ,iCille wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als ,Wille zur Macht'".m Um die Eigentümlichkeit des Wirkens von Wille auf Wille verstehen zu können, sollen wir also vom Menschen ausgehen. Nietzsche beschreibt ihn

,/ils eine Vielheit von, Willen zur Macht': jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen".m Die Vielen stehen miteinander im Kampf, durch Befehlen und Gehorchen wird ihr,Wirkungszusammenhang' hergestellt Doch auf welchem Wege bewirkt ein Befehl, daß gehorcht wird? Daß im Befehl „ein Höherer Stärkerer gebietet und [...] sein Gefühl als Gesetz für Andere" verkündet, 123 beantwortet diese Frage so wenig wie die Bemerkung, daß der stärkere Wille den schwächeren dirigiert.124 Nietzsches Bemühen um eine tragfähige Antwort zeigt eine Aufzeichnung vom Frühjahr 1884. Er geht hier vom Befehl durch das Wort aus, der von einem Menschen an andere ergeht. Es zeigt sich ihm dabei, daß der als Wille verstandene Befehl „nicht als Wort, nicht als Laut" wirkt, „sondern als das, was sich verbirgt hinter dem Laut". Durch den Befehl „wird etwas fortgeleitet". Führt man diese Fortleitung auf irgendwelche „Schwingungen" zurück, so bleibt „wieder der eigentliche Vorgang" verborgen.125 Aber worin besteht der eigentliche Vorgang, zumal er sich ursprünglich ,laut-4os' zwischen den Machtwillen innerhalb des menschlichen Organismus abspielen soll? Nicht viel später finden wir dann einen Hinweis Nietzsches darauf, daß der Wille nicht selber bewegt, nicht Widerstände ohne deren Zutun überwindet;126 er wird vielmehr als ein Reiz aufgefaßt, „bei dessen Eintritt die Bewegung beginnt"127. Demzufolge sollte man „nicht von Ursachen des Wollens, sondern von Reizen des Wollens" reden. 128 121

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Jenseits von Gut und Böse 36, KGW VI 2, 51; vgl. Jenseits von Gut und Böse 13, a.a.O., 21f. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[58]; KGW VIII 1, 21. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[452]; KGW VII 2, 129. Nachlaß Mai-Juni 1885, 35[15]; KGW VII 3, 236. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[389]; KGW VII 2, 109f. Vgl. dazu Nachlaß Juni-Juli 1885, 38 [8]; KGW VII 3, 334ff. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[24]; KGW VII 2, 282. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[436]; a.a.O., 123. - Vgl. ζ. B. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[135]; KGW V 2, 390: „Der Reiz, den Einer ausübt, die

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Der Reiz als Befehl ist also für Nietzsche nicht eine besondere Ursachenart neben anderen wie für Schopenhauer. Mit Hilfe dieses Begriffs beschreibt er vielmehr die Wirkungsweise der Willen zur Macht schlechthin. Schon deshalb verbietet sich die Einschränkung des Verständnisses von Reiz auf den Gebrauch, den die Physiologie vornimmt. Die Reduktion der Reize auf physikalische oder chemische Prozesse weist Nietzsche zurück. Er reduziert vielmehr umgekehrt diese Prozesse auf Reize. Auch dabei bleibt er an der,Sprechart unserer Affekte' orientiert. Es sind vor allem drei Charakteristika des Reizbegriffs, die diesen für Nietzsches Auffassung der Wirkungszusammenhänge als brauchbar erweisen: 1. Der Reiz erregt, welches Erregen selber schon eine Kraftauslösung darstellt. 2. Als Erregendes ist der Reiz ein Anreiz. Er fordert die Reizannahme heraus.129 3. Die Reizannahme ist Gegenbewegung. Ihr liegt eine Selbsttätigkeit des Reizempfängers zugrunde, die unter Umständen eine Auswahl von Reizen aus dem Reizangebot einschließt. Auf Nietzsches Betonung der Aktivität bei der Reizverarbeitung haben wir schon bei der Erörterung seiner Beschäftigung mit Roux im Jahre 1883 hingewiesen. Diese Aktivität muß nun in das Gegeneinander von Befehlenden und Gehorchenden eingetragen werden, und zwar auf beiden Seiten.130 Das

129

Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Kräfte auslösen [...] ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden." Nietzsche bezieht sich hierbei auf weltgeschichtliche Ereignisse (Religionsstiftung), die er unter die Mayersche Relation ,kleine Ursachen - große Wirkungen' stellt (vgl. dazu oben Anm. 103). Das Von-Innen-her erfährt mit der Aufnahme des Auslösungsgedankens seine Bestätigung und Konkretisierung: „Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von außen. Wohin die Kraft sich wendet? Sicher nach dem

Gewohnten: also wohin die Reize leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung

130

sich bewegen. Die häufigeren Reize erziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung." (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[139]; KGW V 2, 391) Mittasch weist darauf hin, daß die Forschung unseres Jahrhunderts „immer mehr zu der Vorstellung gedrängt worden" sei, „daß verknäuelte physiologische Vorgänge, wie Befruchtung und Keimentwicklung, nur auf Grund der Annahme sinngemäß entwirrt und dem Verständnis nähergebracht werden können, daß man von

psychologischer Analogie des Anweisunggebens, des Befehlens und Gehorchens auf Grund vorhandener Resonanz als Ansprechbarkeit Gebrauch macht." (Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O. [Anm. 5], 187). Er zieht als Exempel die Arbeiten von H. Spemann heran (a.a.O., 336, Anm. 131), der die entwicklungsphysiologische Forschung von Roux und Driesch weiterführt (s. hierzu den Exkurs im Anhang zu

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„Kommandiren an andere Subjekte" (als Subjekt müssen wir auch jeden inneren Machtwillen im Organismus Verstehen) führt dazu, daß diese „sich daraufhin verändern". In diesem zweiseitigen Vorgang besteht „die einzige Kraft, die es giebt". 131 Der vom Befehlenden ausgehende Anreiz bewirkt, daß die Gehorchenden von sich aus eine Veränderung ihrer selbst vollziehen. Nietzsche treibt mit dieser Erklärung der Willenswirkung seinen Gedanken der Spontaneität des ,Von-Innen-her' auf die Spitze. Das Unterworfene kann die ihm zudiktierte Funktion nur ausüben, wenn es sie aus sich selbst heraus übernimmt. Wir dürfen Nietzsches Heranziehung des Reizgeschehens zur Erklärung der Wirkungsweise der Willen zur Macht nicht in dem Sinne mißverstehen, als reduziere er das Wollen auf ein bloßes Reizen. Es kommt ihm umgekehrt darauf an, das Reizen des Wollens in seiner vollen Konkretion zu fassen. Zum konkreten Wollen gehört neben dem Affekt des Kommandos immer auch Fühlen und Denken. Das gilt auch für die Gegen-Reize, die von den Gehorchenden ausgehen: auch in ihnen treffen wir die genannte Dreiheit an, die in Wahrheit Einheit ist.132 „Hier ist die Voraussetzung gemacht", schreibt er 1884, „daß alle organischen Gebilde Theil haben am Denken Fühlen Wollen". 133

7. Der Leib als Herrschaftsgebilde Im letzten Abschnitt unserer Darstellung wenden wir uns der Entwicklung von Nietzsches Verständnis des Leibganzen als eines Herrschaftsgebildes zu. Wir setzen bei seinen Aufzeichnungen von 1881 ein. Nach seiner ersten Roux-Lektüre hatte Nietzsche zunächst ein sehr einfaches Schema des organischen Funktionsganzen entworfen: „Wer am meisten Kraft hat, andere zur Funktion zu erniedrigen, herrscht - die

131

132

133

dieser Abhandlung, S. 138ff.) - Wir finden hierin einen Beleg (unter vielen) dafür, daß Nietzsches ,naturphilosophische' Reflexionen nicht im Gegensatz zu späteren Forschungen stehen, sondern durchaus ,wissenschaftsrelevant' sind. Nachlaß August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382. - Wir müssen dabei in Rechnung stellen, daß nicht nur die empfundenen Reize »wirken': Sie sind „ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andere Zelle, ein anderes Organ ausübt" (Nachlaß Winter 1 8 8 3 / 8 4 , 24[16]; KGW VII 1, 696). Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[8]; KGW VII 3, 334ff. Vgl. Jenseits von Gut undBöse 19; KGW VI 2, 25ff. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[19]; KGW VII 2, 279f.

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Unterworfenen aber haben wieder ihre Unterworfenen - ihre fortwährenden Kämpfe: deren Unterhaltung bis zu einem gewissen Maaße ist Bedingung des Lebens für das Ganze." Der Gedanke einer differenzierten, gar mit Denken verknüpften Reizannahme der Unterworfenen ist hier noch ausgeschlossen; Gehorsam wird allein als „Zwang" aufgefaßt. „Wenn alle sich mit .Vernunft' an ihren Posten stellen wollten und nicht fortwährend so viel Kraft und Feindseligkeit äußern wollten, als sie gebrauchen, um zu leben - so fehlte die treibende Kraft im Ganzen". 134 In einer späteren Aufzeichnung von 1881 wird die Vorstellung der Herrschaft mit dem „Machtgefühl" verbunden. Die Einlinigkeit der Gestaltungsprozesse, die von ,oben' nach ,unten' verläuft, erfährt noch eine Verstärkung: „Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherrschend (organisirend) - es regulirt das Überwundene zu seiner Erhaltung und dazu erhält es das Überwundene selber. - Auch die Funktion ist aus Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch niedrigere Funktionen - darin wird sie von der höheren Macht unterstützt!"135 In Zarathustra I (1883) heißt es vom menschlichen Leib, er sei „eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt". Dies mag sich noch mit Nietzsches vorangegangenen Ausführungen vereinbaren lassen, obwohl die von dichterischem Pathos getragenen Sprachprägungen des Zarathustra die fundamentalen philosophischen Sachfragen hier mehr verschleiern als erhellen. Wenn freilich, im gleichen Zusammenhang, der Leib als „eine grosse Vernunft" apostrophiert wird, so erfährt damit, nehmen wir solche Redeweise nicht nur metaphorisch, Nietzsches vorgängiges Verständnis der Leiblichkeit einen grundlegenden Wandel. 136 Der Wandel tritt in den späteren nachgelassenen Fragmenten zutage. So heißt es im Sommer-Herbst 1884, daß die Physiologie nur „die Andeutung eines wunderbaren Verkehrs" innerhalb der menschlichen Vielheit gebe. Die „Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen" setzt „Kampf und Sieg" voraus. Noch findet Nietzsche wie Roux in der Selbstbejahung der

134

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 11 [ 1 3 4 ] ; K G W V 2, 3 8 9 . - Nietzsche stellt in diesem Zusammenhang, Roux folgend, den Kampf der „Funktionen ähnlichen Grades" als Bildungsprinzip heraus.

1,5

Nachlaß a.a.O., 11 [ 2 8 4 ] ; K G W V 2, 4 4 8 .

136

Also sprach Zarathustra I, K G W VI 1, 35. - Bei Nietzsches Apostrophierung des Leibes als einer großen Vernunft muß zugleich die,Abwertung' des ,Geistes' als der ,kleinen Vernunft' mitgehört werden. Zarathustra kennzeichnet den Geist hier als „ein kleines W e r k - und Spielzeug" der großen Vernunft.

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Einzelwesen zugleich die unwillkürliche (d. h. nicht eigens intendierte) Bejahung des Ganzen.137 Aber er dringt zur gleichen Zeit auch schon zu einer differenzierteren Sicht des Abhängigkeitsverhältnisses der Gehorchenden von den Befehlenden vor. Zur Ausführung selbst des bestimmtesten Befehls im Organismus gehört „eine Unzahl von Individuen [...], die alle in einem ganz bestimmten Zustand" sein müssen: Sie müssen den Befehl „verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei".138 Darüber hinaus gibt Nietzsche 1884 schon einen Hinweis darauf, daß ein geschwächter Gegentrieb „als Impuls [...] den Reiz für die Thätigkeit des Haupttriebes" abgeben kann.139 In den Aufzeichnungen von 1885 stellt Nietzsche die relative Unabhängigkeit der Gehorchenden in zunehmendem Maße heraus. Zunächst heißt es nur, „damit vollkommen gehorcht werden" könne, habe „das einzelne Organ viel Freiheit".140 Später wird ausgeführt, im Menschen müsse „in feineren Fällen [...] die Rolle" zwischen Herrschenden und Dienenden „vorübergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen".141 Daß das Gehorchen immer auch ein Widerstehen ist, je nach der Kraft, die dafür bleibt,142 hatte Nietzsche schon früher herausgestellt. Nun wird es als Widerstreben charakterisiert, das anzeigt, daß die „Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben" ist. Das Befehlen erscheint dabei als „ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist".143 Das Ganze des mensch137

138

139 140

141 142 143

Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[8]; KGW VII 2, 276f. Vgl. Nachlaße a.a.O., 27[2]; KGW VII 2, 282. Nachlaß a.a.O., 27[19]; 279. - Nietzsche erläutert diese Ausführung: „d. h. es muß immer von neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt". A.a.O., 27[59]; 289. Nachlaß April-Juni 1885, 34[55]; KGW VII 3, 157. - Das Wort Freiheit' meint selbstverständlich nicht Willkür. Nur die mechanische Notwendigkeit wird mit dieser Bestimmung negiert. Im Frühjahr 1884 notiert Nietzsche: „es wird manches befohlen, was nicht völlig geleistet werden kann (weil die Kraft zu gering ist)" (Nachlaß 25[43]; KGW VII 2, 122). Entscheidend ist das Kräfteverhältnis im Reiz-Spiel. Schon 1881 heißt es in Nietzsches physiologischen Aufzeichnungen: „Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der Gegenreiz, der immer auch da ist" (Nachlaß, 11[131]; KGW V 2, 387). Nachlaß April-Juni 1885, 34[123]; KGW VII 3, 181f. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 2 7 6 ] ; KGW VII 2, 220. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[22]; KGW VII 3, 284f.

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liehen Leibes stellt sich jedoch später dar als „ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd". In dieser „prachtvollen Zusammenbindung des vielfachsten Lebens", der „Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten",144 finden wir dann eine „Abhängigkeit" auch der „Regenten von den Regierten", die deren früher behauptete bloße Indienstnahme überschreitet. Zur Rangordnung gehört nun auch „Arbeitstheilung als Ermöglichung der Einzelnen und des Ganzen".145 Der Dienst aller lebendigen Wesen gilt nun primär dem Ganzen des Leibes. Damit erscheint der Leib in der Tat als eine große Vernunft. Die Problematik, die hieraus für Nietzsches Denken erwächst, tritt in der Frage nach der Regentschaft in diesem ,Herrschaftsgebilde' hervor. Die Zarathustra-Rede vom einen Hirten der Herde führt leicht in die Irre. An der Spitze des .Gesellschaftsbaus Leib' steht kein ,absoluter Monarch', 146 vielmehr ist „das centrale Schwergewicht [...] etwas Wandelbares". 147 Hatte Nietzsche Roux' Ausführung von der Unvollkommenheit der Zentralisation im Organismus 1881 aufgenommen, um gegen den Anspruch einer angeblich zentral regulierten Vernunft zu polemisieren, 148 so betont er 1885 die Vollkommenheit, die durch den Wechsel der herrschenden Zentren entsteht. So wenig wie aus der Vernunft ist das Zusammenspiel der lebenden Wesen des Leibes aus dem sogenannten „Nerven- und Gehirnapparat" abzuleiten. Hinter diesem mechanistischen Begriff verbirgt sich das „feine Verbindungs- und Vermittlungs-System", welches die „Synthese" Mensch ermöglicht. Da dieses Ermöglichende auch nicht teleologisch, ζ. B. als „.göttlich' construirt", verstanden werden soll, 149 sieht sich Nietzsche im Spätsommer 1885 wieder zur Annahme grundbestimmend Befehlender bewogen, die das Leibganze einschließlich des Wandels von

144 145 146 147 148

149

Nachlaß a.a.O., 37[4]; KGW VII 3, 303. Nachlaß August-September 1885, 4 0 [ 2 1 ] ; KGW VII 3, 370. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[8]; KGW VII 2, 277. Nachlaß April-Juni 1885, 3 4 [ 1 2 3 ] ; KGW VII 3, 182. In welchem Maße Nietzsche schon im Herbst 1880 für die im Jahre darauf erfolgte erste Roux-Rezeption disponiert war, zeigt das Nachlaßfragment 6[70]; KGW V 1, 5 4 1 - 5 4 3 . Er beschreibt dort „das ego [... ][als] eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego". „Wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist." Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 3 0 3 .

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zentralen Schwergewichtsverteilungen und des Wechsels von Anordnung und Dienst regulieren. Er fragt, ob dem „Zusammenspiel und Kampf" ,unserer' Vielheit nicht „eine Put Aristokratie von ,Zellen'" zugrunde liegen könne. „Gewiß von pares, welche mit einander an's Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen", fügt er hinzu, die Vorstellung eines Hirten oder Regenten auch hierbei verwerfend. 150 In Zur Genealogie der Moral wird die formgebende Kraft und die „herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre" im Organismus gegenüber den Aktivitäten „zweiten Ranges" hervorgehoben, welche ζ. B. in den inneren Anpassungsprozessen zur Entfaltung gelangen151. Indem Nietzsche das Zusammenspiel der vielen lebenden Wesen im Organismus auf die ursprüngliche Spontaneität solcher obersten Herren zurückführt, entgeht er der Teleologie als Letztbegründung für die ,große Vernunft des Leibes'. Gleichwohl kann man sagen, daß es in seinen Beschreibungen der leiblichen Funktionen geradezu von teleologischen Ausdeutungen wimmelt, - um seine Kritik an der »Mechanik' gegen ihn selbst zu wenden. Wenn er ζ. B. 1884 ausführt, daß „alle Erhaltungs-Tendenzen [...] eine Vergegenwärtigung des Ganzen" einschließlich von dessen „Ziele [n], Gefahren und Förderungen" voraussetzen, und wenn zu dieser Vergegenwärtigung gehört, daß „das niedrigere, gehorchende Wesen [...] sich bis zu einem gewissen Grade auch die Aufgabe des höheren vorstellen können" muß,152 so können wir in solcher Prospektivität mehr finden als bloße ,Zweckgemäßheit'. Doch das einem Zwecke nur Gemäße wird erst sekundär unter Zwecke gebracht, ohne von sich her,zweckmäßig' zu sein.153 Aber ist der „tausendfältige Gehorsam", den die vielen lebendigen Intellekte innerhalb des Leibganzen aufbringen, nur zweckgemäß? Jedenfalls ist es „kein blinder, noch weniger ein mechanischer, 150 151

152 153

Nachlaß August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 12: KGW VI 2, 33 lf. - Nietzsche wendet sich in diesem Zusammenhang gegen H. Spencer, der „das Leben selbst als eine immer zweckmässigere Anpassung an äussere Umstände definirt". Er sieht darin das Wesen des Lebens verkannt, das im Willen zur Macht beruht. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[520]; KGW VII 2, 145. „Mit Zweckgemäßheit beweist man den Zweck noch nicht", notiert Nietzsche im Sommer-Herbst 1884, (Nachlaß 26[134]; KGW VII2,183). Er verweist hier darauf, daß „bei der Thatsache, daß überall in Sitte und Recht es einen Zweck giebt, [...] nicht gezeigt" ist, „daß er bezweckt ist bei der Entstehung und oft ist er unzweckmäßig in Hinsicht auf die Mittel eines solchen Zwecks. Widerspruch in Mitteln geringer Intelligenz und Zweck höchster Intelligenz." - In bezug auf Sitte und Recht wird er diesen Gedanken in seiner Genealogie der Moral ausführlich darstellen.

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sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam", wie Nietzsche 1885 ausführt.154 Die Beschreibung dieser und anderer ,Zwecktätigkeiten' im Organismus155 bedarf einer behutsamen Einschätzung. Nietzsche ist Anfang 1884 in einer längeren Aufzeichnung einmal davon ausgegangen, „daß eine Zweckmäßigkeit im Kleinsten Geschehn herrscht", und hat die Möglichkeit erwogen, daß sie einem „ungeheuer viel höheren und überschauenden Intellekte zuzuschreiben wäre als der uns bewußte ist". Die Hypothese eines solchen ursprünglich steuernden Zweckmäßigen „im Wirken der Natur" 156 wird jedoch von ihm nicht wieder aufgenommen. 1885 hat er diese »teleologische Anfechtung' längst überwunden. Auch wenn er dann, wie wir hörten, ein mechanisches Verständnis des Gehorchens zurückweist, so stimmt er mit der mechanistischen Erklärungsweise doch insofern überein, als auch für ihn alle zweckmäßigen Bildungen dem Zwecklosen entstammen. Wie Roux geht auch Nietzsche dabei von selektiven Prozessen aus, die sich in Form von inneren Kämpfen vollziehen. Aber indem er die Teile des Organismus als Willen zur Macht auffaßt, können deren ,Bewegungen' „nicht von außen her bedingt sein - nicht verursacht", wie er 1888 notiert. Er braucht innere „Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich greift ..." 1 5 7 . Roux hat gegenüber Darwin zwar den inneren Kampf zur Geltung gebracht, aber indem er ihn kausal-mechanisch analysiert, bleibt auch er noch im ,Außen'. Die von innen her tätige Gestaltungskraft und ihre Wirkungsweise bleiben 154 155

Nachiaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 303. Hingewiesen sei nur noch auf das Abschirmen unseres „gewöhnlich als einzig gedachten" ,Bewußtseins' von dem „unzählig Vielfachen in den Erlebnissen" der „vielen Bewußtseins", die ersterem „nur eine Auswahl" vorlegen, „dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse". Dies geschieht, damit unser scheinbar einziges Bewußtsein ,Willensakte' vorbereiten kann. „Und gerade dieselbe Operation, welche sich hier abspielt, muß sich auf allen tieferen Stufen, im Verhalten aller dieser höheren und niederen Wesen zueinander, fortwährend abspielen: dieses selbe Auswählen und Vorlegen von Erlebnissen, dieses Abstrahiren und Zusammendenken, dieses Wollen" und schließlich die „Zurückübersetzung des immer sehr unbestimmten Wollens in bestimmte Thätigkeit". (Nachiaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 304)

156

Nachiaß Winter 1883/84, 2 4 [ 1 6 ] ; KGW VII 1, 6 9 5 - 6 9 8 . - Unser Zweckesetzen könnte unter solcher Voraussetzung vielleicht „nur eine Zeichensprache sein für etwas Wesentlich-Anderes - nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes" (a.a.O., 697).

157

Nachiaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 66.

132

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ihm verborgen. Wir müssen diese grundlegende Differenz vor Augen haben, wenn Nietzsche in seiner schon eingangs herangezogenen Aufzeichnung „Gegen den Darwinismus" von 1886/87 in vordergründiger Übereinstimmung mit Roux schreibt, „daß die von Innen her gebildeten neuen Formen nicht auf einen Zweck hin geformt sind, aber daß im Kampf der Theile eine neue Form nicht lange ohne eine Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen wird, und dann dem Gebrauche nach sich immer vollständiger ausgestaltet". 1 5 8 Die aus den Machtkämpfen entstehenden Ordnungen sehen zwar „einem Zweckmäßigkeits-Entwürfe ähnlich", aber es handelt sich doch immer nur um „den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck". 159 Dies gilt auch für „jenes feine Verbindungs- und Vermittlungs-System", durch das „eine blitzartige schnelle Verständigung aller [...] höheren und niederen Wesen" im Leibe geschaffen wird, „und zwar durch lauter lebendige Vermittler". So wenig wir hierin „ein mechanistisches Problem" finden sollen,160 so wenig kann es sich um ein teleologisches handeln. Die teleologische Ausdrucksweise ist für Nietzsche ein vorläufig unentbehrliches Darstellungsmittel und nicht mehr. 161 Um das Eigentümliche seiner Deutung der ,organischen Selbstregulierung' zur Geltung zu bringen, spricht er 1885 davon, daß es ein moralisches Problem sei, das sich hier stelle. 162 Moral muß dabei, wie es in Jenseits von Gut und Böse heißt, „als Lehre von den Herrschaftsverhältnissen" verstanden werden, „unter denen das Phänomen ,Leben' entsteht". Der Leib gilt ihm demgemäß als „Gesellschaftsbau vieler Seelen", 163 d. h. lebender Intellekte. Applizierte Nietzsche noch 1883 die mechanistische Physiologie auf die Probleme der Moral, so dient diese nunmehr umgekehrt zur Erklärung der physiologischen Vorgänge. Der Begriff ,Moral' ist freilich dabei so weit

158 159 160 161

162 163

Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[25]; KGW VIII 1, 312. Nachlaß Herbst 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 50. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 303. Wenn Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse 13 „vor überflüssigen teleologischen Prinzipien" warnt (KGW VI 2, 21f. vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1882, 2[63]; KGW VIII 1, 87.), so meint er nicht, daß es unentbehrliche gebe, sondern nur, daß manche teleologische ,Ausdeutung' vorerst nicht entbehrt werden könne. „Die anscheinende Zweckmäßigkeit'" ist „nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel", heißt es in einer Aufzeichnung vom Herbst 1887 (Nachlaß a.a.O., 9[91]; KGW VIII 2, 50). Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 303. Jenseits von Gut und Böse 12, 19; KGW VI 2, 21, 27.

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gefaßt, daß er die Sphäre menschlicher Begierden und Leidenschaften überschreitet, die ja - gemäß den oben herangezogenen Ausführungen in jenseits von Gut und Böse - das »Modell' für alles Geschehen abgeben sollte. 164 Die ,Bilderrede' vom Leib als Gesellschaftsbau weist in den überindividuellen Bereich sozialer Organisation, - wie andere schon genannte Bestimmungen, ζ. B. „Gemeinwesen", „Aristokratie". Nietzsche verwendet in solcher Rede jedoch nicht ein anderes .Modell'. Auch die sozialen Formationen sind für ihn Organismen. Deshalb konnte er sich schon 1881 vornehmen, „die letzten Organismen, deren Bildung wir sehen" - und unter diesen versteht er „Völker Staaten Gesellschaften" - „zur Belehrung über die ersten Organismen" zu benutzen. 165 Zwar konstatiert er im gleichen Jahre die Unvollkommenheit jener letzten Organismen, wenn er sie mit den einfachsten vergleicht. 166 Aber daß alles Seiende den Charakter der Organisation und damit von Herrschaftsordnung mit grundlegend gleichartiger Strukturiertheit aufweist, bleibt für ihn bis zum Ende seines Schaffens außer Frage. Die Übertragung von inneren Strukturen einer Organisationsform auf eine andere ist ein von ihm immer wieder praktiziertes methodisches Verfahren, auf dessen Problematik hier nicht näher eingegangen werden kann. 167 Wir wollen uns zum Schluß noch eine Konsequenz aus Nietzsches Verständnis des Leibes als einer Vielheit von Willen zur Macht vor Augen führen. Er bezeichnet „das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus" als „die einzige Realität". Aus dieser Grundtendenz heraus sind „Selbstbewahrung" 168 und damit auch Selbstregulation und Dauerfähigkeit (um die Bestimmungen Roux' zu nennen, an denen sich Nietzsche zeitweise orientiert hat) nur sekundäre Phänomene. „Die Erhaltung ist nur eine Consequenz" der ursprünglichen Kraftauslassungen, heißt es schon im Sommer-Herbst 1884. 1 6 9

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S. oben S. 115f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[316]; KGW V 2, 461. Nachlaß Herbst 1881, 12[163]; KGW V 2, 502. Daß derartige .Übertragungen' nicht eine philosophische Willkürlichkeit Nietzsches darstellen, sondern von den Naturwissenschaften immer wieder vorgenommen worden sind, bedarf kaum der Erwähnung. Im Hinblick auf Roux sei aber erwähnt, daß Haekkel ihm als Titelergänzung zum .Kampf der Theile' vorschlug: „züchtendes Prinzip im Zellenstaat" (zit. nach R. Mocek, Wilhelm Roux - Hans Driesch. Zur Geschichte der Entwicklungsphysiologie der Tiere, Jena 1974, [a.a.O., Anm. 64] 48). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 53. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[277]; KGW VII 2, 221. - Zum Selbsterhaltungstrieb als teleologischer Inkonsequenz Spinozas s. Jenseits von Gut und Böse

134

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In den Aufzeichnungen vom Frühjahr des gleichen Jahres, kurz vor der ersten Roux-Kritik und vor der ersten Ableitung der organischen Prozesse aus dem Willen zur Macht, dominiert noch das Erhaltungsprinzip.170 1885 definiert Nietzsche „Leben" dann „als eine dauernde Form von Prozeß der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen".171 Im Frühjahr 1888 heißt es schließlich, „die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Uberströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher: alle gesunden Funktionen haben dies Bedürfniß, - und der ganze Organismus [...] ist ein solcher nach Wachsthum von Machtgefühl ringender Complex von Systemen". Ich habe diese Stelle mit Absicht nach dem Aph. 703 der Kompilation ,Der Wille zur Macht' zitiert, um erst jetzt die Ergänzung des Textes hinzuzufügen, die in KGW VIII 3, S. 154, erstmalig veröffentlicht worden ist. Nietzsche schränkt nämlich das genannte organische Machtwachstum ein auf die Zeit „bis zum Alter der Pubertät". Den Herausgebern des ,Willen zur Macht' muß dies als eine zumindest mißverständliche Einschränkung erschienen sein, anders Iäßt sich die Auslassung kaum erklären. Wir knüpfen hier die Sachfrage an: wie steht es um die Machtausweitung des Leibes nach der Pubertät? Nietzsches Antwort auf diese Frage besteht in Hinweisen auf das Phänomen der Zeugung. 1886/87 bezeichnet er „das Zeugen" als „die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich"; er faßt die Zeugung als „höchste Machtäußerung" aus „dem Centrum der ganzen 172 Individuation" auf. Als diese ist sie freilich andererseits Ent-äußerung: Das als Herrschaftsgebilde jeweils gesonderte Leibganze gibt Macht ab zugunsten der Entstehung eines neuen. Der Verzicht auf Macht aus Macht heraus steht allerdings in Widerspruch zu Nietzsches grundlegendem Verständnis der gegeneinander kämpfenden Willen zur Macht. In dessen Konsequenz liegt vielmehr, wie er 1885/86 die Zeugung charakterisiert: als „Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen das Angeeignete zu organisiren" im Unterschied zur Ernährung als „Consequenz der unersättlichen Aneignung" des Willens zur Macht. 173 Diese Darstellung

170

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13, KGW VI 2 , 2 1 f . Im gleichen Text wird Selbsterhaltung als „eine der indirekten und häufigsten Folgen" des Lebens als Wille zur Macht interpretiert. S. Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 4 2 7 ] ; KGW VII 2, 120f. Nachlaß a.a.O., 25[430], [432]; KGW VII 2, 122f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[22]; KGW VII 3, 284. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[9]; KGW VIII 1, 303. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[76]; KGW VIII 1, 94.

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der Zeugung ergänzt Nietzsche in einer späteren Aufzeichnung: „Wo Ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen". 174

174

Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[64]; KGW VIII 1, 213. - Den für diesen Zusammenhang herangezogenen Ausführungen Nietzsches liegt die Aufnahme von Gedanken W. H. Rolphs zugrunde, dessen Buch Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationalen Ethik (1882) er in der 2. Auflage (1884) erworben hat. Die nachstehenden Hinweise sollen dies in der hier gebotenen Kürze deutlich machen: 1. Rolph setzt „an die Stelle von Darwins Hunger aus Nahrungsmangel einen ewigen Hunger aus Unersättlichkeit in Folge von endloser Aufnahmefähigkeit" (a.a.O., '1882,71). Nietzsche nimmt die Bestimmung der Unersättlichkeit auf (s.o.); sie konveniert seinem Verständnis des Willens zur Macht, - wobei Erwähnung verdient, daß Rolph gelegentlich sowohl den Begriff des .Willens' (a.a.O., 102) als auch den Begriff der,Macht' (a.a.O., 133) heranzieht. - 2. Die Unersättlichkeit der Lebewesen tendiert nach Rolph zur Einschließung von allem, was ihnen .begegnet', nicht nur des sie Nährenden. Bei den Amöben vollzieht sich dieses Einschließen als Umfließen, z.B. von Sandpartikelchen. (A.a.O., 42,60) - Nietzsche: .„Ernährung' ist nur abgeleitet: das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen" (Nachlaß, a.a.O.) - 3. Konjugation ist für Rolph „Ersatz für normale Ernährung" (a.a.O., 52, vgl. lOOf.). Nietzsche: „Wo die Männchen aus Hunger die Weibchen aufsuchen und in ihnen aufgehn, ist Zeugung die Folge eines Hungers." (Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 1[11]; VIII1,34) Zweifellos im Anschluß an Rolph heißt es in Jenseits von Gut und Böse 36, KGW VI 2,51: das Problem der „Zeugung und Ernährung" sei „Ein Problem". - 4. Wenn die Grenze möglichen Wachstums erreicht ist, tritt nach Rolph die Teilung des Protoplasmas ein; die Geteilten beginnen ihre Arbeit von neuem (a.a.O., 58,89ff.). Nietzsche: „Die Theilung eines Protoplasma in 2 tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht." (Nachlaß, a.a.O.) - 5. Nach Rolph ist alle Fortpflanzung Teilung; geschlechtliche Fortpflanzung unterscheidet sich bei aller Differenziertheit nicht grundsätzlich von der ungeschlechtlichen (a.a.O. 90; Geschlechtsorgane sind für ihn „physiologisch Organe zur Abführung von Nahrung", a.a.O., 62). Er führt diesen Gedanken bis zur völligen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Kopulationsorganen „als Legeröhren" durch (a.a.O., 129). Auch für Nietzsche bestehen keine grundlegenden Unterschiede innerhalb der organischen Stufungen hinsichtlich von .Zeugung' und Fortpflanzung. - Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß Nietzsche den Grundgedanken von Rolphs Abundanztheone in seine Darwinismus-Kritik aufgenommen hat, und zwar in Die fröhliche Wissenschaft 5,349, KGW V 2,267 („in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern der Überfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige"), sowie in Götzen-Dämmerung, Streifzüge, 14, KGW VI 3, 114 („der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der

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Der Organismus als innerer Kampf

Derartige Ausführungen werden freilich überlagert durch einen mit ihnen nicht ohne weiteres vereinbaren Grundgedanken Nietzsches, daß nämlich, wie es schon in Morgenröthe heißt, „vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben" vorbereitet werden könne. 175 „Oh meine Brüder", sagt später Zarathustra, „ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft". 176 Nietzsches Rede von der Bildung eines höheren Leibes, vom Steigen des Organischen auf noch höhere Stufen und schließlich von der Überwindung des Menschen gewinnt noch am ehesten Konsistenz in seinem episodischen Fragment aus dem Winter 1883/84, in dem er eine verborgene Naturteleologie voraussetzt.177 Diese spekulative Hypothese bleibt freilich in Nietzsches Philosophie ohne Folgen. Der Gedanke, den er statt dessen von früh an bis in sein Spätwerk hinein immer wieder aufnimmt, der Gedanke der beivußten Züchtung großer Einzelner, die die Menge zu ihrem „Werkzeug" 178 machen sollen, bedürfte zu seinem Verständnis wie zu seiner Kritik der Berücksichtigung von Denkvoraussetzungen Nietzsches, die den Rahmen der vorgetragenen Überlegungen sprengen würde.

Aus dem Schlußwort zur Diskussion des Vortrags ... Vielleicht beginne ich damit, daß ich Ihnen sage, weshalb ich ein solches Interesse an der Roux-Lektüre Nietzsches genommen habe. Dazu muß ich weit ausholen. Es ist ja so, daß in der deutschen Nietzsche-Rezeption die Lehre vom Willen zur Macht eine entscheidende Rolle gespielt hat. Sie ist zunächst geprägt worden dadurch, daß man Nietzsche als denjenigen verstand, der Schopenhauers Willensbegriff umwandelte. Demzufolge hat man vom Willen zur Macht als einem metaphysischen Grundprinzip gesprochen. Das hat sich dann bis zu Heideggers Nietzsche-Deutung hin fortgesetzt. Dies erschien mir immer als sehr problematisch. Einmal, um etwas Äußerliches zu nennen, weil Nietzsche viel häufiger von den Willen zur Macht, also im Plural, spricht als

175 176 177 178

Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung [...] Man sollte nicht Malthus mit der Natur verwechseln"; zu letzterem vgl. Rolph, a.a.O., 71). Morgenröthe 150; KGW V 1, 142. Also sprach Zarathustra III, 12; KGW VI 1, 250. S. dazu oben S. 13 Of. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[76]; KGW VIII 1, 95.

