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German Pages [356] Year 2016
Formen der Erinnerung
Band 60
Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann
Dirk Thomaschke
Abseits der Geschichte Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken
Mit 4 Abbildungen
V& R unipress
®
MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6169 ISBN 978-3-8471-0536-7 ISBN 978-3-8470-0536-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0536-4 (V& R eLibrary) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Forschungsförderprogramm PRO*Niedersachsen des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ortsansicht Ellierode aus dem Nachlass Kurt Kronenbergs, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 314 N, Nr. 81 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Prolog: Ortschroniken und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ortschroniken als Genre I – Inhalt, Autoren, Entstehung, Quellen Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autoren: Miterleben und Mitgestalten . . . . . . . . . . . . Ortschroniken als Gemeinschaftsaufgabe . . . . . . . . . . . . .
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13 13 24 35
Ortschroniken als Genre II – Historiografische Perspektiven Historische Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Kaleidoskop der Ortsgeschichte . . . . . . . . . . . . . Dorfgemeinschaft als historisches Vorbild . . . . . . . . . Die soziale Transparenz des Dorfes . . . . . . . . . . . . .
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51 51 61 77 88
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Trennung von Dorf und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Passivität des Lokalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periodisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opportunismus und Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Besatzung und Displaced Persons: Zeit der Unsicherheit Flüchtlinge und Vertriebene: Integration in die Gemeinschaft . . . Lokales Kriegergedenken: Gefallen für die Heimat . . . . . . . . . .
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97 97 99 119 136 145 160 167 173
Ortschroniken zwischen Kontinuität und Wandel . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche und perspektivische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . Konstanz früher Muster der Vergangenheitsbewältigung . . . . . . . .
183 183 199
Ortschroniken und Geschichtsschreibung . . . . Heimatgeschichte und Ortschroniken . . . . . . Alltagsgeschichte und Ortschroniken . . . . . . Landes-, Regionalgeschichte und Ortschroniken
205 205 228 245
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Inhalt
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251 251 253 281
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Anhang . . . . . Danksagung . . Abbildungen . Archive . . . . Ortschroniken Literatur . . . .
325 325 326 326 326 337
Ortschroniken in der DDR? . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . Heimatgeschichte in der DDR . . . Heimatgeschichte als lokale Praxis
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Prolog: Ortschroniken und Wissenschaft
Im Jahr 2000 veröffentlichte der unscheinbare Ort Zollgrün im Saale-Orla-Kreis in Thüringen ein »Heimatbuch«. Das Dorf zählt weniger als 350 Einwohner und ist von der Landwirtschaft geprägt. Der Ortsbürgermeister eröffnet das Buch, das die Geschichte Zollgrüns von seiner urkundlichen Ersterwähnung im Jahr 1350 bis zur Gegenwart »in seiner bunten Vielfalt« würdigen möchte, mit einem Vorwort. Darin heißt es, das Heimatbuch sei »unter dem Motto ›Zollgrüner schreiben für Zollgrüner‹ mit viel Fleiß und Arbeitsaufwand überwiegend von heutigen und ehemaligen Einwohnern Zollgrüns erarbeitet worden«. Zu diesem Zweck habe sich eine Arbeitsgemeinschaft versammelt, deren Mitglieder »verschiedenen Alters- und Berufsgruppen, Erfahrungs- und Lebensbereichen« entstammen. Der Bürgermeister verkündet mit Stolz, dass unter den Autoren des Heimatbuchs »der im Jahre 1912 gebürtige neben dem zwölfjährigen Zollgrüner zu finden ist, dass die Beiträge von Landwirten mit denen von Lehrern eine harmonische Einheit bilden«.1 Die Entstehung des Buches ist von dem Ideal einer sich ergänzenden, zusammenwirkenden Dorfgemeinschaft geprägt, die nicht nur verschiedene Berufsgruppen, sondern auch verschiedene Generationen übergreift. Dieses Idealbild bestimmt auch den Inhalt; das Heimatbuch erzählt die Geschichte einer geschlossenen Dorfgemeinschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart des Ortes. Darin ist die Zollgrüner Chronik repräsentativ für zahllose andere Heimatbücher aus ganz Deutschland. Betrachten wir als ein weiteres Beispiel die 2011 erschienene Ortschronik des saarländischen Roden, heute ein Stadtteil Saarlouis’. Bereits der Untertitel des Buches – »Geschichten von Rodenern – Für Rodener« – macht deutlich, dass wir es auch hier mit einer Publikation »aus dem Ort für den Ort« zu tun haben.2 Schlägt man das Buch auf, 1 Zollgrün, S. 4. Ortschroniken und Heimatbücher, die primären Quellen der vorliegenden Studie, zitiere ich unter Angabe des kursiv gesetzten Ortsnamens, der auf das entsprechende Verzeichnis im Anhang verweist. Ich verwende die Begriffe Ortschroniken und Heimatbücher in diesem Buch synonym. Zur begrifflichen Klärung siehe den folgenden Abschnitt. Weitere Literatur wird unter Angabe von Autor und Kurztitel zitiert. 2 Roden. Beim Zitieren aus Ortschroniken habe ich orthografische Fehler stillschweigend
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Ortschroniken und Wissenschaft
trifft man auf die fotografische Abbildung einer typischen Autorengruppe, bestehend aus Einwohnerinnen und Einwohnern des Ortes ohne literarische oder akademische Vorbildung. Die gesellige und entspannte Atmosphäre des Bildes unterstreicht die zentrale Aussage: Die Autorinnen und Autoren verstehen sich selbst als Teil der Dorfgemeinschaft, deren Geschichte sie in ihrem Buch beschrieben haben. Entsprechend eng fällt der Adressatenkreis der Chronik aus; in seinem Zentrum stehen die Mitbürger des Ortes. Es ist das eigene Miterleben und Mitgestalten des Ortsgeschehens, das die Autoren und Leser von Heimatbüchern vor allem anderen auszeichnet. Ab den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren haben solche Veröffentlichungen in Westdeutschland eine große Popularität und massenhafte Verbreitung erfahren. Dieser Boom hält bis heute an. Selbst die kleinsten Orte mit teilweise unter hundert Einwohnern können oft eine eigene Chronik vorweisen.3 In den meisten Fällen sind es die jeweiligen Gemeinden, die die Bücher finanziert und herausgegeben haben, einige sind im Selbstverlag der Autoren erschienen oder werden auf informellen Wegen vertrieben. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sich Heimatbücher im Blick auf ihre Entstehungsbedingungen und ihre historiografischen Prinzipien über alle regionalen Grenzen hinweg gleichen. Dies mag überraschen, da jedes dieser Bücher für sich genommen einen eng begrenzten Leserkreis anspricht und selten darüber hinausgehende Beachtung findet. Den jeweiligen Autoren und Herausgebern sind meist nur eine Handvoll vergleichbarer Veröffentlichungen aus den Nachbarorten bekannt, wie verschiedene Gespräche mit Chronikautoren ergeben haben. Dennoch hat sich, so meine These, überall in den alten Bundesländern und nach der Wiedervereinigung auch in den neuen Bundesländern ein eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung herausgebildet, ohne auf einer gemeinsamen programmatischen Basis zu fußen. Sowohl was ihren Entstehungskontext als auch was ihren Blick auf Geschichte angeht, unterscheiden sich Chroniken dabei deutlich von anderen Arten der Geschichtsschreibung, insbesondere von der wissenschaftlichen Lokal- und Alltagsgeschichte. Die vorliegende Studie wird korrigiert, um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen. Bedauerlich ist, dass viele Besonderheiten des Satzes und Layouts (Veränderungen des Schriftbildes, eigenwillige Zeilenumbrüche etc.) nicht adäquat reproduziert werden konnten, da sie den Leseeindruck der Chroniken teils stark beeinflussen. Wo dies angeraten war, habe ich deshalb entsprechende Hinweise auf die visuellen Aspekte der zitierten Passagen beigefügt. Des Weiteren habe ich, um den Anmerkungsapparat möglichst klein zu halten, bei mehrfachen, aufeinander folgenden Zitaten aus demselben Titel nach dem jeweils letzten Zitat einen gemeinsamen Verweis hinzugefügt. 3 Das Sprechen von »Orten« bzw. »Orts«-Chroniken verweist hierbei auf verschiedene verwaltungsrechtliche Formen (eigenständige Gemeinden, Ortsteile etc.); dazu zählen kleinere, in wenigen Fällen auch mittelgroße Städte. Die meisten der betrachteten Orte haben zudem im Laufe des Untersuchungszeitraums ihren Status bzw. ihre Zugehörigkeit geändert, insbesondere durch Eingemeindungen.
Ortschroniken und Wissenschaft
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Ortschroniken und Heimatbücher erstmals in einem landesweiten Vergleich für den gesamten Zeitraum der Bundesrepublik analysieren.4 Hierbei stehen die kleineren Orte und die ländlichen Gegenden – gegenüber den mittleren und großen Städten bzw. Stadtteilen – im Zentrum, da sich das Genre vor allem hier in seiner Eigenständigkeit zeigt.5 Die wichtigste Frage, die zu Beginn dieser Untersuchung zu stellen ist, lautet, weshalb Ortschroniken und Heimatbücher bislang nicht als eigenes, erinnerungskulturelles Phänomen in den Blick geraten sind.6 Zum einen hat sich die erinnerungskulturelle Forschung erst in den letzten Jahren verstärkt den lokalen Räumen, Medien und Praktiken zugewandt.7 Zum anderen aber, und dies erscheint mir von ausschlaggebender Bedeutung zu sein, ist die laiengeschichtliche Ortschronistik nahezu ausschließlich aus normativer Sicht thematisiert worden. Zwar ist die ausgesprochen weite Verbreitung von Laienchroniken und -heimatbüchern vielen Historikern bekannt; auch dürfte ihre in der Summe hohe, erinnerungskulturelle Wirkmächtigkeit kein Geheimnis darstellen. So bestätigte beispielsweise Wolfgang Pledl vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V. jüngst die ›lokale Exklusivität‹ dieser Bücher : »Schließlich sind Ortschroniken oftmals die einzigen Geschichtsbücher, die von so genannten einfachen Leuten gelesen werden.«8 Allerdings steht für Pledl zugleich außer Frage, dass diese Publikationen einzig an wissenschaftlichen Maßstäben gemessen werden sollten, dass also das praktische Ziel aller Bestandsaufnahmen, Analysen und Kritik des Genres letztlich die graduelle Annäherung an das 4 Ich habe hierzu einige hundert Heimatbücher aus verschiedenen Regionen ausgewertet. Die Konzentration auf bestimmte Schwerpunktgebiete war aufgrund der großen Fülle des Materials unerlässlich. Dabei war die Erschließung der Bestände verschiedener Landesbibliotheken leitend. Es handelt sich hauptäschlich um die Bayerische Staatsbibliothek in München, die Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover, das Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz in Koblenz, die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek in Saarbrücken, die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek in Kiel, die Landesbibliothek MecklenburgVorpommern in Schwerin, die Sächsische Landesbibliothek in Dresden, die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena und die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Hierbei habe ich nach Möglichkeit auch »graue Literatur« berücksichtigt, die zu weiten Teilen ebenfalls über die besuchten Bibliotheken erreichbar war. Naturgemäß ist allerdings kaum abzuschätzen, wie hoch der bibliothekarisch erfasste Anteil an grauer Literatur gegenüber ihrem tatsächlichen Aufkommen ausfällt. 5 Um meine Untersuchung der Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge von Ortschroniken zu stützen und zu ergänzen, habe ich in einigen Schwerpunktregionen exemplarische Archivbestände zur heimatgeschichtlichen Lokal- bzw. Regionalforschung herangezogen (siehe die Archivliste im Anhang). 6 Für die schrittweise Aufarbeitung des ›Forschungsstandes‹ zum Thema siehe die einleitenden Kapitel sowie den Abschnitt »Ortschroniken und Geschichtsschreibung«. 7 Vgl. z. B. Fuge/Hering/Schmid (Hg.): Gedächtnis; Kuropka (Hg.): Geschichtskultur ; Schmid (Hg.): Erinnerungskultur ; Reeken/Thießen: Geschichtskulturen; Thießen: Gedächtnis; ders.: Gedächtnisgeschichte, insbes. S. 623–630. 8 Pledl: Verein, S. 363.
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Ortschroniken und Wissenschaft
wissenschaftliche Geschichtsideal sein müsse. Es lässt sich leicht bestätigen, dass Historiker zu keiner Zeit mit Kritik an diesem »nicht ganz ernst genommenen Hobby von Feierabend-Geschichtsforschern« gespart haben.9 Die Frage – die freilich meist negativ oder zumindest skeptisch beantwortet wird – ist, inwieweit Ortschroniken wissenschaftlichen Ansprüchen genügen; inwieweit sie kleine Bausteine zu einem imaginären, Laien und Professionelle übergreifenden lokalgeschichtlichen Gesamtprojekt sein können.10 In jedem Jahrzehnt sind neue Anleitungen zum Verfassen von Laienchroniken erschienen; die handwerklichen und inhaltlichen Empfehlungen variieren zwar etwas, doch die grundsätzliche Richtung, aus der sich die Beratungsliteratur Heimatbüchern nähert, bleibt die gleiche: Wie gravierend fallen die Defizite aus? Wie kann die durchschnittliche Qualität von Ortschroniken angehoben werden? Die Antwort auf diese Leitfrage scheint ebenso alternativlos wie die Frage selbst zu sein: Die Aufklärung von Laienhistorikern ist auszuweiten; das Projekt der Transformation von Dorfchronisten zu Lokalhistorikern ist zu vollenden. Aus der Sicht des Analytikers stellt sich dadurch allerdings ein zentrales Problem. Die normativ-praktische Perspektive verstellt die Sicht auf die Eigenheiten von Ortschroniken und Heimatbüchern weitgehend. Sie kann Defizite und Mängel aufzeigen, sie kann jedoch wenig zum Verständnis des Genres als eigenständigem historiografischen Phänomen beitragen. Ebenso wenig hilft dabei die Rückführung des Chronikinhalts auf beschönigende oder geschichtsklitternde Interessen weiter, die die Autoren und Herausgeber umtreiben würden. Auch dafür mangelt es in der Sekundärliteratur nicht an Beispielen, doch kommt diese Kritik der Eigenlogik des Genres nicht wesentlich näher. Zumal es sich im Verständnis der Herausgeber, Verfasser und Leser von Ortschroniken keineswegs um »interessengeleitete«, »offiziell sanktionierte« oder gar »politische« Publikationen handelt. Heimatbücher entstehen ihrem Verständnis nach abseits politischer Spaltungen und Brüche. Stattdessen wird es in diesem Buch um die (impliziten) Muster gehen, die der Wahrnehmung bzw. Darstellung von Geschichte in Heimatbüchern zugrundeliegen. Die Frage gilt jedoch allein den Prinzipien, die die Konstruktion der Geschichte in Chroniken leiten, sondern auch dem Zusammenhang dieser Prinzipien zum Selbstverständnis von Ortschroniken als Produkte einer geschlossenen Dorfgemeinschaft. Wir werden hierbei, so viel sei vorweggenommen, auf vielfältige, sich wechselseitig verstärkende Variationen eines charakteristischen Leitmotivs treffen. Es handelt sich um eine scharfe Dorf-Umwelt-Differenz, die nicht nur die Darstellung der Ortsgeschichte, sondern auch deren Verhältnis zur Geschichte der Gesellschaft bzw. der Nation prägt. 9 Ullrich: Alltagsgeschichte, S. 69. 10 Vgl. z. B. Lehmann: Dorfchroniken; Kluge: Heimatgeschichte, S. 2.
Ortschroniken und Wissenschaft
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An dieser Stelle ist vor allem zwei denkbaren Missverständnissen vorzubeugen. Erstens beschränkt sich die vorliegende Studie nicht auf einen rein deskriptiven Zugang zu Ortschroniken, der sich zwar der üblichen normativen Verurteilung enthält, ansonsten aber dieselben Beobachtungskriterien verwendet. Führte man diese Deskription anhand der geläufigen Kriterien durch – die am wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte und an der gesellschaftlichen Funktion der Geschichtswissenschaft orientiert sind –, lägen die Defizite für den Praktiker weiterhin auf der Hand. Die Frage bliebe bestehen: Warum bei der Beschreibung der offensichtlichen handwerklichen, ethischen etc. Mängel von Heimatbüchern stehen bleiben? Warum nicht gleich die Kritik daran anschließen und ihre Verbesserung fordern? Stattdessen muss bereits die Beschreibung von Heimatbüchern ihren Ausgangspunkt modifizieren und nach der spezifischen Eigenlogik von Form, Inhalt, Entstehung und Verwendung von Heimatbüchern fragen. Dadurch wird – im Idealfall – etwas sichtbar werden, das keine direkten Rückschlüsse auf die Korrektur oder Unterdrückung von ›Mängeln‹ nahelegt. Außerdem ist einem zweiten Missverständnis vorzubeugen, nämlich dass es durch meine Analyse gelänge, Ortschroniken ernster zu nehmen oder ihre tatsächliche Bedeutung besser schätzen zu lernen; dass ich mich Ortschroniken auf diesem Weg gewissermaßen weiter annähern könnte als die bisherige wissenschaftliche Kritik. Es steht außer Frage, dass die Untersuchung eine grundlegende Distanz beibehält. Sie betrachtet ein Phänomen, das sich selbst nicht als Wissenschaft versteht oder höchstens sehr oberflächlich an der Wissenschaft orientiert ist, mit genuin wissenschaftlichen Mitteln (der Analyse und Reflexion). Die Ergebnisse überbrücken die Distanz nicht etwa; sie reproduzieren sie im Gegenteil, allerdings ohne diesen grundlegenden Unterschied auszublenden bzw. seiner praktischen Verringerung zuzuarbeiten. Die Frage, ob Ortschroniken und Heimatbücher in ihrer weit verbreiteten Form wünschenswert sind oder nicht (und mit welchen Maßstäben dies beurteilt werden sollte), lässt sich auf diesem Weg nicht beantworten. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass diese Frage auf einer anderen Ebene neu gestellt werden kann, ohne dabei die grundlegenden Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Ortschronistik einzuebnen. Der thematische Schwerpunkt der Untersuchung wird auf der Geschichte des »Dritten Reichs« und des Zweiten Weltkriegs liegen. Denn gerade auf dieses Thema hat sich ein Großteil der Kritik an Ortschroniken konzentriert, oftmals in Form einer Skandalisierung der vermeintlich absichtlichen Auslassungen, Verzerrungen und Euphemisierungen.11 Die Kritikpunkte sind mannigfach: weitgehende Vernachlässigung oder gar gänzliche Ausblendung dieses unliebsamen Geschichtsabschnitts, unkommentierte Wiedergabe nationalsozialisti11 Vgl. nur Ommler : NS-Zeit; Ohne Autor : NS-Gedankengut.
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Ortschroniken und Wissenschaft
schen oder rassistischen Gedankenguts, Verschweigen von Verbrechen und Tätern, einseitige Überbetonung eines vermeintlichen Opferstatus und andere mehr. Zudem wurde viel über die Motive der Autoren und Herausgeber spekuliert: mangelnder Wille der Auseinandersetzung mit kritischen Themen, Vermeidung sozialer Konflikte, angebliche Beeinträchtigung der Repräsentationsinteressen der Gemeinde oder auch schlicht »Hilflosigkeit« und »Unwissenheit«.12 Demgegenüber werden sich meine Ausführungen auf die spezifischen historiografischen Mechanismen richten, die die Darstellung der NSGeschichte in Ortschroniken bestimmen. Die Untersuchung liefert damit zugleich einen Beitrag zur Erforschung lokaler Erinnerungskulturen an den Nationalsozialismus. Ein weiteres Anliegen dieses Buches ist es, nach etwaigen Spuren von Ortschroniken und Heimatbüchern in der Heimat- und Regionalgeschichte der DDR zu fahnden. Bei der ostdeutschen »Heimat«- und »Regionalgeschichte« handelte es sich um Felder, die von verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Verbänden und vor allem den Natur- und Heimatfreunden (ab 1979 der Gesellschaft für Heimatgeschichte) im Kulturbund besetzt waren. Die wissenschaftlichen, ideologischen und institutionellen Voraussetzungen standen der Ausbreitung eines vergleichbar eigenständigen Genres der Laiengeschichtsschreibung wie in Westdeutschland eindeutig entgegen.13 Es lohnt sich allerdings, nach etwaigen Brechungen dieser Prinzipien in der lokalgeschichtlichen Praxis zu suchen.
12 Bertrang: Typologie, S. 46. 13 Aus diesem Grund habe ich die in den Abschnitten zur DDR-Heimatgeschichte zitierten ortsgeschichtlichen Titel nicht in das Ortschronikverzeichnis, sondern in das allgemeine Literaturverzeichnis aufgenommen.
Ortschroniken als Genre I – Inhalt, Autoren, Entstehung, Quellen
Begriffliches Die Tradition des Begriffs »Ortschronik« reicht weiter zurück als der Untersuchungszeitraum dieses Buches. Dies gibt Anlass zu einem kurzen Rückblick, zumindest auf das frühe 20. Jahrhundert und die »erste Heimatbewegung«. Die ältere, mittelalterliche und frühneuzeitliche Verwendung des Begriffs kann hingegen guten Gewissens vernachlässigt werden, da sie zur Bestimmung des zeitgenössischen Genres Ortschronik nichts Wesentliches beizutragen vermag. Der thüringische Heimatforscher Armin Tille unterschied 1928 noch recht deutlich zwischen einer »Ortsgeschichte« und einer Dokumentation der jüngeren Geschichte, in etwa der letzten fünfzig Jahre, bei der »der Geschichtsschreiber zugleich zum Chronisten« werde.1 Tille bezog sich damit auf die sprachliche Feinunterscheidung zwischen einer Ortsgeschichte als ausformulierter, zusammenhängender, auch ältere Zeiten berücksichtigender Schrift, meist in Form eines gebundenen Buches, und einer Ortschronik als Sammlungstätigkeit, die sich eher auf die jüngere Vergangenheit richtet und sich in der Gegenwart des Chronisten fortsetzt. Neben einem solchen Archiv konnte der Begriff Ortschronik allerdings auch eine schriftliche Zusammenfassung der Geschichte bezeichnen. Im traditionellen Sinne war ein solcher Text rein chronologisch gegliedert und reihte einzelne Einträge hintereinander. Im Grunde handelte es sich um etwas, das auch als »Zeittafel« bezeichnet werden kann. Entsprechend war zu Tilles Zeit der Begriff »Heimatbuch« wesentlich üblicher zur Bezeichnung der zahlreichen Ortsgeschichten, die im Zuge der ersten Heimatbewegung angefertigt worden waren. Dennoch begannen derzeit bereits die in der Theorie unterschiedenen Begriffe Heimatbuch und Chronik in der Praxis zu verschwimmen. Bücher aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die sich als »Chronik von …« bezeichneten, entsprachen nicht immer der engen 1 Tille: Ortsgeschichte, S. 10. Zur »ersten Heimatbewegung« siehe den Abschnitt »Heimatgeschichte und Ortschroniken«.
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Ortschroniken als Genre I – Inhalt, Autoren, Entstehung, Quellen
Definition einer Sammlung oder Zeittafel, sondern waren von publizierten »Dorfbüchern«, »Heimatbüchern«, »Ortsgeschichten« etc. faktisch nicht zu unterscheiden. Die nationalsozialistische Vereinnahmung der Heimatgeschichte brachte allerdings nochmal eine gewisse Bekräftigung der begrifflichen Unterscheidung von Ortsgeschichte und Ortschronik mit sich. Das Regime sah es als eine nicht unwichtige Aufgabe an, die »nationalsozialistische Bewegung« historisch zu legitimieren, das heißt, sie mit einer umfassenden Geschichte auszustatten und ihre Wirkmächtigkeit in allen Regionen Deutschlands zu demonstrieren. Daraus ergab sich die Forderung, allerorts »Chroniken« anzulegen, die gerade die jüngere Zeit und die Gegenwart erfassen und so die Entstehung und den Ausbau der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung dokumentieren sollten.2 Davon unterschieden war die »Dorfbuch«-Arbeit, die die Ausformulierung und Publikation von Geschichtsbüchern bezeichnete.3 Die propagandistischen Aufrufe zur kontinuierlichen Führung von Chroniken in allen, auch den kleinsten Orten des Reichs gewannen ab dem Zweiten Weltkrieg an Stärke. Um die kollektiven Anstrengungen des deutschen Volkes bei der Bewältigung der Kriegslasten zu dokumentieren, sollten ausführliche »Kriegschroniken« erstellt werden.4 Diese Tradition fand in der DDR ihre Fortsetzung. Die ostdeutschen Standardwerke zur Heimatgeschichte unterschieden klar zwischen Ortsgeschichte und Ortschronik; letzteres bezeichnete die zeitgeschichtliche Sammlung verschiedenster Materialien als Grundlage einer später abzufassenden Ortsgeschichte und – analog zum Nationalsozialismus – als Dokumentation des Aufbaus des Sozialismus in Deutschland. Die DDR-Begrifflichkeit zeigte auch nach der deutschen Wiedervereinigung eine gewisse Beharrungskraft in den neuen Bundesländern. Ein thüringischer Ratgeber zur Erstellung von Ortsgeschichten unterschied im Jahr 1995 gemäß der ehemaligen DDR-Sprachregelung zwischen »Geschichte« und »Chronik«, wobei eine »Ortschronik« die fortlaufende Aufzeichnung gegenwärtiger Ereignisse und die Materialsammlung für spätere Dokumentationen sein sollte.5 Auch in Westdeutschland blieb die überkommene begriffliche Trennung mancherorts erhalten. In einem Brief des Niedersächsischen Staatsarchivs an den Niedersächsischen Heimatbund aus dem Jahr 1954 heißt es beispielsweise: »Unter ›Dorfchronik‹ versteht man im allgemeinen die laufende (jahrweise) 2 Ohne Autor : Chronik. 3 Ohne Autor : Dorfbuch. 4 Ohne Autor : Kriegschroniken. Diese Kriegschroniken konnten sich vielerorts an Vorgängerwerken aus der Zeit des Ersten Weltkriegs orientieren bzw. führten die vorhandenen Chroniken einfach fort. 5 Moszner : Ortsgeschichte, S. 25.
Begriffliches
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Aufzeichnung bemerkenswerter Ereignisse und Veränderungen im gegenwärtigen Geschehen der Gemeinde.« Der Vertreter des Staatsarchivs konstatierte im selben Brief jedoch bereits die begriffliche Verwischung der Unterscheidung: »Gelegentlich wird der Ausdruck aber auch auf den Begriff Dorfgeschichte angewendet […]. Anscheinend kommt es auch in Ihrem Falle nicht auf eine Dorfchronik, sondern eine Ortsgeschichte an, in der die Vergangenheit des Dorfes erforscht und dargestellt werden soll.«6 Die Heimatgeschichte der Bundesrepublik war nicht mehr von einer offiziellen, propagandistischen Sprachregelung abhängig. Zudem begann die Abfassung von Ortschroniken ab den 1970er Jahren immer mehr aus den Händen studierter Autoren (Historiker, Archivare, Lehrer, Geistliche etc.) in die nicht-akademischer Laien überzugehen. Beides verstärkte die Tendenz, dass die Begrifflichkeiten in der Praxis verwischten und der Unterscheidung von Ortsgeschichte und Ortschronik höchstens noch theoretische Bedeutung zukam. Freilich hält sie sich in Residuen bis heute. Am ehesten ist sie in der Ratgeberund Anleitungsliteratur für Ortschronisten zu finden, also begrifflich reflektierten Texten. Wolfgang Pledl schrieb 2012: »Da der Heimatforscher mit seinem Forschungsgegenstand eng verbunden und vertraut ist, müsste die Beschäftigung mit den vergangenen 50 Jahren sogar zu seinen Schwerpunkten gehören. Hier kann der Ortschronist wirklich Chronist sein: Er kann, ja er muss sogar wertvolle Quellen schaffen und Überlieferung sichern, indem er sammelt, dokumentiert und auswertet.« Pledl ruft an selber Stelle dazu auf, die »Chronistik« in diesem Sinne wieder stärker ins Bewusstsein der Heimatgeschichte zu rücken und gegenüber dem gegenwärtigen Primat der Verfassung von Ortsgeschichten populärer zu machen.7 Andere Autoren haben sich mit der begrifflichen Vermischung von Ortsgeschichte und Ortschronik »im Volksmund« abgefunden und sie in den eigenen Sprachgebrauch übernommen.8 Auch im vorliegenden Buch verwende ich die Begriffe in Anlehnung an die weit verbreitete Praxis synonym. Dies gilt auch für den Begriff Heimatbuch. Die Literaturrecherche hat ergeben, dass diese Bezeichnung heutzutage in etwa gleich häufig und gleichbedeutend mit »Ortschronik« gebraucht wird. Begriffliche Differenzierungen 6 Brief des Niedersächsischen Staatsarchivs an den Niedersächsischen Heimatbund e.V., 5. 1. 1954, in: HSTAH, V.V.P. 17 Nr. 3517. 7 »Denken wir beispielsweise nur daran, wie schnell sich heute die Ortsbilder ändern. Hier jemanden zu finden, der die Veränderungen fast minutiös dokumentiert, der gleichsam ständig mit der Kamera unter dem Arm herumläuft und ununterbrochen seine Bilder schießt, dies wäre ein Verdienst, den man nicht hoch genug einschätzen kann. Oder stellen wir uns so etwas wie eine ›Chronik der laufenden Ereignisse‹ vor, die in Wort und Bild möglichst alles festhält, was das ganze Jahr hindurch an einem Ort geschah. Dies können beispielsweise Nachrichten über Naturkatastrophen, Ernte- und Wahlergebnisse, Schilderungen von Bräuchen und Festen oder Mitteilungen von Vereinsgründungen sein« (Pledl: Verein, S. 364–365). 8 Eckhardt: Vereinschroniken, S. 3.
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Ortschroniken als Genre I – Inhalt, Autoren, Entstehung, Quellen
zwischen Heimatbüchern und Ortschroniken einzuführen, beispielsweise in dem Sinne, dass erstere stärker »Volkskundliches« abdecken würden,9 erscheint mir nicht praktikabel. Versteht man unter Ortschroniken und Heimatbüchern folglich Monografien, die die Geschichte eines (kleineren) Ortes beschreiben, ohne hierbei an eine Zeittafel-Struktur oder dergleichen gebunden zu sein, so lassen sich vor allem zwei Konjunkturen dieser Publikationsform im Laufe des 20. Jahrhunderts feststellen. Der erste Boom von Heimatbüchern stand im Rahmen der ersten Heimatbewegung und erreichte seinen Höhepunkt in den 1920er und 1930er Jahren.10 In den folgenden Jahrzehnten nahm das Aufkommen an Ortschroniken zwar deutlich ab, doch kam ihre Produktion keinesfalls zum Erliegen. Ab den späten 1970er Jahren stellte sich dann ein erneuter Aufschwung ein.11 Durch den erheblichen Anstieg der Publikation von Ortschroniken und Heimatbüchern zu dieser Zeit und die einschneidenden Verschiebungen in der Autorschaft ist dieser Zeitraum als der eigentliche Entstehungszeitraum des Genres Ortschronik anzusehen. Die vorangehenden Jahrzehnte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre können jedoch bereits als prototypische Phase des Genres aufgefasst werden. Seit den späten 1970er Jahren lässt sich kein wesentlicher Einbruch des Publikationsaufkommens mehr feststellen. Bis heute erfreuen sich Heimatbücher in ländlichen Gegenden und kleineren Orten einer anhaltenden Beliebtheit. Für die bisherige Literatur über Ortschroniken, handelt es sich um heimatgeschichtliche Bestandsaufnahmen, um Ratgeber von Archivaren oder Landeshistorikern oder um wissenschaftliche Beiträge zur Heimat-, Alltags-, Lokaloder Regionalgeschichte, waren bei der Klassifikation von Ortschroniken meist wenige Leitunterscheidungen maßgebend. So ging es darum, die vorliegenden Publikationen anhand der sich weitgehend überlappenden Differenzen wissenschaftlich/unwissenschaftlich, interessenlos/interessengeleitet und kritisch/ beschönigend zu qualifizieren.12 Es fällt auf, dass bei diesen Unterscheidungen stets nur die eine Seite mit Wert besetzt ist. Chroniken kommen auf diesem Weg 9 Laufer : Aufbau, S. 246. 10 Faehndrich: Geschichte, S. 60. Vgl. dies.: Entstehung; Klueting: Rückwärtigkeit. 11 Dieser Befund beruht in erster Linie auf meinen eigenen Recherchen in den Landesbibliotheken aller Bundesländer. Er findet seine Bestätigung in einer Reihe von Bestandsaufnahmen in der Sekundärliteratur, die in der Regel jedoch auf regionale Räume beschränkt sind und keine größeren definitorischen Bemühungen aufweisen, die Begriffe Ortschronik und Heimatbuch einzugrenzen, siehe z. B. Arbeitsgemeinschaft Archiv Chronik Museum in Schleswig-Holstein: Ortsgeschichte; Flachenecker : Ortschroniken; Schmauder : Stand. Erste regionsübergreifende Reflexionen finden sich bei Schöck: Heimatbuch. 12 Vgl. Bierl: NS-Zeit ; Holzer : »Loch«; Kukatzki: »Gräueltaten«; ders.: »Vergangenheitsbewältigung«; Pingel: Nationalsozialismus; Reinhard (Hg.): Gemeindebeschreibungen; Rüthers: Gattenmord; Sannwald: Erinnerungskultur ; Setzler : NS-Zeit; Voss: Ortsgeschichten. Alle genannten Studien weisen regionale Schwerpunkte aus; ein bundesweiter Vergleich liegt bislang nicht vor.
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einzig als Abbild oder Negativ des geschichtswissenschaftlichen Ideals in den Blick. Sie werden als mehr oder weniger defizitäre Beiträge zu einer von wissenschaftlichen Normen bestimmten Heimatforschung gesehen und entsprechend beurteilt. Die genannten Leitunterscheidungen sind zudem teleologisch angelegt. Das heißt, ihnen liegt die stillschweigende Annahme zugrunde, dass es sich um vorübergehende, graduelle Differenzen handelt, die sich – beispielsweise durch eine Ausweitung der Schulung von Laienchronisten – letztlich auflösen lassen. Je weiter die wissenschaftliche Aufklärung und die methodische Bildung der Autoren vorangetrieben würden, desto stärker würden sich sämtliche Publikationen der wissenschaftlichen Lokalgeschichte annähern. Zwar belegen die bisherigen Beobachtungen den illusorischen Charakter dieser Annahme, doch halten nahezu alle Autoren – vor allem Vertreter heimatgeschichtlicher Verbände, die sich als Mittler von Wissenschaft und Laiengeschichte verstehen – an diesem Ziel fest. Keiner der oft frustrierenden oder ernüchternden Ausflüge akademischer Historiker in die ›Niederungen der Laiengeschichte‹, die im Grunde die Geltung und Beharrungskraft eigener Regeln dieser Laien-Historiografie nahelegen, führten bislang zu alternativen Sichtweisen.13 Die (in der herkömmlichen Sichtweise) augenfälligsten Differenzen gegenüber der wissenschaftlichen Ortsgeschichtsschreibung sind schnell benannt. Betrachtet man im Vergleich eine lokalgeschichtliche Studie mit wissenschaftlichem Anspruch, wie zum Beispiel den zweiten Band der Ortschronik von Wiederitzsch in Sachsen, fällt auf: Das Buch ist stringent gegliedert. Mit ihrer streng chronologischen Kapiteleinteilung anhand der politischen Systemwechsel erarbeitet die Studie zwar keine umwälzenden Neuerungen im Blick auf die Periodisierung der Lokalgeschichte, dafür ist die Struktur inhaltlich ausgewogen und nachvollziehbar. Entscheidend ist des Weiteren, dass der Autor eine fokussierte Fragestellung verfolgt. Es geht ihm darum, den faktischen politischen Gestaltungsspielraum der Kommune im jeweiligen politischen System zu ermessen und parallel das Verhältnis von Individualität und Eigeninitiative zur Gesellschaft zu reflektieren.14 Laien-Chroniken weisen in aller Regel keine dezidierte historische Fragestellung auf, auch weist ihre inhaltliche Gliederung meist keinen erkennbaren »roten Faden« auf. Aus wissenschaftlicher Sicht er13 Vgl. z. B.: »Wie Sie sehen, gibt es auch für unseren Raum durchaus Hilfen für denjenigen, der an das Schreiben einer Chronik herangehen will; nur scheint es mir bedauerlicherweise vielfach am Willen zu fehlen, diese Hilfen und guten Ratschläge auch anzunehmen. […] Mancher sagt: ›Ich will einfach eine Chronik schreiben; ich bin kein Wissenschaftler. Was Sie mir raten, gilt für mich nicht‹. Abgesehen davon, daß dies oft eine Alibifunktion hat, scheint mir hier ein Mißverständnis vorzuliegen: Auch wer kein Wissenschaftler ist, sollte wissenschaftlich arbeiten« (Laufer : Aufbau, S. 249). 14 Höppner : Wiederitzsch.
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scheinen sie schlicht unsystematisch und eklektisch. Die alternativen Prinzipien dieser Bücher – bei Auswahl, Zusammenstellung und Aufbereitung ihrer Inhalte – werden dadurch allerdings nicht sichtbar. Außerdem fehlt Ortschroniken aus der Sicht des Akademikers die gesellschaftskritische Distanz professioneller Ortsgeschichten. Demgegenüber erscheinen Heimatbücher beschönigend, unkritisch oder harmonisierend. Das alternative Verhältnis von Autor und Gegenstand bzw. von Autor und Leser, jenseits von Distanz und Kritik, die diese Publikationen auszeichnen, gerät wiederum nicht in den Blick. Die fortgesetzte, teils vernichtende Kritik an Ortschroniken aus wissenschaftlicher Perspektive und die vielfache Entlarvung ihrer Interessengebundenheit und ihres geschichtsklitternden Charakters führten faktisch nicht zur Verringerung der Differenzen. In analytischer Hinsicht erscheint es fraglich, die Leitunterscheidung wissenschaftlich/nicht-wissenschaftlich bei der Betrachtung von Laienchroniken beizubehalten. Aus dieser Perspektive müssten die in der vorliegenden Untersuchung betrachteten Ortschroniken sämtlich als nichtwissenschaftlich eingeschätzt werden; damit wäre eine solche Untersuchung jedoch bereits an ihrem Ende angelangt. Dem Charakter dieser Bücher als außerwissenschaftliches, erinnerungskulturelles Phänomen kommt man auf diesem Weg nicht wesentlich näher. Vieles spricht dafür, Laien-Ortschroniken aus einer anderen Perspektive zu betrachten und nach ihren eigenen Funktionen und Prinzipien zu fragen, die von den wissenschaftlichen abweichen.15 In diese Richtung wiesen zuletzt die Veröffentlichungen von Mathias Beer und Jutta Faehndrich zu Heimatbüchern im Allgemeinen bzw. Heimatbüchern von Flüchtlingen und Vertriebenen sowie meine eigenen Vorarbeiten zu Ortschroniken.16 Spätestens ab den 1970er Jahren lassen sich Ortschroniken und Heimatbücher als eigenständiges, historiografisches Genre beschreiben; ein Genre, das sich durch eigene Gestaltungsprinzipien und historiografische Perspektivierungen auszeichnet und das sich in dieser Hinsicht deutlich von anderen lokalgeschichtlichen Texten, insbesondere wissenschaftlichen, unterscheidet. Die Beschreibung dieser Merkmale macht die ersten beiden Hauptabschnitte dieses Buches aus. Eine Genre-Bestimmung über zentrale Prinzipien und Perspektiven erweist sich als deutlich tragfähigere Alternative gegenüber der Aufstellung eines rein formalen Kriterienkatalogs, beispielsweise im Hinblick auf Titelge15 In den Studien zur Public History, die sich mit dem Umgang mit der Geschichte in anderen als den akademischen Medien und Öffentlichkeitsbereichen widmen, sind Ortschroniken und Heimatbücher bislang nicht in den Blick geraten, vgl. Bösch/Goschler (Hg.): History ; Horn/ Sauer (Hg.): Geschichte; Paul/Schoßig (Hg.): Erinnerung. Vgl. zur »populären Geschichtskultur« oder zur »angewandten Geschichte« auch: Hardtwig: Geschichtskultur ; Nießer/Tomann (Hg.): Geschichte. 16 Beer: Schriftenklasse; Faehndrich: Geschichte; Thomaschke: »Politik«; ders.: »Leistungen«.
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bung, Gegenstandsbereich, soziodemografische Einordnung der Autoren, Finanzierung, Herausgeberschaft etc.17 Diese Kriterien geben zweifelsohne wichtige heuristische Hinweise, doch sind sie letztlich nicht hinreichend trennscharf, um größere Überschneidungen mit anderen, lokalgeschichtlichen Schriftenklassen zu vermeiden. Mittels formaler Kriterien lassen sich zudem die zentralen inhaltlichen Gestaltungsprinzipien des Genres nur sehr bedingt erfassen. Entscheidend für die Beschreibung des Genres »Ortschroniken und Heimatbücher« ist darüber hinaus, dass es relativ autonom ist. Das heißt, es ist nur mittelbar abhängig von konkreten Zwecken, denen die Erstellung einer Chronik dienen soll; in dieser relativen Unabhängigkeit gleicht es der wissenschaftlichen Lokalforschung. Ortschroniken verfolgen, so meine These, keine primäre Absicht außer der Erstellung einer Ortsgeschichte »aus dem Ort für den Ort«. Zwar können sich in manchen Fällen Sekundäreffekte einstellen, zum Beispiel (sehr seltene) finanzielle Gewinne, wissenschaftlicher oder anderweitiger Prestigezuwachs für Autoren und Herausgeber oder repräsentative Effekte gegenüber Auswärtigen; diese sind jedoch niemals das Hauptziel der Erstellung einer Chronik. Damit sind Auftragsarbeiten ausgeschlossen, die der Zuarbeit einer landeskundlichen Gesamtschau, der Unterstützung des Denkmalschutzes oder anderen Zwecken dienen.18 Gleiches gilt für lokale Tourismus-Broschüren, Heimat-, Wander- oder Naturführer, die entweder dem Fremdenverkehr, pädagogischen bzw. didaktischen Zwecken oder Repräsentationsabsichten der Gemeindeverwaltung Genüge tun.19 Ortschroniken entstehen stattdessen hauptsächlich aus einem eher unspezifischen, alltäglichen historischen Interesse heraus, so wie es der Ortsbürgermeister von Sprötze in Niedersachen zu Beginn der Chronik aus dem Jahr 1977 skizzierte: »Keine Aufforderung im Leben der Menschen wird häufiger ausgesprochen als die, zu berichten, über irgendetwas auszusagen: Wie ein Geschehnis sich abgespielt habe, was man erlebt, wie dieser oder jener Freund oder Verwandter ausgesehen habe, wie diese oder jene Gegend, ein Haus, eine Straße sich dargeboten haben. Kurzum: immer wieder die gleiche Frage: Wie war es damals?«20
17 Darauf konzentrieren sich die genannten Arbeiten von Beer und Faehndrich, die Heimatbücher in erster Linie von ihrer Funktion für eine dahinter stehenden Erinnerungsgemeinschaft deuten. In dieser Funktionalität bleiben sie im Grunde austauschbar mit anderen funktionalen Äquivalenten; die historiografische Eigenheit des Genres gerät nur bedingt in den Blick, vgl. Thomaschke: »Leistungen«, S. 203–206. 18 Vgl. z. B. Brandes: Klein-Büddenstedt; ders.: Neuhaus; Bornstedt: Bortfeld. 19 Vgl. beispielsweise die »Heimatführer«, die in den 1950er und 1960er auf Betreiben der Kreisverwaltungen in Rheinland-Pfalz erstellt worden sind, Brief von Landkreistag Rheinland-Pfalz an die Landräte in Rheinland-Pfalz, 30. 7. 1964, in: LHARLP, 487 VK Nr. 23. 20 Sprötze, S. 5.
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Das Themenspektrum Trotz dem eher unspezifischen Ausgangspunkt und der relativen Unabhängigkeit von konkreten Verwendungszwecken weisen Heimatbücher aller Regionen und Jahrzehnte auffallende Überschneidungen im Blick auf ihr inhaltliches Spektrum auf. Die folgende Zusammenstellung üblicher Inhalte kann allerdings kaum mehr als heuristischen Wert beanspruchen; das Vorliegen oder Fehlen einzelner Inhalte reicht nicht aus, um zu entscheiden, ob es sich um eine typische Ortschronik handelt (oder etwa eine wissenschaftliche Lokalstudie). Entscheidend ist weniger, welche Themen enthalten sind, sondern vielmehr aus welchem Blickwinkel sie bearbeitet werden, wie spätere Abschnitte zeigen werden. Schlägt man eine Ortschronik auf, ist es nicht unüblich, dass man zu Beginn auf einen Sinnspruch zur Bedeutung der Geschichte im Allgemeinen (für Gegenwart oder Zukunft) trifft. Meist stehen diese Sinnsprüche, in der Regel Zitate bekannter Schriftsteller oder Politiker, allerdings in keiner ausdrücklichen Beziehung zum Inhalt und werden in der Folge auch nicht wieder aufgegriffen. Sie stellen oft den einzigen (indirekten) Bezug zu geschichtsphilosophischen bzw. -theoretischen Reflexionen her. Eines von diversen Beispiel bietet das einleitende Zitat der Chronik von Ruhla in Thüringen, das auf Johann Wolfang von Goethe zurückgeht: »Ganz allein durch Aufklärung der Vergangenheit lässt sich die Gegenwart begreifen.«21 Des Weiteren finden sich im Einleitungsteil vieler Chroniken Gedichte, die sich entweder auf den jeweiligen Ort beziehen oder von einem der Einwohner bzw. Autoren selbst verfasst worden sind. Daneben ist es überaus üblich das Ortswappen sowie eine oder mehrere typische Ortsansichten abzubilden. Diese zeigen entweder Panoramen, Luftbilder oder idyllische Ansichten aus einer Wandererperspektive; es handelt sich in aller Regel um Fotografien, Zeichnungen oder Faksimiles von Ansichtskarten. Darauf folgen neben einem Inhaltsverzeichnis eine Reihe von Geleit-, Gruß- oder Vorworten. Meist von Bürgermeistern, Kreis- oder Landräten geschrieben variieren sie in der Anzahl von Buch zu Buch – teilweise trifft man auf bis zu zehn Geleitworte –, sind dabei jedoch selten länger als eine Seite. Das inhaltliche Spektrum von Ortschroniken hat sich im Laufe der Jahrzehnte 21 Die Ruhlaer Chronik enthält zu Beginn sogar eine kleine Sammlung solcher freischwebenden Aphorismen. Auf den bereits zitierten Ausspruch folgen noch: »›Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.‹ Winston Churchill ›Wer seine Heimat lieb hat, der muss sie auch verstehen wollen, wer sie verstehen will, muss überall in die Geschichte zu dringen suchen.‹ Jacob Grimm ›Wer an dem erzieherischen Beruf der Geschichte festhält – und wer möchte darauf verzichten? – muss unbedingt die Notwendigkeit einer zusammengefassten Ortsgeschichte betonen.‹ Theodor Neubauer ›Aus der Verwirrung der Gegenwart in die Vergangenheit, in die Geschichte wie in eine ältere Heimat zurückzublicken, sollte ebenso sehr Bedürfnis sein, wie im Alter der Jugend zu gedenken.‹ R. Kramer« (Ruhla, S. 4).
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der Bundesrepublik eher geringfügig erweitert. Das Grundgerüst steht schon in den 1950er Jahren. Nehmen wir als Beispiel die Chronik des Orts Flegessen im Landkreis Hameln-Pyrmont:22 Am Anfang geht es um die Herleitung des Ortsnamens, die älteste urkundliche Erwähnung sowie die Geologie der Region und vor- und frühzeitliche archäologische Funde. Dann stellt die Chronik die Herrschaftsgeschichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dar, die sich auf die territoriale Zugehörigkeit und den Rechtsstatus der Gemeinde konzentriert. Des Weiteren erfasst das Buch alle Flur- und Straßennamen inklusive ihrer Erläuterung und rekonstruiert die Baugeschichte der wichtigsten Einrichtungen, allen voran der Kirchen. Neben der Kirchengeschichte widmet die Flegessener Chronik der Schulgeschichte ein eigenständiges Kapitel. (Damit behandelt die Chronik allerdings in untypischer Weise nur zwei der ›großen Drei‹ der Ortschronistik, denen stets viel Raum und ein je eigener Abschnitte eingeräumt werden: Kirchen, Schulen, Vereine.) Zusätzlich spielen landwirtschaftliche, handwerkliche und infrastrukturelle Themen eine Rolle. Nicht fehlen darf zudem eine möglichst vollständige Liste aller Einwohner und Gebäude des Ortes bis zur Gegenwart, oft »Häuserchronik« genannt. Auch liefert die Chronik eine Gefallenenliste zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie einen historischen Abschnitt zum »Ende des 2. Weltkrieges«. Darüber hinaus enthält das Buch weitere, recht willkürlich zusammengestellte Einzelkapitel. Meist geht eine Vielzahl von Kapiteln in Heimatbüchern auf einzelne Archivfunde oder Erzählungen zurück, deren Wiedergabe keinem übergreifenden thematischen Schwerpunkt zugeordnet ist. Die inhaltliche Bandbreite jüngerer Chroniken aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten fällt tendenziell etwas breiter als in den 1950er bis frühen 1970er Jahre aus; das skizzierte Grundgerüst bleibt dabei jedoch auffallend stabil. Diese Standard-Struktur hat auch Einzug in die Ratgeberliteratur zu Chroniken gehalten. Eine Anleitung aus dem Jahr 1995 liefert einen konkreten Gliederungsvorschlag einer Ortsgeschichte, der zugleich einen guten Querschnitt der tatsächlichen Inhalte von Chroniken darstellt;23 genannt werden die Themenbereiche: Geografie – Geologie – Klima – Flora und Fauna – Erste Siedlungsfunde – Flurnamen – älteste urkundliche Erwähnung – Ortsname – Siedlungsgeschichte – Verkehrsverhältnisse – Bevölkerung – (bäuerliche) Wirtschaft – Gebäude – Volkskundliches (Tracht, Sitte, Brauchtum) – Feuerwehr – Post – Kirche – Schule sowie weitere nicht zugeordnete »historische Fakten«.24 Zu ergänzen wären die beliebte »Häuserchronik« und die Geschichte der örtlichen Vereine. Möglicher22 Flegessen. 23 Wie weit sich Chronikautoren tatsächlich an professionellen Ratgebern orientieren oder wie weit – umgekehrt – die Ratgeberliteratur die Standards der Praxis übernimmt, lässt sich daraus allerdings nicht schließen. 24 Zusammengefasst und gekürzt nach: Moszner : Ortsgeschichte, S. 19–23.
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weise ist es durch die Herkunft des Ratgebers aus den neuen Bundesländern zu erklären, dass letztere auch hier fehlt. Dieses Beispiel zeigt allerdings auch, dass sich die inhaltliche Struktur west- und ostdeutscher Chroniken nach der Wiedervereinigung sehr schnell angeglichen hat.25 Eine beträchtliche Anzahl an Ortschroniken spiegelt dieses Themenspektrum oder große Teile davon wider. Von Einzelfall zu Einzelfall sind teils kleinere, teils größere Abweichungen in Rechnung zu stellen; dies betrifft Erweiterungen, Auslassungen und vor allem auch die Gruppierung und Reihenfolge der Themen. Es sei darauf hingewiesen, dass einige Chroniken gänzlich auf die Unterteilung ihrer Einzelkapitel in chronologische oder sachliche Abschnitte verzichten. So weist die Chronik von Ringelheim in Niedersachsen bei 120 Seiten Gesamtumfang an die fünfzig Einzelkapitel auf, ohne dass diese in Inhaltsabschnitten zusammengefasst worden wären.26 Ähnliches gilt für die Chronik von Börßum, ebenfalls in Niedersachsen, die der Autor Georg Juranek auf der Grundlage einer älteren Chronik fortgeführt und vielfach ergänzt hat. Sie zählt gut 500 Seiten und weist ein eng bedrucktes, fünfseitiges Inhaltsverzeichnis auf, das an die 160 Einträge enthält.27 Die Chronik des saarländischen Bachem, ein weiteres Beispiel, hat ebenfalls ein fünfseitiges Inhaltsverzeichnis mit knapp 250 Einträgen vorzuweisen, das vollständig ohne Untergliederungen auskommt.28 Darüber hinaus weisen nicht wenige Ortschroniken inhaltliche Untergliederungen auf, die von Redundanzen geprägt sind: Themen wiederholen sich, Zusammenhängendes wird auseinandergerissen und erneut aufgegriffen, Kapitel tragen gleich- oder fast gleichlautende Titel etc. Auch fehlt dem inhaltlichen Aufbau vieler Chroniken größtenteils eine nachvollziehbare Logik. Die Zusammenstellung der Kapitel ist – aus wissenschaftlicher Sicht – im besten Fall als eklektisch zu bezeichnen.29 Die stringente inhaltliche Gliederung, geschweige denn die Reproduktion eines standardisierten Aufbaus, gehören eindeutig nicht zu den wesentlichen Merkmalen des Genres. Die Gründe hierfür werden an anderer Stelle deutlich werden.30 Aus dieser ersten Annäherung an den Inhalt von Ortschroniken und Heimatbüchern geht hervor, dass darunter Bücher zu verstehen sind, die sich der Ortsgeschichte in einem recht umfangreichen Verständnis widmen. Oft sind es Vgl. als Musterbeispiel: Großpösna. Ringelheim. Börßum. Bachem. Vgl. nur eine exemplarische Kapitelfolge aus der Chronik von Döbernitz, S. 4: »5.4.: / 5.4 Wege – Straßen – Eisenbahn / 5.4. Wege – Straßen – bis 1945 / 5.4.1.1 Nazistische Untat am Triftweg nach Hohenroda 1945 / 5.4.2 Straßen und Wege.« (Die Schrägstriche sind zur besseren Lesbarkeit von mir eingefügt worden.) 30 Siehe das Kapitel »Ein Kaleidoskop der Ortsgeschichte«.
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hauptsächlich externe Faktoren, wie Arbeitskapazitäten oder Budgetgrenzen, die das zeitliche und sachliche Spektrum dieser Publikationen einschränken; manchmal sind es spezielle Kenntnisse oder Vorlieben der Autoren, die es erweitern. Jedenfalls können wir an dieser Stelle wiederum eine Reihe anderer Textformen aus dem Kernbereich des Genres ausschließen. Hier ist beispielsweise an reine Häuserchroniken zu denken, die sich ausschließlich der Besitzabfolge der örtlichen Gebäude widmen.31 Davon bleibt unbenommen, dass die Häuserchronik nicht selten das Herzstück einer Ortschronik darstellt. Ebenfalls nur auf einen spezifischen Ausschnitt der Ortsgeschichte fokussiert sind Kirchen- oder Schulchroniken.32 Einen anders gelagerten Fall stellen Festbroschüren dar, die auf eine anstehende Jubiläumsfeier zurückgehen.33 Der Anlass ist hier nicht das entscheidende Differenzierungskriterium, denn die Erstellung vieler Ortschroniken steht ebenfalls im Zusammenhang mit Ortsjubiläen. Die Hauptunterschiede liegen im geringeren Umfang – meist handelt es sich bei Festbroschüren eher um Hefte als um Bücher – und damit einhergehend: einem deutlich geringeren Aufwand bei Recherche und Herstellung. Vom inhaltlichen Spektrum her ähneln sie ›vollgültigen Heimatbüchern‹, doch zeichnen sie sich im Allgemeinen durch eine größere thematische Selektivität aus. Stellt man Betrachtungen zum Inhalt von Ortschroniken an, stößt man unvermeidlich auch auf den generell sehr hohen Bildanteil. Im Vergleich zu geschichtswissenschaftlichen Texten sind Chroniken gar überreich bebildert. Das quantitative Verhältnis von Bild und Text kann im Einzelnen sehr stark variieren – auch innerhalb verschiedener Abschnitte desselben Buchs. Im Unterschied zu akademischer Literatur ist es in vielen Fällen nicht erforderlich, dass die verwendeten Abbildungen einen genau bestimmten Zweck erfüllen. Viele in Ortschroniken anzutreffende Bilder stehen auf den ersten Blick in keinem erkennbaren Verhältnis zum umgebenden Text; sie sind nicht in die Argumentationsstruktur des Textes eingebunden und fungieren nicht einmal als bloße Illustrationen. Nichtsdestoweniger erfüllen gerade auch solche Abbildungen eine besondere Funktion für die Autoren und Leser von Ortschroniken, wie spätere Kapitel zeigen werden.
31 Vgl. z. B. Auerbach; Brennberg. Da hier fließende Übergänge zu Ortschroniken bestehen, habe ich diese Titel ebenfalls dem Chronik- und nicht dem Literaturverzeichnis zugeordnet. 32 Vgl. z. B. Mühlner : Beiträge. Nicht als Ortschroniken im engeren Sinne sind auch die Chroniken örtlicher Vereine oder der Feuerwehr anzusehen. 33 Vgl. z. B. Ewighausen. Da die Unterscheidung zwischen Festschriften und Ortschroniken im Einzelfall nicht immer deutlich zu ziehen ist, werde ich sie gelegentlich ebenfalls als Beispiele für Ortschroniken und Heimatbücher heranziehen.
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Die Autoren: Miterleben und Mitgestalten Verschiebungen des Autorenspektrums und der Boom des Genres Den Wandel der Autorschaft (und des entsprechenden Verhältnisses zur Leserschaft) von Ortschroniken und Heimatbüchern zu verfolgen, ist ein zentraler Ansatzpunkt, um die Formierung des Genres im Allgemeinen nachzuvollziehen. Ab den 1970er Jahren fand die Anfertigung von Chroniken – parallel zur alltagsgeschichtlichen und neuen Heimatbewegung – immer häufiger außerhalb der Kreise geschichtswissenschaftlich bzw. akademisch vorgebildeter und schriftstellerisch erfahrener Autoren statt. Die Chroniken der 1950er und 1960er Jahre wiesen hingegen vorwiegend – nicht ausschließlich – klassische Autorenprofile auf: Hierbei ist vor allem an (Dorf-)Geistliche und (Dorf-)Lehrer zu denken, die nach jahrzehntelanger Vorarbeit im Ruhestand Chroniken nach wissenschaftlichen Vorbildern angefertigt hatten. Ebenso schrieben vielerorts Archivare, Museumsleiter oder Landeshistoriker Ortschroniken. Diese traditionellen Autorenprofile gerieten im Laufe der 1970er Jahre in die Minderheit. Zunehmende Verbreitung fand die Praxis, Ortschroniken in Gemeinschaftsarbeit anzufertigen; in Arbeitsgruppen, deren Mitglieder aus landwirtschaftlichen oder handwerklichen Berufen stammten, nicht selten ohne jegliche literarische Vorbildung. Zugleich begann die Produktion von Heimatbüchern regelrecht zu boomen; die Anzahl der Veröffentlichung stieg in allen Regionen rapide an. Die Umsetzung von Publikationsvorhaben in Buchform war gegenüber den vorangehenden Jahrzehnten vergleichsweise leichter und häufiger geworden.34 Es entstand ein stetig wachsender Horizont vergleichbarer Veröffentlichungen in allen Regionen, der immer weitere Autoren und Gemeindeverwaltungen zu eigenen Publikationen anregte – und bis heute anregt.35 Dadurch emanzipierte sich die Ortschronistik endgültig von wissenschaftlichen Mustern und etablierte ihre eigenen historiografischen Prinzipien. Nichtsdestoweniger lassen sich die 1950er und 1960er Jahre als prototypische Phase des Genres bezeichnen, da die Chroniken dieser Jahre bereits wesentliche historiografische Muster der späteren Bücher vorzeichneten. Die folgenden Abschnitte, die Beispiele aus allen Jahrzehnten der Bundesrepublik kombinieren, werden dies anschaulich zeigen. Verlässliche statistische Daten zum soziodemografischen Hintergrund von Chronikautoren liegen für unseren Untersuchungszeitraum nicht vor. Dies gilt insbesondere für den bundesweiten Vergleich; vorhandene Erhebungen in der 34 Vgl. z. B.: Albert Dorscheid: Vorlage an den Ministerrat, 24. 7. 1950, in: LADS, InfA – Informationsamt Nr. 350. 35 Allerdings kam diesem Vergleichshorizont anderer Chroniken benachbarter Orte bereits in den Nachkriegsjahrzehnten eine gewisse Bedeutung zu, vgl. z. B. Ohne Autor : Wunstorf.
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Sekundärliteratur bleiben vereinzelt, wenig systematisch oder beziehen sich auf einen regional begrenzten Kreis.36 Es handelt es sich oft um ausschnitthafte Beobachtungen oder Tendenzen, die auf eigene Erfahrungen aus der Beratung von Laienhistorikern zurückgehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die verwendete Begrifflichkeit uneinheitlich ist: von Studie zu Studie variiert, was die Autoren unter »Heimatgeschichte«, »Heimatforschung« oder »Ortschronik« und »Heimatbuch« verstehen und wie weit sie diesen Bereich fassen, insbesondere auch im Hinblick darauf, ob Texte von Laien oder professionellen Autoren oder beiden Gruppen gemeinsam berücksichtigt wurden. Diese Probleme im Bewusstsein haltend trifft man auf zahlreiche Hinweise, die die obige Periodisierung des Genres stützen. Von der ehemaligen »Domäne der Lehrer und Pfarrer«37 führte die Entwicklung im Laufe der 1970er Jahre zu einer merklichen Diversifizierung der Autorschaft. Franz Irsigler schreibt 2011 über die »Heimatgeschichte« im Trierer Land in den vergangenen dreißig Jahren: »Der Kreis der aktiven Leute, die Lust an der Erforschung ihrer Lebenswelt und ihrer historischen Wurzeln haben, umfasst nahezu alle Berufsfelder – das ist zweifellos ein bemerkenswerter Trend – und alle Altersstufen vom Schüler bis zum Rentner.«38 Nach wie vor scheint es allerdings gewisse Schwerpunkte zu geben, beispielsweise bei mittelständischen Berufsgruppen, denen die meisten Autoren zuzuordnen sind.39 Im Blick auf das Durchschnittsalter deutet alles darauf hin, dass ältere Autoren, vorzugsweise im Ruhestand, weiterhin die deutliche Mehrheit der Chronik- und Heimatbuchautoren ausmachen. Ebenso sind es bis heute überwiegend Männer, die als Autoren firmieren, auch wenn der Frauenanteil, insbesondere im Rahmen von Chronik-Arbeitsgruppen, in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat.40 Eine gesonderte Bemerkung zu Chronikautoren und »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« erscheint angebracht. Dabei ist zwischen zwei Arten von ABMChronisten zu differenzieren. Auf der einen Seite stehen professionell ausgebildete, aber zeitweise beschäftigungslose Historiker, die im Zuge solcher Fi36 Vgl. z. B. Arbeitsgemeinschaft Archiv Museum Chronik in Schleswig-Holstein: Ortsgeschichte; Flachenecker : Ortschroniken; Hauptmeyer : Rückblick; Karbach: Ortschroniken I und II; Klueting: Rückwärtigkeit; Lehmann: Dorfchroniken; Schmauder : Stand; erstmals regionsübergreifend: Schöck: Heimatbuch; Beer : Schriftenklasse; Faehndrich: Entstehung. Vgl. des Weiteren die im Laufe der Arbeit erwähnten Chronik-Ratgeber, die sich oft am Rande auch zur Veränderung der Autorschaft äußern. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit lag auf der Auswertung der Publikationen; eine repräsentative Erfassung des soziodemografischen Hintergrundes war im vorgegebenen Rahmen nicht zu leisten. 37 Karbach: Ortschroniken I, S. 160. Beide Berufsgruppen sind weiterhin präsent unter den Autoren von Ortschroniken, nur keineswegs mehr dominant, vgl. Voss: Ortsgeschichten, S. 186. 38 Irsigler : Stellenwert, S. 16. 39 Hauptmeyer : Heimatgeschichte, S. 78–79. 40 Vgl. als Beispiele nur : Asweiler; Fürweiler ; Knau/Unterzetzscha; Molbitz; Schleusingen.
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nanzierungen Ortschroniken als Auftragsarbeiten für Gemeinden verfassen – in dieser Form vor allem in den 1980er Jahre in der Bundesrepublik verbreitet. Deren Texte entsprechen nur selten den genretypischen Prinzipien und führen gelegentlich zu Konflikten mit den lokalen Gemeinderäten bzw. Auftraggebern.41 Auf der anderen Seite stehen historisch und schriftstellerisch unerfahrene Personen aus anderen Berufsgruppen. Diese Autoren stammen selbst aus dem Ort, für die sie im Rahmen der ABM-Finanzierung eine Chronik anfertigen. In aller Regel sind die aus solchen Beschäftigungen hervorgehenden Laienchroniken dem Ortschronik-Genre zuzuordnen. Diese Praxis war vor allem in den neuen Bundesländern, angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen nach der Wiedervereinigung, verbreitet. Das Land Mecklenburg-Vorpommern bietet hierfür ein anschauliches Beispiel. »In den 1990er Jahren befassten sich Hunderte und Aberhunderte Männer und Frauen im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr oder weniger erfolgreich mit der Erarbeitung von Chroniken«, schreibt der Historiker Reno Stutz in der Rückschau.42 Wie das Zitat andeutet, führte diese Chronikarbeit auch zu einer überproportional hohen Beteiligung von Frauen an Heimatbüchern. Letztlich ist es für die folgenden Analysen zu verschmerzen, dass die statistischen Daten zu Chronik- und Heimatbuchautoren dürftig bzw. lückenhaft ausfallen. Für die Zuordnung einer Chronik zum Genre ist es weder notwendige noch hinreichende Bedingung, dass sie von einem Autor mit einem bestimmten soziodemografischen Hintergrund geschrieben worden ist. Entscheidend ist, dass das Autorenverhältnis zum Ort im Zeichen des Miterlebens und Mitgestaltens steht, wie ich im Folgenden erläutern werde. Dies impliziert gleichsam ein spezifisches Verhältnis zur Zielgruppe dieser Bücher. Die Charakterisierung des Genres über ein derartiges Autoren-Prinzip erscheint erheblich praktikabler als die statistische Konstruktion eines »Durchschnittstyps Heimatforscher«, der mittels formaler Kriterien auf äußerst dünner Datengrundlage definiert werden müsste.43
Existenzielle Verwobenheit: Nähe statt Distanz Betrachten wir zu Beginn ein Beispiel aus der Umbruchphase der 1970er Jahre, das die zunehmende Lösung des Chronikautoren-Bildes von wissenschaftlichen 41 Vergleiche zum Beispiel die Kritik eines entsprechenden Autors an der Gemeindeverwaltung in Velbert, die eine »Zensur« seines Manuskripts vorgenommen habe, Ohne Autor : Forum. 42 Stutz: Leitfaden, S. 24. 43 Eine Definition für einen solchen »Durchschnittstyp Heimatforscher« hat Carl-Hans Hauptmeyer bereits in den 1980er Jahren vorgeschlagen, Hauptmeyer : Heimatgeschichte, S. 78–79.
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Vorbildern verdeutlicht. Der Einband der Chronik des bayerischen Trudering aus dem Jahr 1972 gibt zwei Gesichter des Autors wieder. Dort heißt es einerseits: »In jahrelanger, unermüdlicher Kleinarbeit hat Josef Brückl in den Archiven alle Fakten zusammengetragen und mit der Truderinger Chronik eine umfassend dargestellte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte geschaffen. ›Josef Brückl‹, so Prof. Dr. Bosl, Ordinarius für bayerische Ortsgeschichte an der Universität München, ›erfüllt in idealer Weise die Forderungen moderner Geschichtsbetrachtung.‹« Diese Würdigung des Autors ist eindeutig einem akademischen Verständnis verpflichtet. Das zeigt die Erwähnung von Archiven, von Spezialdisziplinen (»Sozial- und Wirtschaftsgeschichte«) und vor allem die Sanktion durch eine universitäre Autorität. Andererseits enthält derselbe Klappentext eine ganz anders gelagerte Würdigung der Autorleistung: »Josef Brückl ist am 9. 12. 1922 in Siechendorf, Landkreis Freising, geboren. Derzeit wirkt er als Oberlehrer an der Feldbergschule in München-Trudering. Seit 1947 wohnt er in Trudering. Für die ›Truderinger Chronik‹ benötigte Josef Brückl an die 10000 Arbeitsstunden. Über 1200 Stunden allein mußten in Archiven zugebracht werden. Bezeichnend für den Heimatforscher aus Passion ist, daß Josef Brückl die ›Truderinger Chronik‹ nicht nur ohne Honorarforderung schrieb, sondern daß er sämtliche Unkosten, die ihm persönlich entstanden, aus eigener Tasche bestritten hat.«44 Diese Passage verweist auf zentrale Facetten des (nichtwissenschaftlichen) Autorenverständnisses von Ortschroniken und Heimatbüchern: Hier zählt nicht die Nennung institutioneller Gewährsmänner, sondern die genaue Angabe der Herkunft des Autors. Es geht um die biografische Verbundenheit des Autors mit seinem Gegenstand. Zudem geht es um Leidenschaft und um persönlichen Einsatz, um Selbstaufopferung aus Heimatliebe. Beide Autorenbilder, das wissenschaftliche wie das ortschronistische, erfordern zudem unterschiedliche Einstellungen auf Seiten der Rezipienten. Im ersten Fall ist eine kritische, nachprüfende Lektüre angemessen; auch stellen sich bestenfalls historische Lern- und Bildungseffekte beim Leser ein. Das zweite Autorenprofil beinhaltet in erster Linie die Erwartung, dass die Gemeinschaftsleistung des Autors ihre Anerkennung durch die anderen Einwohner des Ortes erfährt. Statt über das Interesse an einem spezifischen, geschichtswissenschaftlichen Themenfeld sind Autor und Leser hier über die gemeinsame Heimatliebe verbunden. Das letztere Autoren-Leser-Verhältnis setzt sich im Laufe der späten 1970er und der 1980er Jahre durch und wird zu einem genrebestimmenden Element von Ortschroniken. Es impliziert ein gänzlich anderes Distanzverhältnis der Autoren zu ihrem Gegenstand und zu ihren Lesern. Die Vorteile der engen Bindung von Chronisten an ihren Ort sind in der Ratgeber-Literatur vielfach betont worden. 44 Trudering.
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Reno Stutz schrieb 2004 in seinem »Leitfaden für Ortschronisten«: »Vorzug des Chronisten vor Ort ist seine lokale Nähe, sind seine intimen Kenntnisse über das regionale Geschehen. Er kennt die Ereignisse, die die Menschen bewegten, besitzt damit eine Vertrautheit«. Allerdings versteht Stutz diese »Vertrautheit« nicht als zentrales Konstitutionsmerkmal von Chronikautoren, sondern bloß als formale Erleichterung des Zugangs zu Quellen. Bei seiner eigentlichen Arbeit müsse sich der Chronist vielmehr von dieser Nähe und »Subjektivität« lösen.45 Im Hintergrund steht das wissenschaftliche Autorenbild, das durch Herstellung von Distanz zum Gegenstand geprägt ist: die Ferne ermöglicht Reflexivität, Objektivität und eine unbeteiligte Außenperspektive. In Laien-Chroniken trifft man dieses Ideal allerdings kaum an. Die entscheidende Trennlinie zwischen wissenschaftlicher Lokalgeschichte und Ortschronistik verläuft zwischen den Polen der »Nähe« und der »Distanz«; sie trennt zwei grundverschiedene Genres mit grundverschiedenen Autorensubjekten voneinander. Chronikautoren nehmen ausdrücklich keine distanzierte Position ein; die persönliche Gebundenheit an ihren Gegenstand und an die Leserschaft gilt es gerade nicht zu überwinden. Das bedeutet letztlich auch, dass der Chronist eine andere Bindung an sein Werk aufweist. Wissenschaftliche Studien richten sich an eine (mehr oder weniger) offene Leserschaft, bieten eine von vielen möglichen Sichtweisen auf ihren Gegenstand und setzen sich einem institutionalisierten, kritischen Rezensionswesen aus. Der Chronist schreibt primär für seine unmittelbare Umgebung. Er ist nicht nur seinen Lesern und seinem Gegenstand, sondern auch seinem Buch eng verbunden; es stellt eher ein Lebenswerk als eine Fallstudie dar. Die Rezeption der Chronik ist somit untrennbar mit der persönlichen Würdigung des Autors verknüpft. Lob bedeutet Anerkennung, Kritik ist kaum von einem persönlichen Angriff zu unterscheiden. Heimatbuch-Autoren finden zudem auf einem anderen Weg als Wissenschaftler zu ihrem Forschungsgegenstand. Der Wissenschaftler spezialisiert sich auf einem bestimmten Gebiet, verfolgt ein eingegrenztes fachliches Interesse und fertigt dazu eine beispielhafte, lokalgeschichtliche Studie an. Der Ortschronist hingegen ist seinem Ort durch seine eigene Biografie verbunden; er lebt dort – wie in aller Regel bereits seine Vorfahren. Erst dann, im zweiten Schritt, ergibt sich ein historiografisches Interesse. Die Vertreterin des Niedersächsischen Heimatbundes Ute Bertrang unterschied 1990 in einer »Typologie« zwischen »Geschichtswerkstätten« bzw. »Historikern der neuen Geschichtsbewegung« und »Heimatforschern« in genau dieser Hinsicht: Erstere betrieben »lokale Geschichtsarbeit«, die »nur bedingt der Heimatforschung zuzurechnen« sei, »wird sie doch häufig von jungen Historikern betrieben, die zwar an kritischen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen interessiert sind, mit dem Ort, 45 Stutz: Leitfaden, S. 25.
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an dem sie und über den sie arbeiten, jedoch weiter keine Verbindung haben, als daß er vorübergehend ihr Wohnort ist.« Demgegenüber ist für den »Heimatforscher« entscheidend, dass »er über einen Ort (oder auch eine Region) arbeitet, in der er lebt, vermutlich bleiben wird oder in der er lange gelebt hat oder in dem seine Familie gelebt hat. Diese Verbundenheit mit einem Ort lenkt dann ein bereits vorhandenes Geschichtsinteresse auf ihn und läßt ihn so zum Gegenstand der aktiven Forschung werden.«46 Genau diese Reihenfolge ist – ganz im Unterschied zu wissenschaftlichen Studien oder kritischen Forschungen der »neuen Geschichtsbewegung« – entscheidend für die Laufbahn von Chronikautoren: Zuerst leben sie seit langer Zeit im Ort, dann kommt ein geschichtliches Interesse hinzu.
Miterleben und Mitgestalten der Ortsgeschichte Die Entstehung von Ortschroniken und Heimatbüchern setzt folglich ein besonderes Nahverhältnis von Autor, Gegenstand und Leserschaft voraus; ein Verhältnis, das unter der Prämisse des Miterlebens und Mitgestaltens steht. Chronikautoren sind mit ihrem Forschungsbereich existenziell verwoben. Sie haben den Ort, dessen Geschichte sie schreiben, meist selbst aktiv mitgestaltet, beispielsweise als Pfarrer, Lehrer, ehemaliger Bürgermeister, Landwirt oder in Vereinen. Es ist bezeichnend, dass Chroniken zu Beginn genaue Angaben zur Herkunft der Autoren liefern, insbesondere zu ihrem Geburts- und Wohnort. Diese zugleich geografische und soziale Bindung der Autoren an ihren Gegenstand fehlt praktisch in keiner Chronik von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. Meist können die Autoren hierbei auf eine mehrere Generationen übergreifende Reihe familiärer Vorfahren verweisen, die ebenfalls im jeweiligen Ort gelebt haben. Ein Beispiel besonders weit in die Vergangenheit reichender familiärer Verwurzelung bietet die Chronik von Danndorf in Niedersachsen. Das 2001 erschienene Buch zeigt eingangs eine Fotografie des Wohnhauses des Autors und liefert eine Kurzbiografie, aus der sich ergibt, dass seine Familie bereits seit 1571 nachweislich im Ort gelebt hat.47 Chronikautoren fühlen sich selbst der Dorfgemeinschaft zugehörig, deren Geschichte sie schreiben. Der Verfasser der Chronik von Stellichte bei Lüneburg aus dem Jahr 1950 bemerkt nicht ohne Stolz, dass er sich »selbst zu den Stellichter Dorfleuten rechnen« dürfe. Die Chronik habe er aus »Liebe zu seinem Heimatort« wie der tief empfundenen »Verbundenheit mit seinen Bewohnern« 46 Bertrang: Typologie, S. 46–47. 47 Danndorf, S. 4.
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verfasst.48 Zu der langjährigen, in der Regel viele Generationen währenden geografischen Bindung der Autoren an ihren Ort kommt die soziale hinzu: ein Leben »im Dienste der Gemeinschaft«, wie es der Herausgeber der Breitenbrunner Chronik Albert Braun 1986 von sich selbst schreibt. Braun war vierzig Jahre Bürgermeister der bayerischen Gemeinde.49 Es geht also nicht allein um das Erleben der Dorfgeschichte, sondern auch den eigenen Beitrag dazu, der Heimatbuch-Autoren auszeichnet. Werfen wir einen Blick in die Autorenangaben zur Chronik von Asweiler im Saarland, die von der Asweiler »Landfrau« Gisela Müller verfasst worden ist und 2011 erschien: »Durch die Heirat mit dem Asweiler Landwirt Heinz Müller kam sie vor mehr als 50 Jahren in dieses Dorf und erlebte seitdem viele Jahre der Dorfgeschichte mit. Mühen hat sie nie gescheut. Engagement und freiwillige Arbeit war ihr nie eine Last. Sie gründete den Landfrauenverein Asweiler-Etzweiler und war viele Jahre Vorsitzende.« Die Chronikautorin hat die Dorfgeschichte mitgestaltet – mit »Mühen«, mit »Engagement«, mit »freiwilliger Arbeit« und mit ihrer Vereinstätigkeit. Darüber hinaus erscheint die Arbeit an der Chronik selbst – das Sammeln von Quellen, Erinnerungen und Erzählungen – als Teil dieses Engagements für die Gemeinschaft. Über die in der Chronik enthaltenen Geschichten schreibt die Autorin, sie »gehen zurück auf persönliche Gespräche mit ortskundigen Dorfbewohnern während meiner Posthalterzeit. So manche Geschichte wurde mir von den Landfrauen, die ich lange Zeit betreute, erzählt. Es waren erlebnisreiche Stunden, die wir zusammen verbrachten, in der die vergangene Zeit uns gegenwärtig erschien.«50 Diese Gesprächspartnerinnen der Autorin zählen zugleich zur hauptsächlichen Leserschaft der Chronik. Nicht nur die Autoren, sondern auch die Leser von Ortschroniken sind – dem Selbstverständnis nach – durch ihr eigenes Miterleben dem Ort und seiner Geschichte verbunden.
Jenseits der Wissenschaftlichkeit Kommen wir vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen nochmals auf das Thema der »Wissenschaftlichkeit« von Chroniken sowie die Formierungsphase des Genres und seine Vorgeschichte zu sprechen. Bis heute fassen Ratgeber und Anleitungsschriften Chroniken und Heimatbücher als Textgattung auf, die, wenn auch nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen genügend, alternativlos am Vorbild der geschichtswissenschaftlichen Lokalgeschichte orientiert sind (oder sein sollten). Karl Moszner schreibt in seinem 1995 erschienenen Leitfa48 Stellichte, S. 10. 49 Breitenbrunn, S. 3. 50 Asweiler, S. 2, 5.
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den »Ortsgeschichte – Ortschronik. Eine Einführung und Anleitung«, es sei »ersichtlich, daß die archivalischen Quellen das eine Standbein der Ortsgeschichtsschreibung darstellen, das andere, das zweite, aber in dem Bereich der wissenschaftlichen Forschung gegeben ist.«51 Carl-Hans Hauptmeyer geht in einem zur selben Zeit veröffentlichten Aufsatz davon aus, dass auch unter den »nicht wissenschaftlich ausgebildeten Heimatforschern« so etwas wie ein Wille zur Wissenschaft vorherrsche. Damit ist die Bereitschaft angesprochen, sich wissenschaftlich weiterbilden zu lassen und Ergebnisse zu erarbeiten, deren »Eingliederung in allgemeinere geschichtswissenschaftlichen Forschungen möglich ist«.52 In den 1950er bis 1970er Jahren war dieser Anspruch an LaienHeimatforschung bzw. Laien-Ortschroniken noch deutlicher spürbar gewesen. Das Beurteilungskriterium »wissenschaftlicher Genauigkeit« herrschte relativ uneingeschränkt vor und maß alle Publikationen an ihrem Beitrag zur landesgeschichtlichen und allgemeinen Forschung.53 Der Rechtfertigungsdruck von Laienautoren, deren Texte diesen Maßstäben nicht genügten, fiel merklich höher aus.54 Auch in diesen Jahrzehnten bemerkten professionelle Historiker allerdings immer wieder, dass viele ortsgeschichtliche Publikationen diesen Ansprüchen nicht gerecht wurden und trotzdem eine breite Unterstützung in den jeweiligen Orten fanden. Der Staatsarchivdirektor aus Hannover überhäufte das Manuskript einer Chronik des Ortes Badenstedt, das ihm 1949 zur Begutachtung vorgelegt worden war, mit vernichtender Kritik, unter anderem im Blick auf die methodische Nachvollziehbarkeit, die archivalische Quellendichte und die Stringenz des Aufbaus. Resignierend kam er in einem Schreiben an den Niedersächsischen Heimatbund jedoch zum Schluss: »Da dem Verfasser offenbar das Interesse des Ortes und der Ertrag von Inseraten weitgehend zuhilfekommt, wird sich die Veröffentlichung dieser Chronik wohl kaum verhindern lassen. Sie wird die Zahl der missglückten Dorfgeschichten Niedersachsens um ein weiteres trauriges Beispiel vermehren.«55 Erwiesen sich also bereits in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik viele heimatgeschichtliche Laien-Publikationen als erfolgreich, die wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen konnten, so vermehrte sich die Anzahl solcher Texte ab den späten 1970er Jahren nochmals drastisch. Mag es für die Arbeit vieler Laienforscher und für das Gros der Geschichtswerkstätten durchaus gelten, dass sie danach streben, wissenschaftlich 51 52 53 54
Moszner : Ortsgeschichte, S. 12. Hauptmeyer : Rückblick, S. 22. Vgl. Hasborn-Dautweiler, S. 9. Vgl. z. B. Wölpinghausen, ohne Paginierung: »Es bleibt mir aber bei allem guten Willen bewußt, daß es für mich als Laien ein gewagtes Unterfangen ist, so eine Dorfgeschichte zu schreiben. Die Liebe zur Sache kann das geistige Rüstzeug eines Fachmannes nicht ersetzen.« 55 Brief von Karl-Heinz Mieles an den Heimatbund Niedersachsen e.V., 10. 6. 1949, in: HSTAH, V.V.P. 17 Nr. 3517.
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akzeptable bzw. verwertbare Produkte zu erstellen, so bleibt unverkennbar, dass sich das Genre der Ortschroniken und Heimatbücher in seiner Gesamtheit deutlich von diesem Anspruch entfernt hat. Das grundlegende Selbstbewusstsein, als akademisch unerfahrener Laie für andere Laien Geschichte zu schreiben, wuchs; dabei ließ sich die Nicht-Wissenschaftlichkeit von Ortschroniken viel offensiver in Stellung bringen als zuvor. Im Zuge der alltagsgeschichtlichen Bewegung lösten Ortschroniken und Heimatbücher sich endgültig aus der hierarchischen Beziehung zur akademischen Landes- und Lokalgeschichte. Es handelte sich allerdings um eine praktische Absetzbewegung, die nur selten ausdrücklich formuliert wurde oder wird; und wenn, dann oft sehr knapp und kryptisch. Betrachten wir einige Beispiele: In den späten 1970er Jahren finden wir erste Selbstbeschreibungen von Heimatbuch-Autoren als »HobbyChronisten«, die ihre Bücher ausdrücklich »nicht als wissenschaftliche Arbeit angesehen wissen« wollen.56 Über den Chronisten des nordfriesischen Bramstedtlund schreibt der Herausgeber 1981: »Diese Schrift ist in erster Linie der Bericht eines einzelnen, mehr im Plauderton erzählt als wissenschaftsmäßig abgehandelt.«57 Vergleichsweise offensiv grenzt sich die Redakteurin der Chronik des bayerischen Buchbach 1988 ab; sie stellt fest: »Die Historiker haben es nicht gerne, wenn sich Laien in ihrem ureigensten Wissensgebiet versuchen.« Der offiziellen Landesgeschichte, für die sie stellvertretend die Namen zweier Historiker nennt, stellt die Autorin bewusst eine eigene »Dilettantische Geschichte« entgegen – eine »Art von Geschichte«, die dennoch »unbestritten […] ihren Reiz« habe.58 Betrachten wir auch den Fall Tuntenhausens in Bayern. Im Rahmen des »Dorferneuerungs«-Programms entstand unter Leitung des Münchener Landeshistorikers Ferdinand Kramer im Jahr 1991 eine lokalgeschichtliche Studie zu dem Ort.59 Das Buch wurde durch die Direktion für Ländliche Entwicklung (vormals Flurbereinigungsdirektion) der bayerischen Staatsregierung gefördert und von zahlreichen Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft als Modell für weitere Studien gepriesen. Bei den Bewohnern Tuntenhausens stieß es jedoch nicht nur auf positive Resonanz. Ein zeitgenössischer Beobachter zitierte eine typische Reaktion: »So ein akademisch geschriebenes Buch von Dritten wollen wir für unser Dorf nicht.« Die entschiedene Ablehnung einer akademischen Publikation für das eigene Dorf ging einher mit der Forderung nach einem anderen Buch, dessen Erstellung sich in erster Linie 56 Dernbach I, S. 287. Vergleichbare Aussagen finden sich in dieser kurzen, meist kaum weiter ausgeführten Form in vielen Chroniken. Die Chronisten von Ergeshausen in Rheinland-Pfalz schreiben 2002 über ihr Buch beispielsweise gleichermaßen lapidar : »Es ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein Stück Heimatgeschichte« (Ergeshausen, S. 20). 57 Bramstedtlund, Vorwort ohne Paginierung. 58 Buchbach, S. 11. 59 Kramer (Hg.): Tuntenhausen.
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an der Herkunft statt der Wissenschaftlichkeit der Autoren festmachte: »Das muß von uns selbst kommen«.60 In der Tat erschien einige Jahre später eine »Chronik der Gemeinde Tuntenhausen« im Ort, die diesem Prinzip folgte und in der die Veröffentlichung aus dem Jahr 1991 keine Erwähnung fand.61 Entsprechend dem alternativen Autorenverständnis sprechen Ortschroniken und Heimatbücher auch eine andere Zielgruppe an. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie sich nicht an Lokalhistoriker oder andere Wissenschaftler wenden. Die Zielgruppe dieser Bücher ist stattdessen geografisch und sozial bestimmt: Es handelt sich um die Einwohner des jeweiligen Ortes, die zugleich als Mitglieder einer Dorfgemeinschaft imaginiert werden. Der Chronist von Hordorf in Niedersachsen schrieb 1989 im Vorwort seines Buches: »Diese Chronik soll keine wissenschaftliche, ausschließlich aus Archivalien zusammengetragene oder für Forschungszwecke verwendbare Arbeit sein«. Es gehe im Wesentlichen um ein Buch »von Hordorfern für Hordorfer«. Der Autor spricht seine Leser direkt an: »Möge Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, diese Hordorfer ›Dorfgeschichte‹ von 1299 bis 1989 […] neue Erkenntnisse über die Zusammenhänge der Entwicklung ›des Dorfes‹ vermitteln, das Ihre angestammte Heimat ist, oder das Sie durch ›Umsiedlung‹, Heirat oder Zuzug zu Ihrer neuen Heimat oder Wahlheimat gemacht haben.«62 Die Leserschaft der Chronik ist örtlich eng begrenzt; sie umfasst diejenigen, die den Ort als eigene »Heimat« empfinden. Entsprechendes liest man in der Fortführung des oben bereits zitierten Vorworts der Bramstedtlunder Chronik über den Autor und seine Leser : »Die Ergebnisse seiner Heimatforschung […] können mit vorliegender Schrift nun wenigstens auszugsweise denjenigen übergeben werden, für welche er dies alles vornehmlich gesammelt und erarbeitet hat: den Mitmenschen im Dorf und aus dem Dorf, also denjenigen, die der Gemeinde Bramstedtlund durch Geburt, Wohnung oder Arbeitsplatz verbunden sind.«63 Derartige Positionierungen dürfen allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass der Unterschied zwischen Heimatbüchern und wissenschaftlichen Publikationen gleichbedeutend mit Abstrichen bei der Sorgfältigkeit wäre. Zwar folgen Ortschroniken anderen Recherche-, Strukturierungs- und Gestaltungsprinzipien als wissenschaftliche Arbeiten, doch ist dies nicht mit einem Mangel an Arbeitsintensität, Quellendichte oder Redlichkeit gleichzusetzten. Dass Ortschronisten sich nicht als (Hilfs-)Wissenschaftler verstehen, heißt keineswegs, dass sie fiktionale Geschichtensammlungen schreiben würden. »Nach bestem Wissen und Gewissen« vorzugehen, ist auch für Heimatbuch-Autoren 60 61 62 63
Magel: Dorferneuerung, S. 3. Tuntenhausen. Hordorf, S. 7–8. Bramstedtlund, Vorwort ohne Paginierung.
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ein zentrales Leitbild. Die Chronik von Ambergen in Niedersachsen, die sich »in erster Linie an die Amberger wendet und nicht an Historiker und Geographen«, unterliege, so das Vorwort, dennoch einem »strengen Maßstab« von »Zuverlässigkeit und Genauigkeit«.64 Blicken wir nochmals in die Chronik von Bramstedtlund, so finden wir eine vergleichbare Versicherung. Wie gesehen handelt es sich um ein Buch »mehr im Plauderton erzählt als wissenschaftsmäßig abgehandelt«. Folgt man dem Vorwort weiter, heißt es jedoch: »Gleichwohl ist der Verfasser überall bemüht gewesen, die Tatsachen so zuverlässig wie möglich festzustellen.«65 In diesem Zusammenhang bietet sich eine begriffliche Unterscheidung an, die sich in der Chronik von Schmelz im Saarland findet. Das Vorwort besagt, dass sich die Autoren – zusammengefasst zur »Arbeitsgemeinschaft für Heimatforschung Schmelz« – zwar »nicht als Professionelle ansehen«, sie jedoch als »Sachkenner« bezeichnet werden möchten.66
Zweite Heimat: Zugezogene als Chronikautoren Die biografische, meist mehrere familiäre Generationen übergreifende Bindung an den Ort ist eine zentrale Voraussetzung dafür, Autor einer Ortschronik zu werden. Dies macht das Schreiben eines solchen Buches für Zugezogene grundsätzlich problematisch. Die Fälle, in denen Chronikautoren nicht ihr gesamtes Leben in dem zu beschreibenden Ort verbracht haben, sind nach wie vor selten. Ausnahmen kommen durchaus vor, sie stehen jedoch unter einem höheren Rechtfertigungsdruck. Entsprechende Autoren müssen einerseits glaubhaft versichern, dass der neue Ort zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden ist und sie durch »Heimatliebe« mit ihm verbunden sind. In diesem Zusammenhang fällt vielfach der Topos der »zweiten Heimat«.67 Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs eine Chronik ihrer »neuen Heimat« verfassen, was bis heute eher unüblich ist.68 Zu einer besonderen Betonung der Heimatverbundenheit fühlen sich allerdings auch Autoren verpflichtet, die zwar im jeweiligen Ort geboren wurden, jedoch wichtige Abschnitte ihres Lebens andernorts verbracht haben.69 Entscheidend für die Legitimation als Chronikautor ist bei Zugezogenen nicht allein die persönliche Verbundenheit zu ihrem neuen Wohnort, sondern auch, dass sie sich während ihrer Zeit dort aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligt haben; dass sie die Orts64 65 66 67 68 69
Ambergen, S. 9. Bramstedtlund, Vorwort ohne Paginierung. Schmelz, S. 15. Siehe z. B. Wierthe, S. 3. Siehe z. B. Rehburg. Siehe z. B. Epterode, S. 3.