Der Organismus als innerer Kampf

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von dem Willen zur Macht. Zweitens, und das begründet den genannten Sprachgebrauch, weil er in der Ausarbeitung des Willens zur Macht immer den Gegensatz eines anderen Willens zur Macht, der überwunden werden muß, voraussetzt. In früheren Arbeiten bin ich Nietzsches Gedanken des Gegeneinander der Machtwillen nachgegangen, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche als auch hinsichtlich seiner Bedeutung für andere grundlegende Bestimmungen im späten Werk Nietzsches, vor allem für seine Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft. Es erwies sich dabei als möglich, ein hohes Maß an Konsistenz des Denkens Nietzsches herauszuarbeiten. Vom Interpretationscharakter der Willen zur Macht her ließ sich schließlich Nietzsches Philosophie als Interpretation des Interpretierens begreifen, die ihr eigenes Vorgehen sich durchsichtig macht. Jaspers' Gedanke, Nietzsches Denken als Auslegen des Auslegens aufzufassen, konnte über seine wesentlichen Ansätze hinaus weitergeführt werden. Μ. E. läßt sich ein ganzheitlicher Zusammenhang von Nietzsches Spätphilosophie nur gewinnen, wenn man den Nachlaß in größerem Maße einbezieht, als dies bei anderen Autoren angebracht wäre... Nach meiner Auffassung ist es nicht nur eine legitime, sondern auch eine notwendige philosophische Aufgabe, der inneren Stringenz des Denkens Nietzsches nachzufragen, selbst wenn man dabei fragmentarische Notizen aus dem Nachlaß in einem sonst ungewöhnlichen Maße heranzieht und in Beziehung zueinander setzt. Man wird also, gerade wenn man Nietzsche als Philosophen ernst nehmen will, »konstruieren' müssen, dies freilich mit Behutsamkeit und in strenger Orientierung an dem, was er aufgezeichnet hat. Was hat das alles mit Nietzsches Roux-Lektüre zu tun? Meine Bemühungen um eine immanente Darstellung der Lehre vom Willen zur Macht stießen auf Grenzen. Bestimmte Begriffe, die Nietzsche offensichtlich wesentlich waren, da er sie häufig verwendet, blieben dunkel. Ich nenne jetzt nur, als Beispiele, die Begriffe Kraftauslösung und Explosion. Die Bedeutung solcher wie anderer Bestimmungen ist nur zu klären, wenn man auf Nietzsches naturwissenschaftliche Studien rekurriert. Indem ich diesen Studien nachging, stieß ich auch auf Roux. Der Kampf der Thetle im Organismus hat, wie ich meine, Nietzsches Überlegungen zum Kampf der Willen zur Macht wesentlich beeinflußt. Diesem Einfluß nachzugehen, schien mir für die Entwicklungsgeschichte seines Denkens wichtig zu sein. Noch ein Wort zum Niederschlag, den Nietzsches Lektüre naturwissenschaftlicher Schriften in seinem veröffentlichten Werk gefunden hat. Es ist

138

Der Organismus als innerer Kampf

durchaus nicht so, daß er die Ergebnisse seiner Studien gänzlich zurückgehalten hat. Nietzsche verstand sich - trotz all seiner Klagen über die ihm fehlenden Sach- und Fachkenntnisse - durchaus nicht als unzuständiger Dilettant auf diesem Gebiet. Deshalb hat er sich auch so entschieden über den Darwinismus äußern können... Der wichtigste Aspekt von Nietzsches Darwinismus-Kritik nimmt seinen Ausgang von dem Gedanken, die Entwicklungen in der Natur seien nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß her abzuleiten. Er hat dies im Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft und in Götzen-Dämmerung ausgeführt, in Ausführungen, die W. H. Rolphs Abundanztheorie entlehnt sind, ohne daß er diese Quelle nennt; ich werde darauf in einer Anmerkung zur Druckfassung des Vortrags eingehen (S. o. Anm. 174). Voll verständlich wird Nietzsches Argumentation jedenfalls nur, wenn man seine Rolph-Lektüre berücksichtigt. Das gilt übrigens auch für seine Ausführungen zur Zeugung. Ich muß es hier und jetzt bei diesem Beispiel bewenden lassen.

Exkurs: Hinweis auf die,Entwicklungsmechanik'. contra Hans Driesch

Wilhelm Roux

Zu Wilhelm Roux' Prinzipien der Entwicklungsmechanik seien einige ergänzende Bemerkungen gemacht. Er hat die wesentlichen der in seinem Buch von 1881 herausgearbeiteten Bestimmungen und deren Bedeutungen bis zu seinen letzten Veröffentlichungen beibehalten, ist aber im Zuge seiner weiteren Forschungen zu beträchtlichen Ergänzungen und Differenzierungen gelangt.179 Auf den grundlegenden Wandel, den er in der Frage nach der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften vollzogen hatte, als er 1895 eine Neubearbeitung des ,Kampfes der Theile' in Angriff nahm, kann hier nicht des näheren eingegangen werden. Dieser Wandel führt dazu, daß der in unserer Darstellung ohnehin besonders hervorgehobene autogenetische Gesichtspunkt gegenüber dem phylogenetischen ganz eindeutig in den Vordergrund tritt.180 179

180

Eine Zusammenstellung der „Distinktionen und Termini", die Roux später eingeführt hat, findet sich bei D. Barfurth, Wilhelm Roux zum 60. Geburtstag, in: Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen, XXX I, 1910, XXX. Roux' Schrift von 1881 war von einem Darwinismus Haeckelscher Prägung bestimmt, in den Gedanken Lamarcks eingeschlossen waren. Haeckels Uberzeugung von der Vererbung erworbener Eigenschaften fand bei Roux ihren Nieder-

Der Organismus als innerer Kampf

139

Roux hat sich der Frage gestellt, ob an dem „harmonischen dauerfördernden Zusammenwirken" der Vorgänge im Lebewesen „amechanistisches Geschehen irgendeiner gedachten Art beteiligt" sei.181 Da Nietzsche z.B. in Roux' Begriff der Selbstregulation teleologische Momente anzutreffen gemeint hat, 182 sei knapp auf eine Diskussion eingegangen, von der Nietzsche keine Kenntnis mehr haben konnte. Roux hat die nichtmechanistische Auffassung der organischen Prozesse mit besonderer Schärfe in seiner Auseinandersetzung mit H. Driesch verneint. Driesch war in der Fortführung der embryologischen Experimente Roux' zu anderen Ergebnissen als dieser und schließlich zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen gelangt. Roux hatte 1887 nach Abtötung einer der beiden Furchungszellen des Froscheies die Entwicklung der lebenden Zellen zu einem Halbembryo beobachtet und diesen Vorgang als Selbstdifferenzierung kausal interpretiert. Drieschs entsprechende Versuche an den Zellen von Seeigeleiern (1891) führten zur Entwicklung eines ganzen (wenn auch kleineren) Organismus. Auf der Grundlage dieser und anderer Experimente gelangte Driesch schließlich zu der Überzeugung, daß derartigen Bildungsprozessen ein zwecktätiges Agens zugrunde gelegt werden müsse.183 Roux sah in Drieschs teleologischer Ableitungsweise bloße Metaphysik, die auf die gebotene exakte kausale Erklärung verzichtet.184 Freilich mußte er noch

181 182 183

184

schlag in seiner Lehre von der Vererbung individuell erworbener funktioneller Anpassungen. Zum Wandel von Roux' Standpunkt hinsichtlich dieser Problematik vgl. R. Mocek, a.a.O. [Anm. 64], 80ff. W. Roux, Die Medizin der Gegenwart, a.a.O. [Anm. 44], 187. Vgl. oben S. 118ff. Zu Drieschs Ausgehen von Roux und seinem ,Hinausgehen' über ihn sei zur allgemeinen und zusammenfassenden Information verwiesen auf sein Buch Philosophie des Organischen, Leipzig 2 1921, 47ff. - Drieschs Ausgang von einem entelechetischen Agens ließ für Roux' Gedanken eines Kampfes der Teile keinen Raum. S. dazu Drieschs Schrift Die organischen Regulationen, Leipzig 1901, und C. Herbst, Formative Reize in der tierischen Ontogenese, Leipzig 1901. Dazu Roux' Entgegnung in Über die Selbstregulation der Lebewesen, a.a.O. [Anm. 50], 6 3 5 , 6 3 9 - 6 4 3 , wo er sich zugleich gegen O. Hertwig wendet, auf den Driesch sich berufen hatte. - Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Schriftenverzeichnisse von Roux und Driesch, den Briefnachlaß von Driesch sowie die Literaturhinweise bei Mocek, a.a.O. [Anm. 64], 1 7 7 - 2 1 7 . Zu der von Roux' Seite zeitweise sehr heftig geführten Polemik gegen Driesch s. u. a.: Ober die Selbstregulation der Lebewesen, a.a.O. [Anm. 50], sein Referat über Drieschs Buch Die organischen Regulationen von 1901 (Archiv f. Entwicklungs-

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Der Organismus als innerer Kampf

1923 einräumen, daß seine Lehre von der Selbstdifferenzierung „auch jetzt nach fast vierzig Jahren noch mißverstanden" wird, indem man diese als „Wirkungsweise" und nicht als „kausales Prinzip" auffaßt. 185 Jedenfalls hat die Ambivalenz seiner Begrifflichkeit, die schon Nietzsche empfunden hat, Roux nicht von seiner streng mechanistischen Erklärungsweise abgebracht: Die Lebewesen sind für ihn „Selbsterhaltungs-, Selbstvermehrungs- und Selbstregulierungsmaschinen" geblieben. 186 Nietzsche deutet die organischen Vorgänge auf der Grundlage von Gegeneinander und Miteinander zahlloser Willen-zur-Macht-Vielheiten. Er geht seinen Weg in kritischer Abhebung sowohl von der mechanistischen wie von der entelechetischen Auffassung.

185 186

mechanik der Organismen XIII, 1902, 651 ff.); zu Roux' grundsätzlicher Auseinandersetzung mit den „Entelechetikern" s. seine Ausführungen unter dem Titel ,Prinzipielles der Entwicklungsmechanik', in: Annalen der Philosophie, III, 1922, 454-473. - Über den Fortgang der sich ausweitenden Kontroverse um die Ergebnisse der embryologischen Experimente informiert zusammenfassend, vom Standpunkt Roux' aus, D. Barfurth, a.a.O. [Anm. 179], XIVf. - Roux' Interpretation der Entwicklung von kleinen Ganzembryonen aus der Totipoienz von Furchungszellen, sowie die Deutung von Ganzbildungen als Postgeneration, die er zuerst 1892 vortrug, haben für die Auseinandersetzung mit den .Teleologen' (aber nicht nur mit ihnen) besondere Wichtigkeit erlangt. - Nur hingewiesen werden kann hier auf H. Spemanns ,Aufhebung' des Gegensatzes zwischen Roux und Driesch. Vgl. dazu R. Mocek, a.a.O. [Anm. 64], 104ff. Die Medizin der Gegenwart, a.a.O. [Anm. 44], 163. Prinzipielles der Entwicklungsmechanik, a.a.O. [Anm. 184], 471. - In welchem Maße Roux' Gebrauch der Vorsilbe ,Selbst-' seinen eigenen Intentionen entgegengewirkt hat, zeigt noch die Berufung von Λ. Portmann auf Roux bei seiner Ausarbeitung der organischen „Selbstdarstellung" als sich äußernder Innerlichkeit (An den Grenzen des Wissens, Wien/Düsseldorf 1974, 138-140).

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

1. Vorbemerkungen zum Verständnis von Hochmut und Demut Die Selbsthochschätzung spielt unter den Haltungen, in denen das Individuum sein Verhältnis zu Anderen konstituiert, in der abendländischen Tradition eine bedeutende Rolle. Sie findet sich in mannigfachen Gestalten und unter vielen Namen, deren Bedeutungen sich überschneiden können. Die unterschiedlichen Bewertungen von ,Hochmut' (χαυνότη?, ύπερηψανία; superbia) und ,Hochgemutheit' (μεγαλοψυχία; magnanimitas, magnitudo animi) im griechischen und römischen Denken kamen zumindest darin überein, daß sie ihren Gegensatz, die ,Demut' (ταπείνοσις; humilitas), als Tugend ausschlossen. Das christliche Verständnis des Menschen kehrt, sehr vereinfacht gesagt, dieses Verhältnis um: Von der humilitas her rücken das Hochmütige und das Hochgemute zu Ausformungen der superbia zusammen. Allerdings faßt Thomas von Aquin die magnanimitas (d.i. Ciceros Ubersetzung der aristotelischen μεγαλοψυχία,) als der Hoffnung zugeordnete Tugend des ,hohen Mutes' auf, die in der durch göttliche Gnade ermöglichten fiducia ihre höchste Ausspannung findet. Läßt er damit die antiken Bedeutungsgehalte der magnanimitas zurück, so erfahren diese seit der Renaissance eine Aufwertung. Christliche Autorität hat an Gewicht verloren, wenn Descartes der Tugend, welche nach dem ,Schulgebrauch' magnanimite genannt wurde, den Namen generositä gibt. Die mit ihm bezeichnete,vornehme Hochgemutheit' der Seele kann bei günstiger Anlage durch Übung und Gewöhnung kultiviert werden. 1 Sie gründet sich auf den freien Willen des Menschen, als dem Vermögen vollkommener Entscheidungsfähigkeit, worin dieser Gott gleicht, wie es schon in den Meditationes heißt. Mit der generosite als der wahren Selbstachtung vereinbart sich nach Descartes die Demut als humilite vertueuse, welche der Einsicht in die Unbeständigkeit unserer Natur (wie der aller Menschen) entspringt. Der Hochmut oder Stolz (orgueil) und die humilite vitieuse (als Demut der Erniedrigung: bassesse) bilden das

1

Les Passions de l'Ame,

art. CLXI, vgl. LIV.

142

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

Gegensatzpaar zu jenen Tugenden. Ihnen liegt, dies ist Descartes' Kritierium für deren »Untugend', Mangel im Gebrauch der (wahren) Freiheit zugrunde.2 In Kants Moralphilosophie erhält die Demut als Tugend noch einmal eine wesentliche Bedeutung zugesprochen,3 ebenfalls im Unterschied zur .lasterhaften': unter freilich anderen Voraussetzungen als bei Descartes. Sie spielt keine ausdrückliche Rolle mehr, wenn Schopenhauer und im Anschluß an ihn Nietzsche den Stolz und die Eitelkeit zu ihrem Thema machen. Die folgenden Ausführungen leiten zu diesen beiden Bestimmungen hin, setzen aber zunächst bei Kants Gedanken über die Selbstwertschätzung des Menschen ein. Kant hat deren »Haltungen' auch unter geschichtsphilosophischem Aspekt gewürdigt; unabhängig von ihm geschieht dies auch bei Nietzsche, nicht bei Schopenhauer.

2. Hochmut und Demut bei Kant An die Spitze seiner Aufstellung der Laster, durch welche der Mensch die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzt, stellt Kant in der Metaphysik (kr Sitten den Hochmut. Bei dessen Kennzeichnung zieht er, die ursprünglich augustinische Überlieferung aufnehmend, den Begriff der superbia heran. Dieses Wort drücke die Neigung aus, „immer oben zu schwimmen"; Augustinus hatte mit ihm das Streben nach verkehrter Hoheit („perversae celsitudinis appetitus") benannt. Von der ,Jihrbegierdeu des Hochmuts unterscheidet Kant den Stolz als „Ehrliebe", den er als „animus elatus" - in Grenzen rechtfertigt, während Augustinus jede derartige „elatio" des Menschen als Abwendung von Gott und Bewegung auf seine eigene Nichtigkeit hin ansieht.4 2 3

4

A.a.O. [Anm. 1], art. CLV, CLIX, CLX. Man vergleiche mit dem Voranstehenden wie auch mit dem Folgenden David Humes dihairetisch geordnete Affektenlehre, an deren Spitze Stolz {pride) und Demut {humility) stehen. Th. Lipps, der Übersetzer des »Treatise of Human Nature', bemerkt zu Recht, daß humility „öfter besser mit »Kleinmut' wiedergegeben" werden würde; er selbst wählt „Niedergedrücktheit" als Übersetzung (Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch II/III, Hamburg 1978, 3). - Zu Humes Vorbehalten gegenüber dem christlichen Verständnis der Demut als Tugend vgl. a.a.O. 354. Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 42, A 144. [Kants Schriften werden nach der Ausgabe von W. Weischedel, Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1964, zitiert.] - Augustinus, De Civitate Dei XIV, 13. - Als ein Laster (vitium), das freilich andere Laster unterdrücken könne, hat Augustinus, unter Bezugnahme auf römische Autoren

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

143

Selbst die von Kant dem Hochmut entgegengestellte Demut als humilitas moralis, durch die sich „das Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit" des „moralischen Werts" des Menschen geltend macht, wenn er diesen mit dem Sittengesetz „in Vergleichung" bringt - und zwar mit dessen „Heiligkeit und Strenge" könnte vor biblischer und insbesondere vor augustinisch geprägter Theologie nicht bestehen. So muß es für diese noch immer Ausdruck der superbia sein, wenn nach Kant der Mensch selbst der moralischen Gesetzgebung fähig ist und sich gedrungen fühlt, „als (physische [r] Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren". In der Konsequenz dieses Gedankens ist wahre Demut des Menschen zugleich „höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts" und „Gemütserhebung (elatio animi)". Die Hochschätzung des Menschen durch sich selbst soll sich nur auf sich „als intelligibles Wesen (seiner moralischen Anlage nach)" beziehen. „Als Sinnenwesen (seiner tierischen Natur nach)" ist er jedoch von jenem nicht getrennt, sondern - als eins mit ihm - durch die ihm von seiner Vernunft auferlegten Pflichten in Anspruch genommen. Deshalb kann „seine Geringfähigkeit als Tiermensch dem Bewußtsein seiner Würde als Vernunftmensch nicht Abbruch tun". Anders steht es, wenn die Selbsthochschätzung vom Vergleich mit dem Sittengesetz absieht und zur Selbstgerechtigkeit des Tugendstolzes, der „arrogantia moralis", führt. Er wird von Kant als ebenso sittlich verfehlt angesehen wie die falsche Demut, in der sich der Mensch anderen Menschen moralisch unterwirft. Die falsche Demut dient aber in Wahrheit als Mittel zur Gunsterwerbung. Damit wird zugleich auch derjenige, dessen Gunst erstrebt wird, zu einem Mittel herabgesetzt. Ihr heimlicher Hochmut ist „der Pflicht gegen andere gerade zuwider".5 Der wahren Demut, die allein das innere Verhältnis des Menschen zum Sittengesetz bestimmen soll, entspricht der Stolz, den Kant näher bestimmt als die „Sorgfalt, seiner Menschenwürde in Vergleichung mit anderen nichts zu vergeben". Die Ehrliebe des Einzelnen ist hierbei auf die moralische Persönlichkeit bezogen. Während die Ehrbegierde des Hochmuts „von anderen eine Achtung verlangt, die er ihnen doch verweigert", ist der ,edel' genannte Stolz zur Achtung der Anderen verbunden, deren Ehrliebe ebenso berechtigt ist wie seine eigene. Die Selbstliebe des Einzelnen findet hier ihre Grenze. Der Stolze steht nach Kant freilich immer in der Gefahnder Selbst-

5

(Horaz, Tullius), auch den Ehrgeiz beschrieben (De civitate Dei, V, 13). A.a.O. [Anm. 4], § 11, A 94ff.

144

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

Überschätzung und damit der Überschreitung dieser Grenzen. Der Stolz wird schon dann „zum Fehler und zur Beleidigung, wenn er auch bloß ein Ansinnen an andere ist, sich mit seiner [d.i. des Stolzen] Wichtigkeit zu beschäftigen". Wird er doch schon darin zur Ehrbegierde (d.h. zum Hochmut als ambitio), die in der Vergleichung mit Anderen um die Erhöhung des äußeren Geltungswertes bemüht ist.6

3. Stolz und Eitelkeit bei Schopenhauer Wenn Schopenhauer, in der Erörterung des empfindlichen Ehrgefühls der Selbstliebe des Menschen, dem Stolz die Eitelkeit gegenüberstellt, von welcher er auch als von Hochmut sprechen kann,7 dann bewegt er sich auf demselben Terrain wie Kant. Haben die herangezogenen Begriffe Kants ihre Bedeutungsmitte in seinem Verständnis der praktischen Vernunft, so ist Schopenhauer der entschiedenste Kritiker der unter ihrem Vorzeichen begründeten Ethik.8 Er führt aus, daß Kants moralische Abqualifizierung der Neigung diesen daran gehindert habe, das wahre Fundament der Ethik zu entdecken. Schopenhauer findet dieses Fundament im Mitleid, als „reine Liebe (άγάπη, Caritas)" verstanden: im „geraden Widerspruch mit Kant", welcher „gefühltes Mitleid für Schwäche" erklärt.9 Hinter diesem Widerspruch steht der von ihm grundsätzlich erörterte Gegensatz in der „Methode": Kant gehe „von der mittelbaren, reflektirten Erkenntniß" aus, er selber „von der unmittelbaren, der intuitiven". Nach Schopenhauer erkennt der Mensch intuitiv „im fremden Individuo das selbe Wesen [...] wie im eigenen".10 Er trägt sein Verständnis von Intuition in die Kantische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung ein,

6 7

8

9

10

A.a.O. [Anm. 4], § 42, A 144f. Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit', [Schopenhauers Schriften werden im folg. nach der Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, zitiert], VIII, 390. Vgl. hierzu und zum folgenden insbes.: Über die Grundlage der Moral, §§ 4 und 6, VI 1 6 0 - 1 6 5 , 1 6 8 - 1 9 1 . A.a.O. [Anm. 8], VI, insbes. 262ff.; Die Welt als Wille und Vorstellung I, II 4 6 4 466. - Vgl. hierzu J. Salaquarda, Erwägungen zur Ethik. Schopenhauers kritisches Gespräch mit Kant und die gegenwärtige Diskussion, in: 56. Schopenhauer-Jahrbuch 1975, 5 1 - 6 9 , hier: 6 0 - 6 6 . A.a.O. [Anm. 9], II 555ff., 456.

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

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die er in abgewandelter Weise aufnimmt. Ding an sich und Erscheinung werden von ihm gänzlich gesondert.11 Jeder Mensch ist ihm zufolge als Ding an sich ein besonderer Objektivationsakt des Willens. Darin ist er mit einem unveränderlichen intelligiblen Charakter versehen, den er, als empirischer Charakter, in der Erscheinungswelt abbilden muß. 12 In letzterer Hinsicht ist er dem Satz vom Grunde unterworfen, und dadurch zugleich in Raum und Zeit von allen anderen Menschen geschieden. Solcherart „im principio individmtionis befangen", bleibt der Mensch „bei dem durch dieses letztere gesetzten gänzlichen Unterschiede zwischen seiner eigenen Person und allen andern fest stehen"; er sucht, dem dadurch gestifteten Egoismus gemäß, „allein sein eigenes Wohlseyn". Die anderen Individuen, die er „eigentlich nur als Larven, ohne alle Realität, ansieht", bleiben ihm dabei „vollkommen gleichgültig"; die Kluft, welche ihn von ihnen trennt, scheint unüberbrückbar zu sein. 13

11

12

13

Gegen Kant macht sich Schopenhauer dabei den schon früher vorgetragenen Einwand zu eigen, dieser gelange nur mittels der verdeckten Anwendung der Kausalitätskategorie zur Annahme des Dinges an sich. Damit nehme Kant, sich selbst widersprechend, dieses faktisch gänzlich in die Vorstellungswelt hinein. Nur als ein „von der Vorstellung und ihren Elementen toto genere Verschiedenes" könne das Ding an sich, und zwar im Ausgang von unserem Selbstbewußtsein, aufgefaßt werden. (A.a.O. [Anm. 9], II 535f., vgl. 613f.) - Schopenhauer führt aus, der Wille als Ding an sich sei „von seiner Erscheinung gänzlich verschieden", oder: die Objektität, in die er erscheinend „erst eingeht", sei ihm „selbst fremd". (a.a.O. [Anm. 9], 1 156,157). Uns ist der Wille unmittelbar in der Erfahrung des Leibes gegeben, eben dieser unser Leib ist als Objektation unseres Erkennens von jener Erfahrung wesenhaft verschieden. (Vgl. dazu Vf., Das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter bei Kant, Schelling und Schopenhauer, in: Kategorien der Existenz, FS W. Janke, hg. v. K. Held und J. Hennigsfeld, Würzburg 1993, 4 3 - 4 7 . ) Der empirische Charakter jedes einzelnen Menschen „ist ganz und gar durch den intelligiblen, welcher grundloser, d.h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der empirische Charakter muß in einem Lebenslauf das Abbild des intelligiblen liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert." (Die Welt als Wille und Vorstellung 1,1211) A.a.O. [Anm. 9], II 451. - Den in anderen Individuen sich geltend machenden und ihm entgegenstehenden Willen kann der Mensch dadurch ausdrücklich verneinen, daß er ihn sich zu unterwerfen und in seinen Dienst zu stellen sucht. Je nach dem Grade der Heftigkeit der Bejahung des eigenen Willens reicht solches Verhalten von der Ungerechtigkeit bis zur Bosheit, zur Grausamkeit oder zur Rachsucht. Darin kann der nicht zu befriedigende und leidvolle „Durst des Egoismus" die Leiden Anderer „zum Zweck an sich" erheben: „Durch den Anblick des fremden Leidens,

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Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

So wird deutlich, in welchem Sinne das Mitleid für Schopenhauer „das große Mysterium" ist.14 Errichtet doch das principium individuationis „eine absolute Scheidewand",15 die es zu verhindern scheint, daß der Egoismus des Individuums (der, „seiner Natur nach, gränzenlos" ist16) gebrochen wird. Andererseits klingt schon bei den von Gleichgültigkeit bestimmten und mehr noch bei den bösen Taten des Egoisten in seinem Bewußtsein an, daß seine Trennung von den Anderen in Raum und Zeit nach dem Satze vom Grunde eine Selbsttäuschung ist, welche die Wirklichkeit des einen Willens verdeckt.17 Dieser ist Ding an sich und offenbart sich unserer Intuition unmittelbar als Wille. Auf dem Wege des Vorstellens kommen wir nicht über die Vorstellungen hinaus. Die Dinge als Objekte unserer Sinne sind daher nicht Erscheinungen von an sich Gegebenem (als äußere Ursache unserer Empfindungen), sondern nur der Schein von Wirklichkeit. Dann erweist sich auch das ,Sein' des Individuums als Schein. Alles menschliche Streben läuft deshalb auf seine „gänzliche Nichtigkeit" hinaus; sie sich zu verbergen, ruft ebenso große wie vergebliche Anstrengungen des Individuums hervor. Aus Schopenhauers Auffassung von Vorstellung - im Unterschied zu Kants Verständnis von Erscheinung18 - wird deutlich, warum er das Wort

14 15 16 17

welches er zugleich als eine Äußerung seiner Macht erkennt", sucht das am Willensdrang leidende Individuum die eigene Qual zu lindern. (A.a.O., 4 5 0 - 4 5 2 ) A.a.O. [Anm. 8], VI 248. A.a.O. [Anm. 9], II 459. A.a.O. [Anm. 8], VI 236. In der dunkel gefühlten Gewissensangst meldet sich bei dem in die Erscheinungswelt Verstrickten, gewissermaßen durch die besondere böse Tat hindurch, „die geheime Ahndung", daß das principium individuationis ihn nur im „täuschende [n] Traum" von denen trennt, denen er Böses antut. (A.a.O. [Anm. 9], II, 4 5 3 - 4 5 6 ) Mit dieser Ahnung verbindet sich die intuitive Erkenntnis, daß das Individuum als „koncentrirte Erscheinung des Willens zum Leben" diesem gänzlich „anheimgefallen" ist und, seinem intelligiblem Charakter gemäß, unverändert in endlosen Zeiten sich selbst überdauert. Schopenhauers Darlegung der untergründigen Schrecknisse der Gewissensangst bereiten seine Lehre von der Erlösung durch Willensverneinung vor (ebd.).

- Vgl. hierzu: Vf., Absolute Freiheit und intelligibler Charakter bei Schopenhauer und Sartre, in: Wagner - Nietzsche - Thomas Mann, FS Eckhard Heftrich, hg. H. Gockel, M. Neumann, R. Wimmer, Frankfurt a.M. 1993, 117f. und dort Anm. 36.

18

Mit Schopenhauers Absonderung der Erscheinungen vom Ding an sich verlieren diese den Realitätscharakter, der ihnen in Kants Kritik der reinen Vernunft zugesprochen worden war. Sie werden von Schopenhauer zu bloßen Vorstellungen herabgestuft. (Die Welt als Wille und Vorstellung I, II 612ff.) Demgemäß kann er

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Eitelkeit auch dort bevorzugt, wo er von Hochmut oder Ehrsucht handelt. Jenes Wort legt sich ihm vor allem aus dessen überlieferter mehrfacher Bedeutung nahe. Er weist darauf hin, „daß in fast allen Sprachen Eitelkeit, vanitas, ursprünglich Leerheit und Nichtigkeit bedeutet". Insbesondere ist es Ausdruck der „Thorheit" geworden, sich als „ein Hauptziel seines Strebens" zu wünschen, „in der Meinung Anderer als ein Beglückter dazustehn". Dahinter steht immer das Leiden des Individuums, das „die Außenseite" seines Lebens „mit falschem Schimmer" überzogen hat.19 Wenn Kant von der Torheit des Hochmütigen spricht, so hebt er zwar auch darauf ab, daß es sich hierbei um „Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas" handle, das nicht den „Wert" habe, um „Zweck" sein zu können. Aber diese Eitelkeit ist die einer bestimmten Erscheinungsweise. Zwar kann er schreiben, in der Ehrsucht gehe es lediglich um das „Bestreben nach Ehrenruf, wo es am Schein genug ist". Dieser Schein ist jedoch bei Kant Anschein, der im Verhältnis zur moralisch gestützten Ehrliebe entsteht;20 er ist nicht nichtiger Schein im Sinne Schopenhauers. Grenzt Kant den Phänomenbereich der Ehrbegierde moralphilosophisch ein,21 so wird der Eitelkeit von Schopenhauer eine derart grundlegende Bedeutung zugesprochen, daß sie zum Oberbegriff für die Unterscheidung von Stolz und Eitelkeit im engeren Sinne wird. Ohnehin finden wir diese allein in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit' durchgeführt, in welcher er von seinem „höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte" abgeht, um - ungeachtet seines radikalen Pessimismus - eine Art von „Eudämonologie" vorzulegen, welches Wort er freilich nur euphemistisch gelten lassen kann

von der „Ahndung der Nichtigkeit und bloßen Scheinbarkeit des principii individuationis" sprechen (a.a.O., I, II 4 5 4 ) oder von der „Täuschung" durch dieses ,Prinzip' (a.a.O., I 462). - Er stützt sein Verständnis von Erscheinung als Schein oder als Traum durch Beiziehung von Piatos Höhlengleichnis und der indischen Maja-Mythologie (z.B. a.a.O., 515ff.). 19

A.a.O. [Anm. 9], II 406f. - Zur Begriffsgeschichte von Eitelkeit in der christlich-abendländischen Tradition s. H. Reiner, Art. Eitelkeit, HWPh 2, 43 lf. Der Annäherung der Bedeutungen von vanitas und superbia hat insbes. die Vulgata-Übersetzung von 2. Petr. 2,18 vorgearbeitet.

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Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, VI, Β 236. So wird eine ihrer Gestalten als „Unbescheidenheit der Forderung [...], von anderen geachtet zu werden", von Kant unter dem Namen Eigendünkel (arrogantia)" abgehandelt und der sittlich geforderten „Einschränkung der Selbstliebe" gegenübergestellt. (A.a.O. [Anm. 4], § 37, A 139)

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und will.22 Dabei geht es ihm u.a. um den relativen Glückswert dessen, was wir mit Ehre, Rang und Ruhm erstreben, und damit um das, was wir in den Augen Anderer vorstellen. Schopenhauer will vor die Einsicht führen, „wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung Anderer, in den meisten Dingen und Fällen, haben kann". Hiervon ausgehend legt er „eine zurückgezogene Lebensweise" nahe. 23 Ohnehin sind die Vorstellungen, die das „fremde Bewußtseyn" von uns hat, „unmittelbar gar nicht für uns vorhanden". Sie sollten uns daher im Verhältnis auf das, „was wir in und für uns selbst sind", gänzlich „gleichgültig" sein. Die ethisch verworfene Gleichgültigkeit wird dabei von Schopenhauer eudämonologisch als Schutzschild des Menschen gerechtfertigt. 24 Die Eitelkeit im von Schopenhauer weit gefaßten Wortsinn ist aber derart tief im menschlichen Wesen verwurzelt, daß sie als „angeborene[n] Verkehrtheit" auf der eudämonologischen Ebene nicht ausgerottet, sondern nur durchsichtig gemacht und gemildert werden kann. Als „Thorheit unserer Natur" treibt sie „hauptsächlich drei Sprößlinge: Ehrgeiz, Eitelkeit und Stolz" hervor. Dabei geht es Schopenhauer um den Unterschied der Eitelkeit im engeren Sinne vom Stolz, welcher „die bereits feststehende Überzeugung vom eigenen überwiegenden Werthe, in irgend einer Hinsicht" ist, hingegen Eitelkeit „der Wunsch, in Andern eine solche Überzeugung zu erwecken, meistens begleitet von der stillen Hoffnung, sie in Folge davon auch selbst zu der seinigen zu machen". Der „von innen ausgehende" Stolz als „direkte Hochschätzung seiner selbst" wird dabei in den Gegensatz zur „von außen her" bestimmten Eitelkeit gestellt, diese ist sogar „sein schlimmster Feind". Der Stolz, obwohl ebenfalls Torheit, erfährt dabei eine deutliche Aufwertung: Wer ihn tadle, habe meistens selbst nichts, worauf er stolz sein könne. 25 Schon bei Kant finden wir eine Veräußerlichung des Verhältnisses zum Anderen, die Schopenhauers Verständnis der Eitelkeit nahekommt, wenn auch nicht erreicht: In der falschen Demut als einem Bestreben des Hochmuts will der Mensch nicht nur Anderen gleichkommen oder sie übertreffen, sondern ist darin zugleich durch „Überredung" bemüht, „sich dadurch auch einen inneren größeren Wert zu verschaffen". Für Kant ist hierbei allein

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A.a.O. [Anm. 7], VIII 343.

23

A.a.O. [Anm. 7], VIII 386f., 391f. A.a.O. [Anm. 7], VIII 387. A.a.O. [Anm. 7], VIII 392ff.

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wesentlich, daß durch diese Bewegung vom Außen nach einem ,uneigentlichen Innen* der eigene moralische Wert gemindert wird.26 Das Innen, von dem nach Schopenhauer der Stolz ausgeht, gehört zum intelligibel schon präformierten ,Vorstellen'. Es findet im Zusammenhang der »Aphorismen' nur beiläufig Erwähnung. Innerhalb der Sphäre der Erscheinungen ist Schopenhauer zufolge kein Raum für den Wandel des Charakters und damit für grundlegende Verhaltensänderungen, da es nicht der Willensfreiheit unterliegt: anders als nach Kant, dem zufolge die intelligibel verwurzelte Achtung des Menschen vor den Anderen als moralischen Wesen ständig »wirksam' ist und jedes Verhalten empirisch bestimmen soll und (deshalb) auch kann.17 Daß Schopenhauer den Stolz positiv bewertet, hat seinen Grund in seinem eudämonologischen ,Ideal', das in seinen Ausführungen zu dem, ,was Einer ist', herausscheint. Diesem Ideal gemäß kann derjenige Mensch glücklicher' leben, dessen „Schwerpunkt ganz in ihn" gefallen ist. Ein derart „innerlich Reicher" fürchtet die Langeweile nicht, ihm ist die „Einsamkeit willkommen, freie Muße das höchste Gut". Wer dagegen keine geistigen Bedürfnisse hat, dem bleiben allenfalls noch „die Genüsse der Eitelkeit". In der Einsamkeit zeigt sich, was einer „an sich selber hat: da seufzt der Tropf im Purpur unter der unabwälzbaren Last seiner armsäligen Individualität; während der Hochbegabte die ödeste Umgebung mit seinen Gedanken bevölkert und belebt".28

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A.a.O. [Anm. 4], A 95. - Vgl. die Ausführung Kants über die „Bewerbung des Ehrsüchtigen um Nachtreter", die von ihm unter den Aspekt des Hochmuts als Überhebung im Äußeren gebracht wird, insofern der Ehrsüchtige jenen „verächtlich zu begegnen [...] sich berechtigt glaubt". Kant legt den Widerspruch des Hochmütigen zu seinen eigenen Zwecken dar, insofern dieser durch seinen Hochmut gegen sich selbst einnehme. Er kennzeichnet ein solches Verhalten als Torheit auch insofern, als damit seiner Ehrbegierde schade, der er doch voranhelfen wollte. Kant geht noch einen Schritt weiter. Der Hochmütige „würde anderen nicht ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit ihm gering zu halten, fände er nicht bei sich, daß, wenn ihm das Glück umschlüge, er es gar nicht hart finden würde, nun seinerseits auch zu kriechen und auf alle Achtung anderer Verzicht zu tun". Kant kennzeichnet diese Gestalt von Eitelkeit, die ohne wahre Selbstachtung ist, insofern sie sowohl als Überheblichkeit wie auch als Kriecherei auftreten kann, als Niedertracht. (A.a.O., A 145; vgl. a.a.O. [Anm. 20], Β 236f.)

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Vgl. dazu Vf, Das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter bei Kant, Schelling und Schopenhauer, in: Kategorien der Existenz, FS Wolfgang Janke, hg. Klaus Held und Jochem Hennigsfeld, Würzburg 1994, 3 1 - 6 0 . A.a.O. [Anm. 7], VIII 3 5 4 - 3 5 9 , 372, 376, 361.

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4. Stolz und Eitelkeit bei Nietzsche Nietzsche hat Schopenhauers Unterscheidung von Stolz und Eitelkeit aufgenommen und von Menschliches, Allzumenschliches an auf seine Weise zum Thema gemacht. 29 Er hat sie auf Schopenhauer selbst angewendet, indem er ihn als „nicht stolz genug" kennzeichnet, um „sich gegen seine ausgesprochenen Grundsätze weiter zu entwickeln"; aus Furcht „für seinen Ruhm" habe er „die verhältnißmäßige Unfruchtbarkeit" vorgezogen, um „der Beschämung" zu entgehen, „sich widersprechen zu müssen".30 Im übrigen ist jeder Mensch eitel: „Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so brutaler Form, dass er instinktiv vor ihr das Auge schliesst, um sich nicht verachten zu müssen." 31 Auch Nietzsche stellt als das Kennzeichnende der eitlen Menschen heraus, daß sie „nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst".32 Er arbeitet aber die Dialektik der Selbstwertgebung durch die Meinung Anderer noch differenzierter als Schopenhauer heraus und thematisiert sie, nicht ohne Ambivalenzen, in vielfältigen psychologischen Zusammenhängen. 33 Unterschiedliche Wertakzente setzt er bei der Eitelkeit. Er hebt hervor, daß „das Interesse an sich selbst" bei dem Eitlen „eine solche Höhe" erreichen kann, „dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also den Irrthum herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt". Der Eitle ist dabei aber so wenig stolz auf seine „Einzigkeit", daß es ihm wichtiger ist, daß die Anderen so „gut als möglich" von ihm denken, als daß sie ihn kennen, wie er ist.34 Anfangs geht es Nietzsche noch darum, die Eitelkeit als Aussein auf Selbstgenuß zu verstehen. Als Streben danach bildet sie für ihn noch den Grund für diejeni-

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Vgl. dazu M. Brusotti, Verkehrte Welt und Redlichkeit gegen sich. Rückblicke Nietzsches auf seine frühe Wagneranhängerschaft in den Aufzeichnungen 1 8 8 0 - 1 8 8 1 , in: Centaurengeburten, hg. v. T. Borsche, F. Gerratana, A. Venturelli, Berlin/ N e w York 1994, 435ff., hier insb.: 437 (Anm. 5). Nachlaß Frühjahr 1880, 3[42] ; KGW V 1, 388. Menschliches, Allzumenschliches II, Meinungen 38; KGW IV 3, 34. Menschliches, Allzumenschliches I 89; KGW IV 2, 86. Um einige Beispiele anzuführen, sei hingewiesen auf: die gespielte Hartherzigkeit aus Eitelkeit: Menschliches, Allzumenschliches II, Meinungen 64; oder, ohne Verwendung dieses Wortes, das geheuchelte Mitleiden, a.a.O., Meinungen 59; oder auf Schmeichelei und Scham: Nachlaß 1880, KGW V 1, 2[34]. - Zum Stolz vgl. a.a.O., 2[28], 3[228], Nachlaß Frühjahr 1880, 3[59]; KGW V 1, 393.

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gen Verhaltensweisen, in denen Kant nichts als die Narrheit der Hochmütigen fand. „Nur um die Freude an sich selber" zu haben, können sie gegen ihren Vorteil geneigt sein, „ihre Mitmenschen ungünstig, feindlich, also schädlich gegen sich zu stimmen". 35 Der Selbstgenuß der Eitlen kann bis zum Arrangement von „angeblichen Eigenschaften" führen, die sie sich von Anderen zusprechen lassen: zum Zwecke der Selbsttäuschung. Eigene „Originalität" kann in diesem Falle durchaus vorhanden sein, sie wird in der Eitelkeit aber nicht gezeigt. Diese ist, als „Furcht, original zu erscheinen", ein „Mangel an Stolz"; der Stolz brauchte das Selbst nicht zu verbergen. 36 Nietzsches „Ideal" ist allerdings „ein gemilderter und verkleideter Stolz", der die „Unabhängigkeit" von den Meinungen Anderer nicht herauskehrt, der sogar „den Spott aushält".37 Die meisten Menschen, mögen sie sich für Egoisten halten oder nicht, tun „ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat". 38 Als „Haut der Seele" umhüllt die Eitelkeit auch die Leidenschaften des Menschen und macht ihren Anblick erträglich. 39 Solche Betrachtungen haben bei Nietzsche keine nur beiläufige Bedeutung, sie erwachsen im Zusammenhang wesentlicher Auseinandersetzungen aus einem Geflecht komplexer psychologischer und historischer Analysen. 40 Die Furcht des Eitlen hat Nietzsche schon 1876/77 noch elementarer zu verstehen gesucht: In ihr drücke sich die „Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht" aus, welche zu überwinden das „Hauptelement des Ehrgeizes" sei. „Unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen" erkläre sich aus 35 36 37

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Menschliches, Allzumenschliches 189; KGW IV 2, 86. - Zu Kant vgl. Anm. 26. Morgenröthe 385, 365; KGW V 1, 251, 245. Nachlaß Ende 1880, 7[95]; KGW V 1, 666f. - Vgl. Nachlaß Winter 1 8 8 0 - 1 8 8 1 , 8 [60]; KGW V 1, 725: „Und wehe mir, wenn etwas Lächerliches an mir genügt, um mir meine eigene Achtung vor mir zu nehmen! Dies aber geschieht bei den Eiteln, die sich vernichten möchten, nach einem Etikettefehler." Morgenröthe 105; KGW V 1, 90f. Menschliches, Allzumenschliches 182; KGW IV 2, 64. Zur systematischen Bedeutung der Eitelkeit bei Nietzsche vgl. Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, 128f. - Nietzsches Verständnis von Wagners Eitelkeit im Nachlaß von 1880/81 faßt Brusotti wie folgt zusammen: „Wagner betrügt seine Mitmenschen, um sich selbst zu belügen, und belügt sich selbst, um an sich selbst glauben zu können." (A.a.O. [Anm. 29] 437) Erhellend sind seine Hinweise auf Nietzsches Gegenüberstellung von Wagners Schauspielerei mit der Napoleons. Dieser ist ehrlich sich selbst gegenüber, er „heuchelt" Eitelkeit, „sie ist bei ihm nur ein Mittel zur politischen Macht". (439, vgl. 459)

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unserem Bedürfnis, zum Gefühl von Macht zu kommen. 41 Dieses Gefühl wird von Nietzsche im Sommer 1880 nach mannigfachen Hinsichten erörtert, oft in Relation zu seinem negativen Komplement, eben der Furcht. Die Bedeutung der Eitelkeit wird dabei darauf beschränkt, einen „Umweg" darzustellen, auf dem man sich seine Macht „von außen her [...] beweisen lassen" kann. Man glaubt von sich selbst her nicht an sie, folglich bedarf es zu ihrem ,Beweis' der Bewegung über die Furcht, der „Unterordnung unter das Urtheil der Anderen". 42 Soweit Nietzsche das durch Vorstellungen erzeugte Gefühl von Macht erörtert, kann die Differenz zu Schopenhauer noch unbeträchtlich erscheinen.43 Aber seine Bemühungen gehen in die diesem entgegengesetzte Richtung. Nicht will er den Schein in jenem Gefühl nur durchschauen, um letztlich gar im Nirwana die Erlösung zu suchen. Er fragt vielmehr: „Wie kann das Gefühl von Macht [...] immer mehr substantiell und nicht illusionär gemacht werden?" 44 Ohnehin sind Vorstellungen nach Nietzsche nicht auf ein An-sich zu beziehen wie in unterschiedlicher Weise bei Kant und Schopenhauer. Fällt schließlich in seiner Welt des Werdens die Differenz von Sein und Schein dahin, so darf auch der Eitelkeit ein positiver Sinn zugesprochen werden - wie ohnehin dem Stolz.45 Weil diese für Nietzsche nicht bloß ,nichtig' ist, weist er auch als Bedeutungsvermengung zurück, was nach Schopenhauer in diesem Wort 41

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Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23[63]; KGW IV 2, 521. - Nietzsche stellt hier „Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv)" gegenüber, wobei letztere Bestimmung noch nicht terminologisch verwendet wird. - Zum Gefühl der Macht vgl. Freiheit und Wille, Exkurs 4, in: Nietzsche-Interpretationen II, S. 1 2 5 - 1 2 9 . [Vgl. inzwischen ferner: V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York, 1996, 8 - 1 6 6 . M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbes. 6 4 - 1 0 2 . ] Nachlaß Sommer 1880, 4[196]; KGW V 1, 479. „Die Blase der eingebildeten Macht platzt: dies ist das Cardinalereigniß im Leben. [...] Dann will man Trost d.h. eine neue Blase." (Nachlaß Sommer 1880, 4[199]; KGW V 1, 479) Schopenhauer hätte in seiner ,Eudämonologie' auch das „Trostmittel" anerkennen können: „mehr zu ertragen haben als alle anderen, das giebt ein Gefühl von Vorrecht, von Macht." (a.a.O., 4[215]; KGW V 1, 484) Seine relative Rechtfertigung des Stolzes hätte freilich die heroischen Züge, die bei Nietzsche auch hier im Hintergrund stehen, ausgeschlossen. Nachlaß Sommer 1880, 4[216]; KGW V 1, 484. Vgl. z.B. Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 34; KGW IV 3, 205f.

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sachgerecht zusammenfließt. Nach Nietzsche ist das Geltenwollen alles andere als vanitas: „Für alles Handeln in Bezug auf die Gesellschaft" zählt mehr „Das, was wir gelten", als „Das, was wir sind"'. Die Eitelkeit sei deshalb „eines der vollsten und inhaltsreichsten Dinge", als kulturbildender Faktor stelle sie „etwas Grosses" dar.46 Nietzsche hat - im Unterschied zu dem typologisierend verfahrenden Schopenhauer - die erörterten Bestimmungen genealogisch zu entwickeln gesucht: Die Eitelkeit habe ihren Ursprung in der Erfahrung, daß der Mensch das, was „ihn trägt oder niederwirft", nicht in dem hat, „was er ist", sondern in dem, „was er gilt". Ihre Ausprägung stellt einen bedeutenden Machtfaktor dar. So bildete die Herbeiführung von „Furchtzuwachs" bei den Schwächeren ein Mittel der Stärkeren, um den Glauben an ihre Macht zu vergrößern. Jene mußten bemüht sein, sich bei diesen Geltung und Anerkennung zu erwerben. Ihr Wert im Bewußtsein der Starken wurde wichtiger als die „Befriedigung", die sie für sich selbst suchten. Ihnen kam es in größerem Maße noch auf die Mehrung des Glaubens an Macht an, für die - im Unterschied zur Machtmehrung selber - List, Hinterhältigkeit und damit „Geist" nötig ist. In solchen Fällen „wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist". Im Urzustand war deren Ausbildung das stärkste Selbsterhaltungsmittel der Schwächeren. Nietzsche nennt sie daher „die grosse Nützlichkeit". Diese bleibt auch in den „abgeschwächtesten Formen" der Eitelkeit, in „Sublimirungen und kleinen Dosen" in der Moderne erhalten.47 Ihre Beseitigung ist weder möglich noch auch wünschenswert. Piatos Auffassung z.B., auf die sich die Sozialisten berufen, daß mit der Aufhebung des Besitzes die Selbstsucht zum Verschwinden zu bringen sei, beruht nach Nietzsche „auf einer mangelhaften Kenntniss des Menschen". Die „guten nützlichen Eigenschaften" seiner Seele sind auf Eitelkeit und Selbstsucht angewiesen-. „Die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände."48 Doch diese Gefahr besteht so wenig, daß er jene als „das mensch

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Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 6 0 ; KGW IV 3, 217. - Dazu, wie durch sie der menschlichen Geist bereichert wird, vgl. Menschliches, Allzumenschliches I 79; KGW IV 2, 82f.

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Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 181; KGW IV 3, 267. - Vgl. auch Menschliches, Allzumenschliches I 105; KGW IV 2, 100. Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 2 8 5 ; KGW IV 3, 317ff. - „Wenn kein Eigenthum, dann fehlt die Wurzel der Selbstsucht - falsch! gegen Plato", notiert Nietzsche in diesem Zusammenhang (Nachbericht; KGW IV 4 , 3 4 8 ) . - Im zitierten Aphorismus heißt es noch, damit solle „nicht von ferne gesagt sein", daß die

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liehe ,Ding an sich'" bezeichnen kann, womit er nicht auf ein An-sich-sein anspielt, sondern auf ihre ,Unbesiegbarkeit', d.h. ihre Unüberwindlichkeit.49

5. Die wetteifernde Eitelkeit bei Kant. Das Prinzip des Gleichgewichts bei Kant und Nietzsche Vom Nutzen der Eitelkeit kann bei Schopenhauer im Unterschied zu Nietzsche keine Rede sein: Eine voranschreitende Kulturentwicklung kann es ihm zufolge nicht geben, die Künste sind ohnehin auf die Ideen als auf zeitlose Willensobjektivationen bezogen. Ihm geht es allein um die Dämpfung der Eitelkeit, - da sie sich, als zur menschlichen Natur gehörig, nicht ausrotten läßt. Stirbt sie doch noch beim Heiligen, in dem sich die Weltverneinung auf vollkommenste Weise vollziehen soll, erst ganz zuletzt. 50 Angesichts des grenzenlosen Egoismus, der „fast in jeder Menschenbrust nistet", kann es ihm zufolge in der Geschichte nur darum gehen, die „Millionen so beschaffener Individuen" in gesetzlicher Ordnung zu halten.51 Kants Blick auf die „Weltbühne" der Geschichte bietet zunächst eine kaum weniger pessimistische Sicht. „Bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen" findet man „doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt". Im „widersinnigen Gange menschlicher Geschichte" scheint

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menschlichen Tugenden „nur Namen und Masken" von Eitelkeit und Selbstsucht seien. Nietzsche glaubt schon längst nicht mehr an „eine radicale Verschiedenheit der guten und bösen Menschen, der guten und schlechten Eigenschaften" (ebd., 319). In Jenseits von Gut und Böse (Aph. 2; KGW VI 2, lOf.) zählt er die Meinung (grundlegender) Gegensätze der Werte unter die Vorurteile der Metaphysiken Der Auffassung, daß „die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze" entspringen kann, hält er entgegen, daß der Wert des Guten und Verehrten mit den „schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich" ist. Das „Vielleicht", unter welches Nietzsche diese und andere Erörterungen in Jenseits von Gut und Böse stellt, ist stilistischer Art und drückt keinen Vorbehalt in der Sache aus. Es ist aus der Perspektive der freien Geister gesagt, welche den ,Philosophen der Zukunft' vorarbeiten. Menschliches, Allzumenschliches II, Meinungen 46; KGW IV 3, 36. A.a.O. [Anm. 9], II 484. - A.a.O. [Anm. 7] I, VIII 392, zitiert Schopenhauer Tacitus, hist. IV, 6: „Etiam sapientibus cupido gloriae novissima exuitur." Parerga II, Zur Rechtslehre und Politik, 271, IX 274-276.

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„eine zwecklos spielende Natur" am Werke zu sein; „das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft". Doch dies gilt nur, wenn die verborgenen Naturabsicht unberücksichtigt bleibt, die in der Entwicklung der Anlagen aller Geschöpfe am Werke ist.52 In der menschlichen Gesellschaft wird sie durch den Wetteifer zwischen den Individuen vorangetrieben, der in Wahrheit ein Mittel der Natur ist, die Menschen zu kultivieren. Die ungesellige Geselligkeit, unter welcher Bezeichnung Kant die beiden Charaktere von Selbstbezogenheit des Einzelnen und seiner Verbundenheit mit den anderen zusammenfaßt, hat die Menschen durch den beständigen Antagonismus in der Gesellschaft aus dem rohen Naturzustand heraus zur Zivilisation geführt. Die moralphilosophisch als Laster gegeißelte Ehrsucht wird gemeinsam mit der Herrschsucht und der Habsucht als eine Kraft des Menschen gepriesen, mittels derer dieser „die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur" gegangen sei. „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen!", ruft Kant aus. Der durchgängige Widerstand in der Gesellschaft ist.zwar die Quelle vieler Übel, die jedoch „auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zur mehreren Entwicklung der Naturanlagen antreiben". 53 Solcher Lobpreis bedarf des Aufweises seiner Vereinbarkeit mit der moralphilosophischen Einstufung der genannten Eigenschaften als Laster. Dafür ist Kants Religionsschrift heranzuziehen. In ihr handelt er von der „zwar physischen, aber doch vergleichenden Selbstliebe", derzufolge jeder Mensch darauf aus ist, „keinem über sich Überlegenheit zu verstatten", worin die „beständige Besorgnis" steckt, die Anderen strebten danach. Diese Besorgnis läßt „nachgerade eine ungerechte Begierde" entspringen, Überlegenheit über andere zu erwerben, worauf vielerlei Laster „gepfropft" werden können. Die Formulierung schon macht deutlich, daß Kant die vergleichende Selbstliebe nicht per se als moralwidrig ansehen möchte. In der Tat zählt er sie zu den ursprünglichen und notwendig gegebenen „Anlagen zum Guten" in der menschlichen Natur und stellt sie unter dem Namen der Anlage für die Menschheit zwischen die Anlagen für die Tierheit und für die sittliche Persönlichkeit. Die demgemäß „aus der Natur" stammende Neigung, „sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen", sieht er als ursprünglich nur auf „Gleichheit" gerichtet an. Diese ,gute' Intention wird Kant zufolge schon verkehrt, wenn aus der Besorgnis um Ver52 53

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, VI, A 387f. A.a.O. [Anm. 52], Vierter Satz, A 3 9 2 - 3 9 4 .

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letzung der Gleichheit, der eigenen Sicherheit wegen, „als Vorbauungsmittel" Überlegenheit über andere erstrebt wird. Freilich bleibt die Spannung zwischen Kants letztlich moralphilosophisch begründetem Gleichheitsanspruch und den Neigungen der Selbstliebe unaufgehoben. Wenn er auch in der Religionsschrift die Idee des „Wetteifers" der Individuen „als Triebfeder zur Kultur" der ,guten' Naturabsicht zuschreibt, so fragt sich doch, ob er die in ihr wirksame praktische Vernunft nicht nur als bedingte von der unbedingten (moralischen) philosophisch separieren, sondern auch mit dieser versöhnen kann. Der genannte Wetteifer soll „an sich" die moralisch verstandene „Wechselliebe" nicht ausschließen. Läßt sich aber eine eindeutige Grenze ziehen, an welcher der Wetteifer zur »ungerechten Begierde' wird?54 Kants geschichtsphilosophische Idee stellt den Versuch einer Problemlösung dar. Der Zweck der Geschichte besteht ihr zufolge in der vollständigen Entwicklung aller Anlagen der Menschheit. Diese kann sich „nur in der Gattung, nicht aber im Individuum" vollziehen.55 Gattung bezeichnet hier nicht einen logischen Oberbegriff, sondern „das Ganze einer ins Unendliche (Unbestimmbare) gehenden Reihe" von Individuen, in deren „unaufhörlichem Fortschreiten" die Idee vom Ziele Ausdruck findet. 56 Der anfängliche gesetzlose Antagonismus ruft eine erste „pathologisch-abgedrungene Zustimmung" zur Vergesellschaftung hervor. Die Verwandlung der Gesellschaft „in ein moralisches Ganze [s]"57 setzt nun ein Zusammenstimmen der Anlagen der vergleichenden Selbstliebe und der praktischsittlichen Vernunft voraus. Diese - die späteste und schwerste - Aufgabe der Menschengattung läßt sich nicht vollkommen lösen: „Nur die Annäherung zu ihrer Idee ist uns von der Natur auferlegt." 58 Ihrem Zweck dient 54 55

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Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, IV, Β 1 7 - 2 0 . A.a.O. [Anm. 52], Zweiter Satz, A 388f. Zu den komplexen Problemen, die sich aus Kants Einführung des Begriffs einer geschichtlich,zwecktätigen' Natur ergeben, sei verwiesen auf: Friedrich Kaulbach, Welchen Nutzen gibt Kant der Geschichtsphilosophie?, in: Kant-Studien 66 (1975), 6 5 - 8 4 . So Kant gegen Herders Einwand in seiner Rezension des Zweiten Teils von dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, VI, 805f. A.a.O. [Anm. 52], Vierter Satz, A 393. A.a.O. [Anm. 52], Sechster Satz, A 396f. - Kants philosophischer „Chiliasmus" will in der Darlegung solcher idealer Möglichkeiten „nichts weniger als schwärmerisch" sein (a.a.O. [Anm. 52], Achter Satz, A 403f.). Zum Hoffen im Sinne Kants gehört immer das Handeln, ohne das jenes zur bloßen Utopie herabsinken würde. Vgl. dazu Kaulbach, a.a.O. [Anm. 55], 7 8 - 8 4 .

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die Einrichtung einer bürgerlichen Verfassung, welche den Antagonismus zwischen den Menschen nicht aufhebt, sondern ihn bestimmten Rechtsordnungen unterstellt. Die gegenseitige Freiheit der Menschen wird dadurch gesichert, daß sie begrenzt und als begrenzte geschützt wird. Das Bedürfnis nach Sicherheit bestimmt auch die Verhältnisse zwischen den Staaten; es soll diese aus dem gesetzlosen Zustand heraus zu einem Völkerbund drängen. Dabei ist es nötig, „zu dem an sich heilsamen Widerstande vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden, und eine vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck gibt", um zerstörerische Kräfte durch „ein Prinzip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung" an ihrer Entfaltung zu hindern. Auch diese Überlegungen Kants laufen auf die Ermöglichung von Kulturbildung hinaus. Die Kräfte der Staaten sollen durch jenes Gesetz von „gewaltsamen Erweiterungsabsichten" abgezogen und auf die „innere Bildung der Denkungsart ihrer Bürger" gerichtet werden. Dabei ist die „moralisch-gute Gesinnung", die Kant zur Kultur rechnet, entscheidend; das bloß „Sittenähnliche in der Ehrliebe", d.h. die Dominanz der vergleichenden Selbstliebe, gelangt ihr gegenüber nur zu „lauter Schein und schimmernde[m] Elend".59 Auch für Nietzsche bildet das „Princip des Gleichgewichts" die „Basis" von Recht und Gerechtigkeit. 60 Er setzt seine Bedeutung grundlegender an als Kant. Da er in den gesellschaftlichen Antagonismen nicht wie dieser eine Naturabsicht am Werke sieht, welche auf die Entwicklung der menschlichen Anlagen gerichtet ist, findet er den (inzwischen vergessenen) „Ursprung der Gerechtigkeit" in dem auf das faktische Gegeneinander reduzierten Arrangement zwischen „ungefähr gleich Mächtigen".61 Deren ,einsichtiger' Egoismus zog den Interessenausgleich dem Risiko der Selbstschädigung durch Kampf vor, wie dies auch heute noch geschieht. Die Vernunft, die Kant in einen verborgenen Naturplan gelegt finden wollte, wird von Nietzsche als Schätzen oder Meinen62, später als Interpretieren, gänzlich in 59 60

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A.a.O. [Anm. 52], Siebenter Satz, A 3 9 8 - 4 0 3 . Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 22; KGW IV 3, 193ff. - Zum folgenden sei auf die Untersuchung von V. Gerhardt verwiesen: Das ,Prinzip des Gleichgewichts'. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 1 1 1 - 1 3 3 . Menschliches, Allzumenschliches I 92; KGW IV 2, 87f. Nur auf das, von dem die Anderen „meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer

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die Individuen verlagert und somit aufgesplittert. 63 Das Ausbalancieren von Machtverhältnissen erfolgt auf der Grundlage wechselseitiger Wertschätzungen, bei der „eine Art Gleichstellung" auch noch im Verhältnis von Herren zu Sklaven konstituiert bleibt; im Maße, als diese für jene „nützlich und wichtig" sind, genauer: ihnen als wertvoll erscheinen oder sich derart zur Erscheinung bringen, haben sie als Schwächere „noch Rechte", wenn auch „geringere". 64 Die Schätzung des Selbstwertes im Stolz und in der Eitelkeit gehört in die komplexen Machtbeziehungen hinein und ist ihrerseits von diesen abhängig.65 Dementgegen strebt Kants Philosophie durch gesetzmäßige Verfassungen „Ruhe und Sicherheit" an. Eine Gleichstellung in seinem Sinne kann nicht auf „eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung" beruhen, die sich mit anderen Mächten jeweils arrangiert. Vielmehr soll sie von einer übergeordneten Instanz garantiert werden. Denn in welchem Maße die Menschen als vernünftige Geschöpfe auch eine ihre Freiheit einschränkende Gesetzgebung anstreben, so werden sie doch zugleich aus ihrer Selbstsucht heraus dazu verleitet, sich von dieser auszunehmen. Kant führt deshalb die Idee eines gerechten Oberhaupts im Staate ein, bzw. auf der Ebene der zwischenstaatlichen Verhältnisse die eines im Völkerbund vereinigten Willens aus vereinigter Macht. Den Gleichgewichtszustand stellt er hierbei am mechanischen Modell eines sich selbst erhaltenden Automaten vor. Letztlich jedoch, vielleicht „sehr spät, nach vielen vergeblichen Versuchen", kann ein (durch große „Erfahrenheit" vorberei-

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Macht", können sich die Pflichten und Rechte beziehen, die sie uns gegenüber geltend machen. Rechte sind entstanden und entstehen immer „als anerkannte und gewährleistete Machtgrade". (Morgenröthe 112; KGW V 1, 98ff.) - Vgl. Gerhardt, a.a.O. [Anm. 60], 128f. „Nur wenn man die geistige Dimension der Macht in Rechnung stellt, wird man Nietzsches Rechtskonzeption angemessen einschätzen und in ihrem Verhältnis zur sophistisch- machiavellistischen Tradition beurteilen können. Es ist die einsichtige Macht, nicht pure Gewalt, die hier das Recht begründet." (Gerhardt, a.a.O. [Anm. 60], 127) Morgenröthe 93; KGW V 1, 82. - Vgl. dazu Gerhardt, a.a.O. [Anm. 60], 126f. Zu Nietzsches Verständnis von , Gleichheit' im erörterten Zusammenhang gehört die Ungleichheit als bleibende Voraussetzung. Diese konstituiert eine Sphäre des Sich-vergleichen-könnens. Vgl. hierzu auch Menschliches, Allzumenschliches I 92; KGW IV 2, 87f. Vgl. dazu Morgenröthe 104; KGW V 1, 90.

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teter) moralisch guter Wille die Menschengattung zur Annäherung an die Idee der Gerechtigkeit führen. 66 Kant geht davon aus, daß die „mißgünstig wetteifernde Eitelkeit" der Menschen nicht nur Kultur und Kunst, sondern auch „die schönste gesellschaftliche Ordnung" hervorbringen kann, wenn sie nur diszipliniert wird.67 Schopenhauer stellt sich Kants Hoffnung entgegen, daß der aufgeklärte Mensch einen „Herzensanteil" am Guten nehmen müsse.68 Ihm steht nichts ferner als Kants republikanische Vorstellungen, die für ihn Illusionen sind. Mit ihnen sieht er die Gefahr der Ochlokratie heraufziehen, in welcher die in Wahrheit überlegenen Köpfe ohne politischen Einfluß bleiben, sogar unterdrückt und ausgeschlossen werden. Deshalb tritt er für die Monarchie ein als einer „selbst über dem Gesetz und dem Recht stehenden, völlig unverantwortlichen Gewalt, vor der sich alles beugt"; nur so lasse sich „auf die Länge die Menschheit zügeln und regieren". Gehöre doch zum Egoismus der Vielen außer der Bosheit noch die Borniertheit des Kopfes.69 So verrate auch die geschichtlich erwachsene „Notwendigkeit des so ängstlich bewachten Europäischen Gleichgewichts" in seiner Zeit nichts anderes, als „daß der Mensch ein Raubthier ist, welches, sobald es einen Schwächeren neben sich erspäht hat, unfehlbar über ihn herfällt".70 Er hat die ärgsten menschlichen Eigenschaften (und allein sie) im Blick, - Kant ihre weniger argen, und diese im Hinblick auf ihre ,guten' Effekte.

6. Der Antagonismus der Menschen bei Nietzsche Kants Geschichtsphilosophie ist von Schopenhauer überhaupt nicht und von Nietzsche nur in ihrer Bezugnahme auf die Französische Revolution im

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A.a.O. [Anm. 52], Sechster und Siebenter Satz, A 3 9 7 - 4 0 3 . A.a.O. [Anm. 52], Vierter und Fünfter Satz, A 3 9 3 - 3 9 6 . - Dabei übersieht Kant nicht, daß die „Ausbildung zu unserer höheren Bestimmung", welche der Zweck der Natur ist, mit der Überwindung der Rohigkeit unserer anfänglichen Neigungen auch ein Übergewicht der zivilisatorischen Übel mit sich bringt. So schüttet „die Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben, und selbst der Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit" eine „unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigungen über uns" aus. (Kritik der Urteilskraft, V, Β 394f.) A.a.O. [Anm. 52], Achter Satz, A 406. A.a.O. [Anm. 31] II, Zur Rechtslehre und Politik, § 127, IX 2 7 4 - 2 7 7 . A.a.O. [Anm. 31] II, Zur Ethik, IX 232.

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Streit der Fakultäten berücksichtigt worden, Nietzsche folgert aus ihr, daß Kant „in der Geschichte nichts anderes als eine moralische Bewegung" sehe. 71 Weil damit die wirklichen geschichtlichen Triebkräfte verborgen werden, ist Kants Denken für Nietzsche sogar „absolut widerhistorisch".72 Man kann fragen, ob er dieses Urteil gemildert hätte, wenn er Kants positive Bewertung der Begierden der Unvertragsamkeit für die Kulturentwicklung zur Kenntnis genommen hätte. Beipflichten können hätte er diesem darin, daß überall der Antagonismus nötig und förderlich sei, „damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen" und der „Hang zur Faulheit" durch die Triebe von „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht" überwunden werde, mittels derer man sich „einen Rang unter seinen Mitgenossen" verschafft. 73 Aber in der Bändigung dieser Triebe durch die Moral wie auch in der verborgenen Führung ihrer Entwicklung durch eine vernünftige Natur hätte er einmal mehr jene ,Vorurteile' der abendländischen Philosophie am Werke gesehen, die er zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat. Ohnehin hat der späte Nietzsche in Kant vor allem den „Moral-Fanatiker" aus „Theologen-Instinkt" gesehen. 74 Seine genealogischen Ableitungen lösen 71

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Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7[4); KGW VIII 1, 276. - Freilich rnuß man die „Begebenheit" nach Kant als „Geschichtszeichen" ansehen, welches auf die moralische „Denkungsart der Zuschauer" bei dieser „Erfahrung im Menschengeschlechte" hindeutet, und zwar als ein „Phänomen in der Menschengeschichte", das sich nicht mehr vergißt (Der Streit der Facultäten, VI, A 141 -149). So problematisch diese Inanspruchnahme der Revolution auch ist, Nietzsche verkehrt den Gedanken Kants, wenn er ihm unterstellt, er habe in ihr „den Übergang aus der unorganischen Form des Staates in die organische gesehn" und damit „Ein-für-alle Mal ,die Tendenz der Menschheit zum Guten"' zu beweisen beansprucht {Der Antichrist, 11). Vgl. hierzu Urs Marti,,Der grosse Pöbel- und SklavenaufstandNietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart/Weimar 1993, 2 6 - 5 5 , insb. 4 8 - 5 2 . Nachlaß Herbst 1887, 10[118]; KGW VIII 2, 190f. A.a.O. [Anm. 52], Siebenter Satz, A 402; Vierter Satz, A 393f. Vgl. z.B. Nachlaß Herbst 1887, 9[178]; KGW VIII 2, 106; Nachlaß ebd., 10[11], 10[118]; KGW VIII „2, 126, 190f.; Der Antichrist 11; KGW VI 3, 175f. Ungeachtet der polemischen Überzeichnungen kommt darin das für Nietzsches Sichtweise Charakteristische zum Ausdruck. Aber er unterliegt dabei auch fundamentalen Mißverständnissen. Schon früher hat er ausgeführt, Kant habe den „Glauben", „das Unegoistische" sei „das Kennzeichen des Moralischen", von den „pessimistischen Religionen" übernommen. (Nachlaß Ende 1876-Sommer 1877, 23[77]; KGW IV 2, 524f.) Zehn Jahre später noch bestehen für ihn die „Räthsel" der „moralischen Phänomene" in der Forderung nach selbstlosem Handeln, die er zu Unrecht von Kant vertreten findet. Er fragt: „Was bedeutet es, daß für mich das

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alles vermeintlich ,Feste' in Prozesse des Werdens auf. Das gilt auch für die angebliche Autorität, die im moralischen Sollen redet. Ihre wahre Herkunft findet Nietzsche nicht in Gott, nicht in „einem »kategorischen Imperativ'", nicht in einer Vernunft-Metaphysik, sondern im ,Jieerden-Instinkt", also in der „Tier-Physiologie".75 Nicht soll die Menschengattung ein ihr vorgegebenes Ziel anstreben wie nach Kant, sondern allein die Hervorbringung großer Einzelner kann ein Ziel werden, für das Nietzsche sogar bereit ist, „die Entwicklung der Menschheit zu opfern". Dabei will er die Herdenmoral (zu der er Kants Lehre zählt) nicht aufheben: „Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, - aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eigenen Handlungen, ingleichen die Unabhängigen, oder die ,Raubthiere' usw."76 Wenn Nietzsche den Antagonismus der Menschen von allen überkommenen Einbettungen in übergeordnete Sinnzusammenhänge freisetzt, ihn gewissermaßen emanzipiert, so drehen sich seine auf „Rangordnung" gerichteten Überlegungen „nicht um den Grad von Freiheit" in den Verhältnissen zwischen den Menschen, „sondern um den Grad von Macht". Der Grundtrieb des Willens zur Macht ist so elementar, daß Nietzsche das Sollen der Moral als „abgeschmackt, sinnfällig verrückt" erscheint. Diesem zufolge stehen wir als gleich da, „während wir Alle nach Auszeichnung dürsten".77 In seinen Bemühungen, das ,Röthsel" von Moral und Gleichheit zu lösen,78 zieht Nietzsche erneut die Phänomene von Stolz und Eitelkeit heran. Die wachsende Bedeutung, die er vom Zarathustra

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Wohl des Nächsten höheren Werth haben soll als mein eigenes? Daß aber der Nächste selbst den Werth seines Wohls anders schätzen soll als ich, nämlich demselben gerade mein Wohl überordnen soll?" (Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[6]; KGW VIII 1, 289f.) Solche Fragen verfehlen schon im Ansatz Kants Moralphilosophie. Nachlaß Ende 1 8 8 6 - Frühjahr 1887, 7[6]; KGW VIII 1, 287. - Zwar hätte Nietzsche aus Kants Idee eine gedankliche Nähe zum ersten seiner zwei Sätze über ,Moral als Werk der Unmoralität" herauslesen können: „Damit moralische Werthe zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen"; mit dem zweiten steht er jedoch in radikalem Widerspruch zu Kant: „Die Entstehung moralischer Werthe selbst ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten." (Nachlaß a.a.O., 284) Nachlaß ebd.; KGW VIII 1, 288f. A.a.O., 286f. - Zum Streben nach Auszeichnung vgl. schon Morgenröthe 113; KGW V 1, 1 0 0 - 1 0 2 . Vgl. dazu W. Kaufmann, Nietzsche, (übers, v. J. Salaquarda) Darmstadt 1982, 2 2 7 - 2 2 9 . Nachlaß a.a.O., 290, vgl. 289.