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geschichte mitgestaltet haben. So schreibt der Autor der Chronik von Heiligenwald im Saarland, das ihm zur »zweiten und letzten Heimat« geworden sei, über die jüngere Ortsgeschichte: »Die eigentliche Dorf- und Gemeindewerdung habe ich mit erlebt und gestalten helfen.«70 In diesem Kontext ist zum Beispiel auch die Hervorhebung ehrenamtlicher Aktivitäten verbreitet, wie im Fall des Chronikautors von Waldesch in Rheinland-Pfalz, der gebürtiger Franke ist, zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Chronik jedoch bereits über 25 Jahren in Waldesch gewohnt hat. Im Einband ist über ihn zu lesen, dass er »insgesamt auf 7 Jahre ehrenamtlicher Tätigkeit als Ortsbürgermeister in Waldesch zurückblicken kann«.71
Ortschroniken als Gemeinschaftsaufgabe Förderung, Finanzierung, Verbreitung Das Leitmotiv, das wir im Zusammenhang der Autorschaft von Ortschroniken und Heimatbüchern kennengelernt haben, lässt sich gleichfalls für den Prozess ihrer Erstellung geltend machen. Im Blick auf die Finanzierungs-, Produktionsund Verbreitungszusammenhänge von Chroniken gilt im Allgemeinen ebenfalls: aus dem Ort für den Ort. Die Finanzierung derartiger Bücher ruht meist auf drei Säulen: einem Beitrag der Gemeindeverwaltung, Spenden von Mitbürgern und ansässigen Unternehmen sowie einer (nicht selten gehörigen) Eigenbeteiligung des Autors bzw. der Autoren. Alle Spender finden üblicherweise eine prominente Erwähnung zu Beginn oder Ende des Buches in Form einer Danksagung oder namentlichen Liste. Die in den 1950er und 1960er Jahren noch weit verbreitete Praxis, lokale Werbeanzeigen in einem gesonderten Buchteil unterzubringen, ist heutzutage kaum noch anzutreffen.72 Gelegentlich sind zudem Verwaltungsorgane aus der Region, allen voran des Landes, zusätzlich an der Finanzierung beteiligt. Oft fungieren die Gemeinden nicht nur als Geldgeber, sondern auch als Herausgeber der Chronik. In anderen Fällen erscheint sie im Selbstverlag des Autors. Für ihr Sample von 83 Dorfchroniken aus dem Raum Hannover hat Ursula Lehmann festgestellt: »13 Exemplare [wurden] maschinenschriftlich hergestellt, die restlichen 70 wie folgt verlegt: a) 30 Chroniken wurden von der Gemeinde im Selbstverlag herausgegeben. b) 21 Chroniken fanden einen re70 Heiligenwald, S. 5. 71 Waldesch. 72 Vgl. als Beispiele Rehburg; Klarenthal. Geläufig sind Werbeanzeigen weiterhin in Festbroschüren, vgl. z. B. Kahlenberg.
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gionalen Verlag. c) 7 Chroniken haben die Verfasser im Selbstverlag veröffentlicht. d) je 1 Chronik gab der Heimatverein für Niedersachsen und der Niedersächsische Heimatbund heraus.«73 Es liegen auch hier keine überregional repräsentativen Daten zu Ortschroniken vor. Meine eigene Sichtung von Heimatbüchern aus dem gesamten Bundesgebiet legt allerdings nahe, dass die Beobachtungen Lehmanns im Prinzip auf alle Regionen übertragbar sind. Allerdings erscheint mir der Anteil »regionaler Verlage« in diesem Sample eher ungewöhnlich hoch zu sein.74 Wie Lehmann weiter schreibt, »erlaubt die Art der Veröffentlichung einen Rückschluß auf die Verbreitung der Chroniken«. Auf Grund des hohen Anteils von selbst verlegten oder informell produzierten Büchern dürfe man davon ausgehen, dass diesen »Chroniken eine örtlich begrenzte Bedeutung zukommt«.75 Dieser Befund deckt sich ebenfalls mit meinen eigenen Beobachtungen zu Ortschroniken und Heimatbüchern. Die meist dürftige Finanzierungslage in Zusammenhang mit der begrenzten Zielgruppe führen in manchen Fällen dazu, dass Chroniken gänzlich auf eine offizielle Veröffentlichung verzichten und somit der grauen Literatur zuzurechnen sind.76 Ein ›unprofessionelles‹ Erscheinungsbild ist dem Stellenwert einer Chronik für das lokale Geschichtsbewusstsein allerdings keineswegs abträglich; eher unterstreicht es ihren nachbarschaftlichen Charakter, der Autoren und Leser vermeintlich verbindet. Nehmen wir als Beispiel die Chronik des mecklenburgischen Rieps aus dem Jahr 2012, die der Autor handschriftlich verfasst und sodann fotokopiert hat. Einzelne Passagen sind allerdings auch – ohne erkennbare Regelmäßigkeit – maschinenschriftlich angefertigt worden. Die Chronik enthält einige per Hand eingeklebte Fotografien; auf diese Weise hat der Autor auch weitere Abbildungen und Originale (Briefe, Urkunden, Zeitungsartikel) hinzugefügt.77 Im Gegensatz dazu fällt die Herstellung manch anderer Ortschronik durchaus kostspielig aus, beispielsweise im Blick auf das verwendete Material (Kunstledereinband, Hochglanzpapier, Farbabbildungen etc.) oder den großen Umfang der (teilweise mehrbändigen) Werke, aber auch im Blick auf die Integration von Auftragsarbeiten professioneller Autoren. Im Allgemeinen scheint die Gestaltung von Ortschroniken in den letzten Jahrzehnten aufwendiger auszufallen als noch in den 1950er bis 1970er und teilweise den 1980er Jahren, insbesondere was die Verwendung größerer Formate und die Anzahl von Farbfotografien angeht.78 73 Lehmann: Dorfchroniken, S. 55; für die restlichen Chroniken »waren keine Angaben ersichtlich«. 74 Vgl. hierzu Eckhardt: Vereinschroniken, S. 4. 75 Lehmann: Dorfchroniken, S. 56. 76 Vgl. Brennberg, S. 4. 77 Rieps. 78 Dies lässt allerdings keine unmittelbaren Schlüsse auf die relative Höhe der aufgewendeten
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Neben der Finanzierung und Herstellung liegt nicht selten auch der Vertrieb von Heimatbüchern in den Händen der Gemeinden oder der Autoren. Ortschroniken sind oft nicht über den Buchhandel erhältlich, sondern werden nur über die jeweilige Gemeindeverwaltung oder auf privatem Wege verbreitet.79 Es ist beispielsweise nicht unüblich, dass ein Großteil der Auflage einer Ortschronik im Rahmen einer Buchvorstellung oder einer örtlichen Festveranstaltung verkauft wird. Ohnehin sind es oft Ortsjubiläen, zurückgehend auf die urkundliche Ersterwähnung des Ortes, zu denen Heimatbücher bevorzugt produziert, beworben und vertrieben werden.80 Es ist jedoch fraglich, diese Jubiläen zum eigentlichen Anlass der Chronikerstellung zu erklären. Vielmehr setzen sie bloß einen konkreten terminlichen Rahmen zur Umsetzung eines Chronikvorhabens, dessen Motivation allgemeiner ausfällt. Wie im vorangehenden Kapitel erörtert, ist es für die Bestimmung des Genres wichtig, dass Ortschroniken im Grunde keine konkrete Absicht verfolgen. Auch Ortsjubiläen stellen nur einen äußeren Faktor dar, ein allgemeines historisches Interesse im Ort zu fördern bzw. ein seit Längerem bestehendes Publikationsvorhaben zu beschleunigen. So häufig die Verbindung von Jubiläumsfeiern und Chronikveröffentlichungen auch ist – bereits die Titel einer Vielzahl von Publikationen machen dies deutlich – sie bleibt letztlich akzidentell. Wiederum ist es vielversprechender, Ortschroniken und Heimatbücher nicht über eine formale Klassifikation der Publikationsumstände zu bestimmen, sondern über die leitenden Prinzipien, die diesem Prozess zugrundeliegen. Dies gilt auch für die Funktion lokaler Unternehmen und politischer Institutionen bei der Chronikherstellung. Derartige Verflechtungen haben wiederholt zu der Kritik Anlass gegeben, es würde sich bei vielen Ortschroniken »um die offizielle und politisch abgesegnete Darstellung und Interpretation lokaler Geschichte« handeln.81 Diese Kritik ist aus der Perspektive eines interesselosen, distanzierten Wissenschaftsideals sicherlich zutreffend, doch entspricht sie dem Selbstbild der an der Produktion von Chroniken Beteiligten nicht. Die Grenze von Politik und Nicht-Politik, so wird insbesondere der Abschnitt zum Umgang mit der NS-Geschichte zeigen, verläuft demnach an der Außengrenze des Ortes und nicht durch ihn hindurch. Manche Akteure, die Chroniken unterstützen als »politisch« und andere als »unpolitisch«, manche als »interessengeleitet« und andere als »interessenlos« zu bezeichnen, ist im Rahmen dieses Denkens wenig sinnvoll. Dies gilt auch für lokale Unternehmen und für vermeintliche wirtFinanzmittel zu. Die Kosten einer Ortschronik sind von vielen Faktoren abhängig, allen voran den sich wandelnden Herstellungsverfahren und ihrer Zugänglichkeit sowie den schwankenden Druckkosten. 79 Vgl. z. B. Stralendorf. 80 Eckhardt: Vereinschroniken, S. 3; Stutz: Leitfaden, S. 15. 81 Kukatzki: »Vergangenheitsbewältigung«, S. 4.
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schaftliche Interessen.82 Chroniken verstehen sich vielmehr als Umsetzung eines dorföffentlichen Gemeinschaftsprojekts.
Ein dorföffentliches Projekt Mitte der 1980er Jahre schrieben Hannes Heer und Volker Ullrich in einem Kommentar zur »neuen Geschichtsbewegung«, dass viele lokalgeschichtliche Projekte in einem öffentlichen, kommunikativen und eher ungeplanten Prozess entstehen: »Typisch ist der folgende Ablauf: Es beginnt mit dem Sammeln von Daten und Fotos, Interviews werden durchgeführt, dann wird all das zu einer Ausstellung, einer Dia-Schau oder einer Broschüre verarbeitet. Die führen zu neuen Kontakten, neuem Material, der Kreis der Mitarbeitenden vergrößert sich und ein neuer Arbeitsvorgang setzt ein, mit erweiterter Themenstellung oder orientiert auf eine tiefere Durchdringung des bisher Zusammengetragenen. Dieser spiralförmige Prozeß, an dem viele Menschen und immer häufiger auch kommunale oder kulturelle Institutionen beteiligt sind, vollzieht sich nicht abseits von der gesellschaftlichen Realität, sondern ist eingebettet in das Alltagsleben eines Stadtteils, einer Siedlung oder einer Region.«83 Entscheidend für die Entstehung eines lokalen Geschichtsprojekts sind das sukzessive ÖffentlichWerden sowie seine Aneignung durch weitere Einwohner und kommunale Institutionen. Wie wir an späterer Stelle sehen werden, bestehen zwischen der »neuen Geschichtsbewegung« bzw. der »kritischen, alltagsgeschichtlichen Bewegung«, die Heer und Ullrich in erster Linie vor Augen hatten, und der Ortschronistik, wie sie im vorliegenden Buch beschrieben wird, erhebliche Unterschiede. Doch sind diese Charakteristika auch für die Entstehung von Chroniken und Heimatbüchern bestimmend. Eine Ortschronik ergibt sich oft aus einem mehr oder weniger privaten, anfangs meist ziellosen Forschen, das dann allmählich zu einem dorföffentlichen Projekt wird – nicht selten erst ein, zwei Generationen nach den ersten Vorarbeiten. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren, als kollektiv verfasste Ortschroniken noch selten waren, hatten die Autoren vor dem Erscheinen einer Chronik meist Aufsätze veröffentlicht, Jubiläumsfeiern durch historische Vorträge begleitet, Gedichte oder Festreden geschrieben etc. Die Ortschronik stellte dann einen vorläufigen Höhepunkt in einem deutlich länger währenden ortsgeschichtlichen Schaffensprozess dar, der vielfach mit der Dorföffentlichkeit kurzgeschlossen war.84 In anderen Fällen trat die Gemeindeverwaltung mit der Idee einer Chronik 82 Vgl. als Beispiel für viele: Painten, S. 5. 83 Heer/Ullrich: »Geschichtsbewegung«, S. 27–28. 84 Vgl. z. B. Hachmühlen, S. 8.
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an einen Heimatforscher heran, von dem bekannt war, dass er eine historische Sammlung angelegt hatte (woraus sich sodann ein konkretes Publikationsprojekt ergab).85 Spätestens wenn es um die Fragen der Herausgeberschaft und Finanzierung ging, entstanden entsprechende Kooperationen und das ursprünglich private Manuskript wurde schnell zum Buch des Dorfes. Damit geht eine Relativierung der Autoren-Individualität einher, die für wissenschaftliche und vor allem literarische Bücher hingegen zentral ist. Es geht im Fall von Ortschroniken darum, einem vorgeblich allgemeinen Interesse des gesamten Ortes zu seiner Umsetzung zu verhelfen und nicht darum, ein individuelles schriftstellerisches Produkt vorzulegen. Es geht um »unser Dorf« und »unser Buch« (anstatt um »mein Dorf« und »mein Buch«). Davon unbenommen bleibt, dass in Einzelfällen heftige Konflikte um die Autorschaft von Manuskripten oder Chronikbeiträgen entstehen können. Auch dann geht es jedoch weniger um die individuelle Selbstverwirklichung, sondern vorrangig darum, dass ein Autor seinen Arbeitsaufwand und seine Leistungsbereitschaft für die Dorfgemeinschaft nicht hinreichend gewürdigt sieht.86 Der dorföffentliche Charakter von Chronikvorhaben wird in aller Regel dadurch verstärkt, dass allgemeine Aufrufe zur Mitarbeit und Unterstützung lanciert werden. Unabhängig davon, ob bereits umfangreiche Vorarbeiten einer Einzelperson vorliegen oder ob es um ein gänzlich neues Unterfangen geht, es ist im Zusammenhang mit der Erstellung von Ortschroniken üblich, in Regionalzeitungen und auf lokalen Veranstaltungen alle Mitbürger dazu aufzurufen, sich durch Materialien, Spenden oder eigene Mitarbeit in die Unternehmung einzubringen. Diese Aufrufe fanden und finden regelmäßig ein »reges Echo«: »Im Oktober 1981 richtete die […] ›Interessengemeinschaft Stapelmoorer Park‹ einen Aufruf an die Einwohner, im Rückblick auf die bewegte Vergangenheit des Geestdorfes eine Dorfchronik zu erstellen. […] Das Echo war rege: viele schrieben Beiträge aus der Erinnerung oder übernahmen in diesem Zusammenhang andere gemeinnützige Aufgaben«, heißt es im Vorwort der 1984 erschienenen Stapelmoorer Chronik.87 Auch die Finanzierung von Ortschroniken steht im Regelfall im Zeichen öffentlicher Spendensammlungen. Ein spezielles Beispiel, das das zugrundeliegende Prinzip gleichsam besonders deutlich veranschaulicht, bietet die 2011 erschienene Chronik von Kreuzweiler in Rheinland-Pfalz. Die Chronik ist zum Teil über ehrenamtliche Weihnachtsbaumver85 Vgl. z. B. Hillesheim. 86 Vgl. z. B. Monreal, S. 5–6. 87 Stapelmoor, S. 3. Danksagungen an die vielfältige Unterstützung aus dem Kreis der Dorfbewohner finden sich in nahezu jeder Ortschronik, oft auch unter Nennung des Namens und des jeweiligen Beitrags (z. B. Gespräch, Fotografie, historische Dokumente), vgl. als Beispiele aus verschiedenen Jahrzehnten: Edewecht; Kirchlinteln, S. 3; Maitzborn, S. 12; Mestlin¸ S. 113; Jonsdorf, S. 3–4.
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käufe finanziert worden: »In der Weihnachtszeit der folgenden Jahre – ab 2001 – haben unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger für die Forst- und Gemeindeverwaltung den Weihnachtsbaumverkauf übernommen, dessen Erlös dem Verein zur Finanzierung dieses Buches diente. An der Moselbrücke in Nennig-Remich wurden in der Zeit vom 13. Dezember bis zum 24. Dezember jedes Jahr ungefähr 450 Weihnachtsbäumchen verkauft. Nach der Abrechnung mit der Forstbehörde blieb für unseren Verein jeweils ein ansehnlicher Betrag übrig, so dass die Finanzierung unserer Ortschronik gesichert war. Viele Frauen und Männer, aber auch eine große Zahl Jugendliche haben mit Begeisterung und Freude geholfen.«88 Das Leitmotiv einer ›Verschmelzung‹ der Gemeinde mit ihrem OrtschronikProjekt findet einen anschaulichen Ausdruck in den fotografischen Abbildungen der Einwohner, die Chroniken gelegentlich einleiten. Abbildung 1 zeigt ein Beispiel aus der Chronik von Körkwitz in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2012. Die Bildunterschrift besagt, dass die Fotografie »der Körkwitzer« ausdrücklich für die Chronik aufgenommen worden sei. Die Fotografie erfüllt gleichermaßen eine Widmungs-Funktion, indem sie visuell unterstreicht, dass das Buch in erster Linie der (Autorin und Leser übergreifenden) Gemeinschaft zugedacht ist. Die abgebildeten Körkwitzer Einwohner sollen sich gleich zu Beginn der Chronik in ihr wiederkennen und mit der vorliegenden Chronik als der ihren identifizieren. Das Bild knüpft ein visuelles Band zwischen Chronik, Inhalt, Autorin, Lesern und Einwohnern; ein Band, das den Erstellungsprozess und die Rezeption von Chroniken umfasst.89 Dass Ortschroniken weniger als individuelle Produkte, die die subjektive Perspektive eines Einzelautors widerspiegeln, gesehen werden, sondern mehr als eine Gemeinschaftsaufgabe, die – trotz der federführenden Leitung Einzelner – das gesamte Dorf angeht, zeigt eine weitere Eigenheit dieser Bücher : Ortschroniken werden zwar vorzugsweise als Buch gedruckt und verbreitet, sie behalten jedoch auch nach ihrer Fertigstellung eine gewisse Work-In-ProgressDimension. Die Chronik soll nicht nur informieren und unterhalten, sie soll auch alle Einwohner zur weiteren Beschäftigung mit der Dorfgeschichte anregen. Die Verfasser einer Chronik sind in diesem Sinne eher Moderatoren einer Selbstbeschäftigung des (im Idealfall gesamten) Dorfes mit seiner eigenen Geschichte. Nicht nur im Vorfeld der Veröffentlichung, sondern auch im Nachklang sind weitere Hinweise, Anmerkungen, Ergänzungen etc. erwünscht, beispielsweise für Erweiterungen und Neuauflagen der Chronik. Auch hierzu sind prinzipiell alle Ortsbewohner aufgerufen.90 88 Kreuzweiler/Dilmar, S. 22. 89 Vgl. auch die Abbildungen in Westgreußen, S. 3, 531–535. 90 Vgl. z. B. Döbernitz, S. 1; Geithain.
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Abb. 1: »Die Körkwitzer unter der Wossidlo-Linde. Das Foto wurde am 8. Juli 2012 speziell für diese Chronik aufgenommen.«
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Gemeinschaftsarbeit Chroniken schreiben die Geschichte von Dorfgemeinschaften. Das wird sich in den folgenden Abschnitten vielfach zeigen. Hier ist wichtig, dass auch der Erstellungsprozess von Ortschroniken und Heimatbüchern einem analogen Ideal folgt. Die Chronik soll in Gemeinschaftsarbeit entstehen und die Dorfgemeinschaft zugleich selbst stärken. Die Arbeit an ihr trägt demnach zu genau der Kollektivierung bei, die sie in der Geschichte beschreibt – so zumindest die Vorstellung, die auch dann alternativlos bleibt, wenn sich im Rahmen der tatsächlichen Chronikerstellung Konflikte, Zerwürfnisse oder persönliche Eitelkeiten einstellen.
Abb. 2: Der »Redaktionskreis« der Chronik von Karlsbrunn im Saarland (2003).
Werfen wir einen Blick auf ein visuelles Beispiel. Der »Redaktionskreis« der Chronik von Karlsbrunn im Saarland aus dem Jahr 2003 hat dem Vorwort eine Abbildung beigefügt, die ihn selbst bei der Arbeit an der Chronik zeigen soll (Abb. 2). Die Fotografie legt vor allem eines nahe: Geselligkeit. Statt einem konzentrierten Arbeitstreffen ist ein gemütliches Kaffeekränzchen zu sehen, statt einer sachbezogenen Diskussion ein fröhlicher Austausch, statt einer funktionalen Umgebung (etwa einem Büro) ein Wohnzimmer. Suggeriert wird, dass die Chronik in Gemeinschaftsarbeit entstanden ist. Die abgebildete Autorengemeinschaft steht hierbei sinnbildlich für die imaginäre Gemeinschaft aller
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Dorfbewohner, die an der Entstehung der Chronik mitgewirkt haben; darauf deutet auch das Vorwort hin.91 Ebenso beschreiben viele weitere Chronik-Vorworte den Entstehungsprozess als harmonische Gemeinschaftsarbeit. In der Chronik des thüringischen Gerstungen, an der insgesamt zehn Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben, die alle gebürtig aus dem Ort kommen und/oder beruflich mit ihm verbunden sind, stellt sich diese gemeinschaftliche Anstrengung als ineinandergreifende Arbeitsteilung dar. Ein 1994 anstehendes Ortsjubiläum habe den Anlass geboten, »Interessantes und Wissenswertes über Gerstungen und seine Umgebung in Form eines Heimatbuches zu veröffentlichen. […] Es besteht aus Einzelbeiträgen von verschiedenen Autoren, die in enger Verbundenheit mit unserer Heimat gewisse historische Zeitabschnitte und andere heimatkundliche Themenstellungen bearbeitet und das Ergebnis ihrer oft mehrjährigen Beschäftigung nun zu Papier gebracht haben, nach dem Grundsatz: ›Gerstunger schreiben für Gerstunger.‹« Aus der Zusammentragung von individuellen Interessensgebieten und Beiträgen sei letztlich eine »Gemeinschaftsarbeit« entstanden.92 Die Chronik von Vreschen-Bokel im Ammerland beleuchtet diese Arbeitsteilung aus handwerklicher bzw. technischer Perspektive, indem sie alle Hauptmitarbeiter der »Arbeitsgruppe Ortschronik« mit einzelnen Porträtfotografien würdigt, die sie bei typischen Tätigkeiten zeigt, beispielsweise am Computer, beim Fotografieren, beim Lesen, dem Studium von Luftbildern oder bei Exkursionen »ins Grüne«.93 Viele Chroniken weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Chronikarbeit selbst maßgeblich dazu beigetragen habe, das Gemeinschaftsgefühl der federführenden Autoren, aber auch aller Unterstützer (aus der Dorfgemeinschaft) hervorzubringen. In der Chronik von Maitzborn im Hunsrück heißt es in diesem Sinne: »Ein nicht zu übersehender, aber lohnender Nebeneffekt war die Beschäftigung der Maitzenborner Bürger mit ihrer Geschichte und damit die Entstehung einer besseren Beziehung zu ihrem Dorf, das ihnen jetzt vielleicht noch etwas mehr zur Heimat wurde.«94 Im Idealfall steht dann am vorläufigen Ende des Arbeitsprozesses ein Werk, in dem eine Gemeinschaft ihre eigene Geschichte geschrieben hat und dabei zugleich enger zusammengewachsen ist, so wie der Titel der Chronik des bayerischen Rinding
91 Explizit formuliert findet sich diese Vorbild- bzw. Stellvertreterfunktion auch in der Chronik von Lisdorf; über das »Organisationsteam« zur Chronikerstellung heißt es dort: »Trotz der vielen Arbeit ist den Teammitgliedern der Spaß an den Treffen und Sitzungen immer geblieben. Eine Dorfgemeinschaft ist ohne sie undenkbar: Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren, sind die Stütze unserer Gesellschaft« (Lisdorf, S. 1). 92 Gerstungen, S. 3. Vgl. als weiteres Beispiel: Hohenkirchen, S. 1. 93 Vreschen-Bokel, S. 7–10. 94 Maitzborn, S. 12.
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Ortschroniken als Genre I – Inhalt, Autoren, Entstehung, Quellen
es formuliert: »Rinding. Die tausendjährige Geschichte einer Dorfgemeinschaft, verfasst und herausgegeben von den Rindingern daselbst im Juni 2010«.95
Generationenübergreifender Erstellungsprozess Die Gemeinde Hollern-Twielenfleth gab Anfang der 1980er Jahre in Zusammenarbeit mit der örtlichen Sparkasse eine Neuauflage verschiedener älterer Ortschroniken bzw. Manuskripte heraus. In dem Werk verschmolzen (mindestens) drei Texte aus unterschiedlichen Zeiten: Den Hauptteil bilden die Festschrift »Twielenfleth 1059–1959« des Autoren H.P. Siemens aus dem Jahr 1959 sowie der noch ältere »Versuch einer Orts-Chronik von Hollern im Alten Land« des Pastors Gustav A. Künnicke aus dem Jahr 1940, der die Geschichte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts behandelt. Beide Texte sind unkommentiert nacheinander abgedruckt worden. Es finden sich keine Angaben zu einer etwaigen redaktionellen Überarbeitung. Im Anschluss folgen sodann aktuelle Textbeiträge einzelner Gemeindeeinrichtungen wie des Schützenvereins, der Freiwilligen Feuerwehr oder des Roten Kreuzes.96 In vergleichbarer Weise besteht die Chronik von Fickingen-Saarfels im Saarland aus den 1990er Jahren aus einer Kombination verschieden alter Versatzstücke. Das Transkript einer Schulchronik von 1893 ist hierbei durch die Ergänzungen nachfolgender Lehrer bis 1938 erweitert worden. In einem zweiten Teil folgen dann jüngere Fotografien, die bis in die Gegenwart der Chronikveröffentlichung reichen, zudem eine Liste der Toten beider Weltkriege.97 Bei diesen nicht unüblichen PatchworkChroniken spielt es keine ausschlaggebende Rolle, dass die einzelnen Vorlagen im Umfeld ganz verschiedener politischer Systeme entstanden sind. Diese unterschiedlichen Kontexte haben in der Perspektive der Chronikherausgeber keinen gravierenden Einfluss auf Inhalt und Gestaltung der Ortsgeschichte gehabt; eine entsprechende Aufbereitung, beispielsweise in Form eines inhaltsbezogenen Kommentars oder einer sorgfältigen Kontextualisierung, erscheint nicht nötig bei der Zusammenführung aller Textabschnitte im selben Buch. In dieser Sicht handelt es sich um grundsätzlich gleichartige, bloß unterschiedliche Zeiten und Themen abdeckende Bausteine zu einer kontinuierlichen Gesamtchronik des Ortes. Ein treffliches Beispiel bietet auch die 1991 in Sachsen erschienene Chronik von Gersdorf. Zu Beginn erfährt dort der »erste Chronist« des Ortes, Dorflehrer Isidor Hottenroth, eine Würdigung. Dieser war von 1899 bis 1932 Lehrer im Ort und veröffentlichte 1936, also während des »Dritten 95 Rinding. 96 Hollern-Twielenfleth. 97 Fickingen-Saarfels.
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Reichs«, eine Chronik. Ein weiterer Gersdorfer Autor führte die Chronik (vermutlich nach dem Tod Hottenroths im Jahr 1946) bis zum Jahr 1967 weiter. Im Jahre 1982, wahrscheinlich im Zuge einer Neufassung der staatlichen Anordnung zur Führung von Ortschroniken in der DDR, nahmen daraufhin wiederum zwei neue Chronisten ihre Tätigkeit auf. Im Jahr 1991 haben dann drei weitere Autoren alle bisherigen Fragmente zu einem Heimatbuch zusammengefügt, dabei nur oberflächlich überarbeitet und um eigene Abschnitte ergänzt. In ihrem Vorwort, in dem sie die Entstehungsgeschichte der Gersdorfer Ortschronik darstellen, kommentierten die Herausgeber des Jahres 1991 die systemüberschreitende Herkunft der Textvorlagen überhaupt nicht. Der gesellschaftliche Hintergrund aller Versatzstücke, auch der jeweiligen Autoren, vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, erschien als unwesentlich bei dem Vorhaben, ein Heimatbuch »für alle Gersdorfer« vorzulegen.98 Derartige Beispiele sind bezeichnend dafür, dass Autoren und Leser die Erstellung einer Ortschronik als ein generationenübergreifendes, im Prinzip zeitlich unbegrenztes Projekt auffassen. Oft gehen spätere Publikationen auf die (noch ziellose) Sammeltätigkeit längst verstorbener Heimatforscher zurück, auf handschriftliche Notizen oder rudimentäre Manuskripte, die eine oder mehrere Generationen zurückdatieren. Im Laufe der Zeit wiederentdeckt werden solche Ansätze zum Ausgangspunkt weiterer Forschungen und Ergänzungen. Ein erstes Buch entsteht daraus manchmal erst nach drei bis vier Generationen, ohne dass diese enorme Zeitspanne eine wesentliche Rolle für das Selbstverständnis der Publikation spielen würde. Auf diese Weise zusammengesetzte Chroniken repräsentieren die Vorstellung einer kontinuierlichen Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die sich gegenüber wechselvollen politischen Umwelten als beständig und vergleichsweise zeitlos darstellt. Es kommt des Weiteren vor, dass anlässlich gegenwärtiger Dorfjubiläen mehrere Jahrzehnte alte, vergriffene Chroniken nahezu unverändert neugedruckt werden, auch ohne aktuelle Ergänzungen. Auf eine breite Nachfrage im Ort hin sei zum Beispiel das »Dorfbuch der Gemeinde Walpershofen« im Saarland aus dem Jahr 1958 im Jahr 1999 neu herausgegeben worden. Der »Überarbeiter« aus den 1990er Jahren schreibt dazu: »Grundsätzlich wurde inhaltlich nichts verändert.«99 Einerseits – aus geschichtswissenschaftlicher Sicht – zeugen solche Chroniken von einem fehlenden Bewusstsein für die Zeitgebundenheit jeder Geschichtsschreibung, andererseits spricht aus diesen Beispielen – ihrem Selbstverständnis nach – die Vorstellung eines generationenübergreifenden Erstellungsprozesses, bei dem sich eine im Prinzip gleichbleibende Dorfgemeinschaft aus einzelnen Bausteinen ihre Geschichte zusammensetzt. 98 Gersdorf, S. 4. 99 Walpershofen, S. 4. Vgl. als Beispiel aus den 1950er Jahren: Flögeln.
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Eine weitere Praktik, die dies bezeugt, ist die ›Vererbung‹ der Chronikarbeit innerhalb einer ortsansässigen Familie. Im saarländischen Ensheim ist 1977 eine Ortschronik erschienen, die auf Vertreter »der 2. und 3. Generation« einer Chronisten-Familie zurückging, die »das Werk endlich zum Abschluß zu bringen« gedachten. Die Vorarbeiten waren älter gewesen: »Die Idee, dieses Heimatbuch zu schreiben, stammt eigentlich nicht von mir und meinem Sohn Alexander, der mir bei dieser Arbeit sehr geholfen hat. Wir möchten es als Vermächtnis von unserem Vater und Großvater, Rektor Adolf Wilhelm, betrachten, der bereits in den zwanziger Jahren mit diesem Werk begann.«100 Betrachten wir zudem ein Beispiel ›außerfamiliärer Vererbung‹ aus dem bayerischen Aufhausen aus dem Jahr 1997: Einer der beiden Autoren der Chronik führte deren Erscheinen auf die ältere ortsgeschichtliche Begeisterung des Vaters zurück, die dieser an die nachfolgende Generationen weitergegeben habe: »Mein Vater Jakob Besenreiter, 1880 bis 1966, hat schon in meinen jungen Jahren in mir das Interesse an der Heimat und ihrer Geschichte geweckt und immer wieder verstärkt. In seinen vielen Erzählungen, Schilderungen und auch Notizen wurde in mir und in uns Kindern daheim eine Spanne Dorfgeschichte aus seiner Zeit und aus seiner Sicht lebendig. […] So hat mein Vater durch seine Erzählungen und ganz besonders durch seine Erinnerungen an die früheren Zeiten in mir den Grund gelegt für mein späteres privates und berufliches Schaffen im Bereich der Heimatgeschichte. Deshalb seien mein inhaltlicher Anteil und meine Arbeit an diesem Buch meinem Vater als Erinnerung und als Dank gewidmet.« Sodann regelt der Chronist des Jahres 1997 allerdings seinen eigenen ›Nachlass‹: »Ein Wort des persönlichen Dankes an Mitherausgeber Karl Huf. Herr Huf hat das Vertrauen und die Erwartungen, die ich vor Jahren mit der treuhänderischen Überlassung meiner vielen ausgearbeiteten heimatgeschichtlichen Texte und einer umfangreichen heimatkundlichen Stoff- und Materialsammlung, gleichsam an Material und Rohbau eines geplanten Heimatbuches, auf ihn gesetzt hatte, voll bestätigt und bekräftigt.« Der genannte Mitautor Karl Huf hat ebenfalls ein eigenes Vorwort beigesteuert, in dem er sich als »Erben« dieser ortsgeschichtlichen Vorarbeiten bezeichnet.101 Im Allgemeinen stellt die Fortführung erster, unsystematischer ortsgeschichtlicher Sammlungen, Forschungen etc. durch spätere Generationen – geschieht sie nun inner- oder außerhalb derselben Familie – ein verbreitetes Muster in der Entstehungsgeschichte von Ortschroniken dar. Dabei verdichten sich anfänglich unkonkrete Sammlungen 100 Ensheim, S. 5. Weiter heißt es: »Ohne seine [Adolf Wilhelms] umfangreichen Recherchen, die erst Grundlagen zum Erzählten bildeten, ohne seine Sammlung historisch wichtiger Dokumente, wäre das meiste nur Stückwerk geblieben. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt, zu einem Abschluß zu gelangen.« Außerdem habe ein Schwager Ergänzungen vorgenommen. 101 Aufhausen, Vorwort ohne Paginierung.
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oft erst im Laufe weiterer Generationen zu einem Publikationsvorhaben.102 Hierbei können (un-)fertige Manuskripte oft lange Zeit liegen bleiben, bevor sie Jahrzehnte später wieder aufgegriffen werden, um entweder unverändert, leicht überarbeitet oder erweitert veröffentlicht zu werden. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang die (implizite) Konstruktion einer generationsübergreifenden Erinnerungsgemeinschaft – unabhängig vom politischen und gesellschaftlichen Wandel.
Die Quellen Ortschroniken basieren durchaus auf ›klassischen‹ historischen Quellen, das heißt vor allem Archivalien. Mit oder ohne professionelle Anleitung durchsuchen viele Laienchronisten die Bestände lokaler und regionaler Archive auf Hinweise zur Ortsgeschichte. Neben den Angaben in den Chroniken selbst legen hiervon die nicht wenigen Ratgeber und Leitfäden Zeugnis ab, die die Archivarbeit von Ortschronisten und anderen Laienhistorikern unterstützen wollen – und diese Tätigkeit dabei nicht selten als eine der zentralen Aufgaben lokaler Archive bezeichnen.103 Diese Arbeit nimmt oft viele Jahre in Anspruch und wird von nicht wenigen Chronisten mit großem Aufwand und Begeisterung betrieben. Auch verzichten Heimatbuchautoren in der Regel nicht auf die namentliche Nennung der verwendeten Archive und meist auch der konkreten Bestände. Die Belegdichte von Chroniken variiert hierbei zwischen den Abschnitten desselben Buches sowie zwischen einzelnen Veröffentlichungen stark. Einige Chroniken verzichten gänzlich auf die Einbindung von Archivmaterial, andere ziehen – aufgrund verschiedener Zugangsprobleme – nur Material jüngerer Epochen heran. Doch finden sich auch umgekehrte Fälle, in denen nur die mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Kapitel einer Chronik auf Archivalien basieren. Die Verwendung von Archivmaterial ist für die Abfassung einer ›erfolgreichen‹ Ortschronik nicht unwichtig, doch erfüllt sie keinesfalls dieselbe Funktion wie in wissenschaftlicher Literatur und folgt auch nicht den gleichen strengen Maßstäben.104 Diese Unterschiede sind nicht primär auf eine geringere Arbeitsintensität und Sorgfalt von Ortschronisten gegenüber Geschichtswissenschaftlern zurückzuführen. Vielmehr zeigt sich eine alternative Hierarchisierung von Quellengattungen. Tendenziell erfahren persönlich weitergegebene 102 Oft geraten verschiedene, unabhängig voneinander angelegte Privatarchive erst im Rahmen eines konkreten Publikationsvorhabens an die Dorföffentlichkeit, vgl. z. B. Kirchlinteln, S. 3; Maitzborn, S. 12. 103 Vgl. nur Landesarchivdirektion Baden-Württemberg (Hg.): Schatz; Bayerische Archivverwaltung (Hg.): Ratgeber. 104 Hierzu mehr im Kapitel »Ein Kaleidoskop der Ortsgeschichte«.
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Erzählungen und Berichte eine Bevorzugung in Ortschroniken. Die Reihenfolge ist umgekehrt: Archivalien stellen eine Ergänzung zur mündlichen Überlieferung dar, insbesondere im Blick auf jüngere Zeitabschnitte.105 In diesem Sinne sind die Vorbemerkungen der Geschichtswerkstatt Wangerland e.V. zu ihrer Chronik von Hohenkirchen in Niedersachsen zu lesen: »Es hat uns auch nicht das Erkenntnisinteresse eines Historikers geleitet, sondern wir haben versucht, in den einzelnen Beiträgen das aufzuschreiben, was noch in der Erinnerung einzelner Mitbürger vorhanden ist. Verbunden haben wir diese Erinnerungen mit Informationen, die einzelne Mitglieder der Geschichtswerkstatt in Archiven, Zeitungen oder Privathaushalten aufgestöbert haben.«106 Die Archive stellen in dieser Rangfolge bloß ein Reservoir möglicher Ergänzungen der zentralen »Erinnerungen der Mitbürger« dar. Während die akademische Geschichtsschreibung ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Aussagen von Zeitzeugen hegt, bevorzugen Chronikautoren gerade die Berichte von Einwohnern des Ortes als primäre Quellenbasis gegenüber ›offiziellen‹ Quellen. Es war ein zentrales Anliegen der kritischen Alltagsgeschichte, »oral history« als ernstzunehmende historische Methode zu etablieren. Der mündlichen Überlieferung als wichtige Quellengattung neben den herkömmlichen Forschungsmaterialien der akademischen Historiografie zu Anerkennung zu verhelfen, ist einer ihrer bleibenden Erfolge. Die Chronik-Historiografie geht jedoch deutlich darüber hinaus; sie weist einen vergleichsweise affirmativen Umgang mit der mündlichen Überlieferung auf und priorisiert sie tendenziell gegenüber allen anderen Quellengattungen. Die besondere Wertschätzung mündlicher Quellen und von (ehemaligen) Einwohnern selbst verfasster Texte, Dokumente, Berichte – also Quellen, die aus dem Ort selbst stammen – steht in Verbindung zu zwei zentralen Prinzipien des Genres. Dies ist zum einen die Figur einer Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft des Dorfes, die wir oben bereits angetroffen haben. Zum anderen ist hier an die Trennung von Dorf und Umwelt zu denken, die für die historiografische Weltsicht von Ortschroniken zentral ist und die ich in späteren Abschnitten dieses Buches genauer ausführen werde. Deshalb sei dieser Zusammenhang hier nur in aller Kürze skizziert: Karl Heinz Schneider, der zu Beginn der 1990er Jahre eine »Anleitung zur Erforschung der Dorfgeschichte« in Hessen für Laien veröffentlicht hat, schrieb darin über die mündlichen Erinnerungen des »einfachen Dorfbewohners«: »Er hat von den großen politischen Veränderungen nur wenig erfahren, nahm meist höchstens am Rand mit teil (etwa bei den Großkundgebungen des NS-Regimes), und war in seinen persönlichen Erfahrungen auf das
105 Vgl. Schneider: Anleitung, S. 59; Schäftlarn, S. 295. 106 Hohenkirchen, S. 1. Vgl. als weiteres Beispiel: Leck, S. 100.
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eigene Dorf und dessen nähere Umgebung beschränkt.«107 Diese Trennung eines engeren Kreises des »eigenen Dorfs« von einer weitgehend uneinsichtigen »politischen« Umwelt ist ein zentrales Motiv der Geschichtsschreibung von Ortschroniken im Allgemeinen. Folgt man Schneiders Beobachtung, dass diese Trennung ebenfalls für die mündlichen Erzählungen »einfacher Dorfbewohner« bestimmend sei, liegt auf der Hand, weshalb Ortschroniken diese als Quellen bevorzugen. Die Priorisierung von mündlichen Erinnerungen – generell von Quellen aus dem Ort – und die historiografische Trennung von Dorf und Umwelt befördern sich gegenseitig. Noch ein Wort zur Verwendung von (geschichtswissenschaftlicher) Sekundärliteratur bei der Erstellung von Ortschroniken und Heimatbüchern: Chronikautoren beziehen sich im Allgemeinen sehr selten auf Forschungsliteratur ; wenn dann punktuell und zum überwiegenden Teil auf thematisch eng begrenzte landesgeschichtliche Detailbeiträge. Bezüge zu übergreifenden geschichtswissenschaftlichen Debatten, Standardwerken oder Ähnlichem kommen praktisch nicht vor. (Wir werden später auf die Funktion zurückkommen, die gelegentliche, ausdrückliche Verweise auf eine eher unbestimmte »Forschung« in der Ortschronistik erfüllen.) Auch dies spricht eindeutig dafür, Heimatbücher als relativ eigenständiges Genre aufzufassen, das nur sehr bedingt im Austausch mit anderen Formen der Lokalgeschichtsschreibung steht. Am ehesten verweisen Ortschronisten noch auf einzelne Chroniken aus Nachbarorten.108
107 Schneider: Anleitung, S. 46. 108 Vgl. z. B.: Schwabhausen, S. 7; Biesingen, Vorwort ohne Paginierung; Riegelsberg, S. 6; Maitzborn, S. 10.
Ortschroniken als Genre II – Historiografische Perspektiven
Historische Kontinuität Vom Ursprung in die Gegenwart In der Chronik Flegessens im Weserbergland heißt es: »Mit dieser Chronik entstand für den Leser eine ununterbrochene Linie, die vor fast 700 Jahren beginnt und sich bis in die Gegenwart hinzieht.«1 Die Gegenwart, in der die Chronik veröffentlicht worden ist, das Jahr 1958, stellt nur einen gleichartigen Punkt neben unzähligen anderen auf der »ununterbrochen Linie« dar, die von der Ortsgründung ausgeht und in die Zukunft reicht. Die zeitliche Kontinuität hängt hierbei eng mit der vermeintlichen räumlichen Einheit und Geschlossenheit des Ortes zusammen. Der Harzburger Chronist sah 1972 eine Zeitspanne von gut 1.000 Jahren Ortsgeschichte vorüberziehen, in der sich viel verändert habe. Während dieser Jahre seien »Kaiser und Könige, Krieg und Frieden« aufgetaucht und wieder verschwunden. Entscheidend ist allerdings, dass sich aus der Perspektive des Ortes all das »innerhalb überblickbarer Grenzen« abgespielt habe.2 Diese »überblickbaren Grenzen«, so scheint es, haben die Perspektive der Dorfbewohner seit Anbeginn begrenzt. Die Zeitläufte zogen daran vorüber, ohne dass sich an dieser Beobachterposition selbst grundlegend etwas geändert hätte. Zwar stellten sich auch innerhalb der »überblickbaren Grenzen« Veränderungen ein; Veränderungen, die das Ortsbild teils deutlich umformten. Unterhalb der zahlreichen Geschichten und Vorfälle, unterhalb der überholten und vergessenen landwirtschaftlichen und handwerklichen Techniken, unterhalb der wechselhaften politischen und rechtlichen Zuordnungen – unterhalb all dessen verläuft jedoch eine »ununterbrochene Linie«: die kontinuierliche, zusammenhängende Geschichte des Ortes. Von dieser grundlegenden Kontinuität gehen alle Ortschronikautoren aus – 1 Flegessen, S. 285. 2 Harzburg, S. 180.
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Ortschroniken als Genre II – Historiografische Perspektiven
ohne dies zu reflektieren –, was sich in einer Reihe formaler und inhaltlicher Eigenarten des Genres niederschlägt. Zuvorderst ist hier an die historische Ganzheitlichkeit der allermeisten Chroniken zu denken. Die behandelte Geschichte erstreckt sich in aller Regel von den frühesten Siedlungsfunden bis zu den aktuellsten Ereignissen. Der Großteil aller Ortschroniken beginnt bereits mit der Entstehung der naturräumlichen Gegebenheiten der Landschaft, in der sich dann die ersten menschlichen Siedler niederließen. Nach der »Vor- und Frühgeschichte«, womit in der Regel die Zeitspanne von den ersten, archäologischen Zeugnissen bis zu ersten urkundlichen Erwähnungen bezeichnet wird, widmen sich Ortschroniken allen verfügbaren Hinweisen über den Ort – vom Mittelalter, über die Frühe Neuzeit bis in die Gegenwart. Alle Ereignisse dieses weiten Zeitraums summiert die Chronik unter dem einheitlichen Ortsnamen. Werfen wir einen genaueren Blick auf die übliche Betitelung von Heimatbüchern: In sehr vielen Fällen besteht der Haupttitel eines solchen Buches aus der Nennung des Ortsnamens in Kombination mit der Gesamtzahl an Jahren, die der Ort nachweislich bestanden hat. Beispiele sind »700 Jahre Dernbach – 1300– 2000« oder »775 Jahre Teterow – 1235–2010«.3 Vielerorts geht der Chroniktitel auf eine parallele Jubiläumsfeier des Orts zurück. Gerade die Assoziation der Bücher mit einem solchen Jubiläum bekräftigt die Einheit der Ortsgeschichte, indem sie eine zusammenhängende ›Biografie‹ des Jubilars suggerieren. Diese Ortsbiografie ist als mehr oder weniger gradlinige Fortschrittsgeschichte konzipiert. Von dieser Fortschrittslogik legen zahlreiche Untertitel ein beredtes Zeugnis ab, etwa »Von der Poststation zur Großgemeinde« oder »Vom Bauerndorf zur Industriegemeinde« oder auch der Untertitel der Lohnder Chronik: »Vom Ursprung in die Gegenwart«, der ganz allgemein auf die zugrundliegende Entwicklungslogik verweist.4 In aller Regel umfasst die Ortsgeschichte hierbei einige Modifikationen des Ortsnamens. Gelegentlich bilden Chroniken diese Namensverschiebungen in entsprechenden Titelzusätzen ab, meist ebenfalls mithilfe des Musters »von … zu«. So verfährt beispielsweise die Chronik des hessischen Ortes Epterode, deren vollständiger Titel lautet: »Chronik Epterode – Von Euerharderot zu Epterode – 825 Jahre Epterode«. Ein anderes Beispiel bietet das ebenfalls in Hessen gelegene Argenstein: »Argenstein an der Lahn – Argorstene oder Argozstene – Ortsteil der Gemeinde Weimar (Lahn) – 1332–2007 – Chronik«.5 In beiden Fällen integriert die Chronik alle nominellen Verschiebungen in das Konstrukt einer kontinuierlichen Ortsgeschichte von der Ersterwähnung bis ins 21. Jahrhundert. 3 Dernbach II; Teterow. 4 Schwabhausen; Sehnde; Lohnde. 5 Epterorde; Argenstein. Vgl. des Weiteren Bothfeld. Ganze vierzehn Namensveränderungen nennt die Festschrift zum 900jährigen Jubiläum des Mettlacher Ortsteils Orscholz, Orscholz, S. 3.
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Die Ortschronik reklamiert ihre Zuständigkeit für diese »ununterbrochene, ortsgeschichtliche Linie«; eine Zeitlinie, die relativ gleichförmig und relativ unabhängig von allen historischen Brüchen verläuft. Umbrüche, Einschnitte, Revolutionen etc. kennzeichnen aus dem Blickwinkel eines Ortschronisten die »allgemeine Geschichte«. Diese verläuft demnach auf einer anderen, wechselund sprunghaften Zeitlinie. Es geht Heimatbüchern gerade nicht darum, die Ortsgeschichte in übergreifende historische Entwicklungen einzubetten; sie in Beziehung zu den Umbrüchen der »großen Geschichte« zu setzen. Diese relative Loslösung einer fortlaufenden Ortsgeschichte aus der Geschichte ihrer Umwelt führt zu einer gewissen Nivellierung: Allen Vorfällen im Ort – also allem, was sich innerhalb dieser vermeintlich geografisch eng begrenzten Einheit ereignet hat – kommt im Grunde dieselbe Bedeutung zu. Nivellierung bedeutet im Gegenzug Aufwertung: die Aufwertung aller noch so kleinen und isolierten Vorfälle zu gleichermaßen bedeutsamen Bausteinen der Ortsgeschichte. Das hat Konsequenzen für die historiografischen Auswahlprinzipien des Genres. Grundsätzlich streben Chroniken nach Vollständigkeit, wofür die teils exzessive Verwendung von Listen und Tabellen den greifbarsten Ausdruck darstellt. Das prominenteste Beispiel bieten hier Personenlisten von Grundstücksbesitzern und Hausbewohnern in Häuserchroniken, doch auch in nahezu allen anderen thematischen Zusammenhängen sind Auflistungen sehr beliebt. Nicht wenige Kapitel zur Geschichte der Gemeindeverwaltung sind von Tabellen aller bekannten Gemeindevorsteher inklusive ihrer Lebensdaten durchsetzt; Kapitel zur Kirchengeschichte listen unter anderem alle Pfarrer auf und Kapitel zur Schulgeschichte alle Lehrer. Die Hinzufügung einer Liste erscheint selten begründungsbedürftig. Dies gilt auch dann, wenn sie in keinem direkten Bezug zu den umgebenden Texten und Abbildungen steht.6 Jede Nennung hat ihre Bedeutung. Vollständige Erfassung und namentliche Nennung ist per se von Wert (statt der Einbettung der Daten in übergreifende Interpretationslinien oder ihrer Belegkraft für die Beantwortung einer etwaigen Leitfrage). Gleichzeitig ist es in einem Heimatbuch jedoch genauso legitim, eine stark selektive Auswahl an Einzelheiten zu präsentieren. Fehlendes führt nämlich nicht dazu, dass die Dorfgeschichte insgesamt nicht mehr nachvollziehbar wäre. Der Pastor Christoph Schomerus behandelt in seinem Heimatbuch aus dem Jahr 1951 »700 Jahre Himmelpforten« auf nur 32 Seiten.7 Dass der umfassende Anspruch des Titels hierbei kaum mit einer gleichmäßigen Belegdichte und einem 6 Einige Chroniken enthalten Auflistungen auch als eigenständige (Unter-)Abschnitte, die keinen weiteren Anteil ausformulierten Textes aufweisen, vgl. die aufeinanderfolgenden Abschnitte »Die Lehrkräfte an der Volksschule Schlicht 1583 – Juli 1969«, »Geistliche aus Schlicht«, »Die Pfarrer der Pfarrei Schlicht« und »die Bürgermeister von Schlicht« am Ende der Chronik von Schlicht in der Oberpfalz, Schlicht, ohne Paginierung. 7 Himmelpforten.
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ausgewogenen, inhaltlichen Spektrum umgesetzt werden konnte, steht in der Publikation gar nicht zur Debatte. Im Prinzip ist es in einer Ortschronik nicht notwendig, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem streng zu unterscheiden, und in der ersteren Kategorie alles und in der letzteren nur das Nötigste zu bringen (so wie es wissenschaftliche Studien verlangen würden). Die teils starke Selektivität vieler Chroniken ist verschiedenen Faktoren geschuldet, wie zum Beispiel der Arbeitskapazität der Autoren oder dem vorgegebenen Buchumfang. Auch ist an die Quantität und die Zugänglichkeit der Quellen zu denken, die sich für die meisten Orte erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zu häufen beginnen. Nahezu alle Ortschroniken weisen große zeitliche Lücken auf oder geben verstreute, zusammenhanglose (Archiv-)Funde wieder. Doch führt diese historische Verinselung mitnichten zu einem Bedeutungsverlust. Die einzelnen Fragmente fügen sich gleichermaßen in die im Hintergrund stehende historische Kontinuität der Ortsgeschichte ein. Ebenso frei agieren Ortschroniken gegenüber der chronologischen Anordnung ihrer Inhalte. Wenngleich die meisten Heimatbücher mit frühen archäologischen Funden oder der ersten urkundlichen Erwähnung beginnen, weisen die übrigen Kapitel ein erhebliches zeitliches »Hin und Her« auf. Die Anordnung der Chronikkapitel folgt keiner stringenten Fragestellung; sie sind insgesamt jedoch durch die Imagination einer fortlaufenden, linearen, raumgebundenen Ortsgeschichte verbunden. In dieses Bild passt zudem, dass oftmals andernorts nicht einzuordnende Funde, Anekdoten etc. in Kapiteln wie »Verschiedenes« oder »Historisches« gesammelt und der Chronik hinzugefügt werden.8 In zeitlicher Hinsicht sind derartige Abschnitte meist bunt zusammengewürfelt. Ein Kapitel wie »400 Jahre Sonstiges« aus der Chronik von Kotzenbüll in SchleswigHolstein liefert hierfür ein anschauliches Beispiel.9 Dass die Ortsgeschichte umgeben war von einschneidenden historischen Wandlungsprozessen, steht der Wahrnehmung ihrer prinzipiellen Einheit nicht entgegen. Beispielsweise führen Landesherren oder die Nation Kriege, die Absatzbedingungen wirtschaftlicher Produkte ändern sich, der technologische Fortschritt führt zur Marginalisierung älterer handwerklicher Arbeiten, manchmal ziehen neue Bevölkerungsgruppen zu. Es handelt sich gemäß der Chronikperspektive um Veränderungen der ›Umweltbedingungen‹, die anderen Quellen – außerhalb der Ortsgeschichte im engeren Sinne – zuzuordnen sind. Die Auswirkungen auf die Ortsgeschichte fallen unterschiedlich langfristig und unterschiedlich heftig aus; sie können im Kriegsfall bis zur temporären physischen Auslöschung des Ortes führen. Eine solche zeitweise Zerstörung des Dorfes oder die zeitweise Vertreibung seiner Einwohner ereignete sich vielerorts 8 Vgl. Breitenborn, S. 95–99; Epterode, S. 401–442; Venhaus, S. 266–268. 9 Kotzenbüll, S. 152–155.
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zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. Da die zeitliche und die räumliche Einheit der Ortsgeschichte wechselseitig voneinander abhängig sind, stellt die Auflösung des räumlichen Zusammenhangs eines Ortes eine spürbare Irritation der Konstruktion einer ungebrochenen, zeitlichen Kontinuität dar. Die Chronik des saarländischen Ortes Werbeln schreibt über die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges, durch den das Gebiet zeitweise in eine Art Urzustand zurückgeworfen wurde: Die Dorfgemeinschaft habe sich aufgelöst, alle Anzeichen von Sesshaftigkeit seien verschwunden, jüngere Dorfbewohner hätten sich Plünderern angeschlossen, andere seien »in die Wälder« geflüchtet. Nicht nur hätten Wölfe den Ort übernommen, auch animalisiert die Chronikdarstellung die vereinzelt Zurückbleibenden, indem sie schreibt, dass diese dem Kannibalismus verfallen seien.10 Die hier geschilderte parallele Auflösung der Dorfgemeinschaft und der Besiedlung des Ortes deutet auf einen deutlichen Bruch in der zeitlichen Kontinuität der Ortsgeschichte hin. Parallel zum Erscheinen der Ortschronik im Jahr 1964 erschien zusätzlich eine Festschrift zum Dorfjubiläum, in der ein Grußwort des damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes Franz-Josef Röder abgedruckt ist. Darin bettete Röder auch diesen Bruch in die 750jährige Dorfgeschichte ein; er schrieb: »Im Spiegel der Geschichte erkennt die Gemeinde ihren Weg von den Anfängen bis zur Gegenwart. Oft war dieser Weg für unseren Festort mühsam, und einmal schien er sogar aufzuhören. Am Ende des 30jährigen Krieges war Werbeln nicht mehr als ein Name. Doch das zähe Festhalten der Menschen an einem einmal bebauten Stück Erde hat die Wiederbesiedlung ermöglicht.«11 Röder verwies in diesem Zusammenhang mithin auf die Evakuierung des Ortes während des Zweiten Weltkriegs, die Werbeln ebenfalls überstanden habe. Die temporäre Entfernung von der örtlich eingegrenzten Heimat, wie sie viele Dorfbevölkerungen im Saarland durch zweifache Evakuierungen zu Beginn und Ende des Zweiten Weltkrieges erlitten, ist von entscheidender Bedeutung für Ortschroniken. Nicht zufällig orientiert sich die Periodisierung der 1930er und 1940er Jahre in vielen saarländischen Ortschroniken primär an dieser Räumung und der Rückkehr in den Ort. Ein Beispiel hierfür bietet die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der Chronik des Ortes Nennig, in der Kampfhandlungen am »Orscholzriegel« im Zentrum stehen, in deren Folge das (evakuierte) Dorf weitgehend zerstört wurde. Die Chronologie der gesamten Passage orientiert sich an der Abfolge von Zerstörung und Wiederaufbau. Dieser Wiederaufbau steht dabei zugleich in der Tradition einer Reihe älterer historischer Episoden seit dem Mittelalter : »Raub und Plünderung mußte der Ort im Mittelalter über sich ergehen lassen. Kurzum, das Gebiet der oberen Mosel hat in der Geschichte 10 Werbeln I, S. 31–32. 11 Werbeln II, S. 5.
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schon viele Schläge einstecken müssen. Die Zeit schritt vernichtend über uns.« Im Anschluss an all diese »Schicksalsschläge« sei es den Dorfbewohnern jedoch stets gelungen, »neue Kraft für den Wiederaufbau zu sammeln« und die räumliche Integrität des Ortes wiederherzustellen.12
Historische Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung Die Vorstellung einer im Grunde unveränderten Kontinuität bzw. eines gleichartigen Fortschreitens der Ortsgeschichte unabhängig von »großpolitischen« Einschnitten ermöglichte es Ortschroniken nach dem Zweiten Weltkrieg, die jüngste Vergangenheit in ihrer Bedeutung zu relativieren und die Geschichte des Ortes in deutlich längere Entwicklungszeiträume einzuordnen. In der Festschrift zum 100jährigen Jubiläum der Stadtrechte Merzigs im Jahr 1957 heißt es in einem Grußwort, dass man bei der Betrachtung des letzten Jahrhunderts Ortsgeschichte keinerlei »weltbewegende und welterschütternde Ereignisse ermitteln« könne, »die von Merzig ihren Ausgang genommen haben«. Stattdessen würden bei der Lektüre der Chronik hauptsächlich Konstanten der Dorfgeschichte ins Auge fallen, die hundert Jahre und länger überdauerten. In dem Zeitraum von den 1850er bis zu den 1950er Jahren, in den unter anderem das »Dritte Reich« fällt, sei Merzig durch »Tüchtigkeit und Gewerbefleiß«, durch »zähe und solide Arbeit« sowie den Gemeinschaftsinn der Einwohner aufgefallen. Das gemeinschaftliche, alltägliche Wirtschaften stelle die zentrale historische Konstante des Dorflebens dar, gegenüber der alle politischen Verwerfungen der Geschichte, insbesondere die der jüngeren Zeit, als temporäre Überlagerungen erscheinen. Die Erwartung ist, dass dieselben grundlegenden Tugenden gleichsam Merzigs Zukunft bestimmen werden: »Alsdann wird unser liebes, altes Merzig in der Zukunft gute und schwere Zeiten immer wieder ohne Schaden überstehen.«13 Freilich verweist dieses Beispiel auf Verdrängung, vielleicht sogar Apologetik, der nationalsozialistischen Geschichte und damit auf typische Wege der »Vergangenheitsbewältigung« der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Figur der historischen Kontinuität der Ortsgeschichte angesichts äußerlich bedingter, ephemerer »schwerer Zeiten« darf jedoch nicht darauf reduziert werden; sie prägt Ortschroniken bis heute auf einer vorintentionalen Ebene und formatiert die Wahrnehmung ihrer Autoren und Leser unabhängig von beschönigenden Absichten.14 12 Nennig, S. 98–100. 13 Merzig, S. 5. 14 Symptomatisch ist die Zusammenfassung aller größeren kriegerischen Ereignisse, unter denen der jeweilige Ort zu leiden hatte, in Kapiteln wie »Kriegszeiten« oder »Notzeiten«.
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Dies zeigt sich deutlich in Chroniken, die der nationalsozialistischen Geschichte vergleichsweise viel Platz einräumen. Die Chronik des mecklenburgischen Alt-Rehse aus den 1990er Jahren macht kein Geheimnis aus der nationalsozialistischen »Reichsärzteführerschule«, die sich während der Zeit des »Dritten Reichs« im Ort befand. Der Autor der Chronik hat sie in seinem Vorwort als »Kainsmal« der Dorfgeschichte bezeichnet und ihr viele Buchseiten gewidmet. Dennoch weicht die Alt-Rehser Chronik nicht von dem üblichen Muster ab, die nationalsozialistische Geschichte als vorübergehende Episode aus der jahrhundertelangen, stabilen Ortstradition herauszuschreiben. Das Grußwort des Landrats des Kreises besagt: »Die dunkle Zeit des Nationalsozialismus mit dem Bau einer SS-Schulungsburg in Alt-Rehse rückt diesen Ort wiederum ins Zentrum geistiger Auseinandersetzung. Der Autor spricht zutreffend von einem ›Kainsmal‹, aber wer die Geschichte weiter verfolgt, weiß, daß es weitergegangen ist und ›große, eherne Gesetze‹ unverändert unser Dasein bestimmen.« Der Episode der NS-Einrichtung stehen die »ehernen Gesetze« der Dorfgeschichte gegenüber. Diese Rahmung relativiert die vermeintliche Besonderheit der Alt-Rehser Geschichte zur NS-Zeit nach dem chroniktypischen Muster : Eine grundlegende historische Kontinuität steht einer zeitweisen Überlagerung durch »dunklen Zeiten« gegenüber. Im neuen Vorwort zur zweiten Auflage des Buches ergänzte derselbe Landrat seine Vorbemerkungen; die »ehernen Gesetze« der Dorfgeschichte erfuhren dabei gewissermaßen eine Naturalisierung, indem er diese Geschichte als ein kontinuierliches Wachstum von den »Wurzeln« (der frühen Besiedelung) zu einem »gradlinigen Stamm« beschrieb.15 Demgegenüber handele es sich bei den politischen Wirren, die das Dorf von Zeit zu Zeit heimsuchten, bloß um marginale Episoden. Derartige Kapitel, die von mittelalterlichen Fehden über den Dreißigjährigen Krieg und die Napoleonischen Kriege bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg gleichermaßen berichten, erfreuen sich seit den 1950er Jahren bis zur Gegenwart ungebrochener Beliebtheit. Der Zweite Weltkrieg steht hierbei in derselben Reihe wie alle anderen (global)politisch verursachten Notzeiten. Dies schlägt sich in besonders greifbarer Weise in der Parallele nieder, die die Chronik des bayerischen Oberföhring zieht. Wie schon im Dreißigjährigen Krieg zogen Besatzungstruppen am Ende des Zweiten Weltkriegs auf »dem gleichen Weg« in den Ort ein: »Der 27. 4. 1945 brachte das Ende der verheerenden Bombardierungen Münchens, als die ›Freiheitsaktion Bayern‹ mit den heranrückenden US-Truppen verhandelten und über den Ismaninger Rundfunksender ihren Aufruf zur Waffenruhe erließ. Übrigens nahmen die amerikanischen Panzer und Sattelschlepper den gleichen Weg wie einst die Schweden König Gustav Adolfs im Dreißigjährigen Krieg 1632: Sie fuhren auf dem rechten Isarufer von Freising über Ismaning nach München« (Oberföhring, S. 36; Hervorhebung von mir). Vgl. auch das Kapitel »Kriegszeiten in Pestenacker«; auf die Darstellung der Napoleonischen Kriege folgt dort die Aussage: »Erst 1945 wieder betraten fremde Truppen die Gemarkung und all die Lieferungen an die Alliierten und Verschleppten, die Vernichtungen und Beschlagnahmungen reihen sich ebenbürtig an die Kriegsleiden der vergangenen Jahrhunderte« (Pestenacker, S. 71). 15 Alt-Rehse, S. 7–9.
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Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus den neuen Bundesländern. Das Vorwort der Chronik von Kleinopitz in Sachsen beschreibt die 650jährige Ortsgeschichte als gleichbleibendes »Klima«. Dieses habe sich jenseits »von vielen positiven, aber leider auch betrüblichen Ereignissen« – dabei sei insbesondere an die »sinnlosen Kriege der Vergangenheit« zu denken – während der gesamten Geschichte des Dorfes erhalten. In der Perspektive der Chronik ist dieses kontinuierliche »Klima« hauptsächlich gekennzeichnet durch »Fleiß« und »Hilfsbereitschaft«. Der Bürgermeister von Kleinopitz konstruierte diese geschichtliche Kontinuität im Jahr 1999 nicht allein nach der nationalsozialistischen Diktatur, sondern auch im Anschluss an die DDR-Vergangenheit des Ortes. Aus seiner Sicht konnte allerdings keines der beiden gesellschaftlichen Systeme das Wesen des »kleinen verträumten Ortes« ändern.16 Im Allgemeinen zeigt sich in den Heimatbüchern, die nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland erschienen sind, die Tendenz, die Zeit der DDR in das Muster der historischen Kontinuität zu integrieren. Gegenüber dem gemeinschaftlichen, auf Existenzielles konzentrierten Dorfleben stelle die DDR nur eine weitere Episode wechselnder äußerer Umstände dar. Ein weiteres Beispiel aus dem sächsischen Schönau möge an dieser Stelle genügen. In seinem Vorwort der 2013 erschienenen Chronik kommt der Bürgermeister darauf zu sprechen, dass auch die DDR-Zeit bereits »ein ganzes Stück Geschichte« geworden sei. Diese Zeit sei ein weiterer Beweis dafür, dass es im Kern »die vielen fleißigen Menschen« gewesen seien, die das Wesen des Ortes »zu jeder Zeit« bestimmt hätten. Das Leben im Ort sei vor allem durch »gegenseitige Achtung und Freude bei der Arbeit und in der Freizeit« geprägt gewesen. Auch in der Zukunft sei daran unverändert festzuhalten.17 War die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einer breiteren Perspektive auch von katastrophalen Kriegen und dem raschen Wechsel politischer Systeme sowie zweier Diktaturen geprägt, so habe sie sich Ortschroniken zufolge im lokalen Rahmen als kontinuierlich dargestellt. Wie gesagt kann dieses Muster als Strategie der Bewältigung unangenehmer Vergangenheiten gedeutet werden; es steht jedoch zugleich in Einklang mit der typischen historiografischen Perspektive des Ortschronik-Genres (und formt diese zugleich mit).
Historische Kontinuität und Strukturwandel Der allgemeine Tenor vieler Ortschroniken ist, dass das dörfliche Alltagsleben im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu früheren 16 Kleinopitz, Vorwort ohne Paginierung. 17 Schönau II, S. 5.
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Zeiten einfacher geworden sei. Dies gilt vor allem in einem technischen Sinn. Im Blick auf den Arbeitsalltag vorangehender Generationen betonen Heimatbücher in aller Regel die »schwere Arbeit« sowie die Bescheidenheit der Lebensumstände (Ernährung, Kleidung, Freizeit, Bequemlichkeit usw. betreffend). Die technologischen Errungenschaften der neueren Zeit hingegen hätten den Alltag erheblich erleichtert. Hierbei handelt es sich um eine eindimensionale Fortschrittsgeschichte, die die tieferliegende Annahme einer grundsätzlichen historischen Einheit und Kontinuität der Ortsgeschichte unberührt lässt. Dies gilt auch angesichts sich häufender Beobachtungen von Ortschronisten, dass sich die Veränderungen im Ortsbild gegenüber früheren Jahrhunderten beschleunigen würden. Darüber hinaus trifft man in Ortschroniken immer wieder auf Diagnosen einer gegenwärtigen Phase »des Hastens und der Ruhe- und Rastlosigkeit«18 oder von »Streß und Hektik«.19 Vergleichbare Befunde finden sich seit den 1950er Jahre bis in die Gegenwart in Heimatbüchern. Sie bleiben jedoch meist recht diffus und erfahren kaum eine Konkretisierung. Zudem rütteln auch sie nicht an der grundlegenden Kontinuität der Ortsgeschichte. Etwas handgreiflicher ist für viele Chronikautoren hingegen der Strukturwandel ländlicher Gemeinden von landwirtschaftlich geprägten Orten zu Wohn- und Pendlergemeinden. Viele Chroniken, vor allem der letzten Jahrzehnte, setzen sich mehr oder weniger ausdrücklich mit diesem Thema auseinander und integrieren diese Entwicklung als neue Phase in die generelle Fortschrittsgeschichte des Ortes. Auf diese Weise wird auch der Strukturwandel von der kontinuierlichen Vorstellung der Ortsgeschichte absorbiert. Gingen einige, meist ältere Chroniken noch davon aus, dass die Auflösung der landwirtschaftlich geprägten Siedlungsstrukturen die jeweiligen Orte in ihrer Identität bedrohe, so sehen neuere Chroniken diese Phase immer öfter als einen (mittlerweile) gemeisterten Übergang. Die »neue Heimatbewegung« der 1970er Jahre zeigte sich anfangs ebenfalls äußerst skeptisch gegenüber der Entstehung »bloßer Wohngemeinden« und kritisierte diese als tendenziell bedrohliche »Vermassungs- und Verstädterungserscheinung«. Demgegenüber sehen die Autoren neuerer Heimatbücher in ihren Orten statt »bloßen Wohngemeinden« eher »wohnliche Gemeinden«. Sie beschreiben dabei gewissermaßen nur eine weitere Modifikation der Dorfgemeinschaft gegenüber veränderten Außenbedingungen. Die saarländische Gemeinde Niederbexbach, heute Teil von Bexbach, hat sich, so der Autor ihrer Jubiläumsschrift im Jahr 2010, seit der Neuzeit in drei Phasen entwickelt: »Von der rein agrarisch geprägten Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts über die ›Arbeiter- und Bergmannsbauern-Gesellschaft‹ im 19. Jahrhundert und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Niederbexbach heute in 18 Goldenstedt I, S. 5. 19 Weiskirchen, S. 5.
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erster Linie Wohngemeinde in einer reizvollen, nach wie vor von der Landwirtschaft bestimmten, von Feldern und Wiesen umrahmten Landschaft geworden.« Dieses Modell enthält zusätzlich eine für saarländische Gemeinden nicht unübliche Phase der Bergarbeitersiedlung. Dem Ort stehen, so die Chronik weiter, trotz der vorerst gelungenen Anpassung weitere Herausforderungen ins Haus: »Der demografische Wandel macht auch vor Niederbexbach nicht halt, dies zeigen deutlich die Schließung der Poststelle, die Schließung der Grundschule und der Verkauf des Jugendheimes St. Michael.« Die Antwort hierauf bleibt jedoch die alte: die Erhaltung und Stärkung der fortlaufenden Dorfgemeinschaft. »Wenn man aber sieht, zu was die dörfliche Gemeinschaft bei diesem Fest [700-Jahr-Feier] in der Lage ist, so ist mir vor der zukünftigen Entwicklung nicht bange.«20 Belassen wir es hier bei diesem Beispiel, da wir uns dem Thema des ländlichen Strukturwandels eingehender im Rahmen der Dorfgemeinschafts-Orientierung von Chroniken annehmen werden. Für viele Gemeinden der neuen Bundesländer erwies sich zudem die Wiedervereinigung als Einschnitt, hatten einige Gemeinden doch in wirtschaftlicher, infrastruktureller und kultureller Hinsicht unter dem Wegzug vieler Einwohner ins westliche Deutschland zu tragen (und laborieren teilweise bis heute an den Folgen). Die Chronik von Alt-Rehse in Mecklenburg zum Beispiel hebt diesen jüngsten »Aderlaß« des Ortes deutlich hervor. Zugleich ordnet sie diese Entwicklung in ganz typischer Weise als eine Abwanderungswelle von vielen in eine lange Reihe von Migrationsbewegungen seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im frühen 19. Jahrhundert ein. Wie zuletzt die verstärkte Abwanderung vor der Schließung der deutsch-deutschen Grenze zu Beginn der 1960er Jahre werde Alt-Rehse diese Herausforderung in bewährter Weise überstehen: durch die Förderung der »dörflichen Gemeinschaft« und »im zunehmenden Bewußtsein der Verpflichtung für dieses Dorf«. Trotz aller Auflösungserscheinungen, verursacht durch die politischen Systemwechsel, erweise sich das Festhalten am Ideal der Dorfgemeinschaft als Garant der (auch zukünftigen) Kontinuität des Dorflebens. Besonders augenfällig ist, dass diese Ausführungen gerahmt werden von Farbfotografien, die vergleichsweise beständige naturräumliche und architektonische Motive zeigen: Landschaftsansichten der unmittelbaren Umgebung des Dorfes, Häuser im Fachwerkstil sowie eine baumbestandenn Kopfsteinpflasterstraße.21 Der Beschreibung gegenwärtiger Veränderungen hält die visuelle Gestaltung der Passage vermeintlich jahrhundertealte Konstanten entgegen.22 20 Niederbexbach, S. 9. 21 Eine weitere Fotografie einer Kindergartengruppe suggeriert dabei die generationelle Kontinuität des Dorfes. 22 Alt-Rehse, S. 18–21.
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An dieser Stelle ließe sich wiederum spekulieren, ob Form und Inhalt der Chroniken nicht einfach auf die Umsetzung dahinter stehender Interessen zu reduzieren sind, allen voran Repräsentationsabsichten der Gemeindeverwaltung, die eine harmonische Außendarstellung angesichts sich auflösender ländlicher Lebenswelten aufrechterhalten möchte. Zweifellos erweist sich die Konzeption der Ortsgeschichte als kontinuierliche Erfolgsgeschichte als anschlussfähig an repräsentative (»politische«) Interessen. Diese Verflechtung in den Vordergrund zu rücken, verstellt jedoch den Blick auf die eigentümliche, historiografische Konstruktionsarbeit von Ortschroniken. Sie konstruieren eine räumliche und zeitliche Einheitlichkeit der Ortsgeschichte, die unterhalb aller oberflächlichen Veränderungen des Dorflebens vom Ursprung in die Zukunft verläuft. Relativ losgelöst von den umweltbedingten Umbrüchen setzt sich hier die Geschichte einer überzeitlichen Dorfgemeinschaft fort – einer immer besseren Zukunft entgegen. Weder die kriegerischen Auseinandersetzungen vergangener Jahrhunderte, weder die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, weder die politischen Systemwechsel noch der vergleichsweise allmähliche Strukturwandel erschüttern diese Kontinuität.
Ein Kaleidoskop der Ortsgeschichte Eklektizismus Zu Beginn der 1960er Jahre brachte der Archivar Josef Heider-Neuburg in den »Schwäbischen Blättern für Heimatgeschichte« eine Anleitungsschrift zum Aufbau einer Ortsgeschichte ländlicher Gemeinden heraus. Der Text diente nicht allein als Hilfestellung für Heimathistoriker, der Autor rezensierte zugleich negative und positive Beispiele laienhafter Lokalgeschichte aus der Region. In typischer Weise ging Heider-Neuberg verschiedene derzeit neu erschienene Ortschroniken überblicksartig durch und besprach ihre Gliederung. Aus der Sicht des Staatsarchivdirektors erwies sich vor allem ein Kritikpunkt als dominant, und zwar der Eklektizismus der durchgesehenen Texte im Hinblick auf Auswahl und Anordnung ihres Inhalts. Über eine Chronik der Orte Vorderburg und Rettenstedt aus dem Jahr 1948 heißt es, dass die einzelnen Hauptabschnitte »stark untergliedert« seien. Der Abschnitt zur Wirtschaft alleine enthalte 23 Unterkapitel, wobei die Zuordnung der meisten Kapitel zu diesem Themenbereich »mißglückt« sei, also eher irreführend ausfalle und zu einem ganz anderen Themenbereich hätte erfolgen müssen: »Hexenwesen gehört unter einen eigenen Betreff, Justizpflege, Gerichtswesen dergleichen; Kapitel 18 zu einem Abschnitt Brauchtum und Sagen; 16 und 17 zu einem Kapitel ›Einwohner‹, welches unter ›Dorf und Gemeinde‹ hätte eingereiht werden müssen [usw.]«. In einer
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anderen Chronik, einem Buch über Marktschorgast, sei das enthaltene Material gar nicht in Themenbereiche untergliedert. Wenngleich »wohl alle geschichtlich und rechtsgeschichtlich bedeutsamen Fakten der Marktgeschichte« geliefert würden, mache die »rein chronologische Aneinanderreihung der Fakten […] die Lektüre beschwerlich und unübersichtlich«. Der Leser würde »immer wieder zu Gedankensprüngen gezwungen«, da »sachlich Zusammenhängendes an verschiedenen Stellen mühsam zu suchen« sei. An einer anderen Chronik zum Ort Hausen aus dem Jahr 1956 kritisierte Heider-Neuburg die unangemessene Epocheneinteilung bei der Ordnung des historischen Stoffes. Die Kritik lässt sich an der Wiedergabe der Inhaltsübersicht der Hausener Chronik unmittelbar nachvollziehen; es zeigt sich ein Sammelsurium verschiedener Themen ohne stringente zeitliche Sortierung. Diesen Eindruck unterstreichen Kapitel wie »Verschiedenes« oder »Einige statistische Angaben«.23 Die Kritikpunkte Heider-Neubergs können auch heute noch Geltung beanspruchen. Die meisten Laien-Heimatbücher tendieren weiterhin dazu, im Ganzen oder über weite Strecken eine stringente Systematisierung ihres Inhalts vermissen zu lassen. Willkürliche sachliche Einteilungen sind ebenso verbreitet wie verwirrende zeitliche Periodisierungen. Ein anschauliches Beispiel aus den letzten Jahren bietet das ausufernde Inhaltsverzeichnis der voluminösen, zweibändigen Chronik des Hannoveraner Stadtteils Bothfeld. Das Verzeichnis gibt alle Kapitel und Unterkapitel beider Bände auf nicht weniger als fünfzehn Buchseiten an. Eine übergreifende, chronologisch oder thematisch nachvollziehbare Gliederung ist in dieser Masse an Kapiteln nicht erkennbar. Bezeichnenderweise fehlt selbst in dieser Überfülle an Kapiteln ein typischer Abschnitt zu Sonstigem nicht, hier betitelt mit »Vermischtes aus Bothfeld«.24 In der Chronik der thüringischen Gemeinde Krölpa nimmt ein ähnlicher, mit »Verstreute Notizen und Aufzeichnungen« betitelter Abschnitt nahezu ein Drittel des Gesamtumfangs des Buches ein. Darin sind so unterschiedliche Quellen-Einzelfunde aus der Frühen Neuzeit wie ein »Auszug aus dem Gemeinderechnungsbuch von 1785« und ein »Hypothekenbrief der drei Geschwister von Gleichen Rußwurm zum Rittergut Krölpa von 1842« neben persönlichen Erinnerungsberichten über die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs zu finden. Daneben stehen Einblicke in die Geschichte einzelner örtlicher Vereine oder auch Betriebe wie dem Ton- und Gipswerk in Krölpa und vieles andere mehr.25 Heider-Neuburgs Kritikpunkte ließen sich zudem durch einen weiteren, bis heute gültigen Befund ergänzen: Viele Chroniken weisen einen gleichermaßen aus23 Heider-Neuburg: Ortsgeschichte, S. 46–47. 24 Bothfeld. Vgl. als weiteres Beispiel die Ortschronik von Brehme in Thüringen aus dem Jahr 2012, die auf insgesamt sechs Seiten Inhaltsverzeichnis eine Vielzahl von Kapiteln zusammenfasst, die nur selten länger als eine Buchseite ausfallen. 25 Krölpa, S. 155–218.
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geprägten Eklektizismus bei der Wiedergabe ihrer Quellen auf. Es ist nicht unüblich, Einzelfunde oder auch serielle Quellen ungekürzt und unkommentiert im Wortlaut wiederzugeben. Hierbei stehen oft sehr disparate Quellen (und Quellensorten) nebeneinander, ohne dass die Ortschronik eine inhaltliche Verbindung zwischen ihnen herstellen würde. Aus akademischer Sicht ließe sich das Fehlen kohärenter Auswahlprinzipen konstatieren, insbesondere die Abwesenheit einer leitenden Fragestellung. Viele der im Folgenden besprochen Chronikpassagen liefern dafür anschauliche Beispiele. Deren Analyse darf jedoch nicht bei dieser Kritik stehen bleiben. Führt man die Analyse nur bis zu diesem Punkt, der Kritik eines Eklektizismus in mehrfacher Hinsicht, bleibt der Erkenntnisgewinn für die tatsächliche Funktionsweise des Genres Heimatbuch auf der Strecke. Die Beobachtung hätte sich nicht von den für geschichtswissenschaftliche Texte selbst gültigen Kriterien gelöst; sie hätte diese bloß auf Heimatbücher übertragen und wäre zu einem negativen Ergebnis gekommen. Die passende Erklärung würde nahe liegen: Den Autoren fehlt die historische Kompetenz zur angemessenen Einordnung der präsentierten Quellen und ihnen mangelt es an schriftstellerischer Kompetenz zur konzisen Zusammenfassung ihres Materials. Die entscheidende Frage ist jedoch vielmehr diejenige nach eigenen, von den akademischen Kriterien abweichenden Prinzipien des Genres. Es ist dabei vor allem auch nach den nicht-intendierten, historiografischen Effekten von Ortschroniken zu fragen. So nähert man sich letztlich auch einer Antwort auf die Frage, weshalb Ortschroniken erfolgreich sind, obwohl sie auf den ersten Blick ›handwerklich unzureichend‹ sind.
Gemeinschaftsprojekt Inventur Chroniken streben prinzipiell nach Vollständigkeit. Das gilt einerseits in Hinsicht auf vergangene Ereignisse und Persönlichkeiten, es gilt andererseits in Hinsicht auf die gegenwärtigen Mitbürger und Aktivitäten im Ort. Anstatt eine spezifische, historische Fragestellung zu verfolgen, geht es vielmehr darum, niemanden zu vergessen. Ortschroniken hängen dem Ideal einer vollständigen Inventur des Ortes an. Dies zeigt sich in erster Linie an den umfassenden Hof-, Häuser-, Grundstücks- und/oder Einwohnerlisten, die im Zentrum vieler Chroniken stehen. Darüber hinaus bieten einige Heimatbücher Listen aller örtlichen Gewerbebetriebe und Unternehmen. Betrachten wir beispielsweise den Abschnitt »Gewerbebetriebe ›Im Wäldchen‹ Merzig-Harlingen« in der Chronik des saarländischen Dorfes Harlingen. Der Autor hat hierfür eine Liste mit den Namen aller örtlichen Unternehmen inklusive Angaben zur jeweiligen Branche erstellt. Die Übersicht wird zudem mit drei Farbfotografien ausge-
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wählter Betriebe illustriert.26 In der Chronik des Ortes Hausbay im Hunsrück treffen wir auf eine vergleichbare Präsentation von »Handwerkern und Gewerbetreibenden«: Gewerben wie »Patrick’s Bikershop« oder dem »Fachwerklädchen von Angelika Krautkremer« sind jeweils ein bis zwei Buchseiten gewidmet, die mit mehreren Farbfotografien reich bebildert sind und kurze Texte der Inhaber enthalten. In diesen Beschreibungen erfährt der Leser nicht nur etwas über Struktur, Tätigkeit und Kundenkreis der Unternehmen, sondern erhält auch einen knappen Einblick in deren Geschichte.27 Das Kapitel weist keinerlei inhaltliche Selektionskriterien auf; das einzig erkennbare Auswahlkriterien ist, dass die entsprechenden Betriebe in einem bestimmten Raum, den Grenzen der Gemeinde, liegen. Innerhalb dieses Rahmens gilt das Prinzip der Vollständigkeit. Der Umsetzung dieses Prinzips sind einzig praktische Grenzen gesetzt. Handelt es sich nun um Gewerbe, Höfe, Einwohner oder anderes, nicht immer erreichen Chroniken das Ziel, alles zu erfassen. Dies gibt in den allermeisten Fällen Anlass zu einem entschuldigenden Kommentar. Der Chronist des sächsischen Rabenau schreibt beispielhaft: »Nur einige Familienbetriebe konnten stellvertretend für viele andere genannt werden. […] Deshalb meine Bitte um Verständnis, wenn sich der eine oder andere nicht in diesem Geschichtsabriss wiederfindet.« Im Blick auf die Dorfbewohner, die nicht namentlich in der Chronik gewürdigt werden konnten, verweist der Autor in ebenso typischer Weise auf die (zukünftige) Vervollständigung des Projekts: »Vielleicht schreibt später einmal jemand ein dickeres Buch über Rabenau und seine Ortsteile.«28 Wohlgemerkt richtet sich dieser Verweis nicht auf ein anders strukturiertes Buch, das möglicherweise einer alternativen Fragestellung oder Perspektive folgen würde, sondern lediglich auf ein »dickeres« (vervollständigtes) Buch. Derartige Gewerbeübersichten veranschaulichen jedoch nicht allein das Vollständigkeits-Streben von Chroniken, sie zeigen zugleich, dass Chroniken ein Forum zur Verfügung stellen: ein Forum, in dem sich Gewerbetreibende ebenso wie andere Dorfbewohner selbst präsentieren können. Auch wenn die Grenzen zu einem Branchenverzeichnis bzw. zu Werbeanzeigen im Einzelfall fließend sind, liegt der Sinn solcher Abschnitte in erster Linie darin, nach Möglichkeit allen ortsansässigen Personen und Einrichtungen Raum zur Mitarbeit und zur Selbstdarstellung zu geben. Diese Überlegungen verweisen auf einen zentralen Aspekt der Autor-LeserBeziehung von Ortschroniken, der mitverantwortlich für den vermeintlichen Eklektizismus des Genres ist. In den meisten Fällen sind es die Leser selbst, also die anderen Dorfbewohner, die zur Vervollständigung der Chronik aufgerufen 26 Harlingen, S. 28–31. 27 Hausbay, S. 408–415; vgl. als weiteres Beispiel Dalberg, S. 48–62. 28 Rabenau, S. 6.
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sind. Chroniken entstehen, so die zugrundeliegende Idee, als Gemeinschaftsprojekt von Autoren und Lesern. Im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Veröffentlichungen stehen sich beide Seiten relativ distanziert gegenüber – nicht nur als Autoren und Leser, sondern in der Regel auch als Experten und Laien –, im Fall von Heimatbüchern verschwimmen diese Unterscheidungen tendenziell. Chronikautoren sind dem Ideal nach Erfüllungsgehilfen eines gemeinschaftlichen Projekts einer Gruppe, und zwar einer Gruppe, deren Mitglieder gleichermaßen Laien-Experten ihrer eigenen Geschichte sind. Für eine Chronik gilt folglich das Prinzip: Je mehr Mitbürger eingebunden werden, desto besser. Dabei geht es nicht um die redaktionelle Bearbeitung und Einpassung einer Vielzahl von Beiträgen in einen roten Faden, sondern primär um den Anspruch, dass jeder Dorfbewohner zu Wort kommen kann. Der Schriftleiter der Chronik von Siebleben in Thüringen schreibt in seinem Nachwort, dass die Chronik grundsätzlich auf eine »durchgängige Vollständigkeit« ausgerichtet gewesen sei, auch wenn diese teilweise »noch fehlt«. Die Chronik sei eine »Sammlung«: »Alle greifbaren und erreichbaren Fakten und Aufzeichnungen über Siebleben wurden gesichtet, sortiert und in ein erstes Raster gebracht. Nichts bleibt unerwähnt […]. Nichts von dem, was gefunden wurde, soll dem Leser vorenthalten werden.« Damit liefert der Autor eine treffende Beschreibung des Vollständigkeitsanspruchs von Heimatbüchern, ihres Charakters einer Inventur des Ortes in Geschichte und Gegenwart. Sodann bindet der Autor die Leser der Siebleber Chronik direkt in dieses Unterfangen ein: »Doch damit wird der kundige Leser gleichzeitig zum Mitgestalter der Thematik. Alles ›Mehr- und Besserwissen‹ ist gefragt und steht von nun an im Mittelpunkt für mögliche weitere Teile Siebleber Chronologie«, heißt es weiter.29 Der Aufruf verdeutlicht, dass alle Leser im Rahmen eines Ortschronik-Projekts zugleich als potentielle Vervollständiger angesprochen werden, zumindest dem Anspruch nach. Folgen wir dem Nachwort der Siebleber Chronik noch ein wenig weiter, treffen wir auf einige offene Fragen zur Ortsgeschichte, die der Autor aufwirft: »Gab es jemals ein Siebleber Wappen? Welche Feste feierten unsere Vorfahren? Können die Lücken in der Mönchhof-Chronologie geschlossen werden? Gibt es private Aufzeichnungen von Ereignissen, welche die Geschichte der Ortschaft ergänzen? Wie ging es früher im Wirtshaus zu? Welche Anekdoten und Überlieferungen ranken sich um Siebleben, seine Menschen und dessen malerische Umgebung?« Daraufhin wendet sich das Nachwort wiederum »an alle, denen Siebleben etwas bedeutet«, für die diese Fragen ein »Aufruf« seien – ein Aufruf, »sich mit möglicherweise vorhandenen Materialien, Dokumenten, Fotos u. ä. einzubringen, um das Vor29 Siebleben, S. 216. In diesem Sinne enthalten einige Heimatbücher leere Seiten am Ende des Buches, auf denen die Leser eigene Ergänzungen und Nachträge notieren sollen, vgl. Sorghof, S. 284–288.
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liegende zu komplettieren und zu bereichern. Ergänzungen, Hinweise und Korrekturen sind jederzeit gefragt. Eine Ortschronik kann man niemals beenden, aber jederzeit vervollständigen und mit wichtigen Kleinodien veredeln. Gemeinsam freuen wir Siebleber Einwohner uns auf jeden, auch noch so kleinen Beitrag, seien es Literatur, Pläne, Ansichten, Fotos, Dokumente oder persönliches Wissen. Unterstützen Sie das Vorhaben, welches damit zu ›unserem Vorhaben‹ wird.«30 Diese Aufforderung bringt den Charakter von Ortschroniken als dorfgemeinschaftliche Inventurprojekte sehr deutlich zum Ausdruck. Statt einer stringenten inhaltlichen Struktur zählt Vollständigkeit, statt einer klaren Trennung von Autor und Leser, zählt die Überwindung dieser Differenz und somit die Anreicherung der Chronik mit einer Vielzahl nebeneinander stehender Beiträge. Trotz allem spürbaren Stolz einzelner Autoren und Herausgeber auf die eigenen Verdienste zeigt sich im Hintergrund stets dieses Ideal: Die Ortschronik soll weniger das individuelle Produkt eines einzelnen talentierten Schriftstellers als vielmehr Chronik des Ortes sein. Auch wenn die tatsächliche Umsetzung diesem Ziel in vielen Fällen weit hinterherhinken mag, auch wenn eher wenige den Aufrufen zur Mitarbeit Folge leisten, bleibt die Idee des Gemeinschaftsprojekts, durch das der Ort sich selbst eine Geschichte gibt, präsent. In diesem Kontext haben Einzelbeiträge einen anderen Stellenwert als beispielsweise in wissenschaftlichen Sammelbänden. In erster Linie zählt die Würdigung des Engagements des Autors, weshalb sein Beitrag auch dann ›untergebracht‹ werden muss, wenn er sich inhaltlich nicht gut ergänzt mit dem restlichen Material. Darüber hinaus zählt der Charakter der Chronik als Forum, das jedem Einwohner einen Ort zur historischen Betätigung und zur Äußerung bieten möchte (bzw. schwerlich verweigern kann). Für Inhalt und Aufbau einer Chronik folgt daraus: Die Würdigung von Autoren bzw. Beiträgern ist wichtiger als ein roter Faden oder die formale und inhaltliche Geschlossenheit des Materials.
Der Wiedererkennungseffekt Bislang haben wir die verbreitete Kritik am Eklektizismus des Genres Ortschronik aus einer bestimmten Richtung neu interpretiert: der Ausrichtung von Chroniken auf Vollständigkeit; einerseits im Hinblick auf die inhaltliche Berücksichtigung aller Orte, Personen und Aktivitäten in den Grenzen der Gemeinde, andererseits im Hinblick auf die möglichst vielfältige Beteiligung der Dorfbevölkerung und die gleichberechtigte Würdigung aller Beiträge. Beides unterscheidet Chroniken deutlich von wissenschaftlicher Historiografie und ist 30 Siebleben, S. 216; Hervorhebungen von mir.
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zu großen Teilen verantwortlich für den von Akademikern gescholtenen Sammelsurium-Charakter dieser Bücher. Die Kritik lässt sich aus einer weiteren Richtung umschreiben: Was Ortschroniken so attraktiv für ihre Autoren wie ihre Leser gleichermaßen macht, ist etwas, das sich als »Wiedererkennungseffekt« bezeichnen lässt. Dieser Effekt ist nicht zwangsläufig die Folge einer gezielten Absicht der Autoren; auch braucht er den Lesern einer Chronik nicht bewusst sein, um zu wirken. Er ist nichtsdestoweniger – so meine These – von entscheidender Bedeutung für die weite Verbreitung und den Erfolg des Genres. Werfen wir einen Blick in die Chronik der Gemeinde Hordorf im Landkreis Wolfenbüttel, die im Jahr 1989 publiziert worden ist. Der Autor Erich Schlüter formulierte in seinem Vorwort ausdrücklich, dass das Buch »keine wissenschaftliche Arbeit« werden sollte, die für »Forschungszwecke verwendbar« wäre. Vielmehr sei sie »Nachschlagewerk und Fundgrube« für diejenigen, denen Hordorf Heimat ist. Beispielhaft nennt der Autor »Vereinsdaten oder andere wichtige Geschehnisse im Ort«, für die seine Chronik als ein solches Nachschlagewerk dienen solle. Schlüter schrieb weiter, welche Vorteile der Leser hiervon habe: »Sicherlich findet jeder etwas darin, was ihn interessiert, vielleicht sogar sich selbst oder einen seiner Vorfahren, im Text oder auf einem Bild.«31 Damit ist der Wiedererkennungseffekt, der die Lektüre von Heimatbüchern auszeichnet, sehr treffend charakterisiert. Eine Ortschronik birgt das Versprechen, sich selbst, seine eigenen Vorfahren oder die Orte wiederzufinden, an denen man aufgewachsen ist und an denen man lebt und arbeitet. Die eigene Lebenswelt durch eine historische Brille zu sehen, kann hierbei einerseits eine identitätsstiftende Funktion erfüllen, andererseits auch überraschende und verfremdende Eindrücke hervorrufen. Die Herausgeberin der Ortschronik von Kleinbobritzsch in Sachsen beendet ihr Vorwort mit dem Satz: »Ich hoffe, beim Lesen dieser Chronik erfährt man viel Neues aber auch Bekanntes aus unserem Heimatort.«32 Es ist genau diese Mischung von »Neuem« und »Bekanntem«, auf die Ortschroniken abzielen. Im Unterschied zu wissenschaftlicher Literatur, geht es nicht primär um neue Erkenntnisse oder originelle Perspektiven. Zwar speist sich die Faszination von Heimatbüchern auch daraus, bislang Unbekanntes im eigentlich Bekannten aufzudecken, dieses Ziel ist jedoch gleichrangig damit, dass der Leser seine gewohnte, eigene Lebenswelt wiedererkennt. Der Ortsbürgermeister Salzdahlums, ebenfalls im Kreis Wolfenbüttel gelegen, hebt im Vorwort der 2012 erschienenen Chronik des Ortes das Sich-Wiederfinden als vorrangigen Zweck des Buches hervor: »Salzdahlum im Jahre 2012 ist ein Wohn- und Arbeitsort für fast 1700 Menschen. Kinder gehen hier in die Krippe, den Kindergarten und die Grundschule. Viele Einwohner betätigen sich 31 Hordorf, S. 7. 32 Kleinbobritzsch, S. 3.
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in den verschiedenen Vereinen, die Kinder gehen in den Konfirmandenunterricht und werden danach hier in unserer Kirche konfirmiert.« Für die Menschen, die den Ort gegenwärtig selbst bewohnen, erleben und mitgestalten, habe das Buch einen besonderen Wert; in der Chronik sollen sie »›ihren‹ Ort wiedererkennen« – und dabei zugleich auch noch »etwas über die Vergangenheit erfahren«. Folgerichtig wünscht der Bürgermeister den Lesern auch nicht primär wertvolle historische Erkenntnisse, sondern zuvorderst »viele interessante Stunden beim Schmökern«.33 Greift man die Metapher der »Fundgrube« aus der Hordorfer Chronik auf, so hat eine Ortschronik ihren Wert genau in diesem »Schmökern in der Fundgrube« der Ortsgeschichte – mit dem Versprechen sich selbst und/oder biografisch zentrale Orte des eigenen Lebens »wiederzufinden«. Dabei verknüpfen Ortschroniken Erkenntnisinteresse, Identitätsstiftung, Faszination und Unterhaltung zu einer eigentümlichen Verbindung. Diese findet einen pointierten Ausdruck in der Metapher der Ortschronik als »Schlüssel zu den Schatzhäusern der vergangenen Zeit«, den die Brünnighausener Chronik »den Bürgern und Bürgerinnen der Gemeinde« im Jahr 1964 zur Verfügung stellen möchte.34 In ähnlicher Weise bezeichnet der Bürgermeister des saarländischen Alsweiler die 2007 erschienene Chronik des Ortes als »wahre Schatztruhe für alle die, die auf der Suche sind nach dem, was ihre Heimat Alsweiler in den vergangenen Jahrhunderten, aber auch in den aktuellen Zeiten« ausmache. Diesem allgemeinen Versprechen folgend gehe die Chronik in inhaltlicher Hinsicht »quer durch den Garten«.35 Hier schließt sich der Kreis zu dem Streben von Ortschroniken nach historischer Vollständigkeit. Die seitenlangen, spärlich kommentierten Listen, Übersichten und Tabellen, die ungekürzte Wiedergabe besonderer Quellenfunde inklusive aller Einzelheiten etc. stellt sich für den außenstehenden Betrachter oftmals einzig als verwirrend dar. Aus einer Innenperspektive bergen sie einen reichhaltigen Fundus für das Wiedererkennen der eigenen Lebenswelt. Mittels der möglichst vollständigen Erfassung aller Namen, Häuser, Höfe und anderen mehr würdigt eine Chronik gleichsam ihre Leser – indem sie genannt werden bzw. indem sie nicht ausgelassen werden. Diese Wiedererkennungseffekte zu ermöglichen, stellt eine wesentliche Motivation der Autoren dar, sich der (oft mühsamen) Arbeit zu unterziehen, alle noch so unwichtigen, verstreuten Details der Ortsgeschichte zusammenzutragen. Die daraus resultierenden Publikationen haben Lesern ohne eigene biografische Bindung an den Ort kaum etwas zu bieten, den Einwohnern jedoch umso mehr.
33 Salzdahlum, S. 3. 34 Brünnighausen, S. V. 35 Alsweiler, S. 8
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Historische Stimmungen Ein Teil der akademischen Eklektizismus-Kritik an Ortschroniken richtet sich auf das oftmals unsystematische Nebeneinander und die kommentarlose Wiedergabe historischer Quellen. Mehr oder weniger eklatante Beispiele hierfür finden sich in jedem Heimatbuch. Werfen wir einen exemplarischen Blick auf den Abschnitt »Das Leben im Gutsdorf Mestlin zwischen 1935 und dem 2. Weltkrieg« in der Chronik des mecklenburgischen Ortes Mestlin. Das Kapitel beginnt mit einem Unterabschnitt, der vorgibt, ein enorm breites Themenspektrum von der »sozialen Gliederung der Einwohner« bis zur wirtschaftlichen Lage des Ortes zu behandeln. Anstelle der strukturierten Erörterung dieser Themenbereiche und ihrer fundierten empirischen Unterfütterung macht der gesamte Abschnitt einen zusammengewürfelten Eindruck. Der Leser trifft gänzlich unvorbereitet auf die nicht weiter kommentierte Wiedergabe eines »Staatskalenders« aus dem Jahr 1938, der Angaben zum Einwohnerstand Mestlins von 1937 enthält. Die zeitliche Selektivität dieses Ausschnittes der Ortsgeschichte – Was macht das Jahr 1937 besonders? Was unterscheidet es von den vorangehenden und folgenden Jahren? etc. – bleibt gänzlich unerklärt. Der Schluss liegt nahe, dass es sich bei der abgedruckten Quelle um einen Einzelfund handelt, zu dessen Einordnung keine vergleichbaren Gegenstücke aus anderen Jahren aufzufinden waren. Dies stand der kommentarlosen Reproduktion der Quelle in der Chronik – bar jeder historischen Einordnung und Kontextualisierung – allerdings nicht im Weg. Folgen wir dem Kapitel weiter, treffen wir auf sehr verschiedenartige Aufzählungen, Listen und Tabellen von Personen, Gebäuden und anderem mehr, die bereits von der Formatierung her äußerst divers ausfallen. Gleiches gilt für Umfang und Inhalt. Eine Auflistung saisonal variierender Arbeitstechniken beispielsweise steht neben einem typischen Arbeitstag (inklusive Uhrzeiten) eines Landarbeiters. Dazwischen tauchen wiederholt einzelne Bilder von Maschinen und Gebrauchsgegenständen auf. Als weiteres exemplarisches Versatzstück sei hier nur die Anleitung zur Herstellung verschiedener Schlachtereiprodukte vom Schwein erwähnt. Die Einteilung in weitere Unterkapitel bringt kaum Ordnung in das dargebotene Material; Abschnitte wie »Reisen und Verkehr, öffentliche Ordnung« verbinden nicht nur Disparates, sie wecken zudem inhaltliche Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Die ausformulierten Textabschnitte liefern ebenfalls keine kohärente Erzählung. Sie hangeln sich gewissermaßen von Quelle zu Quelle, von Bruchstück zu Bruchstück.36 Ein vergleichbares Bild liefert das etwa siebzigseitige Kapitel »Neueste Zeit II – Daten und Ereignisse« aus dem Heimatbuch des saarländischen Mainzweiler. Der gesamte Abschnitt stellt eine Collage von Quellenreproduk36 Mestlin, S. 31–64.
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tionen, -zusammenfassungen und weiteren Texten dar. Bereits im ersten Teilabschnitt wird deutlich, dass hierbei kein einheitliches Prinzip der Auswahl und Zusammenstellung zugrundelag: Er beginnt mit einer Zeittafel der Jahre 1933 bis 1945, die größtenteils aus sehr kleinteiligen militärgeschichtlichen Einträgen der letzten Kriegsjahre besteht. Darauf folgen seitenlange Zitate, unter anderem aus einer pädagogischen Examensarbeit aus dem Jahr 1933, die die »Volkskunde« des Ortes behandelt. Es schließen sich Auszüge aus Schulchroniken an. Ein weiterer Abschnitt widmet sich kursorisch dem »Reichsarbeitsdienst«. Sodann folgt ein Unterkapitel, das unter dem Titel »Mainzweiler in den Jahren 1929 bis 1938« Alltagsfotografien aneinander reiht, nur selten mit Bildunterschriften versehen. Die thematische Unterteilung der Bilder durch Zwischenüberschriften ist angesichts der tatsächlichen Bildinhalte kaum nachvollziehbar. Weitere Abschnitte werden von militärgeschichtlichen Details dominiert, beispielsweise zu Rekrutierung, Stationierung, Versorgung oder Bautechnischem. Zuletzt folgt der Abschnitt »Gefallene und Vermißte des Zweiten Weltkriegs«, der abermals gänzlich unkommentierte Listen, in diesem Fall ergänzt durch Lebensdaten, Militärbiografien und Porträts, bietet.37 Was bis zu diesem Punkt sichtbar geworden ist, sind vor allem formale und inhaltliche Defizite. Bei diesen Beispielen handelt es sich keineswegs um Ausnahmefälle, sondern vielmehr um Ausschnitte aus dem Normalbetrieb der Chronik-Historiografie. Wiederum empfiehlt es sich über die Kritik der ›kompositorischen Schwächen‹ hinauszugehen und nach alternativen historiografischen Effekten zu fragen. Wir haben bereits gesehen, dass es Chroniken nicht um die konzise Beantwortung einer historischen Fragestellung geht. Die teilweise extensiv zitierten Quellen erhalten ihre Bedeutung folglich nicht aus dem Wert, der ihnen durch die Beantwortung einer solchen Frage oder der Veranschaulichung einer übergreifenden These zukäme. Vielmehr dient ihre Wiedergabe in Ortschroniken dazu, eine »historische Stimmung« zu erzeugen. Der Autor der Ortschronik von Gischow in Mecklenburg-Vorpommern schreibt über vier »Gemeindeanalysen« aus den Jahren 1957 bis 1959, von denen er die erste vollständig und unkommentiert wiedergibt: »Sie sind aus der Zeit so interessant, dass sie als ein Spiegelbild der damaligen Verhältnisse in Gischow zu werten sind und aus diesem Grund hier abschriftlich erscheinen.«38 Das heißt, HeimatbuchAutoren geben historische Quellen im Wortlaut wieder, um eine vermeintliche Färbung des Ortslebens zu einer bestimmten Zeit zu reproduzieren. Der Autor der Chronik des saarländischen Saarhölzbach hat dieses Vorgehen in einer programmatischen Vorbemerkung formuliert; über das einleitende Kapitel seines Buches liest man: »Es besteht hauptsächlich aus Zeitungsmeldungen 37 Mainzweiler, S. 107–178. 38 Gischow, S. 33–35.
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jener Jahre [1930er/1940er Jahre], die in dieser Chronik beschrieben werden. Mit ihnen kann am ehesten der Zeitgeist heraufbeschworen werden, selbst dann, handelte es sich um scheinbar belanglose Dinge. Mit der Wiedergabe, zumal in unveränderter Form, drückt sich das […] aus, […] was man Zeitnähe oder Zeitgefühl nennen kann. Gerade dies ist unerhört wichtig, denn der Leser soll gleich zu Anfang richtig eingestimmt werden.« Ebenfalls »im Dienste der Einstimmung« hat der Autor ausführliche Ausschnitte aus dem Tagebuch eines örtlichen Pfarrers wörtlich zitiert und eigene Erinnerungen hinzugefügt.39 Diesem Effekt – eine »historische Stimmung« zu erzeugen – steht gerade nicht im Wege, wenn diverse Texte, Bilder und Faksimiles ohne direkte Verbindung aufeinanderfolgen. Vor diesem Hintergrund ist es kein zielgerichtetes Erkenntnisinteresse, das den ansässigen Leser zur Chronik greifen lässt; es geht stattdessen um ihre historische Erlebensqualität. Die Quellenfragmente laden dazu ein, Tonfall, Mentalität, Aussehen etc. früherer Generationen nachzuerleben. Das Angebot ist, sich ausschnitthaft in die Geschichte hineinzuversetzen und sie sich just an dem Ort, an dem man selber lebt, vorzustellen. Die Faszination, die sich hierbei nur für ortskundige Leser einstellt, liegt in der geografischen Deckungsgleichheit der eigenen und der historischen Lebenswelt. Historische Quellen sind deshalb für Chronikautoren nicht allein Erkenntnismittel oder Belege, sie sind gleichsam Instrumente, um »treffende Zeitbilder« zu erzeugen.40 Der Unterschied zwischen Ortschroniken und Quellendokumentationen ist hierbei fließend. Zwischen den Jahren 1958 bis 1976 legte der Autor Klaus Heitmann insgesamt sieben monumentale, maschinenschriftlich verfasste Quellensammlungen zur Geschichte des Orts Bergen im Landkreis Celle vor. Heitmann gibt den Großteil der »in unserer Butze im Badezimmer abgeschriebenen« historischen Quellen gänzlich unkommentiert wieder und fasst sie zu keinerlei thematischen Blöcken zusammen. In den allermeisten Fällen bleibt sogar unklar, woher die Texte, Abbildungen, Angaben etc. stammen. Hierbei stehen in unsortierter Reihenfolger Sportmeldungen, wie die Aufstellungen der örtlichen Fußballmannschaft oder die Ergebnislisten der Reichsjugendwettkämpfe, neben Kurzbiografen und Nachrufen zu Mitgliedern des Gesangsvereins oder polizeilichen Nachrichten, wie detaillierten Berichten von Verkehrsunfällen. Nicht zuletzt finden sich auch zahlreiche lokalpolitische Ereignisse und entsprechende Quellen (zum Beispiel Flugblätter und Manifeste) zwischen den Einträgen, unter anderem mit Bezug zur NSDAP, die bereits Ende der 1920er Jahre hohen Zuspruch im Ort erfahren hatte.41 In solchen Sammlungen schlägt 39 Saarhölzbach, S. 11. 40 Flegessen, S. 60. 41 Bergen.
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sich das dokumentarische Prinzip in reiner Form nieder, das (mehr oder weniger) ausformulierte Ortgeschichten gleichermaßen prägt. Dem Autor ging es um eine möglichst vollständige Zusammenstellung von ortsbezogenen Funden, die durchstöbert – statt historisch auswertet – werden können. Geht es um die »historische Einstimmung«, stört es nicht, dass Ereignisse wie das »Wintervergnügen des Gesellenvereins ›Humor‹«, die Geburtstagsfeier des Kriegervereins, die Notlandung eines Lufthansa-Flugzeuges, das 25jährige Jubiläum des Pastors, Feierlichkeiten zum 41. Geburtstag Adolf Hitlers und zur »Wintersonnenwendfeier« in unverbundener Weise aufeinanderfolgen. Die Leser brauchen sich einer solchen Dokumentation nicht mit einem selektiven, historiografischen Erkenntnisinteresse nähern – obwohl auch das freilich möglich ist –, ausreichend ist eine viel weniger zielgerichtete Empfänglichkeit für die sich wandelnden historischen Färbungen der eigenen Lebenswelt.
Ortsbilder Im Zentrum des »Bliesdahlheimer Weissbuchs von 1875 bis 2004« steht die Edition der Gemeinderatsprotokolle des saarländischen Ortes. Zu Beginn des Buches heißt es dazu: »Die vorliegende Zusammenstellung, die auch die Beratungspunkte des Gemeinde- bzw. Ortsrates bis Ende des Jahres 2004 miteinbezieht, ist kein traditionelles Geschichtsbuch, das in narrativer Form die dörflichen Ereignisse schildert. Sie ist vielmehr ein Kaleidoskop kommunalpolitischer Diskussionen und Entscheidungen […] auf dörflicher Ebene«.42 Die Metapher eines »Kaleidoskops der dörflichen Ebene« stellt eine treffende Charakterisierung der Publikation dar. Es ist genau dieser Eindruck, der sich angesichts der Vielzahl thematischer Sprünge und inhaltlicher Brüche auf der einen Seite und der Masse an Namen, Ortsbezeichnungen und lokalgeschichtlichen Details auf der anderen Seite einstellt.43 Im Allgemeinen versuchen Ortschroniken »das Kaleidoskop der Ortsgeschichte«, das sie malen, möglichst bunt und vielfältig erscheinen zu lassen; nicht zuletzt um möglichst viele Spiegelungen der Leser selbst in seinem Glas – also: Wiedererkennungseffekte – zuzulassen. In diesem Zusammenhang spielen Bilder eine zentrale Rolle. Als Grafiken, Karten, Faksimiles, Fotografien oder Zeichnungen, um die häufigsten Formen zu nennen, erfüllen sie wichtige Funktionen in Ortschroniken. Nehmen wir 42 Bliesdahlheim, S. 4. 43 Vgl. das Kapitel »Kaleidoskop des Ortsgeschehens von 1935 bis 1985« in der Sitterswalder Chronik, das nahezu ein Viertel des Gesamtumfangs ausmacht. Darin reihen sich zahllose kurze Textabschnitte zu verschiedenen Themen sowie Fotografien aneinander, Sitterswald, S. 140–180.
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einen Umweg über einen ortsgeschichtlichen Bildband: In dem Buch »Bachem im Wandel der Zeit«, den der Heimatverein Bachem 2013 als Ergänzung zur 1987 erschienenen Ortschronik der ehemals selbständigen Gemeinde im Saarland herausgab, heißt es in der Einleitung: »Die Bilder dieses Buches vermitteln uns wie bei einem Mosaik einen Gesamteindruck des Dorfes Bachem und seiner Einwohner in der Zeit von 1950 bis 1980.«44 Letztlich ist es jedoch nicht der Bildband selbst, der diesen »Gesamteindruck« herstellt. In eklektischer Manier häuft er einzelne »Mosaiksteine« an, ohne eine Syntheseleistung zu erbringen. Anders gesagt: Der Gesamteindruck ist die Masse an Mosaiksteinen. Bedeutung haben die einzelnen Fundstücke für den Leser dennoch, da er im Regelfall selbst aus dem Ort stammt und er sie somit in Beziehung zu seinem alltäglichen Erfahrungsraum setzen kann. Wie bei Heimatbüchern im Allgemeinen, handelt es sich um ein Buch, dessen Bedeutung an die (vermeintlich) geteilte Lebenswelt von Autoren, Lesern und historischen Akteuren gebunden ist. Löst man das Buch aus dieser biografisch-räumlichen Verbundenheit, so geht die Bedeutung des Inhalts weitgehend verloren. Für Außenstehende bietet der Bachemer Bildband mit seinen nicht interpretierten Fotografien, die scheinbar beliebige Ausschnitte einer räumlich eng begrenzten Umgebung präsentieren, bloß ein Sammelsurium an Bildern. Diese Überlegungen treffen gleichermaßen auf die (überaus beliebten) Bildkapitel in Heimatbüchern zu. Sie schließen zudem nahtlos an das Gemeinschaftskonzept der Chronikerstellung an. Für das Kapitel »Fotos erzählen Geschichte« in der Chronik des rheinland-pfälzischen Fachbach sind einige Einwohner des Ortes dem Aufruf der Chronisten gefolgt und haben eigene Fotografien beigetragen. Die Autoren des Kapitels sprechen von dem Ergebnis als einer »Gemeinschaftsarbeit«; sie seien bestrebt gewesen, möglichst viele Beiträge in die Chronik aufzunehmen. Diese Würdigung der Beiträge stand im Zentrum und nicht die chronologische oder thematische Ausgewogenheit der Abbildungen. Die Fotografien sind den Autoren zufolge bloß »in loser Reihenfolge« und mit »manchmal beabsichtigten Zeitsprüngen« angeordnet. Statt inhaltlicher Geschlossenheit steht das Prinzip einer gemeinschaftlichen Inventur der Dorfgeschichte im Vordergrund. Am wichtigsten sei, dass sich die »Betrachter der Fotos inspiriert« fühlen, selbst auf »Spurensuche« im Ort zu gehen45 – abermals eine Zielsetzung, die nahezu ausschließlich für Dorfbewohner sinnvoll ist. Ein »Mosaik« oder »Kaleidoskop« der Dorfgeschichte zu produzieren, ist prinzipiell eine Aufgabe, zu der sowohl Bilder als auch Textabschnitte beitragen. Ortschroniken und Heimatbücher können diesen Effekt genauso erzeugen wie 44 Bachem, S. 6. 45 Fachbach, S. 377–399.
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lokale Bildbände. Innerhalb einer Chronik erfüllen Texte – handelt es sich nun um die Faksimiles schriftlicher Quellen, transkribierte Erinnerungen oder eigenhändig verfasste Erzählungen und Geschichten – in dieser Hinsicht eine Bildern direkt vergleichbare Funktion. Sie tragen gleichermaßen dazu bei, dem Leser einen kaleidoskopartigen Einblick in die Geschichte seiner Lebenswelt zu bieten. Quellenzitate und Fotografien bieten alleine oder in Kombination vielfältige Einstiegspunkte, um in vermeintliche historische Stimmungen der eigenen Umgebung einzutauchen.
Historische Auratisierung Im Jahr 2009 gab das saarländische Naßweiler zum Dorfjubiläum einen Bildband heraus. Eingeleitet wird das Buch durch ein kurzes Gedicht, in dem es heißt: »Doch machst in einer Mußestunde über Feld und Flur Du eine Runde so frag den Baum, so frag den Stein, was war vor 374 Jahren? was wird morgen sein? Wer ist hier wohl gegangen? wer gestorben? wer hat geliebt, gelacht, wer hatte Sorgen?«46 Die Verse lesen sich wie eine Einladung, mithilfe des Bildbandes einen historischen Spaziergang durch das Ortsgebiet zu unternehmen; ein Gebiet, das, lässt der Leser sich entsprechend inspirieren, eine verborgene, geschichtliche Tiefendimension offenbaren würde. Man müsse sie nur zu sehen lernen.47 Hierzu bietet der Bildband gewissermaßen Hilfestellung und Aufforderung zugleich. Eine vergleichbare Funktion sollen die zwei umfangreichen, aufwändig gestalteten Bände einer Häuserchronik zu Auerbach in der Oberpfalz erfüllen, die der Heimathistoriker Hans-Jürgen Kugler 2008 und 2010 im Selbstverlag herausgebracht hat. Der Autor lädt seine Leser auf »eine Reise durch die Vergangenheit« der Stadt ein. Seine mit zahlreichen Bildern und Erzählungen illustrierte Übersicht soll »dem Interessierten die Gelegenheit geben, den Spuren in die Vergangenheit zu folgen« (und hierbei neben der Geschichte des Ortes zugleich »seine eigene Familiengeschichte kennen zu lernen«). Das Folgen dieser Spuren verändert vorgeblich die Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt; Häuser und Jahreszahlen verbänden sich mit »Namen und Berufen«; die Geschichtlichkeit des Orte würde erfahrbar : »So wissenswert das Alter eines Hauses auch sein kann, es ist letztendlich nur eine Jahreszahl. Erst wenn wir die Namen und Berufe der Besitzer mit einem Haus in Verbindung zu bringen 46 Naßweiler, S. 22. 47 Vgl. das Vorwort der Chronik von Rieps in Mecklenburg-Vorpommern: »Als ich die Chronik von Rieps (bis 1945) gelesen hatte, war ich begeistert. Die bäuerlichen Verhältnisse hatten eine Tradition über 500 Jahre. Die 10 Hofstellen bestanden seit 1444 und die meisten waren noch vorhanden. Beim Gang durch den Ort, sah ich alle mit ganz anderen Augen« (Rieps, S. 4; Hervorhebung von mir).
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vermögen, können wir uns wenigstens einigermaßen eine Vorstellung von seiner Geschichte machen.« Die ›bloßen Adressen‹ des Ortes würden sich mit historischem Leben füllen: »Was hat sich nicht alles ereignet während der letzten 400 Jahre, begleitet vom Kommen und Gehen der vielen Generationen, deren Namen wir hier finden. Wie viele Schicksale sind gebunden an jedes einzelne Haus in den Straßen unserer Stadt: Tausendfach ist der Tod in unsere Altstadthäuser eingekehrt und genauso oft haben deren Mauern den ersten Schrei eines Neugeborenen gehört. Aus dem Wirken all dieser vielen Menschen aber ist langsam und ganz allmählich reifend das Bild unserer Stadt entstanden, so wie wir Heutigen es kennen und lieben.«48 Geht es nach dem Autor der Auerbacher Häuserchronik vermag das eher selbstverständliche Bild der eigenen Stadt durch die Einschreibung historischer Schicksale an geschichtlicher Tiefe bzw. Ausstrahlung zu gewinnen. Betrachten wir zwei weitere Beispiele, bevor wir diesen Gedanken wiederaufnehmen. Die Chronik des thüringischen Vacha enthält zum Abschluss einen Abschnitt mit dem Titel »Wegweiser durch Vacha«. Diese Gebäudeliste des Ortes stellt mehr als nur ein Register dar. In Ergänzung zur Chronik-Lektüre soll sie zum eigenen Erkunden des Ortes anregen. Es geht um die Möglichkeit, die Orte des in der Chronik beschriebenen historischen Geschehens selbst (physisch) abzuschreiten und somit die – im Normalfall bereits bekannten Orte – auf neue Weise zu erleben. Für jeden Eintrag im »Wegweiser« sind zwei Kategorien vorgesehen: »im Vachaer Heimatbuch erwähnt als« und »Findort heute«. In der ersten Rubrik finden sich Hinweise auf Episoden, die in der Chronik geschildert werden, wie zum Beispiel: »das Haus des Maschinenhändlers Paul Schwarz, vor dem im Frühjahr 1945 der Fabrikant Wilhelm Kellermann niedergestochen wurde«. Die zweite Rubrik gibt hierzu eine möglichst exakte aktuelle Adresse an (für das gerade zitierte Haus zum Beispiel: »Markt 47«). In dieser Liste finden sich zudem gegenwärtig nicht mehr existierende Gebäude, in diesen Fällen mit einer Angabe zu ihrer ungefähren, ehemaligen Lage. Dies trifft etwa auf »die Sandmühle« zu, zu der es heißt: »gesprengt im Jahre 1999, stand zwischen südlichem Werra-Brückenkopf, Nordseite der Werrastraße und Werra«. Wie für Chroniken üblich strebt auch der »Wegweiser durch Vacha« nach größtmöglicher Vollständigkeit. Das führt dazu, dass in der Liste ganz unterschiedliche Begebenheiten und Hausbeschreibungen nebeneinander stehen. Brisante Einträge, wie die zerstörte Synagoge der jüdischen Gemeinde und die Häuser von enteigneten jüdischen Mitbürgern oder auch »das Klaus’sche Haus, das erste ›Braune Haus‹ der Vachaer NSDAP«, stehen neben Einträgen zu eher banalen alltäglichen Versorgungseinrichtungen (Drogerie, Bäckerei, Elektronikfachgeschäft etc.). Hinzu kommen Gebäude, zu denen besondere Erzählungen über48 Auerbach, S. 5.
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liefert sind, die unter den Dorfbewohnern einen fast sprichwörtlichen Status genießen, zum Beispiel »das Wohnhaus des jugendlichen Schiebers und Spekulanten Hans Raphael zur ›Amizeit‹ 1945«, »das ›Wurstsuppenhäuschen‹ der Familie Güth am Osthang des Lohberges« oder »der Laden der Elise Machetanz mit dem ›Spion‹ vor dem Erdgeschossfenster«, der zugleich »das Geburtshaus des Volksarztes Dr. Heinz Machetanz« sei.49 Während die Naßweiler Chronik eine Bildersammlung zum eigenhändigen Abgleich gegenwärtiger Orte mit ihrem früheren Erscheinungsbild bereitstellt und während die Auerbacher und die Vachaer Chronik Nachschlagewerke zur eigenen Erkundung der im Buch beschriebenen historischen Orte anbieten, gibt es weitere Chroniken, die Rundgänge durch den jeweiligen Ort beschreiben. Die Chronik wird hier zu einer Art historischem Erlebnisführer, und zwar nicht für einen fremden, sondern den eigenen Wohn- und Arbeitsort. So beginnt die Chronik des niedersächsischen Westerloy beispielsweise mit dem Kapitel »Westerloy 1994«. Hierbei handelt sich um die Schilderung eines Erkundungsgangs durch den Ort, der alle wichtigen »historischen Stätten« beinhaltet und dem zwar ortskundigen, dafür aber historisch unkundigen Spaziergänger die geschichtliche Tiefe des Ortes sehen lässt. Neben Erläuterungen zu den Sehenswürdigkeiten gibt das Kapitel vor allem Hinweise darauf, wo verborgene oder kaum noch erkennbare historische Spuren zu finden sind. Der Autor der Chronik hat nicht nur Plätze aufgenommen, an denen sich Besonderheiten ereignet haben, sondern auch solche, die stellvertretend für vergangene, alltägliche Abläufe und Arbeiten stehen.50 Der Abschnitt fungiert als Einladung an den Leser, alle diese Plätze aufzusuchen und deren durch die Chronik vermittelte historische Aura zu erleben. Dieser Effekt einer historischen Auratisierung der Ortsgeschichte geht, so meine These, von Chroniken im Allgemeinen aus, auch wenn diese keinen ausdrücklichen Rundgang durch das Dorf anbieten. Durch ihre nach Vollständigkeit strebende Inventur aller gegenwärtigen und ehemaligen Betriebe, Vereine und Einrichtungen des Ortes, durch die Darstellung der Geschichte aller Gebäude, Flur- und Straßennamen, aller handwerklichen und landwirtschaftlichen Techniken, aller Bräuche und sprachlichen Besonderheiten versehen Chroniken die gemeinsame Lebenswelt von Autoren und Lesern mit einer historischen Aura; einer Aura, die jeder Dorfbewohner in seinen alltäglichen Wegen und Verrichtungen im Dorf nachvollziehen kann, sofern er sich darauf einlässt. Es lässt sich zuspitzen: Statt die Geschichte des Dorfes zu schreiben, schreiben Heimatbücher Geschichte in das Dorf. Dadurch kommt den Einzelheiten in Chroniken ein besonderer Wert zu, unabhängig von ihrer Einbindung 49 Vacha, S. 711–722. 50 Westerloy, S. 9–13.
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in größere, geschichtliche Zusammenhänge. Der Effekt der historischen Auratisierung lässt sich durch das Kaleidoskop der Ortsgeschichte, das Chroniken bereit stellen, in besonderer Weise hervorrufen. Dieser Effekt ist nicht nur vereinbar mit dem eklektizistischen Erscheinungsbild von Heimatbüchern, er bringt dieses gleichsam mit hervor. Aus der Perspektive der gängigen akademischen Kritik mag dieser Eklektizismus vor allem als handwerklicher Mangel erscheinen, doch können Chroniken trotz – oder gerade: wegen – dieses ›Mangels‹ in den Augen ihrer Autoren und Leser Wiedererkennungseffekte zeitigen, historische Stimmungen reproduzieren bzw. eine historische Aura erzeugen.
Dorfgemeinschaft als historisches Vorbild Gemeinschaft im Spiegel der Vergangenheit Das Ideal einer intakten Dorfgemeinschaft ist zentral für das Genre Ortschronik. Bei der Beschreibung von Geschichte und Gegenwart steht die Dorfgemeinschaft als normatives Konstrukt stets im Hintergrund und oft auch im Vordergrund. Ortschroniken spiegeln dieses (gegenwartsbezogene) Ideal auf die Vergangenheit; oder wenn man so will: sie lesen es in die Geschichte hinein. Diese Eigenschaft des Genres ist in der wissenschaftlichen Literatur wiederholt als verklärend kritisiert worden. Das übliche Muster dieser Kritik ist ein entlarvendes, das heißt, dem naiven, anachronistischen Bild der Heimatforscher wird die mit sozialstrukturellen und ökonomischen Daten unterfütterte reale Härte des Dorflebens gegenübergestellt. Wo Ortschroniken Gemeinschaft sehen, stehe in Wirklichkeit Abhängigkeit, soziale Ungleichheit und Unterdrückung, oder zumindest würden Chroniken diesen Teil einer ambivalenten Lebenswelt mit Vorliebe ausblenden. Wo Heimatbücher Zusammenhalt und Harmonie hervorheben, gehe dies zu Lasten der zahlreichen Konflikte, die tatsächlich im Dorf ausgetragen worden seien.51 Diese Kritik ist zweifellos berechtigt. In diesem Kapitel möchte ich jedoch eine andere Perspektive anlegen und einen genaueren Blick auf den Topos der Dorfgemeinschaft als historischem Vorbild in Ortschroniken werfen, wobei ich vor allem seine deskriptiv-normative Doppelstruktur hervorheben werde. Der Idealtyp historische Dorfgemeinschaft ist vor allem durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: Die Gemeinschaft basiert auf einer quasi-natürlichen Arbeitsteilung des Dorflebens. Sie ist vergleichsweise klar gegliedert, was in erster Linie auf ihre Funktionalität und weniger auf 51 Vgl. Hauptmeyer : Heimatgeschichte; Kaschuba: Leben, S. 83–84; Elfner : Wandel, S. 366; Holtmann: Heimatbedarf, S. 34–35; Kramer : Grundlinien, S. 13–14.
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Statusunterschiede zurückzuführen ist. Hierbei greifen die Beiträge aller Einwohner nicht nur in harmonischer Weise ineinander, sie sind zudem von Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft für die Gemeinschaft geprägt. Ein weiteres zentrales Kennzeichnen ist die Intensität der Kommunikation unter den Dorfbewohnern. Sie wird gewährleistet durch eine räumliche Kohärenz und Überschaubarkeit des Ortes und der an ihn gebundenen Gemeinschaft. In vielen Chroniken wird eine solche Dorfgemeinschaft als vergangene Wirklichkeit ihrer gegenwärtigen Desintegration gegenübergestellt. In aller Regel hebt eine solche Gegenüberstellung jedoch nicht nur die Kontraste hervor, sie erklärt den vermeintlichen historischen Befund zugleich zum Leitbild für die Lösung aktueller Probleme.
Die Auflösung der Dorfgemeinschaft Um zu veranschaulichen, in welcher Weise die Utopie einer einstigen Dorfgemeinschaft ihrem gegenwärtigen, als Verlust empfundenen Niedergang gegenübergestellt wird, empfiehlt sich ein etwas längerer, exemplarischer Blick in die Chronik der saarländischen Gemeinde Harlingen aus dem Jahr 2010. Zu Beginn des Kapitels »Harlingen, wie es früher einmal war« bringt der Autor Bruno Welsch die grundlegenden Veränderungen zum Ausdruck, die der Strukturwandel der ländlichen Gegenden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewirkt habe: »Im Rückblick auf unser Harlingen vor dem II. Weltkrieg und in die Nachkriegszeit, etwa die dreißiger Jahre bis Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, muss man schon mit etwas Wehmut feststellen, dass unser Dorf sich im Wandel der modernen Zeit grundlegend verändert hat.« Von diesem Ausgangspunkt aus zeichnet Welsch im Folgenden die »Idylle« eines ehemals intakten Gemeinschaftslebens. Die Darstellung trägt eindeutig – aber vermutlich nicht intendiert – utopische Züge, zumal konkrete Zeitangaben und Quellenbelege größtenteils ausbleiben. Zuerst erfolgt eine Übersicht der zentralen Berufsgruppen, die im Ort vertreten waren: In der ›Epoche der funktionierenden Dorfgemeinschaft‹ »war Harlingen ein idyllisches, von der Landwirtschaft geprägtes, reines Bauerndorf mit ca. 400 Einwohnern, davon zehn hauptberufliche Bauernbetriebe (Pferdebauern). Die Dorfbevölkerung bestand aber hauptsächlich aus Bergleuten, Hüttenarbeitern, Fabrikarbeitern, einigen Beamten und Angestellten sowie Krankenpflegern!« Diese Struktur erscheint in jeglicher Hinsicht geeignet gewesen zu sein, die existenziellen Bedürfnisse der Dorfbewohner zu befriedigen; es habe »keine Not« gegeben, da allerseits »eine gut gefüllte Scheune, Speicher und Keller« vorhanden gewesen seien. Welsch beschreibt das Dorfleben zu dieser Zeit als eine arbeitsteilige, sich ergänzende und routiniert ineinandergreifende Gemeinschaft: »Natürlich gehörten in ein
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intaktes Dorf auch selbständige Handwerksbetriebe wie Schneidermeister, derer gab es in Harlingen zwei. Sie fertigten seinerzeit die Alltags- und Festtagsbekleidung für die örtliche Bevölkerung oder sonstige Auftraggeber. Je ein Schreiner, Stellmacher und ein Schmied waren hier ansässig. Sie fertigten oder reparierten die Gegenstände und Gerätschaften welche im täglichen Gebrauch sowie in der Landwirtschaft benötigt wurden. Der Stellmacher erstellte und reparierte den schweren Pferdewagen, den leichteren Kuhwagen oder das Ziehwägelchen, den Pflug, die Egge und vieles mehr. Der Schmied fertigte für die Gewerke des Stellmachers die erforderlichen eisernen Beschläge und Werkzeuge, wodurch diese gebrauchsfähig wurden, und besorgte den Hufbeschlag für die Zugtiere.« Standesunterschiede und soziale Konflikte erscheinen in diesem Bild eines funktionierenden Organismus fehl am Platze. Welsch zufolge seien selbst Tagelöhner in diese Ordnung eingebunden gewesen. Das Fazit lautet: »Einer war auf die Arbeitsleistung des anderen angewiesen.« Der Autor fährt mit den gemeinschaftlichen Pflichten fort, die es gegeben habe, die jedoch keineswegs als Zwang empfunden worden seien, sondern als Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Aufopferungsbereitschaft der Bürger aufgefasst werden müssten. In diesem Sinne heißt es beispielsweise zur Pflege der Straßen und Wege: »Die Dorfstraßen hatten seinerzeit noch keine Straßendecken aus Asphalt, sondern Schotterbelag. Die Instandhaltung der Ortsstraßen und Feldwege oblag der Gemeinde. Jeder Hausstand stand in der Pflicht, seinen Beitrag zu leisten, was durch jährliche Frondienstleistungen geregelt war.« An anderer Stelle liest man dazu: »An den Wochenenden wurden die Straßen von den Anrainern fein säuberlich gefegt und das Dorf mit seinen in Kreuzform angelegten, geordneten Straßenzügen präsentierte sich als eine echte Schönheit.« Dieses Zitat deutet zugleich an, dass arbeitsteilige Dorfgemeinschaft und äußeres Erscheinungsbild des Ortes in Einklang gestanden hätten. Die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft und das Pflichtbewusstsein ihrer Mitglieder hätten sich in der Überschaubarkeit, Ansehnlichkeit und Reinheit des Ortsbildes gespiegelt. Gerade für Kinder und Jugendliche sei der Ort »ein Stück Paradies« gewesen. Welsch schreibt: »Das alte Dorf war geprägt von pulsierendem Leben.« Folgen wir der Darstellung in die Zeit des »Dritten Reichs«: Nach der Eingliederung des Saarlandes in das Deutsche Reich im Jahr 1935 hätten sich »große Veränderungen« eingestellt, die in »fast allen Lebensbereichen« zu spüren gewesen seien. Allerdings zeigt sich bei der weiteren Lektüre sehr schnell, dass es sich hierbei um eine bloß rhetorische Ankündigung handelt. Substantielle Auswirkungen der NS-Zeit auf das Leitmotiv des Abschnitts, die funktionierende Dorfgemeinschaft, zeigen sich in den Ausführungen der Chronik nämlich keine. Welsch erwähnt die Einrichtung der Jugendorganisationen Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Installation einer Kanalisation; die Beschreibung wirklicher Veränderungen im
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Charakter des Dorflebens bleibt er jedoch schuldig. Im Gegenteil, es heißt: »Das dörfliche Gemeinschaftsleben war seinerzeit sehr intensiv und von starkem Zusammenhalt geprägt. Nachbarschaftshilfe, wo sie erforderlich wurde, war eine Selbstverständlichkeit. Jeder kennt jeden, man stand füreinander ein. Dem Schicksal des Mitbürger wurde Teilnahme, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft entgegen gebracht.« Gemäß diesem Motto verlegt Welsch sich vor allem auf die Beschreibung von Dorffesten und lokalen Bräuchen während der NS-Zeit.52 Soweit zur Figur der Dorfgemeinschaft und ihrer vermeintlichen Blütezeit. Demgegenüber steht in der Harlinger Chronik jedoch ihr gegenwärtiger Verfall. Blicken wir dazu in das Kapitel »Harlingen im Wandel der Zeit«. Einführend heißt es hier : »Südlich der Kernstadt Merzig, am Südhang des ›Hohen Berges‹, liegt das 600 Seelen-Dorf Harlingen. Seit der Gebietsreform im Jahre 1974 Stadtteil der Kreisstadt Merzig. Aus dem idyllischen Bauerndorf von einst ist ein reines Wohndorf geworden.« Im Zuge dieses Umbruchs sei vor allem die Dominanz der Landwirtschaft – als Haupt- oder Nebenerwerb der Einwohner – zurückgegangen. Dies habe auch Veränderungen des Landschaftsbildes bewirkt: »Die Natur holt sich das einst gepflegte und fruchtbare Kulturland zurück. Es bilden sich vielerorts in verwilderten, überalterten Streuobstwiesen und Hanglagen Heckenlandschaften, die sich rasant ausbreiten und das Erscheinungsbild unserer wunderbaren Feldflur und einmalig schönen Landschaft negativ beeinflussen.« Auch habe sich die »bäuerliche Siedlungsstruktur« im Ort gewandelt, indem die ehemaligen Bauernhäuser von »der nachrückenden Generation oder von ortsfremden Neubürgern umgebaut« worden seien.53 Trotz gewisser Lichtblicke wie der Prämierung im Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« 1983 zieht der Autor angesichts der Wandlungsprozesse im Nachwort der Chronik ein düsteres Fazit:54 Im Rahmen der »Umwandlung vom einst idyllischen Bauerndorf zum reinen Wohndorf« nach dem Zweiten Weltkrieg sei »das dörfliche Gemeinschaftsleben, bei dem noch treue und gute Nachbarschaft einen hohen Stellenwert besaß« weitgehend verloren gegangen. Insbesondere sei die kommunikative Integrität der Gemeinschaft erodiert: »Durch die einsetzende Technisierung und Motorisierung in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts änderte sich auch das soziale Verhalten der Dorfbewohner. Das Fernsehen hielt Einzug in die Wohnstuben. Das Auto wurde zum Statussymbol und erschloss grenzenlose Freiheiten. Die von alters her gepflegte Konversation der Dorfbewohner auf der Straße, auf dem Kirchweg,
52 Harlingen, S. 159–166. 53 Harlingen, S. 4–7. 54 Siehe zum Wettbewerb: Strube: Dorf.
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im Gasthaus oder am Dorfbrunnen ist selten geworden. Stattdessen flüchtige Begegnungen im vorbeifahrenden Automobil.«55 Es fällt der starke Kontrast auf, in dem die vergangene Gemeinschafts-Idylle zu ihrer gegenwärtigen Auflösung in der Harlinger Chronik steht. Diese deutliche Schwarz-Weiß-Zeichnung ist für den Großteil der deutschen Heimatbücher und Ortschroniken nicht repräsentativ. Sie dient hier jedoch dazu, das Grundmuster, das Chroniken im Allgemeinen durchzieht, in besonders prononcierter Weise zu veranschaulichen. Die Geschichte des Ortes dient als Projektionsfläche einer Dorfgemeinschaft, die zugleich als Idealbild der Gegenwart unterliegt. Sie ist historischer Befund und Lösungsvorschlag für gegenwärtige Probleme zugleich. Im Hintergrund steht die verbreitete Annahme einer mehr oder weniger ausgeprägten Krise der dörflichen Gemeinschaft ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Harlinger Chronik rekurriert in diesem Zusammenhang auf verschiedene Phänomene wie Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, Auflösung der »bäuerlichen Siedlungsstruktur«, Wandel zum »reinen Wohndorf«, »Technisierung« und »Motorisierung«. Es variiert allerdings von Chronik zu Chronik sehr stark, welche Ursachen oder welche Symptome für die Krisenerscheinungen der Dorfgemeinschaft angeführt werden. Ein übergreifender Katalog lässt sich hier nicht aufstellen; auch bleibt der Strukturwandel ländlicher Gesellschaften in vielen Chroniken diffus und hintergründig. In seiner Grundstruktur – die Utopie einer mehr oder weniger intakten Dorfgemeinschaft, die in die Vergangenheit des Ortes hineingeschrieben wird – ist dieses Muster jedoch ein entscheidendes Element des gesamten Genres. Die Krisengeschichte der Dorfgemeinschaft ist in vielen Fällen mit einer parallelen Fortschrittsgeschichte verwoben: einer Geschichte der Modernisierung und Erleichterung des Arbeits- und Wohnalltags im Allgemeinen. Beide Erzählungen heben sich nicht gegenseitig auf, sondern bestehen in vielen Chroniken nebeneinander oder ergänzen sich. Schauen wir hierzu auf ein weiteres Beispiel. Im Vorwort der Chronik von Weiskirchen von 1993 konstatiert die Autorin: »Es gab wohl kaum eine Zeitepoche seit Bestehen der Menschheit, in der sich die Arbeits- und Lebensgewohnheiten so rasch und so umwälzend gewandelt haben, wie gerade in diesem Jahrhundert.« Auf der einen Seite seien hier »Fortschritte und Erleichterungen« zu verzeichnen. Die Autorin führt eine Reihe rhetorischer Fragen auf, die verdeutlichen sollen, wie beschwerlich der Alltag in früheren Zeiten im Vergleich war : »Kann sich ein junger Mensch von heute überhaupt vorstellen, unter welchen Bedingungen seine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern noch bis etwa in die Mitte unseres Jahrhunderts ihr täglich Brot verdienen mußten? Kann er sich vorstellen, wie seine Großmutter oder Urgroßmutter in einem oft acht- bis zehn-Personen-Haushalt, neben dem 55 Harlingen, S. 193–194.
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meistens auch noch ein kleiner oder auch größerer Landwirtschaftsbetrieb betreut werden mußte, die gesamte Hausarbeit wie: Kochen, Waschen, Bügeln, Putzen usw. ohne ein einziges elektrisches Hilfsgerät ausschließlich in Handarbeit überhaupt bewältigen konnte? Oder hat er eine Vorstellung davon, wie die Arbeit in Stall und Scheune, in Feld, Wald und Garten, ohne Traktoren, ohne Landmaschinen und technische Geräte mit Pflug, Egge, Sense, Sichel, Rechen und Hacke in Handarbeit verlief ?« Dieser Fragenkatalog spricht typische Elemente einer Fortschrittsgeschichte des Alltagslebens an, wie sie in zahlreichen Chroniken zu finden sind. In ebenso typischer Weise ist diese Erzählung in der Weiskirchener Chronik direkt mit einer gleichzeitigen Erosions-Erzählung des Gemeinschaftslebens verknüpft. Die Chronik solle gleichsam »eine Vorstellung davon vermitteln, wie mühsam, aber auch wie einfach und beschaulich das Leben der Menschen in unseren Dörfern damals noch war, denn trotz aller Arbeitserleichterungen, trotz der gewaltigen Fortschritte in allen Lebensbereichen ist unser Leben doch viel hektischer, ungemütlicher, ungesünder, aber leider auch viel ärmer geworden. Den Streß und die Hektik unserer Tage kannten unsere Vorfahren nicht.« Dieses Motiv eines einfacheren, weniger »hektischen« Lebens mündet in die Skizze einer ehemals vorbildlichen Dorfgemeinschaft: »Trotz ihres mühsamen Tagewerkes fanden sie [die Vorfahren] am Feierabend noch die Zeit und Muße, sich mit den Nachbarn zu einem kleinen Plausch zusammenzufinden. Sie waren zufrieden, weil sie das gleiche Schicksal trugen. Es gab in den Dörfer keine großen sozialen Unterschiede.«56 Wie die Harlinger Chronik stellt dieses Beispiel ebenfalls den Verlust ehemals gemeinschaftlicher Strukturen in den Vordergrund. Doch ist dies durchaus nicht in allen Chroniken so. Es gibt viele Heimatbücher, die die Geschichte der Krise der einstigen, arbeitsteiligen Dorfgemeinschaft aus einer optimistischeren Sicht schreiben. Wenngleich ältere Formen des Zusammenlebens erodieren, müsse dies die Zukunftsperspektive des gemeinschaftlichen Lebens im Dorf nicht zwangsläufig eintrüben. In der Chronik des rheinland-pfälzischen Hasselbach schreibt der Verfasser des Grußwortes: Der Rückblick auf die Ortsgeschichte zeige, wie »die Dorfbewohner in einer Gemeinschaft lebten, in der einer für den anderen da war. Sei es bei den Feld- und Erntearbeiten, in den Kriegszeiten oder bei der Gestaltung des Dorfes.« Sodann stellt er eine den bisherigen Beispielen vergleichbare Diagnose: »Vieles ist davon in unserer Zeit verlorengegangen. Heute ist man selbständiger und nicht mehr, wie früher, aufeinander angewiesen und so besteht durch die erreichte Unabhängigkeit die Gefahr der Entfremdung.« Nichtsdestoweniger gebe es Hoffnung; die Zukunftsprognose fällt nicht so negativ aus wie in der Harlinger oder der Weiskirchener Chronik: »Mögen die Erinnerungen an die vergangenen Zeiten dazu beitragen, dass die 56 Weiskirchen, S. 5.
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Gemeinschaft der Hasselbacher weiter wächst und jeder Dorfbewohner stolz darauf ist, ein Hasselbacher zu sein«, heißt es stattdessen.57 Es gibt eine ganze Reihe von Ortschroniken, die in der Geschichte ihrer Orte nicht allein den Verlust älterer Gemeinschaftsformen sehen, sondern vielmehr deren Wandel. Die Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen habe eher zu einer Transformation des Gemeinschaftslebens anstelle seiner Auflösung geführt. Auch in diesen Fällen geht es um die Krise der Gemeinschaft im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch ist diese Krise nur eine Episode der Ortsgeschichte, die erfolgreich überwunden werden konnte. Lesen wir hierzu das engagierte Kapitel »Hommage an die Dorfgemeinschaft Ottersberg«, das eine Einwohnerin für die Chronik von Pliening bei München aus dem Jahr 2013 verfasst hat. Der Titel ist Programm: Die Autorin schildert eine harmonische, selbstzufriedene Dorfgemeinschaft, die auf mehreren Grundpfeilern ruhe, vor allem einer ausgeprägten Heimatverbundenheit, einem intakten Kommunikationsnetz, einer starken nachbarschaftlichen Hilfsbereitschaft, einem aktiven Kultur- und Vereinsleben und einer selbstlosen Bereitschaft, Ordnung und Ansehnlichkeit des Dorfes zu erhalten. Zugleich naturalisiert das Kapitel diese Gemeinschaft, indem sie ihre Existenz auf die geographische Abgeschiedenheit des Ortes zurückführt; in dieser Abgeschiedenheit lebe die Gemeinschaft »weitgehend in der Natur, für die Natur und vor allem mit der Natur«. Die Ursprünge der Dorfgemeinschaft liegen der Autorin zufolge in der Vergangenheit; sie hält es für wahrscheinlich, dass sie in ihren Grundzügen bereits seit der ersten Besiedlung des Ortes entstanden sei: »Hier verweise ich auf das Buch von Hans Forchhammer ›1000 Jahre Ottersberg‹, aus dem zu entnehmen ist, dass es auch schon in grauer Vorzeit ein geordnetes, intaktes Dorfleben gegeben haben muss. In der jüngeren Vergangenheit war das bestimmt auch so.« In dieser jüngeren Vergangenheit war das Gemeinschaftsleben allerdings einigen Herausforderungen ausgesetzt, die sie jedoch allesamt erfolgreich gemeistert habe, ohne sich hierbei wesentlich zu verändern. Nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel galt es die zahlreichen Flüchtlinge aufzunehmen, die mit der Zeit reibungslos in die Gemeinschaft integriert worden seien. Eine weitere Herausforderung habe die ›drohende‹ Gebietsreform in der ersten Hälfte der 1970er Jahre dargestellt. Hierzu heißt es: »Hans Loebner, dem klugen und weit vorausschauenden Bürgermeister mit seinen damaligen Ratsherren ist es zu verdanken, dass unser Dörfchen ein Teil der Gemeinde Pliening und damit klein, überschaubar, gemütlich – eben dörflich – geblieben ist. Gegen den sehr hohen Preis, einen großen Teil Ottersberger Flur nach Poing auszugliedern, ging dieser Kelch dann doch an uns vorüber.« Aus dieser Episode sei die Ottersberger Gemeinschaft sogar gestärkt hervorgegangen: »Der Zusam57 Hasselbach, S. 8–9.
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menhalt der Ottersberger wurde durch diese Krise erneut gefestigt.« In der Folge findet der Strukturwandel seinen Widerhall in der Schilderung. Bereits an einigen anderen Stellen hat die Autorin betont, dass die fehlende eigene Infrastruktur (Kirche, Schule, Feuerwehr etc.) dem Erhalt der Gemeinschaft keineswegs abträglich gewesen sei. Doch in den späten 1970er Jahren habe man dann aktiv versucht, dem (in allen ländlichen Orten zu beobachtenden) Funktionsverlust des Dorfzentrums entgegenzuwirken. Hierbei sei der bereits angesprochene Heimatforscher Hans Forchhammer federführend gewesen: »Spricht man von der neuen Dorfgemeinschaft, darf der verdiente Name Hans Forchhammer nicht fehlen. Ihm haben wir es zu verdanken, dass dieser Begriff in unseren Tagen einen neuen Inhalt bekommen hat. In der Zeit, bevor unser Dorf im Jahre 1980 den 1000. Geburtstag feiern konnte, hat er die Ottersberger aufgerüttelt, sie motiviert und sie von seinen Vorstellungen für ein Dorf wie unseres aussehen sollte [sic], überzeugt. So wurde in eifriger Zusammenarbeit der Dorfplatz erneuert.« Auch diese Krise habe die Ottersberger Gemeinschaft letztlich »wieder einmal vorbildlich« überstanden: »Das gesellschaftliche Leben in Ottersberg ist seither förmlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.«58 Das gesamte Kapitel behält diesen ebenso optimistischen wie emphatischen Gestus bei. Trotz aller strukturellen Veränderungen bleibt hier am Fortbestand der Dorfgemeinschaft kein Zweifel offen.
Die Geschichte der Gemeinschaft als Appell an die Gegenwart Nicht immer ist die Geschichte der Dorfgemeinschaft also die Geschichte eines Verlustes; sie lässt sich auch als Geschichte einer überstandenen Krise erzählen. Gemein ist allen Beispielen jedoch, dass die Projektion einer geschlossenen, sich ergänzenden Dorfgemeinschaft in die Vergangenheit immer auch einen (impliziten) Vorbildcharakter für die gegenwärtigen Dorfbewohner hat. Zur Einleitung der Chronik von Emmersweiler im Saarland heißt es: »Es gibt Veranlassung, Rückblick zu halten und sich bewußt zu machen, was Generationen vor uns geleistet haben und was noch zu tun bleibt, um das Leben in dieser Dorfgemeinschaft zu fördern und weiterzuentwickeln.«59 Es handelt sich um eine Aufforderung, auf die man in ähnlicher Form in vielen Ortschroniken trifft. Die Leistungen der historischen Dorfgemeinschaft erfahren hierbei eine zweifache Idealisierung: Einerseits habe die Gemeinschaft als Ganzes viel geleistet für den Fortbestand und die (steigende) Prosperität des Dorfes, andererseits hätten sich ihre Mitglieder füreinander eingesetzt. Beide Aspekte, vermeintlich der Be58 Pliening, S. 145–152. 59 Emmersweiler, Vorwort ohne Paginierung.
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schreibung vergangener Epochen entnommen, erheben Heimatbücher – stillschweigend oder ausdrücklich – zu Normen, die gegenwärtige Geltung beanspruchen. Zu zeigen, was vorangegangene Generationen geleistet haben, stellt gleichsam einen Appell an die Zeitgenossen dar, es ihnen gleichzutun. In der Chronik Garbenheims in Hessen ist zu lesen: »Die wechselvolle Geschichte unserer Gemeinde ist verbunden mit schweren Opfern und großen Leistungen und verpflichtet uns, all derer dankbar zu gedenken, die vor uns lebten und auf einem langen Wege ihre geistigen und körperlichen Kräfte zum Segen der Gemeinde eingesetzt haben.« Der »Gemeinschaftssinn« der Einwohner solle »über alle Zeiten fortleben« und das Dorf von einer zwar schweren, aber erfolgreich gemeisterten Vergangenheit in eine ebenso erfolgreiche Zukunft führen.60 In den meisten Chroniken sind es vor allem Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft sowie Zusammenhalt, die (mehr oder weniger explizit) als grundlegende Werte einer überkommenen Dorfgemeinschaft identifiziert werden. Ihr historischer Erfolg legitimiert dabei den fortgesetzten Geltungsanspruch. Im Geleitwort der Chronik von Spiesen-Elversberg aus dem Jahr 1995 appelliert der Bürgermeister angesichts gegenwärtiger Herausforderungen (Arbeitslosigkeit, Migration, angespannte Finanzlage der Kommunen) daran, überkommene Werte der generationsübergreifenden Dorfgemeinschaft zu (re-)aktivieren: »›Vor Ort‹ sind die Ärmel hochzukrempeln, Ideen und Elan zu entwickeln. Hierbei kann ein Blick in die Geschichte unserer Gemeinde hilfreich sein, wie er in diesem Heimatbuch erfolgt. Die Gemeinde erlebt nicht zum ersten Mal schwierige Zeiten, und wenn man unsere heutige Situation mit solchen der Vergangenheit vergleicht, so erkennt man leicht, daß noch lange kein Grund zur Klage besteht. Spiesen hat die totale Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg überstanden, es ist durch die Zeit der Französischen Revolution und der folgenden ersten Franzosenzeit gegangen. […] Was geschehen mußte, geschah in gemeinsamer Anstrengung. […] Genauso werden wir uns den Herausforderungen der heutigen Zeit gemeinsam stellen und Lösungen finden.«61 Im Mittelpunkt steht das Konstrukt einer Dorfgemeinschaft, die alle Generationen des Ortes – von seiner Gründung bis zur Gegenwart – übergreift, die durch ihren überzeitlichen »Gemeinschaftssinn« geprägt ist und deren Bewältigung vergangener Schwierigkeiten als Ansporn für die Gegenwart dient. Dieses Beispiel zeigt außerdem, dass der normative Charakter der Dorfgemeinschaft eine gewisse Duldsamkeit beinhaltet, also die Bereitschaft ihrer Mitglieder, punktuelle Belastungsproben und schwierige Phasen zu überstehen. Der langjährige Einwohner und Dorflehrer von Trudering hat den Doppelcharakter von Leistungsbereitschaft und Duldsamkeit in seiner 1972 erschienenen Chronik auf den 60 Garbenheim, S. 7–8. Vgl. auch Sorghof, S. 5. 61 Spiesen-Elversberg, Geleitwort ohne Paginierung.
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Punkt gebracht. Was er mit seinem Buch im Blick auf die Dorfgemeinschaft zeigen wollte, war zweierlei: »Kulturelle Leistungen der Gemeinschaft, gemeinsam ertragenes Schicksal in Kriegen, bei Seuchen und Unbilden der Witterung«.62 Die historisch-normative Beschreibung der Dorfgemeinschaft fordert ihre Mitglieder sowohl auf sich einzubringen als auch (äußere) Belastungen zu überstehen.
Die Ruhmeshalle der Dorfgemeinschaft Zum einen beschreiben Ortschroniken die (historische) Dorfgemeinschaft im Ganzen als Vorbild, zum anderen heben sie einzelne, beispielhafte Mitglieder dieser Gemeinschaft hervor, die sich in besonderer Weise um sie verdient gemacht haben. Heimatbücher weisen dadurch Züge einer »Ruhmeshalle« der Dorfgemeinschaft auf, wobei die gewürdigten, individuellen Beiträge zum Gemeinschaftsleben oftmals ganz alltäglicher, banaler Natur sind. Derartige Würdigungen sind im Regelfall über die gesamte Chronik verstreut, gelegentlich erfolgen sie allerdings auch gebündelt in einem eigenen Kapitel. Werfen wir einen Blick in den Abschnitt »Vom Lebenswerk einiger verdienstvoller Einwohner« im Heimatbuch des thüringischen Ortes Schnepfenthal-Rödichen. Die Autoren stellen in diesem Kapitel insgesamt neunzehn Einwohner vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart mit kurzen biografischen Skizzen zwischen einem Absatz und mehreren Seiten Länge vor ; nach Möglichkeit fügen sie fotografische Abbildungen der jeweiligen Person hinzu. Der anerkennende Charakter der Berücksichtigung in dieser Liste ist eindeutig; in den einleitenden Worten liest man: »In diesem Kapitel erinnern wir an einige Vertreter unseres Ortes, die mit ihren persönlichen Leistungen zum Wohle und guten Ansehen unseres Heimatortes beigetragen haben.«63 Die Zusammenstellung der neunzehn Frauen und Männer fällt sehr divers aus; neben bekannten, auch gesellschaftlich ausgezeichneten Schriftstellern und Heimatforschern beispielsweise stehen Stifter öffentlicher Einrichtungen und Sportler. Nicht zuletzt finden sich einige Handwerker, die zu verschiedenen Zeiten essentielle Leistungen für das Funktionieren des Dorflebens geleistet haben, unter den »Verdienstvollen«, so zum Beispiel der erste Bäcker im Ort oder eine Hebamme. Über den Schmied 62 Trudering, S. 6. 63 Es folgt ein Hinweis auf die notwendige Selektivität der Auswahl, die keineswegs einen exklusiven Charakter haben soll: »Wir sind uns dabei bewusst, dass unsere Wahl nicht vollständig ist und auch nicht sein kann. Sicher hat es im Verlaufe der Geschichte unseres Ortes noch andere Personen gegeben (z. B. Bürgermeister, Leiter von Vereinen und Organisationen), die, soweit wir sie nicht schon im Text erwähnt haben, es verdient haben, hier mit genannt zu werden.«
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Paul Schönau heißt es exemplarisch: »Nach Kriegsende 1945 wurden von allen landwirtschaftlichen Betrieben auf Grund des Ablieferungssolls schier unmögliche Leistungen verlangt. Alle Kleinbauern waren dadurch genötigt, ihre Milchkühe auch als Zugtiere vor den Wagen zu spannen und mit ihnen die Felder zu bearbeiten. Weil aber unsere Feldwege sehr steinig sind, mussten die Hufe der Kühe und Zugochsen mit Eisen beschlagen werden. Da der Schmied Walter Schuchardt im Krieg gefallen war, fehlte eine Schmiede im Dorf. Es war Paul Schönau, der hier Abhilfe schaffte. Er hatte in der elterlichen Schmiede in Ernstroda das Schmiedehandwerk erlernt und arbeitete in Waltershausen in einem Betrieb als Schmied.« Mit improvisatorischem Talent habe sich Schönau in der Folge die notwendigen Arbeitsmittel und Rohstoffe verschafft. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist die Würdigung der heutzutage angeblich nur noch schwer nachvollziehbaren Opferbereitschaft des neuen Schmieds für seine dringend benötigte Dienstleistung: »Die Nachwelt wird wohl kaum verstehen können, dass Paul Schönau diese Schmiedearbeiten in seiner Freizeit ausführte und gleichzeitig eine kleine Landwirtschaft mit zwei Kühen unterhielt. Für ihn war vom Frühjahr bis zum Herbst jeder Sonntag ein Arbeitstag, an dem sich erst bei Einbruch der Dunkelheit der Feierabend anschloss.« Ein weiteres Beispiel bietet der Tischler Erich Anschütz, der sich zeitlebens in ganz unterschiedlicher Weise für die Dorfgemeinschaft engagiert habe: »Erich Anschütz gehört zu jenen Einwohnern, die für unseren Ort unentgeltlich bedeutsame gesellschaftliche Leistungen vollbracht haben. Wir finden ihn in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Mitwirkenden oder Organisator verschiedener Veranstaltungen ebenso wie später als Mitglied des Gesangsvereins oder der Sanitätskolonne. Nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als Sanitätssoldat tätig war, widmete er sich mit ganzer Kraft dem Wiederaufbau seines Wohnortes SchnepfenthalRödichen. Wenn es darum ging, freiwillige Arbeit für den Ort zu leisten, wie z. B. bei den Schaftarbeiten zur Kanalisation, war er fast immer mit großem Engagement dabei.«64 Ortschroniken sind ein bevorzugter Ort, um das Engagement für die Dorfgemeinschaft (in Vergangenheit und Gegenwart) zu würdigen. Sie liefern zum einen individuelle historische Beispiele, die als verallgemeinerbare normative Orientierungspunkte dienen – als Vorbilder für gegenwärtige und zukünftige Generationen. Zum anderen verschafft diese Auswahl herausragender Persönlichkeiten der Ortsgeschichte den entsprechenden Familien einen gewissen Nimbus; sie zeichnet indirekt auch die Nachfahren aus. Damit fungieren Chroniken zugleich als eine Art Leitfaden zur Orientierung innerhalb der ge-
64 Schnepfenthal-Rödichen, S. 394–417.
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genwärtigen Sozialstruktur des Ortes – mit ihren historisch gewachsenen Befindlichkeiten, Hierarchien, Identitäten. Doch dazu mehr im folgenden Kapitel.
Die soziale Transparenz des Dorfes Das Heimatlexikon Im Jahr 1964 erschien eine Chronik des Ortes Brünnighausen im Landkreis Hameln-Pyrmont, die eine ganz typische »Häuserchronik« enthält. Auf etwa 150 Seiten, der Hälfte des gesamten Buchumfangs, findet sich eine Auflistung aller Gebäude des Ortes. Jeder Hof, jedes Haus und jede öffentliche Einrichtung hat hierbei ein eigenes Porträt bekommen, indem die Autoren es auf einer oder mehreren Fotografien abgebildet, gelegentlich weiteres grafisches Material wie Grundrisse hinzugefügt und, falls vorhanden, Auszüge aus Archivalien, in denen das entsprechende Gebäude erwähnt wird, abgedruckt haben. Stets ist eine möglichst vollständige »Reihenfolge der Besitzer« angegeben, von der Gegenwart bis zum ersten belegten Inhaber zurückreichend. Neben den Namen der Besitzer enthält die Chronik deren Lebensdaten, die Namen der Ehepartner und Kinder und in vielen Fällen auch den Berufsstand.65 Wie bereits erwähnt stellen derartige Haus- und Hoflisten einen zentralen Bestandteil vieler Ortschroniken und Heimatbücher dar. Als weiteres Beispiel mag die Chronik des niedersächsischen Ortes Dorfmark aus dem Jahr 1994 genügen. Das Buch enthält ebenfalls eine sehr ausführliche Liste der Gebäude des Ortes, auf deutlich über 200 Seiten. Sie ist nach Hausnummern geordnet und liefert zu jedem einzelnen Gebäude Kurzbiografien der Besitzer oder einen anderweitigen Kommentar zur Besitzabfolge. Neben gelegentlichen fotografischen Abbildungen haben die Autoren auch hier zu älteren Höfen Archivalien hinzugefügt, wenn immer solche vorlagen, die meist – ohne Rücksicht auf die Relevanz des Inhalts – vollständig im Wortlaut wiedergegeben worden sind.66 Im Prinzip macht die Dorfmarker Chronik für jedes Gebäude nachvollziehbar, wie alt es ist, welche Herkunft und welchen (Berufs-)Stand die ehemaligen und gegenwärtigen Besitzer hatten und haben, auch wie viele Personen darin wohnten und in welcher Beziehung sie zueinander standen. Damit liefert die Liste gewissermaßen ein Abbild der Sozialstruktur des Ortes. Diese Struktur erfährt dabei zugleich eine räumliche Fixierung, indem alle Angaben an die genaue Verortung über die Adressen der Häuser gekoppelt sind. Die zusätzlichen Fotografien, die vor allem die Brün65 Brünnighausen, S. 61–218. 66 Dorfmark, S. 169–422.
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nighausener Chronik durchgehend bereitstellt, suggerieren zudem eine gewisse Sichtbarkeit bzw. Handgreiflichkeit des sozialen Gefüges. Die Leitthese dieses Kapitels lautet, dass Heimatbücher im Allgemeinen einen Versuch darstellen, die Lebenswelt ihrer Leser in räumlicher und sozialer Hinsicht transparent zu machen. Sie erstellen sozusagen eine gleichzeitige Gesamtund Detailschau eines geschlossenen sozialen Kosmos. Genau daran ist zu denken, wenn der Vorsitzende des Ortsbürgervereins Westerloy der Chronik des Ortes den Wunsch voranstellt, sie möge »unsere Heimat durchschaubarer und somit erfahrbarer« machen.67 In der Ortschronik von Klarenthal aus dem Jahr 1962 findet sich eine sehr ähnliche Hoffnung, die zudem von der »Fassbarkeit« der Dorfgemeinschaft spricht. In etwas pathetischerem Tonfall heißt es dort: »Damit sie jedoch ihre Mission, Heimat und Nährboden für ihre Mitglieder zu sein, erfüllen kann, muß die Dorfgemeinschaft übersichtlich, dem Durchschnittsbürger erfaßbar und durchschaubar bleiben.«68 Damit Chroniken dies leisten können, tragen sie – zumindest streckenweise – die Züge eines Heimatführers oder auch »Heimatlexikons«, wie es der Autor der Gevelsberger Chronik in den 1950er Jahren nennt: »Möge das beigefügte umfangreiche Inhalts-, Bild-, Orts-, Personen- und Sachregister das Buch zum willkommenen Heimatlexikon werden lassen.«69 Die Aussage bezieht sich vor allem auf einen umfangreichen Anhang, den der Autor der Chronik hinzugefügt hat und der den gerade vorgestellten Übersichten über Brünnighausen und Dorfmark ähnelt, aber auch darüber hinausgeht. Zum einen enthält der Anhang ein ausführliches Verzeichnis, das zahlreiche Einwohner und Gebäude des Ortes aufführt. Die Chronik nimmt hier ganz deutlich den Charakter eines Nachschlagewerks an, in dem der Leser sich über die verfügbaren, geschichtlichen Daten und Informationen zu seinen Mitbürgern und ihren Wohnhäusern informieren kann. Zum anderen bietet der Anhang eine »Gevelsberger Industriechronik«. Hier sind die Gründungsjahre aller im Ort ansässigen Fabriken, Betriebe und Unternehmen in einer Zeittafel aufgeführt, bei neueren Einträgen ab dem späten 19. Jahrhundert mit Adressen. Darüber hinaus sind einige weitere Listen enthalten, zum Beispiel zu Vereinen und Kriegstoten. In ihrer Gesamtheit tragen diese Listen dazu bei, den Ort in vielfältiger Weise zu katalogisieren und die Chronik zu einem 67 Westerloy, S. 5. 68 Klarenthal, S. 77. 69 Gevelsberg, S. 8. Vgl. auch die Begrifflichkeit »Nachschlagewerk« in der Paintener Chronik: »Erstmalig wird ein Gesamtwerk über und für unsere Heimat aufgelegt, das in allen Haushalten nicht nur als ›Buch‹, sondern auch als Nachschlagewerk über unsere Vorfahren stehen sollte« (Painten, S. 5). Einen besonderen Fall stellt die Chronik der Gemeinde Cramonshagen dar, bei der auf der Front- und Rückseite des Einbandes knapp 80 Porträtfotografien von Einwohnern zu zwei großen Mosaiken zusammengestellt worden sind. Am Ende des Buches findet sich eine vollständige Namensliste zu allen abgebildeten Personen, gewissermaßen ein Who-is-who des Ortes.
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räumlich begrenzten, dafür aber vollständigen »Heimatlexikon« zu machen. Alltägliche Kontakte, Arbeits- und Lebensstätten können nachgeschlagen und historisch wie sozial eingeordnet werden. Dies erachtete der Autor vor dem Hintergrund einer zunehmend »schnellebigen« Veränderung des Ortsbildes in der Gegenwart für besonders wichtig; angesichts wachsender Komplexität bleibt die Dorfgemeinschaft ›handhabbar‹.70
Die Kartierung der Gemeinschaft Bereits im vorangegangenen Kapitel zur Dorfgemeinschaft haben wir festgehalten, dass die Ortschronik Züge einer Ruhmeshalle verdienstvoller Dorfbewohner aufweist. Dieser Aspekt ist direkt mit der Steigerung der sozialen und räumlichen Transparenz des Ortes verknüpft. Schauen wir uns dazu ein Kapitel der Chronik des saarländischen Ortes Asweiler an, das beides miteinander verbindet: eine Gebäude- und Einwohnerübersicht mit einer Leistungsschau. Diese Kombination führt nicht nur zur Identifikation historisch besonders verdienter Familien, sondern auch zu ihrer Eintragung in die soziale Karte des Ortes. Die Häuserchronik der Asweiler Chronik liefert Angaben zum Baujahr, zu Erweiterungen und Umbauten sowie Farbfotografien der Gebäude; sie nennt die Bewohner, nach Möglichkeit mit Ehestands- und Lebensdaten und, wenn vorhanden – zu Beginn des Buches dankt die Autorin denjenigen Hausbesitzern, die auskunftsbereit waren –, schließt sich eine ausformulierte Familiengeschichte an. In diesen Beschreibungen geht es zugleich um den (beruflichen) Status in der Dorfgemeinschaft und den spezifischen Beitrag zu dieser auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft basierenden, imaginären Gemeinschaft. Betrachten wir einen exemplarischen Eintrag: Zum Haus »Hankels – Pfalzstraße 9« schreibt die Autorin: »Dieses Haus wurde 1905 von den Eheleuten Julius und Karoline Weber eigenhändig erbaut. Das Ehepaar bekam 8 Kinder und lebte von einer kleinen Landwirtschaft und vom Maurerhandwerk, das Julius erlernt hatte. In Asweiler und den umliegenden Orten ist Julius bekannt und stets behilflich beim Häuserbau. Auch bei seinen Söhnen Julius und Rudolf, die später neben dem Elternhaus eigene Häuser bauten, konnte der Vater mit dem Maurerberuf gute Dienste leisten. Das eigene Haus, anfangs einstöckig gebaut, wurde später, als die Familie größer wurde und mehr Wohnraum brauchte, um ein Stockwerk erhöht. Doch der Unterbau war nicht stabil genug und das obere Stockwerk musste wieder abgetragen werden. Dieses Haus bot 3 Generationen Obdach und Heimat. Die 4. Generation, Christoph und Christine Decker, hat dieses Haus geerbt, hat es jetzt vermietet und hat sich am Birkenweg ein neues Haus gebaut. Julius Weber 70 Gevelsberg, S. 7, 315–331.
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entstammt der Familie Weber am Hellenberg. Dies war ebenfalls eine kinderreiche Familie, mit außergewöhnlichen handwerklichen Fähigkeiten.« Diese Passage verknüpft mehrere Stränge miteinander : Erstens liefert sie eine möglichst vollständige Übersicht über die Familiengeschichte der Bewohner, bei der kaum eine Angabe als zu unbedeutend erscheint. Zweitens wird die Geschichte des heutigen Erscheinungsbilds des Gebäudes sowie seiner Nutzung erläutert. Und drittens sind Hinweise auf spezifische Beiträge der Bewohner für die Gemeinschaft (»stets behilflich beim Häuserbau«, »außergewöhnliche handwerkliche Fähigkeiten«) enthalten. Für die Nachfahren ist es hierbei nicht unerheblich, wenn sie herausragende bzw. besonders selbstlose Vorfahren in ihrer Familie aufweisen können. Dazu ein weiteres Beispiel: Über den ehemaligen Dorflehrer Jakob Richert (»Schul’Jockobb«) schreibt die Autorin der Asweiler Chronik: »In der Zeit um 1900 gab er Unterricht in der Schule Asweiler und so kam es, dass er sich am damaligen Kühweg ein Haus baute. Es wurde ein großes stattliches Bauernhaus mit Stall und Scheune, alles unter einer Dachführung: ein ›Südwestdeutsches Bauernhaus‹.« Soweit die räumliche Verortung (das Haus steht noch heute). Es folgt die soziale Verortung in der Dorfgemeinschaft: »Der Lehrer Jakob Richert wäre ein strenger, gewissenhafter Lehrer gewesen, den nicht alle Kinder gern hatten. Was aber Bildung und Erziehung der Kinder bedeutete, so hat er im Dorf viel Gutes geleistet.« Auch habe er Kredite an die Dorfbevölkerung vergeben, was ihm »Ansehen seiner Person« eingebracht habe. Neben weiteren biografischen Einzelheiten liefert die Chronik auch eine Anekdote zu Richert: Er habe das erste Automobil des Ortes besessen. Zuletzt habe die Familie der Tochter der Großnichte des kinderlosen Lehrers dessen Erbe angetreten: »Sie sind die heutigen, stolzen Besitzer, die mit viel Liebe und Eigenleistung dieses Erbe in seinem Charakter erhalten.« Gemeint ist vor allem das von Richert errichtete Bauernhaus.71 An dieser Formulierung sieht man zugleich, wie die historische Tiefe, mit der eine ansässige Familie ausgestattet wird, nicht nur eine Würdigung bedeutet, sondern auch verpflichtet (»das Erbe in seinem Charakter zu erhalten«). Abermals zeigt sich der ambivalente, deskriptiv/normative Charakter von Ortschroniken. Die geschichtliche Herkunft verpflichtet die Nachfahren implizit zu fortgesetzter Leistungsbereitschaft für die Dorfgemeinschaft; in diesem Fall beispielsweise: zur Pflege des historischen Gebäudes und der Erhaltung eines ansehnlichen Dorfbildes.
71 Asweiler, S. 23–29.
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Originale Wie im letzten Beispiel gesehen tauchte der einstige Dorflehrer Asweilers in Erzählungen auch unter einem mundartlichen Spitznamen auf (»Schul’Jockobb«). Dies verweist auf ein typisches Muster in Ortschroniken, das sich als Erinnerung an dörfliche »Originale« beschreiben lässt. In der Regel handelt es sich hierbei um ehemalige Dorfbewohner, die unter einem – meist sprechenden – Scherznamen bekannt waren bzw. sind; in Erzählungen wird ihre Identität auf wenige außerordentliche Eigenschaften und Handlungen reduziert. Solche Originale tauchen häufig in autobiografischen Erinnerungen älterer Einwohner auf und sind dabei so gut wie immer mit vergangenen Zeiten assoziiert. Sie sind ein besonders plastischer – oder figurativer – Ausdruck der Chronik-Sehnsucht nach räumlichsozialer Identifizierbarkeit, gewährleisten sie doch eine eindeutige Wiedererkennbarkeit. Schauen wir uns ein paar solcher Porträts etwas genauer an: Der ehemalige Bürgermeister des niedersächsischen Katlenburg, Bruno Lienemann, hat zu der 1989 erschienen Chronik des Orts einige Jugenderinnerungen beigesteuert. Darin geht es um die fünf »Katlenburger Originale« mit den Namen »Pötte«, »Patchen«, »Bismarck«, »Der Böse« und »Garde-Wienert«. »Bismarck« beispielsweise sei der Wirt im örtlichen Gasthaus gewesen und ob »seiner Ähnlichkeit mit dem alten Kanzler und seines Wesens« habe er »von allen Veteranen seinen Spitznamen« erhalten. »Patchen« sei vor allem dadurch in Erinnerung geblieben, dass er das erste »keilriemenangetriebene Motorrad« besaß. Er habe zudem »als erster Halbschuhe und lila Socken« getragen. »Pötte« hingegen ist eine Figur, die auf einen ortsansässigen Händler zurückgehen soll, der hauptsächlich Schüsseln und Töpfe verkauft und diese lautstark angepriesen habe. Wie die anderen Figuren ist auch er durch wenige biografische Angaben – meist der Beruf – und sehr wenige, aber auffällige Eigenheiten gekennzeichnet. In diesen Kurzcharakterisierungen verschmilzt die räumliche Verortung (Bindung an eine bestimmte Arbeits- und Wohnstätte) mit einer bestimmten beruflichen oder gemeinschaftsdienlichen Aufgabe (zum Beispiel der Verkauf von Haushaltswaren) und einem auffallenden Erscheinungsbild oder Habitus (über »Pötte« heißt es, er »rief vom Kutscherbock aus: ›Leute kauft Pötte, Näppe, Wettsteine und Kruken‹ […] natürlich auf Plattdeutsch«). Die zitierten Beispiele sind auch in der Hinsicht typisch, dass sie nicht mit konkreten Jahreszahlen oder gar Quellenangaben ausgestattet sind. Sie stehen vielmehr beispielhaft für eine untergegangene Epoche der Originale, eine Epoche der vorgeblichen Überschaubarkeit der dörflich-sozialen Verhältnisse. Sie kondensieren Herkunft, konkreten Lebens- und Arbeitsort sowie körperliches und charakterliches Erscheinungsbild in besonders prägnanter Weise. Die so konstruierten Charaktere stehen stets in einem (impliziten)
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Kontrast zur weniger überschaubaren, an Kontur verlierenden gegenwärtigen Dorfgemeinschaft.72 In diesem Zusammenhang stehen beispielsweise auch besondere, meist mundartlich geprägte Gebäudenamen, unter denen ältere Häuser und Höfe in den Dörfern bekannt waren (und sind). Das Heimatbuch des oberbayerischen Mauggen aus dem Jahr 2003 enthält in seinem Hauptteil eine umfassende »Häuser- und Familienchronik«. Zu jedem Eintrag ist eine Überschrift beigefügt worden wie zum Beispiel: »Beim ›Rau‹ in Mauggen«. Zusätzlich zu den Hausnummern, die auf einen älteren sowie einen aktuellen Ortsplan rekurrieren, findet sich sodann auch noch ein »Hausname« (in diesem Fall: »Rauch«).73 Weitere Beispiele sind »Beim ›Oimer‹ in Mauggen« (Hausname »Altmann«), »Beim ›Graben‹ in Mauggen« (Hausname »Viechter im Graben«) oder »Beim ›Pauker‹ in Mauggen«. Wie die Tradierung von Dorf-Originalen und ihren sprechenden Namen so erinnern auch die Hausnamen der Mauggener Chronik an eine ›Epoche der Übersichtlichkeit‹. Zugleich liefern sie nachfolgenden Generationen und Zugezogenen ein Verzeichnis der Spuren dieser Epoche, die sie aufgrund ihrer fehlenden Einbindung in den einstigen Überlieferungszusammenhang nicht kennen oder nicht zu entziffern vermögen.
Der Ort der Kindheit Bleiben wir bei dem Bild einer vergangenen Übersichtlichkeit, die der vergleichsweise unübersichtlichen Gegenwart als eine Art Schablone unterlegt wird, und betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt das Vachaer Heimatbuch aus dem Jahr 2010, genauer : das Kapitel »Vachaer Geschäftsleute und Dienstleister in den 30ern« (gemeint sind die 1930er Jahre). Auf knapp zehn dicht bedruckten Seiten liefert der Autor hier ein autobiografisches Panorama des Heimatortes seiner Kindheit. Der Text liefert Einblicke in die Infrastruktur des Ortes in einer vergangenen Epoche, die sich zu einem mehr oder weniger vollständigen Überblick zusammenfügen. Dabei baut der Autor verschiedene Informationen zur Versorgungslage sowie zu handwerklichen Techniken und Bräuchen in seine Erzählungen ein. Wie die Einleitung des Abschnitts ankündigt 72 Katlenburg, S. 99–111. Vgl. für weitere Beispiele die Kapitel »Dorforiginale und Bräuche« und »Dorforiginale, die der Vergangenheit angehören« in der Chronik des sächsischen Kleinbobritzsch, S. 102–103, und Mittweida, S. 247–248. 73 Mauggen, S. 168. Dazwischen listet das Buch auch Neubauten, aus den 1970er Jahren beispielsweise, auf, die keine entsprechenden Namen vorweisen können; sie werden nur unter einer Nummer geführt. Des Weiteren enthält die Liste ausführliche Angaben zur Erb- bzw. Besitzerabfolge, zu Verwandtschaftsverhältnissen und zu Erwähnungen in älteren Dokumenten, in vielen Fällen über mehrere Seiten.
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Ortschroniken als Genre II – Historiografische Perspektiven
ist der Bericht subjektiv gefärbt: »Dieses Kapitel ließe sich, wie andere auch, in einem nüchtern-sachlichen Aufsatz abhandeln. Aber der Chronist meint, er solle den Gegenstand anders anpacken, persönlicher als Schilderung eines alt gewordenen Vachaers, der sich daran erinnert, was er erlebt hat und wie er gedacht hat, als er noch ein Schuljunge war.« Die Darstellung ist folglich gespickt mit zahlreichen alltäglichen Erlebnissen und Anekdoten sowie vielfältigen Sinneseindrücken, beispielsweise typischen Gerüchen und Geräuschen bestimmter Läden und Betriebe oder dem Geschmack besonderer Produkte.74 Auch verbindet der Autor die Beschreibung verschiedener Dienstleister mit typischen Routinen, wie zum Beispiel das »aufs Pferdchen steigen« beim Friseur. In einigen Fällen würdigt er die Tradition des jeweiligen Betriebs. Es heißt beispielweise: »Bei den Friseuren, von denen es in der Stadt nicht wenige tüchtige gab, hielten wir uns an das ›Haarpflegehaus Franz Spieß‹. Das Haus Spieß hatte Tradition – noch dreiundzwanzig Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner 1945 sollte es sein 125jähriges Bestehen feiern.« Oder an anderer Stelle: »Das älteste Geschäft am Platz war allerdings das des Karl Rübsam, das bestand schon seit 1851 und war in dritter Generation in Familienhand.« Insgesamt entsteht der Eindruck einer Lebenswelt, in der Tradition und Beständigkeit eine größere Rolle spielten. Auch scheint die Verflechtung beruflicher Dienstleistungen, ehrenamtlicher Gemeinschaftstätigkeiten und der Stellung in der Dorfgemeinschaft viel enger gewesen zu sein. Betrachten wir das Beispiel des Schlossers: »Sehr oft sah ich dort den für unsere Stadt so wichtigen schnurrbärtigen Schlossermeister Gustav Becker, eine wirkliche Respektsperson. Er hatte bereits das 50jährige Geschäftsjubiläum feiern dürfen und war immer noch rüstig. In seiner Werkstatt mit dem gewaltigen Blasebalg über dem Schmiedefeuer war ich schon oft gewesen, mein Vater nahm gern für allerlei praktische Dinge seine Hilfe in Anspruch, der Schlosser Becker reparierte sogar die Fahrräder der Eltern, in den besten Zeiten hatten Vater und Sohn Otto Autoreparaturen ausgeführt und Zentralheizungen gebaut. Gustav Beckers Bedeutung beruhte aber, neben seinem verantwortungsvollen Wirken in der Freiwilligen Feuerwehr, auf dem von ihm innegehabten hochwichtigen Amt des städtischen Rohr- oder Wassermeister.«75 74 Vgl. nur : »Wenn ich dem geschätzten Leser mitteile, dass der Geschmack des Reidtschen Sprudels Ähnlichkeit mit der uns heute geläufigen ›Sprite‹ hatte, begehe ich einen unverzeihlichen Fehler, denn fest steht – so einen herrlichen Sprudel wie den von Reidts habe ich im ganzen Leben später nicht noch einmal zu trinken bekommen. Meine Extraflasche trank ich immer gleich in der Tordurchfahrt.« Oder : »Das Kolonialwarengeschäft von ehemals Heinrich Loeber, jetzt von der resoluten Witwe des Bernhard Becker geführt – es lag der evangelischen Kirche gegenüber an der Marktecke – bestand schon seit 1865 und hatte noch Einrichtung und Flair des vergangenen Jahrhunderts. Eine Ladenglocke schepperte, der Verkaufsraum war niedrig und dunkel, die Holzdielen knarrten…« 75 Vacha, S. 524–533.