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an den großen Menschen als den Mächtigen und Herrschenden zuspricht, führt auch dazu, daß er den Wertgegensatz jener Phänomene in jenseits von Gut und Böse schroffer herausstellt als in den Jahren von 1876 bis 1880. Nun gilt, daß die Eitelkeit zu den „Dingen" gehört, die von einem stolzen, d.h. „einem vornehmen Menschen am schwersten zu begreifen sind". Der Stolze wird sie „noch dort leugnen, wo eine andere Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben - und also auch nicht »verdienen' und die doch hinterdrein an diese Meinung selber glauben". Nietzsche orientiert sich damit nach wie vor an der von Schopenhauer beschriebenen ,Bewegung' der Eitelkeit von ,außen' nach ,innen'. Der Vornehme wird freilich nach Nietzsche geneigt sein, die Eitelkeit „als Ausnahme" zu fassen. Genealogische Betrachtung kann ihren Atavismus herausarbeiten. Er besteht darin, daß auch der gegenwärtige „gewöhnliche Mensch" in seinem Selbstverständnis von ihr dergestalt geprägt bleibt, daß er „auch jetzt noch immer auf eine Meinung über sich wartet und sich dann derselben instinktiv unterwirft".79

7.,Individualismus' als Wille zur Gleichheit bei Nietzsche Nun verstehe er endlich, notiert Nietzsche 1885, wie die beiden Züge zusammengehören, die den modernen Europäer kennzeichen: „die Forderung gleicher Rechte" für alle und „das Individualistische", welches jener „scheinbar entgegengesetzt" ist. Dieses scheint auf Separierung und auf Abhebung von den Anderen zu weisen, die Forderung nach Gleichheit stellt sich als Ausdruck der Aufhebung von Distanzen dar.80 Doch sei das moderne Individuum „eine 79

Jenseits von Gut und Böse 2 6 1 ; KGW VI 2, 2 2 2 - 2 2 4 . - Freilich läßt sich deshalb die Eitelkeit nicht aufheben. Wenn sich die Erkennenden von schönen Worten wie „Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit", gar wie „Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen" verführen lassen, so fällt das, was ihren „Stolz schwellen macht", mit ihrer „unbewussten menschlichen Eitelkeit" zusammen. (Jenseits von Gut und Böse 2 3 0 ; KGW VI 2, 175) Nietzsche übt hiermit zugleich Selbstkritik an seiner früheren, insbes. in Morgenröthe vertretenen Haltung.

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Nachlaß August-September 1885, 40[26]; KGW VII 3, 374f. - Die nachstehenden Ausführungen zu Nietzsches Genealogie des Individualismus lassen in mancher Hinsicht an die Entwicklung des Selbstbewußtseins in Hegels Phänomenologie des Geistes oder an Sartres Ausarbeitung des Für-Andere-seins in L'etre et le neant

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äußerst verwundbare Eitelkeit": das Bewußtsein seines schnell eintretenden Leidens verlange, „daß jeder Andere ihm gleichgestellt gilt".81 Seine große Verletzlichkeit zeigt sich etwa darin, daß ihm schon die Vorstellung des grausamen Leiden-machens älterer Zeiten unerträglich ist.82 Ihm sind schon Distanzen innerhalb der Gesellschaft schwer erträglich. Im daraus abgeleiteten ,Individualismus' wendet sich die Eitelkeit gegen jedes wesentliche Anderssein.83 Die im Begriff des Individualistischen anklingende Besonderung beschränkt sich „heute" auf „ein Herausstreichen der kleinen Verdienste [...] wie niemals noch". Die scheinbar grenzenlose „Billigkeit" hält sich dabei im Rahmen nivellierter Standards. Ausgegrenzt werden nicht „die Tyrannen und Volksschmeichler" (die ja dem Gleichheits-Individualismus das Wort reden), sondern „die vornehmen Menschen", welche von den Vielen nichts wissen wollen. „Die ganz großen Menschen" werden vom „Individual-Princip" im genannten Sinne ohnehin abgelehnt. Der „Stolz" der Vornehmen will im Unterschied zu den ,Individualisten' nur „wenige Schätzer", wofür diese, die sich anmaßen, „über Alles und Jeden zu Gericht sitzen zu dürfen", kein Verständnis haben. Ihre Eitelkeit strebt nach dem „Massen-Erfolg". Im geschilderten Individualismus ist der „Wille zur Gleichheit" am Werke, der nicht nur „gegen Alles, was Macht hat", gerichtet ist,84 sondern schließlich auch gegen die Ausnahmen, die sich der Gleichsetzung nicht fügen. Insofern

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denken. Ein Vergleich der Ansätze wäre reizvoll, auch wenn auf der Seite Nietzsches eine systematische' Ausarbeitung der Problematik fehlt. Nachlaß 1885, ebd. - Zur geschwächten Persönlichkeit des modernen Menschen vgl. z.B. schon Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung 5; KGW III 1, 275ff. - Von „unserm, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen, Selbstgefühl", das „allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen" zugrunde liege, hat auch Schopenhauer gesprochen (a.a.O. [Anm. 7] I, VIII 390). Nachlaß August-September 1885, ebd. - Vgl. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 6, KGW VI 2, 3 1 6 - 3 1 8 . Mit dem Individualismus ist „eine gesellschaftliche Rasse charakterisirt, in welcher thatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn". (Nachlaß, ebd.) Also sprach Zarathustra II, Von den Taranteln, KGW VI 1, 125. - Die „Gleichheit der Menschen" ist für Nietzsche der sehr fragwürdige moralische ,J(anon" der den „Moralen Kants, Schopenhauers", von diesen unbemerkt, zugrunde liegt (Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 4 3 7 ] ; KGW VII 2, 124). - Zur Gleichheit der Rechte nach Schopenhauer vgl. a.a.O. [Anm. 31], IX: Zur Rechtslehre und Politik. Er leitet sie daraus ab, daß „in Jedem der selbe Wille zum Leben, auf der gleichen Stufe seiner Objektivation, sich darstellt" (ebd., 262f.).

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ist er selber Machtwille, mag er sich dies auch verbergen. 85 Anfangs ist der Individualismus, wie Nietzsche 1887 notiert, „eine bescheidene und noch unbewußte Art des,Willens zur Macht'", weil durch ihn der Einzelne lediglich von einer gesellschaftlichen (z.B. staatlichen oder kirchlichen) Ubermacht „freizukommen" sucht. Als bloß Einzelner realisiert er sich dabei in einer sehr begrenzten Gestalt von Individualität: nicht als Person, sondern nur als allgemeiner Einzelner, der sich als gleich" ansetzt „mit jedem Einzelnen". Er steht für „alle Einzelnen gegen die Gesammtheit". Im Kampf um gleiche Rechte bedarf der Einzelne möglichst vieler Anderer als Einzelner, um Macht zu gewinnen. Die Gesellschaft ist aber für ihn (mag er sich auch darüber hinwegtäuschen) in Wahrheit nicht Zweck, sondern nur das,Mittel zur Ermöglichung vieler Einzelnen". Demgemäß ist der Sozialismus, der aus dieser Bewegung hervorgeht, für Nietzsche „bloß ein Agitationsmittel des Individualisten".86 Die individualistische .Eitelkeit' strebt jedoch nur solange nach ,gleichen Rechten', bis „eine gewisse Unabhängigkeit" erreicht ist. Dann tritt „die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne Weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seines Gleichen, - er hebt Andere von sich ab". Der Individualismus der Gleichsetzung geht in die Bildung von Gruppen über, welche Vorrechte für sich durchzusetzen suchen. Immer geht es dabei um Macht, in welcher Komplexität (und in welchen Formen von Verschleierung) die diesbezüglichen Prozesse sich auch abspielen mögen. Noch die Annäherungen der Einzelnen (z.B. im arbeitsteiligen Leistungszusammenhang) lassen das Streben nach Auszeichnung und damit nach Ubergewicht bestehen: „Der Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem." Nietzsche resümiert: „Man will Freiheit, so lange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Ubermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man ,Gerechtigkeit' d.h. gleiche Macht".*7 85

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Nietzsche stellt Arten des Willens zur Macht" in der,individualistischen' Moralität zusammen, in denen sich dieser maskiert·. Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7[6]; KGW VIII 1, 282ff. Nachlaß Herbst 1887,10[82]; KGW Vm 2,169L - Pocht der Sozialismus im ,tfaßgegen den Egoismus" auf den Altruismus, so hat er den Egoismus der Anderen im Visier. Doch der Altruismus ist „eine spezifische Form des Egoismus", wie der Sozialismus eine Form des Individualimus darstellt. (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[29], KGW VIII 3, 24f.) Nachlaß ebd. - Nietzsches Entfaltung des Individualismus der Gleichsetzung' orientiert sich nicht an konstanten anthropologischen Strukturen. Auf Heideggers Ausführungen in Sein und Zeit sei als ein Beispiel für eine solche Orientierung hingewiesen. Hier ist das alltägliche Selbstsein als durch „die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen" konstituiert dargestellt, „sei es auch nur, um den Unter-

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Für Nietzsche fallen „die individualistische und die collektivistische Moral" zusammen in das, wogegen sich seine Philosophie richtet: „denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem Einen die gleiche Freiheit geben wie allen".88 Schon früher hat er - wie im Sozialismus so auch im Nationalismus - „eine Reaktion" gegen ein weitergehendes „Individuellwerden" gefunden: durch sie soll das .halbreife ego' „wieder unter die Glocke" gestellt werden:89 die des Individualismus', in welchem der Einzelne bloßer Einzelner bleibt. Von der Vielheit der »gleichen' Einzelnen, die dabei erstrebt wird, hebt Nietzsche ab, was er als Gestalt einer von ihm geschätzten Besonderung früherer Zeiten „das verschwundene Individuum" nennt. Dieses ist dem „Individual-Princip" der Moderne zunehmend fremd oder sogar unverständlich geworden. Zu jenem Verschwundenen gehörte „das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen". In ihm bestand „die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher". Nietzsche nennt als Beispiele hierfür das Sich-einordnen in die Polis (das „Stadt-sein"), im Jesuitismus, schied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein - gegen die Anderen zurückbleibend - im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten". Heidegger kennzeichnet das menschliche Dasein durch den Charakter der Abständigkeit zu den Anderen. Die „Diktatur" des (unauffälligen) „Man" nimmt dem ,einzelnen' Dasein die Verantwortlichkeit zugunsten der ,J)urchschnittlichkeit" ab, „wacht über jede sich vordrängende Ausnahme" und hält jeden sich aus einer solchen ergebenden Vorrang nieder. (HGA 2,168f.) Die von Nietzsche beschriebenen ontischen Vorgänge finden sich bei Heidegger auf ein ontologisches Fundament gestellt. Die Uneigentlichkeit des Man gehört nach Sein und Zeit wesenhaft zum Dasein; ihre Modifikabilität zur Eigentlichkeit des Existierens im Vorlaufen zum Tode ist ebenfalls in der Struktur des Daseins vorgezeichnet. - Nietzsche liegt jede Ausarbeitung von Wesensstrukturen fern; er müßte auch diejenige des frühen Heidegger als metaphysische Hypostasierung ansehen, ihren formalen Charakter und ihren übergeschichtlichen Allgemeinheitsanspruch auf irrtümliche Fest-stellungen zurückführen und genealogisch auflösen. In der Beschreibung des ontisch-Phänomenalen finden sich desungeachtet nicht wenige Gemeinsamkeiten der beiden Philosophen. 88

Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, 7[6]; KGW VIII 1, 288. - Die allgemeine Moral ist für Nietzsche das Hauptmittel des Kampfes, den der ,Individualismus' gegen ein .wahrhaftes' Individuellerwerden des Menschen führt. Sie soll die Mittelmäßigen gegen .Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnisse" schützen, gegen diejenigen, die ihren „Werth a parte" haben. - Schon früher hat Nietzsche in der Eitelkeit deshalb „ein Quellengebiet" gefunden, „aus dem die mächtigsten Ströme der Moralität hervorgebrochen sind". (Nachlaß August 1 8 7 9 , 4 4 [ 7 ] ; KGW IV 3 , 4 7 0 )

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Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[188]; KGW V 2, 4 1 3 .

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im preußischen Offiziers- und Staatswesen, in der Schülerschaft bei großen Meistern. Die (organische) Einordnung ist hier zugleich Unterordnung, die dem Individualprinzip, das auf gleiche Rechte pocht, entgegengerichtet ist. Für diese Einordnung ist deshalb „der Mangel der kleinen Eitelkeit nöthig".90

8. Nietzsches Verständnis von ,Solitär-Person' im Unterschied zum Personbegriff von Kant und Schopenhauer Erst als Ausnahme - und d.h. für Nietzsche als Person - wird der Einzelne zum sich .wahrhaft4 auf sich selbst stellenden Individuum. Er spricht von der Person als vom solitären Typus, den er vom ,Herdentypus', welcher sich in der beschriebenen Weise am .Allgemeinen' orientiert, schroff abhebt. 91 Die Reifung eines ,Ego' zur Person geschieht selten, sie benötigt „viel Gunst des Zufalls". 92 Im ,Individuellerwerden' der Solitär-Person setzt sich nicht ein Einzelner anderen Einzelnen gleich, noch vereinigt er sich mit solchen in gesellschaftlichen Verbänden gegen andere Gruppierungen. Der Einzelne wird in der Person zum Besonderen, für den die Absonderung von den anderen wesentlich ist. Ihren Charakter als Ausnahme gegenüber den .Zahlreichen' verliert das Individuum deshalb in dem Maße, als es .Recht' abgibt und sich .gleich stellt'. Eine „aristokratische Gesellschaft" von Personen, die Nietzsche der „Herrschaft der Durchschnittlichsten" gegenüberstellt, trägt im Gegensatz zu dieser eine „extreme Spannung" als Voraussetzung in sich, „um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten". 93 Weil die meisten Menschen für Nietzsche nicht Personen im anspruchsvollen Sinne seines Begriffs sind, ist auch der wahre Stolz selten.94 Die Absonderung 90 91

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Nachlaß August-September 1885, 40[26]; KGW VII 3, 374f. Nachlaß Herbst 1887, 10[59, 61]; KGW VIII 2, 157 ff, 159f. - Im Individualismus setzt sich der Einzelne „nicht als Person" in den Gegensatz zur Gesellschaft. (Nachlaß Herbst 1887, 10[82]; KGW VIII 2, 168 f). Nachlaß Herbst 1887, 10[61]; KGW VIII 2, 159. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [140]; KGW VIII2, 307. - Vgl. hierzu den Exkurs am Schluß dieser Abhandlung, S. 170ff. „Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen .Personen' sind. Und dann sind Manche auch mehrere Personen, die Meisten sind keine". (Nachlaß Herbst 1887, 10[59]; KGW VIII 2, 157f.) - Mit der Ausführung, daß höhere Menschen

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vom Allgemeinen, die er damit vollzieht, steht im schroffen Gegensatz zu Kants Verständnis der Person als Zweck an sich. Als dieser soll sie in der systematischen Verknüpfung der Vernunftwesen gemäß dem Ideal des ,Reiches der Zwecke' ihren ,Ort' finden; ihre Würde soll darin bestehen, daß sie keinem Gesetz gehorcht, als dem, das sie sich zugleich ,autonom' selbst gibt.95 Für Nietzsche schließen die Bestimmungen autonom und sittlich einander aus, seine Moralgenealogie zielt auf „das autonome übersittliche Individuum".96 Dementgegen wiederum hat nach Kant jeder Mensch die moralisch begründete „Pflicht der Selbstschätzung", was besagt, niemand darf „der eben so berechtigten Selbstschätzung anderer, als Menschen, entgegen handeln".97 Nietzsche kann in solcher Gleichheit nichts anderes sehen als die moralische Verbrämung jener Gleich-Stellung, in welcher der Mensch sich, seiner verwundbaren Eitelkeit wegen, zum Einzelnen unter zahllosen Einzelnen bestimmt und der von ihm als noch bescheidene Stufe des Willens zur Macht aufgefaßt wird. Der auf das Sittengesetz bezogene edle Stolz des Menschen im Sinne Kants ist nach Nietzsche auf metaphysische Illusionen gegründet. Vor ihm hatte schon Schopenhauer Kants Verständnis der Person als ,,moralische[r] Persönlichkeit", deren Handlungen „einer Zurechnung fähig sind",98 zurückgewiesen, ohne die Zurechenbarkeit selber preiszugeben. Ist für Kant die Person „homo noumenon" und damit „Subjekt einer moralischen praktischen Vernunft",99 so ist sie für Schopenhauer nur Erscheinung eines intelligiblen Charakters,

auch ,mehrere Personen' sein können, schließt Nietzsche jede Annahme einer verfehlten Personen-Einheit aus, auch die Annahme eines personalen Kerns. 95 96

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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Β 65f., 74ff. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh., 2 ; KGW VI 2, 309f. - Schroffer kann Nietzsche den Gegensatz zu Kants Moralphilosophie nicht ausdrücken als durch Sätze wie die folgenden: „Ein tugendhafter Mensch ist schon deshalb eine niedrigere species, weil er keine ,Person' ist, sondern seinen Werth dadurch erhält, einem Schema Mensch gemäß zu sein, das ein-für-alle-Mal aufgestellt ist. Er hat nicht seinen Werth a parte: er kann verglichen werden, er hat seines Gleichen, er soll nicht einzeln sein..." (Nachlaß Herbst 1887, 10[85]; KGW VIII 2, 171) Nietzsche sieht in Kant den Philosophen, der den,Individualismus der Gleichsetzung' gewissermaßen festschreibt. A.a.O. [Anm. 4], A 139f. - Grundsätzlich gilt dabei, daß die Ehrliebe „eine Hochschätzung" ist, „die der Mensch von anderen, wegen seines inneren (moralischen) Werts, erwarten darf" (a.a.O. [Anm. 20], Β 236). Metaphysik der Sitten, Einleitung, Β 22. A.a.O. [Anm. 4], A 93.

168

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

der selber der Wahl des nur ursprünglich freien Willen entsprungen ist. 100 Schopenhauer hat schließlich, auf die Bedeutung des Wortes persona als Schauspielermaske zurückgreifend, die Person in das gesellschaftliche Rollenund Komödienspiel hineingestellt,101 womit er sie ganz in dem Erscheinungswesen von Eitelkeit und Stolz aufgehen läßt. Nietzsche nun hat nicht nur mit Schopenhauer eine moralische Präsenz des Intelligiblen in der Person im Sinne Kants bestritten, sondern zugleich Schopenhauers Behauptung der weltvorgängigen Charakterwahl des Willens, der die determinierte ErscheinungsPerson entspreche.102 Im Wort Erscheinungen findet er metaphysische ,Imaginationen' und macht gegen sie im recht verstandenen Schein „die wirkliche und einzige Realität der Dinge" geltend. 103 Wenn er von Person spricht, so geht er von deren ,Realität' aus (im Gegensatz zu Schopenhauer), schränkt diese jedoch nicht auf deren moralische Bestimmtheit ein (wie Kant). Nietzsche läßt nur noch die lebensimmanenten Konstituentien gelten. Der „asketischen Entselbstungs-Moral" setzt er den „Reichthum an Person" als 100 101 102

103

A.a.O. [Anm. 9], II 363, 440. A.a.O. [Anm. 31] II, Psychologische Bemerkungen, X 638f. So heißt es Nachlaß Sommer-Herbst 1884 (26[86]; KGW VII 2, 170), Schopenhauer habe „sich mit Recht lustig gemacht über Kants ,Zweck an sich',,absolutes Soll' [sc. ,Sollen'], .absoluter Werth' als über Widersprüche: er hätte das ,Ding an sich' hinzuthun sollen." Verbindet Schopenhauer doch mit letzterem sein eigenes Verständnis des intelligiblen Charakters. Nachlaß 1885, KGW VII 3, 40[53]. Mit dem Wort Schein „ist nichts weiter ausgedrückt als seine Unzugänglichkeit für die logischen Prozeduren und Distinktionen" (ebd.). - Zu Nietzsches Verständnis des Scheins vgl. J. Simon, Der gewollte Schein. Zu Nietzsches Begriff der Interpretation, in: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, hrsg. v. M. Djuric und J. Simon, Würzburg 1 9 8 6 , 6 2 - 7 4 . Simon geht Nietzsches Philosophie der Interpretation in Richtung auf eine Philosophie des Zeichens konsequent nach (vgl. auch sein Buch unter diesem Titel, Berlin/New York 1989, hier bes. 13 Iff.). Dabei treten unvermeidlich andere Aspekte von Nietzsches Denken zurück, z.B. die der »Triebe' und des ,Instinktiven'. Simon sucht dem Rechnung zu tragen, wenn er schreibt, Nietzsche setze „noch eine Realität, über die man dann allerdings nichts mehr sagen kann, hinter alle Schemata, in denen man ,etwas' sagen kann und in denen etwas überhaupt als etwas ist oder nicht ist". Er folge darin dem „Schema, in dem der naturwissenschaftliche Realitätsbegriff absolut, d.h. abgelöst von der Sprache der Naturwissenschaften, gilt". (Ein Geflecht praktischer Begriffe. Nietzsches Kritik am Freiheitsbegriff der philosophischen Tradition, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, hg. v. J. Simon, Würzburg 1985,121f.) - Zu Nietzsches Verständnis von Schein vgl. auch W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz: Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, insb. 319ff.

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

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„die Fülle an sich" entgegen, welche „die Verschwendung als Typus" repräsentiert und hierin „die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele".104 Solcher Reichtum erwachse aus dem Willen „zur Accumulation von Kraft", der nicht nur die Lebensprozesse im engeren Sinne bestimme, sondern auch „Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität" zu prägen gestatte. „Die einzige Realität" ist, näher bestimmt, „das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus".105 Wenn Nietzsche sie „von Innen her" bezeichnet, gibt er ihr, ihrer „unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur" ungeachtet, den Namen Wille zur Macht.106 Er nennt den Willen zur Macht auch den Jnstinkt der Freiheit", der „das Wesen des Lebens" ausmache, womit er nicht die Freiheit des menschlichen Willens meint. Er hat mit ihm „die formbildende und vergewaltigende Natur" der aktiven Kraft vor Augen, die nur in Individuierungen ,gegeben' ist und auch in allen Re-aktionen sich äußert, bis hin zur heimlichen „Selbst-Vergewaltigung", aus der nach ihm erst die moralischen Werte stammen.107 Die akkumulierte Kraft überwältigt den Menschen, wie Nietzsche im Rückblick auf die Inspiration schreibt, aus der heraus Also sprach Zarathustra entstanden sei: „Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit...".108 Der diesem Freiheitsgefühl entsprechende Stolz ist nicht auf die Beliebigkeit freier Willkür in menschlicher .Selbstverwirklichung' gegründet: so wenig wie dies (in anderem Zusammenhang) bei Kant und bei Schopenhauer der Fall ist. Diese kann immer nur Gestalten der Eitelkeit hervorbringen. Zum Stolz gehört für Nietzsche die Einsamkeit, wie sein ,Zarathustra' zeigt, den er einen „Dithyrambus auf die Einsamkeit" nennt.109 Schon die »freien 104

105 106 107

108

109

Nachlaß Herbst 1887, 10[128]; KGW VIII 2, 196. Nachlaß Oktober 1888, 23[4]; KGW VIII 3, 415. - Vgl. hierzu den Exkurs im Anhang zu dieser Abhandlung. S. 170ff. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 53. Nachlaß August-September 1885, 40[53]; KGW VII 3, 386. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh., 18, 341ff.; 12, 3 2 9 - 3 3 2 . - Vgl. hierzu Freiheit und Wille, Abschnitt 17, in: Nietzsche-Interpretationen II. Ecce homo, Also sprach Zarathustra, 3; KGW VI 3, 338. - Vgl. hierzu Freiheit und Wille, Abschnitt 15, a.a.O., S . 9 2 - 9 5 . Ecce homo, Warum ich so weise bin, 8, 274. - Zarathustra bittet seinen Stolz, er möge immer mit seiner Klugheit gehen (wie sein Adler mit der Schlange fliegt); wenn diese ihn aber verlasse, so möge sein Stolz noch mit seiner Torheit fliegen. (Also sprach Zarathustra I, Zarathustras Vorrede, 10, KGW VI 1, 21f.) Der neue Stolz, den er die Menschen lehren will, erfordert die Abkehr von den »himmlischen Dingen' und die sinnschaffende Zukehr zur Erde. (A.a.O., Von den Hinter-

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Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

Geister' leben einzeln, sie sind Wenige; es gehört zu ihrem Stolz, „eine seltne und seltsame Art" zu sein.110 Er prägt sich aus als „Distanz" zu den Anderen, die diese als des Stolzen „Meinung über sich" selbst deuten, während dieser jenen Abstand nur kennt „als fortwährende Arbeit, Krieg, Sieg bei Tag und Nacht". 111 Nietzsche legt nicht wie Schopenhauer „eine zurückgezogene Lebensweise" nahe, um dadurch „Gemüthsruhe und Zufriedenheit" zu erzeugen.112 Angesichts der von ihm geforderten Steigerung des Menschseins durch Selbstüberwindung gießt er „Hohn" über die bloß genießende Einsamkeit" derjenigen aus, „welche sich gerne verstecken und für sich leben wollen".113 Anders steht es um die fruchtbare Einsamkeit, deren Notwendigkeit er preist und die er bejaht. Es ist für ihn auch ein Einwand gegen einen Menschen, wenn er an der Einsamkeit leidet Die Distanz zwischen dem Stolzen und dem Eitlen vergrößert sich auf dem philosophischen Wege, der von Kant über Schopenhauer zu Nietzsche führt. Der Weg verläuft zugleich entlang dem wachsenden Unbehagen an den Nivellierungstendenzen der Massengesellschaft. Die Einsamkeit des Stolzen wächst, seine Verbundenheit mit ,den Vielen' schrumpft; seine sittliche Verpflichtung, als allgemeine angesehen, tendiert nach Auflösung hin.

Exkurs: Über Stärke und Schwäche der

Solitär-Personen

Die Fragen nach der Beschaffenheit des höheren Typus, in dem das Individuellwerden über den Individualismus des Einzelnseins hinaus zur „So-

1,0 ni 1,2 113 114

weltlern, KGW VI 1, 32f.) Nachlaß August-September 1885, 40[59]; KGW VII 3, 390. Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 3 5 0 ] ; KGW VII 2, 101. A.a.O. [Anm. 7], 392, 391, 386f. Nachlaß Herbst 1883, 16[86]; KGW VII 1, 555. Ecce homo, Warum ich so klug bin 10, KGW VI 3, 295. Er habe „immer nur an der .Vielsamkeit' gelitten", heißt es anschließend. - Nietzsche, selber „zur Einsamkeit verurtheilt" (Nachlaß 1885, KGW VIII1, 2[180], weiß freilich auch, daß sie allein im Gang durch Leiden hindurch angeeignet werden kann. Zarathustra sagt zu einem, der sie sucht: „Aber einst wird dich die Einsamkeit müde machen, einst wird dein Stolz sich krümmen und dein Muth knirschen. Schreien wirst du einst ,ich bin allein!'" (Also sprach Zarathustra I, Vom Wege des Schaffenden, KGW VI 1, 77)

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

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litär-Person" führen kann, stellen Nietzsche vor nicht geringe Probleme. Zum einen muß er zu deren Entstehungsbedingungen „eine zeitige Isolirung", sogar „etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses" und schließlich eine geringere Impressionabilität", als sie „der mittlere Mensch" aufweist, rechnen. Die Solitär-Person bedarf des Schutzes vor ,den Vielen', denen gegenüber sie sich als »schwach' erweist.115 Zum anderen aber soll sie der ,JZeichthum an Person" und an ,Stärke' sein. Zu ihr gehört demzufolge nicht nur „die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben", sondern auch eine „starke und göttliche Selbstigkeit" in den Affekten „der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit", und schließlich sogar „auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf Alles zu haben". Insofern der Anspruch auf Herrschaft sich gegenüber ,den Vielen' bewähren können muß, sind die Gegensätze unübersehbar, vor die uns Nietzsches Kennzeichung der solitären Spezies führt. 116

115

Nachlaß Herbst 1887, 10[59]; KGW VIII 2, 158. - Die solitäre „Species" hat „den Instinkt der Heerde, die Tradition der Werthe gegen sich; ihre Werkzeuge zur Vertheidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug". Insbesondere sind sie der Gegnerschaft der Vielen ausgesetzt, wenn „der Stände- und Classenkampf, der auf ,Gleichheit der Rechte' abzielt [...], ungefähr erledigt" ist. Denn dann kann sich die zuvor in interne Kämpfe verwikkelte Herde auf ,die Ausnahmen' konzentrieren. Deshalb kann die Solitär-Person „in einem gewissen Sinne" (in welcher Formulierung wir Nietzsches Vorbehalt und

Einschränkung erkennen müssen) „sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Ver-

theidigungs-Mittel nicht mehr nöthig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört". Der „Instinkt der Heerde" sucht die „Stärksten" zu binden und zu überwachen. Er hat von jeher schon versucht, diese unter „ein Regime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits, oder der,Pflicht' in abnützender Arbeit" zu bringen, „bei der man nicht mehr zu sich selbst kommt". (A.a.O., 10[61]; K G W VIII 2, 159f.) 1,6

Nachlaß Herbst 1887, 10[128]; KGW VIII 2, 196. - Einsichtig ist Nietzsches Ausführung, daß „E/ne Gesinnung" das umfassen kann, was „nach gemeiner Auffassung „entgegengesetztein] Gesinnungen" ausmacht: die großen Opfer und die große Liebe einerseits, das Herrschen und das Sichaneignen andererseits. Aber Sicherheit und Festigkeit auf der einen Seite (dazu ebd.), Unsicherheit und Schutzbedürfigkeit andererseits (vgl. dazu Anm. 115) bilden Gegensätze, deren Darstellung nur dann nicht zu Widersprüchen führt, wenn man entweder unterschiedliche Typen von solitärer Größe fundamental voneinander unterscheidet oder wenn man den einen Typus genealogisch aus dem anderen hervorgehen läßt. In beiden Fällen

172

Über Stolz und Eitelkeit bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

Nietzsche stellt zumeist nur den „solitären Typus" ohne eindeutige Differenzierung dem „heerdenhaften" gegenüber; die interne Problematik des ersteren tritt meist zurück. Wir folgen ihm hier in seiner Ausarbeitung des Gegensatzes von Person (in seinem Verständnis) zu ,den Vielen'. Für den Fortbestand des Herdentypus wäre „Person-Sein eine Vergeudung", er bedarf der „Durchschnittlichkeit". An dieser gemessen ist die „Person" als „ein relativ isolirtes Faktum [...] beinahe etwas Widernatürliches". Die Person steht somit gegen die Herden-Durchschnittlichkeit, obwohl sie aus ihr herauswächst (Personen als die „stärkeren Naturen" gedeihen nach Nietzsche nicht so häufig in den Mittelklassen, sondern eher „in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen"). Der Kampf zwischen den beiden Typen ist Nietzsche zufolge aus deren verschiedenen Perspektiven heraus berechtigt. Von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus sind beide Typen und ihr Antagonismus notwendig, man darf keinen von ihnen nach dem Maß des anderen „abschätzen"; die Vertiefung der Kluft zwischen ihnen sieht Nietzsche als fruchtbar an.117 Dabei kann er die „Verkleinerung des Menschen", d.h. die Ausprägungen des Herdentypus, als „einziges Ziel" für lange Zeit ansehen. Damit soll im Sinne der Perspektive des Person-Verständnisses Nietzsches „ein breites Fundament" geschaffen werden, auf dem einst „eine stärkere Art Mensch" stehen kann.118

117

1,8

treffen wir auf von Nietzsche ungelöste Probleme. (Unter einem weiter gespannten Aspekt werden diese Probleme in Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen, Abschnitt 19, unten S. 28Iff. aufgenommen.) Die Ausnahmemenschen, welche sich am ehesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten können sollen, werden den extremen Spannungen innerhalb von aristokratischen Gesellschaften (vgl. oben S. 165) kaum gewachsen sein. Jedenfalls ist es kaum plausibel zu machen, daß der Instinkt der Mächtigen, der auf gewaltsame Durchsetzung seines Willens zur Macht gerichtet ist, „das Zugrundegehen und Entarten der solitären Species" in deren .schwachen Ausprägung' (Nachlaß ebd., 10[61]; KGW VIII 2, 159) weniger befördern soll als der (natürlich nicht zu unterschätzende) Herdeninstinkt. Nachlaß Herbst 1887, 10[59, 61]; KGW VIII 2, 157ff., 159f. Vgl. a.a.O., 10[63], [64]; KGW VIII 2, 160. Nachlaß Herbst 1887, 9[17]; KGW VIII 2, 10.