Die soziale Transparenz des Dorfes
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Alles in allem liefert das Kapitel eine Topografie des Ortes, die zugleich eine Landkarte emotionaler Bindungen an die erwähnten Orte sowie eine Landkarte einzigartiger, kaum austauschbarer individueller Personen und Gewerbe darstellt. In dieser Hinsicht fungieren die autobiografischen Kindheitserinnerungen als prototypische Skizze einer geordneten, überschaubaren Lebenswelt, die die Versorgung aller Bedürfnisse sicherstellte. In einer Randbemerkung kontrastiert der Autor seine Ausführungen ausdrücklich mit der Gegenwart: »Wer heutzutage als Kind schon von den Eltern im Einkaufswagen sitzend an den übervollen Regalen von Aldi, Lidl, Plus, Rewe vorbeigeschoben wurde: Wie soll er sich die Einkaufs- und Versorgungsbedingungen der Kindheit seines Vaters oder Großvaters vorstellen können? Was es gab, was es kostete, was man sich davon leisten konnte?«76 Die Markennamen suggerieren Beliebigkeit und einen Verlust an Individualität. Darüber hinaus legen die »übervollen Regale« in dieser Gegenüberstellung einen Verlust an Eindeutigkeit, oder besser : eindeutigen Orientierungspunkten nahe. Vergleichbare Erinnerungsberichte, wenngleich meist kürzer und ausschnitthafter, nehmen einen zentralen Stellenwert in vielen Chroniken ein. Stets vermitteln sie das Bild einer räumlich-sozialen Transparenz. Wie im Fall der Dorf-Originale tragen sie freilich kaum zur Steigerung dieser Transparenz in der gegenwärtigen Lebenswelt des Ortes bei. Eher evozieren sie die Kontrastfolie einer einstmals bestehenden Übersichtlichkeit, die vermeintliche Mängel der Gegenwart aufscheinen lässt.
76 Ebd., S. 530. Vgl. zu einer identischen Gegenüberstellung – lebendiger, überschaubarer Ort der Kindheit versus entfremdete, beliebige Gegenwart – den Erinnerungsbericht in: Bobbin, S. 15, 152–157 und passim.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken
Einleitung Ortschroniken und Heimatbücher aller Regionen weisen ein sehr ähnliches, gleichzeitig sehr selektives Themenspektrum im Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs auf. Dieses Spektrum hat sich in seinen Grundzügen bereits im Laufe der 1950er und 1960er Jahre, dem Beginn meines Untersuchungszeitraums, etabliert und seitdem nur graduell verändert bzw. erweitert. Die Darstellung dieser damals jüngst, heute länger vergangenen Epoche fiel und fällt erstaunlich einheitlich in Heimatbüchern verschiedener Jahrzehnte aus. Zwar lässt sich kein fester Kanon an Themen und Interpretationen bestimmen, doch sind die Überschneidungen augenfällig, auch wenn im Einzelfall dieser oder jener Punkt fehlt, dafür andere, eher unübliche Fragen behandelt werden oder die Reihenfolge variiert. Ebenso wechselhaft fällt die Quantität der Ausführungen von Buch zu Buch aus, doch hierzu mehr im folgenden Abschnitt zu »Ortschroniken zwischen Kontinuität und Wandel«. Dort ist auch der geeignete Ort, größere Verschiebungen des typischen Themenspektrums im Laufe der letzten Jahrzehnte zu diskutieren. Der Schwerpunkt liegt in aller Regel auf Kriegs- und Nachkriegszeit, nicht selten wird die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Abfolge der beiden Weltkriege reduziert. Der Weimarer Republik kommt hingegen kaum Eigenständigkeit als Epoche zu. Kommt sie vor, so stehen die Themen Versailler Vertrags, als Chiffre für Gebietsabtretungen und erdrückende Reparationsforderungen, Inflation, Anstieg der Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise sowie die Zersplitterung der politischen (Parteien-)Landschaft im Mittelpunkt. Im Kontext der »Machtergreifung« dominieren die tabellarische Dokumentation von Wahlergebnissen und die personelle Umbesetzung der Gemeinderäte. Die Darstellung der nationalsozialistischen Vorkriegsjahre wird von einer lebensstandardlichen Perspektive bestimmt, die die Stabilisierung der (land-)wirtschaftlichen Lage fokussiert. Oft kommt die infrastrukturelle Modernisierung des Ortes als prominenteres Themenfeld hinzu. Der Lebensstandard bestimmt
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Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken
auch die Behandlung der Kriegsjahre: Zentrale Stichworte sind Rationierungen und Arbeitskräftemangel; gelegentlich wird die Aufnahme von Fremdarbeitern erwähnt. Breiten Raum nehmen meist der Luftkrieg sowie die Aufnahme von Ausgebombten aus den Städten ein. Gleiches gilt für den Gefallenenkult, meist in Form der Wiedergabe vollständiger Gefallenenlisten und Abbildungen oder Beschreibungen der örtlichen Ehrenmale. Zum Kriegsende und der Nachkriegszeit stehen Thematiken, die ›eigene Opfer‹ betreffen, im Vordergrund. Dazu zählen (drohende) Kampfhandlungen im Zuge des Einmarschs alliierter Truppen sowie die Willkür der Besatzungsmächte. Im Zusammenhang mit der Besatzungszeit sind zudem eher technische Verwaltungsfragen bestimmend. Die befreiten und nun ›marodierenden‹ Zwangsarbeiter spielen gelegentlich eine Rolle. Fast immer wird hingegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten behandelt, oft in Form von Listen und unter dem Primat von Versorgungs- und Unterbringungsproblemen. Es schließt sich die Währungsreform 1948 als wichtiger Einschnitt an. In der Folge rückt die Reparatur, Wiedererrichtung und Sanierung von privaten und öffentlichen Gebäuden, der »Wiederaufbau«, ins Zentrum. Die Verbesserung der Verkehrswege sowie die Maschinisierung der Landwirtschaft und weitere Modernisierungen des Arbeits- und Alltagslebens stellen die bestimmenden Themen bei der Behandlung der ersten Nachkriegsjahrzehnte dar. Diese kurze Übersicht deutet es bereits an: Der Leser trifft nicht allein auf den Wechsel von Themenschwerpunkten, sondern zugleich auf parallele, aber in aller Regel stillschweigende Wechsel der Perspektivierung. Für bestimmte Zeitabschnitte steht beispielsweise der Lebensstandard im Mittelpunkt, für andere ›Opferthemen‹ oder vollständige, namentliche Auflistungen, für wieder andere Abschnitte sind verwaltungsrechtliche und technische Themen bestimmend. Diese Übersicht erhebt wie gesagt keinen kanonischen Anspruch im strengen Sinne. Auch ist die auffällige, thematische Ähnlichkeit aller Chroniken im Blick auf die Geschichte des »Dritten Reichs« nicht das Entscheidende. Hier überschneiden sich Ortschroniken zudem zu weiten Teilen mit anderen Formen der Erinnerungskultur. In unserem Zusammenhang zentral ist die Dominanz typischer Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Darstellungsmuster, die Heimatbücher beim Umgang mit diesem Geschichtsabschnitt an den Tag legen. Deshalb werde ich zu Beginn dieses Abschnitts in den beiden folgenden Kapiteln das zentrale Organisationsprinzip der Chronik-Historiografie (die »Trennung von Dorf und Umwelt«) erläutern. Als Leitmotiv wird es auch in den folgenden Kapiteln immer wieder auftauchen, die allerdings engere thematische Bezüge aufweisen. Neben typischen Periodisierungsmustern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht es hier um die Mitgliedschaft in NS-Organisationen und
Die Trennung von Dorf und Umwelt
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etwaige Regimeopposition sowie die Themenbereiche Besatzungszeit, Flucht und Vertreibung und Kriegergedenken.
Die Trennung von Dorf und Umwelt Die Korrelation geografischer und historischer Abgeschiedenheit Im Jahr 1963 veröffentlichte Kurt Kronenberg, Pastor und Autor zahlreicher heimatkundlicher Publikationen, eine Ortschronik der niedersächsischen Gemeinde Ellierode. Der Untertitel des Buches ist bezeichnend für das Raumverständnis des gesamten Genres: »Das verborgene Dorf«. Mittels einer Anekdote vom Ende des Zweiten Weltkriegs lieferte Kronenberg im ersten Kapitel eine Erläuterung des Titels. Als die Alliierten nach Niedersachsen vordrangen, hätten sie das ungefähr 150 Einwohner zählende Dorf Ellierode aufgrund seiner eigentümlichen landschaftlichen Lage für einige Zeit »übersehen«: »Als im Frühjahr 1944 die amerikanischen Truppen Deutschland besetzten und in den Kreis Gandersheim einrückten, übersahen sie das Dorf Ellierode, so daß es noch zwei Wochen lang keine Besatzung erhielt. Erst als im Kühler ein letztes deutsches Flugzeugt landete, bemerkte man bei der Fahndung, daß sich hier mitten Walde ein Dorf verbarg. […] Diese Geschichte erscheint jedem glaubhaft, der nach Ellierode wandert. Nur ein winziger Zugang führt zum Dorf, ohne eine Höhe zu überwinden, ein schmaler Engpaß, durch den man vom Nordosten her den Talkessel erreicht. Der Glockenbach hat ihn in jahrtausendelanger Arbeit gegraben. Deshalb sieht man die Häuser Ellierodes erst, wenn man dicht vor ihnen steht – in der Tat ein verborgenes Dorf.« Diese Schilderung ist symptomatisch für die Verknüpfung von lokaler und nationaler Geschichte in Ortschroniken. Sie setzt die geografische Abgeschiedenheit mit einer »geschichtlichen Abgeschiedenheit« gleich. Diese Korrelation prägt die Geschichtsschreibung in Heimatbüchern aller Regionen, auch dann, wenn der jeweilige Ort nicht wie im Fall Ellierodes in einem Talkessel eingeschlossen ist. Es ist die generelle Entfernung von den infrastrukturellen und sozialen Knotenpunkten der Städte, die Chronikautoren mit einer entsprechenden historischen Entfernung verbinden. Auch in der Ellieroder Chronik fügt der Autor im Anschluss an die zitierte Passage hinzu, dass die »Autobahn Hamburg-Basel« weit genug am Ort vorbei verlaufe, »um die Ruhe nicht zu stören, die uns umgibt«.1 Die infrastrukturelle Abgelegenheit, die »Ruhe« gegenüber dem Verkehrslärm, steht symbolisch für die Abgelegenheit von den gesellschaftlichen Zentren und damit – so die Suggestion – für eine entsprechende Ruhe gegenüber dem nationalhistorischen Geschehen. 1 Ellierode, S. 5.
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Eine solche Korrelation von entfernten und zentralen Orten auf der einen Seite und »kleiner« und »großer« Geschichte auf der anderen findet sich in zahlreichen Fällen. Betrachten wir ein weiteres Beispiel vom Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Chronik von Eiweiler im Saarland, veröffentlicht im Jahr 1999, erklärt: »Eiweiler, in einem engen Tal am Fuße des Petersberges gelegen, war früher eher bekannt durch seine Abgeschiedenheit und verkehrsmäßige Randlage als durch große Ereignisse.« In diesem Zusammenhang zitieren die Autoren der Chronik den Brief eines alliierten Kommandanten, der im Winter 1944/45 in Eiweiler stationiert war. Es heißt dort, in Eiweiler zu sein, habe sich angefühlt wie »drei Wochen Frieden im sechsten Jahr des Krieges«. Die Chronikautoren spekulieren: »Die Abgeschiedenheit des Ortes war wohl auch der Grund dafür, daß in den Monaten Januar bis März 1945 dreimal Generäle mit ihren Stäben in Eiweiler Quartier genommen haben. Im Ort mit seiner unmittelbaren Umgebung waren keinerlei militärische Anlagen errichtet, weder Bunker noch Höckerlinien.«2 Auch wenn es gerade im Saarland zahlreiche kleinere Orte gab, die besonders heftig von Kriegszerstörungen betroffen waren, lässt sich nicht bestreiten, dass die ländlichen Gemeinden im Allgemeinen von den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs viel stärker verschont wurden als die Städte. Die Zitate aus der Eiweiler Chronik verweisen jedoch auf eine tieferliegende Differenzierung von Dorf- und Weltkriegsgeschichte. Die geografische Abgeschiedenheit und die relative Entfernung von Verteidigungsanlagen des Westwalls stehen auch hier stellvertretend für eine historische Abgeschiedenheit von der Nationalgeschichte. In dieser Weise lässt sich auch die in vielen Dorfchroniken präsente Behandlung des Luftkriegs deuten. Verdunklung, Alarm, Überflüge, Bombenabwürfe oder auch Flugzeugabstürze im Zuge des Zweiten Weltkriegs werden in den meisten Chroniken erwähnt und dabei oftmals näher beschrieben. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Schilderung des Luftkriegs oft sinnbildlich für die Trennung von Dorf- und Kriegsgeschichte gelesen werden kann. Einschlägige Erzählelemente sind hierbei die Plötzlichkeit des Auftauchens der feindlichen Flugzeuge, ihr Vorüberziehen über den Ort, ihre Herkunft aus oft weit entfernten Gegenden, überhaupt: ihre Verortung in einer anderen Sphäre (am Himmel). Entsprechende Passagen sind in aller Regel durch Passivität (auch im grammatischen Sinn) am Boden gegenüber einem bedrohlichen, aber im Grunde bezugslosen Geschehen in der Luft gekennzeichnet. Schauen wir in das Heimatbuch von Hüttigweiler im Saarland. Eine übergreifende Darstellung von NS-Zeit und Weltkrieg findet sich in dem 2004 erschienenen Buch nicht, dafür jedoch zwei zusammenhanglose Fragmente von jeweils einer Seite Länge, das eine davon zum Thema »Nächtlicher Fliegeralarm 1944«. Der Leser 2 Eiweiler, S. 204–206.
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lernt die Ortsgeschichte dieser Zeit also größtenteils aus der Perspektive von bangend den Himmel absuchenden Dorfbewohnern kennen: »Der Heilige Abend 1944, in der sechsten Kriegsweihnacht, war in den deutschen Grenzgebieten vom Heulen der Sirenen und vom Schlachtenlärm der Fronten begleitet. […] Auch in Hüttigweiler kamen die Menschen nachts fast nicht mehr zur Ruhe, denn fast jede Nacht wurden die Menschen durch Sirenengeheul aus ihren Betten gejagt. Ständig war Fliegeralarm, denn die Fronten rückten immer näher an die Heimat. Wenn auch die Gefahr einer hiesigen Bombardierung nicht groß war, so hatten die Einwohner unseres Ortes trotzdem Angst, denn wie die Bombardierungen von Wemmetsweiler und Dirmingen zeigten, scheute der Feind damals vor keiner Vernichtung kleiner Dörfer zurück. Deswegen standen die Menschen stets bei nächtlichem Fliegeralarm auf und bewegten sich in den Straßen, um die Bewegungen der feindlichen Flugzeuge am Himmel zu beobachten. Kaum hatten die Sirenen den Alarm gegeben, da hörte man auch schon das Brummen der feindlichen Bomber. Rundum begann die Flak ihr Abwehrfeuer; der Himmel erhellt sich von den explodierenden Abwehrgranaten, und tausende von Granatsplittern schwirrten durch die Lüfte. Doch die feindlichen Flugzeuge verschwanden fast immer ungetroffen in der dunklen Nacht. Manchmal dauerte so ein Alarm stundenlang, so dass die Menschen kaum mehr einen richtigen Schlaf fanden. Am anderen Morgen aber rief die Pflicht zur Arbeit, zur Schule und zum gewohnten Tagewerk. Man sah die feindlichen Flugeinheiten kaum am nächtlichen Himmel, nur bei klaren Sternen- und Mondnächten waren die Flugzeuge zu erkennen, doch meistens scheuten die feindlichen Maschinen diese hellen Nächte, weil sie sich dann in größere Gefahr begaben.«3 Dieser längere Auszug zeigt einen deutlichen Gegensatz zwischen der greifbaren Nahwelt (Arbeit, Schule, Tagewerk) und dem existenzbedrohenden, jedoch eigentümlich entfernten und meist »kaum zu erkennenden« Geschehen in der Luft. Die Sphärendifferenz von Himmel und Erde spiegelt – in zugespitzter Form – die scharfe Trennung von Dorf- und Nationalgeschichte wider, die Ortschroniken auszeichnet. Machen wir einen geografischen Sprung nach Georgsdorf im Landkreis Grafschaft Bentheim und bleiben wir thematisch beim Zweiten Weltkrieg. Die Ortschronik aus dem Jahr 1991 schildert den Kontrast zwischen bukolischer Ruhe und kriegsgeschichtlichem Chaos mit einer unbekümmerten Poetik, die selbst im Genre des Heimatbuchs Ihresgleichen sucht: »Es war in den ersten Monaten des Kriegsjahres 1942. Während die Völker der Erde im heißen und blutigen Ringen standen, breiteten sich über dem Osterwalder Bruch dank seiner Abgeschiedenheit ein tiefer Friede und eine ungestörte Ruhe aus. Eine dünne, gefrorene Schneedecke lagert über weiten Wiesenflächen, ein bezau3 Hüttigweiler II, S. 203; Quellenangaben liefert der Autor an dieser Stelle nicht.
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berndes Bild.«4 Zwar zitiert die Chronik aus einer heimatgeschichtlichen Veröffentlichung aus dem Jahr 1953, doch halten die Autoren eine Kommentierung oder historische Einordnung der wiedergegebenen Passage nicht für notwendig. Das grundlegende Muster, nach dem ländliche bzw. geografische Abgeschiedenheit und geschichtliche Abgeschiedenheit verknüpft werden, erschien den Autoren im Jahr 1991 noch genauso überzeugend wie zu Beginn der 1950er Jahre.
Die Geschichte als Katastrophe Im Genre Ortschronik stehen die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Besonderen sowie die Geschichte der Nation im Allgemeinen der Dorfgeschichte gegenüber wie eine Externalität, wie eine Umwelt. Das bedeutet, sie machen einen eher willkürlichen und quasi-natürlichen Eindruck. In diese Richtung weist die ubiquitäre Verwendung von Naturkatastrophen-Metaphern für gesellschaftliche Ereignisse. Nehmen wir als Beispiel die kleine Stadt Garding in Nordfriesland, einer Region, die seit jeher mit Sturmfluten zu kämpfen hatte. Die Chronisten übertrugen diese Bedrohung auf die Geschichte: »An diesem Werk wird deutlich, daß es die örtlichen Gemeinwesen waren, die die Stürme der Zeit, die politischen Veränderungen und die Weiterentwicklungen im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich am besten überstanden haben.«5 Eine solche Beschreibung gesellschaftlicher Umbrüche als »Stürme« oder »Wellen« findet sich in zahlreichen anderen Chroniken. Kehren wir noch einmal nach Hüttigweiler zurück, das wir soeben mit dem Blick der Chronik von 2005 gesehen haben. Eine erste Chronik des Orts erschien bereits im Jahr 1959 und beschrieb unter anderem eine lange Reihe von Kriegen seit der Frühen Neuzeit, unter denen das Dorf zu leiden gehabt hatte. Die Chronik widmete sich dieser Zeit in dem Kapitel »Das Dorf im Strom der großen Geschichte«. Eingangs erscheint der Ort hierbei, im 16. Jahrhundert, als eine »Insel des Friedens« in diesem »Strom«, die alsbald jedoch vom Dreißigjährigen Krieg und von französischen Eroberungsfeldzügen umtost wird. Sodann schlagen die »Wellen« des Siebenjährigen Kriegs ins Dorf.6 Analog zur Beschreibung des Luftkriegs der 1940er Jahre in der 2000er-Chronik weist auch die Chronik aus den 1950er Jahren eine Trennung der Elemente auf. So wie sich dort Himmel und Erde gegenüberstanden, ist das Dorf hier als Land vom Fluss der Geschichte umgeben (»Insel im Strom«); ständig bedroht, immer wieder von »Wellen« über4 Georgsdorf, S. 122; zitiert nach Smoor : Bohrturm, S. 145. 5 Garding, S. 9. 6 Hüttigweiler I, S. 66–70.
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schwemmt, doch selbst im Grunde unverändert und substantiell von der großen Geschichte unterschieden. In anderen Fällen werden Kriege nicht allein metaphorisch als »Stürme« oder »Fluten« bezeichnet, sie werden mit diesen in einer Reihe von Katastrophen verbunden, die über den Ort hereinbrachen. In der Ortschronik des niedersächsischen Dorfs Himmelpforten wird beschrieben, wie der Ort in den Nordischen Krieg hingezogen wurde und wie er unter der Besatzung zu leiden hatte. Gleich im Anschluss geht die Darstellung zur Beschreibung weiterer »Katastrophen«, und zwar Überflutungen, über. Der Autor stellt eine direkte Verbindung her : »Wie unter Kriegslasten so hat unsere Heimat auch unter Sturmund Wasserschäden zu leiden gehabt.«7 Die Chronik des niederbayerischen Schönau enthält ein Kapitel, das diese typische Assoziation von Kriegs- und Umweltschäden in dem paradigmatischen Titel »Kriege – Katastrophen« bündelt.8 Neben dem Dreißigjährigen Krieg sowie den beiden Weltkriegen führt das Kapitel in einer Zeittafel sämtliche belegten Unwetter, Hochwasser und Seuchen seit dem frühen 19. Jahrhundert auf. Für eine solche gemeinsame Auflistung gesellschaftlicher und natürlicher »Katastrophen«, die aus dem Blickwinkel der erleidenden Gemeinde keine prinzipielle Differenzierung nötig erscheinen lassen, gibt es viele weitere Beispiele. Über Leubingen in Thüringen heißt es im Heimatbuch aus dem Jahr 2005: »Unser Dorf wurde von nichts verschont. Katastrophen, Krankheiten, Brände und Hochwasser zeichneten es schwer. Kriege, Raub und Plünderung brachten es an den Rand seiner Existenz. Aber solange die Kirche mitten im Dorfe stand, gaben seine Bewohner nicht auf.«9 Eine analoge Aufzählung liefert die Chronik von Dernbach im Westerwald: »Die 700-jährige Geschichte unseres Dorfes ist in erster Linie die Geschichte der Menschen und ihrer Lebensumstände. Armut, Krankheiten, Feuersbrunst und Kriege bedrohten die Menschen zu allen Zeiten und gingen über unser Dorf hinweg. Die Landwirtschaft dominierte und ernährte über Jahrhunderte die Leute bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.«10
Alltag versus Geschichte Die beiden letzten Zitate aus den Heimatbüchern von Leubingen und Dernbach verweisen auf einen weiteren Aspekt der Trennung von Dorf und Umwelt. Sie setzen den Katastrophen der großen Geschichte das Alltagsleben im Dorf ent7 8 9 10
Himmelpforten, S. 14–15. Schönau I, S. 355–371. Leubingen, S. 3. Dernbach II, S. 7. Vgl. auch das Kapitel »Kriegsereignisse, Brandschäden, Unglückfälle [sic] und sonstige Ereignisse« in: Kreuzebra, S. 276–291.
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gegen; im Fall Leubingens als konstante Religiosität (»Aber solange die Kirche mitten im Dorfe stand, gaben seine Bewohner nicht auf.«) und im Fall Dernbachs als fortlaufende landwirtschaftliche Tätigkeit (»Die Landwirtschaft dominierte und ernährte über Jahrhunderte die Leute«). Beide Beispiele verweisen auf typische Elemente des dörflichen Alltags, der vor allem auf existenzielle Bedürfnisse beschränkt sei. Diese Sicht hat der Autor der Großköllnbacher Chronik aus dem Jahr 1958 in seinem Vorwort auf den Punkt gebracht. Die Geschichte »des bäuerlichen und handwerklichen Lebens im Dorf« sei zu allen Zeiten »nichts Außerordentliches« gewesen. Stattdessen heißt es: »Das dörfliche Leben ist ja wohl zu allen Zeiten im Grund das gleiche gewesen. Es ging um Haus und Hof, um Säen und Ernten, um Geburt und Tod, um das Abhängigsein von Gott und den Menschen.«11 Dies ist eine beispielhafte Aufzählung anthropologischer Konstanten, die das Ortsleben in der Chronikperspektive prägen, sozusagen jenseits der Geschichte. Demgegenüber steht die nicht-alltägliche Umwelt – der Bereich des Außerordentlichen. Diese Sphäre ist diffuser. Sie ist der Ort von Naturkatastrophen und Kriegen, aber auch von Politik, politischen Konflikten, Ideologien usw. Die Geschichte des Dorfs ist durch einen deutlich geringeren Bewegungsgrad gekennzeichnet, sie erscheint als sehr beständig; die Geschichte der Umwelt schlägt immer wieder hohe und plötzliche Wogen, ihre Ausschläge erscheinen jedoch als ephemer. Im Anschluss an das Leubinger Beispiel sei hier ein weiteres Heimatbuch zitiert, dass diese Gegenüberstellung sinnbildlich durch die Beständigkeit der Dorfkirche gegenüber der »Brandung« der Geschichte ausdrückt. Über Haieshausen im Leinebergland heißt es 1957 in den Worten des Pastors und Chronikautors: »Haieshausen ist ein Haufendorf, in dessen Mitte sich die alte Kapelle erhebt wie eine stille Insel. Um sie herum kuscheln sich wie Schutz suchend die Höfe, am nächsten die drei Ackerhöfe, und die Häuser. Es ist, als sei dort für alle ihre Bewohner Heimat und Geborgenheit, so wie im Mittelalter hier hinter den festen Mauerwänden der Kapelle sie in Fehdezeiten sich in Gottes Hand und Hut gesichert fühlten. Die bewegten Wogen der Geschichte haben ihre alten Mauern umbrandet, vieles von ehedem ist vergangen und versunken, aber sie, die Dorfkapelle, ist durch die Jahrhunderte geblieben wie eine Offenbarung göttlicher Unendlichkeit. Des Dorfes Freud und Leid, Werden und Vergehen der Geschlechter bezeugte sie die Zeiten hindurch.«12 Hier treffen wir auf eine typische Kontrastierung von beständiger »Heimat« und »Geborgenheit« auf der einen Seite und vorübergehenden »bewegten Wogen der Geschichte« auf der anderen Seite. Die Ortschronik-Historiografie zieht eine eindeutige Grenze zwischen diesen beiden Sphären. Diese Grenzziehung ist ein wesentlicher Faktor für die Be11 Großköllnbach, S. V. 12 Haieshausen, S. 35.
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stimmung von Chroniken als einem eigenständigen Genre. Das verkennt die Kritik, die Ortschroniken, wie in einem exemplarischen Aufsatz zur Lüneburger Heide, vorwirft, dass im Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs eine »Einbettung der Ortsgeschichte in größere Zusammenhänge« fehle.13 Dieser Kritik liegt der Maßstab einer geschichtswissenschaftlichen Verflechtung von Alltag und Politik, von Mikro- und Makroebene, zugrunde. Die in Heimatbüchern übliche scharfe Trennung von Dorf und Umwelt steht dazu quer. Die Ortschronik von Hegenlohe in Baden-Württemberg formuliert diese Differenz in programmatischer Weise: »Es besteht nicht der Eindruck, daß sich die Hegenloher Vorväter viel ideologische Gedanken gemacht oder Gefühlen wie Liebe zum Herrscherhaus, Hingabe an den Staat usw. bestimmenden Raum gegeben hätten. Für sie stand der höchst ärmliche Alltag […] völlig im Vordergrund ihrer in jeder Hinsicht eng begrenzten Überlegungen.«14 Statt Politik (Ideologie, Herrschaft, Staat) zählt der »ärmliche Alltag«. Das Streben der Einwohner sei »eng begrenzt« auf den Rahmen des Dorfes gewesen. Die Konsequenz für die Ortschronik lautet: auch sie konzentriert sich auf diese »engen Grenzen«. Ein weiteres Beispiel, das sich direkt auf die Zeit des »Dritten Reichs« bezieht, bietet die Oster-Ohrstedter Chronik. Das Buch enthält mehrere lange Passagen aus dem Tagebuch des Dorflehrers Kröger aus den 1930er Jahren, die vor nationalsozialistischem Gedankengut triefen. Der Chronist aus dem Jahr 1989 schrieb dazu: »Auch Kröger kommentierte die politischen Ereignisse ganz im Stil der damaligen Zeit, was für eine Chronik ja auch angebracht war.« Jedoch, so erklärt der Autor weiter, sei dies bloß eine zeittypische Färbung – eine Färbung, die keineswegs die tatsächliche Mentalität des Lehrers verändert habe. Denn: »Seine Aufzeichnungen lassen ihn aber vor allem als einen Menschen erscheinen, der eine freundliche Schulstube, ein gemütliches Heim und seinen Garten für sein Wohlbefinden benötigte.«15 Darin äußert sich das Muster eines im Grunde historisch abtrennbaren Raums des Alltäglichen und der existenziellen Bedürfnisse. Dieses Muster ist bestimmend für die Wahrnehmung der Ortsgeschichte im Verhältnis zu ihrer Umwelt in Ortschroniken. Gemäß dem Titel der Chronik von Waren an der Müritz, »Acht Jahrhunderte Alltag«, haben die Konstanten des Dorflebens in diesem Raum – im Kern unverändert – Jahrhunderte schicksalhafter, externer Belastungen überdauert. Hier schließt sich der Kreis zur Gemeinschaftsorientierung von Heimatbüchern, da es sich auch um den Raum handelt, in dem die Dorfgemeinschaft überdauert hat – und den sie durch ihre vermeintliche Geschlossenheit gleichsam zusammenhält.
13 Ommler : NS-Zeit, S. 6. 14 Hegenlohe, S. 120. 15 Oster-Ohrstedt, S. 68.
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Politisierung von außen Die Differenz von Dorf und Umwelt ist, wie wir gesehen haben, deckungsgleich mit der Unterscheidung von Alltag und Politik. Nun gibt es Zeiten, in denen die politische Umwelt den inneren Kern des Dorflebens stärker bedrängt habe als zu anderen Zeiten – allen voran das »Dritte Reich« und der Zweite Weltkrieg. Während dieser Jahre drohte die Außenwelt das ›eigentliche‹ Dorfleben nahezu völlig zu überlagern, bevor sie ihm ab den späten 1940er Jahren wieder mehr Freiraum ließ. Der Abschnitt, der in der Reiskircher Chronik auf die Behandlung des Zweiten Weltkriegs folgt, wird mit den paradigmatischen Worten eingeleitet: »Von der Politik wieder zurück in die Normalität bzw. in den Alltag«.16 Die grundlegende Trennung zwischen der lokalen und der nationalen Geschichte hält die Ortschronik-Historiografie allerdings auch in solchen Phasen starken, äußeren Drucks aufrecht. In der Ortschronik des Dorfs Ilten in Niedersachsen ist über die Zeit des Nationalsozialismus zu lesen: »Ilten war hineingeraten in diese Welle, die sich national dünkte und die über unser ganzes Vaterland dahinbrauste. […] Die Zeit von 1933 kam und ging wie ein böser Alptraum, obwohl äußerlich es scheinen konnte, als ob sie unser Ilten innerlich erfaßt haben könnte. Man darf sagen, daß unserem Ilten der Nationalsozialismus im Grunde durchaus wesensfremd geblieben war.« Das »Dritte Reich« erscheint – im Wortlaut der Chronik – als ein vorübergehender »Alptraum«. Obwohl es oberflächlich viele Aspekte des Alltagslebens vor Ort verändert hat, ließ es dessen Kern – das »Wesen« – unberührt.17 Aus dieser Sicht stellt die Zeit des Nationalsozialismus eine zwar besonders heftige, letztlich jedoch ephemere Episode der externen Politisierung des Dorflebens dar. In diesem Sinne ist das Urteil der Ortschronik des rheinländischen Merten über die Jahre 1933 bis 1945 zu verstehen: »Das Staatsgefüge der Diktatur hatte seine Auswirkungen bis auf die unterste Ebene.«18 Der universale Charakter dieser Aussage, der auf den ersten Blick an Totalitarismus-Theorien erinnert, ist typisch für Ortschroniken. Sie ist jedoch keineswegs so aufzufassen, als ob die diktatorische Staatsform die für das Genre konstitutive Differenz von Politik und Alltag obsolet gemacht hätte. Im Gegenteil: Das anonyme »Staatsgefüge« bleibt eine dem Dorfleben jenseitige Quelle; und nur deshalb kann sie »Auswirkungen« auf die »unterste Ebene« zeitigen. Es sei eben ein besonderes Kennzeichen der nationalsozialistischen Zeit, dass diese externen Auswirkungen so stark ausfielen, dass sie (vorübergehend) bis auf die »unterste Ebene« durchschlugen. Vor diesem Hintergrund verzichtet der Autor der Mertener Chronik auch auf eine genauere Darstellung dieser Zeit – von einigen Listen von 16 Reiskirchen, S. 36. 17 Ilten, S. 397. 18 Merten, S. 59.
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Gemeinderatsmitgliedern abgesehen. Auf Grund des nahezu vollkommenen Durchgriffs von oben, so scheint es, sei die eigentliche Dorfgeschichte zeitweise ausgesetzt worden. Die Geschichte dieser Jahre ist aufgrund der Dominanz des »Staatsgefüges« eine der Dorfgeschichte entfremdete Epoche. Dabei ist der Grad der externen Politisierung kongruent mit dem Grad der Entfremdung. Anders gesagt: Je stärker die Politisierung des Dorflebens, desto deutlicher treten in der Ortschronik-Historiografie zwei Ebenen auseinander : die Ebene einer zeitbedingten, politisierten Oberfläche und die Ebene einer dauerhaften, jedoch unterdrückten oder sogar zeitweilig aufgehobenen wesenhaften Ortsgeschichte. Das Leitmotiv einer wechselhaften, externen Politisierung des Dorflebens – mit dem Höhepunkt NS-Zeit – findet seine Fortsetzung in einigen anderen, abgeleiteten Motiven, allen voran der Unterscheidung von »Normalität« und »Ausnahmezustand«. So schreibt die Chronik von Britten im Saarland: »Ein ›normales Leben‹ gab es unter der Diktatur nicht mehr.« Wie in vielen anderen Chroniken besteht die Darstellung der nationalsozialistischen Zeit aus einer Reihe wiederkehrender Versuche der Brittener, ein »normales«, »ungestörtes« Dorfleben aufrechtzuerhalten, die immer wieder durch heftige äußere Einflüsse unterbrochen oder zunichte gemacht worden seien. Auch stellen sich Phasen »scheinbarer Normalität« ein. Es heißt schließlich: Erst »[m]it Beginn der Fünfziger Jahre kehrte allmählich wieder Normalität in Britten ein.«19 Ein weiteres typisches Motiv, das auf den schwankenden Grad der externen Politisierung des Dorflebens verweist, ist die Chronologie von »Ruhe« und »Unruhe«. Das Heimatbuch eines anderen saarländischen Ortes, Ensheim, formulierte dies im Jahr 1977 in programmatischer Weise. Das Schlusswort des Buches lautet: »Generationen sind gekommen, haben gelebt und sind ins Grab gesunken, ohne von der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der großen Welt viel zu erfahren. Aber es kamen auch Zeiten, in denen ihre ländliche Ruhe Jahrzehnte lang gestört war und furchtbares Leid in die Hütten unserer Vorfahren getragen wurde.«20 Es besteht kein Zweifel, dass der Prototyp dieser »Zeiten, in denen die ländliche Ruhe gestört« wurde, das »Dritte Reich« darstellt.21 Eine weitere, verwandte Unterscheidung, die in vielen Chroniken auftaucht, ist diejenige von »Ordnung« und »Unordnung«. Wie die anderen Un19 Britten, S. 70–83. 20 Ensheim, S. 175. 21 Vgl. als Beispiel zur Revolution von 1918/1919 die Chronik des bayerischen Ortes Neubeuern, in der es heißt: »Diese Unruhen aber gingen so schnell vorüber, wie sie gekommen waren. Alles in allem boten Neu- und Altbeuern in diesen Monaten das Bild von Orten, die eigentlich recht wenig am Weltgeschehen interessiert waren« (Neubeuern, S. 661). »Unruhe« bezeichnet hier in pointierter Weise die vorübergehende Beunruhigung der Dorfgeschichte durch ein fremdes »Weltgeschehen«. Vgl. als Beispiel, in dem die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Epoche »gärender Unruhe« zusammengefasst worden ist: Beilngries, S. 87.
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terscheidungen trägt auch sie dazu bei, die grundlegende Trennung von Dorf und Umwelt zu bekräftigen und die NS-Zeit sowie den Zweiten Weltkrieg als Phasen einer besonders starken, ortsfremden Politisierung zu kennzeichnen und dadurch aus der eigentlichen Ortsgeschichte auszulagern.
Bezugslosigkeit von Text und Kontext Wenden wir uns einer genaueren Betrachtung der typischen Verknüpfungsweisen der (grundsätzlich getrennten) Sphären Politik und Alltag bzw. Nationalgeschichte und Dorfleben in Chroniken zu. Es ist mitnichten so, dass die »Einbettung der Ortsgeschichte in größere Zusammenhänge« – denken wir an die bereits zitierte Kritik – für die 1930er und 1940er Jahre in Ortschroniken vollständig ausbleiben würde.22 Zwar variiert das Ausmaß, in dem Chroniken auf die Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg Bezug nehmen, jedoch findet sich kaum eine Chronik, die auf solche Bezüge gänzlich verzichtet. Von Interesse ist also nicht ob, sondern in welcher Weise dieser Kontext mit dem eigentlichen Text – der Ortsgeschichte – verbunden wird.23 Es geht um die Wege, auf denen Text und Kontext zusammengeführt werden, ohne dabei die fundamentale Trennung von Dorf und Umwelt aufzuheben. Werfen wir einen Blick in die Chronik des hessischen Wanfried: Das Heimatbuch aus dem Jahr 2007 enthält eine Zeittafel, in der sich ein Eintrag zum Jahr 1939 findet, der ein komprimiertes, ereignisgeschichtliches Tableau des Zweiten Weltkriegs liefert: »1. September – Der Zweite Weltkrieg beginnt. am 7. Mai 1945 kapituliert die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Damit ist der am 1. Sept. 1939 durch den deutschen Angriff auf Polen begonnene Zweite Weltkrieg beendet. Er hat auf der ganzen Welt etwa 30 Millionen Zivilisten und 10 Millionen Soldaten das Leben gekostet; man schätzt 35 Millionen Verwundete und 3 Millionen Vermisste. Nicht mitgerechnet sind die vielen Vertriebenen aus den Ostgebieten, die die letzten Opfer von Hitlers Krieg gewesen sind: Rund 12,5 Millionen Deutsche sind in den Jahren von 1944–1950 vorwiegend aus Ortspreußen und Pommern, Schlesien und aus dem Sudentenland geflüchtet oder vertrieben worden. Etwa zwei Millionen sind unterwegs ums Leben gekommen. Über sechs Millionen Juden werden ermordet. Über 129 Wanfrieder Soldaten verlieren in diesem Krieg ihr Leben.«24 Dieser Einschub schließt an keinen der vorangehenden oder folgenden Einträge der Zeittafel an; er wirkt 22 Ommler : NS-Zeit, S. 6. 23 An Vorgaben oder Kritik aus normativer Perspektive, die eine ›gelungene‹ (also: wissenschaftlichen Maßstäben genügende) Verbindung von allgemeiner und lokaler Geschichte in der Ortschronistik anmahnen, mangelt es nicht, vgl. z. B. Laufer: Aufbau, S. 250. 24 Wanfried, S. 77.
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nicht nur isoliert, er trifft den Leser weitgehend unvorbereitet und plötzlich. Der Zweite Weltkrieg wird zwar erwähnt, er wirkt jedoch wie ausgegliedert aus den alltagsgeschichtlichen Details der Chronik. Selbst die zuvor angesprochene Fertigung von Fallschirmseide in Wanfried steht in keiner direkten Beziehung zu dem ›weltgeschichtlichen Zusatz‹. Der nächstfolgende Eintrag der Zeittafel bezieht sich auf die Kriegsfolgen ab dem Jahr 1945. Durch den nahtlosen Übergang vom Beginn zum Ende des Weltkriegs – mittels der zitierten Passage – wird dieser sechsjährige Zeitabschnitt der Ortsgeschichte eher übergangen statt illustriert. Statt von einer Kontextualisierung der Lokalgeschichte muss man von einem Kontext ohne Text sprechen. Die Wanfrieder Zeittafel bietet einen typischen Fall, in dem der nationalgeschichtliche Exkurs die Ortsgeschichte für einen gewissen Zeitraum praktisch ganz ersetzt.25 Ebenso typisch für den Umgang mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in Heimatbüchern und Ortschroniken ist das bezugslose Nebeneinander von Lokalgeschichte und kontextuellen Einschüben. Diese Beobachtung hat der Volkskundler Gustav Schöck über württembergische Heimatbücher bereits vor vier Jahrzehnten festgehalten. Er schrieb, dass die »lokalen Ereignisse […] völlig isoliert neben dem übergeordneten Geschichtsablauf« stünden. Die einzige Verbindung sei in der Regel »die gemeinsame Jahreszahl«.26 Dieses Muster lässt sich an Chroniken aller Regionen veranschaulichen; beginnen wir zunächst mit einem visuellen Beispiel. Die Chronik von Rott am Inn enthält ein Kapitel mit dem Titel »Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg«. Der Textanteil dieses Kapitels ähnelt in seinem formelhaften, vollständig auf die Nationalgeschichte beschränkten Charakter dem Eintrag der Wanfrieder Zeittafel. Es geht in aller Kürze um wirtschaftlichen Aufschwung, NS-Organisationen, Kriegsausbruch und -verlauf bis zu Hitlers Tod und der quantitativen Bilanz der Toten und Vertriebenen.27 Dominiert wird das Kapitel 25 Vgl. für zahlreiche weitere Beispiele Egling/Heinrichshofen, S. 136–138; Bärnau, S. 148–151. 26 Schöck: Heimatbuch, S. 151. 27 Rott, S. 75–76: »Dieses leidvolle Kapitel der jüngsten Geschichte kann in diesem Rahmen nur kurz abgehandelt werden. In den Jahren nach 1933 setzte ein erheblicher Aufschwung ein, der die Gegnerschaft zu den Nazis verminderte. Alle Jugendlichen mussten bei der Hitlerjugend (HJ) oder beim Bund Deutscher Mädel (BDM) mitmachen. Die jungen Leute bekamen dort bereits eine vormilitärische Ausbildung. Am 1. September 1939 erfolgte der deutsche Angriff auf Polen, in vier Wochen wird Polen im Bündnis mit Russland niedergeworfen, Dänemark und Norwegen werden besetzt, dann Belgien und Holland, Frankreich bricht zusammen, England scheint isoliert, die USA sind noch nicht zur Intervention bereit. Alle dachten, dass der Krieg schnell vorbei sei, besonders nach den Anfangserfolgen der Wehrmacht. Das Ende kennen wir, der Krieg dauerte mehr als fünf Jahre, am 30. April beging Hitler Selbstmord, am 8. Mai 1945 unterwarf sich Deutschland den Siegermächten mit einer bedingungslosen Kapitulation. Der Zweite Weltkrieg forderte weltweit unter der Zivilbevölkerung und den Soldaten die unvorstellbare Zahl von 62 Millionen Toten. Davon entfielen auf die UdSSR 27 Millionen, Deutschland 5,25 Millionen, Polen 5 Millionen, Jugoslawien
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jedoch von insgesamt fünf großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien. Die erste Abbildung zeigt »Die Rotter Hitlerjugend hinter dem Poststadl um 1935«. Das Gruppenporträt ist mit einer vollständigen Namensliste aller Abgebildeten versehen. Gleiches gilt für die heitere, in Trachten und mit Bierkrügen posierende Gruppe junger Männer unter dem Titel »Musterung 1939«. Daneben befindet sich die Abbildung einer »Spendenbescheinigung für das Kriegshilfswerk 1939/40« und auf der folgenden Seite erblickt der Betrachter dann weitere Gruppenfotografien (»Erfassung des Mädchenjahrganges 1924 im Jahre 1941« und »Musterung im Kriegsjahr 1942«, abermals mit Angabe der Namen aller Abgebildeten).28 Der Autor des Abschnitts hat keinerlei Anstrengung unternommen, einen Zusammenhang zwischen den Abbildungen und der kurzen politikgeschichtlichen Übersicht herzustellen. Der Text geht gegenüber den Fotografien auch optisch nahezu unter. Die erste Texthälfte befindet sich darüber hinaus auf dem unteren Ende der vorangehenden Seite und wirkt dadurch zusätzlich abgetrennt vom übrigen Kapitel. Ganz deutlich steht bei den mit Namenslisten versehenen Fotografien der oben beschriebene Wiedererkennungseffekt von Ortschroniken im Mittelpunkt. Demgegenüber ist der ›Begleittext‹ »völlig isoliert« – mit Gustav Schöcks Worten. Diese Bezugslosigkeit prägt Heimatbücher auch in rein textlichen Passagen. Betrachten wir hierzu die Chronik der bayerischen Gemeinde Schwabhausen. Der Abschnitt »Streiflichter aus zwei Jahrhunderten 1818–1972« stellt diverse lokale Ereignisse (»Von der Bildung der politischen Gemeinde bis zur Gebietsreform«) in Form eines chronologisch strukturierten Fließtextes dar. Steigen wir in den Jahren 1928/1929 ein, so lesen wir unter anderem über den Pachtantrag der Eheleute Josef und Anna Westmair für die »Gastwirtschaft zur Post«, die Vergabe einer Fischpacht an den Weinhändler Josef Göschl oder die Einsetzung eines zusätzlichen Zugpaares auf der örtlichen Bahnstrecke. Durch eine Leerzeile abgesetzt folgt ein allgemeingeschichtlicher Einschub, der auf die Weltwirtschaftskrise, eine allgemeine Radikalisierung der Politik und die Verschärfung politischer Spaltungen verweist. Daraufhin setzt sich die lose Aneinanderreihung ortsgeschichtlicher Einzelheiten fort, etwa mit der Aufzählung gewählter Gemeindevertreter, der Bezuschussung der Teilnahme eines Schwabhausener Sportlers an einem Fortbildungskurs oder der Wiedergabe einer Badeordnung für den »Sparkassenweiher«. Sodann tritt unter der Zwischenüberschrift »1932/1933 und das 3. Reich« erstmals der Nationalsozialismus auf. Die damit verbundenen nationalgeschichtlichen Ausführungen schließen gewissermaßen an den vorangehenden Einschub zur Verschärfung der 1,7 Millionen. 20 Millionen Menschen mussten aus ihrer Heimat flüchten, oder wurden vertrieben, deportiert, kamen in Gefangenschaft oder wurden als Zwangsarbeiter verschleppt.« 28 Ebd., S. 75–78.
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wirtschaftlichen und politischen Lage der Nation an; der Autor wechselt abermals für kurze Zeit die Erzählebene. Während es zuerst um die »Machtergreifung« der NSDAP geht, folgen im weiteren Verlauf des Kapitels weitere Einschübe zu staatlichen Verordnungen und schließlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die nationalgeschichtlichen Versatzstücke bilden, als kleinere Einschübe über den gesamten Text verstreut, eine mehr oder weniger kohärente, politikgeschichtliche Parallelerzählung.29 Dazwischen verteilt sich wie gesehen eine Vielzahl verschiedenster lokalgeschichtlicher Details. Diese Ebene folgt keiner ersichtlichen Entwicklungslinie, keiner zusammenhängenden Erzählung. Der Bezug zwischen beiden Erzählebenen kann bestenfalls als vage bezeichnet werden. Zwar bewirkt die nationalpolitische Entwicklung punktuelle Umformungen kommunaler Strukturen und Organisationen, wie zum Beispiel die Umbesetzung der Gemeindeverwaltung, entscheidend ist jedoch, dass sie äußerlich bleibt und keine wesentliche Veränderung der Ortsgeschichte hervorzurufen scheint. Die Textstruktur delegiert die nationalpolitischen Ereignisse, die Geschichte des Nationalsozialismus, an eine andere historiografische Sphäre und Zuständigkeit.
Kontext-Kaskaden Der Autor der Schwabhausener Chronik wirft im Laufe des gerade besprochenen Kapitels die rhetorische Frage auf: »Wie hat sich die Welt verändert.« Formuliert man die Frage leicht um in: »Wie hat sich die Welt des Dorfes verändert«, kommt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass der Text diese Frage eben gerade nicht beantwortet. Das Nebeneinander einer großpolitischen Ereignistafel und zusammenhangloser Vorfälle im Ort weicht der aufgeworfenen Frage eher aus. Dies trifft auch in den Fällen zu, in denen die allgemein- und lokalgeschichtliche Ebene im Modus einer eindimensionalen ›Durchwirkung‹ verbunden werden. Fokussieren wir hierzu nochmals die Jahre 1932/1933 in der Chronik Schwabhausens, in deren Rahmen die NSDAP und der Name Adolf Hitler erstmals auftauchen: »Bei der letzten freien Landtagswahl im April 1932 rückte die NSDAP mit erdrutschartigen Gewinnen zur zweitstärksten Partei in Bayern auf. Am 30. Januar 1933 entstand auf Reichsebene aus unwürdigen Kabalen bereits das Kabinett Hitler, er wurde Reichskanzler. Mit der Reichstagswahl im März 1933 war dann die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland endgültig besiegelt. Die Gleichschaltung der Länder und die Entmachtung der Landesregierungen wird durch die Einsetzung von Reichskommissaren konsequent fortgesetzt.« Im Anschluss geht die Darstellung wieder auf die Landes29 Schwabhausen, S. 59–88.
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ebene Bayerns über, die jedoch gleichermaßen weit entfernt von der lokalen Ebene wirkt: »Am Abend des 9. März überträgt Reichsinnenminister Frick die vollziehende Gewalt in Bayern an General Franz von Epp.« Soweit hat der Autor gewissermaßen die politischen Determinanten auf den höheren Verwaltungsebenen skizziert. Sie stehen allerdings in keiner Wechselwirkung zur unteren Ebene der dörflichen Lebenswelt. Die Chronikdarstellung erweckt den Anschein eines eingleisigen Wirkungsverhältnisses von oben nach unten: »Unter diesen neuen Machtverhältnissen finden in Bayern noch einmal Gemeinderatswahlen statt, bei denen erstmals die Parteizugehörigkeit der Kandidaten auch in den Dörfern eine Rolle spielt. Zehn Tage vor der Wahl wurden den Kommunen im Rahmen der Gleichschaltung der Gemeinden die Vorschriften zur Neubildung der Gemeinderäte zugestellt.« Der Nationalsozialismus vor Ort ist in dieser Perspektive nicht Teil der Lokalgeschichte, sondern dem nationalgeschichtlichen »Rahmen der Gleichschaltung« zuzuordnen. Die sich anschließenden Details auf der lokalen Erzählebene beschränken sich auf Umstellungen in der Struktur und Organisation des Gemeinderats und der Verwaltung; lokale Akteure werden dabei weitgehend ausgeblendet. Staat und Land scheinen die Dorfgeschichte vorübergehend von außen vereinnahmt zu haben. Die Chronik fährt fort: »Bayern wird jetzt von dem Machtdreieck Wagner-Himmler-Röhm, dem Stabschef der SA beherrscht. Noch in der ersten Märzhälfte 1933 hatte dieser den Behördenapparat bis hinunter zu den Bezirksämtern und Kommunen mit einem Netz von SA-Sonderkommissaren überzogen. Der nächste Schritt der Machtergreifung war folglich die Zerschlagung und das Verbot der demokratischen Parteien. Das war wiederum das Ende freier Wahlen in den Gemeinden; denn von jetzt an bestimmte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.«30 In der Chronik-Perspektive war das Dorf gefangen in diesem »Netz«, das der »Behördenapparat« ab dem Jahr 1933 ausgeworfen hatte. Der Gründung der lokalen NS-Organisation scheint einzig im Rahmen dieses landes- und nationalpolitischen Drucks Bedeutung zuzukommen. Diese Art der Verknüpfung von Kontext und Text geht über den vollständigen Ersatz des einen für den anderen oder das bezugslose Nebeneinander beider hinaus. Sie lässt allerdings ebenso wenig eine Wechselwirkung zwischen den Ebenen zu. Die sogenannte »große« und »kleine« Geschichte wird in Ortschroniken oft auf diese eindimensionale Weise verbunden, die sich metaphorisch als »Kontext-Kaskade« beschreiben ließe. Betrachten wir dazu ein weiteres Beispiel: Die Chronik des Ortes Lichtenhain in der Sächsischen Schweiz ist ein ausgesprochen umfangreiches, mehrbändiges Werk. Allein der vierte Band mit dem Titel »Vom Ende der Weimarer Republik (1933) bis zur LPG-Gründung (1960)« umfasst 372 Seiten. Selten räumen Heimatbücher und Ortschroniken, 30 Schwabhausen, S. 70–71.
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auch wenn sie mehrbändig sind, der Geschichte des »Dritten Reichs« und des Zweiten Weltkriegs einen derart breiten Raum ein. Nichtsdestoweniger ist auch der vierte Band der Lichtenhainer Chronik von den typischen Elementen des Genres im Umgang mit der NS-Vergangenheit geprägt. Die Darstellung geht im Stil einer Zeittafel vor und changiert hierbei immer wieder zwischen verschiedenen Ebenen von der Global- bis zur Lokalgeschichte. Diese Ebenen stehen dabei zwar nicht gänzlich bezugslos nebeneinander, sie sind jedoch auf asymmetrische Weise – von oben nach unten abfallend – miteinander verknüpft. Stets zeigt sich ein vergleichbares Grundmuster : Auf die Skizze des reichsweiten Geschehens folgt eine parallele Skizze des Geschehens auf Landes- und gegebenenfalls auf Bezirks- und Kreisebene. Zuletzt folgen die damit in Verbindung stehenden Vorgänge in der Gemeinde. Ein Beispiel aus dem Jahr 1933: Die Autorin beginnt einen neuen Absatz mit dem Hinweis, dass am »21. März 1933 […] der neue Reichstag in der Potsdamer Garnisonskirche feierlich eröffnet« wurde. Es folgt der erste Abstieg auf die Landesebene: »Im Freistaat Sachsen wurde der 21. März als allgemeiner Feiertag begangen. Alle Stadt- und Gemeinderäte sollten Beflaggung veranlassen.« Direkt daran schließt sich ein Auszug aus den Aufzeichnungen des örtlichen Pfarrers zum selben Datum an. Es geht darin um einen Fackelzug des Militärvereins, den der Pfarrer selbst mit einer »Festrede« zum Abschluss brachte.31 Zwar sind die lokalen Ereignisse hier in einen nationalen Kontext eingebunden, doch erfolgt diese Einbindung immer nur in einer Richtung, die, wie in vielen anderen Beispielen auch, von oben nach unten verläuft. Eine Umkehr dieser Darstellungsrichtung scheint ausgeschlossen, das heißt, sie ist praktisch nicht anzutreffen in der Chronik. Die unterschiedlich weit gefassten Kontexte werden gewissermaßen als Kaskade hintereinander geschaltet, die das Herab-Fließen des Reichsgeschehens in den Ort beschreibt; die Umkehr des natürlichen Wasserlaufs steht nicht zur Debatte.
Der Tapeten-Effekt Im Rahmen der Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg haben wir nunmehr verschiedene Verknüpfungsformen von National-, Regional- und Lokalgeschichte in Ortschroniken kennengelernt, die die grundlegende Trennung von Dorf und Umwelt reproduzieren. Kommen wir zu einem weiteren prominenten Muster, das auf die – oft phrasenhafte – Zusammenstellung geläufiger Versatzstücke abstellt. Die Geschichte von NS-Zeit und Weltkrieg gerät dabei zu einer Art »historischer Tapete«, die die eigentliche Geschichte des Ortes in diesen Jahren durch ebenso gewohnte wie unscharfe Topoi überkleistert. 31 Lichtenhain, S. 10.
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Diese Metapher ist einer Analyse der bekannten Filmreihen Guido Knopps über das »Dritte Reich« entlehnt, die der Historiker und Filmemacher Hannes Heer vor einigen Jahren veröffentlicht hat. Heer zeigt überzeugend auf, dass Knopp in seinen Filmen auf eine immer wiederkehrende Folge von »Standard-Einstellungen« zurückgreift, beispielsweise Bilder von Granateneinschlägen, Gefangenen und Verwundeten aus dem Ersten Weltkrieg, dann durch Straßen marschierende Soldaten- und Freikorpszüge, Adolf Hitler als öffentlicher Redner, lange Schlangen Arbeitsloser, Straßenschlachten, schließlich Fackelzüge, um einige Beispiele zur Vorgeschichte des »Dritten Reichs« herauszugreifen. Statt zu Lern- oder Reflexionseffekten führe dieses Vorgehen letztlich zu einer Art Gewöhnungseffekt: »Der Zuschauer fühlt sich mit der Zeit, von Film zu Film, in diesem Welterklärungsmuster zu Hause. Wenn er älter ist, weil er das schon einmal gehört hat. Wenn er im Krieg oder danach geboren wurde, weiß er jetzt, wie alles ablief und warum es so kam – weil sich die Bilder und die Stichworte wiederholen.« Die stets gleiche selektive dramaturgische Verkettung der gewohnten Motive gewinne letztlich einen Eigenwert; in diesem geläufigen Kanon könne sich der Zuschauer »wie zu Hause fühlen […]. Geschichte wird mit der Zeit zu etwas, das zur Einrichtung gehört – wie ein Teppich oder wie eine Tapete.« Heer zitiert in diesem Zusammenhang eine bekannte Interviewstudie Harald Welzers, indem er konstatiert: »Es gibt […] offenbar ›so etwas wie einen gesellschaftlich standardisierten Assoziationsraum der NS-Vergangenheit, und dieser Raum scheint mit einem klar begrenzten und bekannten Inventar von Bildern und Tönen ausgestattet zu sein‹.«32 Das gleichbleibende Grundmuster werde von Folge zu Folge mit variierenden, doch sich in den Grundaussagen wiederholenden Zeitzeugen-Aussagen garniert, diese würden gewissermaßen das »Muster« der Tapete ausmachen.33 Übertragen wir diese Beobachtungen auf unseren Gegenstand, Ortschroniken und Heimatbücher, so zeigt sich, dass die Darstellung von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg in den allermeisten Fällen ebenfalls mit einem deutlich begrenzten Motivhaushalt auskommt. Zudem werden diese typischen »Standard-Einstellungen« in Chroniken aller Regionen auf vergleichbare Weise verkettet, interpretiert und moralisch beurteilt. Es entsteht der Eindruck, als würde die Ortsgeschichte mit einer leicht verfügbaren, altbekannten Tapete mehr überklebt als veranschaulicht. Analog der ZeitzeugenAussagen in den Knopp-Filmen verändert die Einflechtung ortsspezifischer Details in diese Grundstruktur einzig die Feinheiten des Musters. Betrachten wir ein Beispiel: Die Chronik der oberbayerischen Gemeinde Lohkirchen aus dem Jahr 1990 enthält einen kurzen Abschnitt zu »NS-Herrschaft, Krieg und Zusammenbruch«. Gleich zu Beginn markierte die Autorin 32 Heer: »Hitler«, S. 160–195. Heer bezieht sich auf Welzer : Gedächntnis, S. 176. 33 Heer: »Hitler«, S. 174.
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den Sonderstatus dieser Epoche, indem sie die Zeit in gewisser Weise aus der Zuständigkeit der Ortschronik ausnahm und einer anonymen »Lokalforschung« zuordnete. Die Geschichte Lohkirchens zwischen 1933 und 1950 könne allein »ein Buch füllen«; es bestehe hier weiterhin »ein großer Bedarf an Lokalforschung und Aufarbeitung, den ich in diesem Zusammenhang nicht zu leisten vermag.« Was die Chronik auf den folgenden Seiten stattdessen liefert, ist eine tour de force durch eine Auswahl typischer Motive bzw. Allgemeinplätze, die repräsentativ für viele andere Chroniken sind: Besetzung der Gemeindeverwaltung mit Parteimitgliedern, Parteieintritte aus Opportunismus, Aufbau der NS-Organisationen und -Verbände, Rückgang der Arbeitslosigkeit, Verdrängung und Nichtwissen im Blick auf Verfolgung und Unrecht, Schweigen aus Angst vor eigener Verfolgung, Kriegsausbruch, Luftangriffe und Flüchtlinge, Volkssturm, Brückensprengungen, Hoffen auf das Kriegsende, Kriegsgefangene, KZ-Häftlingszug unter SS-Bewachung, Einmarsch der Alliierten, weiße Fahne, Einquartierung der Besatzer, Gewalt und Kriminalität befreiter Zwangsarbeiter, willkürliche Entscheidungen der Besatzungsmacht, Entnazifizierung, Bilanz der Kriegstoten, Ankunft und Ansiedlung weiterer Flüchtlinge, allmähliche Normalisierung in Form von Feiern und Freizeitaktivitäten. Diese Zusammenstellung der Lohkirchener Chronik bietet eine nahezu prototypische Liste an Versatzstücken, die die nahezu alle Heimatbücher – mit abweichender Vollständigkeit und Reihenfolge – kombinieren. Der sich über alle Regionen hinweg stark ähnelnde, begrenzte Motivhaushalt von Ortschroniken ist das Eine. Das Andere, was an dieser Stelle von Interesse ist, ist die Art und Weise, in der die Lohkirchener Chronik diese Themen behandelt. Gemäß dem vorangestellten disclaimer – der Nationalsozialismus sei eher ein Thema zukünftiger »Forschungen« – räumt die Autorin jedem Thema nur wenige Sätze ein. Es handelt sich jeweils um Mischungen formelhafter Interpretamente und moralischer Urteile mit recht vagen Andeutungen lokaler Konkretisierungen. Statt einer differenzierten Ortsgeschichte liefert der Text die Beschreibung einer ›allgemeinen Lebenslage unter dem Hakenkreuz‹, die – wie überall sonst – auch in Lohkirchen vorgelegen habe; zusammengesetzt aus vielerorts gehörten oder gelesenen Phrasen. Greifen wir zwei Beispiele heraus: In Bezug auf die Umbildung des Gemeinderats im Jahr 1933 heißt es pauschal: »Die Partei nahm nicht nur das politische, sondern das gesamte öffentliche Leben in ihre Hände. Vereine und Verbände wurden aufgelöst und von nationalsozialistischen Einrichtungen ersetzt. Wer seine Ämter, Positionen und Betriebe sichern, sich vor Sanktionen schützen oder ›etwas werden‹ wollte, ging – aus Überzeugung oder aus Opportunismus – in die Partei.« Verallgemeinernde, anthropologische Reflexionen überlagern hier vollständig die alltagsgeschichtliche Rekonstruktion lokaler Vorgänge. Gleiches lässt sich im Blick auf die Diskriminierungen und Verfolgungsmaßnahmen dieser Zeit beobachten: Die Autorin schreibt hierzu: »Die
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Verfolgung politischer Gegner, Judenpogrome, Rassenpolitik, Konzentrationslager und Kriegsrüstung – das war scheinbar alles weit weg oder wurde schlichtweg weggeschoben.« Der Text verweist zwar auf die geografische Nähe zu KZ-Außenlagern, doch verbleibt er hier in einer typischen Vagheit und Anonymität: »[D]ie Gerüchte über die streng geheimen Vorgänge in den Wäldern von Mettenheim oder Kraiburg, wo riesige Industriebunker und Zwangsarbeiterlager entstanden, weckten so manchen Zweifel.« Statt einer konkreten Ortsgeschichte schließt sich wiederum bloß eine vielfach gehörte Formel an: »Doch man wollte die Augen verschließen, der NS-Propaganda Glauben schenken und sich auf die persönlichen Belange konzentrieren. Widerstand und Protest hätte das eigene Leben und das der Familie in Gefahr gebracht.«34 Was hängen bleibt, ist der diffuse Eindruck eines »auch bei uns«, überkleistert durch eine Tapete aus gewohnten, eingeübten Erklärungsmustern. Bleiben wir für ein weiteres Beispiel in Oberbayern. Die Eglfinger Ortschronik enthält einen Abschnitt mit dem Titel »Kriegs- und Nachkriegszeiten im 19. und 20. Jahrhundert«, der mit dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 beginnt und sich bis zur Währungsreform im Jahr 1948 erstreckt. Werfen wir einen Blick in die knappen Ausführungen zur Weimarer Republik, die wenige, ganz typische Elemente fokussieren: das ungerechte Diktat von Versailles, den Lebensstandard bzw. die wirtschaftliche Not, die einen »Nährboden« für die politische Radikalisierung geboten habe, den Hauptakteur Adolf Hitler. Die Passage veranschaulicht den collagenartigen Charakter der gesamten Chronik, die alltägliche Redewendungen mit Lese- bzw. Fernsehfrüchten sowie verstreuten lokalen Details mischt. Über die Folgen des Ersten Weltkrieges heißt es: »Sie, die Opfer und ihre Familien waren die Leidtragenden des Krieges! Andere wurden sogar reich durch den Krieg; die sogenannten ›Kriegsgewinnler‹. ›Des einen Leid ist des anderen Freud!‹ Deutschland verlor die Kolonien. ›Wer die Macht hat, hat auch das Recht!‹ – Und der Sieger hat ›immer‹ recht! (Präsident Reagan sagte vor der Nato: Hätte man nicht so unannehmbare Bedingungen gestellt, wäre es zu keinem weiteren Krieg gekommen! Friedensschluß von Versailles!).« Weiter heißt es über die 1920er und frühen 1930er Jahre: »Es gab viele Arbeitslose – 6 Millionen allein in Deutschland in den 20er Jahren: manche kamen hoch, viele aber litten große Not! Agitatoren und Volksverführer hatten so einen Nährboden. Parteien schossen wie Pilze aus dem Boden – jeder erhoffte sich etwas von ihnen! Es trat eine allgemeine Teuerung ein. Diebstähle häuften sich. Auf dem Land trat die Maul- und Klauenseuche auf. Im Bezirk Weilheim startete man eine Hilfsaktion für die notleidende Bevölkerung! Die Eisenbahn wurde 20mal teurer! Das Briefporto stieg auf 1,50 M (– heute nur 1 DM). Hitler trat auf! Von ihm sagte der berühmte jüdische Historiker Golo Mann im Februar 1989 im Fern34 Lohkirchen, S. 88–90.
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sehen ZDF in einem Sonntagsgespräch, daß er weder Deutscher noch Österreicher war, er sei so hereingerutscht, sonst hätte er die Deutschen nicht so verführen können! Wer er war, sagte er nicht. Es entstanden blutige Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsradikalen.« In diesem Stil geht es auch bei der Behandlung der folgenden Jahre weiter ; immer wieder tauchen schlagwortartige Feststellungen auf wie: »Straßenschlachten waren an der Tagesordnung«, »Viele Landwirte in Bayern und Österreich waren der Not zufolge verschuldet. Sie hatten Hypotheken auf ihren Höfen«, oder : »Hitler baute Autobahnen, hatte seinen eigenen Stil und er rüstete auf. Die Arbeitslosigkeit war verschwunden, dies festigte Hitlers Macht.« Dazwischen befinden sich viele allgemeine moralische Urteile wie zum Beispiel: »Es gibt dafür keine Entschuldigung, wenn man jemanden umbringen läßt, nur weil er einer anderen Rasse zugehörend geboren wurde!« Auch zitiert die Chronik weiterhin populäre, den Massenmedien entlehnte Versatzstücke (vergleichbar den obigen Verweisen auf Ronald Reagan und Golo Mann). Diese Kulisse aus allgemeinen Sprichwörtern, Phrasen, Sinnsprüchen etc. wird zugleich immer wieder durchsetzt von einsilbigen Verweisen auf lokale Einzelereignisse.35 Dieses Kapitel der Eglfinger Chronik bietet ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie der Nationalsozialismus in vielen Ortschroniken hinter einer historiografischen Tapete aus pauschalisierenden, intermedial geläufigen Aussagen verschwindet, für die die lokalen Details nur unbedeutende Zugaben sind. Dieses Vorgehen erweist sich ebenfalls als kompatibel mit der scharfen Trennung von Dorf- und Allgemeingeschichte. Die NS-Zeit erscheint als eine Phase, in der die allgemeine Geschichte das Dorfleben derart stark überlagert hat, dass sich eine konkrete Ortsgeschichte für diese Jahre im Grunde erübrigt. Stellvertretend für diese Geschichte stehen universale Erklärungsformeln – garniert mit einigen austauschbaren örtlichen Details. Direkt anschlussfähig ist hier die – meist implizite – Zuständigkeitstrennung von Heimatbuch und »Forschung«. Da die NS-Zeit primär der »allgemeinen Geschichte« zuzuordnen sei, falle sie in die Zuständigkeit einer Geschichtswissenschaft, die an überregionalen Instituten und Universitäten betrieben wird und die Geschichte von Staat und Gesellschaft während des »Dritten Reichs« untersucht. Das Westgreußener Heimatbuch aus dem Jahr 1997 formuliert dies in paradigmatischer Weise. Das Kapitel »Die Zeit des Nationalsozialismus« beginnt mit einem ebenso knappen wie abstrakten Überblick über gewohnte Themen: Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, in Adolf Hitler gesetzte Hoffnung, Abschaffung der Demokratie und schließlich Krieg. Das Fazit hierzu lautet: »Diese Entwicklung kann aber jeder interessierte Leser viel besser in Geschichtsbüchern studieren«. Von diesem Konnex – Entstehung des nationalsozialistischen Staates/offizielle 35 Eglfing, S. 160–163.
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Geschichtsbücher – unterschieden ist das Paar Dorfgeschichte/Heimatbuch: Letzteres solle einzig auf das Geschehen »in unserem kleinen Heimatdorf eingehen« und scheint damit eher im Gegensatz zu den aufgelisteten Themen für die Erklärung der »Machtergreifung« zu stehen.36 An dieser Stelle empfiehlt sich ein kleiner Exkurs nach Neuengamme, und zwar nicht zu dem bekannten Konzentrationslager, sondern in das viel weniger erforschte namensgebende Dorf. Die Historikerin Gesa Anne Trojan hat 2012 Interviews mit den Dorfbewohnern über die Geschichte des KZs geführt und ist auf eine eigentümliche ›Enteignung‹ der Sprache durch ›offizielle Diskurse‹ hierüber gestoßen. Die Dörfler gliedern die Geschichte des Lagers gewissermaßen aus ihrer eigenen Biografie und der Geschichte des Dorfes im engeren Sinne aus – ein Befund der Parallelen zu der hier diskutierten Dorf/UmweltDifferenz in Ortschroniken aufweist. Allerdings sei dies nicht primär auf den Unwillen der Anwohner, über dieses ›dunkle Kapitel‹ zu sprechen, zurückzuführen, sondern eher auf fehlende Fähigkeiten. Trojan folgert, dass die Neuengammer die stark normierte, öffentliche Sprache über das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus zwar kennen, aber nicht aktiv beherrschen. Es handele sich eher »um ein Nichtkönnen als um ein Nichtwollen«.37 Überträgt man diese Deutung auf Heimatbücher, ließe sich spekulieren, dass Chronikautoren in analoger Weise – bewusst oder unbewusst – davon ausgehen, dass die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 nicht ihnen gehört, ja dass der ganze Geschichtsabschnitt »erste Hälfte des 20. Jahrhunderts« Domäne der »Forschung« sei; einerseits, da die Nationalgeschichte die Ortsgeschichte – so die Chronikperspektive – zu dieser Zeit faktisch zu sehr überlagert habe, andererseits, da die offizielle Forschung die Sprache über diese Epoche zu sehr beherrsche. Ziehen wir ein Zwischenfazit: In diesem Kapitel haben wir uns von verschiedenen Seiten der zentralen Differenz von Dorf und Umwelt angenähert, die bestimmend für die Geschichtsschreibung von Ortschroniken und Heimatbüchern ist, insbesondere im Hinblick auf die Geschichte des »Dritten Reichs«. Diese Differenz wird durch verschiedene (in aller Regel implizite) Mechanismen reproduziert: von der Korrelation geografischer und geschichtlicher Abgeschiedenheit über die Externalisierung bzw. Naturalisierung der »großen Geschichte« und die Kontrastierung von Politik und Alltag bis hin zu verschiedenen Formen Lokal- und Nationalgeschichte ›zu verbinden‹: bezugslos nebeneinander, asymmetrisch untereinander oder als formelhafte GeschichtsTapete. An der zentralen Differenz von Dorf und Umwelt orientiert sich darüber hinaus die Verteilung von Aktivität und Passivität, und zwar in einem strukturellen Sinne im Blick auf die historischen Akteure als auch in einem gramma36 Westgreußen, S. 168. 37 Trojan: Lager, S. 117.
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tikalischen Sinn der Häufung aktivischer oder passivischer bzw. unpersönlicher Formulierungen. Diesem Zusammenhang ist das nächste Kapitel gewidmet.
Die Passivität des Lokalen Auch bei uns Im Jahr 2008 erschien ein »alternatives Heimatbuch« für den Kreis St. Wendel, das sich auf fast 900 Seiten ausschließlich der Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg widmete. Der Autor Eberhard Wagner ist von der Beobachtung ausgegangen, dass es im Kreisgebiet zwar in nahezu jedem Ort bereits eine Chronik gebe, diese Epoche jedoch weitgehend ausgeblendet worden sei; dies betreffe insbesondere die Namhaftmachung konkreter Verbrechen und ihrer Täter : »In diesen wenigen Jahren sind viele Verbrechen geschehen, Verbrechen im Weltmaßstab, aber auch ›kleine‹ Verbrechen im ›Heimatmaßstab‹. An allen Verbrechen waren Menschen beteiligt, auf der einen Seite als Täter und auf der anderen Seite als Opfer.« Das Gros der existierenden Heimatbücher würde zwar die »Verbrechen im Weltmaßstab« erwähnen, sich hier aber auf Pauschalaussagen wie zum Beispiel: »Die Nazis haben die Juden vergast!« ohne konkreten Bezug zur Ortsgeschichte verlegen. Das »alternative Heimatbuch« hingegen wolle nun genau dies leisten: die Ausbuchstabierung individueller Akteure, Taten oder Initiativen im lokalen Rahmen. Wagner listet auf: »Hier findet man Namen von Opfern der Nazi-Verbrechen, Namen von Tätern, Namen von NSDAP-Mitgliedern – auch was sie nach der Befreiung gemacht haben – Namen von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen und bei wem sie untergebracht waren, Namen von Gegnern und Befürwortern der Nazi-Zeit, Namen von jüdischen Bürgern und Bürgerinnen, von ihrem Schicksal und was mit ihrem Eigentum geschah, Geschichten und Geschichtchen von Mord, Totschlag und Diskriminierung, von Mitläufern und Mutigen aus dieser Zeit.«38 Vergleichbare Kritiken an Heimatbüchern – das Aufzeigen solcher Leerstellen – ließen sich aus anderen Kreisen bzw. Regionen Deutschlands gleichermaßen zitieren. Vielfach ist angemahnt worden, dass Ortschroniken die konkreten Handlungsträger während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz oder tendenziell ausblenden würden oder hinter abstrakten Formeln (wie »die Nazis« oder »die Partei) verschwinden ließen. Zur Veranschaulichung reicht an dieser Stelle ein Beispiel aus der Chronik des bayerischen Reichertshofen aus: Das Teilkapitel »Verfolgung von Nazigegnern« stützt sich nach Angaben des Autors vollständig auf Zeitzeugen-Erinnerungen. Alle wiedergegebenen Handlungen und Maßnahmen 38 Wagner : Marpingen, S. 64–65.
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stehen in diesem Abschnitt in typischer Weise im Passiv : »Ein dunkles Kapitel bald nach dem Beginn des Dritten Reiches ist die Verhaftung von Nazigegnern und ihre Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau. […] Von Reichertshofen wurden mehrere Männer, die sich gegen die Diktatur Hitlers äußerten, nach Dachau gebracht und ein Jahr und länger dort festgehalten. Meist wurden sie wegen ihres Verhaltens oder ihrer Äußerungen bei Parteistellen (Ortsgruppenleiter) denunziert. […] Den Inhaftierten wurde strengstens untersagt, über ihre Inhaftierung auch nur ein Wort zu sagen. Zugleich wurde gedroht, sie würden anderenfalls sofort wieder eingeliefert. Bekannt ist auch, dass der Ortspfarrer Dekan Dr. Karl Raab wegen seiner Predigten überwacht wurde, weil er die Regierung wegen der Behinderung der Religionsausübung immer wieder angriff. In der Schule durfte kein Religionsunterricht mehr erteilt werden, die klösterlichen Lehrerinnen wurden aus dem Schuldienst entfernt. [Usw.]«39 Dieser Auszug ist repräsentativ dafür, wie sich passivische Formulierungen in thematischen Zusammenhängen, die mit dem »NS-Apparat« und seinen Verfolgungsmaßnahmen in Verbindung stehen, in Ortschroniken häufen (und wie aktivische Formulierungen nahezu gänzlich ausbleiben). Auf den ersten Blick hat dies zwei Gründe: Der erste Grund, den viele Chronikautoren selbst vorbringen, ist, dass zahlreiche Dokumente im Zuge des Zweiten Weltkrieges abhanden gekommen oder bewusst vernichtet worden seien. Dies trifft für manche Gemeinden mehr zu als für andere, zweifelsohne sind jedoch weiterhin zahlreiche Quellen (in Archiven und privaten Beständen) zum »Dritten Reich« zugänglich.40 Zudem konnten die Chronikautoren viele Jahrzehnte lang auf die mündlichen Erinnerungen der Zeitgenossen zurückgreifen, wenn diese nicht sogar – im Rahmen alltagsgeschichtlicher Initiativen der 1980er und 1990er Jahre – aufgenommen und ebenfalls archiviert worden sind. Ein zweiter Grund, der vorrangig von Kritikern und Rezensenten vorgebracht wird, ist, dass die Behandlung des Themas auch in der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration noch mit vielen Tabus belastet sei. Diese seien gerade im lokalen Umfeld wirksam, da die familiären und persönlichen Bindungen hier besonders präsent seien. Dieser Sachverhalt ist zweifellos in Rechnung zu stellen und wird von Ortschronikautoren im persönlichen Gespräch nicht selten bestätigt. Ich möchte jedoch einen Schritt weiter gehen und den Zusammenhang der auffallenden Konkretisierungs-Lücken mit den perspektivischen Eigenheiten des Genres Ortschronik untersuchen. 39 Reichertshofen, S. 48. 40 Vgl. z. B. Jüngst: Euphorie, S. 1. Vgl. auch die differenzierte Übersicht über Erhalt und Zerstörung kommunaler Archivalien, die der Landrat des Kreises St. Ingbert Ende 1946 auf der Grundlage von Angaben aller Gemeinden aus dem Kreis erstellt hat, Landrat des Kreises St. Ingbert an Die Bürgermeister des Kreises St. Ingbert, 29. 11. 1946, in: LADS, LRA IGB, Nr. 4249.
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Rufen wir uns die imaginäre Zuständigkeitstrennung von »Forschung« und Heimatbüchern in Erinnerung, der wir zuletzt im vorangegangenen Kapitel begegnet sind, so liegt die Annahme nahe, dass die kritisierte Pauschalität von Ortschroniken damit in Verbindung steht. Demnach bedeutet die NS-Zeit eine massive Politisierung von außen, die in erster Linie allgemeingeschichtlich zu untersuchen sei. Die Chronik von Katzenelnbogen im Rhein-Lahn-Kreis bringt diese Perspektive auf den Punkt, indem sie die »Weimarer Zeit« mit dem Worten abhandelt: »Es ist nicht weiter lohnend, allgemeine Dinge, die für fast jeden Ort in Deutschland gelten, hier auszubreiten.«41 Genau deshalb taucht in so vielen Chroniken, wenn es um den Nationalsozialismus geht, die Formel eines »auch bei uns« so häufig auf. Das unscheinbare Attribut ist Ausdruck eines Geschichtsverständnisses, das die NS-Zeit als rein staatliches bzw. gesellschaftliches Phänomen auffasst; ein Phänomen, das scheinbar reichsweit in gleichförmiger Weise nach unten durchschlug. Betrachten wir einige beispielhafte Formulierungen: In Aufhausen in Bayern sei die Machtergreifung der NSDAP »wie fast im gesamten Deutschland […] begrüßt« worden, heißt es eingangs des auffallend kurzen Kapitels »Aufhausen im 3. Reich«.42 Im saarländischen Lisdorf habe es »wie überall im Deutschen Reich […] Anhänger und Gegner des Hitlerregimes« gegeben.43 In Heiligenwald, ebenfalls im Saarland, musste man feststellen, dass die Gestapo ihr »Schreckensregiment« während der NS-Zeit »auch hier« entfaltet habe.44 Und der Zweite Weltkrieg habe »auch von Kappel«, in Bayern gelegen, seine »Opfer verlangt«.45 Für Ortschronikautoren ist der Großteil der Ortsgeschichte dieser Jahre im lokalen Rahmen im Grunde nicht erklärbar ; oder auch: nicht erklärungsbedürftig. Die zitierten Formeln legen nahe, dass die Ausgangspunkte aller Aktivität während der NS-Zeit letztlich in der Umwelt (und nicht im Ort) zu suchen seien. Auf Seiten des Dorfs entspricht dem eine augenfällige Passivität, was sich nicht allein in der fehlenden Konkretisierung von Tätern und in der Häufung des grammatischen Passivs niederschlägt. Darüber hinaus unterstützen einschlägige erzählerische Elemente die grundlegende Passivität der Ortsgeschichte. Die wichtigsten dieser Figuren, die ich im Folgenden besprechen werde, sind die Schicksalhaftigkeit und Plötzlichkeit der Geschichte, das unbeteiligte Zuschauen und Abwarten sowie das Doppel von Verführung und Missbrauch.
41 42 43 44 45
Katzenelnbogen, S. 409. Aufhausen, S. 306. Lisdorf, S. 33. Heiligenwald, S. 263. Hiltpoltstein, Kapitel »Chronik der FFW Kappel« ohne Paginierung.
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Geschichte als Schicksal Die Ortschronik-Perspektive auf die Geschichte basiert auf einer klaren Trennung von »großer« und »kleiner« Geschichte. Wir haben bereits in verschiedenen Zusammenhängen gesehen, dass die große Geschichte hierbei als eine Art Umwelt – externalisiert und naturalisiert – erscheint; sie bricht gelegentlich von außen über das Dorf herein. Dieses Geschichtsverständnis geht mit einem deutlich spürbaren Fatalismus einher. Der nationalen bzw. politischen Geschichte kommt die Stellung einer Art Schicksal für das Dorf zu; sie kann der Ortsgeschichte gegenüber gewogen oder feindselig sein, doch scheint sie dies nahezu vollkommen unabhängig vom Dorfleben selbst zu sein. Ihre Wendungen sind aus der Perspektive des Dorfes (und seiner Chronisten) nur sehr bedingt einsehbar. Wie Gustav Schöck über württembergische Heimatbücher schreibt, erscheint die äußere Geschichte darin »zufällig, einem blind waltenden Schicksal zu verdanken zu sein, dem der Ort und seine Bewohner ausgeliefert sind.« Diese Schicksalhaftigkeit zeichne vor allem die NS-Zeit aus; symptomatisch sei laut Schöck die »Hilflosigkeit, mit der die Übernahme der Staatsgewalt durch die Nationalsozialisten beschrieben wird.«46 Ein treffliches Beispiel hierfür, das sich auf eine größere Zeitspanne von 1914 bis 1945 bezieht, bietet das Vorwort des zweiten Bandes der Ortschronik von Fallingbostel. Es heißt hier : »Was unser Ort in dieser apokalyptischen Zeit von 1914 bis 1945 im auf und ab der Schicksalswege erlebte, darüber sollen die folgenden Blätter für die Heimatfreunde und ihre Nachfahren berichten.« Dass die Zeitgenossen dieser »apokalyptischen« Epoche hilflos ausgeliefert gewesen waren, unterstreicht der Autor mit der These, dass sie die Schwere der Schicksalsschläge in aller Regel gar nicht kommen sahen oder sogar missdeuteten: »Und wo man meinte, hin und wieder etwas Tröstliches oder gar Erfreuliches vermerken zu können, da erwies es sich hinterher meistens als belanglos, oft so falsch und manchmal zum großen Nachteil und Schaden für uns alle.«47 Aus der Perspektive des Dorfes war das historische Schicksal folglich kaum zu erkennen, höchstens zu erahnen. Die Dorfbewohner hätten den tatsächlichen Charakter der Ereignisse aus ihrer Warte unmöglich durchschauen können. Ihnen sei vor allem Optimismus, Hoffnung oder auch Vertrauen auf günstige äußere Umstände geblieben. Demgegenüber suggerieren Ortschroniken, dass sich die kontinuierliche Ortsgeschichte jenseits aller Schicksalsschläge durch eine gewisse unverwüstliche Beharrlichkeit ausgezeichnet habe. Der primär auf landwirtschaftliche und gemeinschaftliche Belange bezogene Wesenskern des Dorfes ist scheinbar unverändert geblieben. Das Geleitwort des Schirmherren der 1200-Jahresfeier von 46 Schöck: Heimatbuch, S. 151. 47 Fallingbostel, S. 3.
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Dromersheim am Rhein in der 1956 erschienenen Festbroschüre bringt dies anschaulich zum Ausdruck: »Schon von der Jugendzeit her hat sich mir über dieses Dorf ein Bild eingeprägt, das die reiche und wechselvolle Geschichte widerspiegelt, aber auch Zeugnis ablegt von den fleißigen und pflichtbewußten, sparsamen und gläubigen Menschen, die hier seit Jahrhunderten allen Schicksalsschlägen zum Trotz aufgebaut, den Boden bestellt und vom Weinbau gelebt haben. So hat sich hier eine unverwüstliche Kraft kulturträchtigen Bodens und traditionsgebundener Menschen entfaltet und bewährt und ein kommunales Eigenleben geformt, das auch dem verflossenen System trotzte und nach 1945 unverzagt trotz schweren Blutzolls seinen Lebenswillen behauptete.«48 Dem historischen »Schicksal« steht der »unverwüstliche« Kern des Dorflebens gegenüber – als Einheit von Erscheinungsbild des Ortes, Lebensweise und Mentalität seiner Bewohner. Alle drei Elemente stünden im Einklang miteinander und zeichneten sich gleichermaßen durch eine Art überhistorische Beständigkeit aus. Darüber hinaus deutet das Zitat an, dass das »Dritte Reich«, insbesondere der Zweite Weltkrieg und seine Folgen (hier durch die Chiffre »nach 1945« symbolisiert), den unbestreitbaren Höhepunkt aller »Schicksalsschläge« verkörpert habe. Dieser Fatalismus im Blick auf den Weltkrieg ist in den meisten Chroniken sehr präsent, insbesondere im Blick auf die Kriegstoten – allgemein die »Opfer«, die der Krieg abverlangt –, die Zerstörungen durch Kampfhandlungen und die existenzielle Not während und nach den Kriegsjahren. Umgekehrt ist von einem »überaus gütigen Geschick« oder Vergleichbarem zu lesen, wenn der jeweilige Ort von Schlimmerem verschont worden sei.49 Schauen wir uns etwas genauer an, in welcher Weise der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Chroniken üblicherweise dargestellt wird. Hierbei zeigt sich ein Element, das eng mit der Schicksalhaftigkeit der Geschichte verbunden ist: die Plötzlichkeit ihrer Wendungen. Auch hierzu äußert sich der Verfasser des bereits zitierten »alternativen Heimatbuchs« des Kreises St. Wendel, Eberhard Wagner, kritisch. Er gibt eine typische Passage zum Kriegsausbruch aus einem anderen Heimatbuch aus dem Kreisgebiet wieder, in der auf die Erwähnung nationalsozialistischer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unvermittelt der Kriegsausbruch folgt. Wagner folgert: »Wie aus heiterem Himmel, so wird in dem Buch suggeriert, brach der 2. Weltkrieg aus und beendete die schöne Idylle.«50 Ein ausgesprochen übliches Motiv in Heimatbüchern, um diesen Kontrast auszudrücken, ist das Eintreffen der Nachricht vom Kriegsausbruch bei der Feldarbeit. In der Chronik von Oberböhmsdorf in Thüringen heißt es 2008 lapidar : »Als am 48 Dromersheim, S. 5. 49 Vgl. Heiligenwald, S. 262 (mit Bezug auf die vielerorts im Saarland angeordneten Evakuierungen). 50 Wagner : Marpingen, S. 53–54.
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1. September 1939 der Krieg begann, waren wir gerade bei der Getreideernte.« Der Autor, der in der Chronik seine Kindheitserinnerungen niedergeschrieben hat, fährt unmittelbar damit fort, die Auswirkungen des Krieges auf den Fortgang der Ernte zu beschreiben: »Vater bekam für den nächsten Tag den Einberufungsbefehl. Trotzdem wurde bis zum Abend noch Weizen eingefahren. Sämtliche Leiterwagen standen voll beladen auf dem Hof. Einen Tag später wurde ein Pferd zum Kriegsdienst abgeholt. Nun stand meine Mutter mit uns zwei Kindern mitten in der Ernte allein da.«51 In diesem Setting – Feldarbeit und Ernte versus überraschende oder zumindest unvermittelte Nachricht über den Beginn des Zweiten Weltkriegs – schlägt sich die grundlegende Trennung des Dorfs, als Sphäre des Existenziellen und Alltäglichen, von der Umwelt, als Sphäre von Politik und (Welt)Geschichte, sehr anschaulich nieder.52 Die von Eberhard Wagner gewählte Metapher »wie aus heiterem Himmel« verweist darüber hinaus auf eine in Ortchroniken weit verbreitete Metaphorik von Gewitter, Sturm oder Blitzschlägen. Das Weltkriegsgeschehen stellt sich in Heimatbüchern so vage vorhersagbar und unbeeinflussbar wie das Wetter dar. In der Chronik von Heiligenwald heißt es beispielsweise, dass sich in den Sommermonaten des Jahres 1939 »Gewitterwolken zusammenballen«.53 Wie die Wetterbeobachtung lässt auch die Beobachtung der (Welt)Politik aus der Dorfperspektive drohendes Unheil mehr erahnen als erkennen. Wir erinnern uns an die analoge Trennung der Elemente – Himmel und Erde –, die die Darstellung des Luftkriegs in vielen Ortschroniken bestimmt. Die historische Umwelt tendiert wie die natürliche Umwelt dazu, unvorhersehbar zu sein und immer wieder einen plötzlichen Wechsel oder sogar einen katastrophalen Umschlag zu bewirken.
Zuschauen, Abwarten, Hoffen Der allgemeinen Geschichte gegenüber verhielten sich die Bewohner der deutschen Dörfer wie die Zuschauer einer politischen Bühne; dieser Eindruck entsteht jedenfalls bei der Lektüre der Heimatbücher dieser Orte. Im Dorf sieht man zu, wird von neuen Entwicklungen überrascht und hofft auf gute Wendungen, 51 Oberböhmsdorf, S. 45–46. 52 Vgl. die Chronik von Leopoldshagen, in der es auf einigen Seiten um die landwirtschaftlichen Arbeitsabläufe der 1930er Jahre geht. Es folgt der bezeichnende Einschub: »Und wieder einmal wurde dieses friedliche Tätigsein jäh unterbrochen! Als verheerende Folge der Naziherrschaft brach im Jahre 1939 der 2. Weltkrieg aus.« Sogleich geht es weiter mit den Auswirkungen auf die Ernte: »Wieder traf es viele Männer des Dorfes. Sie mußten ihre Haut in diesem noch grausameren 2. Weltkrieg zu Markte tragen. Die zurückbleibenden Frauen und Kinder und alten Leute mußten die schwere Feldarbeit von nun an zum größten Teil allein bewältigen« (Leopoldshagen, S. 31). Vgl. des Weiteren Herrenkoog, S. 90. 53 Heiligenwald, S. 262.