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Leitfaden für den Weg der Abhandlung Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden In der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung beschreibt Nietzsche die Gefahr, in die der moderne Mensch durch die Entfesselung des historischen Bewußtseins geraten ist. Von dem als Geschichte überlieferten Werden kann er zu seinem ,Nutzen4 mehrfältig Gebrauch machen. Als Kämpfender kann er sich das Große vergangener Zeiten vor Augen stellen, als Bewahrender das Gewesene in seine Obhut nehmen, als sich Befreiender die Tradition kritisch durchleuchten. In alledem zieht er einen relativ geschlossenen Horizont um sich. Der Vielfalt und dem raschen Wechsel des auf ihn einströmenden Wissens ist die horizontbildende »plastische Kraft' des modernen Menschen jedoch nicht mehr gewachsen. Der häufigen und plötzlichen Reizüberflutung gegenüber kann er sich durch Abstumpfung wehren und sich in den engen Horizont seines ,Ich' zurückziehen. Er kann aber auch, wie der »Gebildete' im 19. Jahrhundert, alles Geschehene so auf sich ziehen, daß er sich als »Resultat des abgeschlossenen Weltprozesses' versteht, als den Gipfelpunkt allen Werdens. In beiden Fällen gewinnt er keine Orientierung für seine Zukunft. - Nietzsches .Gesundheitslehre des Lebens' empfiehlt hier als Heilmittel gegen die »historische Krankheit' neben dem »Unhistorischen' als der Kraft des »Vergessens' - das »Uberhistorische', durch welches der Blick vom Werden abgelenkt und auf das Ewige und Gleichbleibende hingelenkt werden soll. Doch macht sich auch in der Historienschrift die »Verflüssigung aller Begriffe, Typen und Arten', wie sie aus den »Lehren vom souveränen Werden' folgt, in ihrem Wahrheitsanspruch geltend. (Abschnitt 1) Schon der 17jährige Nietzsche zeigte sich von der Frage nach dem Ende des Werdens und der Geschichte bewegt. Das sichere Gespür für den Zerfall alles »Festen' in seiner Zeit, der in unserer Zeit noch weitergegangen ist, ist früh in ihm lebendig. - In der Geburt der Tragödie wird das Werden noch in ein metaphysisch gedachtes U r - eines (als das ewig widerspruchsvolle

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Dionysische) zurückgenommen. In eigenwilliger Schopenhauer-Rezeption legt Nietzsche das Werden als das Nichtseiende der Erscheinungswelt aus, das nach seiner Aufhebung im (apollinischen) Schein des Scheins verlangt. - Daß es kein beständiges .Sein' gibt, vielmehr ,das Wirkliche' in ständigem Fließen begriffen ist, fasziniert Nietzsche an Heraklits Philosophie; die ,Grenzenlosigkeit des Werdens' beschäftigt ihn auch im Blick auf die Naturwissenschaften. (Abschnitt 2) Von Menschliches, Allzumenschliches an wird die ,kardinale Flüssigkeit' alles Gegebenen zum Grundthema der Philosophie Nietzsches. Auch ,wir selbst' sind als ,etwas Werdendes' im Fluß. ,Wir' fingieren uns selbst ,als Subjekte'. Aber zugleich müssen wir einsehen, daß wir ohne derartige Fiktionen weder leben noch denken könnten. Ohne sie könnten wir nicht einmal vom Werden wissen, ohne sie flösse alles Geschehen von uns nur ab ,wie der Regen vom Steine'. (Abschnitt 3) Nietzsches Philosophie bestreitet die Voraussetzung der philosophischen Tradition, die in dem .Vernunft-Vorurteil' herrscht: aller Wechsel und alles Werden deuteten auf,Schein', wahr und wirklich sei allein, ,was ist'. Nietzsche kehrt diese Grundannahme um. Auf seine Weise erneuert er mit dieser ,kopernikanischen Wendung' die Auffassung Heraklits gegenüber den Eleaten. - Worin besteht ein ,Urteil' der Vernunft? Die Behauptung von allgemeinen und notwendigen synthetischen Urteilen a priori' stellt für Nietzsche eine ,Setzung', keine »Erkenntnis' dar, sondern einen ,Glauben'. Sollten solche Urteile ,nötig für uns' sein, so ist nach der Herkunft der Nötigung zu fragen. (Abschnitt 4) Schemata, die unser Denken nötigen, finden wir in der Sprache und der Grammatik vorgeprägt. Sie sind dem Werden ,aufgesetzt'; sie dienen primär unserer Erhaltung, das Werden selbst vermögen sie nicht zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt gleichermaßen für die ,Urteile' der Logik. Die unseren faktischen Urteilen zugrundeliegende Annahme, es gebe .wirkliche Subjekte' und ,Objekte', bedarf der genealogischen Auflösung in das Werden, mag diese Annahme auch für unser Leben unentbehrlich sein. (Abschnitte 5 und 6) In der Frage nach dem Verhältnis des .Urteilens' zum .Werden' gräbt Nietzsche tiefer. Urteilen versteht er als eine Tätigkeit, die .vor' der Vernunft liegt. Er führt uns in die vorbewußte Sphäre von Reizen und Empfindungen, aus deren Wechselspiel die primäre Urteils-Fiktion eines Beharrlichen und Sich-selber-gleichen entsteht. Wechselnde Vielheiten schließen sich im Kampf gegeneinander zusammen und setzen sich als Einheiten in ein Verhältnis zueinander. In die .Entwicklungsgeschichte' zurückfragend gelangt Nietzsche zu der Erwägung, daß der .Urirrtum vom Sein' im Protoplasma entstanden sein könnte. Dieses könnte entweder nur .einen Reiz' empfangen

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

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haben oder verschiedene Reize ,als einen' aufgenommen haben. Von daher habe es urteilend vielleicht ,ein Außer-sich' und später sich selbst als beharrlich gesetzt. ,In Wahrheit' liege dem Protoplasma nichts anderes zugrunde als Vielheiten von miteinander kämpfenden chemischen Kräften. Abschnitt 7) Nietzsche sucht zu zeigen, wie unser notwendig fest-stellendes Urteilen aus,unseren' Lebensprozessen hervorgehen kann. Nachdem er dargelegt hat, wie das prä-logische Urteilen in den Lebewesen ,vor uns' und (zum großen Teile von ihnen uns weitervererbt) ,in uns' Urteile als Schemata über das Werden ausgebreitet hat und ausbreitet, beschreibt er die konstitutive Funktion unseres Gedächtnisses. Es ist in sich selber ein Kampf von Urteilen, in dem zahllose ausgeschieden und andere zu besonders lebensdienlichen Fiktionen zusammengezogen und stabilisiert werden. Sie leiten z.B. als »Instinkte' unser Verhalten. (Abschnitt 8) Instinkte drücken Urteile im Sinne von Wertschätzungen aus. Werturteile bestimmen vorgängig schon unsere Empfindungen und Wahrnehmungen. Unsere Triebe und Affekte sind in der langen Entwicklung der Lebewesen ,hart' gewordene ,Gewohnheiten', denen wir ,folgen'. Unser Urteilen ist darin ein ,Glauben', das sich aus dem ,Willen zur Macht' heraus gebildet hat. Wie der Leib sich Unorganisches assimiliert', so ist auch in der Logik der Wille zur einordnenden Gleichmachung von Gedanken als Wille zur Macht am Werk. (Abschnitt 9) Bei alledem ist das Wertschätzen auf die Vielheit von »werdenden' Willen zur Macht verlagert. Bei dem hochkomplexen Lebewesen Mensch bilden die vielen Werdenden eine besonders breite Vielheit von Antrieben heraus, die der »Organisierung' bedürfen. Ältere (angeerbte) und jüngere (erworbene) Wertschätzungen müssen in ein Verhältnis wechselseitiger Zuordnung gebracht werden. - In der Moderne hat das Versagen der dafür erforderlichen »plastischen Kraft' zum Auseinanderdriften von Werturteilen geführt, bis hin zu jener Orientierungslosigkeit, die Nietzsche schon in der Zweiten Unzeitgemäßen beschrieben hat (vgl. Abschnitt 1). Mit der Betonung des »Prinzips' der Organisation geht es ihm primär nicht um die Erhaltung von Gegebenem und schon gar nicht um ein Beharren in diesem, sondern um das Wachsen von Machtgebilden im unnachlaßlichen Werden. Dazu muß der Mensch »Herr über sich selbst' werden und sich vor allem von überkommenen Verehrungen befreien; hierfür steht Nietzsches Rede von den »freien Geistern'. (Abschnitt 10) Solche Befreiung kann nicht Selbstzweck sein; die »Zerstörung' von Überliefertem oder Gewohntem muß in ein »Schaffen' von Neuem überführt werden. Im Hinblick auf das künftige Neue gilt Nietzsches Kampf insbesondere den jenseitsorientierten alten Werturteilen, auf die er

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

die Auflösungserscheinungen des Zeitalters schließlich zurückführt. Abschnitt 11) Mit dem ,Schaffen neuer Werte' durch große Menschen verbindet Nietzsche die Vorstellung eines radikalen Neugestaltens. Dem sind jedoch Grenzen gesetzt, die er selber herausgearbeitet hat. Erstens kann das Neue nur auf dem Fundament des uns angezüchteten ,Alten' entstehen. Der Mensch kann die Voraussetzungen seiner tiergeschichtlichen Herkunft nicht aufheben. Die Grundirrtümer unseres Urteilens können nicht beseitigt werden, nur auf ihnen kann das Neue errichtet werden. Zweitens zeigt die ,Entwicklungsgeschichte', daß alles ,Neue' in ihr jeweils viel Zeit benötigt hat, um sich durchsetzen zu können. Deshalb versteht Nietzsche selbst sich zunächst nur als der ,Vorläufer' jener Großen, deren Ankunft,allmählich' vorbereitet werden muß. - Die Zuversicht, daß Neues möglich ist, gewinnt er daraus, daß uns die ,Aktivität des Urteilens' angezüchtet ist. Lieber »irren und dichten' als abwarten, ist der Hang schon der Lebewesen, die jene Schemata ,entworfen' haben, die noch uns leiten. »Unsere Welt' ist dementsprechend ,die Urdichtung der Menschheit'; sie ist,unser Werk', an dem wir weiterdichten können. (Abschnitt 12) Der Mensch ist als das .urteilende Tier' das »noch nicht festgestellte Tier'. Deshalb gerät Nietzsche das Dichten des künftigen großen Menschen zum »Experiment', zu einer an inneren Spannungen reichen Aufgabe. Vom »höchsten Menschen der Zukunft' erwartet er, daß dieser die »Rangordnung der Werte' neu bestimmen wird. Als Philosoph soll er »Gesetzgeber der Zukunft' sein, der nicht mehr urteilt: »so und so ist es', sondern: »so soll es sein'. Ein solcher philosophischer Gesetzgeber spricht nicht aus willkürlich angemaßter Vollmacht, er »urteilt' im Namen des aufsteigenden Lebens. Sein Ja zum Leben »verurteilt' zugleich das niedergehende Leben. Im Grunde jedoch ist (z.B.) das christliche Werturteil »das Urteil selbst schon vom Leben Verurteilter'. In diesen erfährt »der Wille zur Macht' seinen Niedergang, während das aufsteigende Leben durch den Vorrang der »aktiven Kräfte' im Machtwollen gekennzeichnet wird. Ursprünglicher noch ist »Urteilen' also ein »Wollen' als ein »Glauben'. (Abschnitte 13 und 14)

Zweiter Teil. Nietzsches Ja-sagen in der Welt und zur Welt Im Urteilen findet Nietzsche primär die Aktivität von »Wert'-Setzen als »Wille zur Macht'. In ihr bejaht der Wert-Setzende sich und sein »Tun'. Urteilen ist wesenhaft Ja-setzen'. (Deshalb findet Nietzsche noch im Urteil,

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eine Handlung sei verwerflich, und noch in der Behauptung einer verworfenen Welt' ein grundlegendes Ja-sagen: s. hierzu Exkurs 4 im Anhang zu dieser Abhandlung.) Im Ja der Starken und Befehlenden bringt sich die größere Lebenskraft gegen die Kraft der Schwächeren ins Spiel. Das Urteil ,so soll es sein' setzt sich im Zuge der eigenen Machtsteigerung gegen diejenigen durch, deren .Nein' ihm entgegensteht. Sein Geltungsbereich erweitert sich im siegreichen Kampf' der stärkeren Machtwillen. - Nietzsche vertieft das Ja-sagen des Starken, indem er es auf die Vergangenheit ausdehnt. Ist alles mit allem notwendig verknüpft, so verdankt es sich uneingeschränkt dem Gewesenen. Dann liegt im Ja-sagen zur eigenen Lebenskraft das Ja zu allem, was ihm vorherging. Sich selbst wollen, heißt in der Steigerung des Wiederkunftsgedankens: sich selbst immer wieder wollen. Dies besagt aber, alles Vergangene immer wieder wollen. Damit ist gegeben, daß man auch das Bekämpfte, Verneinte, Überwundene immer wieder will. Das auf diese Weise noch erweiterte Ja-sagen stellt sich nicht mehr nur das von ihm im Kampf Verneinte gegenüber. Es ist ein Ja noch zum von ihm zugleich Verneinten. {Abschnitt 15) Das primäre Ja, das der Starke zu sich selbst im Wert-setzen sagt, soll sekundär die Billigung dessen erlauben, was er verworfen hat und verwirft. Das Billigen erweist sich dabei nicht nur als abhängig von jenem Primat, es ist auch der Intensität nach ein vergleichsweise schwächeres Ja-sagen. Insofern jeder .Schaffende' sich selbst in seiner Besonderheit (primär) bejaht und darin seine spezifische Perspektivik .entwickelt', geraten wir in ein Netz von sich fortlaufend verschiebenden Relationen des Ja-sagens. Die Intensität, mit der er sich selbst und sein Schaffen bejaht, vermag der Schaffende nicht auf das gesamte Geschehen auszudehnen. Deshalb gilt Zarathustras große Sehnsucht dem .Ubermenschen', der über solche Beschränkung hinausgehen soll; die Hoffnung auf ihn soll den Wiederkunftsgedanken .erträglich' machen. Zarathustras .Seele' weitet sich schließlich zum .Umfang der Umfänge' aus, in der das Künftige und das Vergangene nah beieinander sind. Wie aus einem .Himmelsauge' scheint sie auf die Welt blicken zu können und alles Geschehen in ihr uneingeschränkt zu bejahen. (Abschnitt 16) Dem seinem Hier und Jetzt verhafteten Menschen entzieht sich diese Möglichkeit. Noch ferner als in Also sprach Zarathustra rückt das über-menschliche Ja-sagen dem Menschen in Jenseits von Gut und Böse. In diesem Buch präsentiert uns Nietzsche zwar den .weltbejahendsten Menschen' als Ideal. Wohl .entspricht' dieser dem .circulus vitiosus deus', indem er sein .unersättliches da-capo-Rufen' auf den Gott Dionysos gründet, der das .Schauspiel' der unendlichen Wiederkehr .nötig macht'. Aber der .philosophos dionysos'

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bleibt zuletzt doch der ,große Verborgene* selbst für seinen Jünger', der mit ihm ein Zwiegespräch führt. Der Autor des Buches erfährt bei seinen Versuchen, die Dinge im geschriebenen Wort zu verewigen, das Vergehen der vormals gegebenen Bedeutsamkeit. Das früher Gestaltete .verblaßt' zunehmend, es verliert seine Lebendigkeit wie alles von Menschen Geschaffene. (Abschnitt 17) 1888 hat Nietzsche solche »Anfechtungen' überwunden, die der Erfahrung der Vergänglichkeit entsprangen. Das Geschriebene, in Sonderheit Also sprach Zarathustra, gilt ihm als ,höchste Tat', die in die Zukunft weist. In ihr hat der ,Wille zur Tat' mit der ,Umwertung aller Werte' Wahrheit neu gegründet. Im ,dionysischem Ja-sagen' scheinen nun alle Unterschiede zwischen Nietzsche selbst und Zarathustra, zwischen dem Menschen und dem Ubermenschen aufgehoben zu sein. Die .mächtigste Kraft der Tat' soll die ,mächtigste Realität der Vision' entbinden. Das dionysische Ja setzt in der .Umwertung der Werte' neue Wahrheit gegen alles, was bisher »geglaubt und geheiligt' worden ist. Im .Willen zur Tat' tritt die frühere Vorstellung einer allmählichen Vorbereitung des ,Neuen' (vgl. Abschnitt 12) zugunsten des Gedankens einer .großen Politik' zurück. In Ecce homo drängt Nietzsche rückhaltlos und ungeduldig auf die »Entscheidung', die er als Scheidung zwischen dem Ja zum Leben und dem Nein zu ihm auffaßt. - Nietzsches .Tatwille' vereinfacht und verengt seine Perspektivik. Die .Physiologie', als Betrachtungsweise bei Nietzsche schon frühzeitig im Spiel, wird schließlich zur alleinigen .Herrin über alle anderen Fragen' erhoben. - Diese äußerste Radikalisierung von Nietzsches .Aktivismus' führt zugleich zu einer gewissen Vergröberung und Einengung in der schriftstellerischen Darstellung. (Abschnitt 18) Noch hinter der Scheidung von Ja und Nein im .Willen zur Tat' steht die umfassende dionysische Daseinsbejahung, welcher das Nein-sagen gewissermaßen zugehört. In Wiederaufnahme und Verwandlung von Gedanken der Geburt der Tragödie sucht Nietzsche eine gründende Einheit .entgegengesetzter Gesinnungen' zu finden. So sollen im .Reichtum an Person', als dem gesteigerten Ja-sagen zu sich selbst, sowohl das übergreifende Herr-werden-wollen als auch das abgebende Sich-verschenken gleichermaßen verwurzelt sein. Auch der .dionysische Zarathustra' in Ecce homo, der .das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein hat\ bleibt zwiespältig. Als Vernichtender, der alles, auch das zu Vernichtende, segnet, weist er über die menschlichen Horizonte hinaus. Das .letzte' Segnen scheint ihm allein von dem schweigenden .Licht-Abgrund' her möglich zu werden, von dem in Also sprach Zarathustra die Rede war. Doch der .Wille zur Tat' bildet .ziehende Wolken' an diesem reinen Himmel. Indem Nietzsche/ Zarathustra sich in

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Ecce homo diesem Willen verschreibt, verstellt er sich unvermeidlich den Blick in jene Höhe. (Abschnitt 19) Nietzsches dionysisches Ja-sagen zur Welt ,ohne Abzug und Ausnahme' vollendet sich im Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft des Gleichen. Im Schlußabschnitt werden die Gedankenschritte herausgestellt, die von dem alles Verhalten und Verstehen gründenden und noch vor-bewußten Ja-sagen zu Nietzsches ,höchstem' und ,überschwenglich-übermütigstem' Ja führen. Dabei wird an Stationen des Weges der gesamten Abhandlung, insbesondere aber ihres Zweiten Teiles, erinnert, in einer Reihe von systematischen Gesichtspunkten aber auch über sie hinausgegangen: (1) Ein Ja-sagen liegt nach Nietzsche schon allen Sinneswahrnehmungen und ,Urteilen' zugrunde. Es ist in sich zugleich ein je besonderes .Wertschätzen', das im Kampf mit anderem Wertschätzen steht. ( 2 - 4 ) Das Wertschätzen ist seinerseits nicht,hintergehbar'; bei allem Wandel, den es erfahren kann, ist es als es selbst im Leben nicht aufhebbar. Das ja-setzende Wertschätzen ist als solches nicht erst »geworden', so wenig wie der ,Wille zur Macht', der ,dasselbe' ist wie dieses. Wird doch alles Werden durch dieses ,Selbe' konstituiert. Als ,eines' ist es aber weder ein Einfaches, noch ein Allgemeines. Es ist überhaupt nur in der Vielheit von ,spezifischen Perspektiven'. (5) Auch das sich ausweitende Ja-sagen überschreitet nicht die perspektivische Spezifität. Die ,Welt' schließlich ist nichts anderes als ,ein Wort' für das ,Gesamtspiel' des Mit- und Gegeneinander von Interpretationen, deren jede ihren eigenen und besonderen ,Horizont' bildet. Jedes ,Kraftzentrum' entwickelt seine Perspektivik für ,den ganzen Rest'. (6) Auch der Mensch, der die ewige Wiederkunft des Gleichen bejaht, bleibt in diesem ,letzten und höchsten Ja-sagen' bezogen auf die ihm ,erscheinende Welt'. Dies ist nicht in dem Sinne als ,solipsistisch' zu verstehen, daß er die anderen Wesen auf ,bloße Erscheinungen' in ,seiner Welt' reduzierte. Die Wesen konstituieren im ,Gesamtspiel' einander wechselseitig nach ihrer je besonderen ,Aktionsund Widerstandsart'. Primär wiederwollen - und darin bejahen - kann jeder Mensch nur »seine Welt', sekundär bejaht er damit zugleich die Perspektiven anderer. Diese entgehen ihm, insoweit sie einer anderen erscheinenden Welt' zugehören, die ihm als diese selbst unzugänglich bleiben muß. Er hat den agierenden Anderen (wie ,alles andere') immer schon in den Horizont seines Interpretierens hineingenommen, ob er sich gegen ,das andere' abgegrenzt, es in ,seine Welt' einordnet oder sich ihm anzupassen oder zu unterwerfen sucht. - Seinen Horizont vermag jeder auf Künftiges hin auszudehnen, so auch auf die ,Höhe der Höhen' einer Kultur. Auch darin prolongiert jeder aber allein seine Perspektive. (7) Wenn der Wiederkunftsgedanke auch jeden

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Einzelnen in seiner Besonderheit betrifft, so wird er doch als allgemeiner Gedanke' vorgestellt, mitgeteilt und gelehrt. Doch selbst wenn Nietzsche ihn als,höchste Formel möglicher Bejahung' präsentiert, so konstituiert er damit nicht ein Allgemeines, das als unabhängig von denjenigen gedacht werden soll, welche ,die Formel' auslegen. (8) Letztlich geht es Nietzsche um die Einverleibung des Gedankens, an der ,der Lehrer der Wiederkunft' mit und in der Lehre ,arbeitet'. Er orientiert sich dabei an den uns unaufhebbar einverleibten ,Grundirrtümern'. Wie schon diese dem Leben dienen, so soll die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens die höchste Gestalt der Lebensbejahung nach sich ziehen. (9) Auf dem langen Weg zu diesem Ziele werden sich diejenigen als nicht lebensfähig erweisen, die nicht an die ewige Wiederkunft des Gleichen glauben, wie in der Geschichte menschlicher Entwicklung diejenigen ,ausgestorben' sind, die von den für das Leben unentbehrlich gewordenen ,Grundirrtümern' wesentlich abgewichen sind. Nietzsche imaginiert einen künftigen Zustand, ,an den noch kein Utopist gereicht hat': Eine Welt von Lebensbejahenden, welche den Glauben an die Wiederkunft dergestalt ,verinnerlicht' haben, daß für sie jedes besondere Ja-sagen ein ewiges Ja bedeutete. In Analogie zur ,Einverleibtheit' unserer Grundirrtümer würde - denken wir Nietzsches Gedankenweg zuende - der einverleibte Glaube an die ewige Wiederkunft zuletzt eine quasitranszendentale Funktion erhalten. Das vor-bewußte Ja, das am Anfang steht und von dem wir (unter den Punkten 1 -4) ausgegangen sind, wäre in seiner Ausprägung als ,höchstes und ewiges Ja' nicht mehr Gedanke oder Lehre; es wäre in unser (aktives) Vor-bewußtsein einverleibt worden. Wie wir uns jetzt' irrtümlich Dauerndes und In-sich-Gleiches ,vor Augen stellen' müssen, so müßte ein vollkommen bejahendes Wesen jeden Augenblick als ewigen erfahren.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werdensfluß „Wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung." 1

1. Über die Historie und das Werden Aus eigenen, ihn beunruhigenden Erfahrungen heraus hat Nietzsche sich in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) mit „der so mächtigen historischen Zeitrichtung" auseinandergesetzt, die „bekanntlich seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen namentlich zu bemerken ist".2 Sie hat das zuvor ausgewogenere Verhältnis zwischen einer gelebten Kultur und der Besinnung auf die Vergangenheit durch die Forderung zerstört, „dass die Historie Wissenschaft sein soll". Diese öffnet die Tore für alles, was einmal gewesen und geschehen ist. „Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen" in die „Seele des modernen Menschen". In ihr sind „alle Grenzpfähle [...] umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu [...] Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt."3 Nietzsche verbreitert und vertieft zugleich seinen Begriff von Historie mit der Rede vom universalen Werden. Es geht ihm in der Zweiten Unzeitgemäßen wesentlich auch um die Problematik der Herrschaft dieses Wissens in grundlegendem philosophischen Sinn. Die Bedeutung Hegels für den Vorgang, daß das Historische so gewaltig in Fluß geraten ist, ist Nietzsche bewußt. Zwar erhebt jener den Anspruch, den Strom gebändigt oder wenigstens kanalisiert zu haben. Aber er ist es doch gewesen, der „die Geschichte an Stelle der anderen geistigen Mächte, Kunst und Religion, als einzig souverän gesetzt" hat. Dadurch ist eine neue Grundkonstellation eingetreten. Die „ungeheure [...] Einwirkung" seiner Philosophie hält noch 1 2

3

Nachlaß April-Juni 1885, 34[73]; KGW VII 3, 162. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Vorwort; KGW III 1, 2 4 3 , 242. - Zur Entstehung und inneren Struktur dieser Schrift vgl. Jörg Salaquarda, Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 1-45. Vom Nutzen und Nachtheil 4 ; KGW III 1 , 2 6 7 f . - Vgl. a.a.O., 9; KGW III 1, 319.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

an, schreibt Nietzsche. Sie hat jede „gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert" noch gefährlicher werden lassen.4 Die fortschreitende Entfesselung der Historie zieht die ,historische Krankheit' des Menschen nach sich, wenn dieser sich jenes Stromes nicht mehr erwehrt oder nicht mehr erwehren kann.5 Denn zu seiner ,Gesundheit' bedarf er eines relativ geschlossenen,,unhistorischen' Horizontes, den seine plastische Kraft je nach ihrer Stärke um ihn zieht. Sie heilt erlittene Wunden und formt Zerbrochenes nach. Das nicht Assimilierbare stößt sie ab. Des Vergangenen und des Fremden bemächtigt sie sich in Grenzen, indem sie, es umbildend, es sich einverleibt. Sie sondert auch aus, um zu vergessen. Solche Kraft des Vergessen-könnens ist für alle Lebewesen unentbehrlich. Um ihre Bedeutung voll zur Geltung zu bringen, fingiert Nietzsche einen Menschen, „der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens; er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben." Zum Handeln sei ein solcher Mensch nicht mehr in der Lage. Er gleiche einem gänzlich Schlaflosen, der schließlich zugrunde gehen müsse.6 Nietzsche imaginiert ein Bewußtsein vom völligen Verfließen, um seine Unvereinbarkeit mit den Existenzbedingungen endlicher Wesen hervortreten zu lassen. Zwar bedarf der Mensch des klaren Lichts, in welchem ihm die Geschehensabläufe erscheinen, aber noch nötiger ist ihm das Dunkel, in das die Ereignisse zurückgenommen werden können. Die Gesundheit nicht nur des Einzelnen, sondern auch eines Volkes, einer Kultur benötigt eine „Linie", durch die „das Übersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunklen" geschieden wird. In dieses hinein wird verlagert, abgelagert, was zu vergessen für das Leben eines Wesens jeweils nötig ist; aus ihm kann „mit kräftigem Instincte herausgefühlt" werden, wessen es erinnernd „zur rechten Zeit" bedarf. Zwar ist der Mensch erst dadurch Mensch, daß er „die Kraft" hat, „das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder 4 5 6

Vom Nutzen und Nachtheil 8; KGW III 1, 304. Vom Nutzen und Nachtheil 10; KGW III 1, 325. Vom Nutzen und Nachtheil 1; KGW III 1, 2 4 7 , 246. - Der ,rechte' Schüler Heraklits ist Kratylos. Er paßt in Nietzsches Polemik gegen denjenigen, der sich dem Werden gänzlich preisgibt. Nietzsche selbst versteht sich aber, wie im nächsten Abschnitt darzulegen sein wird, als »wahrer' Schüler des »dunklen Philosophen'.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im W e r d e n

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Geschichte zu machen", indem er „denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschließend jenes unhistorische Moment einschränkt"; wieder metaphorisch gesagt: aus der „umschließenden Dunstwolke" des Unhistorischen muß „ein heller, blitzender Lichtschein" entstehen. Aber gäbe es nicht jene Hülle, so hätte er nie angefangen zu »urteilen', zu ,wissen', zu handeln. 7 Die unter einen Horizont zusammengefaßte, darin einheitliche Perspektivik eines Menschen oder einer Kultur wird in der Moderne nicht nur durch die andrängende Quantität von Überliefertem irritiert und gefährdet. Die Historie führt mit ihr auch eine Vielfalt von Weltorientierungen herauf, welche als miteinander unvereinbar aufeinander treffen, nachdem ihre systematische Zusammenfügung, mündend in eine Philosophie des absoluten Geistes, sich als unhaltbar erwiesen hat. Wissenschaftliche ,Objektivierung' läßt nunmehr das Verschiedenartige mit dem gleichen Anspruch auf Geltung auftreten. Nietzsche beschreibt die Gefahren, die von der gleichzeitigen Wirkung des Unvereinbaren, die anderes auf immer anderes folgen läßt, ausgehen. Die „fremden Gäste" geraten unvermeidlich miteinander in Streit. Da es dem modernen Menschen nicht mehr gelingen kann, alle „zu bewältigen", so entsteht in ihm „die Gewöhnung" an ein „unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen". Sie wird gewissermaßen zu seiner zweiten, allerdings schwächeren, ruhelosen, ja ungesunden Natur. 8 Nietzsche beschreibt, wie „wir Modernen durch die Kunstkammern" laufen, wie wir Konzerte hören. „Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen lassen - das nennt man wohl den historischen Sinn, die historische Bildung." In „allzu helles, allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht" getaucht, rettet sich insbesondere der junge Mensch, der durch die Geschichte gejagt wird, in Stumpfsinn, oder ihn ergreift Ekel. Zweifel an allem und Heimatlosigkeit sind andere Folgen. „Jetzt weiß er es; in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist." 9 Die Hypertrophie des historischen Sinnes, die überall auf das vielfältige Vergangene hinweist, wirft „den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes

7 8 9

Vom Nutzen und Nachtheil 1; K G W III 1, 2 4 8 , 2 4 9 . Vom Nutzen und Nachtheil 4 ; K G W III 1, 2 6 8 . Vom Nutzen und Nachtheil 7; K G W III 1, 2 9 5 f .

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens" hinein. 10 Gegen solches Erkennen' der Wissenschaft, das überall nur ein Gewordensein findet, wendet sich Nietzsche. Die vollständige Auflösung eines historischen Phänomens in ein „Erkenntnisphänomen" nimmt diesem sein ,Leben'. Der Erkennende hat in ihm „den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt." Diese ist „jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos" geworden; das Phänomen ist für ihn „todt", insofern es eine abschließende Beurteilung erfahren hat. 11 Nietzsche fügt freilich hinzu: „vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden". Ohnehin ist das menschliche Leben auf „den Dienst der Historie" angewiesen. „In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Thätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen." Der Wissende ist als lebender Mensch ,mehr' als ein Wissender. Hat er auch bestimmte historische Phänomene durchschaut und erkennend ,stillgelegt', so kann er das Vergangene doch in seinen eigenen umdunkelten Horizont hineinschlagen lassen und es - in monumentalischer, antiquarischer oder kritischer Betrachtung - dem gegenwärtigen Leben dienstbar machen. 12 Wir konzentrieren uns auf die beiden großen Gefahren, die Nietzsche aus der Hypertrophie des Historischen zum »Nachteil· des Lebens hervorgehen sieht. Die eine besteht darin, daß der Mensch sich als das abschließende Ziel der Geschichte, als deren Gipfel sieht. Die andere Gefahr liegt in der Abwendung von der Geschichte: der Mensch kann sich in einen allzu engen Horizont zurückziehen, in dem allein sein Egoismus zählt. Nietzsche überschreitet in der Schilderung dieser Gefahren den Begriff der Geschichte im engeren Sinne (und damit den Begriff der Historie), insofern er auf die zeitgenössische Philosophie und auf die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19.

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12

Vom Nutzen und Nachtheil 10; KGW III 1, 326. Vom Nutzen und Nachtheil 1; KGW III 1, 253. - „Die Geschichte selbst" soll dadurch „schön .objektiv' bewahrt" bleiben, „nämlich von solchen, die nie selber Geschichte machen können". {Vom Nutzen und Nachtheil 7,; KGW III 1, 280. Zu Nietzsches Verständnis des Verhältnisses von Objektivität und Gerechtigkeit vgl. Vom Nutzen und Nachtheil 6; KGW III 1, 2 8 1 - 2 9 1 . ) Vom Nutzen und Nachtheil 2; KGW III 1, 254. - „Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen." (Vom Nutzen und Nachtheil 1; KGW III 1, 253)

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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Jahrhundert Bezug nimmt, besser gesagt: deren Folgen für das Selbstverständnis des Menschen bedenkt.13 Im Blick auf die Ergebnisse der Wissenschaften spricht er pluralisch von den „Lehren vom souveränen Werden", durch die alle „Begriffe, Typen und Arten" verflüssigt werden. Die Entwicklungslehre hebt in ihrer Konsequenz ,,alle[r] cardinale[n] Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier" auf. Nietzsche sagt hier von diesen „Lehren", daß er sie „für wahr, aber für tödtlich" halte",14 tödlich für das Selbstverständnis des Einzelnen, aber auch im Blick auf den Zusammenhalt gewachsener Gemeinschaften. Wenn Erkenntnisse dieser Art „in der jetzt üblichen Belehrungs-Wuth noch ein Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert werden", so prognostiziert er, „so soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein". Auseinanderfallen muß, was sich nicht mehr in die Dunkelheit der Illusionen, in den umhüllenden Horizont bergen kann, welche allein die innere ,Einheit* und damit die Handlungsfähigkeit eines Volkes wie auch jedes Individuums gewähren.15 Wird im überhellen Licht der Erkenntnis „das rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente" weiterbetrieben, erfolgt deren „Auflösung in ein immer fließendes und zerfließendes Werden",16 so solle man sich nicht 13

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Über den Triumph des Historismus „in fast allen Wissenschaften" seiner Zeit notiert Nietzsche, daß „beinahe die überwiegende Masse Schriften historisch ist, ausgenommen die Mathematik und einzelne Disciplinen der Medicin und Naturwissenschaft" (Nachlaß Sommer-Herbst 1873, 29[83]; KGW III 4, 273f.). Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 315. - Wie tief diese Einsicht bei Nietzsche dringt, tritt noch schärfer aus der ,Vorstufe* zu dem zitierten Text hervor. In ihr wird deutlich, daß Nietzsche große innere Widerstände zu überwinden hatte, ehe er die folgende Konsequenz zu der seinen machen konnte: „Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte. Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw." - Daß man das verlorene Ewige auch nicht in den Instinkten wiederfinden kann, ist Nietzsche damals schon deutlich: „eben diese Instinkte sind bereits das Erzeugniß endlos lang fortgesetzter Prozesse." Nietzsche notiert hier weitergehende Zweifel: so den an der ,adäquaten Objektivierung' des Willens im Sinne des damals von ihm noch verehrten Schopenhauer. Auch der Schopenhauerische Wille ist nicht das Einfache, als das dieser ihn ausgibt. Vielmehr ist „auch dieser Wille [...] ein höchst complicirtes Letztes in der Natur. Nerven vorausgesetzt." Diese Bemerkung weist schon in die Dimension der ,Physiologie' (Nachlaß Sommer 1872-Anfang 1873, 19[132]; KGW III 4, 49). Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 315. Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1,309. - Die Erhellung des Werdens treibt

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wundern, wenn an Stelle der Gemeinschaften „dann vielleicht Systeme von Einzelegoismen, Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-Brüder und ähnliche Schöpfungen utilitarischer Gemeinheit auf dem Schauplatz der Zukunft auftreten werden." 17 Der .unzeitgemäße Nietzsche' hat damit (lange vor seiner späteren Prognose des Nihilismus als der Entwertung der obersten Werte) Konstellationen vorhergesehen, die im 2 0 . Jahrhundert eingetreten sind. Die aus ihnen resultierenden Entwicklungen nehmen auch an dessen Ende ihren rasanten Fortgang. Da den ,Einzelegoismen' inzwischen wissenschaftlich-technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, von denen Nietzsche noch keine Vorstellung haben konnte, droht mit der Zersplitterung und der Auflösung alles früher einmal Verbindlichen im 21. Jahrhundert nicht weniger als die Selbstzerstörung der Menschheit. Nietzsche beschreibt den Zerfall durch den Historismus, der den Menschen in die Orientierungslosigkeit führen werde. 18 In seiner Zeit trifft er

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den modernen Menschen zur rastlosen Hast. An seiner „geschwächten Persönlichkeit" gleitet vorüber, was ihm begegnet, ohne daß es einen,bleibenden' Eindruck in ihm hinterläßt. Er ist „zum geniessenden und herumwandelnden Zuschauer geworden und in einen Zustand versetzt, an dem selbst grosse Kriege, grosse Revolutionen kaum einen Augenblick lang etwas zu ändern vermögen. Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt." (Vom Nutzen und Nachtheil 5; KGW III 1,275) Die Mittel, mit denen das von Nietzsche geschilderte historische Bedürfnis im 19. Jahrhundert eine öffentliche Befriedigung erfuhr, stellen einen noch schwächlichen und vergleichsweise harmlosen Vorläufer des medialen Informationsstroms unserer Zeit dar, der jede Besinnung verhindert. Ganz abgesehen von dem Sachverhalt, daß in den visuellen und akustischen Medien selbst Information noch im Reizangebot als solchem versinkt. Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 315. - Wegbereiter für eine derartige Zukunft ist nicht zuletzt die blasierte Presse: „Selbst nicht gebunden, leugnet der historische Journalist alle Bande: er lässt sie nur im utilitarischen Sinne bestehn." (Nachlaß Sommer-Herbst 1873; KGW III 4, 29[57], 260.) Karl Hillebrand hat schon 1873 eingewandt, Nietzsche spreche so, „als ob die ganze deutsche Nation eine akademische Erziehung genossen und im historischen Wissen erstickt wäre". Er hätte sich nur z.B. in Hamburg oder Chemnitz umsehen oder auch Beamte und Offiziere in ihrem Berufe beobachten müssen, um zu erkennen, daß rasches und sicheres Handeln da nicht durch historistische Hypertrophie beeinträchtigt werde. (Ueber historisches Wissen und historischen Sinn, in: Zeiten, Völker, Menschen. 2. Bd., 2 1892, 316, 306. - S. dazu und zum Folg. Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, 38f., Anm. 20.) Nietzsche nimmt aber schon die innere

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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aber auch auf den philosophisch begründeten Anspruch, der Mensch habe eine Höhe seiner Persönlichkeit erreicht, die ihn zum Erben des gesamten Weltprozesses erhebe. Die Zweite Unzeitgemäße sieht in solchem Selbstverständnis die andere große Gefahr. Der moderne Mensch soll - gemäß der „Hegelisch verstandene[n] Geschichte" - „Sinn und Lösung aller Werde-Räthsel überhaupt" sein und „die eigne Zeit [...] das nothwendige Resultat dieses Weltprozesses". Mit „schwellende[m] Hochgefühl" sieht er sich auf dessen „Pyramide" stehen. In ihm selbst soll sich die Entwicklung, welche von der Pflanzen- über die Tiergeschichte bis zum Menschen hin durchlaufen worden ist, vollenden: genauer vollendet haben*9 Doch der Anspruch, den der ,,überstolze[r] Europäer" als ein „Wissender" erhebt, hält nicht stand, wenn er als ein „Könnender" befragt wird: auf sein Handeln, auf die Zukunft hin. Dann „weichen Grund und Boden [...] in's Ungewisse für dich zurück; für dein Leben giebt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder neue Griff deiner Erkenntniss auseinanderreisst."20 In die Handlungsunfähigkeit wird in der Moderne also nicht nur der Orientierungslose geführt, sondern auch derjenige, der sich in der Gegenwart als dem Gipfel geschichtlicher Entwicklung festmacht.

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Wehrlosigkeit des noch vermeintlich ,Sicheren' gegenüber künftigen Entwicklungen wahr, dessen nur scheinbar noch tragfähige Fundamente schon unterhöhlt sind, ohne daß er es weiß. Vom Nutzen undNachtheil 9; KGW III 1, 308; a.a.O., 8; KGW III 1 , 3 0 4 . - Wenn Nietzsches späteres genealogisches Denken sich an der Entwicklungslehre orientiert und den Menschen ebenfalls in seiner Herkunft aus tierischem, ja pflanzlichem Leben und sogar von chemischen Kräften her zu verstehen versucht (wie in den folgenden Abschnitten dieser Abhandlung darzulegen sein wird), so beschreibt er eine ,Geschichte des Zufalls'. Die Annahme des Wirksamwerdens der Vernunft in der Geschichte, deren angebliche Entwicklung auf ein Ziel hin, ist für ihn eine Konstruktion, die nichts mit dem wirklichen Geschehen zu tun hat. (Hingewiesen sei auf Nietzsches kritische Bemerkungen anläßlich seiner Hegel-Lektüre von 1873: v.a. a.a.O., 29[72], [73], [74]; KGW III 4 , 2 6 8 - 2 7 1 . ) Nietzsche zieht in der Zweiten

Unzeitgemäßen Eduard von Hartmann als angeblichen „philosophischen Parodisten" heran (Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 3 0 9 - 3 1 5 , hier: 309), weil dieser „den Gedanken eines Weltprozesses todtmacht, dadurch dass er consequent ist" (Nachlaß Sommer-Herbst 1873,29[52]; KGW III 4, 256. Vgl. dazu J. Salaquarda

[Anm. 2], 33-45). - Vgl. Vf.: Über das Ganze' und über Ganzheiten' bei Nietzsche,

in: Nietzsche Interpretationen II, Exkurs 4. 20

Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 309.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

„Zuletzt", so hat Nietzsche 1873 notiert, „zerfällt alles in Solche, welche historisch leben und Solche, welche nur historisch tödten."21 Derjenige, der den historischen Sinn „ungebändigt walten" läßt „und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft", auf die hin der .historisch Lebende' handelt, indem er „die Illusionen zerstört", die solches Handeln ermöglichen.22 Nietzsche fordert die Anwendung von Gegenmitteln gegen die Licht-Überflutung durch das erkannte Werden. Neben das Unhistorische, die „Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen", ohne sich egoistisch zu verengen, stellt Nietzsche das Uberhistorische, worunter er „die Mächte" versteht, „die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt". Die von Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen für eine „Gesundheitslehre des Lebens" vorgeschlagenen Heil23 verfahren mögen nun zwar die historische Krankheit erträglich machen können. Den stärker von ihr Befallenen, zu denen er selber gehört, können sie Linderung gewähren, dauerhafte Heilung jedoch nicht verschaffen. Ohnehin dominieren in diesen Ratschlägen das Ausweichen und die Abwehr gegenüber dem Historischen. Am Schluß der Zweiten Unzeitgemäßen legt Nietzsche dem Einzelnen nahe, nach dem Vorbild der Griechen zu lernen, „das Chaos in sich zu organisiren", indem „er sich auf seine ächten Bedürfnisse zurückbesinnt".24 Damit ist ausgesprochen, woran er auch später festhalten wird. In Gegensatz zur Besinnung auf Selbstorganisation steht aber die schon 1873 (und in der Historienschrift) erhobene Forderung an den Einzelnen, sich selber „hohe und edle Ziele" zu stecken, selbst wenn er mit ihnen nichts .erreicht'. Führen doch die Fragen, „wozu die Menschen da sind, wozu ,der Mensch' da ist", ins Leere. „Ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen".25 In der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II von 1886 ist in gewandeltem Sinn die Rede von einer „Gesundheitslehredie Nietzsche als „disciplina voluntatis" empfiehlt. Im Rückblick auf Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) und Der Wanderer und sein Schatten (1880) spricht er 21 22 23 24 25

Nachlaß Sommer-Herbst 1873, 19[31]; KGW III 4, 246. Vom Nutzen und Nachtheil 7; KGW III 1, 291. Vom Nutzen und Nachtheil 10; KGW III 1, 326f. Vom Nutzen und Nachtheil 10; KGW III 1, 329. Nachlaß Sommer-Herbst 1873, 29[54]; KGW III 4, 259. Vom Nutzen und Nachtheil 9; KGW III 1, 315.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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von der „Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur", die er sich zuerst mit Menschliches, Allzumenschliches, seinem „Buch für freie Geister", 1878 „selbst erfunden, selbst verordnet" hatte. Sie diente „der antiromantischen Selbstbehandlung". Zu deren Folgen gehörte auch, daß er, als mühsam von der ,historischen Krankheit' Genesender, „ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf .Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte". 26 Das bedeutet nicht, daß Nietzsche nun z.B. an der modernen Art Historie zu treiben, z.B. an der Geschichtsschreibung, Gefallen gefunden hätte. Die Kritik an deren objektivierender Haltung vertieft und verschärft er noch im späteren Werk. Jene Geschichtsschreibung will nur „Spiegel" sein, „sie verschmäht es, den Richter zu spielen, [...] sie bejaht so wenig als sie verneint": in solchem Asketismus ist sie „nihilistisch", dem Leben feindlich.27 Das gilt für die Wissenschaft überhaupt. Diese ruht „auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung". Der Typus des Gelehrten tritt nach Nietzsche in Zeiten des Niedergangs besonders hervor, wenn „die überströmende Kraft, die Lebens-Gewissheit, die Zukunfts-Gewissheit [...] dahin" sind.28 Auf das Leben und auf die Zukunft des Menschen kommt es Nietzsche im späteren Werk noch entschiedener an als in der Zweiten Unzeitgemäßen. Er erweitert dabei sein Blickfeld auf eine Weise, in der noch viel mehr Grenzpfähle umgestoßen werden, als der Historismus dies nach seinem Urteil getan hat und tut. In der Fröhlichen Wissenschaft läuft Nietzsche in noch ferne Zeiten vor und sieht von ihnen her auf den „gegenwärtigen Menschen" zurück, bei dem er „nichts Merkwürdigeres" findet als dessen „eigentümliche Tugend und Krankheit, genannt ,der historische Sinn'". Dieser ist in solcher Perspektive „ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte", woraus „am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem ebenso wundervollen Gerüche werden" könnte, „um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher". Den Reichtum des Lebens trüge dann derjenige in sich, der „die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu

26

27 28

Menschliches, Allzumenschliches II, Vorrede 2 , 1 ; KGWIV 3 , 5 , 4 . - Für Nietzsche gehören dabei in einem positiv verstandenen Sinne zusammen: „antimetaphysisch, antiromantisch, artistisch, pessimistisch, skeptisch, historisch" (Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[186]; KGW VIII 1, 158). Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 26; KGW VI 2, 423f. Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 25; KGW VI 2, 420ff.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

fühlen" wüßte.29 Er wäre „der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte". Die hohen Ziele, die der Einzelne sich gemäß dem Ende der Historienschrift setzen sollte, ohne Rücksicht darauf, ob er an ihnen zerbräche, werden hier in das Ideal einer zukünftigen „Menschlichkeit" überführt und ausgeweitet, deren Repräsentant „Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit [...] endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen" könnte. Eine ungeheuer plastische Kraft wird dafür erforderlich. Nietzsche schwebt darin „eines Gottes Glück, voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens" vor, „ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in's Meer schüttet ...". 30 In der Gestaltung seines Zarathustra wird Nietzsche an diesem überschwenglichen Ideal weiterdichten.

2. Zur Bedeutung des Werdens in der frühen Philosophie

Nietzsches

„Der Muthigste unter uns hat nicht Muth genug zu dem, was er eigentlich weiß", schreibt Nietzsche 1887. „Darüber, wo Einer stehen bleibt oder noch nicht, wo Einer urtheilt, ,hier ist die Wahrheit', entscheidet Grad und Stärke 29

Die fröhliche Wissenschaft 3 3 7 ; KGW V 2, 244. - Über den historischen Sinn' äußert sich der spätere Nietzsche ambivalent; es kommt für ihn darauf an, was der Mensch aus ihm macht. „Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit" können „ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal oder das Fehlen desselben" sein. „Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen." So heißt es im Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[99]; KGW V 2, 375, 374f. Die Bereicherung und Erweiterung der eigenen Ideale durch das Rezipieren anderer, die er in anderen Zusammenhängen betont (vgl. schon das oben Folgende), läßt Nietzsche hier außer acht. - Schon in der Zweiten Unzeitgemäßen hatte er sich darum bemüht, die Herrschaft des »historischen Sinnes' ihrerseits historisch zu begreifen (vgl. Vom Nutzen und Nachtheil 8; KGW III 1, 301ff.); in Jenseits von Gut und Böse hat er einen schärfer konturierten Versuch dieser Art unternommen (224; KGW VI 2, 163ff.).

30

Die fröhliche Wissenschaft 3 3 7 ; KGW V 2, 244f.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

191

seiner Tapferkeit".31 Man kann etwas »eigentlich' wissen, die Wahrheit des Gewußten sogar einräumen und ihren Konsequenzen gleichwohl zu entgehen suchen. So stellt sich sogar noch die im ersten Abschnitt beschriebene Haltung Nietzsches gegenüber dem souveränen Werden in der Zweiten Unzeitgemäßen dar, wenn wir sie mit der Rückhaltlosigkeit vergleichen, mit der er sich der Problematik des Werdens später aussetzt. Allerdings hat sie schon den jungen Nietzsche auf vielfältige Weise umgetrieben. Darauf soll noch zurückgegangen werden, bevor wir uns seiner späteren und radikalen Philosophie des Werdens zuwenden. In Fatum und Geschichte sieht der Siebzehnjährige z.B. die Moral als „das Resultat einer allgemeinen Menschheitsentwicklung" an, die „in der unendlichen Welt nicht mehr bedeutet, als das Ergebniß einer Geistesrichtung in der unsrigen". Schon hier stellt er die Erwägung an, „ob die Menschheit selbst nicht nur eine Periode [...] im Werdenden ist", das er dabei übrigens ,das Allgemeine' nennt, damit seine grundlegende Bedeutung anzeigend. Die Behauptung des Entwicklungszusammenhangs alles Seienden, auf deren Ausarbeitung wir beim späteren Nietzsche noch stoßen werden, taucht in Gestalt von Fragen schon in dem herangezogenen »Germania4-Vortrag auf: „Ist nicht vielleicht der Mensch die Entwicklung des Steines durch das Medium Pflanze Thier? Wäre hier schon seine Vollendung erreicht und läge hierin nicht auch Geschichte?"32 Wie wir schon gehört haben, kritisiert er in der Zweiten Unzeitgemäßen gerade die ,Vollendungsbehauptung' des Hegelianismus, insofern diese die Zukunft verschließe.33 In Fatum und Geschichte bedrängt ihn freilich vor allem die Frage: „Hat dies ewige Werden nie ein Ende?" Zugleich meldet sich auch die Frage nach den verborgenen „Triebfedern dieses großen Uhrwerks", welche „dieselben in der großen Uhr" sind, „die wir Geschichte nennen". Deren Zeiger rückt „von Stunde zu Stunde ... weiter, um nach Zwölfen seinen Gang von Neuem anzufangen, eine neue Weltperiode bricht an".34 Am Ende seines Vortrags spricht der junge Nietz-

31 32 33 34

Nachlaß Herbst 1887, 9[52]; KGW VIII 2, 25. Jugendschriften 1 8 6 1 - 1 8 6 4 ; BAW 2, 5 4 - 5 9 , hier: 56. S. oben S. 186f. Jugendschriften 1 8 6 1 - 1 8 6 4 ; BAW 2, 56. - „Der ewige Produktionstrieb" verarbeitet die „unter den äußern Eindrücken" gebildeten Ideen „als Stoff zu neuen", die „das Leben gestalten, die Geschichte regieren". Der junge Nietzsche sieht hierin „ein Kämpfen und Wogen verschiedenster Strömungen mit Ebbe und Fluth, alle dem ewigen Ozeane zu" (welches Bild zu den von ihm besonders häufig gebrauchten gehört). Dabei bewegt sich alles „in ungeheuren immer weiter werdenden

192

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

sehe von ,,höhere[n] Principien [...], vor denen alle Unterschiede", welche sich in der Weltgeschichte als „Geschichte der Materie" gebildet haben, „in eine große Einheitlichkeit zusammenfließen". Vor ihnen sei „alles Entwicklung, Stufenfolge" und ströme „einem ungeheuren Ozeane" zu, „wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wiederfinden, vereinigt, verschmolzen, all-eins". 35 So diffus diese Rede von All-Einigkeit beim jungen Nietzsche bleibt, so entlastet sie doch vom ,ewigen' Werden, indem sie dessen ,Ende' zur Vorstellung bringt. Die hiermit angesprochene Problematik verkehrt sich später, in der Geburt der Tragödie, auf eigentümliche Weise. Das Verhältnis von ,Sein' und,Werden' wird hier unter dem Zeichen des Apollinischen und Dionysischen als zweier Kunstgottheiten präsentiert. Im Unterschied zu seinem späteren Begriff des Dionysischen geht Nietzsche hier, in einer auf besondere Weise gebrochenen Schopenhauer-Rezeption,36 von der ,,metaphysische[n] Annahme" des Ur-Einen als des ewig Leidenden und ewig Widerspruchsvollen aus, das uns zu seiner Erlösung den Schein „als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden" nötigt. Das Werden in seiner Endlosigkeit wird dabei, als das in Wahrheit „Nichtseiende" der Erscheinungswelt, zwar hinsichtlich seiner Macht herabgesetzt, und seine Bedeutung wird im es gründenden Ur-Einen ,aufge-

Kreisen um einander; der Mensch ist einer der innersten Kreise." (A.a.O., 56f.) Richard Bluncks Ausführung, daß Nietzsche schon in diesem Vortrag Themen seiner späteren Philosophie anklingen läßt (Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend, 1953. Jetzt in: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München/Wien 1958. Erster Teil. 98 - 1 0 4 ) , ließe sich aus den zitierten Zusammenhängen gut belegen. Bei den Fragen nach dem Werden und der Geschichte ist dies offenkundig; den,Produktionstrieb' und die,Triebfedern' des Geschehens arbeitet der späte Nietzsche als Kampf der Willen zur Macht miteinander aus, im Kreisen des ,ewigen Werdens' können wir einen Vorklang des Wiederkunftsgedankens finden. Man darf die Beziehung zwischen frühem Suchen und späteren ,Ergebnissen' bei Nietzsche freilich nicht überstrapazieren. 35

36

A.a.O., 59. - Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, II. Jugend, 2. Teilbd. 1 8 6 2 - 1 8 6 4 , Berlin-Aschaffenburg 1994, 83f. In ihr macht sich der Einfluß geltend, den die Lektüre von Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin 1869, zunächst auf Nietzsche ausgeübt hat. Vgl. Federico Gerratana, Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches ( 1 8 6 9 - 1 8 7 4 ) , in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 3 9 1 - 4 3 3 , hier bes. 4 1 2 - 4 1 4 .

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

193

hoben'. Seine eigentliche' Erlösung kann dieses allerdings nicht schon im Werden finden. „Als eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde" stellt sich dessen Aufhebung im „Schein des Scheins" dar, die sich im Traum und vor allem in der Vision des naiven und besonders des apollinischen' Kunstwerks vollzieht. 37 So wird auch hier noch das Werden letztlich gebannt. Daß Nietzsche schließlich jedoch keinerlei Bann des W e r d e n s mehr zulassen will, hat viele Gründe. Für ihr Verständnis muß wieder auf die geistige Situation des 19. Jahrhunderts hingewiesen werden. W e n n das Vertrauen in die Vernunft schmilzt, wenn die Autoritäten, an die man sich hielt, zerfallen und alle bislang wirksamen Bindungen sich auflösen, wenn alles, was ,fest' schien, morsch wird und seine Tragfähigkeit verliert, so drängt sich in solchem Verfallen die Frage nach den es vorantreibenden Prozessen auf. Was ,ist', zeigt sich in seiner Halt-losigkeit; nur Werden und Vergehen bilden als der Grundvorgang ,die Wahrheit' für den, der sich nicht durch den Schein von Vordergründigem blenden läßt. 38

37 38

Die Geburt der Tragödie 4; KGW III 1, 34ff. Man kann, auch und gerade hinsichtlich von Nietzsches Radikalisierung der Frage nach dem Werden, mit Karl Jaspers sagen, daß es seine Aufgabe zu sein scheint, „die Erfahrung dieses Zeitalters im eigenen Wesen zu Ende zu vollziehen, seine Wirklichkeit selbst vollkommen zu sein, um sie zu überwinden" (Vernunft und Existenz, München 1960, 18). Jaspers bezeichnet dies zugleich als die Aufgabe Sören Kierkegaards, bei dem „alles Bestehende" — in anderer Weise als bei Nietzsche - „gleichsam verzehrt" wird „in einer schwindelerregenden Bewegung". Jaspers hat Nietzsche und Kierkegaard als Schicksalsgenossen zusammengestellt, deren „Verschiedenheit das Gemeinsame um so eindrucksvoller macht". Dieses Gemeinsame tritt in Jaspers' Vergleich so hervor, „daß die Notwendigkeit der geistigen Situation ihres Jahrhunderts ihr Wesen hervorgebracht zu haben scheint. Mit ihnen geschah ein Ruck des abendländischen Philosophierens, dessen endgültige Bedeutung noch nicht abzuschätzen ist." (A.a.O., 1 2 - 5 9 , hier: 13) Die beiden Denker sind, „ergriffen von dem Gedanken: was aus dem Menschen wird", sie sind „selbst die Modernität in einer sich überschlagenden Gestalt; sie haben sich scheiternd überwunden, weil sie sie bis zum Ende durchgelebt haben. Wie aber beide das Zeitalter nicht passiv, sondern selbsttuend erfahren dadurch, daß sie ganz tun, was die meisten nur halb mit sich geschehen lassen" (a.a.O., 20), macht in der Tat ihre Gemeinsamkeit aus (wobei man Jaspers' Einschätzungen im einzelnen nicht zu teilen braucht). Zutreffend ist jedenfalls, daß beide nicht „eine Grundposition, nicht ein Weltbild, sondern eine neue denkende Gesamthaltung des Menschen im Medium unendlicher Reflexion" bringen (a.a.O., 14). Sie treten auf „wie der Ausdruck des Verhängnisses, das als solches" zu ihrer Zeit „noch niemand - außer in augenblicklichen, schnell wieder vergessenen Ahnungen - bemerkt, das aber in

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Zweierlei sei zum Verständnis von Nietzsches Radikalisierung der Frage nach dem Werden hervorgehoben, das sich angesichts seiner frühen Bemühungen um deren Problematik besonders stark aufdrängt. Da ist zum einen das Gewicht, das die Naturwissenschaft für ihn von früh an besitzt. Sie und die Geschichte galten ihm schon in dem herangezogenen »Germania'-Vortrag als „die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer Spekulation bauen können". 3 9 Sie tragen in sich aber jene auflösenden Tendenzen, die alles Seiende auf Prozesse zurückführen. Zum anderen ist es der Eindruck, den er Heraklits Philosophieren entnimmt. Er findet in diesem die konsequente Leugnung allen Seins zugunsten des ewigen und alleinigen Werdens. 40 Zwar heißt es in der nachgelassenen Aufzeichnung Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ( 1 8 7 3 ) noch, Heraklits Lehre von der „gänzliche [n] Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist", erzeuge in uns „eine furchtbare und betäubende Vorstellung", die „am nächsten der Empfindung verwandt" sei, „mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert". Nietzsche fügt jedoch bewundernd hinzu, daß „eine erstaunliche Kraft" dazu gehöre, „diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen", wie dies bei Heraklit geschehe. 41

39 40

41

ihnen sich schon versteht" (a.a.O., 13). 1935 sagt Jaspers: „Es könnte sein, daß wir alle noch nicht wissen, was dieses Denken" - gemeint ist dasjenige Nietzsches „im Ganzen in sich schließt und bewirkt" (a.a.O., 37). Wir Heutigen wissen das, mehr als sechzig Jahre später, nach unterschiedlichsten Inanspruchnahmen seines Philosophierens, ebenfalls noch nicht. Fatum und Geschichte; BAW 2, 55. Uvo Hölscher hat in seinem Aufsatz Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit (in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 15/16: Aktualität der Antike, 1979, 1 5 6 - 1 8 2 ) Nietzsche in den Zusammenhang der »Geschichte' des Heraklitismus innerhalb des europäischen Denkens gestellt. Vor allem aber bringt er zutage, in welchem Maße sich Nietzsche bis zum Ende seines Denkens von Heraklit bewegt sieht. - Verwiesen sei ferner auf Jackson P. Hershbell and Stephen A. Nimis, Nietzsche and Heraclitus, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 1 7 - 3 8 ; Tilman Borsche, Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 1, hg. v. J. Simon, Würzburg 1985, 6 2 - 8 7 , hier insbes. 72ff.; Günter Wohlfart, .Also sprach Herakleitos'. Heraklits Fragment Β 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, Freiburg/München 1991. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 5; KGW III 2, 318f. - Vgl. dazu Nietzsches Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen, die er (spätestens) schon im SS 1872 in Basel gehalten und im WS 1875/76 sowie im SS 1876 erneut vorgetragen hat. Uber Heraklits „intuitive Perception" heißt es hier u.a.: „es giebt

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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Später wird Nietzsche fragen, ob dessen Radikalisierung des Werdens, das selbst den Begriff ,Sein' ablehnt, auf die Höhe seines eigenen Gedankens, gipfelnd in der Wiederkunftslehre, gelangt sei. In der Vorlesung über Die vorplatonischen Philosophen hat Nietzsche seine Hörer auf Heraklits Lehre gewissermaßen vorbereitet, indem er an die zeitgenössischen Naturwissenschaften anknüpfte, denen zufolge alles im Flusse und „ein starres Beharren [...] nirgends" ist. Damit treten die beiden von mir genannten besonderen Aspekte zu Nietzsches Fragen nach dem Werden argumentativ zusammen. Er bezieht sich dabei speziell auf die Akademierede, die Karl Ernst von Baer 1860 gehalten hatte: »Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige?'. Nach von Baer scheint „die Schnelligkeit des Empfindens u. der willkürl. Bewegung, also des geistigen Lebens, [...] bei verschiedenen Thieren ungefähr der Schnelligkeit ihres Pulsschlags proportional zu sein [...] Das innere Leben der verschiedenen Thiergattungen (Mensch incl.) verläuft in dem gleichen astronomischen Zeitraum mit spezifisch verschiedener Geschwindigkeit u. darnach richtet sich das verschiedene subjektive Grundmaß der Zeit." Nietzsche zieht im Anschluß an von Baer, aber in weit über diesen hinausgehender, eigener Radikalisierung von dessen Ansatz,42 Möglichkeiten aus, die sich aus einer hypothetischen Verlangsamung oder Beschleunigung des Pulsschlags für die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen ergeben würden. Er verschiebt dabei dessen Zeitmaß in die Extreme. „Dächte man sich die unendlich schnellste aber durchaus menschliche Perception, so hört jede Bewegung auf, alles wäre ewig fest." Für sie gäbe es kein Werden. „Dächte man sich dagegen die menschliche Perception unendlich gesteigert nach der Stärke u. Kraft der Organe, so wäre umgekehrt auch nicht im unendlich kleinsten Zeittheil ein Beharrendes zu entdecken, sondern nur ein Werden." Das würde bedeuten, daß „alle uns bleibend scheinenden Gestalten [...] in der Ubereile des Geschehens zerfließen u. vom wilden Sturm des Werdens verschlungen" wären. Für unser Thema ist dabei wesentlich, daß Nietzsche nicht auf einen Relativismus abhebt (was sich nahelegen würde), sondern auf die Grenzenlosigkeit des Werdens, die seine spätere Philosophie noch schärfer thematisieren wird: „Die Natur ist nach innen ebenso unendlich als nach außen: wir gelangen jetzt bis zur Zelle u. zu den Theilen der Zelle: aber es giebt gar keine Grenze, wo man sagen

42

kein Ding, von dem man sagen könnte ,es ist*. Er leugnet das Seiende. Er kennt nur das Werdende, das Fließende. Den Glauben an das Beharrende behandelt er als Irrthum u. Dummheit." (Vorlesungsaufzeichnungen; KGW II 4, 270.) So verfährt er übrigens häufig bei seinen Rezeptionen.

196

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

könnte, hier ist der letzte Punkt nach innen, das Werden hört bis ins Unendliche Kleine nie auf. Aber auch im Größten giebt es nichts absolut Unveränderliches." 43

43

Die vorplatonischen Philosophen·, KGW II 4, 269f. - S. dazu ausführlicher: Karl Schlechta/Anni Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, II. Teil, 6 0 - 7 2 . - Unter den zahlreichen Schriften von naturwissenschaftlicher und erkenntnistheoretischer Relevanz, die Nietzsche in seinen Basler Jahren zur Vertiefung in die Problematik des Werdens las, sei Roger J. Boscovichs Philosophiae naturalis Theoria (1759) hervorgehoben. Noch in Jenseits von Gut und Böse stellt er ihn mit Kopernikus als bedeutenden „Gegner des Augenscheins" zusammen. „Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde feststand', abschwören, dem Glauben an den ,Stoff', an die ,Materie', an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom; es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist." (12; KGW VI 2, 20.) - Zu Nietzsches Boscovich-Rezeption in den frühen siebziger Jahren vgl. Schlechta/Anders, a.a.O., 127 - 1 4 0 ; George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1883, insbes. 224ff. Besondere Beachtung verdient Greg Whitlock, Roger Boscovich, Benedict de Spinoza and Friedrich Nietzsche: The Untold Story, Nietzsche-Studien 25 (1996), 2 0 0 - 2 2 0 . Whitlock führt aus, daß ,ßoscovich's theory of force is the parent theory to both the eternal return of the same and the theory of will to power" (a.a.O., 203). -Nietzsches „Zeitatomenlehre" von 1873 (26[11-13] ; KGW III 4, 1 7 6 - 1 8 1 ) überträgt Boscovichs ,Raumatomistik' auf den Bereich von Empfindung und Vorstellung. Dabei übersetzt er u.a. alle Bewegungsgesetze (als Raumgesetze) in „Zeitproportionen". Dem oben herangezogenen Gedanken, daß man auch im Kleinsten ,nach innen' kein nicht noch Teilbares finden könne, korrespondiert hier seine Ausführung zur unendlichen Teilbarkeit der Zeit. „Die ganze Welt" ist ihr gemäß „möglich rein als Zeitphänomen, weil ich jeden Zeitpunkt mit dem einen Raumpunkt besetzen kann, somit ihn unendliche Mal setzen kann. Man müßte sich somit als Wesen eines Körpers Zeitpunkte distinkt denken, d.h. den einen Punkt in bestimmten Zwischenräumen gesetzt. Zwischen jedem Zeitzwischenraum haben noch unendliche Zeitpunkte Platz: also könnte man sich eine ganze Körperwelt denken, alle aus einem Punkte bestritten, aber so, daß wir Körper in ununterbrochene Zeitlinien auflösen." (Nachlaß Frühjahr 1873,26[12]; KGW III 4, 178.) - Es muß hier bei diesen spärlichen Hinweisen auf Nietzsches frühen Versuch bleiben, die Problematik des Werdens auf Zeitverhältnisse hin zu vertiefen (welche auch andere zeitgenössische wissenschaftliche Einflüsse aufnimmt). Vgl. dazu Schlechta/Anders, a.a.O., 1 4 0 - 1 5 3 , ferner inzwischen Whitlock, Examining Nietzsche's ,Time Atom Theory' Fragment from 1873, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 361-383.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

3. Über den Menschen in einer 'Welt des,absoluten'

197

Werdens

Welche Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen hat es, wenn Nietzsche mit dem unausgesetzten und halt-losen Werden philosophisch ernst macht? Wie können wir ,uns selbst' kennenlernen? Nicht weit trägt dabei „die unmittelbare Selbstbeobachtung". In jedem unserer Augenblicke haben wir die Empfindung des „Fortströmens". Noch „wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit's Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss". Im Durchgang durch die Moderne brauchen wir Heutigen „Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort".44 Wir sind in diesem radikalisierten Sinn von .historisch' in das Werden und Vergehen hineingeworfen. Die Geschichte des Denkens hat uns gezeigt, daß alles früher als beständig Geglaubte oder Angenommene sich als hinfällig erwiesen hat. Auch unsere gegenwärtigen Uberzeugungen gehören der Vergänglichkeit an. Daß wir durch und durch historisch sind,45 besagt dann nicht nur, daß für uns „das Dauerhafteste [...] noch unsere Meinungen" sind, die wir uns über die Dinge bilden. In Wirklichkeit, darauf läuft der Gedanke hinaus, gibt es gar kein Sein im Sinne von Festem oder gar Beständigem. Deshalb gibt es auch „keinen Thatbestand", wie wir ihn ständig fingieren und um unserer Erhaltung willen fingieren müssen·, „alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend".46 Die von uns vorgestellte „Welt" ist nichts als „eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist ,im Flusse'". Und wie sie selber „etwas Werdendes", sich ständig Verschiebendes ist,47 so sind auch wir, das Individuum, das z.B. beobachtet, etwas „Flüssiges".48 Genauer besehen ist auch die Vorstellung „Individuum' ein Irrthum",49 wenn ich mit ihr die Vorstellung von irgendetwas Konstantem verbinde. „Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem, was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Complexe des Geschehens", welche nur „in Hinsicht auf andere Complexe scheinbar dauerhaft" sind.50 44 45

46 47 48 49 50

Menschliches, Allzumenschliches II, Meinungen 2 2 3 ; KGW IV 3, 113. „Wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch". (Nachlaß April-Juni 1885, 34[73]; KGW VII 3, 162) Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[82]; KGW VIII 1, 98. Nachlaß Nachlaß Nachlaß Nachlaß

Herbst Herbst Herbst Herbst

1885-Herbst 1886, 2[108]; KGW VIII 1, 112. 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 49. 1887, 9[30]; KGW VIII 2, 13. 1887, 9[91]; KGW VIII 2, 48.

198

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Wir selbst sind keine Individuen, insofern es „keine Subjekt-,Atome'" gibt. Die Sphäre des Subjekts erweitert oder verringert sich „beständig", und ihr „Mittelpunkt" verschiebt sich fortlaufend:51 Es wird in späterem Zusammenhang noch zu zeigen sein, daß solche Prozessualität nicht nur für die menschlichen Subjekte gilt. „Jedes Einzelwesen" ist „eben der ganze Prozeß in gerader Linie", welche ständig weiter zu ziehen ist, weshalb jedem „Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung" zukommt.52 Darin sind wir „mehr als das Individuum, wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette,"53 Die vorgetragene »Behauptung' vom unablässigen Flusse, in den Nietzsche alles hineinnimmt, was ,ist', d.h. in Wahrheit ständig nur ,wird', bedarf der Bewährung am »Gegebenen'. Er hat seine letzten Einsichten unmitteilbar genannt und ausgeführt, die Sprache könne nur auf Sachverhalte' hinweisen, sie aber nicht,erfassen'.54 „Der Charakter der werdenden Welt" ist „unformulirbar", schreibt er. Mehr noch: „Erkenntniß und Werden schließt sich aus." Der ersteren „muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn"; dieser Wille muß als „eine Art Werden selbst [...] die Täuschung des Seienden schaffen".55 Den ungeheuren Schwierigkeiten der Aufgabe, die Nietzsche in seiner Philosophie des Werdens auf sich nimmt, steht vielerlei entgegen. So wehrt sich das Selbstbewußtsein des Menschen trotz der am Anfang dieses Abschnitts genannten Unmöglichkeit einer fest-stellenden Selbstbeobachtung gegen die Radikalität einer Auflösung allen Seins in das Werden. Im Selbstbewußtsein liegt immer auch, daß es Beharrendes ,gibt', daß viel Gleichheit und Ähnlichkeit ,da ist'. Ohne solches ,Gegebensein' wären nicht einmal Unterscheidungen möglich. Auch „das unbedingt Verschiedene im fortwährenden Wechsel wäre nicht festzuhalten, an nichts festhaltbar". Mit einem eindrucksvollen Bild sagt Nietzsche: „es flösse ab wie der Regen vom Steine". Auch wäre „ohne ein Beharrendes [...] gar kein Spiegel da, worauf sich ein Neben- und Nacheinander zeigen könnte: der Spiegel setzt schon etwas Beharrendes voraus." Will Nietzsche seine These vom „muthmaaßlich 51 52

53 54

"

Nachlaß Herbst 1887, 9[98]; KGW VIII 2, 55. Nachlaß Herbst 1887, 9[30]; KGW VIII2, 13. - Die Wissenschaft hat „das Individuum nicht begriffen: es ist das ganze bisherige Leben in Einer Linie und nicht dessen Resultat" (A.a.O., 9[84]; KGW VIII 2, 42). Nachlaß Herbst 1887, 9[7]; KGW VIII 2, 6. Vgl. Das Problem des Gegensatzese oben S. 16f. Nachlaß Herbst 1887, 9[89]; KGW VIII 2, 46.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

199

absoluten Fluß des Geschehens" durchhalten, so muß er noch jenes Selbstbewußtsein als irrtümlich aufzuweisen suchen.56 Der Aufweis kann nur im Verweis auf Prozesse des Werdens erfolgen, durch den die Herkunft der täuschenden Meinung von der vermeintlichen stabilitas des Subjekts plausibel gemacht wird. Nietzsche geht bis in die Anfangsgeschichte des Lebens zurück, um darzutun: „das Subjekt könnte entstehen, indem der Irrthum des Gleichen entsteht". 57 Davon wird - unter anderem - in den folgenden Abschnitten zu handeln sein. Das abendländische Denken steht im ganzen auf dem Spiel, wenn Nietzsche (in einer ganz anderen geschichtlichen Situation als sein ,Vorgänger' Heraklit) das Verständnis von Sein als Beständigkeit nicht nur in Frage stellt, sondern es in das Werden zerrinnen läßt. Er beansprucht darin den „großen Umschwung" in der Philosophie herbeigeführt zu haben.58

4. Vom Vernunft- Vor

urtheil

In Götzen-Dämmerung wirft Nietzsche - in seiner Weise des vereinfachenden Zuspitzens, die im Spätwerk besonders schroff hervortritt - den Philosophen „Ägypticismus" vor. Ihr , B e g r i f f s - G ö t z e n d i e n s t ' töte alles Lebendige, ohne solches Töten selber zu begreifen. Der ,wirkliche' Tod bleibe außerhalb ihres Horizontes; zum Schein werde ihnen der Wandel des Lebens überhaupt, z.B. das „Alter", wie auch „Zeugung und Wachsthum". Für eine solche Philosophie gilt: „Was ist, wird nicht; was wird, ist nicht." 59 Es ist das Schema des Eleatismus, das Nietzsche hier in wenigen Strichen zeichnet, um ihm anschließend Heraklits Lehre vom seinslosen Werden entgegenzustellen.60 Wenn in der frühen Geschichte der griechischen Philosophie selbst noch „die Gegner der Eleaten" der „Verführung" durch den Seinsbegriff erlagen, wie z.B. Demokrit mit der Erfindung des Atoms, so könne dies als eine erste Andeutung dafür gelten, wie schwierig es sei, dem „Irrthum vom Sein" zu entgehen. Da die Herrschaft dieses Irrthums noch immer ungebrochen ist, findet sich Nietzsche vor die Notwendigkeit 36

" 58 59 60

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [268], [293]; KGW V 2, 4 4 1 , 452. A.a.O., 11 [268]; KGW V 2, 441f. Nachlaß April-Juni 1885, 34[73]; KGW VII 3, 162. Götzen-Dämmerung, Vernunft 1; KGW VI 3, 68. A.a.O., 2; KGW VI 3, 69.