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alles in allem bekommt man die nationale Ereignisgeschichte ›vorgesetzt‹. Der Autor der Chronik von Breitenbrunn in Bayern schreibt, dass der Ort in den letzten zwei Jahrtausenden »viele Herren gehabt« habe. »Über sie wird zu berichten sein und sie bringen die große Politik in diese Geschichte.« Die Quelle politischer Aktivität ist damit eindeutig zugeordnet. Demgegenüber steht die Passivität »der Menschen« von Breitenbrunn: Diese haben »nie Geschichte gemacht, sondern immer nur Geschichte erduldet«.54 Dieses Motto trifft insbesondere auf die Darstellung des frühen 20. Jahrhunderts und die Zeit des Nationalsozialismus zu. Werfen wir einen Blick in die Bliesdahlheimer Chronik: Die Ausführungen zu den 1920er und 1930er Jahren beschäftigen sich in üblicher Weise mit bautechnischen Details; in einer Zeittafel heißt es zum Jahr 1932 beispielsweise: »Der 1,50 m breite, links und rechts abgemauerte offene Wassergraben (Dohlen) vor den Anwesen Jakob Weber und Joh. Albrecht wird beseitigt, ca. 30 Meter mit Betonrohren Ø 600 mm verrohrt, finanzielle Beteiligung des Bezirksamtes Homburg. Die Hauptstraße wird zum Teil begradigt.« Oder : »Die Bezirksstraße, heute L 105 wird ab nordöstlichem Dorfeingang bis zum ›Steinbruch‹ auf die südöstliche Seite der Bliestalbahn verlegt, dadurch Wegfall von 2 Bahnübergängen am ›Steinbruch‹ und zur ›Muhle‹.« Kurz darauf gibt der Eintrag zum Jahr 1935 das vermeintliche politische Thema der nächsten Jahre vor: »Sonntag, den 13. Januar Saarabstimmung am 01. März Rückgliederung – NSDAP bestimmt nun die Richtung.«55 Es folgen weitere Beschreibungen kleinerer Baumaßnahmen sowie landwirtschaftstechnischer Veränderungen. Den Bau von militärischen Depots und Panzersperren notieren die Autoren hierbei im selben lapidaren Gestus wie die oben zitierten Straßenbaumaßnahmen. 1938 habe im unmittelbaren Umfeld des Ortes ein Manöver anlässlich der »Sudetenkrise« stattgefunden. Auf den knappen Vermerk folgen sogleich wieder typische, kleinteilige Erörterungen zum Bau einen Abwasserkanals. Wie sich die angekündigte »Richtungsbestimmung« durch die NSDAP auf das Dorfleben konkret auswirkte, wie sie zum Beispiel Kommunikation, Sozialstruktur, Umgangsformen, die politische Kultur oder anderes veränderte, bleibt in diesem Nebeneinander einer Masse infrastruktureller Details und weniger großpolitischer Einschübe vollständig unerklärt. In zahlreichen Chroniken gehen die Autoren nach diesem Muster vor: Die Beschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird immer wieder von kurzen national- bzw. gesellschaftsgeschichtlichen Hinweisen durchsetzt, während darunter – bezugslos – eine kontinuierliche Linie zahlloser, infrastruktureller Erweiterungen und Verbesserungen verläuft. Die politischen Veränderungen der Umwelt, so suggeriert diese Darstellungs54 Breitenbrunn, S. 6. 55 Bliesdahlheim, S. 170.
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weise, werden auf der lokalen Ebene sehr wohl aufmerksam registriert, allerdings ist man auf dieser Ebene bloß Zuschauer des politischen Spiels – und bleibt im Wesentlichen auf das Tagesgeschäft fokussiert. So legt es auch die Chronik des thüringischen Zollgrün nahe. Vom Ersten Weltkrieg bis zur DDR-Zeit verstreuen sich politische Einschübe zur nationalen Lage auf eine kaum geordnete Masse bautechnischer und infrastruktureller Einzelheiten. Der Ort erleidet hierbei – stets etwas zeitversetzt – die Folgen dieses Schauspiels der großen Politik. Im Rahmen des Ersten Weltkriegs liest man: »[W]enn das Volk auch alles in Ordnung findet, gibt es eine Oberschicht, die mehr will. So geschah es eben auch, dass sie den ersten Weltkrieg anzettelte. Die Leidtragenden sind immer die Hinterbliebenen. Viele Männer mussten in den Krieg ziehen«. Für die Zeit der Weimarer Republik trifft der Leser dann hauptsächlich auf Details, wie die Dorfbewohner mit den Versorgungsschwierigkeiten umgingen, die in der Folge der Weltwirtschaftskrise das Dorf erreichten. Daraufhin hätten die Dörfler 1933 die »Machtübernahme durch Adolf Hitler« vorerst »begeistert« aufgenommen. »In Wirklichkeit« aber, so heißt es weiter, hätte das Drama hinter den Kulissen bereits seinen Lauf genommen: Hitler habe für den Krieg gerüstet. Einige Jahre später hätten sich dann wiederum die Konsequenzen für den Ort offenbart, abermals vor allem in der Form Kriegstoter. Im Dorf sei man froh gewesen, als sich das ersehnte Kriegsende einstellte und diese ebenso dramatische wie leidvolle Episode endlich ihr Ende gefunden habe. Die Passivität (des Erleidens, Abwartens und Hoffens) setzt sich in der Schilderung der Besatzungs- und Nachkriegszeit fort, zusammengefasst in der Formel der »schlechten Verhältnisse«: »Anfang Juli lösten dann die Russen die Amerikaner als Besatzer ab. Da wurden die Verhältnisse noch einmal schlechter, vor allem hinsichtlich der Ernährungslage.« Und auch in der DDR »wurde alles diktiert«. Währenddessen nimmt die Darstellung auf Dorfebene jedoch weiterhin vor allem den Bau von Wasserleitungen und Ähnlichem in den Blick. In diesen Details findet der kontinuierliche Strang der Dorfgeschichte seine Fortführung; hier ist die Dorfbevölkerung auffallend aktiv und tatkräftig – ganz im Gegensatz zu der ausgeprägten Passivität gegenüber den politischen Tumulten des 20. Jahrhunderts.56 Die typische Erzählweise von Ortschroniken legt nahe: Im Dorf wurde hauptsächlich zugeschaut, nicht mitgewirkt. Die nationalsozialistischen und vor allem die Kriegs- und Nachkriegsjahre sind Wartejahre – Warten auf günstigere äußere Umstände –, gewissermaßen Ortsgeschichte on hold.
56 Zollgrün, S. 35–43. Vgl. als weiteres Beispiel nur: Eschringen, S. 32–34.
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Verführung und Missbrauch Ein wichtiges Mittel, um die aktive Teilnahme an den politischen Veränderungen der NS-Zeit in eine eigentliche Passivität umzudeuten, liegt darin, sie auf eine Erzählung von Verführung und Missbrauch zurückzuführen. Weit verbreitet in Ortschroniken sind die Narrative der Verführung der Bevölkerung durch Hitler sowie ihr Gegenstück: der Missbrauch der guten Hoffnungen zu verbrecherischen und kriegstreiberischen Zwecken. In der Chronik von Westgreußen in Thüringen aus dem Jahr 1997 sind beide Elemente in dem Kapitel »Die Zeit des Nationalsozialismus« miteinander verwoben: Die wirtschaftliche Notlage der Weimarer Republik bereitete hierbei eine grundsätzliche Verführbarkeit der Dorfbevölkerung vor (»Die Zeit von der Weltwirtschaftskrise bis zum Ausbruch des II. Weltkrieges war gekennzeichnet von großer Armut«). Daran schloß sich – quasi-natürlich – der Übergang »in eine neue Gesellschaftsordnung« an, deren eigentliches Wesen aus der eingeschränkten Beobachterperspektive des Ortes kaum einsehbar gewesen sei: »die Entwicklung bis zur totalen Freiheitsberaubung erkannten die meisten noch nicht.« Stattdessen habe sich eine ganz typische Haltung gegenüber den politischen Verhältnissen eingestellt – die Hoffnung auf ein günstiges Schicksal: »[M]an schöpfte wieder Hoffnung und glaubte an eine bessere Zukunft.« Hitler habe es verstanden diese Hoffnung für seine Ziele, die keinerlei Bezug zur dörflichen Lebenswelt aufwiesen, auszunutzen: »Aus einer solchen Situation heraus verstand es Hitler mit seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, kurz NSDAP genannt, große Massen des deutschen Volkes für sein Programm zur Rettung Deutschlands zu gewinnen. […] Diese Macht nutzte er rigoros aus, um die Demokratie in Deutschland abzuschaffen und den Krieg vorzubereiten.«57 Auf diese typische Geschichte von Notlage, Verführung und Missbrauch folgt dann in der Regel »das große Erwachen«. Meist ist es erst dieser Moment, in dem sich der Dorfbevölkerung die wirkliche Gestalt des politischen Dramas offenbart habe. Das Kapitel »Neu- und Altbeuern nach 1945« in der Chronik des bayerischen Marktes besagt: »Unbeschreibliche Einzelschicksale spielten sich in diesen Monaten ab. Für alle kam das große Erwachen; man wurde sich langsam bewußt, in welche Lage die Naziführung, die Menschen gebracht hatte. Seelische und leibliche Not, ja Verzweiflung machten sich breit. […] Es war eine Zeit der Trostlosigkeit, der Niedergeschlagenheit, wie überall im Lande.«58 Ein besonderer Stellenwert kommt in Ortschroniken der nationalsozialistischen Verführung im Blick auf die »Jugend« zu; viele Autoren gehen davon aus, dass gerade diese Gruppe besonders
57 Westgreußen, S. 168. 58 Neubeuern, S. 670.
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anfällig dafür war.59 Das Heimatbuch des Niedersächsischen Bliedersdorf beschreibt die Begeisterung, mit der viele dem Deutschen Jungvolk, der Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädel angehörten und an deren Aktivitäten teilhatten. Darauf folgt jedoch ein Absatz mit der Überschrift »Mißbraucht«, der eine typische Interpretation anbietet: »Die Kinder merkten nicht, wie ihre Begeisterung für ihre Jugendgruppe mißbraucht wurde, dienten doch viele Übungen der vormilitärischen Ausbildung und der Hinführung der Jugend zu dem geplanten Krieg.« Diesem Missbrauch jugendlichen Elans folgt die ebenso typische Läuterung; in der Bliedersdorfer Chronik am Beispiel des »Hitlerjugendführer Johannes Höper« dargestellt, der »als junger Soldat dann später diesen Mißbrauch selbst erfahren und miterlebt« habe. Er sei als 16-jähriger zur Verteidigung Berlins eingesetzt worden sei, »damit sich der Führer und seine Freunde in ihrem Bunker in Berlin ihr Leben noch um einige Tage verlängerten.«60 Zwar variieren die Einzelheiten von Chronik zu Chronik, von Erzählung zu Erzählung, doch wiederholt sich die Abfolge von Verführung-MissbrauchErnüchterung von Jugendlichen durch Adolf Hitler bzw. die »NS-Führung« hierbei in immer gleicher Form. Dieses Motiv unterstützt nicht allein die Trennung von Dorf und Umwelt und die entsprechende Verteilung von Passivität und Aktivität entlang dieser Demarkationslinie, sie verweist auch auf die übliche Zuständigkeitstrennung von Forschung und Ortschronistik, die diese Trennung begleitet. So erscheint es angesichts der aus der Dorfperspektive kaum einsehbaren Verführung gerechtfertigt, Dorfchroniken als Forum idyllischer Kindheitserinnerungen aus den 1930er und 1940er Jahren zu nutzen. Während die geschichtswissenschaftliche Forschung sich mit den Hintergründen der nationalsozialistischen Verführung – und der auf diesem Wege von außen in die Orte getragenen Politisierung und Militarisierung – auseinandersetzt, nehmen Ortschroniken vorzugsweise die persönlichen Erinnerungen der Verführten bzw. Missbrauchten auf. Sie schildern damit eine vermeintliche Innenperspektive, die im Nachhinein – vor allem aus der Außensicht der Forschung – als ganz andere Geschichte erkennbar geworden sei. Diese andere Geschichte verschweigen Ortschroniken zwar nicht, sie delegieren sie jedoch stillschweigend an einen anderen, historiografischen Zuständigkeitsbereich.
59 In aller Regel findet sich in Ortschroniken in diesem Zusammenhang keine genauere Bestimmung welche Altersgruppen die Begriffe »Jugend« oder »die Jungen« umfassen. 60 Bliedersdorf, S. 301–302.
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Opferzentrismus Wiederholt ist Heimatbüchern und Ortschroniken verschiedener Regionen vorgeworfen worden, dass sie den »eigenen Opfern« des Nationalsozialismus unverhältnismäßig viel Platz einräumen, allen voran den Luftkriegs-Toten und -Geschädigten, den Gefallenen, den Flüchtlingen und Vertriebenen. Demgegenüber würden die Täter vergleichsweise pauschal und beiläufig behandelt oder gleich ganz verschwiegen. Die Opfer politischer und ethnischer Verfolgungen im Ort würden hierbei ebenfalls unter den Tisch fallen. Diese Tendenz eines Opferzentrismus lässt sich zweifellos in Chroniken aus dem gesamten Bundesgebiet feststellen. Gelegentlich ist die Auflistung der Kriegstoten die einzige (indirekte) Referenz auf die Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg.61 Besonders auffällig ist zudem die Ungleichverteilung der namentlichen Konkretisierung: Während Täter oft hinter anonymen Formeln oder passivischen Satzkonstruktionen verdeckt bleiben, werden Opfer nahezu immer namentlich genannt. Diese Beobachtungen lassen sich, wie von den Kritikern vielfach festgestellt, zu großen Teilen auf örtliche »Tabus« zurückführen.62 Allerdings stehen sie darüber hinaus in direktem Zusammenhang mit der Vorstellung der Ortsgeschichte als passivem Gegenpol der Nationalgeschichte. Die Ortschronik des nordfriesischen Kotzenbüll fasst dies für die Zeit von 1870 bis 1945 in einer pointierten Formel zusammen: »In den folgenden Jahren schwindet die Eigenverwaltung des Kirchspiels immer mehr. Schon für den Krieg 1870/71 finden wir keine Protokollnotizen mehr, und auch für den 1. Weltkrieg 1914–1918 und den 2. Weltkrieg 1939–1945 ist die militärische Organisation in die Hände des Staates übergegangen. In Kotzenbüll gibt es nur noch Opfer.«63 Der Staat handelt, das Dorf folgt und erleidet; es ist Opfer der Zeitläufte. Geht man von diesem Grundmuster aus, überrascht es nicht, dass einige Chroniken die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem als Geschichte der Weltkriege in den Blick nehmen. Der Opferfokus des Genres hebt diese Zeit als Abfolge von Kriegs- und Nachkriegszeiten hervor. Ein eklatantes Beispiel bietet die Chronik von Dietersheim im Saarland, die im Jahr 1952 veröffentlicht worden ist und deren Autor folglich noch stark unter dem Eindruck des gerade vergangenen Krieges stand. Die Kapitel zwölf bis sechszehn, die das frühe 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart des Verfassers behandeln, heißen: »Der erste Weltkrieg 1914–1918« – »Die Nachkriegszeit bis 1939« – »Der zweite Weltkrieg 1939–1945« – »Das Kriegsgefangenenlager« – »Die zweite Nachkriegszeit«.64 61 62 63 64
Vgl. als Beispiel: Freisen, S. 36. Vgl. Kukatzki: »Vergangenheitsbewältigung. Kotzenbüll, S. 80; Hervorhebung von mir. Dietersheim, S. 65–86.
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Diese Gliederung bringt eine entsprechend selektive Wahrnehmung ortsgeschichtlicher Themen mit sich, die sich sämtlich auf eigene Opfer beziehen. Für beide Kriege liefert die Chronik vollständige Listen der Kriegstoten aus Dietersheim. Während des Ersten Weltkriegs und danach sei die Not zudem durch wiederholte Überschwemmungen der Nahe verschärft worden. Während des Zweiten Weltkriegs habe die Angst vor sowie das Leid unter dem Luftkrieg im Vordergrund gestanden. Im Zentrum der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs steht sodann eine ausführliche Schilderung der Lebensumstände in einem nahe gelegenen Gefangenenlager für deutsche Soldaten. In diesem Zusammenhang geht es vor allem um Übergriffe der US-amerikanischen Besatzer sowie die mangelhafte Ernährungslage der Lagerinsassen. Die Reduktion des frühen 20. Jahrhunderts auf Kriegs- und Nachkriegszeiten ist zwar nicht immer so deutlich aus der Kapitelstruktur zu entnehmen wie im Fall der Dietersheimer Chronik. Sie bestimmt jedoch in mehr oder weniger ausgeprägter Form die meisten Bücher des Genres. Hierbei geht es um eine Tendenz, das heißt eine Schwerpunktsetzung, die die Behandlung anderer Themen sowie die punktuelle Namhaftmachung »eigener Täter« keineswegs ausschließt. Ein genauerer Blick offenbart, dass die meisten Chroniken für diese Zeitspanne viele weitere Themen behandeln, die über das Beklagen der Opfer hinausgehen. Allerdings räumen sie letzterem vergleichsweise viel Platz ein, so dass sich aus dem quantitativen Übergewicht in vielen Fällen doch ein merklicher Opferzentrismus ergibt. In vielen Chroniken nimmt die Darstellung von Luftkriegsschäden und die Auflistung der Gefallenen die Mehrzahl der Seiten ein.65 Dazu kommt oftmals eine minutiöse Rekonstruktion der Kampfhandlungen und Zerstörungen in den letzten Kriegstagen unmittelbar vor, während und nach dem Einmarsch alliierter Kampf- und Besatzungstruppen. Auch in diesem Kontext erscheint die Dorfbevölkerung in aller Regel nur als passives Opfer einer gewaltigen Kriegsmaschinerie ohne direkten Zusammenhang zum Ortsgeschehen. Den Dorfbewohnern schien es vorrangig darum gegangen zu sein, die materiellen und menschlichen Verluste im Ort möglichst gering zu halten. In den meisten Chroniken erfährt das thematische Ungleichgewicht eine weitere Verstärkung dadurch, dass der unmittelbaren Nachkriegszeit besonders viel Raum gegeben wird. Die dominanten Themen sind hierbei: die Aufnahme von Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen, die Versorgungsengpässe mit Nahrungsmitteln und weiteren alltäglichen Bedarfsgütern, die Willkür der Besatzungsmächte und die Kriminalität der befreiten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen. Die konkrete Benennung von Opfern aus der Dorfbevölkerung und die Beschreibung konkreter Vorfälle, die von ortsfremden Tätern 65 Vgl. z. B. Molbitz.
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ausgeübt wurden, stehen deutlich im Vordergrund. Auch in diesen Zusammenhängen trifft der Leser immer wieder auf einzelne Differenzierungen. Sie reichen jedoch kaum aus, um die vorherrschende Perspektive zu brechen, die das Dorf und seine Einwohner als Opfer unkontrollierbarer, schicksalhafter, von außen eindringender Not und Willkür hervorhebt. Die Chronik von Wadern im Saarland schreibt über die Nachkriegszeit: »Um unsere Not kümmerte sich niemand, obwohl doch die Mehrzahl der Wardener Einwohner an dem ganzen Zauber des dritten Reiches unschuldig war. […] [W]ir alle wurden wie Verbrecher angesehen und dementsprechend eingeschätzt und behandelt.«66 Der Opferzentrismus, der das Genre im Blick auf die Jahre 1933 bis 1945 prägt, erstreckt sich also bis in die ersten Jahre der Nachkriegszeit. Weiterhin stehen die eigenen Opfer fremder Mächte (erst »Adolf Hitler«, »die Nazis«, dann »die Besatzungsmächte«, »die Fremdarbeiter«) im Vordergrund. In der Chronik des thüringischen Möschlitz aus dem Jahr 2008 liest man über den Ersten und Zweiten Weltkrieg: »Eigentlich haben die Kriege schon genug Leid über die Bevölkerung und die Familien der Hinterbliebenen gebracht.« Die Nachkriegszeit habe dieses passive Erleiden (nunmehr unter der sowjetischen Besatzung) weiter verlängert. Die Chronik kommentiert die Verschleppung Möschlitzer Bürger mit den Worten: »Schwer vorstellbar ist jedoch, dass ein Bauer, ein Dorfgastwirt oder ein kleiner Dorfbürgermeister ein Kriegsverbrechen begangen haben kann.«67 In dieser Einschätzung kommen zwei typische Dichotomien zum Ausdruck: die Gegenüberstellung von Opfern und Tätern sowie von Alltag (»Bauer«, »Dorfgastwirt«) und Politik bzw. Krieg (»Kriegsverbrechen«). Im Genre Ortschronik überlagern sich diese Unterscheidungen bei der Behandlung der Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg weitgehend. Zugrunde liegt wiederum die Differenz des Dorfs und einer von Fremdmächten bestimmten Umwelt. Mit anderen Worten: Es bilden sich zwei deutlich unterscheidbare Pole von Opfer-Alltag-Dorf und Tätern-Politik/Krieg-Umwelt heraus. Die oft ausbleibende Konkretisierung von Täterschaft im Ort bzw. aus dem Ort und die extensive Benennung und Behandlung eigener Opfer ist eine direkte Folge dieser Polarität.
Die Externalisierung der Täter Eberhard Wagner folgert nach der Durchsicht einer Reihe saarländischer Ortschroniken, dass sich diese im Blick auf das »Dritte Reich« durch überzogenes Selbst-Mitleid auszeichnen würden, während sie die eigene Verantwor66 Wadern, S. 109–110. 67 Möschlitz, S. 30–31.
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tung für die Verbrechen im Namen des Nationalsozialismus weitgehend verschweigen würden: »Kein Wort des Bedauerns oder der Trauer über das, was in deutschem Namen während der Nazi-Zeit angerichtet wurde, kein Wort über Judenverfolgung, Pogromnacht oder Zwangsarbeiter.« Wagner mahnt demgegenüber an, mehr Reue zu zeigen, statt sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Über die Chronik des Ortes Tholey heißt es: »Trotz der verharmlosenden Wortwahl spürt man in diesen Zeilen doch, dass hier etwas dem Schreiber leid tut. Aber den Schritt ›mea culpa‹ zu sagen, den schafft er nicht. Das Böse kam wie eine ›Naturgewalt‹ über die Deutschen. Sie konnte sich nicht wehren und so geschah das Verbrechen.«68 Die Folgerung, dass Chronikautoren im Allgemeinen danach streben, die Epoche des Nationalsozialismus zu beschönigen oder zu relativieren, ist jedoch zu vorschnell. Auch trifft die Beobachtung eines generellen Verschweigens aller Täter-Thematiken nicht zu. Die Lage ist komplexer. Das zweite Zitat Wagners deutet bereits an: Heimatbücher etablieren eine klare Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte. Je weiter der Nationalsozialismus von der eigentlichen Dorfgeschichte abgetrennt erscheint, desto folgerichtiger ist es, die Opfer, die diese Katastrophe im Ort gezeitigt hat, in den Mittelpunkt zu stellen und die Täter (sowie politische Initiativen) aus dem Ort selbst zu externalisieren. Das heißt, sie auf ortsfremde Quellen zurückzuführen und zugleich in die Zuständigkeit einer allgemeingeschichtlichen Forschung auszulagern.69 Betrachten wir eine Passage zur Judenverfolgung in der Chronik der Kleinstadt Hillesheim in der Eifel aus dem Jahr 1962. Der Chronist berichtete über die Vertreibung sowie die Verschleppung und Tötung der ansässigen Einwohner, die während des »Dritten Reichs« als »Juden« deklariert worden waren. Er hat die entsprechenden Personen in zwei Listen aufgeführt. Neben den Namen finden sich hier – sofern bekannt – Angaben zum Datum, an dem sie aus Hillesheim »verzogen« sind, sowie zu ihrem Verbleib. Bei zwei Einträgen geben die Listen Auskunft darüber, dass die Einwohner »im KZ umgekommen« seien. Dieser vergleichsweise konkreten Behandlung des Themas fügte der Chronist allerdings einen erläuternden Absatz bei, der einen gegenläufigen Effekt erzielt. Darin assoziiert er die Vertreibung und Ermordung mit reichspolitischen Ereignissen wie der »Machtergreifung« und der »Reichskristallnacht« und stellt sie als deren direkte Folge dar : »Am 30. Januar 1933 hatte der Führer der NSDAP, 68 Wagner : Marpingen, S. 56, 62. 69 Das Raster »benennt Täter«/»verschweigt Täter« leistet vor allem eines: Durch die Brille der kritischen alltagsgeschichtlichen Bewegung erlaubt es die Einteilung in »gute« (weil anklagende) und »schlechte« (weil verdrängende) Heimatbücher. Sie ist kaum geeignet, die Eigendynamik lokaler Erinnerungskulturen und ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, sondern vorrangig dazu dienlich, normative Hierarchien aufzustellen, die im Wesentlichen auf formale Inhaltserfassungen zurückgehen.
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Adolf Hitler, die Macht ergriffen und die Diktatur des Dritten Reiches begonnen. Mit terroristischen Methoden ging er bald gegen alle seine Gegner, besonders gegen die Kirche und die Juden vor. In brutaler Form wurde vor allem der Verfolgungskampf gegen die Juden geführt, der am 9. November 1938 in der Kristallnacht einen seiner Höhepunkte erreichte (Kristallnacht = zynische Bezeichnung nach den zerschlagenen Fensterscheiben). Diejenigen Hillesheimer Juden, die seinerzeit noch im Lande waren – die meisten waren bereits 1935 ausgewandert – wurden schließlich verhaftet und ohne Grund in die Konzentrationslager verschleppt; ihre Habe wurde billig versteigert. Mit Sicherheit sind die jüdische Familie Kaufmann und Frau Zimmermann im KZ unschuldig gemordet worden.« Derweil bleiben die Handlungsträger im Ort, unter anderem die Nutznießer der erwähnten Versteigerungen, im Dunkeln. Die verfolgten Juden werden – dies legt vor allem auch die Platzierung des entsprechenden Abschnitts im Buch nahe – in eine Reihe von Opfern »beider Weltkriege« eingereiht. Sie sind den anderen »Opfern« des Ortes in der Hinsicht gleichgestellt, dass sie alle Hitler als einzig erkennbarem Akteur zum Opfer gefallen sind. Die verfolgten Juden werden mittels eines »auchs« in die Reihe der Kriegstoten eingefügt: »Auch sie wollen wir als Opfer des unseligen Krieges ehren.«70 Im Effekt folgt aus der eindimensionalen, nationalgeschichtlichen Kontextualisierung eine »lokale Entkontextualisierung« des Geschehens. Die Überschneidung mit der Ortsgeschichte erscheint als bloße geografische Koinzidenz. Ein anderes Beispiel, das ebenfalls auf eine Externalisierung der Judenverfolgung hinausläuft, bietet die Chronik der niedersächsischen Stadt Rehburg. Darin sind zwei Textseiten für das Schicksal der »israelitischen Gemeinde« reserviert. Bereits die Überschrift lässt die »Juden« als eine Gemeinde in der Gemeinde und dadurch in gewisser Weise aus der Ortsgeschichte herausgelöst erscheinen. Der Abschnitt präsentiert zuerst zwei einzelne urkundliche Funde aus dem 18. Jahrhundert. Es folgt die Schilderung von Verfolgungsmaßnahmen, die als Juden deklarierte Mitbürger ab dem Jahre 1938 zu erleiden hatten. Die Ereignisse der »Kristallnacht« seien zwar, da »sämtliche Akten und Urkunden an die Geheime Staatspolizei abgeliefert werden mußten, nur sehr schwer zu rekonstruieren« – eine Rekonstruktion anhand mündlicher Quellen bezeichnete der Autor der 1966 veröffentlichten Chronik ebenfalls als »schwer« –, dennoch werden die im Ort lebenden Juden zumindest namentlich erwähnt. Der Autor fügt eine detaillierte Aufstellung beschlagnahmten jüdischen Besitzes während der Reichspogromnacht hinzu: »2 Fahrräder, 1 Motorrad, 1 Geldkassette, 1 Radiogerät [usw.]«. Die Barmittel der Gemeinde seien ohnehin – aus nicht genannten Gründen – bereits sehr gering ausgefallen. Wer genau diese Gegenstände und weshalb beschlagnahmte, bleibt offen. In der Folge werden noch die 70 Hillesheim, S. 198–199.
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Entlassung des jüdischen Lehrers, die Verlegung des Unterrichtsorts der jüdischen Schüler nach Ahlen, die Diskriminierung durch die Kennzeichnung mit dem Judenstern und der Zwangsumbenennung in »Israel« und »Sarah«, die Schließung der umliegenden jüdischen Friedhöfe sowie der Verkauf der Synagoge erwähnt. Zuletzt geht es um weitere Zwangsverkäufe jüdischer Grundstücke, »die nach dem Krieg im Wiedergutmachungsverfahren noch viel böses Blut machen sollten«. Insbesondere die Rückgabe des Friedhofs an die jüdische Gemeinde 1951 habe erst »nach endlosen Verhandlungen« mit der Stadt Rehburg erfolgen können.71 In dieser Passage bleiben die Täter vor Ort unbekannt. Insbesondere nennt der Autor die Profiteure der Enteignungen nicht, obwohl dieses Thema eine nicht unwichtige Rolle spielt und zudem die Rückerstattungsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg Erwähnung findet. Die Täter verschwinden hinter »Verordnungen« reichsweiter Natur und hinter Formulierungen wie »wurden beschlagnahmt« etc. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist, dass die ganze Passage gewissermaßen in der Luft hängt. Die Chronik enthält keinen Abschnitt zur Geschichte von Nationalsozialismus und Weltkrieg. Die Ausführungen zur »israelitischen Gemeinde« in Rehburg bleiben Episode ohne erkennbare Anbindung an die sonstige Ortsgeschichte.
Der Katharsis-Effekt Chroniken schildern durchaus Fälle von Unterdrückung, Diskriminierung oder politischer und ethnischer Verfolgung im Dorf, auch Fälle von politischer Begeisterung und Fanatismus oder Denunziation und mangelnder Hilfsbereitschaft, ebenso finden sich mehr oder weniger konkrete Hinweise auf politische Spaltungen innerhalb des Ortes. Im Vergleich bleiben diese Zusammenhänge allerdings vage und isoliert gegenüber dem vorherrschenden Opferfokus. Überproportional häufig stehen sie im grammatischen Passiv oder sind durch anonyme und pauschale Formulierungen geprägt. Solchen Episoden kommt weniger eine dokumentarische oder eine mikrohistorische, analysierende Funktion zu; eher haben sie einen dramaturgischen Charakter. Sie markieren den Umschlagspunkt einer Erzählung von Verführung, Missbrauch und anschließender Läuterung. Die Dorfbevölkerung, die sich teils bereitwillig, teils arglos von »Hitler« bzw. »den Nationalsozialisten« hat verführen lassen, erleidet nun die Folgen der Hybris des Staates – bis zum Höhepunkt in Kriegsnot und -zerstörung. Anstelle einer (skandalisierenden) Anklage Einzelner, ebenso anstelle einer alltagsgeschichtlichen Gesellschaftsanalyse, bietet die Ortschronik hier etwas anderes an: den emotionalen, kathartischen Nachvollzug der Lei71 Rehburg, S. 65–66.
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densgeschichte der Vorfahren. Die kritische Alltagsgeschichte versucht nachzuvollziehen, in welcher Weise die konkreten Handlungen vor Ort möglicherweise zu dieser Katastrophe beitrugen bzw. in welcher Weise Einzelpersonen vor Ort selbst zu Tätern wurden. Dies bleibt in Ortschroniken eher vage; hier steht der mitfühlende Nachvollzug einer Tragödie im Mittelpunkt, die nicht auf die Namhaftmachung von Tätern und die vollständige Dokumentation der Verbrechen angewiesen ist. In beispielhafter Weise beginnt der Abschnitt zur NSZeit in der Chronik des bayerischen Schäftlarn mit einer epischen, etwas kryptischen Einleitung: »›Noch keinen sah ich glücklich enden, auf den mit immer vollen Händen die Götter ihre Gaben streun‹ – Schäftlarn im sogenannten Dritten Reich!« Inmitten des Kapitels ist dann ebenso poetisch über die späten 1930er Jahre zu lesen: »Hitlers Stern stand im Zenit – ›doch wisse, allzu großem Glücke stürmt rächend das Verderben nach‹: der Größenwahn, die Hybris von antikem Ausmaß führt unweigerlich in den Abgrund.« Der Abschnitt endet mit dem Fazit: »Die Millionen Gefallenen der beiden Weltkriege, die Bombenopfer, die auf der Flucht Ermordeten und Umgekommenen, die unfaßliche Zahl der Toten in den Konzentrationslagern des Naziterrors … ›Über die Erde schreiten gewaltige Mächte‹, dunkle, rätselhafte Verhängnisse, die über Geschick und Geschichte der Menschheit entscheiden.« Dazu liefert das Kapitel verstreute Hinweise und Andeutungen auf Verfolgung, Unterdrückung und Verbrechen vor Ort. Diese Verweise ordnen sich nahtlos in die vorherrschende Erzählung ein: eine Tragödie »antiken Ausmaßes«; mindestens so sehr dramatisches Lehrstück als historische Dokumentation.72 Einen weiteren Hinweis in dieser Richtung liefert beispielsweise die »KriegsChronik« von Tettingen im Saarland aus dem Jahr 2013. Die Chronik strebt nach eigener Aussage danach, jahrelang zwar im Privaten bekannte, aber höchstens »hinter vorgehaltener Hand gelegentlich zugeflüstert[e]« Vorfälle im Ort während der NS-Zeit zu dokumentieren. Hierzu sollen ausdrücklich auch Geschichten zählen, die NS-Täter aus dem Alltag des Orts betreffen. Allerdings hält der Autor »zum Schutze von Tätern, Opfern, Zeugen und Dorffrieden« einige Namen zurück. Das Ziel des Buches sei nämlich ein doppeltes: Es soll nicht allein um »Wahrheit« gehen, sondern zugleich – und das weist eindeutig in die Richtung des gerade beschriebenen Katharsis-Effekts – um »Abschreckung und Mahnung«. Die Chronik gibt damit das zentrale Motto vor, unter dem sie gelesen werden möchte. Es geht dabei nicht um Zielsetzungen politischer Bildung oder historisch-kritischer Emanzipation; es geht stattdessen um ein erschauerndes, letztlich auf Läuterung gerichtetes Nachfühlen (»Jedem, auch Unverbesserlichen, eine neue Chance in Hoffnung auf Besserung«). Zu diesem Zweck sollen
72 Schäftlarn, S. 333–342.
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die dokumentierten Ereignisse für die Leser der Chronik »wiedererlebbar gemacht« werden.73
Periodisierungen Zwei Zeitlinien Die Fragen, in welche größeren geschichtlichen Zusammenhänge die Zeit des Nationalsozialismus gestellt und was ihr als Vor- bzw. Nachgeschichte in Dorfchroniken zugerechnet wird, verweist auf die prinzipielle historische Kontinuität, die das Genre in der Geschichte kleiner Orte sieht. Im entsprechenden Abschnitt habe ich gezeigt, dass Ortschroniken und Heimatbücher im Grunde von einer doppelten, deutlich unterschiedenen Zeitstruktur ausgehen: Auf der einen Seite, der Seite, für die sich die Chronisten zuständig fühlen, steht die kontinuierliche Geschichte eines geografisch eng begrenzten Raums (des Dorfs). Dessen Geschichte wird primär von alltäglichen Bedürfnissen und dem Leben der Dorfgemeinschaft bestimmt. Dieser Strang ist im Grunde zeitlos; Veränderungen stellen sich vor allem im Zuge technologischer Verbesserungen ein. Größere geschichtliche Einschnitte gibt es auf dieser Ebene im Grunde nicht, wenn dann sind sie primär physischer Art: allen voran die weitgehende bis vollständige Zerstörung des Orts (kriegs- oder umweltbedingt), die zeitweise Evakuierung oder dauerhafte räumliche Umsiedlung der Bewohner oder auch deutliche Sprünge in der Zu- und Abwanderung der Bevölkerung (Flucht und Vertreibung, Strukturwandel). Weitere nennenswerte Einschnitte stellen auf dieser Zeitschiene Gebietsreformen dar, beispielsweise in den 1930er oder 1970er Jahren.74 Davon unterschieden ist der Strang der Politik- bzw. Umweltgeschichte. Hier spielt sich die allgemeine Geschichte ab und hier sehen die Chronikautoren vor allem die Forschung als zuständig an. Diese Zeitlinie ist erheblich wechselhafter und durch deutlichere Brüche gekennzeichnet als die der Dorfgeschichte. Das Verhältnis zwischen beiden Ebenen ist ein asymmetrisches; Ortschroniken verknüpfen sie in einseitiger Weise. Bestimmend sind die Fragen: Zu welchen Zeiten haben die politischen/Umweltverhältnisse be73 Tettingen, S. 5. 74 In der Chronik von Stralendorf bei Schwerin fällt der am deutlichsten markierte Einschnitt (»eine große Veränderung«) des frühen 20. Jahrhunderts beispielsweise in das Jahr 1934, als die zwei zuvor eigenständigen Ortsteile zusammengelegt wurden: »Mit einer kleinen Notiz im Regierungsblatt wurde eine große Veränderung mitgeteilt: Nach vier Jahrhunderten gab es auf Beschluss des Mecklenburgischen Landesverwaltungsrates vom 26. März 1934 mit Wirkung vom 1. April nur noch ein Stralendorf. Hof und Dorf Stralendorf waren zu einer Landgemeinde vereinigt worden« (Stralendorf, S. 123).
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sonders störend in die alltäglichen Abläufe im Ort eingegriffen? Und: Zu welchen Zeiten waren die äußeren Bedingungen eher günstig für ein ungestörtes Dorfleben? Die Verbindung beider Zeitlinien beschränkt sich gewissermaßen auf den Wechsel von Ruhe/Unruhe bzw. Ordnung/Unordnung. Diese Grundstruktur ist bei der Frage nach der typischen Periodisierung der NS-Zeit in Chroniken stets im Hinterkopf zu behalten.75
Die Zeit der Katastrophen Vor diesem Hintergrund erscheint die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine »Zeit der Katastrophen«, die dem Dorfleben nur mehr oder weniger kurze Erholungsphasen gönnte. Die Autorin der Chronik von Userin in Mecklenburg-Vorpommern leitet das Kapitel »Userin im 20. Jahrhundert« mit den Worten ein: »Das 20. Jahrhundert war reich an gesellschaftlichen Erschütterungen verschiedener Art, vor allem war es das Jahrhundert zweier Weltkriege.« Sodann folgt eine komprimierte Aufzählung der zentralen »Erschütterungen« des Dorflebens (ausgehend von der politischen Geschichte): »Auswirkungen für die Useriner Bevölkerung brachten: – der 1. Weltkrieg 1914 bis 1918, die folgende Weltwirtschaftskrise mit Inflation und Arbeitslosigkeit und die Herrschaft des Nationalsozialismus – der 2. Weltkrieg 1939 bis 1945 und die sich anschließende Besetzung Mecklenburgs durch Truppen der Sowjetarmee – 40 Jahre DDR von 1949 bis 1989 und 1990 der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.«76 Die zeitlichen Einschnitte weichen hierbei nicht von einer konventionellen, politikgeschichtlichen Unterteilung ab (1914, 1918, 1933, 1939, 1945, 1949, 1989). Sie markieren besonders heftige Ausschläge der politischen Zeitlinie in einer generell unruhigen Epoche und trennen kurze Ruhephasen von massiven Störungen des Alltagslebens im Ort. Die Weltkriege und ihre »Nachkriegszeiten« stehen hierbei eindeutig im Mittelpunkt. Blicken wir in das Heimatbuch von Langenhanshagen, ebenfalls in Mecklenburg-Vorpommern gelegen, treffen wir auf die typische Kapitelüberschrift: »Zwei Weltkriege und die Zeit dazwischen«.77 Die Kapitelüberschrift bringt eine in Ortschroniken weit verbreitete Sicht der 1910er bis 1940er Jahre auf den Punkt. Nicht selten wird der Weimarer Republik hierbei keinerlei Eigenständigkeit als politischem System zugemessen; es wird auf eine »Zwischenkriegszeit« oder eine wirtschaftliche und politische Dauerkrise reduziert. Auch die nationalsozialisti75 Die Beschreibung dieses Wahrnehmungsmusters geht über die Kritik an einer »geschichtlichen Vereinfachung« von Periodisierungsmustern hinaus, vgl. Murawski: Zeit, S. 56. 76 Userin, S. 40. 77 Langenhanshagen, S. 50–55.
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schen Herrschaftsjahre von 1933 bis 1938 treten oft hinter die Von-Krieg-zuKrieg-Periodisierung zurück.
Der Weg in Hitlers Hände Der Nationalsozialismus steht in Ortschroniken im Kontext dieser Zeit der Katastrophen. Um seine Entstehung zu erklären, greifen Heimatbücher aller Regionen auf eine überaus ähnliche Erzählung zurück. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob die nationalsozialistischen Organisationen sich vergleichsweise früh oder eher zögerlich im Ort ausbreiteten, ob die Wahlergebnisse sich früh oder spät zugunsten der NSDAP entwickelten, ob es sich um eine ›NS-Hochburg‹ oder eine katholische, nationalkonservative oder sozialistische ›Bastion‹ handelte. Die Entstehungsgeschichte des »Dritten Reichs« zeichnet sich in der Mehrzahl aller Chroniken durch dieselben Grundzüge aus: In eine Zeit relativer Stabilität während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich brach der Erste Weltkrieg als erste Katastrophe des Jahrhunderts herein – gewissermaßen als Vorbote des Kommenden. Die Novemberrevolution findet in vielen Chroniken keine Erwähnung; sie wird als eine kurze Episode, im Wesentlichen bezugslos zur Ortsgeschichte, abgehandelt. Zeigten sich revolutionäre Bestrebungen im Dorf, so erscheinen diese in aller Regel als vorübergehende Einflüsse einer ortsfremden Politisierung. Der Weimarer Republik kommt keine erkennbare Eigenständigkeit als Epoche zu; Chronikautoren sehen in ihr vor allem eine doppelte Krise: erstens eine mehr oder weniger durchgehende Wirtschaftskrise, die bis aufs Dorf durchschlug, zweitens eine Krise der politischen Radikalisierung von links und rechts. Daraus folgte quasi-automatisch die »Machtergreifung Adolf Hitlers«. Es schloss sich eine Zeit der relativen Ruhe an, bei der die Abnahme der Arbeitslosigkeit das zentrale Erzählelement darstellt. Zugleich waren die 1930er Jahre durch eine allumfassende Unterdrückung jeglicher Opposition von oben gekennzeichnet, weshalb sie trotz der relativen wirtschaftlichen Stabilität als Jahre eingeschränkter Normalität erscheinen. Auch hängen viele Chroniken dem Narrativ der Verführung der Bevölkerung durch Hitler an, der die Zustimmung von Beginn an für seine Kriegsziele missbrauchen wollte. Dadurch haftet der Beschreibung der NS-Zeit ein gewisser Unterton einer Schein-Blütezeit an. Meist erst zu Kriegsbeginn 1939 oder am ›Wendepunkt des Kriegsglücks‹ um 1942 stellte sich dann die Läuterung der Verführten ein, die große Katharsis. Nichtsdestoweniger zeichnete sich die Dorfbevölkerung in den weiteren Kriegsjahren vor allem durch Ohnmacht und die Hoffnung auf wiedereinkehrende Normalität aus. Die extreme Passivität setzte sich in den Besatzungsjahren fort, in denen die Bevölkerung unter der Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen, befreiten Zwangsarbeitern oder
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KZ-Häftlingen, der Willkür der Besatzungsmacht und existenzieller Versorgungsnot zu leiden hatte. Den Wendepunkt markiert in nicht wenigen Chroniken die Währungsreform im Jahr 1948. Es schließt sich eine vergleichsweise ideologiefreie Epoche des Wiederaufbaus an.78 Auch wenn in mancher Chronik das ein oder andere Element dieser Erzählung nicht vorkommt und in manch anderer weitere Bausteine hinzukommen, findet sich ihr grundlegendes Gerüst mit einer bemerkenswerten Konstanz in den Chroniken der 1950er Jahre bis zur Gegenwart. Nach wie vor übt diese Erzählstruktur eine starke Sogwirkung aus, gegenüber der gelegentliche Brechungen wie Ausnahmen wirken. Betrachten wir ein Beispiel, indem wir der Chronik von Hirschau in der Oberpfalz durch das Kapitel »Zwischen den Weltkriegen« folgen. Der Einleitungssatz gibt das erste Element der Doppelkrise der 1920er Jahre vor – die politische Radikalisierung: »1918 war die deutsche Monarchie zusammengebrochen, das politische Leben einer zunehmenden Radikalisierung von Rechtsund Linksparteien ausgesetzt.« Der Autor erwähnt hier die revolutionären Vorgänge in Bayern und schreibt die Ortsgeschichte zugleich aus diesem politischen Bezugssystem heraus. Die politische Radikalisierung sei nicht aus dem Dorf selbst ausgegangen und habe in keinem wesentlichen Bezug zu diesem gestanden: »Die Geschehnisse in der Landeshauptstadt machten sich in Hirschau nicht bemerkbar«, heißt es lapidar. In der Folge führt der Autor das zweite Krisenelement ein: »Wirtschaftliche Schwierigkeiten als Kriegsfolge und die Teuerung beunruhigten weite Kreise der Bevölkerung. Infolge der schlechten Lebensmittelversorgung entstanden Spannungen zwischen der Stadt- und Landbevölkerung. Die Einführung der Rentenmark 1923 brachte keine Besserung der wirtschaftlichen Lage, vielmehr noch eine weitere Verschlimmerung. Erst 1925 erfolgte ein Aufschwung, der bis 1929 andauerte. In den Wintermonaten ging die Konjunktur zurück, die Lage der Landwirtschaft blieb weiterhin wenig günstig.« Die 1920er Jahre stellen sich als die Abfolge von Inflation und Weltwirtschaftskrise dar. Damit sind die Determinanten für die Weimarer Zeit gesetzt; über das Zusammenspiel von Radikalisierung und Wirtschaftskrise hinaus kommt ihr kein nennenswerter Eigenwert zu. Im Mittelpunkt des Kapitels steht in quantitativer Hinsicht ohnehin etwas anderes: die detaillierte Schilderung eines Großbrandes in Hirschau im Jahr 1926, dem zahlreiche Wohn- und Arbeitshäuser sowie große Teile der Ernte zum Opfer fielen. Zu Beginn der 1930er Jahre seien dann die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Hirschau sehr deutlich spürbar geworden – der Autor berichtet von Zwangs78 Dies gilt auch für einige Chroniken der neuen Bundesländer. Vor allem die ersten Jahrzehnte der DDR stehen darin im Zeichen eines geordneten, gemeinschaftlichen Aufbaus. Andere Chroniken sehen in der DDR die Fortsetzung der Beeinträchtigung und Behinderung des Dorflebens von außen, vgl. den Abschnitt zu Ortschroniken in der DDR.
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versteigerungen, Entlassungen und hohen Arbeitslosenzahlen. Als direkte Folge habe die auf der nationalen und Landesebene bereits vorexerzierte politische Radikalisierung ihr – ebenso selbstverständliches wie abgeschwächtes – Echo im Ort gefunden: »Es war somit kein Wunder, daß sich Radikalisierungserscheinungen zeigten. 1930 gründete die kommunistische Partei Deutschlands in Hirschau eine Ortsgruppe mit starker Anhängerschaft. Auch eine Ortsgruppe der NSDAP entstand.« Mit diesem Szenario (Wirtschaftskrise, politische Spaltung) sind für den Autor der Chronik alle Voraussetzungen für die »Machtübernahme« gegeben: »Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler.« Erst vor dem Hintergrund dieser reichspolitischen Entwicklung lässt der Autor die Protagonisten der nationalsozialistischen Bewegung im Dorf »erstmalig erscheinen«: »Mit der Machtübernahme dieser Partei [NSDAP] traten in Hirschau ihre führenden Persönlichkeiten erstmalig in Erscheinung.« Die Partei kommt im Grunde von außen, von oben. Mehr oder weniger subtil entsteht der Eindruck, dass die »Erscheinung« von NSDAP-Vertretern im Ort nur im Rahmen der nationalen Geschichte (»Machtübernahme«) sinnvoll erklärbar ist. Sodann zeichnet die Hirschauer Chronik ein Szenario, das von einer umfassenden und totalitären Unterdrückung geprägt war ; sehr schnell habe sich eine (diffuse) Atmosphäre der Einschüchterung verbreitet. In ebenso typischer Weise greift der Autor die wirtschaftliche Krisen-Thematik für die 1930er Jahre wieder auf, nun jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. An die Weimarer Dauerkrise schließen Hitlers »Erfolge« an: »Die Erfolge der neuen Regierung in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirkten sich bald auch in Hirschau aus und verfehlten ihren Eindruck in der Öffentlichkeit nicht.« Verschiedene Hirschauer Betriebe hätten eine große Anzahl an Neu-Einstellungen vorgenommen. Hierbei treten zwei Ebenen in paradigmatischer Weise auseinander : die Verblendung bzw. Verführung der Bevölkerung durch diese oberflächlichen Erfolge und die derzeit noch verdeckten, kriegerischen Absichten des Führers bzw. der Führungsebene des Regimes. Durch diese Erzählstruktur erhält diese Zeit einen ambivalenten Beigeschmack. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geht es in der Chronik hauptsächlich um neue Baumaßnahmen im Ort. Dieser Strang schließt an die – unter allen politischen Wirren – fortlaufende Kontinuitätslinie der Dorfgeschichte an, die über alle Zeiten hinweg in erster Linie durch den sukzessiven Ausbau der Infrastruktur gekennzeichnet sei. Wie üblich brach der Zweite Weltkrieg eher plötzlich in diese durch Tatkraft gekennzeichnete Aufbaustimmung herein. Mit dem Kriegsbeginn, vor allem mit dem Angriff auf die Sowjetunion 1941, hält dann jedoch eine große Ernüchterung Einzug in die Chronikdarstellung. Hitlers Siegesserie reißt ab, die Gefallenenzahlen steigen, die alltägliche Rationierung verschärft sich. »Wie damals [während des Ersten Weltkriegs] wurden die wehrfähigen Männer zu den Waffen gerufen, gaben viele Leben und Gesundheit für die Heimat. Für die Bevölkerung aber bedeuteten die
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folgenden Jahre Opfer über Opfer. Am Ende stand ein Zusammenbruch, wie ihn Deutschland wohl noch nie in seiner Geschichte erlebt hatte.« Mit dem Verweis auf den Ersten Weltkrieg schließt sich im »Zusammenbruch« der Kreis der Katastrophen-Zeit. Im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit kulminiert die Gesamttragödie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; der großen Krise, die zwischenzeitlich nur durch die falsche Ruhe während der Jahre 1933 bis 1939 mehr aufgeschoben als unterbrochen wurde.79 Verlassen wir das Kapitel »Zwischen den Kriegen« der Hirschauer Chronik und wenden uns dem niederbayerischen Eggenfelden zu, um an diesem Beispiel die chroniktypischen Periodisierungsmuster bis in die Nachkriegszeit weiter zu verfolgen. Während des Kriegsendes stehen hier die steigenden Versorgungsschwierigkeiten und der fallende Lebensstandard im Mittelpunkt; beides sei verschärft worden durch die Aufnahme von Ausgebombten und bald auch ersten Flüchtlingen. Dazu sei die Angst vor bzw. das Leiden unter Kriegszerstörungen gekommen, die das Ortsgebiet direkt betrafen. Dieses Moment spitzt sich bei der Schilderung der allerletzten Kriegstage nochmals zu, indem die Chronik eine detaillierte Rekonstruktion der (verhinderten) Kampfhandlungen im Zuge von Belagerung und Einmarsch der US-Amerikaner liefert. In diesem Zusammenhang ist das vormals bestimmende Verhältnis von Dorfbewohnern und Umwelt – verführte/missbrauchte Bevölkerung versus total unterdrückendes, aber wirtschaftliche Normalität ermöglichendes Regime – dem Gegenüber einer vermeintlich oppositionellen, das Kriegsende herbeisehnenden Dorfbevölkerung und einem nur noch unterdrücken Regime gewichen, das sein wahres Gesicht gezeigt habe und das einzig durch eine letzte (ortsfremde) Bastion SSTruppen verkörpert worden sei. Es folgt ein Kapitel mit dem beispielhaften Titel »Nachkriegsjahre, Wiederaufbaujahre, kommunale Leistungen«. Zu Beginn dieser Trias – in den »Nachkriegsjahren« – verbleibt das Dorf in seiner vormaligen Passivität, nunmehr Opfer von Besatzungswillkür und marodierenden Displaced Persons; das Abwarten, Erleiden und Hoffen auf Normalität setzt sich fort. Kurz darauf sei das »sprunghafte Ansteigen der Bevölkerung« durch Flüchtlinge und Vertriebene hinzugekommen. Eggenfelden habe die »schlimmsten Jahre« der jüngeren Dorfgeschichte erlebt. Das Ende dieser Leidenszeit und den endgültigen Umschlag zur Phase des »Wiederaufbaus« symbolisiert in der Eggenfelder Chronik wie in vielen anderen Heimatbüchern die Währungsreform. Es folgen ungleich aktivere, tatkräftige Zeiten; wie der Kapiteltitel angekündigt hat, beginnt in den 1950er und 1960er Jahren eine neue Zeit »kommunaler Leistungen«.80 Jede Chronik ist ein individuelles Produkt; sie weist bestimmte Elemente 79 Hirschau, S. 190–199. 80 Eggenfelden, S. 261–264.
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dieser typischen Periodisierungsstruktur auf, während sie andere vernachlässigt oder ganz übergeht, sie setzt Schwerpunkte bei Themen, die andere Bücher gar nicht erwähnen, oder sie steht an einzelnen Stellen im direkten Widerspruch zu anderen Chroniken. Stellt man diese Vielfältigkeit in den Vordergrund, würde das jedoch bedeuten, die trotz allem vorhandenen auffallenden Ähnlichkeiten zu ignorieren.81 Darüber hinaus ließe sich einwenden, dass die hier skizzierte Erzählung der NS-Zeit wenig originell ist, da sie in sehr ähnlichen Formen in vielen geschichtskulturellen Medien (Film und Fernsehen, mündliche Erzählungen etc.) verbreitet ist. Sie würde somit nicht dazu taugen, eine eigenständige Chronikperspektive zu beschreiben. Allerdings geht es mir an dieser Stelle nicht darum, ein geschichtliches Periodisierungsmuster zu beschreiben, das exklusiv für Ortschroniken gelten würde. Ortschroniken stehen nicht nur hier in einem wechselseitigen Austausch mit anderen Bereichen und Medien. Wichtig ist, dass die typische Periodisierung der NS-Zeit in Ortschroniken im Zusammenspiel mit vielen anderen Elementen, die für sich genommen alle nicht originell sind, zu der genreprägenden Trennung von Dorf und Umwelt beiträgt.
Die guten und die schlechten Zeiten Als die junge Alltagsgeschichte Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre begann oral history als eine ernstzunehmende, wissenschaftliche Methode zu etablieren und sie praktisch und theoretisch auszuloten, holte sie einige Funde aus den ›Tiefen‹ des Geschichtsbewusstseins hervor, die deutlich von der offiziellen Geschichtskultur abwichen. Für Verfechter wie Kritiker der neuen Methode war es gleichsam überraschend, wie deutlich sich die Laien-Sicht auf die jüngere Geschichte von der akademischen Geschichtswissenschaft unterschied. Dies galt insbesondere auch für die Periodisierung dieser Geschichte. Nehmen wir zum Beispiel eine Interviewstudie Ulrich Herberts zum Nationalsozialismus, die dieser am Übergang zu den 1980er Jahren mit Arbeitern aus Essen und Umgebung durchgeführt hat und die im Kontext eines größeren Oral-HistoryProjekts im Ruhrgebiet, geleitet von Lutz Niethammer, stand. Herbert stellte heraus, dass die Interviewten den Zeitraum, über den sich ihre Biographie er81 Vgl. als weitere Beispiele nur: Aichschiess-Krummhardt, S. 73–75; Argenstein, S. 336; Eglfing, S. 158–164; Nennig, S. 96; Nienburg, S. 103; Monreal, S. 189–204; Schäftlarn, S. 333; Schönberg, S. 66–67; Schwabhausen, S. 70; Westgreußen, S. 168. Stets steht in der ein oder anderen Akzentuierung ein vergleichbarer Konnex im Hintergrund der Ausführungen: Erster Weltkrieg–Wirtschaftskrise–politische Radikalisierung–quasi-automatische »Machtergreifung« (oder parallel: Anstieg der Arbeitslosigkeit–»Machtergreifung«–Arbeitsbeschaffung)–Scheinnormalität und totale Unterdrückung im »Dritten Reich«–Ernüchterung–fortgesetzte Ohnmacht der Nachkriegszeit–Normalisierung–Wiederaufbau.
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streckte, in Epochen einteilten, die sich vor allem am Lebensstandard orientierten, also an der existenziellen Sicherheit, den beruflichen und finanziellen Möglichkeiten etc. Anhand dieser Kriterien unterteilten die Arbeiter ihre Lebensgeschichte in »gute« und »schlechte« Jahre unabhängig von politischen Systemwechseln. Während sie die Weimarer Republik vorwiegend als Krisenzeit erzählten, sei in den 1930er Jahren eine Zeit der relativen Stabilität gefolgt; erst mit dem Zweiten Weltkrieg hätten wieder »schlechte Zeiten« eingesetzt, die bis in die frühen 1950er Jahre angehalten hätten. Herbert fiel auf, dass seine Interviewpartner ihre Lebensgeschichte jeweils in Phasen der Unruhe und der Stabilität einteilten, in (gute) Normalzustände und (schlechte) Vorgeschichten bzw. Intermezzi, die in diesen vermeintlich allgemeinmenschlichen Zustand überleiteten. Die Arbeiter betrachteten vor allem die qualifizierte Ausführung von Facharbeit als eine Art übergeschichtliche Konstante, die gegenüber politischen Einflüssen letztlich vollständig resistent sei und den Idealtyp menschlichen Daseins darstelle.82 Wenngleich biografischen Erinnerungen in Ortschroniken ein hoher Stellenwert zukommt, lassen sich Chroniken nicht auf bloße Anthologien mündlicher Erzählungen reduzieren. Als von Laien erstellte Geschichtsbücher weisen Ortschroniken allerdings – analog zu den von Herbert angestellten Arbeiter-Interviews – eine eigenständige Periodisierung der jüngeren Geschichte auf, die sich merklich von wissenschaftlichen Analysen unterscheidet. Malte Thießen hat vorgeschlagen, innerhalb der Spannweite vom individuellen zum gesellschaftlichen Gedächtnis, eine weitere Ebene des kommunalen Gedächtnisses einzuziehen.83 Assoziiert man Chroniken mit dieser lokalen Zwischenebene, so ließe sich festhalten, dass auch das lokale Gedächtnis eigene Periodisierungsmuster aufweist – eher individuellen Erinnerungen als dem kollektiven Gedächtnis ähnlich. In Heimatbüchern bestimmen ebenfalls lebensstandardliche Maßstäbe die Einteilung der Geschichte, auch hier steht die Abfolge von Ruhe und Unruhe, von Ordnung und Unordnung, von Sicherheit und Unsicherheit, von Krise und Stabilität etc. im Vordergrund und auch hier zeigt sich eine ganz ähnliche Abfolge von »guten« und »schlechten« Zeiten. Da dieser Wechsel »guter« und »schlechter Zeiten« bereits in den obigen Ausführungen zur typischen Vor- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus angeklungen ist, reicht an dieser Stelle ein Blick in die Chronik des niedersächsischen Ortes Börßum aus, der sich ausschließlich auf die Abfolge lebensstandardlicher Akzentuierungen während des frühen 20. Jahrhunderts konzentriert. Beginnen wir wieder mit dem Ersten Weltkrieg: Hier spielen in der Darstellung der Börßumer Chronik Preise für alltägliche Bedarfsgüter, die Zahlungsfähigkeit der Gemeindekasse und ähnliche Themen eine zentrale Rolle. 82 Herbert: »Zeiten«. Vgl. Niethammer : »Normalisierung«. 83 Thießen: Gedächtnis.
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Mit der Revolution setzten sich die »Notzeiten« unmittelbar fort. Hinzu kamen politische »Unruhen« (»Unsicherheit und Unruhen herrschten überall.«). Die Weimarer Republik war gekennzeichnet von Knappheit, Arbeitslosigkeit und alltäglicher Not. Den Höhepunkt bildete abermals die Weltwirtschaftskrise. Während des »Dritten Reichs« stellte sich im Blick auf Versorgung, Arbeit und Landwirtschaft eine spürbare Stabilisierung ein. Die vormals ubiquitären Krisensemantiken tauchen in der Darstellung nicht mehr auf, stattdessen heißt es: »Wirtschaftlich trat eine starke Besserung ein. Durch die Großbauprojekte der Regierung (Autobahnen, Anlage von Flugplätzen, Bau von Kasernen, Wehrmacht, Reichsarbeitsdienst) kam es zu einer Vollbeschäftigung, die sich auch in den kleinen Gemeinden stark bemerkbar machte.« Abgesehen von ›automatisch‹ erfolgenden NS-Organisationsgründungen und der Umbildung der Gemeineverwaltung beschränkt sich der Einfluss der nationalen Ebene in der Chronik auf die lebensstandardliche Dimension. Die alltäglichen Bedürfnisse des Ortes blieben hierbei auch während der NS-Zeit scheinbar im Wesentlichen gleich. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg setzten erneut »schlechte Zeiten« ein (»Dieser Krieg sollte unermeßliches Leid über das deutsche Volk und so auch über die Börßumer Einwohner bringen.«). In der Schilderung der Chronik dominieren Themen der kriegswirtschaftlichen Umstellung der Landwirtschaft, später die existenzielle Bedrohung durch Luftkriegszerstörungen. Mit dem Kriegsende und der Nachkriegszeit verschärften sich die »schlechten Zeiten« nochmals; diese Zeit war eine Zeit des bloßen »Überlebens«. Wiederum nehmen Fragen des täglichen Lebensstandards (die Versorgung von Besatzungstruppen und Bevölkerung, die Zuteilung von Lebensmittelkarten, die Erhältlichkeit und Preise verschiedener Güter etc.) viel Raum ein. Hauptaufgabe des Gemeinderates sei es gewesen, »Ordnung in das hinterlassene Chaos zu bringen«. Mit der Währungsreform ging es dann wieder bergauf und es traten erneut »gute« Zeiten ein, charakterisiert durch Berechenbarkeit, Stabilität und eine gesicherte Versorgung sowie einen ungestörten landwirtschaftlichen Betrieb.84 Noch ein Wort zur Nachkriegszeit: In den meisten Orten setzten die wirklich »schlimmen Zeiten« ihren Chronisten zufolge nämlich erst dann ein, beginnend mit den drohenden Kampfhandlungen im Zuge des Einmarschs alliierter Truppen in den letzten Kriegstagen und den stark zunehmenden Flüchtlingstrecks. In der Chronik von Langenhanshagen in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 1995 heißt es: »Von Deutschland war der Krieg ausgegangen. Nun kam er in das eigene Land zurück. Seit Beginn des Jahres 1945 rollten über die großen Straßen die Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Zunächst sahen die Langenhanshäger noch nicht das ganze Elend der Zeit, denn sie wohnten abseits. Doch 84 Börßum, S. 434–466.
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dann konnten einige der heimatlosen Menschen nicht mehr weiter. So kamen sie nach Langenhanshagen.« Bis zum Beginn des Jahres 1945 hatten die Langenhanshäger somit noch das Glück »abseits zu wohnen«, erst in dieser Zeit »kam der Krieg ins eigene Land zurück« und damit letztlich auch in den abgelegenen Ort. Bald darauf zog die Besatzungsmacht ein: »Am 1. Mai 1945, am Spätnachmittag, rückte die sowjetische Armee in das Dorf ein. Auf Pferden oder mit den kleinen ›Panjewagen‹ zogen die Soldaten durch den Ort. Für die Menschen in Langenhanshagen begann wie auch in allen anderen Orten eine schlimme Zeit. Es herrschten Ungewißheit, Angst vor Übergriffen und Plünderungen, Flüchtlingselend, Wohnungsnot, Lebensmittelknappheit.«85 Mit der Besatzung begann endgültig die »schlimme Zeit«. Die zitierte Aufzählung vermittelt zugleich eine Übersicht über das Themenspektrum, das die allermeisten Chroniken im Rahmen der »schlimmen« Nachkriegszeit vorrangig beschäftigt.
Opportunismus und Opposition Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie Dorfchroniken üblicherweise mit Unterstützung und Gegnerschaft gegenüber dem NS-Regime umgehen. Das in der geschichtswissenschaftlichen Forschung geläufige Spektrum reicht von vorbehaltlosem Eifer bis zu erklärtem Widerstand. In Ortschroniken schlägt sich hingegen ein deutlich engeres Abbild dieses Spektrums nieder. Dies sagt keineswegs etwas über die tatsächlichen Unterstützungsverhältnisse der Bevölkerung ländlicher Gegenden gegenüber dem Nationalsozialismus aus; es ist eine Aussage über den Umgang des Genres Ortschronik mit dieser Thematik. Die krasseren Formen – Fanatismus und Widerstand – sind selten in Heimatbüchern. Tauchen sie auf werden sie auf die ein oder andere Weise zu einem Sonderfall stilisiert. Überzeugte Nationalsozialisten erscheinen tendenziell ebenso ortsfremd wie überzeugte Widerstandsaktivisten. Die scharfe Politisierung, die das gesellschaftliche Leben gemäß vieler Chroniken seit der Weimarer Republik heimgesucht habe, habe sich zwar auch auf das Dorfleben ausgewirkt, doch habe sie dort einen schwächeren Widerhall gefunden; man könnte sagen: gefiltert und abgeschwächt durch die genrebestimmende Dorf-Umwelt-Differenz. Die überwiegende Mehrzahl der Beispiele, die Ortschroniken behandeln, bewegt sich folglich zwischen einem eher milden Opportunismus und einer ebenso milden Opposition gegenüber dem Regime und seinen Vertretern. Zudem tendiert dieses Spektrum insgesamt eher zum Pol der Opposition. Per se sei die Dorfbevölkerung gegenüber stark politisierten, nationalen Bewegungen, 85 Langenhanshagen, S. 55.
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für die der Nationalsozialismus ein Beispiel darstelle, eher kritisch und zögernd eingestellt.
Die Verbreitung von NSDAP-Organisationen Sucht man nach den unmittelbaren Folgen, die die nationalsozialistische Machtübernahme auf der Reichsebene für das Dorf mit sich brachte, so trifft man in Chroniken vor allem auf zwei Aspekte: Erstens fanden im Laufe des Jahres 1933 personelle Veränderungen in den meisten Gemeindeverwaltungen statt und zweitens wurden die üblichen NSDAP-Organisationen, allen voran HJ, BDM und SA, gegründet. Wenden wir uns zunächst dem zweiten Punkt zu: Aus der Perspektive der Ortschronik stellte sich durch die Organisationsgründungen – seien sie vor oder nach 1933 erfolgt – kaum eine Politisierung des kommunalen Lebens oder eine verstärkte Hinwendung zum Nationalsozialismus ein, vielmehr handelte es sich um eher formale Veränderungen; Veränderungen, die die äußeren Umstände des Alltags der Dorfgemeinschaft betrafen. Das Gemeinschaftsleben sei dadurch im Kern unverändert geblieben. Der Autor Kurt Eifert hat diese Version der Geschichte seines Heimatortes Zachow in MecklenburgVorpommern überspitzt zusammengefasst: »Und fragt man alte Zachower, dann hat es eine Nazizeit in Zachow kaum gegeben. Verdrängungs-Bemühungen? Ja doch, natürlich waren wir alle in der Hitlerjugend, die Mädchen im BDM, Bund Deutscher Mädel. Die HJ- oder BDM-Heimabende waren in Blankensee, später in Nemerow, erinnert sich Paul Krohn. ›Fahrten‹ haben wir auch mitgemacht – nie weiter als an die Müritz oder einmal nach Usedom und Wollin. Aber sonst? Ja, am Zachower Holz, gleich links vom Weg nach Ballwitz war der Schießplatz vom Kriegerverein, und da durften wir Pimpfe (so nannte man die 10- bis 14jährigen HJ-Aspiranten) auch mit dem Luftgewehr schießen. Ein Stück weiter hatte übrigens die SA ihren Schießplatz. SA, die ›Sturmabteilung‹ der NSDAP, gab es in Zachow auch, und die hatte ein strammes Programm. Trotzdem hielt sich das in Grenzen – schließlich musste man ja auch arbeiten. Und dann kam 1939 der Krieg…«86 Diese Satire verfolgt eine normative Stoßrichtung: Die Darstellung eines im Grunde nicht betroffenen gemeinschaftlichen Alltagsleben, das von außen durch nationalsozialistische Organisationen, Aktivitäten, Festkalender, Insignien, überformt worden sei, diene apologetischen Zwecken. Da es nur um freizeitliche Gemeinschaftsaktivitäten gegangen sei und man weiterhin vorrangig mit der unveränderten Alltagsarbeit beschäftigt gewesen sei, würde die Dorfbevölkerung von jeglicher wirklichen Unterstützung des Regimes frei86 Zachow, S. 71–72.
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gesprochen. Partei- und Organisationsmitglieder würden »rehabilitiert«.87 Diese Kritik, die auf Fragen historischer Verantwortungszuweisung abzielt, ist zutreffend – im Rahmen ihres moralischen Bezugssystems. Es empfiehlt sich darüber hinaus jedoch, eine analytische Perspektive anzulegen, und danach zu fragen, wie sich diese Erzählstruktur in den Rahmen der Konstruktion der zentralen Dorf-Umwelt-Differenz einordnet bzw. diese Differenz mit konstituiert.88 Betrachten wir einige Beispiele: Die Gründung lokaler NS-Organisationen steht nahezu immer in direktem Zusammenhang mit der »Machtergreifung« Adolf Hitlers bzw. der NSDAP. In der Chronik von Oetzen in der Lüneburger Heide heißt es: »Am 30. Januar ernannte Reichspräsident von Hindenburg den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Damit war die Führung des Reiches in die Hände dieser Partei übergegangen. Oetzen wurde der Sitz einer Ortsgruppe, der SA Trupp (SASturmabteilung) zählte 18 Mann.«89 Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zog die SA-Ortsgruppengründung in diesem Bild quasi-automatisch nach sich. In der Chronik handelt es sich um eine Entwicklung, die ihren Sinn aus dem reichspolitischen Rahmen bezieht. Wie stark diese Assoziation ausfällt, zeigen vor allem auch Fälle, in denen chronologisch frühere Organisationsgründungen allesamt unter das Datum 30. Januar 1933 subsummiert werden. Die Chronik von Bramstedtlund in Nordfriesland enthält eine Zeittafel mit einem Eintrag zum Jahr 1933: »Hitlers Machtergreifung. In Ladelund folgen nach Gründung einer Ortsgruppe der NSDAP (Ende 1930) eine Hitlerjugendgruppe (1932), eine NS-Frauenschaft (1933) und eine BDM-Jungmädelschaft (1934).«90 Unter dem Motto »Hitlers Machtergreifung« hat der Autor hier die Gründungsdaten verschiedener Ortsgruppen zusammengefasst, obwohl sie in unterschiedliche Jahre zwischen 1930 und 1934 fielen; dieses Vorgehen suggeriert, dass alle diese Vorgänge nicht aus lokalen Antrieben heraus zu erklären sind, sondern primär an die Aktionen der Person Adolf Hitler auf reichspolitischer Ebene gebunden waren. Vor Ort zog man institutionell mit.91 Lokale Beweggründe und Initiativen der Gründung von NS-Organisationen, etwaige Besonderheiten der Entstehungsgeschichte etc. treten zurück gegenüber 87 88 89 90
Vgl. Bill: »Fremdarbeiter«, S. 503. Vgl. Thomaschke: »Politik«, S. 302–307. Oetzen, S. 215. Bramstedtlund II, S. 17. Das im Zitat erwähnte Ladelund liegt in unmittelbarer Nähe des Ortes. 91 Vgl. auch: »Nachdem der Name Adolf Hitler immer mehr in Erscheinung trat, wurde am 5. Mai 1929 in Ahrenviöl die Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Ahrenviöl konstituiert. Kurz darauf, im September 1929 gründete man in Ahrenviöl die SA. Die NSDAP konnte in allen Gegenden Deutschlands sehr schnell Fuß fassen« (Ahrenviöl, S. 20–21).
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der Suggestion eines allgegenwärtigen Top-Down-Prozesses, in dessen Rahmen nationale Entwicklungen mehr oder weniger direkt auf die Dorfebene durchsickerten. Entsprechend mechanisch erscheint die Gründung nationalsozialistischer Organisationen im Ort abgelaufen zu sein. Die äußere Oberfläche dieser Organisationen mag ideologisch stark aufgeladen gewesen sein, was den Alltag unter der Oberfläche betrifft, wirken sie in Ortschroniken jedoch eher ideologisch hohl. Schauen wir uns den Abschnitt zu den nationalsozialistischen Herrschaftsjahren in der Chronik von Egling und Heinrichshofen in Oberbayern aus dem Jahr 1954 an. Das Kapitel wartet mit Gründungsdaten und Mitgliederzahlen verschiedener Ortsgruppen auf; die eigentliche historische Analyse und Erklärung dieser Daten bleibt aus. Dadurch wirkt das wachsende Organisationsgeflecht inhaltslos. Wiederum bildet die Reichsebene des Jahres 1933 den Ausgangspunkt aller Organisationsgründungen: »Da durch die Reichstagswahlergebnisse vom 5. März die NSDAP die absolute Mehrheit besaß, wurden die Vorschriften, Verordnungen und Gesetze in ihrem Sinne beschlossen und durchgeführt. Die Kreise des Landes wurden je nach der Mitgliederzahl der Partei in Blöcke, Stützpunkte und Ortsgruppen eingeteilt. Auch Egling war ein Block. In jeder Ortschaft stand außerdem ein Ortsbauernführer zur Seite. 1934 wurden mehrere Ortschaften zu einem Stützpunkt zusammengelegt. Der Stützpunkt Egling umfaßte die Orte Egling, Heinrichshofen, Prittriching, Scheuring, Beuerbach, Winkl, Pestenacker, Walleshausen und Kaltenberg. Die Zahl der Pg. in Egling/Heinrichshofen betrug am 1. Mai 1933 acht, 1934 waren es 23, 1935 stieg die Zahl auf 34 und 1939 waren es 42. Dabei blieb es. Die NSV (Volkswohlfahrt) übernahm Fürsorgeaufgaben und die Ortsgruppe Landsberg/ Land/Nord umfaßte 13 Gemeinden und reichte von Pürgen bis Heinrichshofen und von Kaltenberg bis Obermeitingen. Sitz war Egling. Die NSV-Beiträge und WHV-Spenden für die Zeit vom 1. Oktober 1934 bis 30. April 1935 und dazu die sogenannten ›Eintopfspende‹, ebenfalls eine Notspende für die Armen, brachten in den sieben Sammelmonaten nahezu 52 000 RM. Ab 1934 mußten in jedem Stützpunkt und in jeder Ortsgruppe die ›Sicherheitsabteilungen‹ (SA), die bei den befohlenen Feiern, Maifeiern (›Tag der Arbeit‹), Totengedenkfeiern, Gefallenenfeiern usw. pflichtmäßig anzutreten hatten, aufgezogen werden. Später wurde auch der Reichskriegerbund (=Veteranenverein) in eine ›SA-Reserve‹ (SAR) umgewandelt.«92 Erinnern wir uns an die Formel eines »Kontextes ohne Text«, die ich an anderer Stelle bereits vorgeschlagen habe (der vollständigen Ersetzung konkreter Ortsgeschichte durch ein reichspolitisches Panorama). Die Chronik-Ausführungen zur Einrichtung lokaler NSDAP-Organisationen in der Eglinger und Heinrichshofener spiegeln dieses Vorgehen wider. In vielen Chroniken überdeckt ein teilweise detailliert aufgearbeitetes Organisationsge92 Egling/Heinrichshofen, S. 137.
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flecht die eigentliche Geschichte des Ortes mehr, als dass sie sie explizieren würden.93 Die Chronik von Bosbüll, nahezu fünf Jahrzehnte später in Nordfriesland entstanden, bietet hierfür ein weiteres anschauliches Beispiel. Auch hier erscheint es angebracht, eine längere Passage zu zitieren; im Abschnitt zur NS-Zeit schreibt der Chronist: »Ich war zehn Jahre alt, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, und kann mich noch gut daran erinnern. […] Die Gemeinde Bosbüll gehörte während der NS-Zeit als Ortsteil zur Gemeinde Klixbüll. Von dort aus wurden von der Gemeinde und der Ortsgruppe die aufgebauten Organisationen betreut. In der Jugendbewegung waren es bei der männlichen Jugend einmal das Jungvolk, also die 10–14jährigen, dann die Hitler-Jugend, abgekürzt HJ, im Alter von 10–14 Jahren und dann der BDM, Bund deutscher Mädel. Dann gab es bei den erwachsenen Frauen noch einen Frauenverein. Bei den Männern gab es hier in der Ortsgruppe Klixbüll eine SA-Schar mit einem Scharführer an der Spitze. Über die Orts- und Gemeindegrenzen hinaus war die männliche Jugend nach Risum-Lindholm orientiert und dort beim Jugendvolk in einem Fähnlein mit einem Fähnleinführer und bei der Hitler-Jugend in einer Gefolgschaft mit einem Gefolgschaftsführer organisiert. Die Jungmädel und die BDM-Mädel wurden von Niebüll aus betreut. Die ganzen Jugendverbindungen waren im Bann Südtondern mit Sitz in Niebüll zusammengefasst, Bannführer war der beliebte Werner Homfeld, der gleich zu Beginn des Krieges fiel. So ähnlich war der Aufbau bei der SA und anderen Organisationen gestaltet. Die niedrigste Stufe bei der SA war die Schar mit einem Scharführer, dann der Sturm mit einem Sturmführer, dann wurde daraus schon eine Standarte mit einem Standartenführer. Das gab es sowohl bei der SA wie auch bei der schwarzen SS. Auf Kreisebene existierten dann noch eine Reiter-SS und der NSKK-Motorsport. Politisch leitete das Ganze ein Kreisleiter, bei uns der Kreisleiter Pastor Peperkorn.«94 Das formale Geflecht der lokalen NS-Organisationen – wiederum diffus mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in Verbindung gesetzt – ermangelt auch in diesem Fall einer ortsgeschichtlichen Füllung; die Antriebskräfte der Protagonisten, die Gründe, Widersprüche, Hoffnungen, die der Gründung der Gruppierungen zugrundelagen, ihre genaue Entstehungsgeschichte, das etwaige Anknüpfen an bestehende Vereine oder Ähnliches, bleiben im Dunkeln. 93 In Anlehnung an Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall ließe sich auch der Begriff eines »leeren Schreibens« formen. In ihrer Interviewstudie zur Tradierung der NSGeschichte in Familien haben sie in verschiedenen thematischen Zusammenhängen ein »leeres Sprechen« beobachtet. Hierbei werden die Spezifika – Akteure, Ereignisse etc. – meist im Dunkeln gelassen. »Es wird den Gesprächspartnern überlassen, diese Leerstellen aufzufüllen, sich, in anderen Worten, ein konkretes Bild der Akteure oder Vorgänge zu machen« (Welzer/Moller/Tschuggnall: »Opa«, S. 136). 94 Bosbüll, S. 17.
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Die Perspektive von Ortschroniken legt nahe, dass sich durch die Installation der neuen Verbände in erster Linie die äußeren Bedingungen des Ortslebens änderten. Hergebrachte Gemeinschaftsformen hätten sich relativ ungebrochen fortgesetzt. Die Chronik von Monreal in der Eifel inszeniert eine Konfrontation des »Althergebrachten«, an dem sich die Bürger des Ortes vor allem orientiert hätten, und den neuen NS-Einrichtungen DJ, HJ und BDM. Diese Gegenüberstellung kulminiert in einer Aussage zur Verbreitung neuer Uniformen, die diese zum Symbol bloß äußerlicher Veränderungen (ohne innere Wandlung) macht: »Aber auch sonst sah man überall Uniformen und je mehr Menschen damit herumliefen, je weniger fielen sie auf. Aber insgesamt änderte sich das tägliche Leben in Monreal nicht. Die Leute gingen ihrer Arbeit nach und beschäftigten sich mit ihren alltäglichen Dingen. […] So ging im Allgemeinen auch in der NSZeit in Monreal alles mehr oder weniger seinen gewohnten Gang.«95 Die Entstehung von und die Mitgliedschaft in NS-Organisationen änderte einzig das Ortsbild. Wie in anderen Zusammenhängen auch ist es das eigentliche Anliegen der Geschichtsschreibung von Ortschroniken, die vermeintlich überformte Ebene der zeitlosen Dorfgeschichte dahinter sichtbar zu machen. Dieses Wahrnehmungsmuster schlägt sich in der bezeichnenden Bildunterschrift »Das ›Ortsbild‹ verändert sich« nieder, mit der die Rantumer Chronik die Fotografie eines militärischen Appells im Ort während der NS-Zeit versieht (Abb. 3).96 Die Fotografie zeigt zu einem weitläufigen Viereck angeordnete Militär- und Parteiverbände, in deren Mitte stehen zwei Befehlshaber, im Hintergrund sind reetgedeckte Häuser und einige Zuschauer zu sehen. Den genauen Zusammenhang des Motivs bleibt die Chronik schuldig; dies ist jedoch nicht allzu überraschend, da die Abbildung, wie die Bildunterschrift, insbesondere das in Anführungszeichen gesetzte Wort »Ortsbild«, suggeriert, im Grunde kein wesentliches Ereignis des Dorflebens zeigt, sondern nur eine eher beliebige und vorübergehende Veränderung der äußeren Erscheinung. Derartige Appelle und Paraden in Uniform hätten die NS-Zeit gekennzeichnet. Entscheidend für Ortschronisten bleibt jedoch, ob sich an den Schwerpunkten des täglichen Lebens tatsächlich etwas änderte; und da fällt die Diagnose weitgehend negativ aus.
Parteizugehörigkeit als Opportunismus Kommen wir zu dem weiteren angekündigten Themenfeld, das im Zuge der Errichtung des »Dritten Reichs« eine wichtige Rolle in vielen Ortschroniken spielt: der Umstrukturierung und Neubesetzung der Gemeindeverwaltung. In 95 Monreal, S. 192–193. 96 Rantum, S. 24.
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Abb. 3: Aufmarsch zur NS-Zeit als Veränderung des »Ortsbildes«.
den meisten Heimatbüchern erscheint die nationalsozialistische Diktatur als ein totalitärer, von Hitler oder einer »Führungsclique« geleiteter Staat, der eine umfassende »Gleichschaltung« angestrebt und diese schnell und reibungslos durchgesetzt hat. Hinzu sei die mehr oder minder totale Unterdrückung und Verfolgung von »Andersdenkenden« gekommen. In der Chronik des sächsischen Wilthen ist zu lesen: »Am 30. 1. 1933 wurde […] Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt. Durch Verhaftungen, Einschüchterungen und Ermordungen schaltete Hitler innerhalb von nur wenigen Jahren alle Gegner aus, hob die Demokratie auf und errichtete eine Diktatur.«97 Die Chronik von Eisdorf in Niedersachsen besagt: »Der Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten war totalitär, er betraf alle Bereich des öffentlichen Lebens und wirkte auch in den privaten Bereich ein. Letztendlich sollte jeder Einzelne, ideologisch gleichgeschaltet, die Weltanschauung des Führers teilen und dies auch offen bekunden.«98 Entsprechend groß sei die Furcht der Dorfbevölkerungen ausgefallen: »Selbst ein geringfügiges Aufmucken [hätte] zu bösen Konsequenzen u. U. für Leib und Leben führen« können, heißt es in der Chronik von Eschbach in der Pfalz.99 Die Chronik von Schäftlarn in Oberbayern formuliert ähnlich: 97 Wilthen, S. 3. 98 Eisdorf/Willensen, S. 14. 99 Eschbach, S. 80–81.
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Hätte »man seine Meinung gesagt«, hätte man sich »sofort um Kopf und Kragen gebracht«. Gab es »politisch Verfolgte« im Ort, die beispielsweise zur Konzentrationslager-Haft verurteilt worden waren, so sei deren anschließendes Schweigen selbstverständlich gewesen: »Die Entlassenen wahrten todängstlich das befohlene eiserne Schweigen.«100 Manch eine Chronik differenziert diese monolithische Perspektive, doch ist die vorherrschende Tendenz zu dem hier skizzierten totalitaristischen Bild im gesamten Genre eindeutig. Dieses Bild steht in Einklang mit der Leitdifferenz von Dorf und Umwelt, die den Nationalsozialismus als eine besonders eindringliche Form der äußeren Politisierung des dörflichen Alltags erscheinen lässt. Im Rahmen dieser Perspektive auf das »Dritte Reich« erfolgt die Umbesetzung der örtlichen Verwaltung mit NSDAPVertretern und ihre (nominelle) Umstellung auf das »Führerprinzip« wie selbstverständlich – eine bloße Auswirkung der reichspolitischen Veränderungen auf die »unterste Ebene«: »Von 1933 bis 1945 war durch das Dritte Reich jede demokratische Wahl eines Gemeinderates unmöglich. Es gab zwar einen Bürgermeister, der aber von den Nationalsozialisten bestimmt wurde. Die wichtigsten Rollen spielten aber die Ortsgruppenleiter und die SA. Das Staatsgefüge der Diktatur hatte seine Auswirkungen bis auf die unterste Ebene.«101 In diesem Sinne machen die Veränderungen in den Gemeinderäten im Laufe des Jahres 1933, die der Großteil aller Chroniken auflistet, einen fast schon mechanischen Eindruck. Gleiches gilt für den Austausch von Lehrkräften. Zwar seien nicht wenige Funktionsträger – und Privatleute – im Zuge der ›gewandelten äußeren Bedingungen‹ in die NSDAP eingetreten, doch wirkt dies in Ortschroniken wie ein bloß verwaltungstechnischer Vorgang. Heimatbücher stellen die Zuwendung zum Nationalsozialismus in der Regel als eine Art selbstverständlichen »Opportunismus« dar ; »Opportunismus« in Anführungszeichen, denn zwar ist die entscheidende begriffliche Anforderungen erfüllt – Parteibeitritt bei vorgeblicher Ablehnung oder Indifferenz gegenüber deren politischen Zielen –, allerdings scheint diese Handlung kaum auf eine bewusste Entscheidung zurückzugehen. Sie wirkt eher wie ein kaum erklärungsbedürftiger Automatismus. Der Eintritt in die politische Partei sei, so suggerieren Ortschroniken, eben kein politischer Vorgang gewesen, sondern eine Distanzierung von jeglicher politischer Betätigung. Sehr viele Chroniken zählen Mitglieder der NSDAP (und ihrer Organisationen) namentlich auf, konstatieren jedoch zugleich, dass die Parteigänger im Grunde nicht politisch aktiv geworden seien. Die Chronik des mecklenburgischen Mestlin nennt einige NSDAP-Mitglieder und erwähnt die Ausbreitung weiterer NS-Einrichtungen im Ort, kommt jedoch alsbald zu dem Schluss, »dass das Interesse an politischer 100 Schäftlarn, S. 336. 101 Merten, S. 59.
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Arbeit nicht so groß war«.102 Die Chronisten des bayerischen Schwabhausen halten es für unmittelbar einsichtig, dass nur wenige »aus voller Überzeugung der NSDAP beigetreten sind«. Die meisten seien »aus Angst vor Ausgrenzung oder beruflicher Benachteiligung der Partei« zugehörig gewesen, »halten sich aber im politischen Alltag weitgehend zurück.« Der Eintritt in die NSDAP aus »politischer Zurückhaltung« impliziert, dass er gerade nicht aus der Absicht heraus erfolgte, grundlegende Veränderungen des Dorflebens herbeizuführen. Stattdessen sei der Parteibeitritt im Gegenteil durch die Bewahrung eines unpolitischen, gemeinschaftlichen Dorfalltags motiviert gewesen. Unterschiedliche Parteizugehörigkeiten, so heißt es in der Schwabhausener Chronik weiter, hätten sich nicht auf die Dorfgemeinschaft ausgewirkt: »Zumindest scheinen keine gravierenden Spannungen unter den Dorfbewohnern entstanden zu sein.«103 Entscheidend für Ortschroniken ist in der Regel nicht die oberflächliche politische Zugehörigkeit, sondern die wesentliche Orientierung auf die Dorfgemeinschaft. Der Chronist des sächsischen Theuma formuliert dieses Leitmotiv unabhängig von der nationalsozialistischen Zeit für die Parteizugehörigkeit im Allgemeinen: »Es interessiert doch keinen Einwohner, ob einer roter oder schwarzer, grüner oder blau-gelber Politiker oder parteilos ist. Einzig und allein interessiert das Engagement jedes Einzelnen für unseren Ort.«104 In diesem Sinne beschreiben viele Chroniken die NSDAP-Eintritte von Mitgliedern der Gemeindeverwaltung als formale Voraussetzung, um ihre Erfahrung und ihr Engagement weiterhin den existenziellen Interessen der Dorfgemeinschaft zur Verfügung zu stellen – im Grunde also als das Gegenteil einer parteilichen Entscheidung. Über das nordfriesische Sprakebüll berichtet die Chronik aus dem Jahr 1992, dass der verdiente Bürgermeister Peter Petersen, da er nicht Mitglied der NSDAP war, im Jahr 1933 abgesetzt worden sei. Zwei Jahre später habe er das Amt bereits wieder bekleidet, mittlerweile der Partei beigetreten. Seine Entscheidung sei den praktischen Anforderungen der Gemeindeverwaltung geschuldet gewesen, da auf seine Sachkompetenz bei der Leitung der Dorfangelegenheiten – unabhängig von seiner parteipolitischen Integrität – angeblich nicht verzichtet werden konnte.105 Dieses Muster schlägt sich in sehr anschaulicher Weise in dem Heimatbuch des 1924 gegründeten Sönke-Nissen-Kooges in Nordfriesland nieder. Die Chronik aus den 1970er Jahren enthält ein recht umfangreiches Kapitel zum »politischen Umschwung«, das sich auf die 1920er bis 1940er Jahre bezieht. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen hier rechtliche und finanzielle Belange 102 103 104 105
Mestlin, S. 56. Schwabhausen, S. 72. Theuma, S. 4. Sprakebüll, S. 19.