200

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

gestellt, eine kopernikanische Wendung zu vollziehen, die vor Ursprünglicheres führt als die Astronomie der Neuzeit und die tiefer greift als die Erkenntniskritik Kants. Nahm man ehemals „die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit", so sehen wir heute umgekehrt, „genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum". 61 Die ,Vernunft' (resp. der Verstand) fälsche in solchen Fixierungen das „Zeugniss der Sinne", welche uns Veränderung und Vielheit darbieten. Wissenschaft könne in dem Maße Gültigkeit beanspruchen, wie sie auf dieses Zeugnis baut. „Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ...", schreibt Nietzsche. 62 Sofern mit ihnen freilich im Anschauen ,Gegenstände' wahrgenommen (und damit als etwas ,Fest-gestelltes' dem Werden entzogen) werden, täuschen auch sie uns. Hat sich ,die Vernunft' doch auch aus dem irrtümlichen „Glauben an die Wahrheit der Sinnes-Urtheile" entwickelt.63 Da es Nietzsche in dem aus Götzen-Dämmerung herangezogenen Abschnitt darum geht, den Täuschungscharakter der ,Vernunft' herauszustellen, wird in ihm das Zeugnis der Sinne unangefochten gelassen. Nur vom Irrtum unseres Auges bei den „Bewegungen des grossen Gestirns" ist hier die Rede; ihm entspricht der Irrtum vom Sein, der „unsere Sprache zum beständigen Anwalt" habe.64 Bevor auf letzteres einzugehen sein wird, ist zu zeigen, daß aus Nietzsches Sicht dem Vernunft-Vorurteil nicht durch eine Kritik der Vernunft an ihr selbst, wie Kant sie vorgelegt hat, beizukommen ist. Zwar stimmt er in Menschliches, Allzumenschliches Kant darin zu, daß der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur nehme, sondern sie ihr vorschreibe. Doch gelte dies nur „in Hinsicht auf den Begriff der Natur" im Sinne schon von „Welt

61 62 63

64

A.a.O., Vernunft 5; KGW VI 3, 71. A.a.O., 2, 3; KGW VI 3, 69f. Nachlaß Herbst 1887, 9[63]; KGW VIII 2, 33. - Thomas Böning weist darauf hin, daß Nietzsche sich in der Konsequenz seiner Weltauslegung „weniger an den ,objektiven' Sinnen orientiert, an Auge und Getast, die grob gesprochen, ob ihrer Stumpfheit ohnehin zur Verdinglichung des flutenden Werdens neigen, als an den .subjektiven', den ätherischen, Flüchtiges ausweisenden Sinnen, an Geruch und Gehör, d.h. an den Sinnen, deren Wahrnehmungen bisher als beiherspielend und damit unwesentlich abgetan wurden" (Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin/New York 1988, 69f.). Götzen-Dämmerung, Vernunft 5; KGW VI 3, 71.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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als Vorstellung" genommen, welcher Begriff selber „aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist". 65 Nach Nietzsche bewegt sich Kants theoretische Philosophie auf unfruchtbare Weise in den eigenen, von ihr selbst gesetzten Grenzen. 6 6 Er bleibe beim Urteil als angeblicher Tatsache der Erkenntnis stehen und beanspruche, was Nietzsche widersinnig erscheint, das Erkennen selber zu erkennen. 6 7 Auf die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, habe Kant „eigentlich", wenn auch „umständlich", nichts anderes geantwortet als: „Vermöge eines Vermögens"'. Damit wiederhole er aber nur die Frage, 6 8 obwohl er mit der Annahme eines solchen Vermögens einen hohen Anspruch erhebe. 69 Er setzt 65 66

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Menschliches, Allzumenschliches I 19; KGW IV 2, 37. Die Selbstverstrickung der Vernunft bei Kant hat Nietzsche zufolge gleichwohl einen ,Hintersinn', der über sie hinausweist. Sie steht letztlich im Dienst des in seiner Wirksamkeit bedrohten christlichen Ideals, das durch „ein Wachsthum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen)" zunehmend in die Defensive geraten ist. Gegenüber den Wissenschafts-Ansprüchen der Moderne biete Kants Kritizismus den ,,feinste[n] Ausweg: der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab" sowohl zur Interpretation im Sinne der „christlichen Anschauung, aus der wir Alle stammen", als auch zu ihrer Ablehnung. (Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[165], KGW VIII1,145) Kants Kritizismus eröffnet dadurch „Schlupfwinkel jeder Art für das Problem der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmiren - nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung" (Nachlaß Frühjahr 1888, 15[19]; KGW VIII 3, 211). Auch im Weg ,zurück zu Kant' im 19. Jahrhundert sieht Nietzsche den Versuch, sich ein Recht auf „die alten Ideale" zu verschaffen, - „darum eine Erkenntnistheorie, welche ,Grenzen setzt', d.h. erlaube, ein Jenseits der Vernunft nach Belieben anzusetzen" (Nachlaß Herbst 1887, 9[178]; KGW VIII 2, 106f.). „Ein Erkenntniß-Apparat, der sich selber erkennen will!! Man sollte doch über diese Absurdität der Aufgabe hinaus sein! (Der Magen, der sich selber aufzehrt!-)". (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[18]; KGW VII 2, 152) - „Wie sollte das Werkzeug sich selber kritisiren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann?" Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[87]; KGW VIII 1, 103 - V g l . dazu a.a.O., 2[161]; KGW VIII 1, 141f. und 5[11]; KGW VIII 1, 192) Jenseits von Gut und Böse 11; KGW VI 2 , 1 8 - 2 0 . Vgl. Nachlaß Herbst 1884-Anfang 1885, 30[10]; KGW VII 3, 68; Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[7]; KGW VII 3, 332. Nietzsche sieht in ihr eine ,Erfindung' Kants, die in der Zeit nach ihm zur .Suche' nach weiteren metaphysischen .Vermögen' geführt habe. Es sei, neben der Ausführung in Jenseits von Gut und Böse 11 (KGW VI 2,19), auf eine .Vorstufe' dieses Textes unter dem Titel Anti-Kant hingewiesen, die zum Teil andere Beispiele

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

zugleich mit dem ,Vermögen' ein Letztes, das nach Nietzsche kein Letztes sein kann, sondern eine eigens zu erörternde Herkunft haben muß. In einem Entwurf von 1886/87 wendet sich Nietzsche Kants diesbezüglicher Lehre etwas gründlicher zu. Dessen Behauptung, daß die Verknüpfung von Vorstellungen bzw. Begriffen in synthetischen Urteilen a priori als allgemeingültig und notwendig anzusehen und deshalb nicht aus der Erfahrung herzuleiten sei, wird von Nietzsche als unser Glaube interpretiert. Kant verkenne, daß Urteil primär „ein Glaube" ist und „nicht Erkenntniß!" Zu Unrecht habe er aus jenen ,Charakteren' geschlossen, diese müßten unabhängig von und vor aller Erfahrung gegeben sein, und weiter: unsere Vernunft müsse mit ihnen „formgebende Vermögen besitzen", damit die genannte Verknüpfung zu Urteilen zustande kommen könne. 70 Mit der Reduktion auf allgemeine subjektive Erkenntnisbedingungen gelangt Kant an ein Ende, an dem Nietzsche zu fragen anfängt. Seine Frage lautet: „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig}u Sie ist psychologisch-genetisch und nicht mehr transzendentallogisch ausgerichtet. Sie setzt schon voraus, daß jener Glaube „der Erhaltung von Wesen unsrer Art" dient.71 Sollte er für unsere Erhaltung unentbehrlich sein, sollten wir dadurch zu ihm genötigt sein, so tritt mit Nietzsches Frage eine andere Notwendigkeit' ins Spiel, die der zugleich von ihm behaupteten Zufälligkeit der Entstehung der menschlichen ,Gattung' nicht zu widerstreiten braucht. Ein ,wahres Urteil' für uns kann, im Verhältnis zum Anspruch, den wir mit ihm verbinden, ein »falsches Urteil' sein. Nietzsche fragt, ob ein Urteil im Ausgang von dem, „was wir als das Gewisseste fühlen", vielleicht „am entferntesten vom .Wirklichen'" ist. Wir urteilen: ,„so und so ist es'", und glauben daran. „Wie, wenn gerade das Glauben selber die nächste Thatsache wäre, die wir feststellen können?!" Und er schließt die Frage an: „Wie ist Glauben möglich??"72 Näheres darüber sucht Nietzsche auszumachen, indem er der Entstehung solchen und anderen .Glaubens' nachgeht. Glauben ist ein „Für-wahr-halten" oder ein „Nicht-für-wahr-halten", in dem die „ur-

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heranzieht: „Alle Welt war glücklich, besonders als er auch ein moralisches Vermögen entdeckte. Hier lag der Zauber dieser Philosophie: die jungen Theologen des Tübinger Stifts gingen in die Büsche - alle suchten nach - Vermögen. Und was fand man nicht Alles!" (Nachlaß April-Juni 1885, 34[82]; KGW VII 3, 165.) Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[4]; KGW VIII 1, 2 7 2 - 2 7 4 . Jenseits von Gut und Böse 11; KGW VI 2, 19f. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[65]; KGW VII 2, 164.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

203

sprünglichsten Denkakte", die für ihn bemerkenswerterweise ein Bejahen oder Verneinen sind, vollzogen worden sind. Daß das Denken der Fest-machung in einem ,Glauben' bedarf, sich letztlich nicht auf sich selber stützen kann, zeigt er sogar am Satz vom Widerspruch, dem scheinbar „gewissesten aller Grundsätze" der aristotelischen Logik. Schon dessen Voraussetzungen' müssen .geglaubt' werden. 73 Vorgängig stellt die „Constatirung" von zwei „ganz benachbarten Empfindungen" als gleich, nichts als einen Glauben dar. „Schon in jedem Sinnes-Eindruck" steckt das Glauben „als das Uranfängliche": als „eine Art Ja-sagen" ist es die „erste intellektuelle Thätigkeit". 74 Im besonderen Falle der Behauptung Kants von der ,Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntniß", fragt Nietzsche nicht nach Begründungen der »Wahrheit' dieser Behauptung, sondern nach dem Woher solcher Urteile, d.h. nach der „Entstehung" der sie tragenden Überzeugungen.75 Zunächst sei nur gesagt, daß er in der Radikalisierung seiner Genealogie jene Fest-stellungen aufhebt, durch welche auch Kant noch dem ,Sein' gegen-

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Nachlaß Herbst 1887, 9[97]; KGW VIII 2, 54. - Das Axiom kann entweder voraussetzen, daß wir das Seiende schon „anderswoher" kennen und deshalb behaupten können, entgegengesetzte Prädikate könnten ihm nicht zugesprochen werden. Oder es bedeutet, daß dem Seienden entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen.Die erstere Möglichkeit hat mit der Annahme eines mit sich selbst identischen Α zuletzt die metaphysische ,wahre' Welt zur Voraussetzung. Mit ihm kann die Logik fälschlich für „ein Kriterium des wahren Seins" in Anspruch genommen werden. Das Α der Logik ist aber nach Nietzsche nur „die Nachconstruktion des .Dings'". Wir sehen uns damit auf unsere Erfahrung von Dingen verwiesen. Diese aber wird durch „das sensualistische grobe Vorurtheil" geleitet, daß ich nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben kann. Nietzsche greift den Zusammenhang von metaphysischem, logischem und sensualistischem Vorurteil auf allen seinen Ebenen an. - Die zweite Möglichkeit, die des Imperativs, legt den Ansatzpunkt für Nietzsches Kritik an der Logik schon von sich her nahe. Sie faßt die Logik als den „Versuch" auf,

„nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen..." (A.a.O., 5 3 - 5 5 ) Von unserem' Schematisieren und Fingieren wird im folgenden zu handeln sein. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[168]; KGW VII 2, 54f. - „In jeder sogenannten Sinneswahrnehmung giebt es ein Urtheil, welches den Vorgang, bevor er ins Bewußtsein .eintritt', bejaht oder verneint" (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[35]; KGW VII 2, 155.). Nachlaß Ende 1886 bis Frühjahr 1887, 7[4]; KGW VIII 1, 273.

204

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

über dem ,Werden' den Vorrang einräumte. 76 Er kehrt die Voraussetzungen bisheriger Philosophie um. Dadurch, daß er allein an das Werden glaubt, sieht Nietzsche sich „ebenso von Kant, wie von Plato und Leibniz" getrennt. 77 Im folgenden wird den Fragen nachgegangen, wie im Prozeß des Werdens Urteile überhaupt möglich sind, was der Glaube an sie besagt und was sie zu bedeuten geben können.

5. Über Sprache und

Grammatik

Der Irrtum vom Sein hat „unsere Sprache zum beständigen Anwalt". Das oben herangezogene Stück aus Götzen-Dämmerung schließt mit dem Satz: „Die »Vernunft' in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ...". 7 8 Den »metaphysischen Charakter' der Sprache hat Nietzsche schon in Menschliches Allzumenschliches I herausgearbeitet: In ihr habe der Mensch „eine eigene Welt neben die andere" gestellt und so einen „ O r t " gefunden, „welchen er für so fest hielt, um von 76

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Vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[375]; KGW VII 2, 247f. - In der Betonung des Gegensatzes von Schein und Sein hat Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth Kant mit den Eleaten zusammengestellt (Unzeitgemäße Betrachtungen IV, 4; KGW IV 1,18). Auch nach der Umkehrung seiner hier noch von Schopenhauer her bestimmten Perspektive finden wir diese Zusammenstellung noch. „Die Scheinbarkeit der Welt [...] hervorzuziehen", verrät dann für Nietzsche *Hinter-Absichten" moralischer und d.h. für ihn letztlich lebensfeindlicher Art (Nachlaß Frühjahr 1884, 25[412]; KGW VII 2, 116). Im Sinne seiner eigenen geschichtlichen Herkunft nennt Nietzsche hier Lamarck und Hegel („Darwin ist nur eine Nachwirkung") und weist wiederum auf Heraklit sowie auf Empedokles zurück (Nachlaß April-Juni 1885, 34[73]; KGW VII 3, 162). - Kant machte das moralische Wertschätzen in einer „metaphysischen Welt" fest; er steht noch „vor der großen historischen Bewegung" und fragt nicht, wie und wo das Wertschätzen entstanden ist (Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[190]; KGW VIII 1, 159). Insbesondere mit seiner praktischen Vernunft' ist er „ganz 18. Jahrhundert" (Nachlaß Herbst 1887, 9[178]; KGW VIII 2, 106f.). Götzen-Dämmerung, Vernunft 5; KGW VI 3, 72. - Damit werden wir, der Herkunft unseres Sprechens nach, bis auf das Indogermanische zurückverwiesen, das schon die griechische Philosophie geprägt hat. Vgl. dazu Josef Simon, Nietzsche und das Problem des europäischen Nihilismus, in: Nietzsche kontrovers III, hg. v. R. Berlinger und W. Schräder, Würzburg 1984.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

205

ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben". Über lange Zeiten in seiner Geschichte habe er „an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates" geglaubt. Erst jetzt dämmere es den Menschen, „dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben". 79 Der alte metaphysische Bestand, „welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt" hat, ist so tief in uns verwurzelt, daß sich die Frage stellt, ob wir ihn überhaupt „loswerden können".*0 Denken wir doch im „sprachlichen Zwange": nach Schemata, die „wir nicht abwerfen können", deren „Grenze als Grenze" wir vielleicht gerade noch wahrnehmen können.81 Die Sprache und die ihr korrespondierende Logik bringen zu einem begrifflichen Stillstand, was sich unablässig verändert. Kompliziertes (und d.h. auch Vielfaches) wird „mit Einem Wort bezeichnet", als ob es eine in sich ,einfache' Sache sei (z.B. Vorgänge wie „Wollen, Begehren, Trieb"). Wir ziehen scheinbar gleiche, de facto nur ähnliche Empfindungen zusammen und benennen sie mit Worten, die dann zu Begriffen abstrahiert werden können.82 Wir halten mit solchen Zusammenziehungen das Geschehen scheinbar an. Da dieses jedoch ,weitergeht', finden wir uns genötigt, das begrifflich Stillgestellte und voneinander Getrennte unter erweitere Begriffe zu bringen oder es künstlich zusammenzufügen. „Unsinnig" ist es nach Nietzsche, an die Sprache „die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise" zu richten; womit sollte sie zu einer Übereinstimmung gelangen können? „Um das Werden auszudrücken", sind ihre 79 80 81 82

Menschliches, Allzumenschliches 1 1 1 ; KGW IV 2, 26f. Nachlaß Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[13]; KGW VIII 1, 243. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[22]; KGW VIII 1, 197f. Nachlaß Sommer 1880, 5[45]; KGW V 1, 521f. - Eine Genealogie des Begriffs hat Nietzsche schon in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne vorgenommen. Das Wort wird hier als „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten" verstanden, der Begriff, „knöchern und 8eckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener", bleibt in dieser Ableitung „nur als das Residuum einer Metapher übrig" (1; KGW III 2, 372, 376). Vgl. dazu Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 1 6 8 ] ; KGW VII 2, 54f.: „Erst Bilder - zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte angewandt auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte giebt - ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das klein Bißchen Emotion, welches beim ,Wort' entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die Ein Wort da ist - diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffs." In die soziale Dimension weiter führt Nietzsche diese Genealogie in Jenseits von Gut und Böse 268 (KGW VI 2, 231).

206

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

„Ausdrucksmittel [...] unbrauchbar". Zwar sind die Relationen unübersehbar, die durch die Sprache hergestellt werden. Doch handelt es sich bei ihnen immer um von uns hergestellte phänomenale Beziehungen. „Das ganze Reich von .wahr', »falsch' bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das ,An sich'"; die ,Wesen' selber sind nichts Stabiles, „die Relationen constituiren erst Wesen". Eines ist es, daß uns der Zugang zur Erkenntnis des ,wirklich Wahren' durch die Sprache versagt ist, ein anderes, daß diese „zu unserem unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung" gehört, das uns nötigt, „beständig die eine gröbere Welt von ,Bleibendem', von ,Dingen' usw. zu setzen".83 - Wie die Sprache, so ist auch die Logik „eine Art Rückgrat für Wirbelthiere" und nicht mehr, „nichts an-sich Wahres".84 Wie jene war sie „als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel, - nicht als Wahrheit".85 Auch die Philosophen haben die Logik, die Sprache - und mit beiden die Grammatik - auf solche Wahrheit hin mißverstanden. Die schon genannte Trennung durch Begriffsbildung spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Sie haben die letzten Voraussetzungen nicht bedacht, unter denen die Sonderungen von .„Subjekt',,Objekt', .Prädikat'" erfolgt sind. Diese sind, so hält Nietzsche ihnen vor, unter der Herrschaft der Grammatik von ,uns' gemacht" worden und werden als „Schemata" allen „anscheinenden Thatsachen" übergestülpt.86 83

84 85

86

Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888 und Frühjahr 1888, 11 [73] und 14[122]; KGW VIII 2, 2 7 8 ; KGW VIII 3, 95. Nachlaß Mai-Juli 1885, 3 5 [ 6 7 ] ; KGW VII 3, 261. Nachlaß Juli-August 1888, 18[13]; KGW VIII 3, 336. - Der Nutzen der Sprache als Verständigungsmittel kann auch nach Nietzsche nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Mitteilung von Worten, die als Zeichen für Empfindungsgruppen gebraucht werden, ist auf ein Verstehen mit anderen ausgerichtet. Im Falle des langen Zusammenlebens von Menschen „unter ähnlichen Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) [...] entsteht daraus Etwas, das ,sich versteht', ein Volk". Allerdings spielt solches Verstehen, was seine .Nützlichkeit' nicht mindert, unvermeidlich auf der Oberfläche. Diese wird in engeren menschlichen Verbindungen ebenso unvermeidlich durchbrochen: mit der Folge der Erfahrung des Mißverstehens. Sie tritt z.B. bei Liebenden auf, „sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, fürchtet als der Andere." (Jenseits von Gut und Böse 2 6 8 ; KGW VI 2, 231 f.) - Zum Verhältnis von Verstehen und Mißverstehen bei Nietzsche s. Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche. Göttingen 1992, insbes. 3 4 5 - 3 5 1 . Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[26]; KGW VII 3, 286.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

207

Nietzsches Kritik am cogito-sum hat derartige ungeprüfte Voraussetzungen bei Descartes aufgedeckt. In Wir Furchtlosen hat er (u.a.) Kants „Gegensatz von ,Ding an sich' und Erscheinung" auf jene Trennung zurückgeführt und hinzugefügt: „Wir ,erkennen' bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen."87 Kant sei mit der Aufstellung jenes Gegensatzes in den „Schlingen der Grammatik" hängen geblieben, heißt es in Zur Genealogie der Moral. Das ,Ding an sich' gehöre zu den „unter der Verführung der Sprache [...] untergeschobenen Wechselbälgefn]", durch die ein ,„Sein' hinter dem Thun, Wirken, Werden" gesetzt wird.88

6. Über Subjekt und Prädikat im Urteil Wir werden durch die Sprache zum „fehlerhafte [n] Gegensatz" von Objekt und Subjekt verführt89 und verleihen ihm Bedeutung über seine unser Dasein erleichternde Anwendung hinaus. Wir glauben „in jedem Urtheil unbewußt als wahr", daß wir „ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat [...] zu unterscheiden", schreibt Nietzsche. Das sei unser stärkster (weil ältester) Glaube. Immer schon haben wir eine „Summe" von Prädikaten „in Ein Wort zusammengefaßt" und uns ein Subjekt hinzugedacht.90 Zum Für-sich-setzen von Prädikaten sind wir gelangt, indem wir „Veränderungen", die wir an uns erfahren haben, „an uns nicht als solche genommen", sie gewissermaßen von uns gelöst haben. Wir haben sie „als ein ,an-sich', das uns fremd ist, das wir nur .wahrnehmen'", genommen. Sie sind damit - als Eigenschaften, die wir einem fiktiven Wesen zusprechen, „an dem sie haften" sollen - zu einem Sein außer uns gemacht worden. Dieses Wesen setzen wir als „Urheber" jener Veränderungen, da wir sie uns nicht ohne einen solchen denken können. Wenn wir sagen (um das von Nietzsche gern verwendete Beispiel heranzuziehen): „der Blitz leuchtet", so haben wir in uns den „Zustand" des Leuchtens. Wir sind bei ihm aber nicht stehen geblieben, sondern haben eine Ursache (den

87 88 89 90

Die fröhliche Wissenschaft 3 5 4 ; KGW V 2, 275. 1. Abh., 13; KGW VI 2, 293f. Nachlaß Frühjahr 1880-Frühjahr 1881, 10[D 67]; KGW V 1, 758. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[78]; KGW VIII 1, 96.

208

Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Blitz) hinzuerfunden.91 In unserer Verdinglichung der Wirkung haben wir eine sprachliche „Verdoppelung" vorgenommen.92 Was uns zum ,Prädikat' und zur »Eigenschaft' geworden ist, haben wir anfänglich als Wirkung erfahren, „die auf uns hervorgebracht ist (oder werden könnte)".93 Nietzsche führt aus, daß „in jedem Urtheile" nicht nur „der ganze volle tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat" enthalten ist, sondern zugleich der „an Ursache und Wirkung".94 Der letztere Glaube basiert auf dem ersteren, dieser wiederum ist ursprünglichem menschlichen Sichverhalten in der Welt entsprungen. In seinem Tun hat der Mensch sich als Täter erfahren, besser (auch hier) gesagt: geglaubt. Ehemals sah er dann „in allem Geschehen Absichten, alles Geschehen war Thun. Dies ist unsere älteste Gewohnheit." Daraus entstand ihm der „Grundglaube": „es giebt Subjekte".95 Die Auffassung, daß „alle Veränderungen [...] als hervorgebracht von Subjekten" gelten,96 erfährt, wie Nietzsche darlegt, in der Menschheitsgeschichte zahlreiche Fortbildungen; das Schema des Hinzuerfindens von Wirkendem zu »Wirkungen' bleibt aber erhalten. Es ist auch beibehalten worden („sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen"), als ,die Wissenschaft' den Kausalitätsbegriff „seines Inhalts entleert" und ihn nur noch als eine Formel gebraucht hat, „bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung" sind.97 In seiner Verwendung „ist die Hauptsache immer vergessen: das Geschehen selbst" in seiner „tausendfa-

chein]

Complexität.n

Man soll sich der Bestimmungen von ,Ursache' und »Wirkung', so fordert Nietzsche, „nur als reiner Begriffe bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung". Denn „im An-sich' gibt es nichts von ,Causal-Verbänden"'.99 Wie 91 92 93 94 95 96 97 98 99

A.a.O., 2[84]; KGW VIII 1, lOlf. A.a.O., 2[78]; KGW VIIII, 96. Ebd. A.a.O., 2[83]; KGW VIII 1, 99f. Ebd. A.a.O., 1 [39]; KGW VIII 1, 15. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 67f. A.a.O., 14[81]; KGW VIII 3, 53. Jenseits von Gut und Böse 2 1 ; KGW VI 2, 30. - Die Fraglosigkeit, mit der wir überall Ursachen ansetzen, die wir auf Wirkungen beziehen, und „die außerordentliche Festigkeit des Glaubens an Causalität" (Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[83]; KGW VIII 1, 100) legen es Nietzsche nahe, vom menschlichen „Cau-

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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die angebliche Ursache, so ist auch das zu den Prädikaten hinzugedachte grammatische Subjekt eine Fiktion und nicht weniger das die grammatische Relation ,zuvor' vorstellende Subjekt. 100 Noch dieses ist ein von uns „Geschaffenes" und darin Erfundenes; es ist, nicht anders als die von uns vorgestellten Dinge, „eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen". 101 Das mit dem Ausdruck »Kraft' Angesprochene verweist beim späteren Nietzsche in die weiträumige ,Fundamental'Dimension ,des' Willens zur Macht. Es geht zunächst darum, das Subjekt des Vorstellens, das Ich im ,ich denke', „selber als eine Construktion des Denkens", d.h. zugleich: als eine Fiktion, aufzufassen. Diese hat es gestattet, „eine Art Beständigkeit, folglich »Erkennbarkeit' in eine Welt des Werdens" hineinzulegen, und ist uns unentbehrlich

sal-Gefühl" (Nachlaß 1885, 34[124]; KGW VII 3, 182) oder vom „Causalitäts-Bedürfniß" zu sprechen (Nachlaß April-Juni 1885, 34[120]; KGW VII 3, 180), oder schärfer, weil dieses schon vor allem Bewußtsein tätig ist, vom „Causalitäts-Instinkt" (a.a.O., 34[89]; KGW VII 3, 169). In Hinsicht auf die philosophische Erörterung solcher Vorgängigkeit gebraucht Nietzsche das Wort Causalitäts-Sinn, der nach Kant ein Vermögen sein soll, worüber Nietzsche wieder seinen Spott ausschüttet. Den Fortschritt im Problembewußtsein von Kausalität, den Kant mit seiner „Umdrehung des Augenscheins" herbeigeführt hat, ohne welchen Fortschritt - nebenher bemerkt - auch Nietzsches eigene Problematisierung historisch nicht vorstellbar ist, hat dieser nur einmal angemessen gewürdigt. In Wir Furchtlosen erinnert er „an Kant's ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff ,Causalität' schrieb". Er habe „das Reich abzugrenzen" begonnen, „innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat"; man sei „auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig geworden". Nietzsche läßt (auch hier) durchblicken, daß ihm Kants,Vorgänger' Hume näher steht, der das Recht des Begriffes überhaupt bezweifelt hatte. (Die fröhliche Wissenschaft 357; KGW V 2, 280.) Deshalb hat er diesen sogar - gewissermaßen vorweg - Kant widerlegen lassen. Hume „bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft ganz unmöglich ist, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken" (Nachlaß April-Juni 1885, 34[70]; KGW VII 3, 162). Desungeachtet kann im Ausgang von seiner Kritik an Hume die „Oberflächlichkeit unseres Causalitäts-Sinnes" im Vergleich mit „einer Welt des Werdens" herausgearbeitet werden (Nachlaß Herbst 1885, 43[2]; KGW VII 3, 439). 100

101

Wenn wir das vorstellende Subjekt selber zum Objekt unseres Vorstellens nehmen, geraten wir in die Sackgasse, die Nietzsche bei Kants Versuch, das Erkennen zu erkennen, kritisiert hat und die er auch im Ausgang von Descartes' cogito aufweisen kann: Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [330]; KGW V 2, 467f. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[152]; KGW VIII 1, 139.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

geworden, - was wieder nichts gegen ihre „Erdichtetheit" und Falschheit besagt.102 Im Gegensatz zum „direkte[n] Befragen des Subjekts über das Subjekt" nimmt Nietzsche in der Frage nach „der Art unsrer Subjekt-Einheit" den „Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie". Hier ist unablässiges Geschehen anzutreffen; das fortwährende Entstehen und Sterben lebendiger Einheiten des »Subjekts'; „ein fließendes Machtgrenzen-bestimmen"; ein Kämpfen, das „auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt"; „Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen"; die Unwissenheit, in der die dominierenden ,Kräfte', die „Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens" in vielem gehalten werden und zu dem ein „Vereinfachen und Fälschen" gehört.103 Nur sehr vorbehaltlich kann von der „Einheit" dieses »Subjekts' gesprochen werden.104 Im Ausgang vom Leibe können wir uns in unserer Herkunft von den einfachsten Lebewesen begreifen. Da finden wir „die Sphäre eines Subjekts beständig wachsend oder sich vermindernd - de[n] Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend" Verfehlt ist es nach Nietzsche, wie die Vernunft-Metaphysik vom Ich als Subjekt („als Ursache alles Thuns") auszugehen und die Begriffe Realität und Sein „unserem ,Subjekt'-Gefühle" zu entnehmen.106 Wie wir uns selbst als Werdende zu verstehen haben, soll in der weiteren genealogischen Betrachtung dargelegt werden.

7. Vom Urteil vor der Vernunft Wenn Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches I schreibt, das Urteil stelle die „erste Stufe des Logischen" dar, sein „Wesen" bestehe im Glauben, der seinerseits Empfindungen voraussetze,107 so begründet er damit nicht ein Fundierungsverhältnis, in welchem die Empfindungen als - gar eigenständige - Basis unserer Urteile angesetzt werden. Als solcher »Basis' müßte den Empfindungen entweder selber Seinscharakter zugesprochen werden, oder sie müßten ihrerseits ein Sein zur Grundlage haben. In beiden Fällen wäre 102 103 104 105 106 107

Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[35]; KGW VII 3, 2 4 8 . Nachlaß August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370f. Vgl. z.B. a.a.O., 40[38]; KGW VII 3, 379f. Nachlaß Herbst 1887, 9[98]; KGW VIII 2, 35f. A.a.O., 9[98]; KGW VIII 2, 55. Von den ersten und letzten Dingen 18; KGW IV 2, 35.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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unser Urteilen von einem ihm Vorgängigen abhängig. Nietzsches These lautet dementgegen, daß wir nur dann eine Empfindung zu haben vermögen, wenn wir schon geurteilt haben. Selbst den Empfindungen von Lust oder Unlust ist nach Nietzsche immer schon unsere Auslegung eines Reizes" vorgegeben. Diese stellt ein vor-vernünftiges Urteil dar, im Verhältnis zu dem die ,Vor-urteile unserer Vernunft' späte Urteile sind. Denn die Fähigkeit zur Reizauslegung ist aus der Entwicklung des Organischen herausgewachsen. Aber noch „die älteste Erfahrung" setzt wieder ein Urteil voraus, der mit diesem verbundene Glaube kann nicht auf Reizempfindungen zurückgeführt werden. 108 Plausibilität verleiht Nietzsche der Rückverlagerung des Urteils in eine Sphäre vor der Vernunft durch seinen Hinweis auf die Doppelbett, in der allein uns Empfindung wie auch Intellekt gegeben sein sollen: „Bewusstes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewusstes Urtheilen enthält das Urtheil dass geurtheilt wird." Empfindung wie auch Intellekt vor dieser „Verdoppelung" sind uns „natürlich" zwar „unbekannt", doch ist in ihr der Reichtum des Vorgängigen aufzeigbar. Weil erst die Bewußtheit die Empfindung zur Empfindung macht, kann Nietzsche sagen, daß die Empfindung im „ersten Stadium empfindungslos ist".109 Dementsprechend ist „die gewöhnlichste Form des Wissens [...] die ohne Bewußtheit. Bewußtheit ist Wissen um ein Wissen." Dann ist „die erste Entstehung einer Empfindung [...] die Entstehung eines Wissens um ein Wissen", - ein Vorgang, in dem Nietzsche „nichts Schwieriges und Geheimnisvolles" sehen will.110 Er verdeckt an dieser Stelle, daß es von den Voraussetzungen seines Philosophierens her ein Geheimnis bleibt, wie sich in der haltlosen Entwicklung der organischen Prozesse ein Fest-steilen überhaupt vollziehen kann, das den Ubergang in die zweite Phase, die der Bewußtheit, möglich sein läßt. Ungeachtet dieser Schwierigkeit ist Nietzsches ,Doppelung' insofern konsequent, als er mit ihrer Hilfe die Behauptung vom uneingeschränkten und radikalen Werden durchhalten kann, die ein anfängliches Sein ausschließt. 108

109 110

Nachlaß Frühjahr 1880-Frühjahr 1881, 10[F100]; K G W V 1 , 767. - Zur angeblichen Ursprünglichkeit unserer Gefühle s. Morgenröthe 35; KGW V 1,39f.: „Hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils und oft eines falschen - und jedenfalls nicht deines eigenen!" Nachlaß Frühling-Sommer 1877, 22[113]; KGW IV 2, 496. Nachlaß Frühjahr 1880-Frühjahr 1881, 10[F101]; KGW V 1, 768f.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Zugleich eröffnet er sich damit den methodischen Zugang zu den Bereichen des Bewußtseinslosen, über das Ausführungen zu machen ihm möglich zu sein scheint, weil es in die Sphäre des Bewußten hineinragt, von diesem nicht getrennt ist. Noch für seinen Gebrauch der Begriffe, die er vom Bewußten her auf das ,Wissen ohne Bewußtsein' (bis hin zum Anorganischen) überträgt, bildet die Uberzeugung vom kontinuierlichen Zusammenhang des Werdensflusses die unausgesprochene Voraussetzung und Rechtfertigung. Wir nehmen die Frage wieder auf, wie aus dem, was das „unbedingt Verschiedene im fortwährenden Wechsel" sein soll, ein Festhaltendes hervorgegangen sein kann, das mit dem Subjekt oder mit dem Bewußtsein doch faktisch gegeben ist. Der „Spiegel", den es darstellt, setzt ein Beharrendes schon voraus und kann nur dadurch „ein Neben- und Nacheinander zeigen". Nietzsche hat sich immer wieder am genealogischen Aufweis der Herkunft eines primären Beharrens versucht. Das Festhalten soll ein Fest-stellen konstituieren, mit dem Fest-gestellten haben wir ein In-sich-Gleiches, mit sich Identisches. Da er ein solches Fest-steilen bei allem Lebendigen findet, geht er in der Frage nach dessen Entstehen bis zu den „Erstlinge [n] organischer Herkunft" zurück, die „Reize empfanden und das Außer-sich beurtheilten". Letzterem gegenüber empfanden sich die ersten Lebewesen irrtümlich als ,Subjekte'; dadurch jedoch erhielten sie sich und ermöglichten die allmähliche Fortentwicklung des organischen Daseins bis hin zum Menschen. Der nützliche Irrtum erwies sich als der „nützliche Glaube", der auch dadurch nicht ,wahr' wurde, daß er immer weiter vererbt wurde und - als der „älteste [n] Irrthum" - noch unser Leben durchgängig bestimmt. Den „Urirrthum" in seinem Ursprung bedenkend, erwägt Nietzsche, daß ein Protoplasma vielleicht nur einen Reiz empfangen oder auch verschiedene Reize als einen aufgenommen haben könnte, um zunächst ein ,Außer-sich' und später sich selber als beharrlich und sich-selber-gleich aufzufassen. „Der Glaube (das Urtheil) müßte also entstanden sein vor dem Selbst-Bewußtsein: in dem Prozeß der Assimilation des Organischen ist dieser Glaube schon da - d.h. dieser Irrthum!"' Nietzsche räumt hier ein, es sei das „Geheimniß", wie das Organische angesichts des unbedingten Flusses - zu diesem „Urtheil des Gleichen und Ähnlichen und Beharrenden" gekommen sei.111 Das Protoplasma, das schon 1,1

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[268], [270]; KGW V 2, 441f., 442f. - In Menschliches, Allzumenschliches 1 1 8 , war Nietzsche bis zur Pflanze zurückgegangen, für die „gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich" sind, um den Glauben des Menschen, „dass es gleiche Dinge giebt", als Erbschaft aus dem organischen Prozeß zu erklären (KGW IV 2, 35).

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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als das erste Lebendige verraten soll, was auch die differenzierteren ,Organismen' bis hin zum Menschen kennzeichnet, läßt mit seiner Teilung in zwei Wesen erkennen, daß „der Glaube an die Seelen-Monas hinfällig" ist.112 Die jeweilige ,Einheit' eines Protoplasmas ist nur eine Fiktion; in Wirklichkeit ist es „eine Vielheit von chemischen Kräften", die miteinander kämpfen. 113 Die Rede von „Vielheiten" läßt sich mit dem Wechsel vereinbaren; „aber die ,Einheit' ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden". Gegeben ist immer nur ein Zusammenhang von Vielen „in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens"; dauerhafte oder letzte Einheiten gibt es nicht: „keine Atome, keine Monaden". 114 Auf dem Grunde des Organischen wie auf allen seinen Entwicklungsstufen ist kein Sein anzutreffen, sondern finden wir immer nur Vielheiten, welche im absoluten Flusse" begriffen sind. Im „Widerspruch" zu dessen Wirklichkeit ist „eine unwirkliche Welt des Irrthums" entstanden, aus der, in unterschiedlichen Graden, das „Bewußtsein in der Welt" sich herleiten läßt.115 Im differenzierteren Verständnis seiner selbst entdeckt der Mensch (wovon zuletzt am Ende des 5. Abschnitts die Rede war 116 ), daß er kein Individuum ist, sondern etwas sich Wandelndes; er gerät „hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind". 117 Auf den end-losen Prozeß hin angesehen ist der Mensch „nicht nur ein Individuum" (im Sinne einer sich wandelnden Vielheit), „sondern das Fortlebende Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie". Bestimmtheit meint hier nur die Kontinuität des Zusammenhangs; „bewiesen" ist mit solchem Fortleben kein Zweck, sondern allein, „daß eine Gattung von 1.2 1.3 114

115 116

1,7

Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[68]; KGW VIII 1, 90. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[58], [59]; KGW VII 3, 259. Nachlaß November 1887-März 1888, 11[73]; KGW VIII 2, 278. - Wie auch im Falle von »Subjekt',,Individuum' usw. gestattet sich Nietzsche selbstverständlich die relative (uneigentliche) Rede von Atomen, Monaden usw. (ebd.). Seine Interpreten hat er damit in Verwirrung gebracht; der Vorwurf der immanenten Widersprüchlichkeit ist leicht zu erheben, wenn man die Besonderheiten seines Sprachgebrauchs nicht beachtet. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[162]; KGW V 2, 401f. Vgl. dazu auch die Ausführungen im 3. Abschnitt dieser Abhandlung, oben S. 197ff. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[156]; KGW V 2, 400.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) [...] nicht gewechselt hat". 118 Der Irrtumshaftigkeit seiner Erhaltungsbedingungen korrespondiert die Zufälligkeit dieses Geschehens. „Der Irrthum" ist - „als ein Zufall" - der „Vater des Lebendigen!", hält Nietzsche fest.119

8. Über das Gedächtnis als Voraussetzung unseres Urteilens Auch wenn Nietzsche von einer formalen Charakterisierung des Urteils ausgeht, um dessen vor-vernünftiger Herkunft nachzufragen, werden wir zuletzt „auf ein inneres Geschehen" verwiesen, das sich in „allen organischen Funktionen" geltend macht. Das Urteil drückt den Glauben aus: „,dies und dies' ist so". In ihm ist zweierlei durch „Vergleichung" auf eine Weise zusammengerückt worden, „daß ein identischer Fall da zu sein scheint". Doch das Urteil kann diese Identität nur behaupten, nicht aufweisen. Auch wenn es sich auf die Wahrnehmung stützt, setzt es (wie schon diese selbst) voraus, es gebe identische Fälle. Da es diese ,in Wirklichkeit' nach Nietzsche nicht geben kann, fragt er wieder nach der Herkunft unseres diesbezüglichen Irrtums. Er verweist darauf, daß schon im Bereich der Empfindungen „eine Art Ausgleich geübt" worden sein muß. Zu diesem wiederum bedürfe es des Gedächtnisses, das durch ein „beständige [s] Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten" eine vor-bewußte „intellektuelle Thätigkeit" ausführt, ohne die nicht „geurtheilt" werden könnte. 120 Das Gedächtnis muß tätig sein, damit ein prä-logisches Urteil überhaupt vollzogen werden kann. Nietzsche hat ihm 1,8 119 120

Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[2]; KGW VIII 1, 259. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [270]; KGW V 2, 443. Nachlaß August-September 1885, 40[15]; KGW VII 3, 366f. - Auf Nietzsches Versuch, in Anschluß an Boscovich 1873 eine ,Zeitatomenlehre' zu begründen (s. dazu oben S. 196, Anm. 43), sei verwiesen, um seine frühen Bemühungen zu würdigen, aus denen später auch ein Verständnis ursprünglicher Gedächtnisfunktionen herauswachsen wird. Er gelangt schon hier zu der Denkmöglichkeit, daß es „kein Nebeneinander, als in der Vorstellung" gebe. Für diese ist „ein reproduzirendes Wesen nöthig, welches frühere Zeitmomente neben den gegenwärtigen hält. Darin sind unsere Körper imaginirt." Nietzsche entwickelt hier Hypothesen; später modifiziert er Voraussetzungen des frühen Versuchs, der ihn freilich schon zu der Konsequenz führt: Wäre „alles Nebeneinander ... erschlossen und vorgestellt", so wären „die Gesetze des Raumes ... sämtlich construirt und verbürgten nicht das Dasein des Raumes" (Nachlaß Frühjahr 1873, 26[12]; KGW III 4, 178f.).

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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eine wesentliche Funktion bei der oben beschriebenen „Verdoppelung" zugesprochen.121 Das Gedächtnis ist nur als .innerer Kampf', als ein ,,innere[r] Prozeß", in dem die Erlebnisse zu begreifen sind: als lebendig „sich ordnend, gegenseitig formend, ringend mit einander, vereinfachend, zusammendrängend und in viele Einheiten verwandelnd".122 Gleichwohl soll in ihm „alles, was wir erlebt haben", lebendig bleiben,113 und nicht einmal nur das von uns Erlebte. Denn wir sind die Erben der gesamten organischen Vergangenheit.124 Es gibt in diesem Reiche „kein Vergessen; wohl aber eine Art Verdauen des Erlebten". 125 Daß nichts .vergessen' wird, heißt nicht, daß es in der Weise, in der es erlebt wurde, im Gedächtnis bewahrt liegt. Es besagt aber, daß alles Erlebte als das Verarbeitete, Zusammengeordnete, Einverleibte virulent bleibt.126 Das geschieht in besonders wirksamer Weise dann, wenn es in das Gedächtnis so „eingeschmolzen" ist, daß das einzelne „factum" nicht mehr „zurückgerufen" werden kann. Es bilden sich hierbei „Einheiten" im Sinne von relativ stabilen Zusammenhängen: als solche „Bildungen" gehen Gefühle (z.B. von Neigung oder Abneigung) weniger tief als das, was wir Instinkte nennen; „die jüngsten Erlebnisse schwimmen noch auf der Oberfläche".127 Das Gedächtnis bildet das stabiler Gewordene, also „die frühesten und längstens einverleibten Formen", leichter nach als das zuletzt in es Eingetretene.128 Jene Formen sind durch ein tiefer greifendes Gedächtnis „in Vererbung und Entwicklung" weitergegeben worden und haben auch uns in unserer Leiblichkeit konstituiert. Vererbung ist dabei „etwas ganz Unerklärtes", das sich der Erklärung

121 122 123 124

125 126 127 128

Nachlaß Frühling-Sommer 1877, 22[13]; KGW IV 2, 4 9 6 . - Vgl. oben S. 210ff. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[94]; KGW VII 2, 173. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[409]; KGW VII 2, 115. „Ich setze Gedächtnis und eine Art Geist bei allem Organischen voraus: der Apparat ist so fein, daß er für uns nicht zu existiren scheint", notiert Nietzsche 1884 (Nachlaß Frühjahr 1884, 25[403]; KGW VII 2, 113). - Als Erben sind wir freilich nicht der unübersteigbare Gipfel der Gesamtentwicklung, wie Nietzsche in seiner Polemik gegen den Hegelianismus in der Zweiten Unzeitgemäßen ausgeführt hat. Vgl. dazu oben S. 186f. Nachlaß Nachlaß Nachlaß Nachlaß

April-Juni 1885, 34[167]; KGW VII 3, 197. Frühjahr 1884, 25[409]; KGW VII 2, 115. Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 9 4 ] ; KGW VII 2, 173. August-September 1885, 40[34]; KGW VII 3, 377.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

überhaupt entzieht: hier steht Nietzsches Denken vor einem weiteren Geheimnis. 129 Die Tätigkeit unseres Gedächtnisses setzt schon voraus, daß unsere primäre Logik Fiktionen als Schemata über die Wirklichkeit gelegt hat, die für die Gedächtnisarbeit geeignet sind, weil sie sich in ihrer Abstraktheit einander gut zuordnen lassen. Sie dienen „als F o r m e n - S c h e m a und Filtrir-Apparat [...], mit Hülfe dessen wir das thatsächliche, äußerst vielfache Geschehen beim Denken verdünnen und vereinfachen: so daß dergestalt unser Denken in Zeichen faßbar, merkbar, mittheilbar wird". 1 3 0 Im Gedächtnis wird das von ihm fortlaufend Bearbeitete unserem (sekundären) Denken als Zeichen verfügbar gemacht. Es ist unseren jeweiligen ,neuen' Erfahrungen immer schon voraus, diese schöpfen aus ihm. So umläuft unser Denken, z.B. „bei der Wahrnehmung eines Dings, eine Reihe von Zeichen [...], welche das Gedächtniß ihm darbietet", um nach Ähnlichkeiten zu suchen.131 Ohne das geschilderte Abkürzungsverfahren

129

Nachlaß Juni-Juli 1885,36[28]; KGW VII3,285. „Nur zur Bezeichnung, zur Fixirung eines Problems" darf das Wort benutzt werden (ebd.). - Das Rätsel der Vererbung fällt bei Nietzsche bezeichnenderweise zusammen mit dem der Gewöhnung (in der eine gemachte Erfahrung aufgenommen und weitergetragen worden ist): „Das Wesen der Vererbung ist uns ganz dunkel. Warum wird eine Handlung beim zweiten Male ,leichter'? Und ,wer' empfindet diese Erleichterung? Und hat diese Empfindung irgend etwas damit zu thun, daß beim zweiten Male die Handlung ebenso gethan wird? Da müßte ja die Empfindung verschiedener möglicher Handlungen vor dem Thun vorgestellt werden!" (Nachlaß Sommer 1883, 12[38]; KGW VII 1,425f.) Es kann Nietzsche nicht zufriedenstellen, wenn „eine Sache auf Gewöhnung und Vererbung zurückgeführt und damit erklärt" wird. Denn „,wie ist Gewohnheit möglich? Wie ist Vererbung möglich?" (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[333); KGW VII 2, 235) - Vgl. dazu aus der neueren Sicht evolutionärer Erkenntnistheorie, die historisch aus den Quellen geschöpft hat, aus denen auch Nietzsche schöpfte: Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1977, 42ff., 97ff. Zur „Vererbung erworbener Eigenschaften" auf der Grundlage kumulierbarer Tradition a.a.O., 217ff. - Zur Übereinstimmung von Voraussetzungen in Nietzsches Verständnis des .Willens zur Macht' und der Ethologie von Lorenz vgl. Henry Kerger, Wille als Reiz. Nietzsches Beitrag zur Verhaltensforschung der Gegenwart, Nietzsche-Studien 22 (1993), 3 3 1 - 3 5 4 . In seiner weitgespannten Untersuchung unter dem Titel Wille als Sprechakt und Entscheidung, Die psycho-physischen Grundlagen des Handelns bei Nietzsche, die 1999 erscheinen soll, wird Kerger u.a. auch diese Thematik ausführlicher darstellen.

130

Nachlaß April-Juni und Juni-Juli 1885, 34[249], 38[2]; KGW VII 3, 225, 325. Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[14]; KGW VII 3, 342. - „Wir wählen aus unserem Gedächtniß aus, wir verbinden und combiniren die facta des Gedächtnisses."

131

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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könnte es die Fülle des in es Strömenden nicht ordnen und ,merkbar machen'.132 Zu diesem gehört immer ein Annähern des schon Abgekürzten durch das ausgleichende Vergleichen, das als ein fiktives Zurechtmachen" die Vereinfachung des wahren Thatbestandes" und damit dessen Verfälschung zweiten Grades darstellt. 133 Eine gewissermaßen zusammengeballte Abkürzung, und darin eine äußerste „Art von Abstraktion und Simplifikation", stellt „das Gedächtniß im Instinkt" dar: die wiederholte Unterstreichung des ,Wichtigsten', in der gleichwohl „die schwächsten Züge" erhalten bleiben sollen, hat diesen gefestigt' und gestärkt.134 Instinkt-Urteile sind vor-vernünftige Urteile, die „auf Grund früherer Erfahrungen" gefällt werden. 135 Sie sind natürlich für Nietzsche nicht per se hochzuschätzende Urteile; es kommt für ihn darauf an, welche Instinkte sich in ihnen geltend machen. 136 Formal betrachtet sind sie „kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen; sie rathen an, was zunächst zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich

132

133 134

135 136

(Nachlaß 1884, 25[362]; KGW VII 2, 103) Weil unser Gedächtnis „auf dem Gleichsehen und Gleichnehmen: also auf dem Ungenausehen" beruht, kann Nietzsche auch von unserem „groben Gedächtniß" sprechen (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[138]; KGW V 2, 191). Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[114]; KGW VII 2, 177f. Nachlaß April-Juni 1885, 34[167]; KGW VII 3, 196f. - Das wiederholte und dadurch eingeübte Unterstreichen des Wichtigsten' im Gedächtnis aus Instinkt erfährt in Zur Genealogie der Moral seine moralphilosophische Ausarbeitung. Im aktiven „Nicht-wieder - los - werden -wollen" als „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten" prägt sich „ein eigentliches Gedächtniss des Willens" aus, durch welches sich der Mensch auf eine Weise „regelmässig" macht, die es ihm gestattet, auch für sich selbst „berechenbar" zu sein, um versprechen zu können, d.h. „für sich als Zukunft gut sagen zu können" (Zur Genealogie der Moral, 2. Abh., 1; KGW VI 2, 108). - Zum Gedächtnis des Willens s. vor allem: Marco Brusotti, Die,Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne, Studie zu Nietzsches ,Zur Genealogie der Moral', in: Nietzsche-Studien 21 (1992), 8 1 - 1 3 6 , hier bes.: 8 9 - 9 6 . - Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral', Darmstadt 1994, 1 3 1 - 1 3 5 . Nachlaß Frühjahr 1884, 25[378]; KGW VII 2, 107. Deshalb tragen sie für Nietzsche jene Zwiespältigkeit in sich, die auch seinen (in den letzten Schaffensjahren) etwas inflationären Gebrauch des Begriffs Instinkt kennzeichnet. Es sei hier nur ein grobes Beispiel gegeben. Er stellt 1888 die decadenceInstinkte der Moralisten in den schroffsten Gegensatz zur „Instinkt-Gewißheit des Handelns" aus „eigentlichefr] Moralität", wobei er auf der Seite der „Tief-Instinktiven" und damit des,starken Lebenswillens' steht (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[142]; KGW VIII 3, 119).

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger".137 Das früher Erlebte wird nicht nur in Gedankengängen, sondern zugleich in Gefühlen nachgebildet.138 Auch den Affekten kommt ein „fortwährendes Fortleben und Zusammenwirken" in der jeweiligen „Formation des Gedächtniß-Materials" zu.139 Und da im unbewußten Gedächtnis dasjenige am stärksten lebendig bleibt, das abstrakt ist, so ist bei Wahrnehmungen der Untergrund von „Farben Töne[n] Gestalten Bewegungen" als „Qualitäten" - in Wirklichkeit als ursprünglich nützlicher »Eigenschaften' - gegeben.140 So ist im Urteil: „das ist grün", wie „in jedem Sinnes-Urtheil [...] die ganze organische Vorgeschichte thätig".141 Diese ist in allen unseren vor-vernünftigen Urteilen schon am Werk gewesen, auf ihrer stabilen Grundlage baut sich unser durch persönliches Erleben ergänztes oder erweiterndes Urteilen auf. Jene tragen dieses, ohne es freilich zu erschöpfen. Unser „Vorstellen" kommt aber nur „mit Hülfe des Gedächtnisses zu Stande, und es ist das Produkt unzähliger Erfahrungen Urtheile Irrthümer Lüste Unlüste vergangner Momente im Menschen; ob es auch noch so plötzlich auftritt."142

9. Über Urteil und Wertschätzung Gegen Kant hat Nietzsche, wie wir ausgeführt haben, geschrieben: Urteil sei „ein Glaube, daß etwas so und so ist".143 Wir sind inzwischen hinter diese Bestimmung zurückgegangen, indem wir Nietzsches Hinweisen auf anfängliche Prozesse der Assimilation, zuletzt auf Prozesse des aktiven Zurecht-

137 138

139 140 141 142

143

Nachlaß Herbst 1887, 10[167]; KGW VIII 2, 220. Nachlaß August-September 1885,40[34]; KGW VII3, 377f. - Über die Herkunft unserer Vorstellungen stimmt Nietzsche (gegen Kant) mit Locke überein: Freilich ist „viel mehr wahr als nur dies, daß Ideen angeboren werden, vorausgesetzt, daß man den Akt der Geburt nicht bei dem Wort .angeboren' unterstreicht" (a.a.O., 378). Nachlaß Frühjahr 1884, 25[514]; KGW VII 2, 144. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[99]; KGW VIII 1, 230. Nachlaß April-Juni 1885, 34[167]; KGW VII 3, 196f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[333]; KGW V 2,469. - Nietzsche betont hierbei die individuelle (lebensgeschichtlich verwurzelte) Verschiedenheit von Vorstellungen: „Wenn ich mir einen Gebirgssee vorstelle, so arbeitet bei mir eine ganz andere Vergangenheit an dieser Vorstellung als wenn ein Berliner ihn sich vorstellt" (ebd.). Nachlaß Ende 1886-Herbst 1887,7[4]; KGW Vffl 1,272 Vgl. oben Abschnitt 4, S. 200ff.

Erster Teil. Über Urteilen und Wertschätzen im Werden

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machens durch das Gedächtnis, gefolgt sind. Nun ist eine weitere Differenzierung der komplexen Bildung der Vor-urteile nötig. Wir knüpfen an eine Notiz Nietzsches über die Urteile an, in der es heißt, diese seien: „1) Glauben ,das ist so' und 2) ,das hat den und den Werth'."144 Das Wertschätzen ist in seinem Denken - gegenüber dem bloßen ,Konstatieren' - immer entschiedener als für das Urteilen konstitutiv in den Vordergrund gerückt. So kann er auch schreiben: „die Werthschätzung ,ich glaube, daß das und das so ist' als Wesen der ,Wahrheit" 1 , 145 Unsere Wertschätzungen durchziehen alle ,Ebenen' unseres Tuns. Sie gehen, als das, was „unbegreiflich kommen und da" sein kann, tiefer als unsere Gedanken, die „das Oberflächlichste" sind.146 Wir treffen sie in allen unseren Affekten und Trieben an, diese sind „durch unsere Werthschätzungen gefärbt" }Λ7 Selbst unsere Empfindungen von Lust oder Unlust gelten Nietzsche als „Wirkungen complizirter von Instinkten geregelter Werthschätzungen". 148 Sie stecken schon „in allen Sinnes-Thätigkeiten", ja: „in allen Funktionen des organischen Wesens". 149 Wir müssen das Wertschätzen (wie die anderen Bestimmungen Nifetzsches, die wir herangezogen haben) in seiner von den Anfängen des ,Lebens' hergeleiteten Bedeutung begreifen, um seine ,späten' Ausprägungen in den Urteilen des Menschen erfassen zu können. Leitet es doch alles Empfinden und Wahrnehmen im Sinne der Existenzbedingungen jedes Lebewesens. Das Wertschätzen grenzt die Orientierung der Wesen auf Spielräume des lebensnotwendigen Interesses' ein. Innerhalb solcher Horizonte gibt es zugleich Möglichkeiten für das jeweils geforderte flexible Agieren und Reagieren frei. Deshalb gehört zu solchem Schätzen „Ungenaues [,] Unbestimmtes". Es gestattet damit „eine Art Vereinfachung der Außenwelt", die jedes organische Wesen vornimmt. Die Außenwelt stellt, genauer besehen, für Nietzsche nichts anderes dar als „eine Summe von Werthschätzungen". Ohne die breite Marge beim Abschätzen dessen, was ihm ,entgegensteht',

144 145 146 147

148 149

Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [517]; KGW VII 2, 144. Nachlaß Herbst 1887, 9[38]; KGW VIII 2, 16. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 9 4 ] ; KGW VII 2, 173. Nachlaß November 1882-Februar 1883, 4 [ 1 4 2 ] ; KGW VII 1, 157. Vgl. a.a.O., 5[1]; KGW VII 1 , 2 1 1 . Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 2 6 [ 9 4 ] ; KGW VII 2, 173. A.a.O., 2 6 [ 7 2 ] ; KGW VII 2, 165.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

könnte kein Wesen sich erhalten.150 Das Abschätzen leitet „das Auswählen des Wichtigeren, Nützlicheren, Dringlicheren", das „schon in den niedrigsten Organismen" anzutreffen ist.151 Das jeweilige Wertschätzen ,äußert sich' als „das perspektivische Sehen und Beurtheilen aller Dinge zum Zweck der Erhaltung". Ursprünglich leitet es schon die Bereitschaft dafür, „daß überhaupt etwas wahrgenommen wird [...] im Unterschied zu einem Zurückweisen und Nicht-sehen-wollen". 152 Demgemäß sind alle Urteile perspektivisch und wertgeleitet. In seinen späten Veröffentlichungen und Aufzeichnungen spricht Nietzsche in zunehmendem Maße von Werturteilen. Damit geht er, seinem Verständnis von Wert entsprechend, auf die Auswahlgesichtspunkte von Nützlichkeit und Schädlichkeit zurück.153 Ihnen zufolge sind „alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt [...] mit Werthurtheilen",154 diese liegen besonders bei den Künstlern schon in den „Geschmacksempfindungen, Farben, Tönen". 155 Philosophen unseres Sprachbereichs, die im „Bann bestimmter grammatischer Funktionen" denken, stehen „im letzten Grunde" im Bann „jener physiologischein] Werthurtheile", die in unserer Kultur im Unterschied zu anderen Kulturen den Subjektbegriff stark entwickelt haben.156 Auch die Logik wird auf Werte zurückgeführt: Nietzsche nennt die Werte „der Sicherheit, der Ruhe und der Faulheit" (letzteren deshalb, weil die Logik Gedankenoperationen „,mit kleinste[r] Kraft'" ermöglicht).157 Mit solcher Reduktion werden 150 151 152 153

154 155 156 157

Nachlaß April-Juni 1885, 34[237]; KGW VII 3, 223f. Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 4 3 3 ] ; KGW VII 2, 123. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[71]; KGW VII 2, 165. Werte erwachsen nach Nietzsche aus bestimmten „Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde"; nur täuschende menschliche Projektionen verlagern sie in „das Wesen der Dinge" (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [99]; KGW VIII 2, 291). Daher ist jeder Wert nur „Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens" (a.a.O., 11 [ 7 3 ] ; KGW VIII 2 , 2 7 8 ) . Werte sind, je nach dem „Werth-Ansetzer", Symptome von Kraft oder Schwäche (Nachlaß Herbst 1887, 9[35]; KGW VIII 2, 15f.), d.h. von Willen zur Macht; in den Werten liegt sogar „das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[8]; KGW VIII 3, 13). Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[95]; KGW VIII 1, 105f. Nachlaß Mai-Juli 1885, 3 5 [ 7 4 ] ; KGW VII 3, 270. Jenseits von Gut und Böse 28; KGW VI 2, 28f. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[78]; KGW VIII 1, 96. - „Logik unter der

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„die logischen Werthurtheile" als „ein moralisches Phänomen" angesehen, wie er, an Hegels Verständnis dialektischer Logik anknüpfend und ihm zugleich widersprechend, ausführt. Dessen Vertrauen auf die Vernunft (wie das Logik-Vertrauen auf die Gültigkeit von Urteilen überhaupt) wird auf die Berechtigung des Vertrauens hin befragt und schließlich aufgehoben. 158 Unser perspektivisches Urteilen ist nicht nur wert-setzend, sondern immer schon wert-geleitet. Ist es doch dadurch vorgeprägt, daß unsere Triebe - nicht anders als die der Tiere - aus „ungeheure [n] Mengen" von „Gewohnheiten [...] schließlich so hart geworden" sind, daß auf sie hin „Gattungen leben". 159 Als „Nachwirkungen lange gehegter Werthschätzungen" sind sie zu unseren Existenzbedingungen geworden; sie sind uns einverleibt und angeerbt. Nietzsche kann demgemäß von den Trieben als von einem „System von Lust- und Schmerzurtheilen" sprechen, dessen Entwicklung durch Phasen bestimmt ist: „zuerst Zwang, dann Gewöhnung, dann Bedürfniß, dann natürlicher Hang". 160 Unter diesem Gesichtspunkt kann er das alte Wort,„Seele': zur Bezeichnung eines Systems von Werthschätzungen und Werthaffekten" verwenden. 161 Die Rede von einem System spielt auf den organisierten Zusammenhang an, der ,wir' als Vielheit (und nicht als ,Einheit') sind: wie alles Lebende. Der Zusammenhang muß als Prozeß gesehen werden, ,das System' ,Individuum' verschiebt sich fortwährend. Der Prozeß ist ,in Wahrheit' „der Kampf der Werdenden mit einander, oft mit Einschlürfung des Gegners". Um zu bekräftigen, daß die in den Kämpfen der Organismen auf unterscheidbaren Ebenen tätigen Vielen nicht auf Vereinzelte' zurückgeführt werden können, fügt Nietzsche hinzu: „keine constante Zahl der Werdenden". 162 Wenn Nietzsche von der „Erhaltung des Individuums" spricht, so setzt er voraus, daß darin „eine Vielheit mit den mannichfaltigsten Thätigkeiten sich »erhalten' will". Die Anführungszeichen haben Bedeutung: Was sich ,erhalten will, will mehr und anderes als die eigene Beständigkeit; es will sich „nicht

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Herrschaft von Werthurteilen", hält Nietzsche im Herbst 1887 in einem Plan für ,Abhandlungen" fest (Nachlaß Herbst 1887, 9[95]; KGW VIII 2, 52). Morgenröthe, Vorrede 3, 4; KGW V 1, 6 - 8 . Nachlaß April-Juni 1885, 34[247]; KGW VII 3, 223. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[460]; KGW VII 2, 131. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[6]; KGW VII 3, 233. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[54]; KGW VIII 1, 321.

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Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche

als sich-selber-gleich, sondern ,lebendig'", was besagt: „herrschend - gehorchend - sich ernährend - wachsend - " . Die komplexen Prozesse der Selbstregulation und Selbstdisziplinierung innerhalb' einer solchen Vielheit haben den unablässigen Kampf der Vielen zu ihrer Voraussetzung.163 Dieser Kampf ist nicht ein bloßes Gegeneinander, sondern ein funktionelles Auf-einander-Bezogensein. Demgemäß ist „die Rangordnung" schon „das erste Resultat der Schätzung: im Verhältniß der Organe zu einander müssen schon alle Tugenden geübt werden - Gehorsam, Fleiß, Zu-Hülfe-kommen, Wachsamkeit".164 Als aus solchem Kampf entstanden sieht Nietzsche auch unsere „logischen Funktionen" an, und in ihnen besonders unsere ,Fähigkeit' zu „urtheilen". In ihm durchgesetzt haben sich diejenigen Geschöpfe, deren vor-bewußte Urteile „mit der größten Erregbarkeit und noch größerer Selbstbeherrschung" getroffen worden sind; sie sind deshalb „übrig geblieben".165 Im Urteilen, das in sich ein (Wert-)Schätzen ist, geht es um die »Erhaltung' des Lebens, welche die Tendenz auf Steigerung' immer schon in sich trägt, ja voraussetzt. Das Wählen wie das Schätzen wie das Urteilen sind, da sie primär nicht ein sich distanziert haltendes Betrachten sind, sondern ein ,Sich-erhalten' im Kampf, immer zugleich ein Wollen.166 Damit kann dieser Grundzug des Urteilens, der aus den organischen Funktionen der Assimilation abgeleitet wurde, verschärft ins Spiel gebracht werden. Die ,Überführung' des Glaubens in den Willen überläßt das Feld des Urteilens nicht unserer Entscheidungsfähigkeit und schon gar nicht unserer Willkür. Denn der Urteilswille des Geistes gründet in jenem Vor-bewußten, das durch Subsumtionsverfahren „scheinbare Gleichheit" in unserem Bewußtsein herstellt. „Ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimilirt", wie ein

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Nachlaß Frühjahr 1884, 2 5 [ 4 2 7 ] ; KGW VII 2, 121. A.a.O., 2 5 [ 4 2 6 ] ; KGW VII 2, 120. - Nietzsche setzt (hier in Klammern) den Begriff der „Selbst-Regulirung" hinzu, den er bei Wilhelm Roux gefunden und für sein Verständnis der organischen Prozesse nutzbar gemacht hat. S. in diesem Band die Abhandlung Der Organismus als innerer Kampf, insbes. S. 101. - Die ,Übung' mit der Folge der Einverleibung muß auch „lange vor allen Lust- und Unlust-Empfindungen" erfolgt sein; „die Urtheile ,höhere' und ,niedere Funktionen' müssen schon in allen organischen Gebilden da sein", wenn ein Organismus lebensfähig sein soll (ebd.). A.a.O., 2 5 [ 4 2 7 ] ; KGW VII 2, 120f. „lebendig'" sein, „d.h. schon schätzen: - In allem Willen ist schätzen - und Wille ist im Organischen da." (A.a.O., 25[433]; KGW VII 2, 123.)

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„Sinneseindruck [...] unter eine vorhandene Reihe" gebracht wird, so ist auch in der Logik „der Wille zur Gleichheit" tätig als ein gleichmachender Wille zur Macht.167 Hier wird in Abschnitt 14 dieser Abhandlung anzuknüpfen sein.

10. Über die Vielheit der Wertschätzungen

und den freien

Geist

Es ist „Werthschätzung", die das Individuum, immer verstanden als Zusammenspiel einer Vielheit, leitet. Das Schätzen stiftet Zusammenhang, ohne das Verschiedene als solches hervorzubringen. Nietzsche kennzeichnet es als „etwas Dirigirendes".168 Die damit angedeutete Leitungs-Funktion 169 muß vor Fehldeutungen bewahrt werden. Sie können sich ζ. B. nahelegen, wenn wir in einer wenig später verfaßten Niederschrift lesen, das Schätzen messe den Wert an einem „Ganzen", das es zu .erhalten' gelte, und es orientiere sich daher an „etwas Zukünftigem, was vorgestellt wird, nach Zwecken". 1 7 0 Mit der Behauptung eines für Ganzheiten konstitutiven Zweckes scheint Nietzsches Philosophie von dem in ihr als metaphysisch kritisierten teleologischen Denken eingeholt worden zu sein. Nun finden wir zwar in seinen Aufzeichnungen vom Winter 1883 bis zum Sommer 1884 mehrfach die Bemühung um eine Einbeziehung des Zweckbegriffs in sein Verständnis des Werdens. Aber auch in dieser Zeit werden die Wertschätzungen als bewußte Zwecke eliminiert; offen bleibt nur, ob diese eher Ausdruck vorbewußter Vorgänge oder Zeichen für ganz verschiedene, uns unzugänglich bleibenden Veränderungen sein könnten. 171 167 168 169

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Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - 1 8 8 6 , 2[90]; KGW VIII 1, 104. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[427]; KGW VII 2, 120. Wenn Nietzsche schreibt, „der stärkere Wille dirigirt den schwächeren", so muß solches Dirigieren z.B. auf das vielfältige (und wechselnde) „Gehorchen und Herrschen" im .Geschehen' des Leibes bezogen werden (Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[15]; KGW VII 3, 236). Es gibt keinen ständigen, sondern viele und wechselnde Dirigenten. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[250]; KGW VII 2, 145. Nachlaß Winter 1883/84, 24[16]; KGW VII 1, 6 9 5 - 6 9 8 . - Zum ,Zeichen'-Charakter der,Zwecke* s. insbes. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 12; KGW VI 2, 329 ff: „Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat" (a.a.O., 330). - Vgl. hierzu und zum folgenden: Der Organismus als innerer Kampf Abschnitt 7, in diesem Band S. 126ff.

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Unser bewußtes „Werthschätzungswesen" stellt sich für Nietzsche jedenfalls als etwas dar, das „auf der Oberfläche" bleibt. Er hat diese Auffassung im Ausgang von der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Literatur dargelegt. Von ihr her stellt sich ihm die Kooperation der Zellen und Zellenverbände im Leib als Zweckmäßigkeit im kleinsten' dar, der unser bestes Wissen nicht gewachsen ist. Er konstatiert dabei „eine Vorsorglichkeit, eine Auswahl, ein Zusammenbringen, Wieder-gut-machen usw.", die unserem intellektuellen Zwecke-bilden weit überlegen sind.172 Innerhalb eines Organismus muß „auch das niedrigere, gehorchende Wesen [...] sich bis zu einem Grade auch die Aufgabe des höheren vorstellen können".173 Damit ist die Funktionsgleichheit aller Werdenden in einer Vielheit auch hinsichtlich des Wertschätzens behauptet. Die „Zusammenbindung des vielfachsten Lebens" in uns als Leib, „die Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten, der tausendfältige Gehorsam, welcher [...] ein wählender, kluger, rücksichtvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist", ist das, was ,hinter' dem Bewußtsein steht und von diesem in seine „Werth-Maaße übersetzt" wird. - Die mögliche Fehldeutung, das Wertschätzen werde auf einer von der Vielheit abgehobenen,,höheren' Ebene vollzogen, ist damit ausgeräumt. Es vollzieht sich vielmehr primär in den Vielen. Unser Bewußtsein erhält, von dem »eigentlichen* Kampffeld der Vielen her, nur ausgewählte, vereinfachte und faßlich gemachte ,Erlebnisse' vorgelegt, „eine blasse, dünne und äußerst ungenaue Werth- und Kraftvorstellung".174 Wenn wir das Wertschätzen auf die vielen Werdenden verlagert sehen, so stehen wir zugleich vor vielen, höchst verschiedenen und dabei auch gegeneinander gerichteten Schätzungen.175 Die Auswirkungen von deren Gegen 172 173 174 175

Nachlaß Winter 1 8 8 3 / 8 4 , 24[16]; KGW VII 695-698. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[520]; KGW VII 2, 145. Nachlaß Juni-Juli 1886, 37[4]; KGW VII 3, 302f., 304. Wenn die Wertschätzungen untereinander in Kampf und Widerstreit stehen, so stellt sich die Frage, was sie, von denen „unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen [...] abhängig" sind, in sich selbst sind, um gegeneinander stehen zu können. Nietzsche hat darauf geantwortet, „das letzte Factum", zu dem wir angesichts unserer verschiedenen' (in Wirklichkeit aber ineinander gehörenden) Vermögen' einschließlich unserer Wertschätzungen „hinunterkommen", sei „der Wille zur Macht" (Nachlaß August-September 1885, 4 0 [ 6 1 ] ; KGW VII 3, 397). Es scheint so, als ob er am Ende seiner Auflösung aller festen Bestimmungen in das Werden selber ein Festes kreiere. Dieser Eindruck kann sich noch verstärken, wenn wir lesen, „alle Werthschätzungen" seien „nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses Einen Willens" (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [96];

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sätzlichkeit in der Moderne haben wir uns in der Darstellung von Nietzsches Historismus-Kritik in der Zweiten Unzeitgemäßen vor Augen geführt. Er hat die Herkunft dieser Gegensätzlichkeit später weit zurückverlagert. Noch das vorgeschichtlich Anfängliche ist im Gegenwärtigen virulent. Die Verschiedenheit der Schätzungen ist zum wesentlichen Teil durch die Entwicklung des Organischen bedingt: Schon „die vielen vererbten Werthschätzungen sind mit einander im Kampf, stören sich gegenseitig am Wachsen". 176 Hat es schon unzählige werdende Wesen gegeben, so müssen auch „unzählige Ansätze zu moralischen Werthschätzungen [...] gemacht worden sein, je nach der Ausbildung einzelner starker Grundgefühle".177 „Moralität" wird von Nietzsche dabei im weiten Sinne des ,,Inbegriff[s] aller uns einverleibten Werthschätzungen" verstanden.178 Den älteren Wertschätzungen treten aber auch „jüngere Bedürfnisse" entgegen.179 So „concurriren ganz verschiedene Schätzungen" in uns.180 Ihnen im Wechsel Spielraum zu gewähren, kann einen eigentümlichen Reiz für denjenigen haben, der sich von überlieferten Wertschätzungen löst, die ihn lange gefesselt hielten. Nietzsche beschreibt im Rückblick von 1886 auf Menschliches, Allzumenschliches, wie er sich, weil er es nötig hatte, die freien Geister erfand. Über sich selbst, als freien Geist, heißt es, er schweife „unruhig und ziellos" umher, schleiche „um das Verbotenste". Die Freiheit eines durch eine große Loslösung Befreiten ist „Willkür und Lust an der Willkür". Diese macht vor keinem Wert mehr halt. Die Abwertung des früher Verehrten wird von Versuchen abgelöst, ,