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(Renten, Besitzansprüche am Deich, Landzuteilungen u. a.), bei denen die Dorfbewohner auf die Unterstützung ihrer Außenwelt angewiesen sind, in diesem Fall verkörpert durch regionale Behörden.106 Die natürlichen Interessen des Koogs hätten sich am Übergang zum »Dritten Reich« nicht wesentlich geändert. Was sich hingegen geändert habe, seien die Umweltbedingungen: Die Durchsetzung der existenziellen Anliegen des Koogs sei von nun an »wesentlich schwieriger, weil die politische Konstellation seit dem 30. Januar 1933 völlig anders geworden ist.« Angesichts dieser gewandelten »politischen Konstellation« hätten die unveränderten Bedürfnisse der Dorfbewohner ihren Weg nach außen nunmehr zwangsläufig über das »einzige Parteimitglied« (der NSDAP) im Koog nehmen müssen: »Es kommt jetzt darauf an, gute Fühlung mit maßgebenden Männern der NS-Partei zu bekommen. […] Nur einer von den Siedlern ist Parteimitglied: Peter Volquardsen. Also muß ›Peter Bütjebüll‹ her ; der tut, was er kann, und macht seinen Christian [Sprecher der Bauern des Kooges] mit dem Husumer Kreisbauernführer Harm Jensen, Wittbek, und dem Landesobmann für Schleswig-Holstein, Martin Mathießen, Auhof, gut bekannt und empfiehlt ihn seinen Parteigenossen wärmstens.« Die Parteimitgliedschaft Volquardsens stellt für den Chronikautor keinen erklärungsbedürftigen Sachverhalt dar. Sie erscheint als eine Art funktionales Merkmal, das für die Auseinandersetzung mit den wirklich politischen Instanzen unerlässlich ist. In diese Richtung weist auch die Formel des »lebenden Beweises«, den Volquardsen sowie ein weiteres Parteimitglied für die Verhandlungsfähigkeit der Koogsinteressen in der politisierten Umwelt darstellen würden: »Am 9. März 1934 ist es dann soweit. Christian Paulsen hat Zutritt zu dem Zimmer, in dem einst Articus und später Bollert gesessen haben. Peter Volquardsen und Harm Jensen begleiten ihn, es muß eben sein. Paulsen schreibt dazu: ›Harm Jensen ist mit mir zur ersten grundlegenden Verhandlung ins Landwirtschaftsministerium gegangen, von mir aus gesehen als ein notwendiger lebender Beweis für den mir gegenübertretenden neuen parteigebundenen Ministerialdirektor für meine Vertrauenswürdigkeit; auf den Gang der Verhandlung hat er keinen Einfluß genommen – sollte er auch nicht (!) […]‹.« Auch in den weiteren Ausführungen der Chronik ist durchgehend deutlich, dass es die regionalen Behörden – also die Vertreter des NS-Staates auf höheren Ebenen – sind, die die finanziellen Belange des Kooges sachfremderweise politisieren.107 106 Vgl. Thomaschke: »Politik«, S. 305–306; Pingel: Nationalsozialismus, S. 71. 107 Sönke-Nissen-Koog, S. 257–258. Vgl. ebd., S. 256: »Wie Peter Volquardsen berichtet, ärgert man sich in Parteikreisen, dem Sönke Nissen-Koog so prompte und großzügige staatliche Hilfe verschafft zu haben. ›Wir hätten erst bei jedem einzelnen die Gesinnung prüfen sollen‹, meint ein Parteiführer, ›jetzt ist es zu spät.‹ Dennoch fordert ein anderer die Zurücknahme der staatlichen Hilfsaktion in unserer Rentengutssache, kann aber damit nicht durchdringen, hat doch unser Koog für die Entschuldung aller Rentengüter im gesamten
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Widerständigkeit des Alltags Blicken wir auf die andere Seite des Spektrums von Anpassung und Auflehnung: die Opposition gegenüber dem NS-Regime. Wie eingangs gesagt fällt auf, dass Beispiele von offenem und direktem Widerstand die Ausnahme im Genre darstellen. Vielmehr sei die Dorfbevölkerung darauf bedacht gewesen, ein möglichst großes Maß an Ruhe, Ordnung bzw. Normalität zu bewahren – auch unter den nunmehr ›widrigen äußeren Bedingungen‹. Allerdings steht in nicht wenigen Chroniken die Zusammenstellung von Hinweisen auf die Ablehnung des Nationalsozialismus im Vordergrund. Manche Kapitel zur NS-Zeit erwecken den Eindruck, als trügen die Autoren so viele Andeutungen oppositionellen Denkens oder gar Handelns gegenüber dem neuen System zusammen, wie auffindbar waren. Es stört dabei wenig, dass diese Andeutungen oft vage und in ihrer Stroßrichtung sehr begrenzt ausfallen; in der Summe dienen sie dazu, eine eindeutige, oppositionelle Tendenz nachzuweisen oder zumindest nahezulegen.108 Es ist nicht anzunehmen, dass hinter solchen Chronikabschnitten in jedem Fall apologetische oder euphemistische Absichten stehen. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass die Mehrzahl der Chronikautoren – ob bewusst oder unbewusst – geneigt ist, kleinere, isolierte, sachbezogene Konflikte als Ausdruck eines im Grunde apolitischen, dem Nationalsozialismus wesensmäßig gegenüberstehenden Dorfcharakters darzustellen. In thematischer Hinsicht sind die in Frage kommenden Vorfälle hierbei kaum begrenzt. Sie können von der Verweigerung finanzieller Zuschüsse an NSDAPOrganisationen,109 der Verwendung überkommener Flaggen und Symbole statt des Hakenkreuzes110 bis zur Versorgung von Zwangsarbeitern mit Essen reichen.111 Ein besonderer Stellenwert kommt in Ortschroniken der Stilisierung religiöser Konflikte zu oppositionellen Handlungen bzw. Haltungen zu. Das Festhalten an religiösen Traditionen und Bräuchen sowie der Widerstand gegenüber Vereinnahmungsversuchen durch nationalsozialistische Organisationen und Symbole sind weit verbreitete Topoi in Heimatbüchern; und dies unabhängig von der konfessionellen Prägung des jeweiligen Ortes. Die Chronik von Dromersheim am Rhein bringt dieses Narrativ in einem Zeittafel-Eintrag zu den Jahren 1933 bis 1945 auf den Punkt: »Das sogenannte ›Dritte Reich‹ findet in Dromersheim wenig Anklang. Die kirchenfeindlichen Bestrebungen stoßen auf
108 109 110 111
Reichsgebiet Modell gestanden. ›Aber wartet nur, wir kriegen euch doch‹, rufen sie im Geiste den Koogsgenossen zu, ›irgendeinen Grund finden wir schon, Euch zur Kasse zu bitten!‹« Vgl. z. B.: Eschbach, S. 80–81. Schwabhausen, S. 71–72. Schäftlarn, S. 337–338. Von der Fürweiler Dorfchronik als »Widerstand im Kleinen« bezeichnet, Fürweiler, S. 149.
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harten Widerstand, der […] durch scharfe Gegenaktionen der auswärtigen Parteileitung beantwortet wird, ohne jedoch die bewährte Grundhaltung der Einwohner brechen zu können.«112 Wenngleich es wenige Chroniken gibt, in denen Konflikte religiöser bzw. kirchlicher Akteure mit Regime-Vertretern im Zentrum der gesamten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stehen,113 erwähnen viele Chroniken kleinere Episoden, beispielsweise die ablehnende Haltung gegenüber der Entfernung christlicher Symbole aus Unterrichtsräumen, und versehen diese mit einem – mehr oder weniger deutlichen – Unterton einer generellen NS-Opposition.114
Ortsfremdheit überzeugter Nationalsozialisten Eine besondere Facette dieses Erzählmusters liegt darin, dass die Unterbindung bzw. Störung religiöser Bräuche und Feierlichkeiten nicht selten von Ortsfremden ausgeht. Während lokale NSDAP-Mitglieder und -funktionäre sich im Sinne der Dorfgemeinschaft zurückhalten, sind es in solchen Geschichten in der Regel aus anderen Gemeinden hinzukommende SA- oder SS-Gruppen, gegenüber denen Ortschroniken eine Frontlinie einziehen: traditionsverbundene, sublim oppositionelle Religiosität versus gemeinschafts- und ortsfremde, nationalsozialistische Anti-Religiosität. Betrachten wir ein Beispiel aus Schmelz im Saarland. In der Chronik aus den frühen 1970er Jahren heißt es über die »Naziherrschaft«: »Für christliche Einrichtungen hatte man nur wenig oder gar kein Interesse.« Und kurz darauf: »Wirklich überzeugte oder sogar fanatische Nazis gab es nicht besonders viele. Es darf aber auch gesagt werden, daß die führenden Männer der Partei in unseren Orten ein humanes Verhalten zeigten, insbesondere auch hinsichtlich der Angriffe auf Religion und Kirche.« Sodann berichtet der Autor von dem Versuch, eine religiöse Prozession im Ortsteil Bettingen zu blockieren: »Wohl wurde einmal die Fronleichnamsprozession in Bettingen durch Fahrzeuge (PKW), in denen uniformierte Parteileute saßen, gestört. Diese Nazis waren aber weder Bettinger noch Außener. Der unternommene Versuch, die Prozession aufzulösen, scheiterte vollkommen.«115 Bezeichnend ist hier, dass »diese Nazis« nicht aus dem Ort stammten – ihre Herkunft bleibt im Unklaren – während sich die lokalen Parteiangehörigen der Chronik zufolge in Einklang mit den hergebrachten dörflichen Bräuchen verhielten. Eine besonders häufige Kulisse für dieses Narrativ stellen die letzten Wochen 112 113 114 115
Dromersheim, S. 57. Siehe z. B. Dill, S. 220–226. Vgl. für viele Neubeuern, S. 665; Egling/Heinrichshofen, S. 137. Schmelz, S. 192.
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bzw. Monate des Zweiten Weltkriegs dar, in denen in sehr vielen Orten auswärtige SS-Einheiten durchzogen oder sogar zeitweise einquartiert waren. So auch in Heiligenwald, ebenfalls im Saarland: Die Religiösität der Dorfbewohner dient auch hier zur Inszenierung einer deutlichen Differenz zwischen den ortsfremden Agenten des Regimes und der scheinbar geschlossenen, einheimischen Bevölkerung. Im November 1944, besagt die Chronik, haben Wachmannschaften eines nahe gelegenen, den Dörflern angeblich unbekannten Gestapo-Lagers (»Neue Bremm«) in Heiligenwald Quartier bezogen: »Der Schulbetrieb mußte gänzlich eingestellt werden. Der ganze Beamtenapparat nebst seinen Bewachungsmannschaften und Gefangenen der ›Gestapo‹ von der ›Neuen Bremm‹ zog zu unserem nicht geringen Schrecken in die beiden Schulhäuser ein. Von ihrer Existenz hatten wir bis dahin keine Ahnung.« Die Chronik nutzt dieses Szenario, um die oben skizzierte Fronstellung zu inszenieren: »Ein Scharführer der SS bereitete mit einem Vorkommando die Schulhäuser für ihre Zwecke vor. Seine erste ›Amtshandlung‹ bestand in der Entfernung der Kruzifixe aus den Sälen. Ich kam zufällig vorbei und sah, wie er den Schulbuben die Kreuze in die Hände drückte.« Der ehemalige Rektor der Schule, zugleich Autor der Chronik, habe erfolglos gegen dieses Vorgehen protestiert. Daraufhin habe der Rektor dem SS-Mann geantwortet: »Sie kommen und gehen, und dann sind es wieder Schulräume.«116 Im Hintergrund der Erzählung steht die chroniktypische Trennung einer stetigen Dorfebene und einer wechselhaften Umwelt; personifiziert durch bleibende Dorfbewohner und durchziehende Fremde. Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus den letzten Kriegswochen, in der eine einheimische Bevölkerung, die bangend das Kriegsende abwartete, auswärtigen SS-Einheiten gegenübersteht, die die letzten Überreste des unterdrückenden Staates repräsentierten. Stellt dieses Setting doch eine Art Extremfall eines äußeren Eingriffs in die Dorfgeschichte dar : Zum einen droht die physische Vernichtung des Dorfes (durch Artilleriebeschuss oder eindringende Kampftruppen). Zum anderen repräsentieren die von weit außerhalb kommenden, nur vorübergehend bleibenden und politisch fanatisierten SS-Mannschaften den Gegenpol der sesshaften, ganz dem engen Kosmos des Ortes verpflichteten, unpolitischen Dorfbevölkerung. In der Chronik der bayerischen Gemeinde Haslach treffen wir auf diese paradigmatische Gegenüberstellung: einerseits die besorgten Dorfbewohner (»Alles war in fieberhafter Erregung, denn daß die Front immer näher kam, sah man schon an den zahlreichen Truppenverbänden.«) und andererseits die »auftauchende« SS (»Unheimlich wurde es, als so viele SS [sic] auftauchten, die fast gefürchteter waren als der Feind.«). Diese Formulierung assoziiert die SS-Verbände zugleich mit den bald darauf folgen116 Heiligenwald, S. 263.
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den Besatzungstruppen. Die SS erscheint als Besatzung durch den eigenen Staat. Es folgt ein typisches Motiv in diesem Zusammenhang: das illegale Anbringen weißer Flaggen. Angesichts erster Feuergefechte in der unmittelbaren Umgebung Haslachs heißt es: »Die Einwohner warteten fieberhaft auf den Einmarsch der Amerikaner, viele hatten schon weiße Tücher ausgehängt.« Daraufhin »erschienen« abermals die NS-Regimevertreter im Ort: »Da erschienen nochmals einige SS-Leute und zwangen die Leute mit vorgehaltener Waffe wieder zum Einziehen ihrer weißen Flaggen. Eine halbe Stunde später verschwand die SSKompanie fluchtartig aus Haslach. Sogleich erschienen wieder die weißen Fahnen.«117 Werfen wir einen Blick in eine andere bayerische Chronik, die ein vergleichbares Szenario schildert und dabei zugleich die vermeintliche Geschlossenheit der Dorfgemeinschaft gegenüber der fremden SS hervorhebt. Im Abschnitt »Das Kriegsende 1945« der Chronik von Reichertshofen ist folgende Episode zu lesen: »Die amerikanischen Truppen waren im Frühjahr 1945 schon weit in unser Land vorgerückt. […] Am 28. April 1945 nahmen amerikanische Geschütze von Osten her auch Reichertshofen unter Beschuss. […] Eine mutige Frau (Meier Anna) brachte einem jungen Reichertshofer ein weißes Leintuch, mit dem dieser hoch auf dem Kirchturm den Amerikanern zeigen sollte, dass der Markt sich kampflos ergeben wolle. Man wusste aber, dass SS-Leute jeden erschießen, der sich den Feinden ergeben wollte. Der junge Mann stieg mit dem Leintuch auf den Kirchturm, machte es am Zachäus-Fahnenstiel fest und nachdem die weiße Fahne durch ein Schallloch gehisst war, hörte der Beschuss auf. Der tapfere Bub war noch im Turm, als zwei SS-Leute an der Kirche vorfuhren, um den ›Verräter‹ zu suchen. […] Dekan Dr. Karl Raab, der den jungen Reichertshofener natürlich kannte, hat dessen Namen nicht preisgegeben.« Die Chronik von Reichertshofen bringt gleich darauf ein weiteres charakteristisches Motiv in diesem Zusammenhang: die Verhinderung der Sprengung wichtiger Infrastruktur (Brücken etc.) durch sich zurückziehende deutsche Kampftruppen. »Beim Anrücken der Amerikaner wurde die Paarbrücke in Reichertshofen zur Sprengung vorbereitet, um den Feind aufzuhalten. Die Sprengkörper waren beidseitig in die Brücke eingebaut. Die Zündkabel lagen auf der Nordseite der Hauptstraße bis zum Zündapparat in der Höhe der Thannbergstraße. Als man die Brücke sprengen wollte, waren die Kabel von unbekannter Hand mehrmals durchtrennt und unschädlich gemacht.« Letztlich habe sich jedoch die antagonistische SS durchsetzen können: »Nun brachte die SS eine Haftladung in der Mitte der Brücke an, die dann in der Nacht vor dem Einrücken der Amerikaner gesprengt wurde.« Sodann hätten die »SS-Männer sich abgesetzt«, was für den Ort bedeutet habe, dass alle Kampfhandlungen »für Reichertshofen beendet« 117 Haslach, S. 46.
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waren.118 Beide Motive – das Hissen weißer Flaggen und die Sabotage von Sprengungen – finden sich in zahllosen Chroniken, ganz gleich aus welcher Region und welcher Nationalität die vorrückenden alliierten Truppen waren.119 Ein weiteres, weit verbreitetes Motiv ist das Nicht-Ausrücken des verordneten »Volkssturms«. Kehren wir abschließend noch einmal vom Kriegsende in die Herrschaftsjahre des Nationalsozialismus zurück. Es kommt durchaus vor, dass Ortschroniken, wenn auch meist in anonymer, teils sehr vager Form, auf »überzeugte« oder »fanatische Nazis« aus dem Dorf selbst hinweisen. Allerdings stilisieren sie den zeitweisen politischen Fanatismus Einzelner in aller Regel ebenfalls als ortsfremdes Verhalten. Wie wir gesehen haben stellt die Chronik von Schmelz zwar fest, dass es im Ort vereinzelt »wirklich überzeugte oder sogar fanatische Nazis« gegeben habe, doch weist die Chronik gleichsam darauf hin, dass die entscheidenden Funktionsträger im Ort, obwohl sie Parteimitglieder waren, durchweg »ein humanes Verhalten zeigten«.120 Entscheidend sei nicht die Parteimitgliedschaft oder andere Anpassungen an die politische Rationalität der Zeit, entscheidend sei das tatsächliche Verhalten der Personen, und dieses stehe in den meisten Fällen in Einklang mit den Interessen einer unpolitischen, niemals fanatischen, auf alltägliche und existenzielle Bedürfnisse beschränkten Dorfgemeinschaft. In Steinberg-Deckenhardt im Saarland sei »die Zeit von der Machtübernahme bis zum Kriegsausbruch einigermaßen ruhig« verlaufen. Einzelne, überlieferte Konflikte bestätigen diese Einschätzung in der Ortschronik des Jahres 1985 eher, als dass sie ihr widersprechen: »Auch wenn sich das Treiben einiger ›Führer‹ (kleine Hitlerchen nannte man sie) in Grenzen hielt, illustrierten jedoch einige Vorfälle ihre Macht im Dorf. So mußte z. B. ein Soldat seinen Urlaub abbrechen und sofort wieder an die Front nach Rußland zurück, weil er einem Politischen Leiter widersprochen und gedroht hatte.«121 Wer sich ›zu nationalsozialistisch‹ verhalten habe, wird mit dem Staat (»Hitler«, »der Partei«, »den Nazis«) assoziiert und nicht mit der Dorfgemeinschaft; entsprechende Episoden wirken wie Fremdkörper im Umfeld des Ortes. Dies zeigt auch das folgende Beispiel aus Oberböhmsdorf in Thüringen, in dem ein »100-Prozent-Nazi« wie ein realitätsferner Verirrter in der dörflichen Lebenswelt erscheint. Eine Bauernfamilie habe ihre Zwangsarbeiterin entgegen den Bestimmungen mit am Esstisch speisen lassen. Eine Zeitzeugin berichtet: »Mein Vater hielt sich aber nicht an die staatliche Anordnung. Eines Morgens kam, als wir gerade beim Frühstück saßen, der Bergwerks-Müller, ein ›100-Prozent-Nazi‹ in 118 119 120 121
Reichertshofen, S. 48–49. Für ein Beispiel mit sowjetischen Besatzungstruppen vgl. Stralendorf, S. 152. Schmelz, S. 192. Steinberg-Deckenhardt, S. 40.
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die Küche. Mit einem ›Heil Hitler‹ trat er ein. Mein Vater antwortete: ›Wir sagen guten Morgen.‹ Als der Besucher nun das Mädchen mit am Tisch sitzen sah, fing er an zu toben und wollte meinen Vater fortbringen lassen. Durch das Eingreifen des Ortsgruppenleiters Hubrich wurde es aber verhindert. Beide sind nach dem Krieg abgeführt worden und seitdem verschollen.«122 Bezeichnend ist in dieser Episode zudem die symbolische Gegenüberstellung des neumodischen Hitlergrußes und des traditionellen »Guten Morgen«, die die Dichotomie von ortsfremder Politisierung und zeitloser Politikferne unterstreicht.
Zwischen Besatzung und Displaced Persons: Zeit der Unsicherheit Das Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt in den meisten Chroniken sehr viel Raum ein. Hier hätten für viele Orte, trotz vorangehender Kriegswirtschaft, gefallener Dorfbewohner und etwaiger Luftkriegszerstörungen, erst die wirklich »schlechten Zeiten« begonnen. Die Passivität des Ortes setzt sich in dieser Zeit ungebrochen fort oder verschärft sich in der Darstellung vieler Heimatbücher nochmals. Hierbei stehen verschiedene Bedrohungs- und Leidensquellen im Vordergrund; einige Elemente tauchen in so gut wie allen Büchern auf: Neben der Besatzungsherrschaft sind dies die Displaced Persons,123 die Aufnahme von Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen sowie das Gefallenengedenken. Im vorangehenden Kapitel haben wir bereits ein anderes typisches Leitmotiv der Darstellung der letzten Kriegszeit angetroffen: die Konfrontation kapitulationswilliger, (sublim) oppositioneller Dorfbewohner und fremder, politisch fanatisierter Kampftruppen des NS-Regimes. Die Dorfbevölkerung trat vor allem als Träger der Hoffnung auf, dass der eigene Ort von physischer Zerstörung möglichst weitgehend verschont bleiben möge. Einige Chroniken liefern in diesem Zusammenhang minutiöse, militärhistorische Rekonstruktionen der Marschrouten, Strategien und Taktiken alliierter und deutscher Kampftruppen. Das gleiche gilt für Kampfhandlungen und Gefechte im Umfeld oder im Ort selbst. Dies ist besonders verbreitet in Chroniken aus heftig umkämpften Gebieten wie dem Saarland.124 Derartige Passagen gehen in aller Regel auf eine Kombination von Archivalien der Alliierten, Kriegschroniken von Lehrern oder Pfarrern, persönlichen Erinnerungen und eine militärhistorische Vorliebe in122 Oberböhmsdorf, S. 46. 123 Ich übernehme hier der Einfachheit halber diesen, vor allem in den westlichen Besatzungszonen gebräuchlichen Begriff. Es handelt sich um einen »Verwaltungsterminus, der von den Alliierten zur Bezeichnung der durch die NS-Politik verschleppten und vertriebenen Zivilisten diente«, also in erster Linie ehemalige Zwangs- und Fremdarbeiter sowie KZ-Häftlinge umfasst, Meyer: Displaced Persons, S. 24. 124 Vgl. z. B. Ittersdorf, S. 107–122.
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dividueller Autoren zurück. Da diese Thematik weniger zentral für das Verständnis der chroniktypischen historischen Perspektive ist, werde ich sie nicht gesondert behandeln und sogleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit übergehen.
Historisches Klima der Angst und Bedrohung Ortschroniken weichen im Allgemeinen nicht von der üblichen Hierarchisierung der Besatzungsnationen ab, wie sie für viele erinnerungskulturelle Zusammenhänge bereits beschrieben worden ist: Die Westmächte habe die Bevölkerung der Sowjetunion vorgezogen, vor der sich die meisten Bürger stark gefürchtet hätten. Innerhalb der Westmächte habe man Briten vor den USAmerikanern und diese wiederum vor den Franzosen favorisiert. In Chroniken aus Orten, die zwei wechselnde Besatzungsmächte in kurzer Folge hatten, wie in vielen ostdeutschen Dörfern, die zuerst von den Amerikanern eingenommen und dann an die Rote Armee übergeben worden waren, oder in saarländischen Gemeinden, die aus US-amerikanischer in französische Hand übergingen, fehlt es nicht selten an entsprechenden Kontrastierungen – oder zumindest graduellen Hierarchisierungen – der verschiedenen Besatzungsregime.125 Gemein ist der Zeit der (wechselnden) Besatzer jedoch, dass diese als eine Zeit ausgeprägter Willkür, Bedrohung, Fremdbestimmung und Ohnmacht dargestellt wird.126 Zunächst fällt auf, dass Chroniken in diesem Rahmen eine Vielzahl einzelner Episoden aneinanderreihen, in denen die Besatzer als gewalttätige, kriminelle oder ungerechte Täter auftreten. Die Beispiele sind hier Legion und lassen sich kaum in wenigen Kategorien zusammenfassen. Häufig sind jedenfalls Geschichten von Enteignungen, Raub oder Plünderungen, die weit über den unmittelbaren Bedarf hinaus gehen oder der persönlichen Bereicherung bzw. Befriedigung dienen, sowie Geschichten von Waffengewalt und Drohungen gegenüber den Dorfbewohnern, von drastischen Einschränkungen der Bewegungs- und Arbeitsmöglichkeiten der Bevölkerung, von einem achtlosen bis zerstörerischen Umgang mit beschlagnahmten Gütern und Gebäuden, von überzogenen Sühneaktion gegen vermeintlich schuldige oder belastete Ein125 Vgl. Molbitz, S. 55; Eiweiler, S. 206; Acht, S. 305. Gelegentlich finden Besatzungssoldaten schwarzer Hautfarbe eine gesonderte Erwähnung in Ortschroniken, jedoch eher selten und kursorisch. In aller Regel kommt derartigen Erwähnungen ein anekdotischer Stellenwert zu; die farbigen Soldaten erscheinen meist als eine Art Kuriosum für die Zeitgenossen. Die Darstellung drastischer Vorfälle, wie zum Beispiel, dass im Ort oder in Nachbarorten »Frauen durch Neger vergewaltigt« worden seien, ist die Ausnahme, Nitzlbuch/Bernreuth, S. 44. 126 Vgl. Aichschiess-Krummhardt, S. 76.
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wohner, von ungerechtfertigten Härten der »Entnazifizierung«. In diesem Zusammenhang geht es nicht selten auch um Vergewaltigungen oder eine entsprechende Atmosphäre konstanter Angst der weiblichen Dorfbewohner. Besonders in Ortschroniken der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone trifft der Leser zudem auf Fälle willkürlicher Entführungen, Verschleppungen und Folterungen meist männlicher Einwohner. Auch liest man hier gelegentlich von Selbstmorden, zu denen die (bevorstehende) Besatzung einige Menschen getrieben habe. Überhaupt verteilt sich die Dichte und Intensität mit der Gewaltund Unrechtstaten beschrieben werden, tendenziell entlang der oben skizzierten Besatzungs-Hierarchie, in der die sowjetische Armee eindeutig am unteren Ende steht.127 Gemein ist Chroniken aus allen Besatzungszonen, dass sie in diesem Zusammenhang wenig systematisch vorgehen; meist lesen sich die Abschnitte wie Ansammlungen mehr oder weniger unverbundener Einzelfälle. Es entsteht der Eindruck, dass die Auswahl schlicht auf die Verfügbarkeit entsprechender Erzählungen zurückgeht. Damit einher geht die oft fehlende oder unkonkrete Angabe von Quellen in diesen Passagen (»Es heißt…«, »Man sagt…«, »Ein ältere Einwohner erinnert sich…« etc.). Die Spannweite, wie plastisch die einzelnen Episoden ausgestaltet sind bzw. wie vage sie bleiben, ist groß (also: ob der entsprechende Vorfall überhaupt benannt oder nur angedeutet wird, wie viele Einzelheiten geliefert werden, ob Namen und Daten genannt werden, wie genau der Kontext dargestellt wird, wie weit die entsprechende Quelle erwähnt und eingeordnet wird etc.). Hier zeigen sich nicht nur zwischen verschiedenen Chroniken, sondern innerhalb derselben Chronik deutliche Unterschiede. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die Kapitel zur Besatzungszeit, erstens, stark vom Eklektizismus überlieferter Erinnerungen abhängen, zweitens, eher diffus als konkret ausfallen und, drittens, eher auf die Schilderung eines allgemeinen »Klimas« als auf eine systematische Rekonstruktion abzielen. Viele mehr oder weniger drastische Geschichten stehen hier stellvertretend für ein historisches Klima der Angst, Bedrohung und Willkür. Es entsteht der Eindruck, dass Chroniken bei der Darstellung der Besatzungszeit primär auf das emotionale Nachempfinden ausgerichtet sind. Genauso erhalten positive Begegnungen zwischen Besatzungssoldaten und Einwohnern, die – ebenfalls anekdotisch – in vielen Chroniken auftauchen, vor diesem Hintergrund ihren Sinn. Sie sind nicht allein historisches Ereignis, sondern zugleich exemplarische Zeichen der Menschlichkeit oder der Hoffnung auf bessere Zeiten. Denken wir an die Beobachtungen zu jüdischen Opfergeschichten, so scheinen Ortschroniken auch hier eher mit literarischen Genres als mit einer geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion zu konkurrieren. 127 Vgl. Ankershagen, S. 268–270; Userin, S. 52; Zachow, S. 85–87.
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Marodierende Banden Direkt verknüpft mit dem Einmarsch fremder Kampftruppen ist die Befreiung der auf den Dörfern meist in der Landwirtschaft beschäftigten Zwangsarbeiter oder der Häftlinge nahegelegener KZ-Außenlager und Kriegsgefangenenlager. Auch diesen gegenüber nimmt die Dorfbevölkerung in Ortschroniken eine Opferrolle ein. Das Leiden unter der Willkür und Kriminalität dieser Displaced Persons ist in Ortschroniken aller Regionen recht prominent. Bereits die ersten Chroniken der frühen Nachkriegszeit berichten teilweise ausgiebig davon und die Chroniken späterer Jahrzehnte sehen offenbar keinen Anlass, die tradierten Erzählungen kritisch zu hinterfragen. Einzelne Verweise auf das Leid dieser Menschen während der Kriegsjahre (und danach) finden sich zwar in Ortschroniken, doch dominiert eindeutig das Szenario einer allgemeinen Bedrohungslage durch ›marodierende Zwangsarbeiter-Horden‹. Der Willkür und Selbstjustiz der DPs habe eine weitgehend hilflose Dorfgemeinschaft gegenübergestanden. Die Bedrohung habe das alltägliche Dasein der im Grunde schuldlosen, passiven Dorfbevölkerung zusätzlich zu der Besatzungswillkür erschwert; nicht selten heißt es, die jeweilige alliierte Verwaltung vor Ort hätte das gewalttätige, unrechtmäßige Verhalten der befreiten Zwangsarbeiter und Häftlinge, wenn nicht ermutigt, so zumindest bereitwillig geduldet.128 Dies gilt wiederum besonders für die sowjetische Besatzungszone. Betrachten wir nur ein Beispiel aus der Chronik des bayerischen Floß. In den äußerst knappen Ausführungen zum »Dritten Reich« heißt es lapidar : »Auf den meisten Bauernhöfen leisteten Kriegsgefangene, Polen, Rumänen und Franzosen Arbeitshilfe.« Alle weiteren Umstände dieser »Hilfe« bleiben unerwähnt, gleichsam die Behandlung der Fremdarbeiter. In den folgenden, etwas ausführlicheren Bemerkungen zur Kriegs- und Nachkriegszeit kommt der Autor jedoch wiederholt darauf zu sprechen, wie die Bevölkerung unter den Unrechtstaten der befreiten Arbeiter zu leiden hatte und wie die Besatzungsmacht dies billigend in Kauf genommen habe. Beispielsweise habe der »Schwarzhandel« nach dem Krieg gänzlich »in den Händen der Ausländer« gelegen, »die sich um die deutschen Gesetze nicht kümmerten und von den Amerikanern, deren Freunde sie waren, nicht allzu viel zu befürchten hatten.« Allgemein habe unter der Besatzungsherrschaft der US-Amerikaner »Rechtsunsicherheit« geherrscht, von der vor allem die scheinbar aus niederen Motiven agierenden »Fremden« profitiert hätten. Der Autor schildert räubernde »Banden« mit Zugriff auf amerikanische Uniformen: »Denn nun hielten die Fremden – meist Polen – auf eigene Faust Hausdurchsuchungen. Sie drangen, teilweise in amerikanische Soldatenuniformen gekleidet, mit vorgehaltenen Pistolen in die Häuser ein. Es 128 Vgl. z. B. Nitzlbuch/Bernreuth, S. 44–48.
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müssen einzelne Banden gewesen sein, weil sich die Überfälle in den gleichen Häusern wiederholten. Auf Wertstücke, wie Schmuck und Uhren, hatten es die Räuber besonders abgesehen. Sogar die Betten schlitzte man da und dort auf, wenn Verstecktes darin vermutet wurde.« In nicht untypischer Weise kulminiert die gesamte Passage in einem Mord: »In der Ortschaft Grafenreuth wurden bei einem spätabendlichen Einbruchsversuch sogar zwei junge Menschen, eine verwaiste Bauerstochter und ein als ›Sitzweilgast‹ anwesender Bauersohn aus Steinfranckenreuth dadurch tödlich getroffen, daß die Einbrecher blindlings durch die verschlossene Türe schossen. Dem Vetter des Mädchens ging ein Geschoß zwischen Brust und Arm hindurch. Die Täter konnten nicht gefaßt werden.« Erst als die US-amerikanischen Besatzer schärfer gegen die DP-Kriminalität vorgegangen seien, so resümiert die Chronik, sei die Situation für die »wehrlose« Dorfbevölkerung besser geworden.129 Einer eher anonymen, homogenen Masse an »Fremdarbeitern«,130 die grundlegende Gesetze menschlichen Zusammenlebens missachten würden und denen kaum weitere Eigenschaften zukommen als das Verlangen nach (ungerechtfertigter) Rache und der Befriedigung materieller Bedürfnisse, steht einerseits die weitgehend wehrlose, in ständiger Angst um Eigentum und körperliche Unversehrtheit lebende Dorfbevölkerung gegenüber und, andererseits, die Besatzungsmacht, die das Treiben der gesetzlosen Fremden bis zu einem gewissen Grad duldet, obwohl sie im Einhalte gebieten könnte. Durch die eklektische Häufung von einzelnen, mehr oder weniger konkreten Erlebnissen entsteht, wie bereits im Zusammenhang mit den Besatzungssoldaten besprochen, eine allgemeine Atmosphäre der Angst und Bedrohung. Das Vorliegen von Einzelheiten, Namen, Umständen, Kontext etc. erscheint auch hier sekundär zu sein und variiert von Beispiel zu Beispiel stark. Auch erfährt das grundlegende Schema einer weitgehend passiven, reagierenden Bevölkerung und einer aktiven, gefährlichen Fremdarbeiter-Masse in vielen Chroniken punktuelle Brechungen, doch wird es dadurch nur selten grundsätzlich in Frage gestellt. Streuen Chroniken Beispiele der Menschlichkeit in ihre Schilderung der DP-Kriminalität ein, so erfüllen diese in der Regel eine ähnliche Funktion wie im Fall der Besatzungsmacht. Das Klima der Angst wird kontrastiert durch individuelle Heldengeschichten, zum Beispiel unterbinden entschlossene Führungsoffiziere der Besatzer die Ungesetzlichkeit der marodierenden Banden 129 Floß, S. 296–301. 130 In diesem Zusammenhang können die ethnischen Diskriminierungen vernachlässigt werden, denen Ortschroniken gelegentlich anhängen, beispielsweise in Form von Hierarchien verschiedener Herkunftsländer, deren Angehörige vorgeblich unterschiedlich stark kriminalisiert gewesen seien. Es geht mir vor allem um die implizite Akteurs-Konstellation, die der Behandlung der Thematik zugrundeliegt. Vgl. als Beispiel einer expliziten ethnischen Hierarchisierung von DPs: Fallingbostel, S. 36.
Zwischen Besatzung und Displaced Persons: Zeit der Unsicherheit
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oder bieten erfolgreiche Abwehrmaßnahmen der Dorfgemeinschaft ihnen punktuell Einhalt. Auch liest man etwa von dem beispielhaften Schutz, den einzelne Einwohner durch ihre ehemaligen Fremdarbeiter erfahren, zu denen stets ein menschliches Verhältnis bestanden habe.131 Die Vorbildhaftigkeit dieser Fälle erstrahlt vor dem Hintergrund des grundsätzlichen Bedrohungsklimas, zu dessen Nachfühlen die Chronik einlädt, umso heller.
Fortgesetzte Willkür der Umwelt Die Besatzungszeit ist eine Zeit der Unsicherheit, der fehlenden Ruhe und Ordnung, der relativ hohen Unberechenbarkeit der Umwelt des Dorfes. In diesem Sinne behandeln Chroniken sie praktisch – ohne dies zu reflektieren – homolog zu den vorangehenden Jahrzehnten: Der starke äußere Politisierungsbzw. Ideologisierungsdruck der NS-Zeit entfällt zwar weitgehend, doch behält die historische Umwelt des Dorfes ihren bedrückenden Charakter. Sie ist weiterhin der Ort von »großer«, ebenso unberechenbarer wie unbeeinflussbarer Politik und von willkürlichen, meist unruhestiftenden Wechseln der Verhältnisse; das Dorf bleibt weiterhin primär der Ort des Existenziellen, der Landwirtschaft, der alltäglichen Arbeit, der natürlichen Bedürfnisse. Die Dorfgemeinschaft, die das »Dritte Reich« im Behälterraum des Dorfes mehr oder weniger intakt überstanden hat, zeichnet sich über die politischen Brüche hinweg durch ihre Interessen- bzw. Bedürfniskontinuität aus, die sich vor allem auf die ausreichende Versorgung mit Gütern, die Funktionsfähigkeit der örtlichen Infrastruktur und allgemeiner : möglichst stabile Umweltverhältnisse richtet. Gerade von den Besatzungsmächten geht jedoch ein fortgesetzter Druck aus, der das geregelte, alltägliche Leben beeinträchtigt. Nehmen wir nochmals die Chronik des Sönke-Nissen-Kooges in Nordfriesland zur Hand, in der es bei der Darstellung der NS-Zeit darum ging, dass die Einwohner ihre rechtmäßigen, unpolitischen Interessen gegenüber dem irrationalen NS-Apparat durchsetzten. Dieses Erzählmuster setzt sich für die Nachkriegszeit ungebrochen fort. Es heißt: »Anfang 1946 erfährt Christian Paulsen, daß sich langsam wieder, jedenfalls regional, eine Verwaltung mit regulärer Behördenarbeit aufbaut. Sofort ist er auf dem Plan […]. Er kommt aber ein wenig enttäuscht zurück: ›Wir müssen noch etwas warten‹, sagt er zu Hause, ›ich glaube, die Garnituren wechseln da noch ein paarmal.‹«132 Die Differenz zwischen dem »Zuhause«, von dem aus sich die Umwelt hoffnungsvoll, jedoch unbeteiligt und abwartend beobachten lässt, und dem Außen (»da«) in dieser Passage ist paradigmatisch. An 131 Vgl. für viele Hondelage, S. 73; Nöpke, S. 110. 132 Sönke-Nissen-Koog, S. 279.
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diesem »Zuhause« hat sich im Kern nichts geändert; man verfolgt vorrangig dieselben existenziellen Besitzrechtsfragen. Die Umwelt hingegen ist weiterhin nur bedingt einsichtig; weitere »Garniturenwechsel« sind zu erwarten. Doch ist es nicht allein die Unberechenbarkeit der Umwelt, die die Selbstverwaltung der Gemeinde sowie den Arbeits- und Lebensalltag im Dorf in der Nachkriegszeit erschwert habe. Gleichsam prominent in Heimatbüchern sind die teilweise drastischen Anforderungen und Eingriffe der Besatzungsmächte in das Dorfleben. »Die Position des Bürgermeisters hatte sich nur langsam von einem fast völlig von den Weisungen der Militärregierung Abhängigen zum gewählten Vorsitzenden eines demokratisch gewählten Rates entwickelt«, heißt es in der Chronik des niedersächsischen Langelsheim.133 Diesen Prozess einer sukzessiven Befreiung des Dorfes von übermäßigem, äußerem Druck vollzieht auch die Chronik von Ommersheim im Saarland nach. Das Kapitel »Die Besatzungszeit« beginnt mit einem Panorama der Zerstörung und Verwüstung des Ortes durch den Krieg. Sodann heißt es über die Formierung einer neuen Gemeindeverwaltung: »Die Besatzer setzten August Vogelsand als Bürgermeister ein. […] Die Besatzer, zunächst Amerikaner und ab Mai Franzosen, verlangten und er mußte beschaffen.« Dass in der Folge eine gewisse »Normalisierung« der Lage eintrat, führt die Chronik vor allem auf die Duldsamkeit und gleichzeitige Betriebsamkeit der Dorfbevölkerung zurück, die auch unter der Besatzung ihren unveränderten Interessen nach Ruhe, Ordnung, Versorgung und Arbeit nachgegangen sei. Im Hintergrund steht die Gegenüberstellung von anonymer, erschwerender Besatzung und lokalem, kleinteiligen Wiederaufbau: »Die unter so vielen harten Opfern erbrachten Erzeugnisse der Landwirtschaft unterlagen einer strengen Bewirtschaftung und Ablieferungspflicht, die fast unerträglich wurde, als nach und nach der Behördenapparat unter der strengen Kontrolle der Besatzungsmacht wieder zu funktionieren begann. Zäh und verbissen suchte sich jeder durchzuschlagen und Ungewöhnliches wurde im privaten Wiederaufbau geleistet.« Nichtsdestoweniger habe sich nach und nach eine gewisse Verselbständigung des kommunalen Lebens durchsetzen können, die zugleich eine graduelle Emanzipation von den äußeren Anforderungen bedeutete. Diese Lockerung des Dorf-Umwelt-Verhältnisses ist gemeint, wenn die Chronik bilanziert: »Dennoch spürte man überall eine Erleichterung.«134
133 Langelsheim, S. 133. 134 Ommersheim, S. 62–66.
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Flüchtlinge und Vertriebene: Integration in die Gemeinschaft Die Geschichte von »Flucht und Vertreibung« am Ende des Zweiten des Weltkriegs ist seit einigen Jahrzehnten ein viel diskutiertes Thema der öffentlichen Erinnerungskultur. Ortschroniken widmen sich diesem Thema im lokalen Rahmen bereits seit den 1950er Jahren mit relativer Konstanz. Allerdings räumten und räumen Heimatbücher der Thematik vergleichsweise wenig Platz ein.135 Fallen entsprechende Abschnitte hingegen ausführlicher aus, beispielsweise durch lange Erinnerungsberichte von Fluchterlebnissen, so wirken sie eher wie ein Exkurs als ein integraler Teil der Ortsgeschichte. Dies mag verwundern, führten die Ereignisse am Kriegsende doch gerade in vielen ländlichen Gegenden zu enormen Einschnitten: In manchen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, Schleswig-Holsteins oder Niedersachsens verdoppelte sich die Bevölkerung buchstäblich. Auch in anderen Gebieten, sieht man von den weitgehend kriegszerstörten Dörfern etwa im Saarland ab, mussten vor allem die kleineren Orte auf dem Land die Flüchtenden aufnehmen, stellte sich die Wohnungs- und Versorgungslage gegenüber den Städten und Ballungsräumen hier doch relativ gut dar. Auf den zweiten Blick wird jedoch rasch deutlich, dass das Thema eine gewisse Herausforderung für die historiografischen Prinzipien des Genres darstellt. Ortschronisten fokussieren die Geschichte eines begrenzten, vermeintlich geschlossenen Gemeinderaumes im Unterschied zur Geschichte der gesellschaftlichen Umwelt. Mit dieser äußeren Sphäre assoziieren sie vor allem auch die Ursachen des Zweiten Weltkriegs – und somit auch die Ursachen von Flucht und Vertreibung. Das »Auftauchen« der Mengen an Flüchtlingen und Vertriebenen vor Ort ist im Bezugssystem des Genres auf geschichtliche Entwicklungen zurückzuführen, für die eher »die Forschung« als die Chronik zuständig ist. Auch für den zentralen Topos der Dorfgemeinschaft stellen die neuen Einwohner eine gewisse Irritation dar, verstehen Ortschroniken die Dorfgemeinschaft doch als mehrere Generationen übergreifenden, homogenen Zusammenhang. Die massenhafte Konfrontation mit »Neubürgern« steht quer zu diesem relativ hermetischen Innen-Außen-Schema.
Thematische Reduktionen Hat man diese grundlegende Problematik vor Augen, so lässt sich besser verstehen, dass das Thema Flucht und Vertreibung in sehr vielen Chroniken eine auffallend formale Behandlung erfährt. Viele Ausführungen tragen, auch wenn 135 Vgl. Thomaschke: Ortschroniken; Voss: Ortsgeschichten; Arbeitsgemeinschaft Vertriebene in der Oldenburgischen Landschaft: Ortschroniken.
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die Aufnahme der Vertriebenen als »große Herausforderung« bezeichnet wird,136 einen ausschließlich konstatierenden Charakter. Oft geht es vorrangig um das Bevölkerungswachstum im numerischen Sinn. Die Chronik von Kuhstorf in Mecklenburg-Vorpommern enthält in einem Kapitel zu »Kriegszeiten« einen kurzen Absatz zu Flüchtlingen, der hierfür ein treffendes Beispiel bietet: »Ab 1944 war die Einwohnerzahl beträchtlich gestiegen. Zu den ca. 550 Alteingesessenen kamen Flüchtlinge und Vertriebene, viele aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, Hamburg, aber auch aus anderen Gebieten. 1945 hatte sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt, 1946 hatte sie ihren Höchststand. Erst ab 1947 weist das Meldebuch wieder einen Rückgang der Einwohnerzahlen aus.«137 Während die Kuhstorfer Chronik sich auf den Anstieg der Bevölkerungszahlen beschränkt, kombinieren viele andere Chroniken diese mit kursorischen Ausführungen zur Unterbringungs- und Versorgungsproblematik. Schauen wir in ein weiteres Heimatbuch aus Mecklenburg-Vorpommern; in der Chronik von Userin aus dem Jahr 1996 liest man über die Flüchtlinge und Vertriebenen: »Der Zustrom von Menschen aus den ehemals von Deutschen besiedelten Gebieten Ost- und Südosteuropas war gewaltig. 20 Millionen Deutsche waren davon betroffen. Nach Restdeutschland strömten bis Ende 1950 13,5 Millionen Menschen, darunter 2,0 Millionen aus Schlesien, 1,3 Millionen aus Ostpreußen, 891000 aus Pommern, 131000 aus Ostbrandenburg und 1,9 Millionen aus der Tschechoslowakei. In Neustrelitz trafen im August 1945 täglich ein bis zwei Züge mit Flüchtlingen ein, dazu Fußtrecks mit Hunderten von Flüchtlingsfamilien, teilweise bis zu 2000 täglich. Sie mußten untergebracht werden, viele von ihnen auch in Userin. In den Gemeinden Userin und Groß Quassow wohnten Ende 1945 1432 Menschen, doppelt so viele wie heute. Die Wohnungskommission des Gemeinderates hatte alle Hände voll zu tun, die Anträge auf Wohnraum zu bearbeiten. Umsiedlerfamilien lebten zusammengedrängt auf engstem Raum und waren in jeder Beziehung auf die Unterstützung mit Nahrung, Kleidung, Möbeln« angewiesen.138 Dominiert wird diese Passage von dem einleitenden Zahlengeflecht, ergänzt um wenige Hinweise zur Knappheit an Wohnraum und Versorgungsgütern. Die Erwähnung der »Wohnungskommission des Gemeinderates« als einzigem, lokalem Akteur unterstreicht die Reduktion des Themas auf ein eher technisches Verwaltungsproblem. Auch in Chroniken, in denen die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Vertreibung etwas umfangreicher ausfällt, ist es meist dieses Grundgerüst von Bevölkerungswachstum, Unterbringung und Versorgung, das im Mittelpunkt steht. Dabei bleibt die eigentliche inhaltliche Füllung dieser formalen 136 Vgl. z. B. Holdorf, S. 561. 137 Kuhstorf, S. 39. 138 Userin, S. 53.
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Zusammenhänge weitgehend aus. So wie sich die Erwähnung des Bevölkerungsanstiegs auf Zahlen beschränkt, erfährt die Wohnungsfrage überwiegend eine rein topologische Behandlung (In welche Gebäude erfolgte die Einquartierung? Öffentlich, privat, Lager? Wie dicht war die Belegung? In welchen Wohngebieten erfolgte gegebenenfalls eine langfristige Ansiedlung? etc.). Der einzige Absatz zu Flucht und Vertreibung im Kapitel zur Nachkriegszeit der Chronik von Urbach im Westerwald besagt: »In den Jahren nach Kriegsende wird das Kirchspiel Urbach noch mit einer schweren Hypothek des Krieges, dem Schicksal der Heimatvertriebenen aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern und Schlesien und aus dem Sudetenland, konfrontiert. Diese aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen müssen zunächst einmal untergebracht und dann auf Dauer angesiedelt werden, 1950/51 beginnt der Bau der sog. Flüchtlingshäuser, von denen Harschbach zwei Häuser und Urbach-Überdorf, Linkenbach und Niederhofen je ein Haus errichten. Die Häuser, die nach dem Plan des Kreisbaumeisters Schütte vom Landratsamt Neuwied konzipiert sind, nehmen jeweils zwei Familien auf. Die Mieten sind denkbar billig, so kostet z. B. die größere Erdgeschoßwohnung in Linkenbach 28,50 DM, die kleinere Wohnung im Dachgeschoß 14,00 DM monatliche Miete.«139 Auch im Blick auf die Versorgung der Flüchtlinge geht es nicht selten ausschließlich um verwaltungstechnische Fragen oder auch um die bloße Auflistung fehlender bzw. zur Verfügung gestellter Güter. Diese Beobachtungen zeigen zugleich, dass die Behandlung des Themas Flucht und Vertreibung in Dorfchroniken eine starke lebensstandardliche Schlagseite aufweist. Meist geht es um die Verschlechterung des Lebensstandards der Einheimischen und die parallele Herausforderung, eine Grundversorgung der Flüchtlinge zu organisieren. Darüber hinaus, auch das zeigen die bisherigen Beispiele, stellt das Thema in aller Regel eine Art Anhängsel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs dar. Es erfährt also eine sehr enge zeitliche Eingrenzung auf die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre. Meist scheint die gesamte Thematik mit der mehr oder weniger schnellen Lösung der Wohn- und Versorgungsfragen abschließend ›erledigt zu sein‹, also der allmählichen Gewährleistung eines gewissen Lebensstandards, der sukzessiven Entspannung der Wohnsituation und dem Eintritt der Flüchtlinge in ein geregeltes Arbeitsleben.
139 Urbach, S. 360. Vgl. als Beispiel für die namentliche Auflistung von Privatwohnungen, die belegt wurden: Schönberg, S. 70.
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Integration in die Dorfgemeinschaft Zentral für den Umgang von Ortschroniken mit Flucht und Vertreibung ist die vermeintlich rasche, letztlich erfolgreiche Integration der Neuankömmlinge in die Dorfgemeinschaft. Im Allgemeinen gilt: Je weiter der historische Abstand der Chronikveröffentlichung zum Zweiten Weltkrieg ausfällt, desto reibungsloser stellt sich diese Integrationsgeschichte dar. Es sind eher Chroniken aus den 1950er Jahren, in denen die Offenheit und Konfliktträchtigkeit dieses Integrationsprozesses gelegentlich stärker durchscheint. Zu dieser Zeit waren die Orte noch direkt in die mannigfachen Probleme nicht nur technischer, sondern auch sozialer Art, die die Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen stellten, involviert. In der Chronik von Stellichte aus dem Jahr 1950 heißt es: »Vor der Armut der meisten Flüchtlinge versagten die im Dorf zur Verfügung stehenden Mittel gar bald, und oft schien es trotz des vorhandenen guten Willens unmöglich, auch nur der größten Not Herr zu werden. Das war für das Zusammenleben der alten und neuen Bürger des Dorfes eine dauernde Belastung, und manche Spannung, die das Zusammenwachsen der im Wesen landsmannschaftlich so verschiedenen Menschen im Dorfe noch erschwerte, ging von der Armut und den unzureichenden Wohnverhältnissen der Flüchtlinge aus.« Allerdings postuliert auch der Stellichter Chronist kurz darauf ein klares Gemeinschafts-Integrationsideal als Maßgabe der gegenwärtigen Entwicklung: »Heute hat sich manches ausgeglichen, und viele der Zugewanderten sind schon fest in die Dorfgemeinschaft hineingewachsen.«140 Dieses Narrativ wird sich in der Folge im Genre durchsetzen. Der Erwähnung von Friktionen und Konfliktpotentialen kommt ein episodenhafter Charakter zu; sie scheinen einer nur kurzen, anfänglichen Phase des ersten Aufeinandertreffens zugehörig zu sein. Diese Reibungen konnten, so scheint es, die quasi natürlich ablaufende Gemeinschaftsintegration der Neubürger nicht aufhalten, allenfalls retardieren. Die Chronik von Haieshausen im Leinetal aus dem Jahr 1956 setzt einen lebensstandardlichen Schwerpunkt im Zusammenhang mit dem Thema Flucht und Vertreibung; sie erwähnt die Versorgung mit Hausrat, Wohnraum und Arbeit. Sodann berührt der Autor jedoch tieferliegende Probleme, die sich aus einer »anderen Wesensart« der Vertriebenen ergeben würden: »Es hat geraume Zeit gedauert, bis die ostdeutschen Heimatvertriebenen sich in der neuen Heimat hier eingewöhnt haben, zumal sie ja unsere plattdeutsche Sprache nicht verstanden und ihre ganze Wesensart doch etwas anders ist als die hiesige.« Der Chronist hebt diese Differenzierung jedoch sogleich wieder auf, in dem er die erfolgreiche Integration in die Dorfgemeinschaft als scheinbar alternativlosen Prozess betont (exemplarisch veranschaulicht durch Hochzeiten zwischen Neu- und Altbürgern): »Aber nach und nach wurden die Brücken zum gegenseitigen Verständnis ge140 Stellichte, S. 114–115.
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schlagen, und im vorigen Jahre 1954 konnte der erste Flüchtling hier ein Siedlungshaus aufbauen und 6 Verehelichungen fanden statt zwischen Einheimischen und Heimatvertriebenen.«141 Manch eine Chronik der 1950er Jahre setzt sich das ausdrückliche Ziel, selbst maßgeblich zum Gelingen dieser Erweiterung der Dorfgemeinschaft beizutragen.142 In späteren Chroniken aus den Folgejahrzehnten bis zur Gegenwart verfestigt sich dieses Bild immer mehr: Flucht und Vertreibung stellten Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit dar; hierbei handelte es sich in erster Linie um technische und materielle Fragen (Armut, Arbeitslosigkeit, Unterbringung, Versorgung); Reibungen und Konflikte traten auf, ihnen kam jedoch ein randständiger Stellenwert gegenüber einem scheinbar unvermeidlich ablaufenden Integrationsprozess zu; und dieser Prozess war nach wenigen Jahren im Wesentlichen abgeschlossen.143 Als Gradmesser – oder auch Katalysatoren – der erfolgreichen Gemeinschaftsintegration sehen Ortschroniken hierbei meist wenige typische Elemente an. Die häufigsten drei sind: die Wiederaufnahme beruflicher Tätigkeiten, die endgültige Unterbringung in regulären Wohnhäusern und Eheschließungen zwischen Flüchtlingen und eingesessenen Dörflern. Die Dorfgemeinschaft bleibt, so suggerieren die Heimatbücher, im Zuge dieses Integrationsprozesses unverändert. Sie absorbiert die neuen Mitglieder gewissermaßen, ohne sich hierbei selbst wesentlich zu verändern. Nur in wenigen Ausnahmefällen finden sich Reflektionen darüber, ob die Aufnahme der zahlreichen »wesensfremden« Neubürger nicht zu grundsätzlichen Veränderungen des Dorflebens geführt haben könnte. Dahingehende Zweifel sind wiederum am ehesten in den Büchern der frühen 1950er Jahre präsent. In einem »Blick auf die Gegenwart« heißt es in der Chronik des niederbayerischen Gerzen aus dem Jahr 1952: »Nach einer Zusammenstellung des Flüchtlingsamtes Vilsbiburg hatte die Gemeinde Gerzen am 1. 1. 1952 unter 1057 Bewohnern 674 Einheimische und 354 Flüchtlinge (=33 1/2 %). Aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße stammen 99 Schlesier, aus der CSR 200 Sudetendeutsche, sonstige 55.« Sodann stellt der Autor in eher unüblicher Weise wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen des Dorflebens durch den Zuzug der Flüchtlinge in Rechnung: »Durch diese ohne Rücksicht auf die Berufszugehörigkeit und auf den früheren Wohnsitz in einer Stadt (Breslau!) oder auf dem flachen Lande durchgeführte Familienansiedlung der Heimatvertriebenen und Evakuierten in unserer altbayerischen-kleinbürgerlichen-bäuerlichen Gemeinde wurde das wirtschaftliche und soziale Gefüge wesentlich verändert. Die Intelligenzschicht, die hierher verschlagen wurden, übt auf 141 Haieshausen, S. 31. 142 Vgl. z. B. Ringelheim, S. 3; Stutz: Leitfaden, S. 22–23. 143 Vgl. als jüngere Beispiele, in denen die erwähnten Konflikte zwischen Flüchtlingen und Eingesessenen episodenhaft bzw. randständig wirken: Hertigswalde, S. 166; Schönberg, S. 70.
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das kulturelle und gesellschaftliche Leben starken Einfluß aus.«144 Allerdings führt der Autor diese Andeutungen nicht weiter aus. Im Allgemeinen gehen Heimatbücher bis heute eher davon aus, dass die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die Dorfgemeinschaft eine weitgehend einseitige Angelegenheit darstellte. Die Gemeinschaft nahm die neuen Mitglieder auf, ohne sich selbst wesentlich zu verändern. Davon bleibt unbenommen, dass die Neubürger, wie viele Chroniken erwähnen, weiter ihrer Konfession anhingen, auch wenn diese von der vorherrschenden Konfession im Aufnahmeort abwich, oder dass sie beispielsweise in eigenen Vereinen Erinnerungen an ihre verlassene Heimat pflegten.
Varianten des Gemeinschaftsnarrativs: Opfer- und Aufbaugemeinschaft Das dominante Gemeinschaftsnarrativs bei der Behandlung des Themas Flucht und Vertreibung tritt oft in zwei spezifischen Varianten auf. Zum Ersten ist hier an die Konstruktion einer gemeinsamen Leidens- bzw. Opfergemeinschaft unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu denken, die Einheimische sowie Flüchtlinge und Vertriebene eingeschlossen habe. Dies geschieht allerdings nicht mittels der (teils langen) Erinnerungsberichte, die einige Ortschroniken aufnehmen und in denen die Flüchtlinge ihre Fluchterlebnisse schildern. Diese Berichte erfahren in der Regel keine engere Anbindung an die Ortsgeschichte. Sie symbolisieren vielmehr das Leiden unter den anonymen Mächten des Zweiten Weltkriegs – einer gänzlich unabhängig von der jeweiligen Ortsgeschichte waltenden Ereignislogik. Wichtiger für die Zusammenführung von Flüchtlingen und Eingesessenen zu einer gemeinsamen Opfergemeinschaft ist hingegen der Abdruck übergreifender Gefallenenlisten; zwar kennzeichnen Heimatbuch-Autoren die Kriegstoten aus den Familien der Alt- und Neubürger in aller Regel als solche, gedacht wird ihnen jedoch im verbindenden Rahmen eines gemeinsamen Gefallenenkults.145 Darüber hinaus seien beide Gruppen, Dörfler wie Flüchtlinge, oftmals gleichermaßen den Unbilden der Nachkriegszeit, insbesondere den Besatzungssoldaten und den DP-Banden, ausgeliefert gewesen. Werfen wir einen exemplarischen Blick in die Chronik von Mestlin in Mecklenburg-Vorpommern: »Sehr viel Unsicherheit und materielle Verluste brachten neben durchziehenden sowjetischen Soldaten ehemalige polnische Kriegsgefangene und KZ-Insassen, die aus ihren Lagern befreit und sich selbst überlassen wurden. Sie maßten sich alle Rechte an, raubten und plünderten, requirierten Fahrzeuge, Zugtiere und Lebensmittel, um sich auf bequeme Art zu versorgen, weiterziehen und ihr Ziel erreichen zu können. Dabei verloren die 144 Gerzen, S. 71. 145 Siehe z. B. Hotteln, S. 35. Zum Kriegergedenken in Ortschroniken siehe das nächste Kapitel.
Lokales Kriegergedenken: Gefallen für die Heimat
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Dorfbewohner oft wertvollen Hausrat. Flüchtlinge, die durch den Krieg und die Ausweisung aus ihrer Heimat schon nicht mehr viel besaßen, wurde so manchmal die letzte Habe genommen.«146 In diesem Beispiel erscheinen die Flüchtlinge in derselben Weise von der Willkür ihrer Umwelt betroffen gewesen zu sein wie alle Dorfbewohner, allerdings in besonderem Ausmaß. Eine zweite, sehr weit verbreitete Variante des Gemeinschaftsnarrativ ist das Zusammenfinden von Flüchtlingen und Dorfbewohner zu einer Wiederaufbaugemeinschaft. Das Bild einer geschlossenen Gemeinschaft, die beide Gruppen umfasst, entsteht hierbei über das Motiv einer gemeinsamen Tatkraft, mit der Alt- und Neubürger in gleicher Weise beim physischen Wiederaufbau und Ausbau des Dorfes und seiner Infrastruktur, bei der Wiederherstellung einer stabilen Versorgungssituation, bei der Wiederbelebung des Kulturbetriebs sowie beim Abbau der Arbeitslosigkeit engagiert gewesen seien. In der Chronik von Edewecht in Niedersachsen aus dem Jahr 1950 hat dieses Narrativ einerseits einen deskriptiven Charakter, andererseits stellt es zugleich einen Appell zur Stärkung der beschriebenen Wiederaufbaugemeinschaft dar. Im Kapitel »Gemeinsames Schaffen« werden die Flüchtlinge im Ort zum »Mit-Anpacken« aufgefordert. Hierbei verweist der Autor des Abschnitts auf vermeintlich traditionelle Werte der Flüchtlinge. An diese Tradition des Engagements für ihren ehemaligen Heimatort sollten die Flüchtlinge nun in ihrer neuen Heimat Edewecht anknüpfen. Die Chronik zweifelt nicht daran, dass auf diesem Weg eine neue, übergreifende Dorfgemeinschaft im Ort entstehen werde.147 In den Chroniken der folgenden Jahrzehnte verfestigt sich das Motiv der Wiederaufbaugemeinschaft dann schnell zu einem unhinterfragten Element im Rahmen einer Erfolgsgeschichte der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen – ein Integrationsprozess, der natürlich und alternativlos erscheint.148
Lokales Kriegergedenken: Gefallen für die Heimat Das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs nimmt viel Raum in Ortschroniken ein.149 Es findet sich kaum ein Heimatbuch, in dem nicht zumindest eine Liste der gefallenen, vermissten oder zurückgekehrten Kriegsteilnehmer 146 147 148 149
Mestlin, S. 61. Edewecht, S. 9–10. Vgl. nur Neubeuern, S. 672; Rantum, S. 56. Vgl. Thomaschke: »Leistungen«. Für die Konjunkturen und unterschiedlichen Konnotationen der Begriffe »Kriegergedenken/-denkmal«, »Gefallenengedenken/-denkmal«, »Ehrenmal«, »Totengedenken/-kult« und »Opfer« siehe Hettling: Weichenstellungen, S. 32–34. Für die Argumentationsführung des vorliegenden Kapitels ist eine genauere Differenzierung allerdings nicht erforderlich, weshalb ich diese Begriffe weitgehend synonym verwende.
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Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Ortschroniken
abgedruckt ist – ganz gleich ob es sich hierbei um selbst recherchierte und zusammengestellte Listen oder um Faksimiles der Ehrentafeln lokaler Kriegervereine, Kirchen oder Gefallenendenkmäler handelt. Gelegentlich listen Chroniken in diesem Zusammenhang auch die getöteten Soldaten aus den Familien zugezogener Flüchtlinge oder die zivilen Opfer alliierter Bombenangriffe auf. In nicht wenigen Fällen werden diese Listen begleitet von umfangreichen Bilderreihen mit Porträtfotografien der Verstorbenen, meist einheitlich in Uniform der Wehrmacht, gelegentlich auch der SA oder der SS. Wie für Heimatbücher üblich steht hier die Vollständigkeit im Vordergrund, während die Kommentierung bzw. Einordnung in geschichtliche Zusammenhänge demgegenüber zweitrangig ist. Meist nimmt zudem die Abbildung oder Beschreibung örtlicher Ehrenmale, inklusive ihres Entstehungszusammenhangs, einen wichtigen Platz ein. Es gibt nicht wenige Chroniken, in denen ein solches Kriegergedenken die gesamte Behandlung des Zweiten Weltkriegs dominiert – im Blick auf Umfang, visuelle Präsenz und/oder emotionales Engagement der Autoren. In manchen Heimatbüchern stellt der Gefallenenkult gar die einzige Referenz auf den Weltkrieg dar. Doch werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die geschichtswissenschaftliche Literatur, bevor wir die Spezifika des Ortschronik-Gedenkens eingehender betrachten.
Von Sinnstiftung zu Sinnsuche: nationales Kriegergedenken in der Moderne Entscheidende Impulse zur historischen Aufarbeitung des Kriegergedenkens der Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg hat Reinhart Koselleck in mehreren Aufsätzen seit den späten 1970er Jahren geliefert.150 Demnach löste – mit der Französischen Revolution als zentralem Umschlagspunkt – ein moderner Gefallenenkult das »vorrevolutionäre« Totengedenken in Europa ab, das vorwiegend ständisch und dynastisch geprägt sowie primär auf das Jenseits ausgerichtet gewesen sei. Das moderne Gedenken ließe sich demgegenüber als »demokratisch« und »politisch« bezeichnen.151 Zum einen seien auch die Gefallenen der unteren Gesellschaftsschichten gedenkwürdig geworden; das Recht auf Namensnennung sei generalisiert worden. Zum anderen sei die Sinnstiftung des Kriegstodes für einen gegenwärtigen bzw. zukünftigen politischen Zusammenhang ins Zentrum des modernen Totenkults gerückt. Das Gedenken wurde zu einem politischen Akt, der identitätsstiftende Funktionen für das Gemeinwesen der Nachkommen erfüllte. Dem gewaltsamen Tod sei stets als Opfer für 150 Koselleck: Kriegerdenkmäler ; ders.: Gedächtnisstätten; ders./Jeismann (Hg.): Totenkult. 151 Manfred Hettling schlägt vor den Begriff der »Demokratisierung« durch den einer »Individualisierung« des Totengedenkens zu ersetzen, Hettling: Weichenstellungen, S. 13.
Lokales Kriegergedenken: Gefallen für die Heimat
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ein »großes Ganzes« gedacht worden, das Gefallene und Überlebende verband. Die Stelle dieses großen Ganzen habe in der Moderne das Vaterland eingenommen – in den Formen Reich, Staat, Nation, Volk oder Heimat.152 Folgt man Koselleck weiter, so habe sich ein erneuter Umbruch im Laufe des 20. Jahrhunderts vollzogen; ein veränderter Umgang mit dem Kriegergedenken sei bereits nach dem Ersten Weltkrieg sichtbar und nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich hegemonial geworden. Die Sinnstiftung des Kriegstodes für die Zukunft sei zunehmend problematisch geworden. Das gegenwärtige Gedenken versuche des Kriegstods in erster Linie als Tod zu gedenken und sich politischer Sinnstiftungen weitgehend zu enthalten. Neuere Gefallenendenkmäler würden primär das Unverständliche bzw. Unaussprechliche betonen. Auch seien neue Wege eines gemeinsamen Totenkultes von Siegern und Besiegten bzw. eigener und feindlicher Nationen eingeschlagen worden. Heutzutage sei jegliches Kriegergedenken in der nationalen Öffentlichkeit nur noch in diesem Rahmen praktizierbar. Mittlerweile haben Kosellecks Thesen eine gewisse Relativierung und Differenzierung in zweierlei Hinsicht erfahren. Einerseits haben einige Studien darauf hingewiesen, dass der Umschwung des nationalen Gedenkens zu Kosellecks jüngster Phase des Totengedenkens frühestens in den 1960er Jahren angesetzt werden kann.153 Auch hat der internationale Vergleich gezeigt, dass sich dieser Wandel in vielen Staaten höchstens in Ansätzen vollzogen hat.154 Andererseits zeigen verschiedene Regionalstudien, dass unterhalb der nationalen Ebene die politische Sinnstiftung des Kriegstodes auch in Deutschland vielfach nahezu ungebrochen fortbesteht.155
Die Lokalisierung des Kriegergedenkens Ortschroniken bieten ein treffendes Beispiel für letzteren Befund. In ihnen setzt sich der affirmative Gefallenenkult von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart scheinbar ungebrochen fort. Zahllose aktuellere Chroniken beschreiben die örtlichen Ehrenmale zum Zweiten Weltkrieg auf unkritische und wohlwollende Weise, auch wenn ihre Gestaltung und ihre Inschriften viele Jahrzehnte zurückdatieren; meist gehen sie bereits auf den Ersten Weltkrieg zurück.156 In der 152 Vgl. Jeismann/Westheider : Bürger, S. 44. Freilich blieben auch unter der Dominanz des politischen Totengedenkens starke religiöse Momente erhalten, insbesondere im Motiv der »Erlösung«. 153 Vgl. z. B. Schlie: Nation, S. 144–145. 154 Vgl. z. B. Hettling/Echternkamp: Gefallenengedenken; Hettling: Weichenstellungen, S. 42. 155 Vgl. z. B. Kruse/Kruse: Kriegerdenkmäler, S. 119–128. 156 Da eine Verordnung des Alliierten Kontrollrats aus dem Jahr 1946 die Neuerrichtung von
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Chronik von Ahrenviöl in Nordfriesland aus den 1980er Jahren ist von einem »heldenhaften Mahnmal« zu lesen; im nahe gelegenen Wester-Ohrstedt sei der Chronik aus dem Jahr 2003 zufolge »eine schöne, würdige Gedenkstätte« entstanden; und die Chronik von Oster-Ohrstedt zitiert die Inschrift des 1953 eingeweihten, erweiterten Ehrenmals für die Gefallenen beider Weltkriege, die bereits 1921 angebracht worden ist: »Diesen Stein setzte die Dorfschaft OsterOhrstedt ihren gefallenen Helden. Es gibt kein Wort für das Opfer zu danken, und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken für uns«.157 Hier geht es eindeutig um eine positive Sinnstiftung des Kriegstodes; die Bedeutung für das Gemeinwesen, das die Verstorbenen mit den Überlebenden und den nachfolgenden Generationen verbindet, ist offenkundig. Die Oster-Ohrstedter Chronik weist auch im Umfeld dieses Zitats keine Infragestellung seines sinnstiftenden Charakters auf. Das ist typisch für das Gros aller Heimatbücher : Auch wenn gelegentlich von der »Sinnlosigkeit« des Kriegs oder seiner »sinnlosen Opfer« die Rede ist,158 so bleibt der Grundtenor entsprechender Chronikabschnitte zum Gefallenengedenken doch auf die positive Sinnstiftung ausgerichtet. Von Koselleck benannte Elemente eines post-modernen Totenkults, wie die Zweifel am positiven Sinnstiftungspotential des Kriegstodes, die Schwerpunktsetzung auf die Trauer der Zurückgebliebenen oder das gemeinsame Gedenken an eigene und feindliche Opfer, tauchen in Ortschroniken zwar sporadisch auf, allerdings eher als unverbundene Zusätze. Sie bleiben den traditionellen Elementen gegenüber randständig und könnten gestrichen werden, ohne die wesentliche Aussage der jeweiligen Passage zu verändern. Auf ausdrückliche Kritik an der Perpetuierung des traditionellen Gefallenenkults stößt man in Ortschroniken und Heimatbüchern nicht; auch wenn kritische Stimmen in anderen lokalen Foren wie z. B. Forschungszeitschriften durchaus präsent sind.159 Es gibt zudem einige Fälle, in denen Chronikleser eigene Angehörige für Neuauflagen oder Ergänzungen der Ortschronik nachgeliefert haben, die in den Gefallenenlisten nicht enthalten waren; das deutet darauf hin, dass der Adressatenkreis dieser Bücher das Kriegergedenken im Wesentlichen unterstützt.160 Nichtsdestoweniger weisen Chroniken einen signifikanten Bruch mit der modernen Tradition des Heldenkults auf, der sich auf die bestimmenden historiografischen Prinzipien des Genres zurückführen lässt. Heimatbücher lösen
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Gedenkstätten mit militärischem Inhalt untersagte, war es ein gängige Praxis, die vorhandenen Ehrenmale des Ersten Weltkriegs in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs um die 1939 bis 1945 Gefallenen zu erweitern, Amtsblatt des Alliierten Kontrollrats Nr. 7, Direktive Nr. 30, 31. 5. 1946; vgl. Kruse/Kruse: Kriegerdenkmäler, S. 120; Jeismann/ Westheider : Bürger, S. 49. Ahrenviöl, S. 40; Wester-Ohrstedt, S. 56; Oster-Ohrstedt, S. 25. Vgl. z. B. Alter Koog, S. 23–24. Vgl. für den Kreis Nordfriesland: Volquardsen: Gefallenen. Vgl. Bomstedt II, S. 157–160.
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den Opfertod aus seinem Zusammenhang mit dem großen Ganzen, dem Vaterland, heraus. Sie stellen keine direkte Verbindung der erbrachten Opfer zu einem übergreifenden politischen Zusammenhang her. Vielmehr scheint der einzig greifbare Zusammenhang, für den die porträtierten Soldaten »ihre Pflicht erfüllten«, die Heimat im engeren Sinne zu sein, also das Dorf und seine Gemeinschaft. Die Festschrift zum 700jährigen Jubiläum des saarländischen Ortes Güdingen aus dem Jahr 1959 beginnt mit einer Widmung: »Den Toten der Gemeinde zum stillen Gruß und ehrfürchtigen Gedenken«. Darauf folgt ein alleinstehendes Zitat von Theodor Heuss: »Gemeinden sind wichtiger als Staaten«.161 Wohlgemerkt stellt die Festschrift keine ausdrückliche Verbindung zwischen ihren beiden Leitmotiven her ; der implizite Zusammenhang beider Aussagen ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Die Aufrechterhaltung eines affirmativen Kriegergedenkens greift hier mit der Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte ineinander. Die Gemeinde wird dem Staat vorgeordnet und gleichsam von ihm losgelöst; für diese Gemeinde bleibt das Opfer der Gefallenen sinnvoll, auch wenn ihm kein Sinn im nationalen Kontext mehr zukommt. Die Chronik des nordfriesischen Bohmstedt formuliert diese Ablösung des Kriegergedenkens vom Staat und seine entsprechende »Lokalisierung« vergleichsweise direkt: »Bis die letzten Bohmstedter aus der Gefangenschaft zu ihren Familien gelangten, dauerte es fast vier Jahre. Unter ihnen waren Männer, die, Wehrdienst und Reichsarbeitsdienst eingeschlossen, in Krieg und Gefangenschaft 12 Jahre in Uniform dem Staate dienten. Es sind Leistungen vollbracht worden, die zumindest im Rahmen einer Dorfchronik Würdigung verdienen, auch wenn der Staat die Leistungen nicht verdiente, weil er auf verbrecherische Ziele ausgerichtet war.«162 Die Dorfchronik trennt hier nicht allein die Geschichte des Ortes und seiner Einwohner von der Geschichte ihrer nationalen bzw. staatlichen Umwelt, sie verknüpft sie mit einer üblichen Zuständigkeitstrennung: Der »Rahmen einer Dorfchronik« erlaube es, das sinnstiftende Kriegergedenken im lokalen Bereich fortzuführen. Die Lokalisierung des Gefallenenkults ist zugleich eine Ent-Nationalisierung. Das Gedenken an die Soldaten des Zweiten Weltkriegs fügt sich folglich direkt in das chroniktypische Muster der Trennung von Dorf und Umwelt ein. Zugleich trägt es zu dessen Konstruktion maßgeblich bei. In der Chronik von Eisdorf im Harz erhält diese Differenzierung zudem eine materielle Dimension: Das Opfer der Gefallenen bleibe vor allem deshalb sinnvoll, da die eigene Gemeinde »unbeschadet« aus dem Weltkrieg hervorgegangen sei – so verherrend die Kriegszerstörungen in anderen Reichsgebieten auch gewesen seien. In dem Kapitel »Den Gefallenen zur Ehre«, das die Sinnstiftung des Kriegergedenkens nicht grundsätzlich in Frage 161 Güdingen. 162 Bohmstedt I, S. 107.
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stellt, liest man über den Heimatort der gefallenen Soldaten: »Vielleicht wäre es für die Gefallenen ja tröstlich zu wissen, daß die eigene Gemeinde das Inferno unbeschadet überstanden hat und daß, zumindest am Volkstrauertag und zu besonderen Anlässen, auch öffentlich der Toten gedacht wird. Das eigene Opfer erscheint dann möglicherweise weniger sinnlos.«163 Das Beispiel verdeutlicht, wie sehr Heimatbücher die eigentliche Ortsgeschichte – auch im Rahmen des Kriegergedenkens – an die engen geographischen Grenzen des jeweiligen Dorfes und dessen physische Integrität koppeln. Die politische Geschichte hingegen erscheint auch im Zuge des Gefallenenkults von Ortschroniken als etwas Äußeres: Die Ursachen des Weltkriegs verlieren sich irgendwo in dieser Umwelt. Er brach als Katastrophe über den Ort herein. Die Umwelt ist auch der Quell von Verführung und Missbrauch der Soldaten aus dem Dorf. Die Schrift »Im guten Glauben«, die der Autor Robert Groß den Kriegsteilnehmern des Zweiten Weltkriegs aus dem saarländischen Alsweiler gewidmet hat, liefert eine anschauliche Formulierung dieses Motivs. Im Geleitwort des Vorsitzenden des örtlichen Heimatkunde-Vereins heißt es dazu: »Meist waren es hoffungsfrohe, junge Männer zwischen 20 und 40 Jahren, die teilweise sogar mit Begeisterung hinausgezogen waren in dem Bewusstsein, ihr Leben für eine gute Sache zu einzusetzen, und die nicht ahnen konnten, dass sie zu sehr zweifelhaften machtpolitischen Zielen missbraucht wurden, für die sie schließlich mit ihrem Leben bezahlten.« In seinem eigenen Vorwort bekräftigt der Autor diese Unterscheidung einer missbrauchenden, höheren, politischen Macht und einer wohlmeinenden, verführten – gewissermaßen auf den Dorfhorizont beschränkten – Dorfbevölkerung: »Mit der vorliegenden Dokumentation will ich das Opfer derjenigen Alsweiler Bürgerinnen und Bürger würdigen, das sie ungewollt, zum großen Teil wohl gegen ihren Willen gebracht haben, weil staatliche Autoritäten menschenfeindlich handelten, indem sie Ideologie und Machtstreben höher einschätzten als millionenfaches Menschenleben und Wohlergehen der eigenen Bevölkerung.«164 Ein weiterer zentraler Baustein der Dorf-Umwelt-Trennung im Rahmen des Kriegergedenkens ist die Einbettung des Zweiten Weltkriegs in eine historische Reihe katastrophaler, neuzeitlicher Kriege, die den jeweiligen Ort gleichermaßen heimgesucht hätten. Dies verstärkt die politische Entkontextualisierung des Zweiten Weltkriegs. Wie gesehen verboten die Bestimmungen der Alliierten eine Errichtung neuer Kriegsdenkmäler. Die Folge in den allermeisten Orten war die Einfügung von Tafeln zu den Jahren 1939 bis 1945 in bereits bestehende Ehrenmäler des Ersten Weltkriegs. In der Praxis ergab sich eine synkretistische Gedenkkultur, die das Gedenken an beide Kriege zusammenfasste. Diese Ein163 Eisdorf/Willensen, S. 51. 164 Groß: Glauben, S. 10–11.
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reihung des jüngst vergangenen Krieges in eine Reihe von Kriegen brachte eine gewisse Einebnung der unterschiedlichen politischen Hintergründe mit sich; eine Nivellierung, die bereits den Zeitgenossen nicht unwillkommen war, da sie es erlaubte, den spezifischen politischen Kontext des Zweiten Weltkrieges in den Hintergrund treten zu lassen und damit das Bedürfnis einer raschen Vergangenheitsbewältigung bediente.165 Ein treffendes Beispiel bietet die Kriegschronik des niedersächsischen Boltersen, die als Manuskript aus dem Jahr 1949 im Hauptstaatsarchiv Hannover vorliegt. Der Autor, langjähriger Lehrer im Ort, hat seine bereits nach dem Ersten Weltkrieg angefertigte Chronik nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt. Im Grunde entsteht der Eindruck: Er hat die Chronik bloß aktualisiert. In dem Manuskript ist nur der Erste Weltkrieg ausführlich beschrieben. Zum Zweiten Weltkrieg sind vor allem die Gefallenen, Vermissten und Kriegsteilnehmer inklusive Wohnort, Geburts- und Sterbedatum sowie militärischen Karrieren, Auszeichnungen, Einsatzorten und besonderen Aufgaben erfasst. Hinzugefügt worden ist der Kommentar : »Im Kriege 1939/45 waren die wirtschaftlichen Maßnahmen, die Anordnungen, die Beschlagnahmen, die Ablieferungen, die Sammlungen, die Liebestätigkeit, die Beschäftigung der Gefangenen gleich oder ähnlich denjenigen im Kriege 1914/18. Es wird deshalb über Einzelheiten in dieser Chronik nicht berichtet.«166 Spätere Ortschroniken griffen diese Einreihung des Zweiten Weltkriegs, seine Summierung unter neuzeitliche »Kriegszeiten«, auf und stellten sie auch in der Folge kaum in Frage. Bis heute behalten viele Chroniken diese gemeinsame Gedenkkultur bei und orientieren sich dabei weiterhin an Anlage und Aussagen der Ehrenmale der frühen Nachkriegszeit. 165 Vgl. Jeismann/Westheider : Bürger, S. 49: Ein solche Gedenkkultur »bot sich nicht zuletzt deshalb an, weil sich mit ihrer Hilfe scheinbar die politische Dimension vermeiden ließ – was freilich selbst ein Politikum war.« Zu Erinnern ist auch an die Unterscheidung von »soldatischer Ehre« und »politischer Schuld«, die Karl Jaspers in seiner vielbeachteten Schrift zur »Schuldfrage« 1947 aufgestellt hatte: »Hier ist zunächst zu unterschieden zwischen der soldatischen Ehre und dem politischen Sinn. Denn das Bewußtsein soldatischer Ehre bleibt unbetroffen von allen Schulderörterungen. Wer in Kameradschaftlichkeit treu war, in Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich bewährt hat, der darf etwas Unantastbares in seinem Selbstbewußtsein bewahren. Dies rein Soldatische und zugleich Menschliche ist allen Völkern gemeinsam. Hier ist Bewährung nicht nur Schuld, sondern, wo sie unbefleckt durch böse Handlungen oder Ausführung offenbar böser Befehle wirklich war, ein Fundament des Lebenssinnes« (Jaspers: Schuldfrage, S. 42). Das positive Kriegergedenken in Chroniken weist deutliche Parallelen zu Jaspers’ Überlegungen auf. Chroniken schließen die Unterscheidung von »soldatischer Ehre« und »politischer Schuld« allerdings mit der Differenz von Dorf und Nation kurz, indem sie die Kategorien der »Kameradschaftlichkeit« bzw. des »Politischen« jeweils exklusiv der einen bzw. anderen Seite dieser Differenz zuordnen. 166 Einziger signifikanter Unterschied sei die Masse der aufzunehmenden Flüchtlinge und Vertriebenen, Johann Heinrich August Bergmann: Kriegschronik für Boltersen, 1918/1949, in: HSTAH, MS J Nr. 02.
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In einigen Heimatbüchern erstreckt sich die Reihe von Kriegen, denen gemeinsam gedacht wird und in die sich der Erste und Zweite Weltkrieg scheinbar nahtlos einfügen, bis in die Frühe Neuzeit. Die Chronik von Ballenhausen und Bodenhausen in Niedersachsen enthält ein Kapitel mit dem Titel »Die Kriegsereignisse aus verschiedenen Jahrhunderten«, das Gefallenenlisten zum Erstem und Zweiten Weltkrieg, zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, zu den Napoleonischen Kriegen sowie dem Siebenjährigen und dem Dreißigjährigen Krieg liefert.167 Neben der grafischen Kombination in Form von aufeinanderfolgenden Listen ist auch die gemeinsame Abbildung und Besprechung vorhandener Ehrenmale zu den verschiedenen Kriegen üblich.168 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass – im Effekt dieses Vorgehens – alle Kriegstoten auf Ursachen zurückführbar zu sein scheinen, die den engeren »Heimatraum« gleichermaßen von außen heimgesucht haben.169 Der übergreifende Gefallenenkult führt zur Ausblendung des Zusammenhangs von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Der Krieg wird in einen jahrhundertewährenden Zyklus sich wiederholender militärischer Auseinandersetzungen – und nicht in den Kontext der vorangehenden Jahre 1933 bis 1939 – eingebettet.170 Die Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte im Rahmen des Kriegergedenkens führt letztlich auch dazu, dass sich die gefallenen Soldaten von den nunmehr geächteten Institutionen, in deren Namen sie gekämpft haben, abstrahieren lassen. Wie bereits erwähnt listen Chroniken die Angehörigen verschiedener Kampfverbände, hierunter auch SA- und SS-Angehörige, in Gefallenenlisten unterschiedslos hintereinander auf bzw. bilden sie in gemeinsamen Porträtsammlungen fotografisch ab. Nehmen wir als Beispiel nur das sehr 167 Ballenhausen/Bodenhausen, S. 31–47. 168 Vgl. Wester-Ohrstedt, S. 57. 169 Die Formulierung ist der Kapitelüberschrift »Unser Heimatraum während der Napoleonischen Kriege« aus der Chronik von Lohnde entlehnt, Lohnde, S. 91. 170 Der Vorsitzenden des Heimatkundlichen Vereins Warndt e.V. formuliert dies in seinem Vorwort für die Naßweiler Chronik sehr anschaulich. Der Zweite Weltkrieg ist hier nur ein störendes Ereignis unter mehreren im Jahrhunderte überspannenden »Kampf«, sich eine dörfliche Heimat aufzubauen: »Der harte Kampf der Neusiedler, sich aus dem Nichts eine Heimat zu schaffen, endete schon bald in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Auch nach dem zaghaften Neuanfang 1669 ging es in den nachfolgenden Jahrhunderten im Wechsel von Krieg und Frieden weiter. Im vergangenen Jahrhundert waren in der Folge nationaler Egoismen und nationalistischer Wahnideen zwei fürchterliche Weltkriege, verbunden mit einer Ein- und Abgrenzung des Ortes auf drei Seiten, zu ertragen und zu überwinden. Insbesondere im Zweiten Weltkrieg litt Naßweiler schon früh unter sehr massiven Verwüstungen durch das Feuer der gegnerischen Artillerien. Die Folgeschäden der reparationsbedingten Ausweitung des französischen Kohlenbergbaus nach dem Krieg trafen Naßweiler mit voller Wucht. Somit verliefen die vier Jahrhunderte für das Grenzdorf überwiegend tragisch« (Naßweiler, S. 5). Das Zitat führt über das Thema des Kriegergedenkens hinaus, macht dafür aber das Motiv wiederkehrender Kriegszeiten in Verbindung mit der Trennung von Dorf- und Politikgeschichte sehr deutlich.
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ausführliche Kriegergedenken der Chronik von Fallingbostel, das auf nahezu hundert Seiten alle Gefallenen des Zweiten Weltkriegs aus dem Ort auf jeweils einer eigenen Buchseite würdigt. Neben einem fotografischen Porträt, vorzugsweise in Uniform, gibt die Chronik die militärische Laufbahn sowie die Todesumstände zu jeder Person möglichst vollständig an. Der Leser trifft an einigen Stellen auch auf SA- und SS-Mitglieder.171 Die historiografische Perspektive des Kriegergedenkens in Ortschroniken sieht hier keine wesentlichen Unterschiede. Sie legt vielmehr nahe, durch die verschiedenen Uniformen hindurchzusehen und die Dorfbewohner hinter der politischen Maskerade zu erkennen. Geopfert haben sie sich in dieser Wahrnehmung nicht primär für die Institutionen, deren Abzeichen sie trugen, sondern für die »Heimat«, deren einzig konkreten Bezugspunkt im Genre Ortschronik das jeweilige Heimatdorf darstellt.
171 Fallingbostel, S. 69–161; siehe z. B. S. 79, 85, 91, 104, 112, 156.
Ortschroniken zwischen Kontinuität und Wandel
Inhaltliche und perspektivische Veränderungen Die historiografischen Schemata, die die Auswahl, Wahrnehmung und Wiedergabe geschichtlicher Themen in Ortschroniken steuern, gleichen sich von Buch zu Buch in auffallender Weise. Die vorangehenden Kapitel haben das veranschaulicht. Insbesondere der Umgang mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg ist von vergleichbaren Mustern geprägt ist. Das zentrale Organisationsprinzip der Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte findet sich in Heimatbüchern aller Regionen und von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. Demnach steht eine alltägliche, existenzielle, unpolitische und sich historisch kaum verändernde Sphäre der Dorfgeschichte einer politischen, ideologischen, militärischen und wechselvollen Umweltgeschichte gegenüber. Die Trennung beider Bereiche fällt nahezu hermetisch aus; wobei sie mit einer sehr ungleichen Wirkmächtigkeit ausgestattet sind: Die äußere Sphäre vermag es, die dörfliche Lebenswelt zeitweise stark unter Druck zu setzen, ihre geregelten Abläufe zu irritieren oder sogar lahm zu legen und sie zumindest oberflächlich zu politisieren – allerdings in aller Regel, ohne hierbei das Wesen des Dorfes nachhaltig zu verändern. Die so verstandene Dorfgeschichte dient als eine Art historisch konstanter und räumlich eingegrenzter Behälter der Dorfgemeinschaft. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Heimatbuch-Historiografie für diesen – und nur für diesen – Mikrokosmos zuständig und für alles weitere: »die Forschung«. Die Verbreitung dieser genrebestimmenden Prinzipien zu demonstrieren, bildete den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung. Verlassen wir nun jedoch die bisherige Analyseperspektive, aus der wir Ortschroniken vom Beginn der Bundesrepublik bis heute unter vergleichbaren Gesichtspunkten beschrieben haben, und halten nach zeitlichen Differenzierungen Ausschau. Bei den folgenden Ausführungen ist in Erinnerung zu behalten, dass sich in den 1950er und 1960er Jahren sowie in weiten Teilen der 1970er Jahren nur sehr bedingt von einem eigenständigen Genre sprechen lässt. So lassen sich einige Unterschiede,
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Ortschroniken zwischen Kontinuität und Wandel
wie die Bevorzugung von Archivquellen und die relative Vernachlässigung persönlicher Erinnerungen, darauf zurückführen, dass Heimatbücher in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik noch nicht mit einem vergleichbaren Selbstbewusstsein ihrer Autonomie – gegenüber der etablierten Geschichtsforschung – auftraten. Andere Unterschiede, wie die stärkere Prägung durch völkisches Gedankengut, hängen in erster Linie damit zusammen, dass die Heimatbücher der frühen Bundesrepublik – aufgrund der Sozialisation ihrer Autoren – deutlicher in der Tradition der älteren Heimatbewegung standen. Die soziodemografischen Verschiebungen bei der Erstellung von Heimatbüchern, die sich im Zuge der Etablierung eines eigenständigen Genres in den späten 1970er Jahren einstellten, führten hier zu merklichen Veränderungen.
Kontinuität völkischer und nationalistischer Elemente der älteren Heimatbewegung Beginnen wir mit der zum Teil deutlichen völkischen Prägung von Ortschroniken aus der Nachkriegszeit bis in die frühen 1960er Jahre. Die Autoren, die sich in diesen Jahrzehnten der Abfassung von Heimatbüchern widmeten, standen unter dem Einfluss der älteren Heimatbewegung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Nicht wenige der in den 1950er Jahren erschienenen Chroniken gehen auf ältere Publikationsvorhaben nunmehr betagter Autoren zurück; viele Vorarbeiten datierten in 1920er und 1930er Jahre und waren durch die Kriegs- und Nachkriegszeit unterbrochen worden. Doch auch bei Ortschronik-Vorhaben, die erst nach dem Kriegsende entstanden, war die heimatgeschichtliche Vorbildung der Autoren mehr oder weniger stark der ersten Blütezeit der Heimatbewegung in den vorangegangenen Jahrzehnten verhaftet. Dies gilt umso mehr, da es sich durchweg um Autoren mit einem vergleichsweise hohen Bildungsgrad handelte, die in ihren Schriften gelegentlich ausdrücklich auf programmatische Texte der ersten Heimatbewegung Bezug nahmen. Letztere waren durchtränkt von Volkstums- und Rassenideologien einerseits sowie Nationalismen bzw. Chauvinismen andererseits. Damit zusammen hing die starke Präsenz organizistischer Formulierungen. Die Chronik von Soltau aus dem Jahr 1935 schließt zum Beispiel mit den Worten: »Wir legten auf kleinem Raume einen weiten Weg zurück und haben Gemeinschaftserleben und Gemeinschaftsbetätigung in Familie, Sippe, Dorf und Stadt durch Zehntausende von Jahren an unserem Auge vorüberziehen lassen und sahen dabei, daß Soltaus Geschichte wechselvoll ist wie die Geschichte des deutschen Volkes; Soltau ist ein lebendiges Glied am deutschen Volkskörper. Wer sich bemüht, seinen Pulsschlag im Wandel der Zeiten abzutasten, der fühlt das geheimnisvolle Blut seines
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Volkes und seiner Rasse.«1 Ebenso verbreitet, wie das Dorf als Teil eines übergreifenden »Volkskörpers« zu verstehen und die ethnische Bindung seiner Bewohner an das deutsche »Volk« hervorzuheben, war es, die enge Verbindung von Dorf und »Vaterland« zu betonen. Das kurz nach dem Anschluss des Saarlandes an das Deutsche Reich im Jahr 1935 erschienene Heimatbuch von Spiesen beispielsweise will die »Liebe zur Heimaterde« als »die Wurzel wahrer und echter Vaterlandsliebe« stärken, auf dass die Spiesener ihrer »urdeutschen Heimat, dem geliebten Vaterlande« ewig verbunden bleiben.2 Dieses Kapitel ist nicht der Ort, um eine eingehendere Charakteristik der früheren Heimatgeschichte (und ihrer Verquickung mit nationalsozialistischem Gedankengut) zu liefern. Von Bedeutung ist hier, dass sich die skizzierten Elemente in vielen Heimatbuch-Veröffentlichungen der 1950er und frühen 1960er Jahren noch antreffen lassen – im Unterschied zu Chroniken der späteren Jahrzehnte. Nehmen wir zum Beispiel die Veröffentlichung des Heimatvereins von Berge in Niedersachsen aus dem Jahr 1954. Der Vorsitzende des 1934 gegründeten Vereins stellt dem Heimatbuch ein eigenes Gedicht voran: »Deutsch sei dein Geist, Dein Lied, Dein Wort, Dein Volk, Dein Stolz und höchster Hort, Und deutsch, was droh’n und kommen mag, Dein Herz bis zu dem letzten Schlag.«3 Diese nationalistische bzw. völkische Vorgabe steht nicht allein am Anfang des Buches, sondern schlägt sich auch mehr oder weniger offen in zahlreichen Beiträgen nieder. Die Chronik von Ringelheim bei Salzgitter aus dem Jahr 1955 ist ebenfalls von einem bereits länger bestehenden Heimatverein herausgegeben worden. Sie sieht die Geschichte des »kleinen Ortes« eng mit der Geschichte »des deutschen Vaterlandes« verwoben, denn: »Wie alles Lebendige, wächst und lebt auch ein Volk aus seinen kleinsten Zellen, den Familien und Gemeinden.« In diesem Fall tritt auch die organizistische Verknüpfung von Dorf und Nation, der Biologismus der älteren Heimatbewegung, deutlich zu Tage.4 Die Chronik des bayerischen Waldershof übernimmt das typische Stufenmodell der älteren Heimatgeschichte, in dem sich aus der Liebe zur unmittelbaren Heimat die Liebe zu den übergreifenden Größen Volk und Vaterland direkt ergeben solle. Im Vorwort der Veröffentlichung aus dem Jahr 1950 ist zu lesen: »Die Heimatforschung ist auch eines der wirksamsten und notwendigsten Mittel, die Jugend zu erziehen. Sie erweitert den Gesichtskreis für alle Gebiete des Natur- und Menschenlebens. Heimat-, Volks- und Vaterlandsbewußtsein wachsen von selbst daraus, das kann 1 2 3 4
Soltau, S. 50. Spiesen, S. 5, 8. Berge, S. 7. Ringelheim, S. 3. Vgl. zudem die biologische Metaphorik in der kurz darauf folgenden Aufforderung an die Jugend des Ortes: »Bleib der Heimat treu! Bleib treu den Quellen, die deine Jugend nährten! Aus der Liebe zur Heimat wurzelt alles, was ein Mensch zum Leben braucht« (Ebd., S. 4). Die Sätze sind als Zitat ohne Angabe der Herkunft ausgewiesen.
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nicht künstlich gezüchtet werden. Die Sorge um das kommende Geschlecht können wir nur bannen, wenn wir wieder sorgen, daß die Heimatliebe ins Volk kommt!«5 In nicht wenigen Chroniken der Nachkriegsjahrzehnte weist der überkommene Nationalismus zudem chauvinistische Züge auf, gerade im Zusammenhang mit der Behandlung der Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Die Chronik von Thalexweiler im Saarland, Ende der 1960er Jahre von zwei ehemaligen Lehrern geschrieben, hebt den »großen Jubel« hervor, unter dem der Ort 1935 endlich wieder »in unser Vaterland zurück[gekehrt]« sei. Zu der erneuten Abtrennung des Saargebietes ab 1945 schreiben die Autoren sodann: »Die Vernichtung unseres Volkes lief auf vollen Touren.«6 Das Heimatbuch Waderns aus dem Jahr 1963, ebenfalls aus dem Saarland und ebenfalls von einem Lehrer im Ruhestand verfasst, flicht einige ethnische Diskriminierungen (der US-amerikanischen Besatzer, der russischen Fremdarbeiter) in die Beschreibung der Nachkriegszeit ein; die Szenerie gipfelt in der Äußerung: »Die Saat des Hasses gegen Deutschland war aufgegangen und trug nun ihre Früchte«.7 In einzelnen Fällen schlägt zudem der oben dargestellte affirmative Gefallenenkult von Ortschroniken um in eine ausgeprägte Heldenverehrung der Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg ruhmvoll »für das Vaterland« und gegen die Feinde des »deutschen Volkes« gekämpft hätten.8 Lassen sich für die ersten Nachkriegsjahrzehnte noch vergleichsweise viele Beispiele für die Kontinuität völkischer und nationalistischer Elemente aus der älteren Heimatbewegung beibringen, so nimmt die Zahl dieser Fälle in den folgenden Jahrzehnten rapide ab. Äußerungen, wie sie das Vorwort der Chronik von Budberg in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1971 liefert – dass »die größere Gemeinschaft unseres Volkes« ihre »Kraft« aus der Verbundenheit zur »dörflichen Gemeinschaft« ziehe –, stellen zu dieser Zeit bereits die Ausnahme dar.9 Ab 5 6 7 8 9
Waldershof, S. VII. Thalexweiler, S. 53, 56. Wadern, S. 110. Siehe Börßum, S. 455–457; Fallingbostel, S. 69–161. Budberg, S. 11–12. Einen seltenen Fall bietet die 1973 erschienene Chronik von Eschlkam im bayerischen Wald, deren Kapitel »Das Bild der Leute« noch ganz dem (rassen)anthropologischen Paradigma verhaftet ist, dem auch die erste Heimatbewegung nahe stand. Der Autor geht von einem einheitlichen Charakterbild ›des Eschlkamers‹ aus, das in der Folge langfristiger naturräumlicher und geographischer Determinanten entstanden sei. ›Typische‹ Porträtfotografien sollen zudem die physiognomische Einheitlichkeit des Eschlkamer »Menschenschlags« veranschaulichen. Weitere Beschreibungen erläutern typische anatomische und konstitutionelle Merkmale, wie zum Beispiel: »Ihrer äußeren Erscheinung nach weisen die hiesigen Menschen keinen auffallenden Größenunterschied verglichen mit denen im ganzen Lande auf. Sie haben durchwegs blaue Augen und blonde Haare. Ihr Gesundheitszustand ist im allgemeinen sehr gut, so daß manche von ihnen auch schon vor Zeiten ein hohes Alter erreichten.« Oder : »Die Frauenjugend ist von einem strammen Wuchs, besitzt
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den 1970er Jahren werden nationalistische Formulierungen oder explizit völkisches bzw. rassistisches Gedankengut im gesamten Genre immer seltener. Dies gilt im Großen und Ganzen – Ausnahmen bestätigen bis heute die Regel – auch für die unreflektierte Übernahme von Gedankengut und Sprache des Nationalsozialismus. Die naheliegende Ursache liegt in der Ablösung der Alterskohorte von Chronikautoren, die bereits in den 1920er und 1930er Jahren zur Heimatgeschichte gefunden hatten und entsprechend geprägt worden waren. Die Heimatgeschichte begann sich außerdem für breitere Autorenkreise zu öffnen, so dass es nicht mehr vorrangig Lehrer, Geistliche und Archivare waren, die Chroniken verfassten; das lässt vermuten, dass spätere Chronikautoren kaum noch in der älteren heimatgeschichtlichen Literatur belesen waren. Die Parallelen von Chroniken der 1950er und 1960er Jahre zu früheren heimatgeschichtlichen Veröffentlichungen, insbesondere die Verbindung von Heimat (im Sinne des Dorfes) mit Vaterland, Nation und Volk, berühren ein zentrales Thema der vorliegenden Studie. Denkt man an die Analysen der vorangegangenen Abschnitte, drängt sich eine Frage auf, und zwar nach der Vereinbarkeit dieser Elemente mit der gegenläufigen Trennung von Dorf- und Nationalgeschichte, die Ortschroniken seit den 1950er Jahren bestimmt haben. Bei dieser Trennung handelt es sich, wie bereits an anderer Stelle betont, um eine vorherrschende Tendenz. Meist implizit bestimmt sie die Schwerpunktsetzung bei Auswahl, Aufbereitung und Darstellung historischer Materialien. Ausnahmen oder gegenläufige Tendenzen sind dadurch keineswegs ausgeschlossen. Zudem nehmen die nationalistischen und völkischen Elemente in den Heimatbüchern und Ortschroniken der frühen Bundesrepublik einen zunehmend marginalen Stellenwert ein. Es handelt sich eher um Überbleibsel einer auslaufenden Phase der Heimatgeschichte. Sie haben den vorherrschenden Trend in Ortschroniken, die Verbindung von Dorf- und Nationalgeschichte weitgehend aufzutrennen, zwar eingetrübt, aber letztlich nicht aufgehalten. Diese Bewegung zeigt sich auf einer tieferliegenden Ebene gerade auch in vielen Chroniken, die sprachlich weiterhin am völkischen Vokabular festhielten. Beides war in den
eine angenehme natürliche Schlankheit und hat ein Gesicht wie Milch und Blut.« In direktem Zusammenhang mit den physiologischen Merkmalen stehen die vermeintlich typischen Charakterzüge; auch hierzu zwei Beispiele: »Die Männer erscheinen alle aus hartem Holz geschnitzt, zeigen sich in ihrer Eigenart als ganze Persönlichkeiten«. »Bewundernswert war und ist heute noch der Fleiß und die Ausdauer, mit denen die Menschen ihren harten Boden bearbeiten und ihre täglichen Geschäfte verrichten, die Schlichtheit und Einfachheit, in der sie ihre Lebensführung gestalten, ihre Häuslichkeit und ihr Familienleben pflegen.« Zudem interessiert der Autor sich für angebliche ›Vermischungsprozesse‹ der Eschlkamer Bevölkerung sowie kulturelle Nivellierungstendenzen. Vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts habe die »Technik unserer Zeit die Menschen und ihr Tun und Treiben so nivelliert, daß von der Eigenart einer Volksgruppe kaum mehr die Rede sein kann« (Eschlkam, S. 40–45).
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Ortschroniken der ersten Nachkriegsjahrzehnte vereinbar und unterstreicht die Eigenständigkeit der Verarbeitungsregeln des Genres.
Die Ausblendung der NS-Zeit Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das gerade vergangene »Dritte Reich« vielerorts einen ebenso belastenden wie nach Möglichkeit ausgeblendeten Geschichtsabschnitt dar. Seine Berücksichtigung in der deutschen Geschichtsschreibung blieb wenigen Ausnahmen vorbehalten. Dies galt auch für die Ortschronistik der 1950er und 1960er Jahre. Gerade in Heimatbüchern sollte sich der Hang, die Geschichte des Nationalsozialismus zu übergehen, als sehr langlebig erweisen. Auch in den Ortschroniken der 1970er und 1980er blieb seine Erwähnung, geschweige denn ausführliche Behandlung, eher selten und noch bis heute gibt es einzelne Veröffentlichungen, die diese Zeit gänzlich ausblenden. Allerdings stellen solche Texte mittlerweile eine deutliche Ausnahme dar. Wenden wir uns zunächst den 1950er und 1960er Jahren zu: Wie gesehen nahmen Heimatbücher nach dem Zweiten Weltkrieg in aller Regel eine Sichtweise der NS-Geschichte ein, die sie aus ihrer Zuständigkeit auslagerte und sie (stillschweigend) an die Forschung delegierte. Dieser Umschwung schlug sich in den Schriften vieler Ortschronisten nieder, die sich in den 1930er und 1940er Jahren noch sehr interessiert an der unmittelbaren Zeitgeschichte gezeigt hatten. Nehmen wir das Beispiel des Lehrers Karl Rose, der 1937 eine Ortschronik zu Bodenwerder in Niedersachsen verfasst hatte, in der er den Nationalsozialismus ausdrücklich begrüßt und das »Dritte Reich« als Zeit der politischen Einigkeit, des Aufschwungs und eines im Allgemeinen blühenden Dorflebens dargestellt hatte.10 1954 publizierte Rose eine Chronik zu Offleben, ebenfalls in Niedersachsen, die die nationalsozialistische Zeit als eigenständige Epoche ganz ausblendete und sich auch in den Beiträgen zu Schule, Kirche, Vereinen etc. praktisch nicht dazu äußerte. Die Chronik von Offleben überging nicht nur die Geschichte der jüngst vergangenen Jahrzehnte, sondern weite Teile der Geschichte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist sie typisch für viele Ortsgeschichten der 1950er und 1960er Jahre. Oftmals von professionellen Landeshistorikern verfasst sparten die Heimatbücher dieser Zeit nicht nur das »Dritte Reich« und den Zweiten Weltkrieg aus, sie ließen gleich das gesamte 20. Jahrhundert – und oft sogar das 19. Jahrhundert – aus, zumindest dessen »politische Geschichte«.11 Begründeten die Ortschronisten dieses Vorgehen, hieß es, dass 10 Bodenwerder, z. B. S. 199. 11 Siehe z. B. Brünnighausen; Este; Wallerfangen. Vgl. Herrmann: Ortschronik, S. 40, 42.
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das 20. Jahrhundert noch nicht »zu Geschichte geronnen sei«. Auch stünden kaum Archivalien zur Verfügung, sondern vor allem mündliche Erzählungen. Und diesen kam in der klassischen Quellenhierarchie der 1950er und 1960er Jahre nur nachgeordnete Bedeutung zu.12 Ebenso gewichtig scheint jedoch ein weiterer Grund zu sein: Hatte die Katastrophe des »Dritten Reichs« doch eine Reihe vorher unbelasteter Themenfelder der neuzeitlichen Geschichte mit kontaminiert. Dies galt allen voran für die Weimarer Republik und den Ersten Weltkrieg, die nunmehr als unmittelbare Vorgeschichte des Nationalsozialismus erschienen, aber auch für alle Themen mit starken nationalistischen Bezügen, wie etwa die »Saargebiets«-Thematik oder die Grenzstreitigkeiten zwischen Dänemark und dem Deutschen Reich in Schleswig-Holstein. Andere Chroniken ließen zwar das 20. Jahrhundert nicht völlig aus, doch nahm die Darstellungsdichte drastisch ab. Die Rekonstruktion der »Politikgeschichte« ging meist bereits für das 19. Jahrhundert auf ein Mindestmaß zurück.13 Die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg fanden nur noch auf wenige abstrakte und pathetische Formeln kondensiert Eingang in die Darstellung – die zudem eher willkürlich über verschiedene Themenbereiche verstreut, als zentral und sichtbar platziert wurden. Ein anschauliches Beispiel bietet die Chronik des oberfränkischen Ortes Marktschorgast aus dem Jahr 1959, die sich für das 20. Jahrhundert auf ganz wenige, ausschnitthafte Äußerungen zu kirchenpersonellen, baulichen und verwaltungsrechtlichen Ereignissen beschränkte, während sie für das 19. Jahrhundert zumindest noch sporadische Hinweise zu bevölkerungs-, wirtschaftsund sozialgeschichtlichen Themen lieferte.14 Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, dass sich keine oder nur eine verschwindend geringe Anzahl von Gegenbeispielen finden ließe, die der Vernachlässigung der jüngeren Geschichte im Allgemeinen und des Nationalsozialismus im Besonderen in den Chroniken der 1950er und 1960er Jahre zuwiderliefen. In allen Regionen finden sich auch aus diesen Jahrzehnten Heimatbücher, die einer Behandlung dieser Themen nicht aus dem Weg gingen – so lückenhaft, defizitär oder verzerrt die Darstellung aus heutiger (und aus wissenschaftlicher) Perspektive auch ausfällt. Nehmen wir als Beispiel den zweiten Band der Chronik Fallingbostels in der Lüneburger Heide aus dem Jahr 1952, der ausschließlich den Jahren 1914 bis 1945 gewidmet ist und dessen Abschnitt »Aus dem zweiten Weltkrieg« über 100 Seiten einnimmt.15 Mit dem »Zweiten Weltkrieg« ist ein weiteres Stichwort zur Differenzierung 12 13 14 15
Vgl. Kiefersfelden, S. 690. Siehe auch das nachfolgende Kapitel. Siehe z. B. Oberzell. Marktschorgast, S. 57–58. Fallingbostel.
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genannt: Viele Ortschroniken trennten die Geschichte des Nationalsozialismus ebenso selbstverständlich wie stillschweigend von der Geschichte des Weltkriegs ab. Das heißt, sie behandelten die letztere (teils) ausführlich, ohne die erstere auch nur zu erwähnen. Wie bereits an anderer Stelle gesehen wurde der Zweite Weltkrieg oft in einem übergreifenden Kapitel zu »Kriegszeiten« oder »Kriegsereignissen« behandelt und auf diesem Weg aus dem Kontext des »Dritten Reichs« gelöst – ein Vorgehen, das bis heute Konjunktur in Ortschroniken hat.16 Andere Chroniken machten die Periodisierung der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts primär an den Weltkriegen und ihren Folgen fest, so zum Beispiel im Abschnitt »Von Weltkrieg zu Weltkrieg« in der Chronik des saarländischen Ortes Hasborn-Dautweiler, die dabei weder der »Saargebietszeit« noch dem »Dritten Reich« einen eigenständigen Abschnitt widmete.17 Wieder andere Chroniken räumten dem Zweiten Weltkrieg ein eigenes Kapitel ein. In diesen Fällen standen in aller Regel das Kriegsende, manchmal auch nur die »Kriegsfolgen«, sowie einige wenige Themenbereiche im Mittelpunkt.18 Selbst wenn sie keine weiteren Ausführungen zum Zweiten Weltkrieg enthielten, so lieferten auch die Chroniken der 1950er Jahre und 1960er Jahre so gut wie immer eine unkommentierte, vollständige Liste der Gefallenen aus dem jeweiligen Ort sowie gelegentlich auch der Flüchtlinge und Vertriebenen, die aufgenommen worden waren.19 Auch in den folgenden Jahrzehnten erscheinen immer wieder Chroniken, die die nationalsozialistische Geschichte ausblendeten oder sehr randständig behandelten. Unter den Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre trifft man regelmäßig auf Heimatbücher, die das »Dritte Reich« – und gelegentlich auch den Zweiten Weltkrieg – vollständig übergingen.20 Die Zahl der Chroniken, die sich der NS-Zeit ausführlicher widmeten, stieg allerdings spätestens ab den 1980er Jahren deutlich an. In Relation zu anderen Themen blieb die NS-Geschichte in quantitativer Hinsicht vorerst oft marginal. Die etwa tausend Seiten umfassende Chronik von Neubeuern in Bayern aus dem Jahr 1987 räumte dem »Dritten Reich« nur vier Seiten ein.21 Der quantitative Anteil wuchs jedoch stetig, so dass man unter den Chroniken der letzten zweieinhalb Jahrzehnte nur noch wenige Ausnahmen antrifft, die das »Dritte Reich« gänzlich ausließen oder auf 16 Siehe z. B. Großköllnbach, S. 156–163; Kaufering, S. 122–128; Pestenacker, S. 70–71. Vgl. Schönhagen: Ortsgeschichte, S. 19. 17 Hasborn-Dautweiler, S. 171–183. Gleichermaßen verfahren die auf denselben Autor zurückgehenden Chroniken von Hüttigweiler I und Thalexweiler. 18 Siehe z. B. Haieshausen, S. 30–31; Stellichte, S. 112–116. Die Chronik des Ortes Jühnde bei Göttingen springt aus den 1870er Jahren zum »Einmarsch der Amerikaner« nach dem Zweiten Weltkrieg, Jühnde, S. 141–142. 19 Siehe z. B. Flögeln, S. 71–90. 20 Vgl. für viele Dohnsen-Wohlde. 21 Neubeuern, S. 664–667.
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wenigen Seiten abhandelten. Wolfgang Pledl vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege schreibt: »Noch heute ist ja die Meinung weit verbreitet, dass in Heimatbüchern oder Ortschroniken die Zeitgeschichte so gut wie überhaupt nicht vorkomme. Diese Auffassung mag in dem einen oder anderen Fall richtig sein, in der Gesamtheit trifft sie keinesfalls zu.«22 Pledls Aussage lässt sich gleichermaßen auf die anderen Bundesländer übertragen. In allen Regionen ist die Bereitschaft, die Geschichte der NS-Zeit in Ortschroniken und Heimatbüchern zu behandeln, seit den 1970er und 1980er Jahren stetig angestiegen. Einen besonderen Fall, an dem sich diese Entwicklung trefflich veranschaulichen lässt, stellen die Publikationen des Lehrers und Ortschronisten Walter Schultze über den niedersächsischen Ort Goldenstedt dar. Seine erste Chronik aus dem Jahr 1965 enthält unter der Überschrift »Die politische Gemeinde Goldenstedt« einen zweiseitigen Abschnitt zur Weimarer Republik und zum NSRegime sowie zwei weitere Seiten zum Zweiten Weltkrieg. In einem anderen Abschnitt (»Menschen und Schicksale«) geht es zusätzlich um die Gefallenen und Vermissten des Krieges sowie die Flüchtlinge und Vertriebenen auf insgesamt sieben Buchseiten.23 In der Neuauflage seiner Chronik aus dem Jahr 2003 hat der Autor einschneidende inhaltliche Erweiterungen vorgenommen; die Chronik fokussiert explizit die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Gesamtumfang des gemeinschaftlichen Werkes (ein Ko-Autor behandelte die Geschichte des Ortsteils Lutten) hat sich mehr als verdoppelt. Es findet sich nunmehr ein eigenständiger Abschnitt »Unter nationalsozialistischer Diktatur«, der über dreißig Seiten umfasst. Direkt im Anschluss folgt der Abschnitt »Nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 bis 2000)«, der den Themen Besatzung, »Entnazifizierung«, »Notjahre 1945 bis 1948« sowie Flucht und Vertreibung etwa fünfzehn Seiten widmet. Darüber hinaus ist der Weimarer Republik ein eigenständiger Teil von gut zehn Seiten gewidmet. Die wesentlichen Grundzüge der Erzählstruktur des Buches von 1965 sind dabei allerdings bestehen geblieben. Der deutliche Anstieg des Umfangs ist vor allem auf detaillierte, illustrierende Exkurse zurückzuführen, wie zum Beispiel zur Volksabstimmung um eine Bürgschaft für eine Zigarrenfabrik. Diese hatte bereits in der ersten Chronik in aller Kürze dazu gedient, die Verschärfung politischer Auseinandersetzungen am Ende der Weimarer Republik zu veranschaulichen; im Jahr 2003 nimmt die Episode nun vier Buchseiten ein und wird von aufwändigen Quellenreproduktionen und einer Tabelle begleitet.24 Auch im Abschnitt zur NS-Zeit ist die wesentlich höhere Dichte von Fotografien, Abbildungen und Quellenreproduk22 Pledl: Verein, S. 364. Ob dies tatsächlich »adäquat und vor allem auch auf hohem fachlichen Niveau« geschieht, wie Pledl – aus praktisch-normativer Sicht – weiter schreibt, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. 23 Goldenstedt I. 24 Goldenstedt II, S. 21–24.
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tionen augenfällig. Oft gibt der Autor auf mehreren Seiten einzelne Quellen, wie zum Beispiel Briefe, im Wortlaut wieder. Hinzu kommt ein Anstieg des Zahlenmaterials (vor allem zu Wahlergebnissen), zusammengestellt in zahlreichen Listen und Tabellen. Versucht man Gründe für die inhaltliche Zunahme der NS-Zeit in Ortschroniken und Heimatbüchern in den letzten Jahrzehnten zu finden, lässt sich zuerst die viel zitierte verwandtschaftliche Verwobenheit der Chronikautoren und -leser mit den Zeitgenossen des »Dritten Reichs« heranziehen. Diese sei, so die gängige Annahme, im Laufe der Generationswechsel schwächer geworden.25 Doch reicht diese Beobachtung nicht als Erklärung aus. Zum einen ist sie schwerlich mit den zahlreichen Ausnahmen vereinbar, die sich über den gesamten Zeitraum seit den 1950er Jahren finden lassen. Zum anderen, und das wiegt schwerer, sind entsprechende Tabus auch in den letzten Jahrzehnten weiterhin spürbar in der dörflichen Lebenswelt.26 Der quantitative Anstieg der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit lässt sich deshalb nur bedingt auf eine Bereitschaft zur kritischen Aufarbeitung der Epoche zurückführen, wie sie die alltagsgeschichtliche Bewegung ab den späten 1970er Jahren gefordert hat. Des Weiteren lässt sich vermuten, dass sich im Laufe der 1980er Jahre ein neues ›geschichtliches Selbstbewusstsein‹ zu verbreiten begann. Nicht zuletzt als Folge der Geschichtspolitik der damaligen Bundesregierung verfestigte sich die Sicht auf die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte; dadurch ließ sich letztlich auch der Nationalsozialismus in eine »nationale Meistererzählung mit Happy End« integrieren.27 Es ist durchaus denkbar, dass sich diese Entwicklung (bewusst oder unbewusst) auch auf die Erstellung von Ortschroniken ausgewirkt hat. Um die Zunahme der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in Heimatbücher zu erklären, scheint mir jedoch vor allem ein weiterer Aspekt ausschlaggebend zu sein: die Auflockerung der Quellenhierarchien, die Ortschroniken und Heimatbücher bis in die 1970er Jahre geprägt hatten.
25 Siehe z. B. Peukert: Alltag, S. 219. 26 Vgl. Kukatzki: Gräueltaten. Dies haben auch meine eigenen Gespräche mit Chronikautoren verschiedener Regionen ergeben. 27 Vgl. Mühlenberg: Tagungsbericht. Die Interpretation entstammt einem Vortrag von Cornelia Siebeck auf einer Tagung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Durch diese »Integration« habe die NS-Geschichte ihr »Irritationspotenzial« weigehend eingebüßt, heißt es im Tagungsbericht weiter. Die Vortragende »deute dies nicht als einen Lernprozess, sondern als einen Ausdruck, dass diese Vergangenheit nicht mehr schmerze. Das negative Gedächtnis ermögliche demnach eine affirmative, nationale Identitätsbildung.«
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Verschiebungen der Quellenhierarchie Die Erstellung von Ortschroniken lag in den 1950er und der 1960er Jahren vergleichsweise fest in den Händen ausgebildeter, nicht selten promovierter Historiker (Archivare, Museumsleiter oder Landeshistoriker). In der Folge der ersten Heimatbewegung schrieben auch bereits viele Dorflehrer und Pfarrer Chroniken kleinerer Gemeinden. Deren Veröffentlichungen waren jedoch ebenso eindeutig an der akademischen Geschichtswissenschaft orientiert – und nicht an der historiografischen Selbstverwirklichung von Laien –, wie dies im Zuge der neuen Heimatbewegung in den folgenden Jahrzehnten der Fall sein sollte. Das hatte Auswirkungen auf die Überlieferungsformen, mit denen Heimatbuch-Autoren vorrangig arbeiteten. Archivalien (Urkunden, Dokumente, Akten) rangierten hierbei deutlich vor privaten Quellenbeständen und vor mündlicher Überlieferung. Zwar konnten und sollten auch die Chroniken der Nachkriegsjahrzehnte nicht gänzlich auf mündliche und schriftliche Erzählungen von (nicht akademisch gebildeten) Laien verzichten, deren grundlegende Unterordnung unter die ›klassischen‹ Schriftquellen wurde dadurch allerdings nicht angetastet. Werfen wir einen Blick in die Chronik des niedersächsischen Bissendorf aus den späten 1930er Jahren. Der Autor, ein Schulrektor im Ruhestand, beschrieb darin die Reihenfolge, in der er unterschiedliche Quellenformen im Rahmen seiner Recherchetätigkeit abgearbeitet hatte. Nach der Sichtung der bereits vorhandenen historiografischen Literatur zum Ort habe er folgende Materialien konsultiert: »die Kirchenbücher des Ortes und die Schulchronik, die sehr viel wertvolles Material enthalten, vor allem aber das Staatsarchiv in Hannover, in dem sich alle Ereignisse, auch solche von geringerer Bedeutung, die Sorgen, Beschwerden und Hoffnungen, die die Vorfahren der heutigen Bissendorfer bewegten, in Eingaben und Antwortschreiben widerspiegeln.« Vorrangige Quelle (»vor allem«) blieb das Staatsarchiv. Die »Vorfahren der Bissendorfer« kamen also in erster Linie durch den Filter der amtlich erstellten und archivierten Quellen zu Wort. Erst in einem zweiten Schritt habe der Autor seine Materialgrundlage ergänzt, indem er die Dörfler selbst ansprach. Dazu heißt es weiter : »Endlich wurden auch im Dorfe selbst Nachforschungen und Besprechungen vorgenommen. Alte Bissendorfer erzählten, und sie berichteten gern, was sie in den letzten sechzig Jahren in ihrem Dorfe erlebt hatten, und was ihnen von ihren Eltern und Voreltern überliefert worden war. Alles das wurde mit Vorsicht geprüft und gewertet.«28 Diese Erzählungen wurden einerseits erst am Ende des Arbeitsprozesses hinzugezogen und andererseits »mit Vorsicht geprüft«. Dieses Beispiel macht deutlich, dass frühere Ortschronisten zwar sowohl mit Archivalien als auch mit persönlicher Überlieferung arbeiteten, doch 28 Bissendorf, S. 3; Hervorhebungen von mir.
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standen beide Quellensorten in einem Verhältnis von Grundlage und Ergänzung zueinander. An dieser Relationierung ändert sich in der Ortschronistik der 1950er und 1960er Jahre vorerst nichts Wesentliches. Der Chronist des niedersächsischen Jühnde berichtete 1960 über seine umfangreichen Archivstudien und unterstrich: »Alle Daten sind urkundlich belegt.« In seiner Danksagung kam die zugrundliegende Quellenhierarchie zum Ausdruck: »Ich danke allen, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben, insbesondere den Niedersächsischen Staatsarchiven in Hannover und Wolfenbüttel und dem Göttinger Stadtarchiv. Zu vergessen seien dabei nicht die vielen hier nicht aufzuzählenden Getreuen der Heimat, die durch Übermittlung mündlicher Überlieferung außerordentlich halfen.«29 Die Archive werden zuerst genannt, die mündliche Überlieferung hingegen als zweites. Neben der primären Quellenarbeit dürfte auch sie »nicht vergessen« werden. Ähnlich äußerte sich der Chronist Otto Rohkamm in seiner Schrift zu Bad Harzburg, um ein Beispiel aus den frühen 1970er Jahren hinzuzufügen: »Die nachfolgende Schilderung gründet sich auf geschichtliche Überlieferung. Soweit die Niederschrift nicht aktenmäßig belegt werden kann, weil für gewisse Zeitabschnitte Dokumente fehlen, beruht die Berichterstattung auf eigenem Erleben oder mündlicher Überlieferung durch Gewährsleute.«30 Auch in diesem Fall zog der Autor eine klare Hierarchie ein: zwischen der »geschichtlichen Überlieferung« (»aktenmäßig belegt«) als eigentlicher Quellenbasis und der »mündlichen Überlieferung« als Ergänzung bzw. einer Art Lückenfüller. Die wichtigsten Ansprechpartner von Chronikautoren waren in den 1950er und 1960er Jahren akademische Experten – in Archiven, an Universitäten oder Forschungseinrichtungen – und nicht die ›einfachen Dorfbewohner‹. Gerade bei der Rekonstruktion der Geschichte kleinster Orte hatten die klassischen historischen Quellenbestände jedoch immer wieder ihre Grenzen. Auch waren im Zuge des Kriegsendes 1945 in den kleineren Gemeinde-, Kreis- und Stadtarchiven viele Akten abhanden gekommen oder mutwillig vernichtet worden (wenn auch bei Weitem nicht alles bzw. allerorts). Diese Verluste betrafen vor allem die jüngste Geschichte, insbesondere der NS-Diktatur, nicht selten waren jedoch auch ältere Dokumente mit betroffen. Angesichts dieser Situation waren die Chronikautoren der Nachkriegszeit verstärkt darauf angewiesen, die ›sekundären‹ Quellen anzuzapfen, also die privaten Materialsammlungen im Ort und die mündliche Überlieferung. Persönliche Erinnerungen der Dorfbewohner rückten allmählich von ihrer nachgeordneten Position zur zentralen Quellenform des Genres auf. Dadurch erweiterte sich das Akteursspektrum (bzw. ver29 Jühnde, S. 3. 30 Harzburg, S. 5.
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lagerte seine Schwerpunkte): zum einen im Blick auf den Erstellungsprozess von Ortschroniken, zum anderen im Blick auf die geschichtlich relevanten Akteure und Inhalte. Erste Chroniken, die hauptsächlich auf mündlicher Überlieferung basierten und diese Tatsache offensiv, als Qualitätsmerkmal, betonten, finden sich jedoch erst ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Im saarländischen Dernbach hatte sich eine »Hobby-Chronistin« im Jahr 1976 der Aufgabe angenommen, die ältere Chronik eines promovierten Autors aus dem Jahr 1926 zu aktualisieren. Von besonderem Interesse ist, dass sie hierbei eine neuartige Autorenposition für sich in Anspruch nahm. Sie grenzte sich einerseits eindeutig von »wissenschaftlicher Arbeit« ab und stellte andererseits mündliche Erinnerungen ins Zentrum. Die Verfasserin schrieb über ihre Arbeit: »Meine Ausführung, die ich nicht als wissenschaftliche Arbeit angesehen wissen will, basiert auf Chroniken und mündlichen Überlieferungen mit all ihren Gefahren, ungenaue Jahreszahlen oder Namen anzugeben.«31 Die Chronik des niedersächsischen Hotteln, erschienen im selben Jahr, widmete den größeren Teil ihres Umfangs »dem Zeitabschnitt […], den wir aus eigenem Wissen oder durch die Überlieferung von unseren Eltern und Großeltern her kennen.«32 Man sieht eine vergleichbare Verschiebung: Das »eigene Wissen« – aus der privaten (oder dorföffentlichen) Überlieferung – rückte in den Mittelpunkt, gleichzeitig gewann die jüngere und jüngste Vergangenheit, die dieses Wissen vor allem abdeckt, an Bedeutung. Der steigende Stellenwert mündlicher Überlieferung im Laufe der 1970er Jahre trug maßgeblich zur Herausbildung eines eigenständigen Genres bei. Wie das letzte Beispiel gezeigt hat, nahm im Zuge dieses Prozesses auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts einen deutlich größeren Platz in Heimatbüchern ein. So basiert beispielsweise das Kapitel »Schäftlarn im 20. Jahrhundert« in der 1996 erschienenen Chronik des Ortes vorrangig auf Gesprächen und Erinnerungen namentlich genannter Einwohner des Ortes.33 Zu dieser Zeit stellte ein 31 Dernbach I, S. 287. 32 Hotteln, S. III. 33 Schäftlarn, S. 295. Dort heißt es: »Neben den üblichen schriftlichen Quellen nehmen nun die mündlichen einen vordringlichen Platz ein. Hier handelt es sich zumeist um die wirklich unermeßlichen Kenntnisse der beiden verewigten alten Schäftlarner, ohne deren Berichte unserer Chronik ein entscheidendes Stück fehlen würde: des alten Hoanz, nämlich Zimmerermeister Arnold Josef, und des alten Marx in Zell, Angermüller Johann. In jahrelangen abendlichen Sitzungen in ihren gemütlichen Stuben haben sie uns ihr profundes Wissen ins Stenogramm diktiert, so daß dieses dann in großen Tonbändern niedergelegt werden konnte, die nun der Gemeinde für ihr Archiv übereignet wurden, ebenso wie eine Akte mit Ablichtungen sehr zahlreicher Urkunden, die zum Teil bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. – Auch Herr Hannes Schneider aus Ebenhausen hat unzählige Einzelheiten beigebracht, desgleichen unser bewährter Neufahrn-Spezialist, Herr Anton Höck und die Damen Annemarie Hartwig und Petra Niedziella. Ebenso stützen wir uns auf die wertvollen Sammlungen der allzu früh verstorbenen Frau Doris Herkert und die Erzählungen des alten
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solches Kapitel keineswegs mehr den Ausnahmefall dar, sondern Ortschronistik im Normalbetrieb. Die teils exzessive Einbindung der neu etablierten Quellensorte mündlicher Überlieferung bzw. privater Aufzeichnungen hat das durchschnittliche Volumen von Heimatbüchern stark ansteigen lassen sowie ihr thematisches Spektrum erweitert. Dies gilt unter anderem auch für die Geschichte des Nationalsozialismus. Nicht selten bestehen entsprechende Chronikkapitel aus Collagen zusammengetragener Gesprächs-Transkripte oder persönlicher Berichte. Das Kapitel zum Zweiten Weltkrieg in der Chronik von Ittersdorf im Saarland – ein separater Abschnitt zum »Dritten Reich« ist nicht enthalten – besteht nahezu ausschließlich aus der wörtlichen Wiedergabe von Zeitzeugenberichten (zur Evakuierung des Orts zu Kriegsbeginn, zum Einmarsch der US-Amerikaner und der zweiten Evakuierung am Kriegsende) sowie der Abschrift deutscher und US-amerikanischer Kriegstagebücher. Der vom Autor selbst formulierte Textanteil fällt demgegenüber verschwindend gering aus.34 Begünstigend haben sich auch die neuen, elektronischen Möglichkeiten der Texterfassung, -speicherung und -verarbeitung ausgewirkt, die seit den 1980er Jahren nach und nach Einzug in die Heimatbuch-Produktion erhielten und die dem massiven Sammeln mündlicher Überlieferung entgegenkamen. Außerdem wurde die Einbindung von Fotografien und anderen Abbildungen sowie die Erstellung von Grafiken deutlich erleichtert. Die Verbreitung von Tonbandgeräten, Videokameras, Heim-Computern u. a. Technologien im Alltag der Ortschronisten beeinflusste nicht nur das Erscheinungsbild von Chroniken, sondern auch ihren Inhalt maßgeblich.
Von der Fortschrittsbegeisterung zur Fortschrittsskepsis Die Schlagworte der Überschrift markieren einen schleichenden, letztlich jedoch deutlich sichtbaren Umbruch, und zwar in der Einstellung, die Ortschroniken gegenüber den gesellschaftlichen, baulichen und technologischen Veränderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einnahmen. Grob gesagt stand in den 1950er Jahren im Blick auf die Gegenwart der »Wiederaufbau« als positiv belegte Gemeinschaftsleistung im Vordergrund. Im darauffolgenden Jahrzehnt dominierte der ebenso stolze wie optimistische Blick auf den weiteren Ausbau und das Wachstum der Gemeinde. Moderne Architektur und Infrastruktur wurden als sichtbare Zeichen des Fortschritts prinzipiell begrüßt. Pischeltsrieder von Zell (Hofname Christoph). Auch die verstorbene Frau Elisabeth Geisler sei nicht vergessen. […] Eine umfangreiche Quelle bilden die 17 Kassetten im Gemeindebesitz, auf denen dankenswert interessierte Zeitgenossen bestens informierte, zum Teil noch lebende Schäftlarner ›ausgequetscht‹ haben.« 34 Ittersdorf, S. 107–122.
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Heimatbücher fungierten in den 1960er Jahren nicht nur als Geschichtsbücher, sondern zugleich als Dokumentationen des gegenwärtigen Fortschritts der Gemeinden – auch wenn in einigen Chroniken erste skeptische Nebentöne zu hören waren. Ab den 1970er Jahren und den nachfolgenden Jahrzehnten verbreitete sich nach und nach eine deutlich kritischere Haltung gegenüber der Modernisierung. Der Strukturwandel ländlicher Räume machte sich in den Gemeinden immer stärker bemerkbar und rief eine mehr oder weniger ausgeprägte Fortschrittsskepsis hervor. Heimatbücher kritisierten die zahlreichen Eingemeindungen, die Zusammenlegung zentraler Versorgungseinrichtungen in wenigen Zentren, die Entstehung von Wohn- bzw. Pendlergemeinden, den Rückgang der Bedeutung der Landwirtschaft und anderes mehr. Chronikautoren blickten keineswegs mehr mit dem ungebrochenen Optimismus in die Zukunft, der die meisten Chroniken des vorangehenden Jahrzehnts geprägt hatte. Auch wurden viele der in den Nachkriegsjahrzehnten vorgenommenen baulichen Modernisierungen nunmehr als überhastete, unüberlegte, unschöne oder unhistorische Beeinträchtigungen des Ortsbildes empfunden. Ich habe die Verarbeitung des Strukturwandels in Ortschroniken bereits in anderen Zusammenhängen aufgegriffen, weshalb wir uns an dieser Stelle auf den Fortschrittsoptimismus der 1950er und 1960er Jahre konzentrieren können. Die Hannoversche Presse berichtete im Februar 1959 euphorisch über ein Ortschronik-Vorhaben in Degersen. Interessant ist hierbei vor allem der Anlass, den die beiden Autoren, der Bürgermeister und der Hauptlehrer, für die Entstehung ihrer Chronik angaben. Einer der Autoren hatte bereits zwei Jahre zuvor eine Chronik über die ältere Ortsgeschichte vorgelegt. Die Fortführung würde nun vor allem »auch das aktuelle Geschehen schwarz auf weiß festzuhalten und damit der Nachwelt ein wertvolles Nachschlagewerk in die Hand zu geben.« Hierbei solle der bauliche und infrastrukturelle Wiederaufbau der Gemeinde ab dem Jahr 1948 im Mittelpunkt stehen: »Schwierige Aufgaben drängten damals zur Entscheidung. Eine neue Schule mußte gebaut, die Wasserversorgung weitgehend verbessert werden. Zugleich wurden auch der Straßenausbau und die Kanalisation in Angriff genommen. Die Krone des unermüdlichen Schaffens der letzten Jahre bildet aber die Siedlung, die beide Ortsteile verbindet.« Dieses »unermüdliche Schaffen« beabsichtigen die Autoren in ihrer Chronik als gemeinschaftliche, zukunftsweisende Leistung zu präsentieren. Dazu heißt es in dem Zeitungsartikel: »Auch die Schwierigkeiten werden in der Chronik nicht verschwiegen. Sie kreisten immer wieder um das liebe Geld. Aber auch hier wußte der Bürgermeister Rat. Sein Appell an die Bevölkerung, Hand- und Spanndienste zu leisten, traf nicht auf taube Ohren. Jetzt hat Lango dieser Hilfsbereitschaft in der Chronik ein Denkmal gesetzt. Alle Frauen und Männer, die unentgeltlich an Maßnahmen der Gemeinde mitwirkten, werden namentlich
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erwähnt.«35 Das Degersener Beispiel ist kein Einzelfall: Zahllose Chroniken aus dieser Zeit zielen auf die Dokumentation der gemeinschaftlichen Wiederaufbauleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Die ortschronistische Begeisterung für Aufbau, Ausbau und Wachstum hielt während der 1960er Jahre ungebrochen an. Eine Festschrift des saarländischen Neuweiler aus dem Jahr 1962 begrüßte beispielsweise den rapiden Bevölkerungsanstieg des Ortes und die rasche Errichtung neuer Wohnsiedlungen als großen Fortschritt. Der Bürgermeister schrieb in seinem Geleitwort zur Chronik: »Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Neuweiler nach Sulzbach eingemeindet. Es zählte seinerzeit 100 Einwohner mit 10 Häusern. Diese Besiedlung erhöhte sich um die Jahrhundertwende auf 100 Häuser mit 865 Einwohnern. Der stürmische Aufstieg des Stadtteiles Neuweiler erfolgte im Jahre 1950, als die Stadt Sulzbach zum Neuordnungsgebiet erklärt wurde. Von diesem Zeitpunkt an ergab sich eine rege Wohnsiedlungstätigkeit. Heute befinden sich in diesem aufstrebenden Stadtteil 941 Wohngebäude mit 5460 Einwohnern.«36 In vergleichbarem Gestus priesen viele Heimatbücher den rapiden Ausbau der Verkehrswege, die Ansiedlung von Industrie oder auch den Anstieg des Tourismus – Themen, die ab den 1970er Jahren kritisch oder zumindest ambivalent gesehen wurden. In der Chronik des bayerischen Marktschorgast hieß es 1959: »In sehr rühriger Weise betätigte sich der mehrmals gewählte Bürgermeister Georg Wunderlich. Sein großes Verdienst ist der Bau zahlreicher Siedlungshäuser, die Pflasterung der Hauptstraßen, der Bau des Autobahnanschlusses am Goldberg und die Heranführung neuer Industrieunternehmungen 1957. So konnte Marktschorgast in wenigen Jahrzehnten ein Industrieort werden. Hauptlehrer Brückner i.R. half mit, Marktschorgast zu heben und zum Fremdenverkehrsort auszubauen.«37 In den folgenden Jahrzehnten wiesen immer weniger Ortschroniken eine vergleichbare Begeisterung für die rasante, gegenwärtige und vergangene Modernisierung sowie das Wachstum der Gemeinde auf. Die meisten Ortschroniken standen den vermeintlichen Errungenschaften der 1950er und 1960er Jahre zunehmend skeptisch gegenüber. Dadurch erodierte in Teilen auch der optimistische Blick in die Zukunft der Gemeinde, obwohl die Hoffnung auf bessere Zeiten weiterhin ein zentrales Kennzeichen des Genres blieb. Chronikautoren begannen nun jedoch weniger an die Auf- und Ausbaubereitschaft der Dorfbewohner zu appellieren, als vielmehr an das Bewusstsein für historische Spuren und Traditionen, die verschüttet zu werden drohten.
35 Ohne Autor : Dienste. Vgl. auch: Ohne Autor : Altenkirchen. 36 Neuweiler, Geleitwort ohne Paginierung. 37 Marktschorgast, S. 58.
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Konstanz früher Muster der Vergangenheitsbewältigung Aus der Perspektive dieser Studie zeichnen sich Ortschroniken verschiedenster Regionen durch eine auffallende Ähnlichkeit ihres Geschichtsbildes aus. Erstaunlich ist hierbei die Konstanz dieses Geschichtsbildes durch die Jahrzehnte. Das Genre der Heimatbücher weist eine ausgeprägte Eigenständigkeit auf; es scheint die Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaft und der nationalen Erinnerungskultur nicht oder nur sehr bedingt mit zu vollziehen. Die deutlichsten Entsprechungen weist der Umgang von Ortschroniken mit der nationalsozialistischen Vergangenheit jedenfalls bis heute zu den frühen Formen der »Vergangenheitsbewältigung« der 1950er Jahre auf. Betrachten wir ein aktuelles Beispiel aus dem Jahr 2012. Dem vierten Band der Chronik von Wilthen in Sachsen, die sich mit den Jahren von 1933 bis 1949 befasst, hat der Autor eine Zusammenfassung vorangestellt: »In der durch die Weltwirtschaftskrise stark angeschlagenen Weimarer Republik gelang es der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zu Beginn der 30er-Jahre, immer mehr Stimmen zu gewinnen. Am 30. 1. 1933 wurde ihre Vorsitzender Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt. Durch Verhaftungen, Einschüchterungen und Ermordungen schaltete Hitler innerhalb von nur wenigen Jahren alle Gegner aus, hob die Demokratie auf und errichtete eine Diktatur. Juden wurden von dem Regime gnadenlos verfolgt. Genauso aggressiv wie seine Innenpolitik war auch Hitlers Außenpolitik. Durch den Überfall auf Polen im Jahre 1939 beschwor Hitler den Zweiten Weltkrieg herauf, der Millionen Menschen das Leben kostete. In den nationalsozialistischen Vernichtungslagern im Osten starben allein mehr als sechs Millionen Juden. Am 8. 5. 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Hitlers ›totaler Krieg‹ hatte zur totalen Niederlage geführt. Deutschland war am Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt.«38 Hier handeln »Hitler«, das nicht weiter spezifizierte »Regime« oder »die NSDAP«. Diese (mehr oder weniger) ausschließliche Verantwortungszuweisung für die Entstehung und die Verbrechen des »Dritten Reichs« an die Person Adolf Hitler bzw. eine kleine Führungsclique fanatischer Nazis setzte sich im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenso schnell wie umfassend durch. Die Chronik von Epterode in Hessen zitiert im Jahr 2007 den Bürgermeister des Orts aus dem Jahr 1947 mit dem Motto: »Jeder sollte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß wir diese wegen ihrer langen Dauer doch sehr drückenden Zustände ausschließlich und allein Herrn Hitler und seinem Nationalsozialismus zu verdanken haben.«39 Zahlreiche Studien zur Vergangenheitsbewältigung, Erinnerungskultur oder 38 Wilthen, S. 3. 39 Epterode, S. 264.
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Ortschroniken zwischen Kontinuität und Wandel
Geschichtspolitik der Bundesrepublik haben gezeigt, wie verbreitet diese Sicht in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war. Vergleichbare Motive prägten – in elaborierterer Form – auch die ersten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Vergangenheit.40 Es lässt sich von einer allgemeinen gesellschaftlich-juristisch-wissenschaftlichen Entlastungsstrategie sprechen.41 Vor allem die Mittäterschaft weiter Kreise der Gesellschaft an der Judenverfolgung und -vernichtung blieb weitgehend unterbelichtet zugunsten einer vermeintlichen Hauptverantwortung der politischen Führung des »Dritten Reichs«.42 Hier trafen sich das intentionalistische Verständnis des NS-Regimes, das auf die Absichten der Führungsriegen abstellte, mit der Totalitarismustheorie, die eindeutige Top-down-Erklärungsmodelle für die Verteilung von Macht in der NSGesellschaft anbot. Insbesondere im Blick auf den Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkriegs erfolgte eine Verantwortungsverlagerung auf »den Führer«, der seine persönlichen Herrschaftspläne ebenso rigoros wie ungestört umgesetzt habe. Wie in den obigen Beispielen gesehen reproduzieren Ortschroniken dieses Muster bis heute.43 Ein weiterer zentraler Aspekt der »Vergangenheitsbewältigung« der Nachkriegsjahre war die rhetorische Verknüpfung der Opfer von Verfolgung und Krieg im Ausland mit den ›deutschen Opfern‹. Die deutsche Heimat sei, so die geläufige Argumentation, in gleicher Weise den NS-Machthabern als auch den folgenden Besatzungsmächten zum Opfer gefallen. Diese Sicht war Alon Confino zufolge mit einem Heimatverständnis verbunden, das Heimat als passiv auffasste, als Entität, die leiden, aber nicht selbst Leid zufügen konnte, die verteidigt werden konnte, aber nicht selbst angreifen konnte.44 In diesem Sinne gingen und gehen Ortschroniken von einer passiven Heimat aus, die Opfer in mehrfacher Hinsicht geworden ist, die jedoch selbst praktisch keine Täter hervorbrachte. Der Großteil derjenigen, die sich aus der Heimat schuldig gemacht hatten, waren in erster Linie der Verblendung, Verführung oder Verirrung erlegen, für die der verbrecherische Staat verantwortlich gemacht werden konnte – und von diesem lässt sich die ›eigentliche Heimat‹ in Ortschroniken bis heute deutlich unterscheiden. Diesem Muster kommt in Ortschroniken und Heimatbüchern eine ausgeprägte räumliche Komponente zu. Die Externalisierung »der Nazis« – und damit 40 Christoph Cornelißen konstatierte, dass es sowohl Gerhard Ritter als auch Friedrich Meinecke gelang, »das Dritte Reich aus der Kontinuität der deutschen Geschichte auszuklammern, es als die Folge eines dem deutschen Volk aufgezwungenen Willkürregimes zu deuten, das auf die dämonische Verführungskunst Hitlers und seine erfolgreiche Manipulation ›atomisierter Massen‹ zurückgehe« (Cornelißen: Erforschung, S. 220). 41 Vgl. Kühne: Tatmotivationen. 42 Cornelißen: Erforschung, S. 235–236. 43 Vgl. als weitere besonders prägnante Beispiele nur Kreuzebra, S. 278–279; Haching, S. 593. 44 Confino: »Country«, S. 241–243.
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der Verantwortlichkeit für die während der Jahre 1933 bis 1945 begangenen Verbrechen – bedeutet hier eine Externalisierung aus der Dorfgemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist wiederum an die engen geografischen Grenzen des Dorfes gebunden.45 Der Nationalsozialismus drang demnach von außen in das Dorf ein. Galt die Geschichtsschreibung der 1950er Jahre zum Nationalsozialismus als »nationalapologetisch«,46 ließe sich über Ortschroniken sagen, dass sie »dorfapologetisch« waren und sind. Eine Aussortierung der nationalsozialistischen Täter aus der Heimat, die in der nationalen Öffentlichkeit schon sehr bald nicht mehr aufrechtzuerhalten war, hat sich in der Chronik-Historiografie bis heute fortgesetzt, allerdings mit dem engen Bezugsbereich des eigenen Heimatorts. Was die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« in den 1950er Jahren auf der nationalen Ebene vorgezeichnet hat, spiegeln Ortschroniken als lokalisierte Form der Externalisierung des Nationalsozialismus noch immer wider. Die weitgehende Marginalisierung deutscher Täterschaft in der »Vergangenheitsbewältigung« der Nachkriegszeit ließ viel Raum für die eigenen Opfer. Die »Trümmer- und Heimkehrerliteratur« dieser Zeit hat »sich weniger den Ursachen und Praktiken der nationalsozialistischen Herrschaft als ihrem Ende und damit der Realität im Nachkriegsdeutschland« gewidmet.47 Auch diese Schwerpunktsetzung lässt sich bis heute in Ortschroniken beobachten. Die Thematisierung des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegsjahre nimmt bei der Darstellung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg oft einen prominenten Platz ein. Diese Tendenz verstärkte sich in Heimatbüchern parallel zum gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs von »Zeitzeugen« seit den 1970er Jahren.48 Zwar erfahren in den Ortschroniken der letzten Jahrzehnte auch andere Opfergruppen, wie zum Beispiel die damals ansässigen Juden, eine zunehmende Berücksichtigung, doch bleibt hierbei eine grundlegende Zuständigkeitstrennung spürbar : Die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Tätern (die kritische Aufarbeitung der NS-Geschichte im Allgemeinen) assoziieren Ortschronik-Autoren mit einer überregionalen, staatlichen Sphäre, für die »die Forschung« zuständig sei, während das Hauptfeld der Ortschronistik die OpferErfahrungen der (ehemaligen) Zeitzeugen bleibe. Für die Parallelen, die die Chronik-Historiografie zu den zentralen Motiven 45 Der »Rückzug« auf die engere Umgebung bot sich für die Dissoziation von Nationalsozialismus und Lebenswelt in besonderer Weise an, vgl. Andresen: Heimatbund, S. 4. Dieser Befund weicht von Alon Confinos Analysen ab, da dieser von einer grundlegenden »Austauschbarkeit von Heimat als lokalem, regionalem und nationalem Bild« ausgeht, Confino: »Country«, S. 245. 46 Cornelißen: Erforschung, S. 220. 47 Lühe: Verdrängung, S. 247. 48 Vgl. Sabrow/Frei: Geburt.
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der Vergangenheitsbewältigung der 1950er Jahre aufweist, sowie für deren Persistenz, lässt sich keine einfache Ursache anführen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Ortschroniken nur sehr mittelbar in Zusammenhang mit den Konjunkturen der nationalöffentlichen Vergangenheitsbewältigung standen und stehen. Vermutlich ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren für die auffallende Ähnlichkeit verantwortlich. Zuerst einmal liegt es nahe, die wortgetreue Wiedergabe älterer Erzählungen und Berichte, die aus den 1950er und 1960er Jahren stammen, in späteren Chroniken dafür verantwortlich zu machen. Nicht selten werden lange Textpassagen aus Quellen der Nachkriegszeit übernommen, ohne dies zu kommentieren und manchmal sogar, ohne es überhaupt kenntlich zu machen. Wie an anderer Stelle gesehen hängt dieses Vorgehen mit der Vorstellung einer grundlegenden historischen Kontinuität der Dorfgeschichte zusammen. In diesem Rahmen erscheinen frühere Chroniken bzw. Chronikmanuskripte nur ergänzungs-, aber nicht überarbeitungsbedürftig; sie müssen fortgeschrieben, statt in ihrer Zeitgebundenheit gewürdigt zu werden. Darüber hinaus könnte der hohe Stellenwert persönlicher (mündlich tradierter) Erinnerungen in Ortschroniken eine wichtige Rolle spielen. Deren Weitergabe erfolgt, wie zahlreiche Studien gezeigt haben, vorrangig im familiären Kontext, das heißt weitgehend unabhängig von der öffentlichen Erinnerungskultur.49 Trotz aller Modifikationen, die die transgenerationelle Weitergabe mit sich bringt, liegt vermutlich auch hierin ein Grund der Kontinuität älterer Erzählmuster in gegenwärtigen Chroniken. Wiederum gilt: Chroniken verstehen sich als Forum einer generationsübergreifenden Erzählgemeinschaft, in dem die unveränderte, wörtliche Wiedergabe von Erinnerungen wichtiger ist als ihre konsequente Historisierung. Weitere Hinweise, die ich im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht weiter verfolgen kann, könnten sich aus dem Medienkonsum der Chronikautoren ergeben – sofern sich hier Verallgemeinerungen treffen lassen. Bislang liegen dazu jedenfalls keine Erhebungen vor. Wie verschiedene Analysen nachgewiesen haben, hängen erinnerungskulturelle Leitmedien der letzten Jahrzehnte wie Film und Fernsehen zu großen Teilen einem Bild des NS-Staates an, das den 1950er Jahren nahe steht. Viele erfolgreiche Spiel- und Dokumentarfilme über das »Dritte Reich« blenden die Bedeutung der Gesellschaft nahezu aus und personalisieren die Hauptverantwortung an der Entstehung und den Verbrechen des Regimes.50 Es ist denkbar, dass derartige Deutungsangebote Chronikautoren und -leser ansprechen und damit einen gewissen Einfluss auf den Inhalt von Ortschroniken haben könnten. Letztlich handelt es sich hierbei jedoch um Spekulationen. Aus der Perspektive der vorliegenden Studie ist vor 49 Vgl. Welzer/Moller/Tschugnall: »Opa«; Mettauer : Generationen; Rosenthal: Holocaust. 50 Vgl. Heer: »Aufklärungsverweigerer«.
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allem eines entscheidend: Die vorherrschenden Momente der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit sind direkt kompatibel mit dem in Heimatbüchern dominanten Verständnis der Ortsgeschichte als geschlossener räumlich-sozialer Einheit. Die Auslagerung der Verantwortung für den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ergänzt sich wechselseitig mit der hermetischen Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte.
Ortschroniken und Geschichtsschreibung
Heimatgeschichte und Ortschroniken Ortschroniken und Heimatbücher erfuhren einen erheblichen Aufwind im Laufe der 1970er Jahre. Die Publikationszahlen stiegen in allen Regionen deutlich an. Diese Entwicklung verlief parallel zum Bedeutungsgewinn des Heimatbegriffs im Allgemeinen. Nicht wenige Historiker und vor allem auch Volkskundler riefen eine »neue Heimatbewegung« aus.1 Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Heimat stellten sich allerdings ihre subjektiven und emotionalen Konnotationen als Problem dar. Der Begriff stand außerdem im Verdacht, ein romantisierendes und harmonisierendes Weltbild zu stützen.2 Darüber hinaus schien der Heimatbegriff in besonderer Weise historisch belastet zu sein – durch die bürgerlichkonservativen und nationalsozialistischen Vereinnahmungen, die er im Laufe der Moderne erfahren hatte.3 Der Begriff hatte schwer an seinem ideologischen Missbrauch im nationalistischen und völkischen Sinn zu tragen. Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die Geschichte der Heimatkunde bzw. -forschung, insbesondere der Heimatgeschichte, im 20. Jahrhundert, bevor wir sie im Anschluss in Beziehung zum Genre Ortschronik setzen.
Heimatgeschichte vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Die erste Konjunktur erfuhr »Heimat« am Ende des 19. Jahrhunderts; zugleich erlebte sie ihre erste existenzielle Krise. Das Bürgertum dieser Zeit legte ein aus1 Carl-Hans Hauptmeyer spricht wie andere Autoren auch von einem »Heimatboom«, Hauptmeyer : Heimatgeschichte, S. 81; vgl. Moosmann (Hg.): Heimat; Dülmen/Schindler (Hg.): Volkskultur. 2 Bausinger: Heimat, S. 82. 3 Darauf wiesen vor allem auch die ostdeutschen Beobachter der westdeutschen Heimat-Renaissance hin, vgl. Franke: Heimat; Lange: Heimatideologie.
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geprägtes Bedürfnis an den Tag, sich umfassend mit der vermeintlich bedrohten Heimat zu befassen sowie Maßnahmen zu ihrem Schutz einzuleiten. Die vielerorts gegründeten Heimatvereine beschäftigten sich mit wesentlich mehr als nur der Geschichte der Heimat, unter anderem mit Volkstum, Sprache, Archäologie und Denkmalschutz.4 Parallel gewann das Thema Heimat in der Malerei und Literatur an Bedeutung. Es entstand ein mehr oder weniger eigenständiges Genre der »Heimatkunst«.5 Alle Aktivitäten einte die Sorge, dass die Heimat durch verschiedene moderne Einflüsse, allen voran Industrialisierung, Urbanisierung und Kapitalismus, gefährdet würde.6 Zu dieser Zeit rückte die semantische Verknüpfung von Heimat mit »Ländlichkeit« bzw. »Bäuerlichkeit« stark in den Vordergrund – eine Assoziation, die den Heimatbegriff bis in die 1970er Jahre dominieren sollte. Die Heimatschützer stellten eine angeblich »ursprüngliche Heimat« den stetig wachsenden Städten gegenüber.7 Das traditionelle Landleben drohe durch die Zentralisierung wichtiger gesellschaftlicher Ressourcen und Funktionen, wie zum Beispiel der Lohnarbeit, in wenigen Großstädten marginalisiert zu werden. Umgekehrt greife die Sozialstruktur der städtischen Gesellschaften auf das Land aus und führe zur »Lockerung aller festen Bindungen« und einer Vermassung in sozialer und kultureller Hinsicht.8 Damit einher gehe eine zunehmend »materialistische« Mentalität, die sich in allen Gesellschaftsschichten ausbreite. Diese Befunde hatten eine psychologische Dimension, drohten sie doch die psychische Eigenart des deutschen Volkes zu verwischen als auch die geistige Stabilität des Individuums aus dem Gleichgewicht zu bringen.9 Nicht zuletzt würden einst verbreitete volkstümliche Bräuche vielerorts in Vergessenheit geraten.10 Als Gegenbild konstruierten zahlreiche Heimataktivisten eine vormoderne Idealgesellschaft, in der eine stabile Gesellschaftsordnung bestanden habe. In diesem – meist auf das Mittelalter bzw. die Frühe Neuzeit projizierten – Ideal sei zudem die psychische Ausgeglichenheit der damaligen Menschen sowie ihre Verbundenheit mit dem jeweils lokalen Brauchtum garantiert gewesen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begannen sich diese Strömungen zu einer breiten »Heimatbewegung« auszuwachsen.11 Die Gründungsdaten zahlreicher lokaler und überregionaler Verbände zur Heimatpflege und Publikationsorgane fallen in diese Zeit.12 1904 wurde in Berlin unter der Leitung 4 Ich konzentriere mich hier auf die Entwicklung in Deutschland; zur internationalen Vernetzung des frühen Heimatschutzes siehe Schlimm: »Entente«. 5 Boa/Palfreyman: Introduction, S. 2. 6 Cremer/Klein: Heimat, S. 33; Ditt: Heimatbewegung, S. 135; Rollins: Heimat, S. 106. 7 Bausinger: Identität, S. 18. Vgl. Knaut: Rudorff, S. 28. 8 Weniger : Heimat, S. 57–58. 9 Knaut: Rudorff; Ditt: »Westfalengrus«, S. 191. 10 Störzner : Gemeinden, S. 6. 11 Ditt: Heimatverein. 12 Knaut: Rudorff, S. 37–42; Ditt: Heimatbewegung, S. 138.
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des Hochschullehrers Ernst Rudorff der »Deutsche Bund Heimatschutz« als Dachverband gegründet. Darüber hinaus verbreitete sich die Praxis, »Heimatbücher« zu Geschichte, Brauchtum, Sagen und Landschaft einzelner Orte zusammenzustellen. Diese Schriften entwickelten sich in der Weimarer Republik zu einem regelrechten Massenphänomen. Das erklärte Ziel war es, jeden noch so abgelegenen Ort mit einer »Heimatkunde« auszustatten.13 Sie wurden in aller Regel von Autoren aus dem Bildungsbürgertum verfasst und stellen Vorläufer der hier untersuchten Publikationen dar ; gelegentlich ist auch von »Ortschroniken« die Rede.14 Ihre Verbreitung stand in Zusammenhang mit dem Aufkommen der »Volksgeschichte«, für die sich viele Heimathistoriker seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatten. In Ergänzung zur Geschichte von Staat und Nation, die im Wesentlichen als Politikgeschichte betrieben worden war, wollte sie die vergleichsweise unspektakuläre Geschichte des Volkes untersuchen; eine Geschichte, die sich in allen Gegenden des Reichs, auch den kleinsten Gemeinden vollzog und die kaum sprunghafte Entwicklungen zu verzeichnen hatte, sondern sich in sehr langfristigen Entwicklungszeiträumen abspielte.15 Die »erste Heimatbewegung« zeichnete sich durch einen ausgeprägt missionarischen Impetus aus. Ihre Vertreter wollten das Heimatbewusstsein aller Bevölkerungsgruppen stärken. »Die Träger dieser Bewegung rekrutierten sich vor allem aus dem pädagogischen Mittelstand: Geistliche, Oberlehrer und Volksschullehrer – Heimat ist nicht mehr etwas, was man ›hat‹, sondern was ›dem Volk‹ in einem breit angelegten Erziehungsprogramm nahegebracht werden mußte.«16 Diese bildende Absicht intensivierte sich seit der Jahrhundertwende und vor allem in der Weimarer Republik.17 Ausdruck hiervon ist die allgemeine Etablierung eines heimatkundlichen Schulunterrichts. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag eine Fülle von Unterrichtsanleitungen vor, die die Initiative von Lehrern auf diesem Gebiet fördern und sie bei selbständigen Forschungen unterstützen wollten. So beispielweise eine Schrift des österreichischen Konservatoren Josef Blau aus dem Jahr 1915, die ein Propädeutikum für geografische, zoologische und anthropologische ebenso wie künstlerische, genealogische und historische Heimatforschungen bereitstellte. Darüber hinaus präsentierte der Text eine Reihe von »Quellen und Hilfsmittel des Heimatforschers«: von Archiven, Museen und Büchereien über Karten und Zeichnungen. Blau betonte, dass die heimatkundliche Bildung direkt zum »Heimatschutz« beitragen sollte,
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Blau: Heimatforscher, S. 7. Vgl. Faehndrich: Geschichte, S. 53–64; Beer : Heimatbuch, S. 19. Störzner : Gemeinden, S. 3. Bernheim: Lokalgeschichte, S. 19. Trittel: Geschichtswerkstätten, S. 27. Ditt: Heimatbewegung, S. 142–144.
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indem sie ein entsprechendes Bewusstsein bei Lehrern wie Schülern gleichermaßen erzeugte.18 Zum einen sah die Heimatkunde vor, die Hinwendung zur Heimat durch die künstlerische, beispielsweise zeichnerische, Aneignung zu fördern. Zum anderen stand jedoch fest, dass die lokale Heimatforschung »den strengen Forderungen der Wissenschaft […] standhalten können« musste.19 Alle heimatkundliche Forschung war nur als Abbild der disziplinären, akademischen Wissenschaft denkbar. Dass beispielsweise Landwirte und andere Nicht-Akademiker historische Geschehnisse ihres Dorfes aufschrieben, stellte in der ersten Heimatbewegung eine deutliche Ausnahme dar. Auch stand die Bevorzugung klassischer historischer Quellenarten vor mündlichen Erzählungen außer Frage.20 Nach wie vor blieb zudem eine deutliche Asymmetrie bestehen im Blick auf das Verhältnis der Geschichte »bescheidener Orte« gegenüber der allgemeinen Geschichte, die sich in den Zentren des Reichs abspielte. Alle Rechtfertigungen, die Geschichte kleinerer, abgelegener Orte ebenfalls zu erforschen, bezogen sich letzten Endes auf ihren (mittelbaren) Beitrag zur nationalen Geschichte; oder im Duktus des volksgeschichtlichen Paradigmas: auf ihren Stellenwert als »Bausteine zu einer Gesamtvolksgeschichte«.21 Betrachten wir die zentralen Charakteristika des Heimatbegriffs der ersten Heimatbewegung etwas genauer. Zuallererst fällt sein essentialistischer Charakter auf. Hierzu lohnt ein Blick in eine der prominentesten Schriften der älteren Heimatkunde: Eduard Sprangers »Vom Bildungswert der Heimatkunde« aus dem Jahr 1923. Spranger sah die persönliche Identität seiner Zeitgenossen durch die Verstädterung sowie die funktionale Differenzierung der Gesellschaft bedroht. Letztere schlage sich auch in der Zergliederung der Welt durch eine zu weit getriebene Spezialisierung der Wissenschaft nieder. Die Heimatkunde hingegen solle einen ganzheitlichen, »totalisierenden« Ansatz vertreten. Sie habe den Menschen wieder an seine »organische« Einbindung in Volk, Natur und Kultur zu erinnern. Spranger vertrat hierbei einen außerordentlich emphatischen, gleichsam mystisch aufgeladenen Heimatbegriff. In jedem Fall war Heimat an einen spezifischen Ort gebunden. Dies müsse nicht zwangsläufig der Geburtsort sein; er sei es jedoch im Normalfall. Im Gegensatz zum bloßen »Milieu«, sei Heimat der Ort, wo der Mensch »mit dem Boden und mit allem Naturhaft-Geistigen, das diesem Boden entsprossen ist, innerlich verwachsen ist.« Die naturräumlichen, historischen, kulturellen etc. Aspekte verbänden sich hierbei mit einer – im späteren Leben kaum veränderlichen – inneren Prägung 18 19 20 21
Blau: Heimatforscher, S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. Wittersheim, S. 10–11. Die Formulierungen stammen aus Tille: Ortsgeschichte, S 1; vgl. auch Bernheim: Lokalgeschichte, S. 17–19, 21.
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des Individuums. »Heimat ist erlebte und erlebbare Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr : Heimat ist geistiges Wurzelgefühl.«22 Außerdem ist die Beschäftigung mit Heimat vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg auf eine dezidierte Verbindung von lokaler und nationaler Heimat ausgerichtet gewesen. In politischer Hinsicht sollte die Stärkung des lokalen Heimatgefühls zugleich zur Stärkung der nationalen Identifikation beitragen.23 Hierbei übernahm die Rede von der Heimat einige Topoi aus den Debatten um Sozialhygiene und Volksgesundheit, die ebenfalls seit der Jahrhundertwende Konjunktur hatten.24 Der Heimatbegriff erwies sich auch als anschlussfähig an völkische und rassenhygienische Thesen. Beispielsweise sollte die Heimatforschung in der Lausitz die jahrhundertealte Auseinandersetzung von »Slawen« und »Deutschen« bewusst machen und die Region damit auch für zukünftige Auseinandersetzungen zwischen beiden Volksgruppen wappnen, so die programmatische Schrift eines Geistlichen aus dem Jahr 1903. Heimatliebe sollte in diesem Zusammenhang Hand in Hand gehen mit einem klaren Bewusstsein für und Bekenntnis zum »Deutschtum«.25 Ein »Merkbuch für den Heimatforscher« hingegen, das 1926 in Sachsen publiziert worden war, empfahl zusätzlich zu der geologischen, botanischen, klimatischen, historischen und kulturellen Bestandsaufnahme anthropologische Untersuchungen vorzunehmen, beispielweise Familien- und Reihenuntersuchungen zu »Hautlinien auf den Fingerkuppen«, »Handlinien«, »Gesichtsbildung« und vielen weiteren Merkmalen. Auch riet das Buch die Erstellung von Statistiken über häufig vorkommende Krankheiten an. Damit könne der Heimatforscher einen direkten Beitrag zur »Vererbungsforschung im Heimatbezirk« leisten, was wiederum zur »Erhaltung des kostbarsten Gutes der Heimat, des gesunden Menschen, der Frucht und Schoß des Volksganzen« beitrüge.26 Es waren nicht zuletzt diese nationalistischen und völkischen Elemente, die den Heimatbegriff attraktiv für die nationalsozialistische Diktatur machten. In diesen wie in weiteren Punkten erwiesen sich die erste Heimatbewegung und das nationalsozialistische Weltbild als »nahe beieinander«, was zu einer raschen Vereinnahmung der Heimatkunde durch den NS-Staat führte – eine Entwicklung, die von nicht wenigen Heimatforschern begrüßt wurde.27 Das neue Regime 22 Spranger : Bildungswert, S. 11–25. 23 Cremer/Klein: Heimat, S. 39; Bausinger : Identität, S. 18–19; Confino: Nation. Diese Verknüpfung erfuhr durch die Mobilisierung der Gesellschaft im Rahmen des Ersten Weltkriegs eine weitere Forcierung. Die »Heimatfront« verband die Bedrohung von Nation und Heimat aufs Engste miteinander, Gebhard/Geisler/Schröter : Heimatdenken, S. 28–33. 24 Greverus: Heimatrecht, S. 66–68; Ditt: »Westfalengruss«, S. 194–195. 25 Störzner : Gemeinden, S. 10. 26 Frenzel: Merkbuch, S. 50–53; vgl. auch Einöd-Ingweiler, S. 3. 27 Ditt: »Westfalengruss«, S. 201.
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strebte danach, alle heimatkundlichen Aktivitäten in einer zentralen Organisation zusammenzufassen und so an Partei und Staat zu binden. Ein Großteil der Heimatverbände trat dem im Juli 1933 gegründeten »Reichsbund Volkstum und Heimat« bei. Allerdings löste dieser sich ein Jahr später wieder auf. Im selben Jahr schloss sich der Deutsche Bund Heimatschutz sodann der NS-Kulturgemeinde an. Es mangelte zudem nicht an weiteren NS-Organisationen, die mit den bestehenden Heimatvereinigungen kooperierten und sie dadurch gleichsam kontrollierten.28 Die Mitgliederzahlen der Heimatorganisationen wuchsen in den 1930er Jahren stark an.29 Auch florierte die Veröffentlichung von Heimatbüchern. Die Abfassung und regelmäßige Fortführung von Ortschroniken sollte zum allgemeinen Standard in allen Reichsgegenden werden.30 Vor allem die Kraft durch Freude-Kreisdienststellen taten sich bei der Förderung der ehrenamtlichen »Dorfbucharbeit« hervor.31 Während des Zweiten Weltkriegs hatte die Arbeit der Heimatorganisationen ihren ideologischen Beitrag zu leisten, um die nationalsozialistische Kriegsführung zu legitimieren und die Motivation der Bevölkerung zu sichern. Die Führung fortlaufender »Kriegschroniken« sollte den »Einsatz aller Kräfte« zur Unterstützung des Krieges mobilisieren.32 Die Heimatforschung arbeitete darüber hinaus der Vertreibungs-, Vernichtungsund Siedlungsprogramme in den eroberten Ostgebieten zu.33 Differenzen zwischen der Heimatbewegung und dem NS-Staat bestanden vor allem darin, dass der Nationalsozialismus – vereinfacht gesprochen – der Moderne gegenüber aufgeschlossener und zentralistischer agierte.34 Auch forcierte das Regime eine stärkere »Unterhaltungs-Orientierung« der Heimatbildung, die unter anderem auf groß angelegte Festveranstaltungen setzte.35 Überschneidungen gab es demgegenüber recht viele. Heimatforschung und NS-Ideologie trafen sich vor allem in der Idealisierung des bäuerlichen Lebens und seiner Stilisierung zur eigentlichen Quelle deutscher Kulturleistungen. Die Heimatkunde sollte und wollte zur Stärkung der »Dorfgemeinschaften« beitragen, aus denen sich dann auf nationaler Ebene die »Volksgemeinschaft« zusammensetzen würde.36 Das Regime sprach von einer »nationalen Aufgabe«: Das bedeutete, 28 Ebd., S. 205–206; Schaarschmidt: Regionalkultur, S. 11–12. 29 Ditt: Heimatbewegung, S. 150–151. 30 Ohne Autor : Chronik. Bei der Umsetzung dieses Zielvorgabe zeigten sich große regionale Unterschiede; so auch bei dem Engagement, das die lokalen Verwaltungen diesbezüglich an den Tag legten, vgl. als Beispiel die Prüfung der Gemeindechroniken durch den Amtsbürgermeister von Büchenbeuren im Hunsrück, in: LHARLP, 655, 200 Nr. 151. 31 Ohne Autor : Dorfbucharbeit. 32 Ohne Autor : Dorfbuch; ohne Autor : Kriegschroniken. 33 Ditt: »Westfalengruss«, S. 209–212. 34 Ebd., S. 202. 35 Ditt: Heimatbewegung, S. 149. 36 Ohne Autor : Notwendigkeit.
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dass »die Menschen auf dem Dorfe über das Erlebnis der kleinen dörflichen Heimat zum Begreifen ihrer großen völkischen Bedingtheit und Aufgabe« geführt werden sollten.37 Einige Vertreter der älteren Heimatbewegung hatten diese Verbindung bereits mit biologistischen Wendungen beschrieben; der Nationalsozialismus verstärkte diese Stoßrichtung lediglich, indem er betonte, dass die Dorfgemeinschaft die »Keimzelle« des »Volkskörpers« darstellte.38 In diesem Zusammenhang flossen zudem dezidiert rassenkundliche Elemente in die Heimatbücher der NS-Zeit ein. Die Heimatkunde leistete ihren Beitrag dazu, der Bevölkerung das rassenanthropologische Denken näher zu bringen. Beispielsweise lehrte das Heimatbuch des Kreises Fallingbostel aus dem Jahr 1935, dass die Bevölkerung des Kreises »ein vorwiegend fälisch-nordisches Rassengemisch« darstellte, »wobei der fälische Typ stark überwiegt«. Die Chronik bezog sich auf frühzeitliche, archäologische Funde sowie einschlägige rassenkundliche Veröffentlichungen von Hans F.K. Günther und anderen. Sie führte ihre Leser in das alltägliche ›Sehen-Lernen‹ von Rassenunterschieden ein, beispielsweise indem es die typischen Schädelformen der »nordischen« und der »fälischen Rasse« beschrieb.39 Eine weitere wichtige Funktion, die insbesondere den Heimatbüchern der NS-Zeit zukam – auch dies zeigt das Beispiel Fallingbostel –, lag darin, den nationalsozialistischen Staat politisch zu legitimieren. Es war die erklärte Aufgabe derartiger Publikationen, die Entstehungsgeschichte der NSDAP in der Region zu rekonstruieren; die »schwierigen Verhältnisse«, unter denen sie sich etabliert hatte, sowie ihre vermeintlichen Erfolg nach 1933.40 Die »nationalsozialistische Bewegung vor Ort« sollte zu einem festen Bestandteil der Lokalgeschichte werden. Gleichsam sollten Heimatbücher das Medium sein, in dem der fortlaufende Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung im Kleinen dokumentiert wurde. Hierzu lohnt ein Blick in die Akten des Amts Büchenbeuren im Hunsrück aus den 1930er Jahren. Der Amtsbürgermeister ließ sich jährlich alle Gemeindechroniken vorlegen, kommentierte Versäumnisse und regte Überarbeitungen an.41 Zur Chronik des Ortes Belg heißt es beispielsweise in der Kritik an den Autor : »Sodann müsste […] geschildert werden, wie der nationale Umbruch in Belg im Besonderen in Erscheinung getreten ist, z. B. wie das Erbhofgesetz aufgenommen wurde und wie es sich ausgewirkt hat. In diesem Zusammenhang wäre zunächst allgemein auszuführen, wieweit sich der Geist der neuen Zeit Eingang verschafft hat, wie der Gedanke der Volksgemeinschaft Fuss gefasst hat, 37 38 39 40 41
Ohne Autor : Dorfbucharbeit. Ohne Autor : Quellenbuch. Fallingbostel, S. 46–47. Ebd., S. 13–18. Siehe die Akten in: LHARLP, 655, 200 Nr. 151. Der Amtsbürgermeister legte wiederum dem Landrat gegenüber Rechenschaft über die Chronikarbeit in seinem Gebiet ab.
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wie sich die N.S.V. betätigt hat usw. Schliesslich fehlen die Vorgänge der letzten Zeit, wie der Heimgang von Hindenburg, der Übergang der Machtbefugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer, die Volksbefragung vom August 1934, die Wandlung zum Einheitsstaat, der Führergedanke in Reich, Gemeinde und Wirtschaft usw. Es wird dringend empfohlen, die Chronik nach dem mitgeteilten Leitfaden zu gestalten, da nur so die Gewähr für ihre Vollständigkeit gegeben ist.«42 In einem anderen Beispiel aus demselben Bestand rät der Amtsbürgermeister der Gemeindeverwaltung von Beuren an, den Ortschronisten auszutauschen, da er den politischen Anforderungen an die Heimatgeschichte nicht nachkomme: »Es muss beanstandet werden, dass die Chronik – vergleiche 1933/ 34 – viel Langes und Breites über Ernte, Wetter und Mistmachen enthält, dagegen die grossen geschichtlichen Ereignisse unserer Zeit nicht einmal erwähnt. Daraus geht hervor, dass der Chronist dem heutigen Geschehen empfindungslos gegenübersteht. Das aber macht ihn unfähig, die Chronik so zu gestalten, dass sie das Leben der Gemeinde treu widerspiegelt.«43
Heimatgeschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den 1970er Jahren Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein großer Teil der heimatpflegerischen Aktivitäten ab. Die großzügige öffentliche Förderung entfiel und der Heimatbegriff hatte einen deutlichen ambivalenten Beigeschmack erhalten. Die weiterhin bestehenden Initiativen litten an den Folgen der teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Indienstnahme der Heimatforschung durch das »Dritte Reich«. In den 1960er Jahren kam die allgemeine »Planungs- und Wachstumseuphorie« hinzu, die die bundesrepublikanische Gesellschaft seit dem »Wirtschaftswunder« erfasst hatte und die der eher »rückwärtsgewandten« Heimatforschung keinen wirkmächtigen Raum ließ.44 Vor diesem Hintergrund distanzierten sich auch die Landesgeschichte und die universitäre Geschichtswissenschaft weitgehend von heimatgeschichtlichen Themen. Auf der gesellschaftlichen Ebene erfuhr der Heimatbegriff eine deutliche Marginalisierung bis in die 1970er Jahre.45 Im lokalen und regionalen Bereich zeigten sich jedoch sehr bald Bemühungen, die Heimatgeschichte wiederzubeleben, die direkt an die ältere Heimatkunde der Weimarer Republik und des Kaiserreichs anschlossen.46 Im 42 Brief des Amtsbürgermeisters Büchenbeuren an Droege, 15. 2. 1935, in: LHARLP, 655, 200 Nr. 151. 43 Brief des Amtsbürgermeisters Büchenbeueren an Stoffel, 15. 2. 1935, in: LHARLP, 655, 200 Nr. 151. 44 Cremer/Klein: Heimat, S. 36. 45 Vgl. Neumeyer : Heimat, S. 39–48. 46 Vgl. z. B. Reeken: Kontinuität.
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organizistischen und essentialistischen Duktus der ersten Heimatbewegung ging es diesen – geographisch begrenzten – Bestrebungen weiterhin darum, »echt verwurzelte Heimatliebe […] zu schaffen«.47 Der »Heimatbedarf« im lokalen Raum war vielerorts ungebrochen.48 In der Forschungsliteratur ist wiederholt auf den eskapistischen Charakter dieses Bedarfs angesichts von Chaos, Unordnung und Zerstörungen der Nachkriegsjahre hingewiesen worden.49 Die Bedienung dieses Bedarfs fiel in den 1950er und 1960er Jahren allerdings von Region zu Region sehr unterschiedlich aus. Eine stabile Institutionalisierung der Heimatforschung gelang nur in manchen Gegenden. Ein hervorstechendes Beispiel ist die »Arbeitsgemeinschaft für Landesgeschichte und Volkskunde des Trierer Raumes« in der »Gesellschaft für Nützliche Forschungen zu Trier«. Der Zusammenschluss von Laien und Akademikern zur Förderung von Lokalgeschichte, Volkskunde, geografischen und biologischen Arbeiten publizierte ab den 1950er Jahren eine vergleichsweise große Anzahl an ortsgeschichtlichen Monographien. Hierbei erhielt die Arbeitsgemeinschaft finanzielle Unterstützung durch das Land Rheinland-Pfalz sowie das Bundeministerium des Inneren.50 Der Begriff der »Heimat« behielt in den Nachkriegsjahrzehnten darüber hinaus im Umkreis von Flucht und Vertreibung sein Gewicht.51 Die »verlorene Heimat« war Erinnerungsobjekt sowie Politikum zugleich. Unter den Flüchtlingen und Vertriebenen entstand die Praxis, »Heimatbücher« über ihre Geburts- und Wohnorte in den ehemaligen Ostgebieten zu schreiben. Diese meist inoffiziellen Publikationen waren vor allem an den Kreis der gleichsam »Betroffenen«, also die (imaginierte) Gemeinschaft der Vertriebenen der jeweiligen Kommune, gerichtet. Einen deutlichen Anstieg erlebten die Publikationszahlen allerdings erst – wie bei Heimatbüchern im Allgemeinen – in den 1970er Jahren.52 Viele heimatgeschichtliche Schriften der Nachkriegsjahrzehnte waren weiterhin von der nationalistischen und völkischen Ausrichtung der älteren Heimatgeschichte geprägt; einzelne Veröffentlichungen wiesen sogar eindeutig rassistisches und nationalsozialistisches Gedankengut auf. Es dauerte einige Jahre bis diese Züge aus der ortsgeschichtlichen Literatur verschwanden. Im Ganzen gesehen verlief die Entwicklung jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Wie im Hauptteil dieser Studie gesehen verabschiedete sich die (Laien-) Vortragseinladung Amtsbürgermeister König, Morbach 1954, in: LHARLP, 655, 175, Nr. 764. Behrens: Identität, S. 256; Holtmann: Heimatbedarf. Vgl. Appelgate: Nation, S. 228–229. Vgl. Dr. Steinlein: Förderung der landesgeschichtlichen und volkskundlichen Forschung im Regierungsbezirk Trier, 31. 7. 1955, in: LHARLP 655, 175 Nr. 764. 51 Schlegel: Heimatgeschichte, S. 522. 52 Faehndrich: Geschichte; dies.: Entstehung; Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (Hg.): Heimatbücher ; Kampf: Gesamtbibliographie.
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Heimatforschung bzw. Ortschronistik in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von der dezidierten Verbindung von Heimat und Nation. Diese Entwicklung lässt sich nicht auf explizite programmatische Vorgaben zurückführen. Es ist nichtsdestoweniger augenfällig, dass sich das Gros der Heimatbücher durch eine ebenso rasche wie gründliche Entkopplung des Lokalen von der Nation auszeichnete. Bisherige Studien zum Heimatbegriff beschrieben das Gegenteil: eine »Lokalisierung der Nation«, die sich seit dem Kaiserreich eingestellt habe.53 Betrachtet man Ortschroniken und Heimatbücher der Bundesrepublik, so kommt man nicht umhin, eine Umkehr dieser Bewegung zu konstatieren. Die Ortschronik-Historiografie war eben kein Instrument, »die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Tradition und Lokalität für die Nation zu richten«, wie Celia Applegate schrieb.54 Das Genre arbeitete stattdessen an einer Ent-Nationalisierung von Heimat. Dieser Prozess fand sein Gegenstück in dem parallelen Bestreben, Heimat als »politikfreie Zone« zu konzipieren.55 Das Verhältnis von Laien- und Expertenforschung im Bereich der Heimatgeschichte blieb in den 1950er und 1960er Jahren im Wesentlichen ein hierarchisches. Heimatforschung von Nicht-Akademikern fand nur punktuell Anerkennung; und dann auch nur als eine Art »hilfswissenschaftliche« Ergänzung des professionell erarbeiteten Wissens.56 Genügte ein Manuskript oder eine Publikation diesen Maßstäben nicht, so sparten die Experten selten mit vernichtender Kritik und Polemik und führten die Mängel auf die fehlende Orientierung an den Vorgaben wissenschaftlicher Fachleute zurück.57 Hilfestellungen für Laienforscher konzentrierten sich zum allergrößten Teil auf die Erschließung von Archivquellen.58 Ohnehin sprachen derartige Ratgeber in 53 Siehe vor allem Applegate: Nation; Confino: Nation. 54 Applegate: Nation, S. 19; Übersetzung von mir (»Right up to the present, it [Heimat] has focused public attention on the meaning of tradition and locality for the nation itself.«). Vgl. Wickham: Heimat. 55 Neumeyer : Heimat, S. 44. Viele Vertreter von Heimatvereinigungen der 1950er und 1960er Jahre wiesen zwar auf die politische Bedeutung ihrer Tätigkeit hin; diese Bedeutung bestand jedoch vor allem in der Abwehr jeglicher – vor allem totalitärer – Politisierungsversuche ›von oben‹. Mehr oder weniger deutlich stand die Stärkung der Heimatbindung des Einzelnen einer »Vermassung« und »Entpersönlichung« gegenüber, die in erster Linie mit totalitären Staaten wie dem »Dritten Reich« oder der DDR assoziiert wurden. Individuelle Heimatbindung verhindere die »Degradierung zum Objekt eines Kollektivs«, formulierte beispielsweise 1952 der nordrheinwestfälische Ministerpräsident und Erste Vorsitzende des Rheinischen Heimatbundes Karl Arnold, Karl Arnold: Aufruf an die Heimatvereine und heimatkundlichen Einrichtungen des Rheinlandes, Oktober 1952, in: LHARLP, 910 Nr. 10368. 56 Vgl. z. B. Heider-Neuburg: Ortsgeschichte, insbes. S. 48–49. 57 Vgl. z. B. den Brief von Karl-Heinz Mieles an Heimatbund Niedersachsen e.V., 10. 6. 1949, in: HSTAH, V.V.P. 17 Nr.. 3517. 58 Vgl. z. B. Heinemeyer : Grundfragen, S. 5.
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erster Linie vorgebildete Fachleute wie Landeshistoriker an und wiesen einen dezidiert technischen Charakter auf. Die »Mitteilungen zur trierischen Landesgeschichte und Volkskunde« publizierten 1958 beispielsweise einen »Wegweiser zur Abfassung einer Ortsgeschichte«, der in 18 Stichpunkten die notwendigen und optionalen Inhalte eines solchen Projektes auflistete. Die direkte Ansprache historiografischer Laien findet sich in diesem Text ebenso wenig wie eine Besprechung mündlicher Quellen oder alternativer Quellensorten. Im Zentrum stehen Urkunden, Dokumente und weitere Archivalien sowie überregionale Statistiken und Fachbücher. Erst ganz zum Schluss, in Punkt 18, taucht der etwaige Wert von »Örtliche[n] Quellen, Darstellungen, Sammlungen zur Dorfgeschichte« auf. Es sei »sicherlich lohnend« diese auch zu sichten, sofern sie sich »bei alteigesessenen Familien« finden ließen.59 Andere Ratgeber, wie zum Beispiel der Text eines Staatsarchivdirektor aus Schwaben aus dem Jahr 1961, führten Beispiele missglückter Ortschroniken mit unsystematischem Inhaltsaufbau vor und stellten daraufhin Richtlinien für eine standardisierte Gliederung auf, die in erster Linie »wissenschaftlich fundiert« und »logisch« auszufallen hatte.60 Laien-Heimatforscher konnten vor diesem Hintergrund nur als Quasi-Fachhistoriker eine begrenzte Anerkennung finden. Ihre Fähigkeiten mussten den Vergleich zur »strengen Wissenschaftlichkeit« bestehen, ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen kam höchstens ein randständiger Wert zu. Hinzu kam, dass die kleinen Räume, die private Heimatforscher bearbeiteten, in der thematischen Hierarchie der Geschichtswissenschaft ohnehin weit unten rangierten. Im Vordergrund stand die Nationalgeschichte. Daran änderte auch die ab den 1960er Jahren aufkommende Historische Sozialwissenschaft mit ihrem Fokus auf der Gesellschaftsgeschichte vorläufig nichts. Davon abgesehen machte »Heimat« in den Nachkriegsjahrzehnten eine umfassende Kommerzialisierung durch, die sie in ein Freizeit- und Konsumobjekt transformierte. In diesem Sinne war Heimat vor allem in nostalgischen oder folkloristischen Formen von Interesse.61 Ausdruck dieser Entwicklung ist zum Beispiel der Boom des »Heimatfilms« in den 1950er Jahren.62 Den Kommunen
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Heyen: Wegweiser, S. 14; vgl. Herrmann: Ortschronik, S. 43. Heider-Neuburg: Ortsgeschichte, S. 49. Bausinger: Heimat, S. 83–86. Boa/Palfreyman: Introduction, S. 10–12. Der eskapistische, harmonisierende Heimatfilm der Nachkriegszeit verlor in den 1960er Jahren rasch an Bedeutung; stattdessen verbreitete sich eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik in der deutschen Kunst- und Unterhaltungsindustrie. Es entstanden »Anti-Heimatfilme«, die auf ein vermeintlich reaktionäres Heimatbild reagierten und stattdessen von Gewalt geprägte, zerrüttete und ausgrenzende Verhältnisse präsentierten. Der Heimatbegriff suggerierte kaum mehr als »traditionelle Zwänge und Bindungen«, ebd., S. 11–13; vgl. Cremer/Klein: Heimat, S. 36. In dieser künstlerischen bzw. intellektuellen Demontage der »Heimat« war paradoxerweise
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eröffnete sich ein neues Feld des »lokalen Marketings«. Heimat wurde in den Stadt-, Kreis- und Gemeindeverwaltungen nunmehr unter dem Gesichtspunkt ihrer Werbewirksamkeit diskutiert. Nehmen wir das Beispiel der rheinlandpfälzischen Stadt Traben-Trarbach. Zu Beginn der 1950er Jahre entbrannte dort eine Kontroverse um den neuen »Heimatführer« des Ortes.63 Der Heimat- und Verkehrsverein Traben-Trarbach e.V. protestierte gegen eine angeblich voreingenommene Berichterstattung in der Lokalpresse. Diese hatte die Kritik einiger Mitglieder der Stadtverwaltung an der Publikation wiedergegeben. An dem Pressebericht sowie den Eingaben des Heimatvereins wird deutlich, dass die öffentliche Verwaltung bei der Diskussion lokalgeschichtlicher Publikationen deren Werbequalität in den Mittelpunkt rückte. Es ging weniger um die Auswahl und Qualität der historischen Inhalte; diese war freilich nicht unwichtig, jedoch zweitrangig. Entscheidend war, dass die Werbeanzeigen für den Weinanbau des Nachbarortes, der die Broschüre ebenfalls finanziell unterstützte, zu dominant seien. Demgegenüber müsse die eigene (Wein-)Werbung Traben-Trarbachs sichtbarer gemacht werden in zukünftigen Veröffentlichungen. Der Hinweis des Heimatvereins auf seine Bemühungen um heimatgeschichtliche Bildung und Aufklärung ging in diesen Debatten nahezu unter ; er stand auch im Schreiben des Vereins in Konjunktion mit der lokalen »Werbung«: »Als führender Heimatverein erwarten wir von einer ›Heimatzeitung‹ [Traben-Trachbacher Zeitung] alles andere, als daß sie unsere gemeinnützigen, gelungenen Bemühungen um heimatliche Aufklärung und Werbung nur wegen eines nebensächlichen Schönheitsfehlers so herausfordernd abtut.«64 Es gab nicht wenige engagierte Heimatforscher, die diese Kommerzialisierung beklagten, insbesondere im Blick auf die Veröffentlichung städtischer Werbebroschüren oder auch die Veranstaltungen von Festen mit (pseudo-)historischem Hintergrund und die Pflege (halb-)erfundener lokaler Bräuche und Trachten.65 Aufhalten konnten sie diesen Trend letztlich jedoch kaum.
jedoch der Beginn eines neuen gesellschaftskritischen Aufschwungs des Begriffs angelegt (siehe unten). 63 Siehe die Unterlagen aus dem Jahr 1952 in: LHARLP, 645 Nr. 52. 64 Brief von Paul Ochs/Franz Urban an die Direktion des Trierischen Volksfreundes, 8. 7. 1952, in: LHARLP, 645 Nr. 52. 65 Vgl. H. Gronau: Heimatfeste – kritisch betrachtet, ohne Datum [1952–1962], in: HSTAH, V.V.P. 17 Nr. 3518; Beilngries, S. VII.
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Die neue Heimatbewegung Im Laufe der 1970er Jahre verbreitete sich ein neues Interesse am Heimatbegriff in der BRD.66 Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen konstatierten eine unerwartete gesellschaftliche Konjunktur des Begriffs, und zwar in so vielfältigen Zusammenhängen wie: »Denkmalpflege, Altstadtsanierung und Dorferneuerung, neues Geschichtsbewußtsein, Altstadtfeste, Jubiläen, Nostalgie, Dialekt, Volkslied, kulturgeschichtliche Museen«, um nur eine beispielhafte Aufzählung der Volkskundlerin Ina-Maria Greverus wiederzugeben.67 Auch Ortschroniken schlugen nun immer öfter offensive Töne gegenüber einem vermeintlichen einseitigen Zukunftsprimat der Gesellschaft in den vorangehenden Jahrzehnten an, demgegenüber die geschichtliche Dimension der Heimat (wieder) stärker betont werden müsse.68 Volkskundler, Historiker und andere hatten jedoch mehr im Sinn: Sie forderten eine systematische NeuAneignung des Begriffs. Stand in den 1960er Jahren die Zurückdrängung von »Heimat« als Überrest einer überwunden geglaubten Epoche nationalistischer und rechtskonservativer Heimatkunde im Vordergrund, wollte die Wissenschaft das neue Heimatinteresse der 1970er Jahre vielmehr konstruktiv aufgreifen und in emanzipatorische und aufklärerische Bahnen lenken. Der Begriff müsse ganz neu besetzt werden oder er drohe abermals zur Spielwiese unreflektierter und schädlicher Ideologien zu werden. Es etablierte sich die Unterscheidung einer vergangenen, romantisierenden, affirmativen, verklärenden, deutschtümelnden Heimatpflege und einer gegenwärtigen Neufassung kritischer Heimatbeschäftigung.69 Die neue Heimatgeschichte nahm dadurch, zumindest in der akademischen Diskussion, einen eminent politischen Charakter an.70 Heimathistoriografie sollte einer reflektierten Aneignung von Heimat in der Gegenwart zuspielen. Die »Wiedergewinnung von Heimat« dürfe, so ein Leitfaden für Laienforscher, keine »rückwärtsgewandte idyllische Verklärung, Abkapselung bedeuten«, sie müsse sich stattdessen »auf die konkrete Umwelt und ihre Probleme« einlassen. Im Besonderen bedeutete dies in den 1970er und 1980er Jahren, »Heimat als Ort 66 Vgl. als frühen, noch recht diffusen Ausgangspunkt die Rundfunk-Diskussion zum Thema dokumentiert in Mitscherlich/Kalow (Hg.): Hauptworte. Die Heimatbewegung beschränkte sich auch diesmal nicht aufs Historische, vgl. Lecke (Hg.): Lebensorte; Bredow/Foltin: Zufluchten. An diese Stelle steht jedoch weiterhin die Heimatgeschichte im Mittelpunkt. 67 Greverus: Heimat, S. 21. 68 Vgl. z. B. Sprötze, S. 5. 69 Vgl. z. B. Kinter/Kock/Thiel: Spuren, S. 19; Cremer/Klein: Heimat, S. 36; Korff: Hinweise. Vgl. auch Trittel: Geschichtswerkstätten, S. 26–27, die allerdings darauf hinweist, dass die Unterscheidung von affirmativer und emanzipatorischer Heimatgeschichtsschreibung in der Praxis oft verwischt werden würde, ebd. S. 30. 70 Vgl. Maier : Volkskunde, S. 367.
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möglichen Widerstands gegen Umweltzerstörung, Stadtsanierung, kapitalistische Rationalisierung und Zentralisierung« in Stellung zu bringen. Des Weiteren schien sich die Heimatforschung gegen eine vermeintliche »Entfremdung« des Individuums mobilisieren zu lassen.71 Auch sollte ihre Aneignung zur »Pluralisierung von Lebensstilen« sowie zur »Multikulturalität« der Gesellschaft beitragen.72 Für die akademischen Stichwortgeber der neuen Heimatbewegung entwickelte sich »Heimat« zur Chiffre für Umweltschutz, Fortschrittsskepsis und Demokratisierung. Die Heimatbewegung knüpfte damit an zentrale Ziele der alternativen sozialen Bewegungen an. Das neue Interesse an der Heimatforschung schlug sich in Institutionalisierungsprozessen nieder. Es wurden neue Forschungseinrichtungen gegründet, die einen emphatischen, zugleich kritischen Heimatbegriff vertraten. Verschiedene Institute mit volkskundlicher, anthropologischer oder kulturwissenschaftlicher Ausrichtung nahmen sich der Forcierung einer emanzipativen Heimatforschung an, so beispielsweise das 1974 eröffnete Institut für Kulturanthropologie und europäische Ethnologie an der Universität Frankfurt am Main unter der Leitung von Ina-Maria Greverus.73 Eine weitere bekannte Einrichtung stellte das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft dar, das der Volkskundler Hermann Bausinger an der Universität Tübingen ins Leben gerufen hatte. Überhaupt versuchte vor allem die – zu neuem Selbstbewusstsein gelangte – Volkskunde einen großen Teil des Feldes für sich zu reklamieren. Davon legte auch die 1979 veranstaltete Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde mit dem Titel »Heimat und Identität« ein beredtes Zeugnis ab. Im Zuge dieser Institutionalisierungsprozesse entwickelten die Heimatforscher ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein, dass auf die Initiierung neuer Laienprojekte ebenso abzielte wie auf die Beratung und qualitative Verbesserung bereits laufender Unternehmungen. Hermann Bausinger hatte zum Beispiel die wissenschaftliche Leitung des 1980 erschienenen »Zeitungskolleg: Heimat heute« inne, das Arbeitsanleitungen und -materialien für Heimatforscher bereitstellte. Das Zeitungskolleg verbreitete seine Schriften nicht nur über Tageszeitungen, sondern auch in Schulen und Volkshochschulen sowie vielen weiteren öffentlichen Einrichtungen.74 Die Heimatforschung der 1970er und 1980er Jahre reformulierte »Heimat« aus einer konstruktivistischen Perspektive. Von den festen ontologischen Bindungen an den umgebenden (Natur-)Raum, die die erste Heimatbewegung bestimmt hatten, war kaum noch etwas übrig geblieben.75 Die Bezüge zwischen 71 72 73 74 75
Kinter/Kock/Thiele: Spuren, S. 19. Cremer/Klein: Heimat, S. 50–53. Greverus u. a. (Hg.): Kulturtexte; dies. (Hg.): Suche; dies.: Mensch. Zeitungskolleg (Hg.): Heimat. Cremer/Klein: Heimat, S. 46–47.
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dem Ort der Geburt, des Aufwachsens oder des Wohnens und der »Heimat« hatten sich merklich gelockert. Der Zusammenhang von Heimatempfinden und Lebenswelt erschien nicht mehr als gegeben, sondern als offenes Feld vielfältiger Forschungsbemühungen.76 Der Fokus auf vermeintlich fixe landschaftliche und relativ stabile architektonische und kulturelle Merkmale wich einem Verständnis von Heimat als Beziehungsnetz. Der kommunikative Aspekt von Heimat trat in den Vordergrund. »Heimat als sozialer Raum eröffnet sich in lebens- und alltagsweltlichen Interaktionen, innerhalb von Bekanntschaften, Freundschaften, Nachbarschaften oder Arbeitskollegialität.«77 Durch die Lockerung räumlicher Bezüge verwandelte sich Heimat in etwas, das in einem konstruktiven Prozess (aktiv) hergestellt werden musste. Es gab Heimat nicht mehr ohne Weiteres, sie musste fortlaufend »angeeignet« werden.78 Hierbei öffnete sich der Heimatbegriff für eine prinzipiell unbegrenzte Palette kultureller Phänomene, wie beispielsweise Fußballmannschaften oder Skinhead-Gruppen.79 Zum Ende der 1980er Jahre wichen die emphatischen, politischen Ziele der neuen Heimatbewegung einer weitgehenden Ernüchterung. Der Heimatboom in Wissenschaft und Gesellschaft flaute ab und ließ statt begrifflicher Präzision eher Unschärfe und eine nach wie vor ungebändigte De- und Konnotationsvielfalt zurück.80 Die umfangreiche, zweibändige Bestandsaufnahme zum Themenkomplex »Heimat«, die die Bundeszentrale für politische Bildung 1990 herausgab, zeugt eher vom graduellen Bedeutungsverlust des Begriffs als von seiner Signifikanz für wissenschaftliche und gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse.81 Die schillernde Vielfalt der Kontexte und der Perspektiven, die die Autoren des Sammelbandes auf das Phänomen warfen, verdeutlichen zwar, dass »Heimat« weiterhin in vielen Gesellschaftsbereichen relevant war, sie zeigen zugleich, dass sich die »Heimatforschung« nicht als kanonisiertes Forschungsfeld etablieren konnte – vergleichbar etwa der Alltagsgeschichte.82 Während der Begriff für die Geschichtswissenschaft zum wiederholten Mal an Bedeutung verlor, blieb er in der Volkskunde gebräuchlicher. In den letzten Jahren näherten sich zudem verstärkt Untersuchungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dem Phänomen »Heimat«, unter anderem mit raumanalytischen Ansätzen.83 Für die Geschichtsdidaktik blieb die Heimatgeschichte ein Teilbereich, in dem das zentrale Problem der Vermittlung von subjektiven Erfahrungswelten 76 77 78 79 80 81 82 83
Vgl. Molt: Heimat, S. 227. Cremer/Klein: Heimat, S. 48. Bausinger: Heimat, S. 87–88; Greverus: Einleitung, S. 14. Zeitungskolleg (Hg.): Heimat, S. 85–98. Vgl. Neumeyer : Heimat, S. III, 1–5. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Heimat. Vgl. Gebhard/Geisler/Schröter (Hg.): Heimat. Vgl. Eigler/Kugele (Hg.): Heimat; Eigler : Approaches; Fischer : Hämmer.
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und objektiven Strukturen – in Schule und Erwachsenenbildung – vergleichsweise anschaulich behandelt werden könne.84 Die politisch-emanzipative Stoßrichtung, das zeigen die Aufsätze des Sammelbandes der Bundeszentrale, hatte Heimat allerdings weitgehend verloren. Auch in den 1990er Jahren verfolgen viele Äußerungen zur Heimat weiterhin gesellschaftliche Ziele, jedoch keineswegs mehr mit der gleichen Verve und Verheißung, wie dies in den 1970er und 1980er Jahren der Fall gewesen war. Die problematischen Konnotationen antimoderner, emotionaler Sehnsüchte nach stabiler Zugehörigkeit – in räumlicher und sozialer Hinsicht – sind dem Begriff dagegen erhalten geblieben, was seinen Gebrauch weiterhin verkompliziert. In der Chronik-Historiografie ist bis heute oft von »Heimat« die Rede, allerdings ohne besondere begriffliche Reflexionen. Das Verhältnis von professionellen und Laienforschern im Feld der Heimatgeschichte nahm ab den 1990er Jahren hauptsächlich den eines Arbeitsverhältnisses zwischen ungleichen Partner an. Sofern Heimatpublizisten dem weiterhin geltenden Ideal der Wissenschaftlichkeit frönen, ist ihnen seitdem eine zwar deutlich begrenzte, aber dauerhafte Sprechposition »am Rande« der akademischen Debatten gewiss. Im Gegenzug hat diese Partnerschaft allerdings auch zur Legitimation akademischer Forschungsinstitutionen im Bereich der Alltags-, Heimat- und Regionalgeschichte beigetragen und trägt weiterhin dazu bei. Der Regionalhistoriker Carl-Hans Hauptmeyer hat dies in idealistischer Weise als »Bereitschaft vieler Wissenschaftler, den ›Elfenbeinturm‹ zu verlassen« beschrieben. In demselben Zusammenhang verwies er allerdings auch auf die existenziellen Vorteile dieser Aufklärungsbereitschaft: »Dies geschieht offensichtlich aus der Erkenntnis heraus, daß die Vermittlung der eigenen Forschungsergebnisse an ein interessiertes Publikum der beste Garant zur Festigung eines Geschichtsbewußtseins und zur zukünftigen Sicherung des eigenen Tuns ist.«85 Dieses symbiotische Verhältnis ist umgekehrt von dem fortgesetzten Interesse der Laien abhängig, sich bei ihren heimatgeschichtlichen Aktivitäten durch etablierte, wissenschaftliche Experten beraten und unterstützen zu lassen. Der ausgeprägt gesellschaftspolitische Charakter, der diese Beziehung in den 1970er und 1980er Jahren bestimmt hatte, ist jedoch deutlich in den Hintergrund getreten.
84 Vgl. Richterhoff: Geschichte; Knoch/Leeb (Hg.): Heimat; Voit: Geschichte, S. 50–53. 85 Hauptmeyer : Rückblick, S. 23. Vgl. auch: »Populärwissenschaftlich zu publizieren ist kein Makel mehr, sondern fast schon eine Pflicht für renommierte Historiker; über die Weiterbildungseinrichtungen der Universitäten in Volkshochschulen Geschichtskurse ›auf dem Lande‹ anzubieten, ebenfalls.« (Ebd.)
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Die Konjunktur von Heimat angesichts ihrer sozialstrukturellen Auflösung Die Vertreter beider »Heimatbewegungen« – sowohl im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie in den 1970er und 1980er Jahren – agierten im Bewusstsein faktischer Auflösungstendenzen von Heimat.86 Das jeweils explodierende diskursive Interesse an der Heimat traf beide Male mit der Diagnose ihres realen Verlusts zusammen. Wie eingangs beschrieben stand die Konjunktur von Heimat ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang damit, dass »tiefgreifende soziale und kulturelle Folgen gesellschaftlicher Modernisierung« die »vertrauten Erfahrungsräume und Lebensweisen« der Menschen zerstören würden.87 Hierbei seien vielschichtige Prozesse des Wandels am Werk, die sich gegenseitig in der Gefährdung von Heimat verstärken würden. Viele Autoren der ersten Heimatbewegung fürchteten die Folgen einer allzu »schnellebigen Zeit«, die sich unter anderem durch »Weltverkehr und Freizügigkeit« und durch »Völkerverschiebung und moderne Völkerwanderung« auszeichne und die »vieles aus unser Väter Tage« endgültig zu verschütten drohe sowie die Eigentümlichkeit aller Ortschaften nivelliere.88 In den 1970er Jahren war mit ähnlicher Stoßrichtung, doch neuem Vokabular vom »Strukturwandel« die Rede, der die größeren Städte genauso wie kleineren Orte und die ländliche Gesellschaft treffe. Die landwirtschaftliche Produktion war von einschneidenden Transformationen betroffen. Kleine landwirtschaftliche Güter verloren ihre Rentabilität. Landwirtschaftliche Betriebe wurden allerorts vergrößert; ihre Maschinisierung wurde massiv vorangetrieben. Beides trug zum Verlust von Arbeitsplätzen und zur Abwanderung aus ländlichen Gebieten bei. Diese Prozesse bildeten den Hintergrund der Gebietsreform in den frühen 1970er Jahren, die die Eigenständigkeit im Blick auf Verwaltung und Versorgung vielerorts aufgehoben hatte.89 In der Wahrnehmung der Einwohner stellten die Eingemeindungen dieser Jahre eine massive Bedrohung der Identität kleinerer Orte dar.90 In stadtnahen Dörfern entstanden währenddessen neue Bevölkerungsschichten, vor allem die »Berufspendler«. Aus den städtischen Zentren ausgreifende Urbanisierungsprozesse erfassten jedoch nicht allein die umliegenden Gebiete, sondern im Prinzip alle Orte landesweit. Es hieß, dass die ländlichen Gegenden zur »Provinz« und »Peripherie« degradiert würden, indem 86 Diese Analogie stellten bereits die Zeitgenossen der »neuen Heimatbewegung« fest, vgl. Bausinger : Identität, S. 18. 87 Cremer/Klein: Heimat, S. 36. 88 Störzner : Gemeinden, S. 6. 89 Merkl: Small Town. 90 Attenberger : Wege, S. 186. Die Migrationsprozesse zur Zeit der ersten Heimatbewegung hatten eine ähnlich umfangreiche Welle von Eingemeindungen zur Folge gehabt, Reulecke: Geschichte, S. 207.
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sie sich faktisch in »innere Kolonien« der urbanen Zentren verwandeln würden.91 Es war von einer »vernichtenden Dominanz der Metropolen« die Rede, die nicht selten mit dem Wirken großer »Konzerne« assoziiert wurde. Beide, große Städte und große Unternehmen, würden ihre »Warenindustrie« und »KonsumKultur« alternativlos über das gesamte Land verbreiten.92 Andere Beobachter konstatierten, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft bzw. die Zentralisierung dieser Funktionen, den Dörfern ihre existenzielle Versorgungsfunktion geraubt und sie von Heimaten zu mehr oder weniger abgelegenen Wohnorten degradiert habe.93 Hinzu kam die zunehmend als Einschränkung der Lebensqualität erfahrene Bebauung des Naturraums. Gleiches galt für die bauliche ›Modernisierung‹ historischer Dorfzentren. Der Kampfbegriff »Beton« entwickelte sich zum omnipräsenten Anathema des Heimatdiskurses.94 Im Laufe der 1970er Jahre entstanden Versuche, beispielsweise von Carl-Hans Hauptmeyer an der Universität Hannover ausgehend, eine regionalgeschichtlich informierte Dorf- und Stadtplanung sowie »Kulturlandschaftspflege« zu etablieren. Auf der Grundlage historischer Kenntnisse galt es »zu schützen, zu bewahren, zu pflegen und zu erneuern«, was durch jüngste gesellschaftliche Entwicklungen – teilweise im Wortsinn – verschüttet zu werden drohte.95 In diesen Zusammenhängen nahmen viele akademische Autoren Bezug auf einen Entfremdungsbegriff, der sich marxistischer Theoreme bediente, vor allem in der von Ernst Bloch geprägten Fassung.96 Prominent war zudem Alexander Mitscherlichs Diagnose der »Unwirtlichkeit« der Städte, die zu einem »entfremdeten Wohnen, Wohnen ohne Identität, ohne Mitgestaltung, ohne Aktivität« geführt habe, was gleichsam für das dörfliche Leben gelte.97 Die zeitgenössische Gesellschaft basiere auf »heimatfeindlichen« Normen wie Mobilität, Flexibilität oder Patchwork-Identitäten.98 Die professionellen Heimatanalysten in Wissenschaft und Publizistik, die derartige Niedergangsszenarien vorzeichneten, betonten in aller Regel, dass der Weg zur Rückkehr in die »dörfliche Idylle« unmöglich sei.99 Was an die Stelle der sich auflösenden Dorfstrukturen treten sollte, ob neben einer »Regression zu 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Lecke: »Geschichte«, S. 32. Vgl. Elfner : Wandel, S. 362. Moosmann: Einleitung, S. 8. Lecke: »Geschichte«, S. 33–34. Vgl. zur Kritik an Siedlungsstruktur und Architektur von Dörfern und Städten die Texte im Kapitel 4 »Holzwege aus Sichtbeton« in: Zeitungskolleg (Hg.): Heimat. Hauptmeyer : Rückblick, S. 15–16. Vgl. auch die von Bundesland zu Bundesland variierenden Konzepte der »Dorferneuerung«, die alle von einer vergleichbaren Ausgangsdiagnose ausgingen, Attenberger : Wege. Vgl. z. B. Ullrich: Entdeckungsreise, S. 405. Greverus: Einleitung, S. 14. Greverus: Heimat, S. 34. Elfner : Wandel, S. 366.
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Wohngemeinden« neue Formen entstehen könnten, blieb nicht selten unkonkret. Vor dem Hintergrund des konstruktivistischen Heimatbegriffs, der weniger auf die Inhalte als auf die Prozesse der Aneignung abstellte, mangelte es jedoch nicht an generellen Appellen, Heimat in der »Heimatlosigkeit« moderner Siedlungen neu zu schaffen.100 Nachdrücklich ausgeschlossen wurde jedenfalls ein in die Vergangenheit gerichteter Eskapismus. Wissenschaftler warnten immer wieder vor der Gefahr einer »bloß« beschaulichen, nostalgischen und unkritischen Zuwendung zu »guten, alten Zeit« bzw. dem Festhalten an überkommenen Heimatbegriffen.101 Vertreter des Ludwig-Uhland-Instituts entlarvten beispielsweise die Bürger des südwestdeutschen Ortes Hausen dabei, wie sie ihren »Heimatort« als zentrales Moment der Identitätsbildung bewahrten, obwohl die sozialstrukturellen Bedingungen hierfür bereits seit Langem weggebrochen seien. Freilich wirke die Hausener Lebenswelt weiterhin auf ihre Bewohner ein, allerdings in gänzlich anderer Weise als deren beschönigendes Selbstverständnis dies behaupte. Während die Gemeinde bei ihren Einwohnern zu einem bloßen »Ideotop« verkommen sei, dessen wesentliche Züge der Vergangenheit entnommen seien, stand für die Forscher die »zunehmende Häßlichkeit der Städte, die wesentlich der kapitalistischen Produktionsweise zuzuschreibende Verödung der Planung und der Architektur« an vorderster Stelle.102 In den folgenden Jahrzehnten nahm die Drastik, mit der der drohende Verfall ländlicher Gesellschaften beschrieben wurde, ab. Dorferneuerungsprogramme und ähnliche Maßnahmen hatten die Folgen des Strukturwandels sowie die Auswüchse der Modernisierung der 1950er und 1960er Jahre zu einem gewissen Grad aufgefangen bzw. abgemildert. Viele Krisendiagnosen der 1970er und 1980er Jahre blieben jedoch weiterhin gegenwärtig. Zudem forderten neuere gesellschaftliche Entwicklungen, allen voran die Wiedervereinigung, die zunehmende Globalisierung oder auch die Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt, die Beschäftigung mit der Heimat in den Folgejahren auf vielfältige Weise heraus.103
100 Vgl. z. B. Sack: Beton; Morris/Hess: Nachbarschaft; Spitzer/Baumann/Salzmann: Kommunikation. 101 Vgl. z. B. Ullrich: Geschichte; ders.: Entdeckungsreise. 102 Jeggle: Krise, S. 107–108. 103 Vgl. Irsigler: Stellenwert, S. 16–17; Ludewig: »Ostalgie«; Hüppauf: Heimat; Gebhard/ Geisler/Schröter : Heimatdenken, S. 47.
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Ortschroniken und Geschichtsschreibung
Neue Heimatbewegung und Ortschroniken Die Essentialisierung des Dorfs Die Chronik-Historiografie weist keine direkten Bezüge zu den theoretischen Debatten der wissenschaftlichen Heimatforschung auf. In ihrer Praxis finden sich eher gegenläufige Tendenzen zu zentralen Forderungen der neuen Heimatbewegung. So forcieren Heimatbücher die räumliche Bindung von Heimat, also gerade den Aspekt, den die konstruktivistische Wiederbelebung des Heimat-Begriffs marginalisieren wollte. Ina-Maria Greverus hatte die Raumbezogenheit von Heimat zwar in mehreren Arbeiten als anthropologische Konstante formuliert; »Heimat« sei eine »Bezeichnung für menschliche Raumansprüche«.104 Dennoch betonte sie vor allem die aktive Aneignung von Heimat und ihre Prozesshaftigkeit. Ortschroniken gehen hingegen von der Gegebenheit von Heimat, und zwar in einem geografisch lokalisierbaren Sinn, aus. Aus ihnen spricht die (implizite) Annahme, dass Heimat Identität stiftet, indem sie als spezifischer Naturraum, aber auch als vergleichsweise stabile Tradition vorhanden ist. Ein solches Konzept von Heimat stand im Fokus der Kritik der neuen Heimatbewegung. Es hatte zwar auch in vielen beteiligten Wissenschaftsdisziplinen wie der Volkskunde bis in die 1960er Jahre bestanden, war dort jedoch spätestens in den 1970er Jahren endgültig überwunden worden. Die enge Kopplung von Raum und Kultur war nachhaltig in die Brüche gegangen. Volkskundler, Ethnologen oder Kulturgeografen kritisierten die »Essentialisierung« von Kultur durch eine »raumzentrierte Wirklichkeitsdarstellung«, die auf die »klar identifizierbare und lokalisierbare räumliche Existenz« von Kultur abstellen würde. Statt von einem »Territorialprinzip des Kulturellen« müsse man von ortsunabhängig »wähl- und gestaltbaren Lebensstilen« ausgehen.105 Der »räumliche Bezug von Gruppen« falle eher »multilokal« als hauptsächlich auf einen Ort konzentriert aus.106 Demgegenüber geht die Praxis der Ortschronistik bis heute von einer räumlichen Essentialisierung der Dorfgemeinschaft aus (ohne hierbei ein explizites Gegenprogramm zur wissenschaftlichen Kritik zu verfolgen). Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter haben vor einigen Jahren eine Periodisierung des Heimatdenkens anhand einer Schwerpunktverlagerung zwischen den Polen der Offenheit und Geschlossenheit vorgeschlagen. Hierbei beobachten sie eine tendenzielle »Öffnung« der Konzeption von Heimat durch die »neue Heimatbewegung« ab den 1970er Jahren.107 Es spricht einiges für diese Deutung; Chroniken streben allerdings in einer ge104 105 106 107
Greverus: Heimat, S. 27; dies.: Mensch. Werlen: Räumlichkeit, S. 1–2. Dickhardt/Hauser-Schäublin: Theorie, S. 15. Gebhard/Geisler/Schröter : Heimatdenken, S. 44–45.
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genläufigen Bewegung danach, die Heimat »geschlossen« zu halten, sie als Geschichte eines klar bestimmbaren Ortes einzugrenzen. Auf Chroniken trifft zu, was die Ethnologen Michael Dickhardt und Brigitta Hauser-Schäublin an der überkommenen Praxis ihres eigenen Faches kritisierten: Dieses habe durch seine »über die Jahrzehnte angefertigten Dorfstudien allein aufgrund ihrer methodischen Anlage eine homogenisierende, totalisierende und essenzialisierende Weltbeschreibung praktiziert […], die Gesellschaften und Kulturen im Sinne distinkter Einheiten an konkrete definierbare Orte« gebunden habe.108 Diese Aussage bezieht sich zwar in erster Linie auf außereuropäische Forschungsprojekte, doch beschreibt sie die Wirkung der hier untersuchten Ortschroniken aus Deutschland gleichermaßen. Es ist davon auszugehen, dass Chroniken die distinkte Räumlichkeit »ihres Ortes« durch die Eigenheiten ihrer Darstellung weitgehend konstruieren, statt sie – ihrem Selbstverständnis entsprechend – einfach aus der Realität zu übernehmen. Dieser Konstruktionscharakter zeichnet Chroniken nicht allein im Blick auf die räumliche Geschlossenheit des Dorfes, sondern auch auf die Dorfgemeinschaft aus. Heimatbücher tragen, ebenfalls ohne dies zu reflektieren, selbst zur Herstellung der Dorfgemeinschaft bei, die sie beschreiben. Manche Chroniken bezeichnen es sogar ausdrücklich als ihre Aufgabe, das »Heimatgefühl« der Gemeinschaft aktiv zu stärken bzw. zu erneuern: »Wir stellen uns der Aufgabe, unseren Mitbürgern das Gefühl für Heimat, Geschichte, Landschaft und Brauchtum zu vermitteln«, schreibt der Schwabhausener Bürgermeister in seinem Geleitwort zur Chronik. Diese Zielsetzung geht davon aus, dass das »Gefühl für Heimat« nicht bei jedem Ortsbewohner in der wünschenswerten Ausprägung vorhanden ist; es soll – mithilfe der Chroniklektüre – erzeugt werden. Doch handelt es sich hier nicht um die individuelle, plurale Aneignung einer Heimat, die auf Relationen oder Praktiken basieren würde, wie sie der neuen Heimatbewegung vorschwebte. Es geht um eine Heimat, die durch die Ortsgeschichte, wie sie die Chronik beschreibt, relativ eindeutig vorgegeben zu sein scheint. Die Heimat, so das Geleitwort, sei das »Erbe der Vorfahren«; sie werde nicht produziert, sondern »vorgefunden«: Aufgabe der Chronik sei es, diese Heimat »so zu übergeben, wie wir sie vorfinden«.109 Die Entpolitisierung des Ortes Eine weitere praktische Absetzbewegung der Ortschronistik gegenüber der Heimatforschung ist in dem Bestreben zu sehen, die dörfliche Heimat zu »entpolitisieren«. Das bedeutet einerseits, dass politischen Spaltungen innerhalb des 108 Dickhardt/Hauser-Schäublin: Einleitung, S. 17. 109 Schwabhausen, S. 7.
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Ortes gegenüber dem vorherrschenden Topos der Dorfgemeinschaft ein nachgeordneter Stellenwert zukommt. Es heißt andererseits, dass die eigentliche Politik in einer überregionalen, dem Dorf äußerlichen Sphäre zu verorten sei. Diese Stoßrichtung der Ortschroniken steht allen Bemühungen der Heimatforschung entgegen, den Heimatbegriff zu politisieren.110 Die neue Heimatgeschichte trachtete zwar danach, die konservative und nationalistische Färbung der älteren Heimatbewegung hinter sich zu lassen; sie wollte jedoch keineswegs jegliche politische Bedeutung von Heimat negieren, sondern den Begriff politisch neu besetzen. Heimat sollte einen offenen, aktiven, konstruktiven Prozess der Aneignung von Räumen und Lebenswelten durch demokratische, emanzipierte Staatsbürger bezeichnen. Die Ortschronik-Historiografie bewegt sich jenseits dieser Gegenüberstellung von konservativer und emanzipatorischer Heimatforschung. Statt ein bestimmtes Programm zu verfolgen, ist sie am ehesten dadurch charakterisiert, dass sie jegliche politische Dimension von Heimat und der Beschäftigung mit ihr weitgehend ausblendet. Ortschroniken stellen gewissermaßen die Forderung nach einem ontologischen, unpolitischen Heimatbegriff in praxi dar. Dies gilt sowohl gegenüber der älteren völkischen Politisierung als auch gegenüber dem emanzipatorischen Heimatbegriff der 1970er und 1980er Jahre. Ortschroniken sträuben sich unausgesprochen gegenüber allen politisierenden Ansprüchen, seien sie »völkisch« oder »kritisch«. Wie sich an verschiedenen Themenfeldern im Zusammenhang von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zeigen ließ, trennen Ortschroniken die Verbindung von Heimat und Nation auf, die bestimmend für die ältere Heimatbewegung war. Diese radikale Trennung von Orts- und Nationalgeschichte richtet sich zugleich gegen die links-kritische Heimatforschung der neuen Heimatbewegung. Mit ihrem Streben, die moderne »Kolonialisierung der Lebenswelt« zu bekämpfen, entwickelte die neue Heimatbewegung sich in der Praxis selbst zu einem Teil dieser Kolonialisierung: Sie schrieb einen politischdemokratischen Heimatbegriff vor. Das Gegenbild dieses Heimatbegriffs war die bloße »Detaildarstellung historischer Fakten einer Region«.111 Doch spricht aus der Ortschronik-Historiografie bis heute der Versuch, genau diese Darstellungsweise zu rehabilitieren und zu entpolitisieren. »Heimat« stellt in der Ortschronistik gerade nicht, wie Alon Confino dies behauptet hat, ein Medium dar, mittels dem stellvertretend Fragen der Nation verhandelt wurden, von »sozialen Spannungen« der gesamten Gesellschaft bis zu »immanenten Widersprüchen der deutschen nationalen Identität«.112 110 Vgl. Laak: Alltagsgeschichte, S. 34–35. 111 Greverus: Heimat, S. 21. 112 Confino: »Country«, S. 237. Abgesehen von dieser Differenzierung der Ortschronistik gegenüber anderen erinnerungskulturellen oder geschichtspolitischen Diskursen, wie sie
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Umkehr des Zerfalls Die neue Heimatbewegung ist von der Diagnose eines Zerfalls überkommener Sozialstrukturen in ländlichen Gemeinden ausgegangen. Dadurch seien auch traditionelle Identifikationsmöglichkeiten obsolet geworden. Wenngleich ihre Protagonisten kaum Einigkeit über alternative Formen erzielen konnten, sprachen sie sich doch entschieden für neue Wege der Identitätsbildung aus; diese sollten deutlich pluraler, multikultureller und weniger fix als in vergangenen Zeiten ausfallen. In Ortschroniken kommt dieses Bestreben nicht zum Ausdruck; sie sind vor allem ein Versuch, die in der Gegenwart beobachtete Auflösung älterer Strukturen aufzuhalten. Im Unterschied zur neuen Heimatbewegung fordern Heimatbücher praktisch nicht zur Bildung alternativer Identitäten auf. Vielmehr liegt ihr Hauptziel in aller Regel darin, die im Zerfall begriffene Dorfgemeinschaft bzw. die verfallenden Gemeinschaftswerte wiederzubeleben. Die Chronik von Bothfeld in Niedersachsen hat es sich zur Absicht gemacht, »die Identifikation der Einwohner mit ihrer Heimat zu verbessern und ihr Wir-Gefühl in ihrem alten Dorf, heute ein Stadtteil zu stärken«. Die Chronik nimmt mehrfach auf drastische Veränderungen der Siedlungsbildes des Orts in den letzten Jahrzehnten Bezug; dadurch drohten auch tradierte Werte verloren zu gehen. In typischer Weise fordert der Chronist angesichts dieser Herausforderungen die Rückkehr zu alten Gemeinschaftswerten: »›Wir schaffen was, wir helfen uns‹ und das damit verbundene Zusammengehörigkeitsgefühl sind Werte, die heute leider mehr und mehr verkommen«, lautet seine deutliche Mahnung.113 Angesichts des Verfalls überkommener Dorfstrukturen geht es Ortschroniken und Heimatbüchern nicht darum, neue Formen zu entwickeln, sondern vorrangig darum, verschüttete historische Spuren hervorzuholen und zu bewahren. Die Chronik des niedersächsischen Wenden behauptet beispielweise, dass das Dorf »[m]ehr als 300 Jahre lang überschaubar« geblieben sei, bis zum »Einsetzen des Baubooms von 1960 bis 1970«. In der Gegenwart würden materieller Zerfall, unüberlegte Neubebauungen (»mit ortsuntypischen Bauweisen«) und eine planlose Zersiedlung die Identität des Dorfs bedrohen. Der Chronikautor nimmt demgegenüber eine defensive Haltung ein. Es gelte den bedrohlichen Wandel aufzuhalten und die hergebrachten Traditionen zu konservieren: »Der Charakter eines gewachsenen Ortes mit einer mindestens 975jährigen Geschichte droht von Jahr zu Jahr mehr verlorenzugehen! Umso Confino analysiert, ist ohnehin fraglich, ob er den Heimatbegriff als Reflexionsinstrument für »Ambivalenzen der Moderne«, der vom Kaiserreich bis zur Gegenwart für diverse »politische und kulturelle Zwecke« angeeignet werden konnte, nicht überdehnt; vgl. auch den Neudruck des Texte in englischer Sprache: Confino: Germany, S. 81. 113 Bothfeld, S. 418.
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mehr gilt es, die verbliebenen Spuren der Geschichte zu erkennen, sie immer wieder neu zu entdecken und zu schützen, um auf diese Weise Wendens Identität zu bewahren.«114 Aus Ortschroniken und Heimatbüchern spricht in erster Linie der Impetus, Auflösungsprozesse zu stoppen und zurückzudrängen, statt den Wandel offensiv zu forcieren und neue Formen des Zusammenlebens, der Dorfarchitektur, der Identitätsbildung zu suchen, wie sie die neue Heimatbewegung propagierte.
Alltagsgeschichte und Ortschroniken Die alltagsgeschichtliche Bewegung 1978 erschien in Schweden das Buch »Grabe wo Du stehst« (Gräv där du str) des bekannten Publizisten Sven Lindqvist. Es behandelte die Geschichte der schwedischen Zementindustrie und reagierte damit auf einen Strukturwandel der Gesellschaft, der in der Rückschau als Übergang zur postindustriellen Gesellschaft bezeichnet werden kann. Eine der Besonderheiten des Buchs war seine Zielgruppe: Es richtete sich an Nicht-Wissenschaftler, an »jedermann«. Im Besonderen sprach Lindqvist Arbeiter verschiedener Industriezweige an, die er dazu aufforderte, sich eigenständig mit der Geschichte ihres Arbeitsplatzes zu beschäftigen. Das Buch gilt im Allgemeinen als Initialzündung einer historiografischen »Bewegung«, die rasch aus Schweden auf andere europäische Staaten ausgriff.115 Der Autor zeigte Materialquellen für die historische Untersuchung des eigenen Alltags auf, buchstabierte das praktische Vorgehen kleinteilig und plastisch aus, gab konkrete Arbeitspläne vor, nannte mögliche Ansprechpartner und vieles mehr.116 Was Lindqvist initiieren wollte, war nichts weniger als ein Tausch der Experten- und Laien-Rolle im Blick auf die Geschichte: »Fürchte Dich nicht vor Experten. Deine Stärke liegt in Deiner Arbeit. Du beherrschst Deinen Beruf. Deine Berufserfahrung ist Dein fester Grund, auf dem Du stehen kannst, um zu beurteilen, was andere tun und nicht tun.« In diesem Sinne wollte der Autor zur Entstehung einer kritischen Lokalgeschichtsschreibung jenseits der »offiziellen« Historiografie beitragen. Aus dem Buch sprach zudem ein of114 Wenden, S. 114–130. 115 Lindqvist: Gräv. Dies gilt auch für Deutschland. Auch wenn eine deutsche Übersetzung von Lindqvists Buch erst 1989 erschien (Lindqvist: Grabe), hatten die Thesen des schwedischen Autors zuvor bereits durch Vorträge und Aufsätze eine breite Bekanntheit erlangt. 116 Lindqvists Ausführungen basierten im Wesentlichen auf Gesprächen und Interviews mit Arbeitern, Gewerkschaftern, Unternehmern, Archivaren, Bibliothekaren und unzähligen anderen. Er lieferte allerdings auch allgemeinere, ereignisgeschichtliche Abrisse zur Orientierung und Kontextualisierung der eigenen Erkundungen der Leser.
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fensives Bildungsideal. Die Erweckung des historischen Bewusstseins der Leser sollte zu ihrer gesellschaftlichen Emanzipation beitragen.117 Das schwedische Projekt überschnitt sich in wesentlichen Punkten mit der sogenannten »History Workshop«-Bewegung, die bereits in den späten 1960er Jahren in Oxford in England entstanden war.118 Sie ging auf die »people’s history« zurück, die vor allem von marxistischen Akademikern betrieben wurde und die versuchte, die Perspektive der »Unterdrückten« und der »Massen« in die geschichtswissenschaftliche Arbeit einzubeziehen. In den offenen »workshops« diskutierten Akademiker und Laien sowie Laien untereinander über historische Themen. Das Modell breitete sich im Laufe der 1970er Jahre rasch über das ganze Land aus. Neben der (nominellen) Einebnung der Experten-Laien-Differenz hatte die sich Bewegung sehr ähnliche Ziele wie die schwedische gesetzt. Sie wollte die Geschichte »von unten« betrachten und somit die Perspektive der »Betroffenen« maßgeblich in die bisherige, sozialgeschichtlich dominierte Geschichtsschreibung integrieren. Damit einher ging die Berücksichtigung neuartiger, bisher nicht beachteter Quellenmaterialien, insbesondere auch mündlicher Erzählungen. Die »Wahrnehmung« und »Erfahrung« der Geschichte durch »den einfachen Menschen« – in erster Linie Arbeiter – stand der Sozialgeschichte gegenüber, die eher übergreifende Strukturen und Eliten in den Blick nehme. Die »History Workshop«-Bewegung war hierbei von Beginn an mit politisch-emanzipatorischen Zielen verbunden; sie betonte immer wieder die vermeintlich gesellschaftsverändernde Funktion von Geschichtsschreibung. Die alltagsgeschichtlichen Bewegungen, die in verschiedenen europäischen Ländern entstanden waren, wurden auch in Deutschland wahrgenommen. Sie erreichten die Bundesrepublik allerdings mit leichter Verzögerung. Erste Geschichtswerkstätten entstanden hierzulande zu Beginn der 1980er Jahre in den Großstädten Hamburg und Berlin. Die Zahl derartiger Einrichtungen vermehrte sich sehr rasch.119 Die Gründung einer bundesweiten Geschichtswerkstatt datiert auf das Jahr 1982. Ein Jahr später folgte die Gründung eines entsprechenden Vereins.120 Dieser Verein fungierte unter anderem als Herausgeber einer gleichnamigen Zeitschrift, die zahlreiche Projekte, Zusammenschlüsse und Ergebnisse alltagsgeschichtlicher (Laien-)Forschung präsentieren sollte. Alternative Formen der Aufbereitung und Präsentation historischer Stoffe fanden Verbreitung, so zum Beispiel Stadtrundgänge, Stadtteilfeste, Theatervorführungen, selbstorganisierte Diskussionsrunden und vieles mehr. Daneben griff 117 Lindqvist: Grabe, S. 9, 15 und passim. 118 Siehe zum Folgenden Evans: »History Workshop«-Bewegung. Dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise. Für vergleichbare Entwicklungen in den USA und Frankreich siehe Rosenzweig: »People’s History«; Schöttler: »Annales«. 119 Siehe zum Beispiel Frei: Geschichtswerkstätten; Paul/Schoßig (Hg.): Geschichte. 120 Schöttler: Geschichtswerkstatt, S. 422.
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die Bewegung auch auf ältere Darstellungsformen zurück und verlieh ihnen neuen Aufwind. Dies gilt unter anderem für lokalgeschichtliche Schriften wie Ortschroniken und Heimatbücher. In Berlin, Hamburg, Dortmund und Hannover fanden ab 1984 sogenannte »Geschichtsfeste« statt, die Laienhistoriker aus verschiedenen Regionen in Kontakt brachten.121 In einem viel zitierten Artikel fasste »Der Spiegel« einige dieser Phänomene zusammen und formulierte den Topos der »neuen Geschichtsbewegung«.122 Die Initiatoren der Geschichtswerkstätten überschnitten sich zu gewissen Teilen mit den Aktivisten der Neuen Sozialen Bewegungen.123 In der kritischen Erarbeitung einer »Geschichte von unten« trafen sich die Interessen der Alltagshistoriker mit den Zielen anderer Bewegungen. Christoph Cornelißen schreibt, dass es »nicht zuletzt ein Anliegen der neuen sozialen Protestbewegung« gewesen sei, »die politische Kultur über eine intensive Ausleuchtung der NS-Vergangenheit im jeweils lokalen Raum auf eine neue Basis zu stellen.«124 Doch auch in umgekehrter Richtung orientierte sich die Alltagsgeschichte an gesellschaftskritischen Zielen, die sie von anderen Bewegungen übernahm. Vielerorts inszenierten die Alltagshistoriker eine Frontstellung zwischen einer »radikaldemokratischen« Pluralisierung der Geschichte auf der einen Seite und einem Establishment »(neo)konservativer Historiker« auf der anderen Seite.125 In diesem Zusammenhang richtete sich die alltagsgeschichtliche Bewegung unter anderem gegen die »Geschichtspolitik« der konservativ-liberalen Regierung – und ihr tatsächlich oder vermeintlich nahe stehende Wissenschaftler.126 Darüber hinaus trachteten viele alltagsgeschichtliche Projekte – zumindest auf 121 Siehe zur Dokumentation der Veranstaltungen die Hefte 3 und 4 der Zeitschrift »Geschichtswerkstatt«. 122 Ohne Autor : »Schub«. 123 Kaum ein Kommentator der alltagsgeschichtlichen Bewegung versäumte es, die »außerfachlichen« Gründe ihrer Entstehung zu erwähnen. Die konkreten Phänomene, die jeweils aufgelistet wurden, fielen allerdings von Autor zu Autor sehr unterschiedlich aus. Beispiele sind: Verlust des Vertrauens in Fortschritt und Wachstum, Zukunftsangst angesichts erneuter Aufrüstung im Kalten Krieg, Desillusionierung der sozialistischen Linken, Wirtschaftskrise, neue Kommunikationstechnologien, Automatisierung und Computerisierung der Arbeitswelt, einschneidende bauliche Veränderungen der Lebenswelt (»Betonarchitektur«), massiver Anstieg der Umweltverschmutzung, Wandel des Politikverständnis (»Politisierung des Alltags«). Viele dieser Ausgangspunkte teilte die Geschichtsbewegung mit der Friedens-, Frauen-, Umweltbewegung und anderen. Vgl. z. B. Kinter/Koch/Thiele: Spuren, S. 9–26, sowie die Ausführungen im vorangehenden Kapitel zur Heimatgeschichte. 124 Cornelißen: Erforschung, S. 232. 125 Heer/Ullrich: »Geschichtsbewegung«, S. 12. 126 Hannes Heer und Volker Ullrich befanden, dass sich »die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik […] im gesellschaftspolitischen Klima einer konservativen Gegenbewegung formieren muß, die auch an den Universitäten eher restaurative Tendenzen begünstigt« (Ebd., S. 20). Zu politisch-konservativen Versuchen, den Heimatbegriff in den 1980er Jahren wieder zu besetzen vgl. z. B. Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Heimat.
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programmatischer Ebene – danach, feministische Aspekte zu integrieren. Frauen wurden als eine der Gruppen von Unterdrückten der Geschichte entdeckt, denen die Bewegung ein besonderes Augenmerk widmen wollte. Dies machte die Alltagsgeschichte allerdings noch nicht zu einer Gender-Geschichte, die eine radikale Historisierung der Geschlechter verfolgte. Auch blieben die praktischen Überschneidungen zu feministischen Gruppen eher marginal, zumal bis heute ein Großteil der Laiengeschichte von Männern geschrieben wird.127 Die alltagsgeschichtliche Bewegung fand allerdings auch Verbündete in den Institutionen. Sie baute zahlreiche Kontakte zu Geschichtsmuseen, Archiven und Bibliotheken sowie zu akademischen Historikern auf und alliierte sich mit den Volkshochschulen sowie dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für Schüler, der sich in den Jahren 1977 bis 1979 der »Sozialgeschichte des Alltags« und in den Jahren 1980 bis 1985 dem »Alltag im Nationalsozialismus« widmete. Es entstand darüber hinaus ein vielfältiger, (proto-)institutionalisierter Beratungskosmos für Laienforscher – bestehend aus Berufshistorikern sowie Professionellen anderer Bereiche, beispielsweise Lehrern und Museumsmitarbeitern. Archive begannen sich verstärkt auf die Unterstützung von Heimatforschern zu berufen, um ihre eigene Existenz zu legitimieren. Broschüren, Arbeitshilfen, Leitfäden und Recherchebeispiele entstanden in großer Zahl und fanden weite Verbreitung.128 Des Weiteren wurden über »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« stellungslose Historiker in der alltagsgeschichtlichen Forschung ›untergebracht‹ oder fertigten Auftragsarbeiten an. Vor allem diese Entwicklung führte zu einer schleichenden Professionalisierung der Arbeit der Geschichtswerkstätten sowie der Alltags- und Lokalgeschichte im Allgemeinen. Alexander von Plato konstatierte Ende der 1990er Jahre: »Viele derjenigen, die ihre ersten wissenschaftlichen Versuche in den Geschichtswerkstätten oder als ABM-Kräfte in den Kommunen unternahmen, sind heute wohlbestallte Museologen, Gedenkstättendirektoren oder Hochschullehrer.«129 Bereits Ende der 1980er Jahre sah Manfred Dammeyer in seiner Nachschrift zur Übersetzung von Sven Lindqvists Klassiker diese Entwicklung mit einer gewissen Sorge und stellte fest, dass die über »kommunale oder über staatliche ›Beschäftigungs‹-programme« in Geschichtswerkstätten gelandeten »stellungslosen Historiker« oftmals »die dominanten Per127 Für Gegenbeispiele siehe z. B. Kinter/Kock/Thiele: Spuren, S. 14–15. 128 Siehe z. B. Kinter/Kock/Thiele: Spuren. Das Arbeitsbuch bietet eine »Allround«-Anleitung von der Gründung einer »arbeitsfähigen Gruppe« einschließlich der organisatorischen und materiellen Voraussetzungen über die Suche, Auswahl und Bearbeitung von Quellenmaterial bis zur Vermittlung grundlegender Methodenkenntnisse und konkreter Ansprechpartner für Laienhistoriker. 129 Plato: Erfahrungsgeschichte, S. 69.
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sönlichkeiten der Gruppen und Projekte« geworden seien. Dies habe zunehmende »Zwänge zur Beschreibung und Rechtfertigung des eigenen Tuns in den Kategorien des traditionellen akademischen Disputs« bewirkt.130 Im Zuge dieser Prozesse gerieten die ausdrücklichen Demokratisierungsbemühungen der Bewegung in Gefahr, die sich in der Zusammensetzung und in den Organisations-, Umgangs- und Vermittlungsformen alltagsgeschichtlicher Arbeitsgruppen niederschlagen sollten. Eine Überrepräsentation »Intellektueller« und eine Unterrepräsentation »Betroffener« drohten das alltagsgeschichtliche Programm in der Praxis zu konterkarieren.131 Die »Professionalisierung« der alltagsgeschichtlichen Bewegung ging mit einem spürbaren Verlust ihres gesellschaftskritischen, subversiven Impetus einher. Ein zentrales Moment ihres ursprünglichen Selbstverständnisses – Gegenbild des elitären Wissenschaftsbetriebs zu sein – war verloren gegangen. Zudem verlief sich ein großer Teil der Initiativen der späten 1970er und der 1980er Jahre bereits ab der zweiten Hälfte der 1980er wieder oder geriet in existenzielle Krisen. Zu Beginn der 1990er Jahr bestand im Grunde kein Zweifel mehr : Die alltagsgeschichtliche Bewegung hatte sich »ausgezehrt«.132
Alltagsgeschichtliche Bewegung und Ortschroniken Dessen ungeachtet entwickelte die alltagsgeschichtliche Bewegung eine nachhaltige Strahlkraft auf eine Vielzahl von Laienhistorikern jenseits organisatorischer Zusammenschlüsse und demokratischer Programmatiken. Ortschronisten und Heimatbuchautoren in ländlichen Gegenden hatten in den 1970er und 1980er Jahren – und in den nachfolgenden Jahrzehnten – oft keinen Anschluss an Geschichtswerkstätten oder vergleichbare Einrichtungen. Ebenso stellten sich Kooperationen mit akademischen Institutionen höchstens punktuell ein. Schließlich bestanden auch keine Kontakte zu alternativen sozialen Bewegungen. Es ist davon auszugehen, dass sich ab den späten 1970er Jahren zwei alltags- bzw. lokalgeschichtliche Linien ausdifferenzierten. Auf der einen Seite stand eine dezidiert ideologiekritische Alltagsgeschichte, die sich politisch-emanzipative Forderungen auf die Fahnen geschrieben hatte. Ihren schwedischen oder britischen Vorbildern gemäß ging es um eine Geschichte der »Betroffenen« oder eine »Geschichte von unten«, die sich der »offiziellen« Historiografie dezidiert entgegenstellte; sie sollte zu einer erheblichen »Demokratisierung« der Geschichtsschreibung und auch der Gesellschaft im Ganzen 130 Dammeyer : Zukunft, S. 332. 131 Kinter/Kock/Thiele: Spuren, S. 33. 132 Frei: Geschichtswerkstätten, S. 317–321; vgl. Laak: Alltagsgeschichte, S. 16.
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beitragen. In der praktischen Umsetzung bedeutete dieses Programm in Deutschland nicht selten, dass eine vermeintlich verdrängte Unrechtsgeschichte des Nationalsozialismus im lokalen Raum ans Licht geholt werden sollte. Bisher ausgeblendete Opfer und Opfergruppen sollten wieder in Erinnerung gerufen werden.133 Auf der anderen Seite stand eine laienhafte Beschäftigung mit der Geschichte des Alltäglichen und Lokalen ohne ideologiekritische Ansprüche. Neben vielen anderen historischen Forschungs- und Vermittlungsformen waren und sind Ortschroniken und Heimatbücher prominente Vertreter dieser Linie. Diese Art der historiografischen Praxis richtete sich auf die Geschichte von Gemeinschaften und wirkte identitätsbildend, mitunter auch schlicht erbaulich und unterhaltend.134 Ausdrückliche Sozialkritik oder das Streben, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, war dieser Strömung fremd. Auch sie wollte Laien als die eigentlichen Experten der eigenen Geschichte entdecken und bisher Ausgeblendetes bekannt machen, doch verstand sie sich nicht als Teil einer »demokratischen Bewegung« zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnissen im Ganzen. Die Geschichte des Nationalsozialismus geriet in dieser Strömung vor allem als »Forschungsbereich der allgemeinen Geschichte« in bzw. aus dem Blick, der sich von der Geschichte der Dorfgemeinschaft im engeren Sinne unterscheiden ließ. Positionierte sich die kritische Alltagsgeschichte in einem ständigen Kampf gegen das »Vergessen und Verdrängen«, dem vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Strukturwandels eine besondere Brisanz zukomme, so traf dies auf die Chronik-Historiografie im Prinzip gleichermaßen zu. Auch Ortschroniken nahmen gelegentlich auf die Wichtigkeit lokaler Geschichtsschreibung vor dem Hintergrund sich auflösender Lebenswelten im ländlichen Bereich Bezug. Sie tendierten jedoch viel eher dazu das »Vergessene« zu erinnern, als das »Verdrängte« in Stellung zu bringen. Ihr Ziel war es in erster Linie, die für die lokale Identität vermeintlich unverzichtbare gemeinschaftliche Geschichte zu bewah133 Vgl. als typisches, aktuelles Beispiel dieser Linie: Wagner : Marpingen. Die sehr umfangreiche, kritische Aufarbeitung der »Leichen im Keller« (S. 680) aus der NS-Zeit enthält typischerweise einen Anhang, der die Auseinandersetzung des Autors mit dem vermeintlich verstockten lokalen Establishment im saarländischen Ort Marpingen dokumentiert. 134 In diesem Sinne stehen Ortschroniken einem »lustvollen«, konsumierenden Umgang mit geschichtlichen Stoffen nahe, der sich in den 1980er auf breiter Basis etablierte. Heinrich Theodor Grütter beschrieb und kritisierte diese Entwicklung zugleich, die »weniger einem konkreten historischen Orientierungsbedürfnis als vielmehr einer eher unspezifischen Freude und Neugierde auf das weite Feld der kulturellen und historischen Lebensformen und Erfahrungen« entspringe, Grütter : Vergangenheit, S. 49. Allerdings erweist sich das Kriterium des lust- bzw. freudvollen Umgangs mit Geschichte bei genauerem Hinsichen nicht als ausreichend, um die kritische Alltagsgeschichte von der Ortschronistik zu unterscheiden. Bereits ein kurzer Blick in Sven Lindqvists Buch reicht aus, um festzustellen, dass auch die alltagsgeschichtliche Bewegung wesentlich von der Lust an der Beschäftigung mit der Geschichte lebte.
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ren, und nicht die verdrängten, problematischen Bereiche des lokalen Gedächtnisraums anzuprangern. Unterschiede in der Gründlichkeit und Quellendichte der historischen Arbeit gab es hingegen kaum. Auch wenn lokalgeschichtliche Laienarbeiten im Einzelnen deutliche handwerkliche Unterschiede aufwiesen, kann weder der einen noch der anderen Richtung ein Desinteresse an sorgfältiger Quellenarbeit vorgeworfen werden. Ortschronisten sammelten über Jahre bzw. Jahrzehnte alles erhältliche Material, befragten viele ihrer Mitbürger und konsultierten darüber hinaus regionale Archive, Bibliotheken und Forschungsinstitutionen. Die Differenzen zur alltagsgeschichtlichen Bewegung lagen vor allem in der Gewichtung und selektiven Verarbeitung der Quellen, eben in der unterschiedlichen Perspektivierung von Geschichte. Diese Gegenüberstellung zweier alltagsgeschichtlicher Strömungen schlug sich auch in unterschiedlichen ›Beratungsmilieus‹ nieder. Dass sich Ortschronisten und Heimatbuch-Autoren von vielen Hilfestellungen der kritischen Alltagsgeschichte nicht angesprochen fühlten, zeigte sich nicht zuletzt in der wiederholten Klage, dass sie das reichlich vorhandene Angebot an Leitfäden offenbar gar nicht rezipierten oder zumindest nicht anwandten.135 Parallel entstand allerdings eine speziell auf die Erstellung von Ortschroniken abstellende Beratungstätigkeit, die bis heute gelegentlich Züge einer ehrenamtlichen Selbsthilfe trägt – nach dem Prinzip: Chronikautoren leiten Chronikautoren an. Ihr geht es vorrangig um Arbeitshilfen; sie stellt Redlichkeit und Sorgfältigkeit in den Vordergrund und vor allem: Sie enthält sich politischer Ambitionen weitgehend. Ein Beispiel bietet die zu Beginn der 1990er Jahre abgehaltene 9. Jahrestagung des Instituts für Landeskunde im Saarland, die sich der »Erstellung einer Orts-Chronik« widmete. Dort hieß es, dass Geschichtswerkstätten danach strebten, »gegenwärtige politische Probleme lösen zu können«. Das unterscheide sie deutlich von der Ortschronistik. Letztere würde weder in gesellschaftlicher noch in fachlicher Hinsicht vergleichbare Ziele verfolgen. Es sei »falscher Ehrgeiz«, wenn Chroniken beabsichtigen, »die deutsche Geschichte auch nur in einzelnen Abschnitten neu schreiben zu wollen«.136 Die grundsätzliche Trennlinie des alltagsgeschichtlichen Laienbereichs zwischen einer kritischen Bewegung und einer Chronik-Geschichtsschreibung hat trotz einzelner Überschneidungen bis heute ihre Geltung behalten. Die Vehemenz der gesellschaftsbezogenen Forderungen, die die kritische Alltagsgeschichte noch in der ersten Hälfte der 1980er Jahre vertreten hatte, hat sich zwar merklich reduziert, doch blieb ihr der Impetus, verdrängte »Unrechtsgeschichten« vor Ort sichtbar zu machen, erhalten. Heimatbücher verstehen sich weiterhin kaum als »Geschichte von unten« oder »Geschichte der Betroffenen«, 135 Vgl. Hauptmeyer : Rückblick, S. 22. 136 Laufer : Aufbau, S. 246–250.
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sondern vielmehr als Geschichtsschreibung kleiner und kleinster Gemeinschaften. In aller Regel setzen akademische Historiker entlang dieser Trennlinie die Unterscheidung zwischen wissenschaftlich akzeptabler und nicht akzeptabler Laiengeschichte an: Lokalgeschichtliche Arbeiten werden mittels der Dichotomie »kritisch«/»affirmativ« qualifiziert bzw. abqualifiziert.137 Der österreichische Alltagshistoriker Klaus-Dieter Mulley formulierte plastisch, dass der »Sammler, Forscher und Hobbyhistoriker […], Wächter der dorf-›gemeinschaftlichen‹ Vergangenheit und Jubiläumspublizist«, der typisch für die Ortschronistik ist, ab den 1980er Jahren in die »von der professionellen Universitätshistorie und neuer Geschichtsbewegung gebildete und aggressiv geöffnete Zange« geraten sei.138 Misst man Ortschroniken und Heimatbücher primär am gesellschaftskritischen Selbstverständnis der Wissenschaft, geraten ihr spezifischer Entstehungszusammenhang und ihre spezifische historiografische Perspektive allerdings weitgehend aus dem Blick.
Alltagsgeschichte als wissenschaftliches Paradigma Parallel zur Alltagsgeschichte als Laienbewegung formierte sich in den späten 1970er und den 1980er Jahren die Alltagsgeschichte als wissenschaftliches Paradigma. Ein wichtiger Ausgangspunkt lag, wie zuvor bei der britischen »people’s history«, in der Geschichte der Arbeiterbewegung bzw. des Arbeiteralltags seit der Frühen Neuzeit. Hierzulande übte jedoch vor allem die Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus eine beträchtliche Faszination auf Historiker in den 1980er Jahren aus. Der britische Geschichtswissenschaftler Geoff Eley konstatierte Mitte der 1990er Jahre, dass die Entstehung der Alltagsgeschichte in Deutschland in erster Linie auf »Untersuchungen und lebensgeschichtliche Interviews zur lokalen Erfahrung im Dritten Reich« zurückzuführen sei.139 Eley berief sich hierbei vor allem auf die Studien Lutz Niethammers zu Arbeitererinnerungen an die nationalsozialistische Zeit im Ruhrgebiet.140 Als weitere zentrale Protagonisten nannte Eley die Historiker Detlev Peukert und Alf Lüdtke.141 137 138 139 140 141
Vgl. Hauptmeyer : Heimatgeschichte, S. 88. Mulley : Regionalgeschichte, S. 43; vgl. Bertrang: Typologie, S. 46–47. Eley : Politik, S. 26. Niethammer (Hg.): Lebensgeschichte. Peukert: Edelweißpiraten; ders.: Volksgenossen; ders./Reulecke: Reihen; Lüdtke: »Formierung«; ders.: »Glut«; ders.: »Ehre«. Übersichten einschlägiger Forschungsarbeiten zur Alltagsgeschichte in den 1980er Jahren liefern zum Beispiel Schulze: Einleitung, S. 15–16; Ullrich: Alltagsgeschichte. Den Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellte auch das vielbeachtete regionalgeschichtliche Monumentalwerk des Instituts für Zeitgeschichte in München: Broszat/Fröhlich (Hg.): Bayern.
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Alltagsgeschichte kam folglich parallel zur Etablierung der oral history als neuer Methode auf.142 Diese versprach, neue Funktionslogiken des nationalsozialistischen Regimes auf einer Mikroebene sichtbar zu machen, die die bislang bestimmende Frontstellung von Strukturalisten versus Intentionalisten unterlief.143 Die Frage der alltäglichen Handlungsspielräume bzw. -zwänge ließ sich vermeintlich ganz neu stellen.144 Dadurch ließ sich zudem die festgefahrene Debatte um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus beleben und nach dem alltäglichen Verhalten zwischen den Polen des Widerstands und der Unterstützung des Regimes fragen.145 Den Alltagshistorikern eröffnete sich eine breite Palette alltäglicher Verhaltensweisen, die nunmehr als oppositionelles Verhalten gegenüber dem NS-Regime gedeutet werden konnten. Zugleich erweiterte sich die Bandbreite der Verhaltensmuster erheblich, von denen gezeigt werden konnte, dass sie (oft unbewusst) zur Unterstützung oder Stabilisierung des »Dritten Reichs« beigetragen hatten.146 Mit dieser Perspektivierung grenzte sich das neue Paradigma von der in den 1960er und 1970er Jahren hegemonialen Sozialgeschichte ab, die in erster Linie die Wirkmächtigkeit weiträumiger Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hervorgehoben hatte.147 Die Alltagsgeschichte beabsichtigte, Handlungsrationalitäten unterhalb der Meso- und Makroebene aufzudecken, ohne hierbei in traditionelle, individuumszentrierte Erklärungsmuster zurückzufallen. Sie erlaubte es, den Alltag mit einem hohen Maß an Komplexität aufzuladen, der ihm in der Historischen Sozialwissenschaft nicht zukam. Zu einem zentralen Theorem entwickelte sich in diesem Zusammenhang der Begriff des »Eigensinns« individueller oder lokaler historischer Abläufe.148 Auch seien die Wahrnehmungen, Deutungen und Symbole, mit denen Menschen die historische Realität verarbeiten würden, von der Sozialgeschichte vernachlässigt worden.149 Diese Bereiche wollte die Alltagsgeschichte besonders hervorheben, wozu sie vor allem auf Anregungen aus der Anthropologie und der Ethnologie zurückgriff. Von besonderem Interesse für unseren Kontext ist außerdem, dass die alltagsgeschichtlichen Ansätze im Allgemeinen zu einer Aufwertung der Lokalge142 Die Kombination von Faschismus und oral history traf auch auf die italienische Pionierstudie von Luisa Passerini zu, Passerini: Fascism. Vgl. des Weiteren Parisius u. a.: Ergebnisse; Peukert: »Drittes Reich«; Niethammer : Lebenserfahrung. 143 Vgl. Beck u. a.: Terror. 144 Vgl. Lüdtke: Geschichte. Ein analoger Fragenkomplex fand nicht nur im Zusammenhang mit der NS-Zeit Verbreitung, sondern bestimmte auch zahlreiche Studien zur Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit, vgl. z. B. Dülmen/Schindler (Hg.): Volkskultur. 145 Vgl. Löwenthal/Mühlen (Hg.): Widerstand; Bade: Mythos. 146 Vgl. Lüdtke: Einleitung, S. 10–11; Peukert: Volksgenossen. 147 Heer/Ullrich: »Geschichtsbewegung«, S. 16–20; Schulze: Einleitung, S. 6–8. 148 Sarasin: Arbeit, S. 73. 149 Medick: »Missionare«.
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schichte beitrugen, da sie sich oft auf regional eng begrenzte Untersuchungsräume bezogen.150 Die methodologischen Ansprüche der Alltagsgeschichte verbanden sich in den 1970er und 1980er mit einem emanzipatorischen Anspruch, wie er unter anderem in den theoretischen Entwürfen Lutz Niethammers Niederschlag fand.151 Alf Lüdtke schrieb in der Retrospektive des neuen Jahrtausends über die Anfänge der Alltagsgeschichte: »Herrschaftskritik und Wissenschaftskritik sollten sich verbinden, die Stimmen und Gesichter der angeblich Namenlosen endlich hörbar und sichtbar werden.«152 Dieser Anspruch führte zu einer (zeitweisen) Allianz von Fachwissenschaftlern und Laienhistorikern der alltagsgeschichtlichen Bewegung. Dem Selbstverständnis der Alltagshistoriker nach war die Überwindung der institutionellen Barrieren zwischen beiden Gruppen möglich und wünschenswert. Im Laufe der 1980er Jahre wurde jedoch beiden Seiten immer deutlicher, dass sich die institutionellen Grenzen zwar stellenweise auflockerten, im Grunde jedoch bestehen blieben.153 Das Verhältnis zwischen Fach- und Laienhistorikern blieb ein asymmetrisches. Schon zum Ende des Jahrzehnts hatten die emanzipativen Potentiale der Alltagsgeschichte ihre Anziehungskraft unter den Fachvertretern weitgehend eingebüßt. Teile der alltagsgeschichtlichen Laienbewegung reagierten darauf mit einer stärkeren »Theoretisierung« und versuchten so, den Anschluss an die fachlichen Debatten zu halten.154 Zum Ende der 1980er Jahre ließ nicht nur die Begeisterung für das gesellschaftliche Potential der Alltagsgeschichte spürbar nach, auch ihre fachlichen Kritiker bekamen Aufwind. Eine Sektion des Historikertags im Jahr 1992 fragte unüberhörbar : »Was kommt nach der Alltagsgeschichte?«155 Im Zuge zahlreicher methodischer Neuerungen der 1990er Jahre verlor die Alltagsgeschichte an Bedeutung, freilich ohne bereits als überholt zu gelten. Im Rahmen des fach150 Steinbach: Alltagsleben, S. 226. 151 Die einschlägigen programmatischen Äußerungen Niethammers sind später in einer Anthologie zusammengeführt worden: Niethammer : Deutschland. 152 Lüdtke: Alltagsgeschichte, S. 564. 153 Lüdtke zufolge lockerte die Alltagsgeschichte »Formen und Härte der Abgrenzung zu den Geschichten, die außerhalb der zünftlerisch-professionellen Historie verbreitet oder wirksam sind«. Letztlich habe sie in gewissen Grenzen zu einer habituellen Aufweichung der »verächtlichen Ignoranz von Fachhistorikern gegenüber der Laiensicht« geführt, Lüdtke: Alltagsgeschichte, S. 560. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass die neue Wertschätzung der historiografischen Praxis von Laien indirekt den innerfachlichen, professionspolitischen Zwecken der Historiker diente; sie gab Anlass, bestehende akademische Berufungspraktiken (im eigenen Interesse) zu kritisieren. 154 Vgl. Berliner Geschichtswerkstatt: Einleitung, S. 7–8. Die Ortschronik-Historiografie blieb davon unberührt, da eine Orientierung an der universitären Geschichtswissenschaft für sie nach wie vor keine entscheidende Rolle spielte. 155 Schulze (Hg.): Sozialgeschichte.
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historischen Kanons war sie mittlerweile selbst historisch geworden. Sie reihte sich in der Folge als eine – je nach Auslegung konsolidierte oder eher unscheinbare – Methode neben anderen ein.156 In jedem Fall nahmen die methodologischen Debatten der 1990er Jahre um den Stellenwert der Alltagsgeschichte einen esoterischen Charakter an. Der politische Impetus hatte sich im Sande verlaufen und die Alltagsgeschichte stellte vor allem noch fachliche Herausforderungen.157 Sie wurde zu einem geschichtswissenschaftlichen Themenfeld, das im Vergleich zum vorangehenden Jahrzehnt nur wenig über die Fachgrenzen hinaus strahlte und dessen theoretische Differenzierung keine direkten Auswirkungen mehr auf die Praxis von Laienhistorikern zeitigten.158 Die Verbindungen zu Laienhistorikern brachen zwar nicht grundlegend ab, waren ihrer einstigen Faszination jedoch ein gutes Stück weit verlustig gegangen. Die alltagsgeschichtlichen Arbeiten professioneller Historiker begannen sich zunehmend von einer »herkömmlichen Lokal- und Regionalgeschichte« abzugrenzen, die nunmehr in erster Linie mit methodischer und theoretischer Unterkomplexität assoziiert wurde.159 In theoretischer und methodologischer Hinsicht bündelten sich verschiedene Entwicklungen in den 1990er Jahren zu einer »Neuen Kulturgeschichte«. Dies führte im Allgemeinen dazu, dass das Interesse an der Frage abflaute, wie weit Strukturen, Macht und Politik in den Alltag reichten und wo Rückzugsräume bestehen blieben. Diese in der Auseinandersetzung zwischen Sozial- und Alltagsgeschichte noch virulente Frage schien in neueren kulturgeschichtlichen Arbeiten im Wesentlichen entschieden zu sein, beispielsweise durch Konzepte wie das der »Mikrophysik« der Macht von Michel Foucault, das von einer allgegenwärtigen Politisierung auch alltäglicher Praktiken und Erfahrungen ausging.160 Stattdessen stellte sich eine tendenzielle Umkehr der Fragerichtung in der Neuen Kulturgeschichte ein. Es schien nunmehr interessanter sich wieder Eliten in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zuzuwenden, allerdings mit der dezidierten Absicht deren Alltagspraktiken zu erforschen. Aus diskursgeschichtlicher Perspektive gingen darüber hinaus die zentralen alltagsgeschichtlichen Konzepte der »Aneignung« und des »Eigensinns« von einer zu starken Handlungsmächtigkeit und Selbsttransparenz des alltagsgeschichtli156 Wohlwollend z. B.: Lüdtke: Alltagsgeschichte; ders.: Aneignung; Hardtwig: Alltagsgeschichte, S. 26. Kritisch hingegen ist beispielsweise: Kocka: Perspektiven, S. 39. 157 »In dem Maße, wie der ursprüngliche politische Elan nachließ, verlagerte sich der innovatorische Impuls immer mehr auf das Feld des wissenschaftlichen Diskurses« (Berliner Geschichtswerkstatt: Einleitung, S. 7). 158 So wendete sich beispielsweise auch die ab 1993 erscheinende Zeitschrift »Historische Anthropologie« in erster Linie an Fachwissenschaftler. 159 Medick: Mikro-Historie, S. 45. 160 Foucault: Mikrophysik; Lüdtke: Einleitung, S. 25.
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chen Subjekts aus. Die Alltagsgeschichte, so hieß es, bedürfe einer grundlegenden theoretischen Überholung.161 Unbeschadet von dieser Verlagerung fachlicher Forschungspräferenzen wuchs die lokalgeschichtliche Laienforschung in den letzten Jahrzehnten bis heute stetig weiter. Zugleich wurde sie von einem Kooperationspartner zu einem Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaft. Auch hier spielte das Themenfeld des Nationalsozialismus abermals eine führende Rolle. Die Forschungen zur »Vergangenheitsbewältigung«, zur »Nach-« oder »zweiten Geschichte« des »Dritten Reichs«, allgemein: zum Umgang mit dem Nationalsozialismus, entdeckten jüngst lokale und regionale Erinnerungskulturen für sich. Aus dieser Entwicklung ergab sich schließlich auch das Interesse an Ortschroniken und Heimatbüchern als erinnerungskulturellen Produkten, das die vorliegende Untersuchung verfolgt.
Wissenschaftliche Alltagsgeschichte und Ortschroniken Ortschroniken und Heimatbücher erfuhren zeitgleich zum Aufkommen der Alltagsgeschichte in den 1970er Jahren einen erheblichen, anhaltenden Popularitätsschub. Die Praxis der Ortschronik-Geschichtsschreibung stand und steht allerdings nur indirekt in Beziehung zur geschichtswissenschaftlichen Alltagsgeschichte; ganz im Gegensatz zur kritischen alltagsgeschichtlichen Bewegung, die sich fortlaufend – im bejahenden oder abgrenzenden Sinne – an der akademischen Geschichtsschreibung orientiert hat. Ortschronik-Autoren setzen ihre Arbeit nach wie vor nicht explizit in Beziehung zu wissenschaftlichen Debatten, beispielsweise um Theorien, Methoden oder Gegenstandsbereiche.162 Dies gilt für publizistische und politische – allgemein: überregionale, öffentliche – Kontroversen um die Vergangenheit gleichermaßen. Heimatbücher grenzen sich vielmehr in praxi von der akademischen Alltags- und Lokalgeschichte ab. 161 Sarasin: Geschichtswissenschaft, S. 18–21; ders.: Subjekte; ders.: Arbeit. 162 Indirekte Andeutungen sind ebenfalls rar gesät und fallen äußerst knapp aus. Ein Beispiel bietet die Chronik des nordfriesischen Ortes Leck aus dem Jahr 1981, die sich von einer »dokumentenbasierten« Form der Geschichtsschreibung abgrenzt und dieser eine Bevorzugung der persönlichen, im direkten Gespräch ermittelten Erinnerungen entgegenstellt: »Was sind Dokumente? Schriftliche Beurkundungen? Sind nicht auch Dokumente, was man erlebte, zu verkraften hatte, genießen konnte, zu bezeugen vermag und wiederzugeben in der Lage ist? So ist dieses Kapitel zu sehen. Für jede Zeile verbirgt sich ein Lecker Bürger« (Leck, S. 100). Das Zitat nimmt Bezug auf das Kapitel »Lecker Bürger erinnern sich«, das eine Sammlung von kurzen persönlichen Berichten, teilweise nur von einem Absatz Länge, zu den verschiedensten Themen enthält, unter anderem zu Erscheinungsbild und Persönlichkeit einzelner Einwohner, zu handwerklichen und wirtschaftlichen Praktiken und zu Flucht- und Vertreibung. Die zitierte ›methodische Verortung‹ dieses Abschnitts ist gerade in ihrer Vagheit und Offenheit typisch.
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Diese Praxis zielt, so haben wir vielfach gesehen, darauf ab, die Zuständigkeit für die vermeintlich ureigene Geschichte einer eng lokalisierten, geschlossen Dorfgemeinschaft zu reklamieren und demgegenüber alle Außeneinflüsse und überregionalen Zusammenhänge an eine nicht weiter spezifizierte, anonyme Forschung zu delegieren. Im Einzelnen lassen sich vier Komplexe identifizieren, in denen die Ortschronistik von den zentralen Theoremen der wissenschaftlichen Alltagsgeschichte abweicht. 1) Im Frühjahr 2013 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine Tagung zum Thema »Gedenkstätten und Geschichtspolitik« statt. Einige der Vorträge drehten sich um lokale Erinnerungskulturen, unter anderem im Rahmen von Geschichtswerkstätten. Der Tagungsbericht referierte die sich anschließende Diskussion: »In der Diskussion wurde deutlich, dass der Hinweis auf das dezentrale Element zahlreicher Geschichtsprojekte zum Nationalsozialismus im städtischen Raum eher auf einen Prozess der Auseinandersetzung gerichtet sei, als auf ein Ergebnis.«163 Dieses Fazit bestätigt ein Ideal der Pluralisierung erinnerungskultureller Debatten, von dem auch zahlreiche alltagsgeschichtliche Texte der vorangehenden Jahrzehnte ausgegangen waren. Anstelle eines einheitlichen, geschlossenen Geschichtsbilds sei die Vielfalt der (widerstreitenden) Stimmen anzustreben. Die lokale Geschichte sei eher zu verflüssigen als festzuschreiben. Die zahlreichen Ortschroniken, die währenddessen publiziert worden sind, spiegeln dieses Anliegen allerdings nicht wider. Das Ziel von Heimatbuch-Projekten ist unzweifelhaft: Sie sind weniger auf den Prozess als auf das Ergebnis hin orientiert. Das fertige, im Grunde zeitlose Produkt der Ortschronik, in der die Geschichte der lokalen Gemeinschaft generationsübergreifend festgehalten ist, steht im Mittelpunkt. Der Historiker Carl-Hans Hauptmeyer hatte mithilfe einiger Studierender der Universität Hannover über mehrere Jahre eine Chronik des Gehrdener Stadtteils Everloh angefertigt. Er konstatierte in dem Buch aus dem Jahr 1988, dass »die Interessen der Bürger eines Ortes und der von außen in diesen Ort eindringenden Studierenden oft auf unterschiedlichen Ebenen« gelegen hätten; Hauptmeyer wollte diese Gegenüberstellung jedoch dahingehend aufgelöst sehen, dass die Einwohner die Chronik als Anregung nehmen, ihre Geschichte in Zukunft »weiter aufzuarbeiten«. Weiter heißt es: »Mit unseren Beiträgen ist die Everloher Geschichte nicht abschließend erforscht. […] [S]chließlich ändern sich phasenhaft die Fragen, für die wir Menschen allgemein oder die Geschichtsforscher speziell Antworten in der Geschichte suchen«.164 Hierbei handelte es sich um eine genuin geschichtswissenschaftliche Sichtweise, die dem historiografischen Selbstverständnis von Heimatbuch-Autoren eben nicht ent163 Mühlenberg: Tagungsbericht. 164 Hauptmeyer (Hg.): Everloh, S. 14–15, 399.
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sprach bzw. entspricht. Die allermeisten Laien-Chroniken sind gerade nicht als Anregung, Aufforderung oder Provokation gedacht, Publiziertes nachzuprüfen, andere Sichtweisen zu erwägen, die Geschichte aus eigener Perspektive umzuschreiben etc. Es geht vorrangig darum, die Geschichte einer vergleichsweise geschlossenen Gemeinschaft zu konservieren.165 Chronikautoren gehen im Unterschied zur wissenschaftlichen Geschichte nicht von einer stetigen, grundlegenden Revisionsbedürftigkeit von Ansichten und Geschichtsbildern im Wandel der Zeiten aus. In diesem Sinne steht die Vielfalt der Beiträger und der persönlichen Erinnerungen, die Chroniken zusammentragen, nicht im Zeichen eines pluralen Geschichtsbildes; sie ist in erster Linie vor dem Hintergrund des charakteristischen Strebens nach Vollständigkeit zu sehen, das die ChronikHistoriografie auszeichnet. Auch geht es bei zukünftigen Erweiterungen oder Neufassungen der Chroniken nicht um eine Revision der Lokalgeschichte, sondern um ihre Ergänzung bzw. Fortschreibung. 2) Ortschroniken tragen im Allgemeinen zur Stabilisierung von Identitäten bei. Sie sind im Grunde selbst aktiv an der Erzeugung einer dorfgemeinschaftlichen Identität beteiligt. Dieser affirmative Charakter von Ortschroniken stand den kritischen Absichten der Alltagsgeschichte entgegen. Alltagsgeschichte trachtete angesichts ihrer Allianz mit linken, gesellschaftskritischen Bewegungen danach, Identitäten zu hinterfragen und aufzubrechen, anstatt sie zu verfestigen. Viele alltagsgeschichtliche Forschungen sahen es als ihre Aufgabe an, den eigenen Wohnort, die eigene Arbeitsstätte etc. »mit anderen Augen« zu sehen, seine »dunklen Geheimnisse« ans Licht zu holen und seine Unrechtsgeschichte aufzudecken.166 Als die akademische Alltagsgeschichte sich im Laufe der 1980er Jahre zunehmend von gesellschaftspolitischen Ansprüchen löste, entschärften sich ihre kritischen Ziele zwar, doch blieb sie weiterhin einem zweischneidigen Verhältnis von Identitätsbildung und -auflösung verhaftet. In der breiten Masse der Ortschroniken schlug sich dieser Impetus auch in der Folgezeit nicht nieder. 3) Neben der angesprochenen Pluralisierung strebte die wissenschaftliche Alltagsgeschichte nach einer systematischen Perspektivenvielfalt. Die Geschichte sollte nicht allein aus der Perspektive bislang ausgeblendeter Akteure beleuchtet werden, es sollten dieselben Themen aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet werden.167 Im Gegensatz dazu gehen Ortschroniken ›bloß‹ eklektisch 165 Vor diesem Hintergrund sprechen kritische Stimmen auch von Ortschroniken als »Verdinglichung« eigentlich »lebendiger« Erfahrungen, Lecke: »Geschichte«, S. 47. 166 Vgl. Weisfeld: »Arbeitsstelle«; vgl. zur systematischen »Verfremdung« der gewohnten Lebenswelt auch Lüdtke: Einleitung, S. 18. 167 Dieses Moment brachten Alltagshistoriker insbesondere gegenüber der vermeintlich vereinheitlichenden Sozialgeschichte in Stellung, Lüdtke: Einleitung, S. 23. Vgl. auch ders.: Alltagsgeschichte, S. 560; Sarasin: Arbeit, S. 73.
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vor. Sie sehen sich für alle Bereiche des Alltags zuständig. Keine Geschichte erscheint ihnen zu abseitig, keine Erzählung zu unwichtig, kein Detail zu uninteressant, sofern sie in direktem Bezug zum Ort stehen. Allerdings geht es Ortschroniken im Unterschied zur Alltagsgeschichte hierbei nicht um eine Systematisierung (und Kontrastierung) verschiedener historiografischer Perspektiven; auch geht es ihnen nicht um die Verknüpfung individueller und gesellschaftsgeschichtlicher Perspektiven. Chroniken heben das Singuläre und Anekdotische vorrangig um seiner selbst willen hervor. 4) Von ihren Streifzügen durch die Einzelheiten der Ortsgeschichte kehren Heimatbücher nur sporadisch zum Allgemeinen zurück. Sie tragen letztlich nichts Wesentliches zum Verständnis der Wechselseitigkeit von Mikro- und Makroebenen in der Geschichte bei. Statt diese Ebenen in eine reziproke Beziehung zueinander zu setzen, wie es die wissenschaftliche Alltagsgeschichte forderte,168 spricht aus der Ortschronik-Historiografie eher eine einseitige, emphatische Betonung des »Nahraums«.169 Die alltagsgeschichtliche Programmatik der Verknüpfung von individueller und gesellschaftlicher Ebene war mit emanzipativen Forderungen verbunden; in ihr schlug sich eine mehr oder weniger latente System-Lebenswelt-Gegenüberstellung nieder.170 Daran anknüpfend ließe sich formulieren, dass Ortschroniken diese Gegenüberstellung zuspitzen und gewissermaßen hypostasieren: Die auf der einen Seite stehende (lokale) Lebenswelt gerät zu einer geschlossenen Entität, die keine wesentlichen Wechselbeziehungen zu dem eher antagonistischen System unterhält, das sie umgibt. In dieser Zuspitzung geht die Chronik-Historiografie weit über das hinaus, was die geschichtswissenschaftliche Alltagsgeschichte als lokale »Aneignung von Strukturen« erforschen will. Sie betrachtet »die Strukturen« im Grunde überhaupt nicht als ihren Gegenstand.171 Aus wissenschaftlicher Sicht liegt die Kritik auf der Hand: Ortschroniken ignorieren die vielfältige Verwobenheit von Mikro- und Makroebene. Ihnen entgeht die durchaus wirkmächtige strukturelle Prägung von »Wahrnehmungs-, Denk-, Sprech- und Handlungs168 Vgl. Peukert: »Drittes Reich«, S. 533. 169 Die Formulierung lehnt sich an das an, was Markus Schroer im Zusammenhang soziologischer Konzepte der Moderne als »Privilegierung der Nähe und des Ortes« beschrieben hat, gegenüber der »entferntere«, »gesellschaftliche« Einflüsse tendenziell marginalisiert und kritisiert würden, Schroer : Räume, S. 11. 170 »In Sieders Argumentation (und nicht nur in seiner) gehören Strukturen zu dem, was Jürgen Habermas ›das System‹ nennt, während das Subjekt der Alltagsgeschichte die ›Lebenswelt‹ bewohnt. Bedroht wird dieses Subjekt in seiner Lebenswelt nun allerdings von den Kolonisierungsgelüsten des Systems« (Sarasin: Arbeit, S. 75, bezieht sich hier exemplarisch auf Sieder : Sozialgeschichte). 171 Damit trifft sie die akademische Kritik eines »Lokal-Positivismus«: »Die Scheu vor strukturellen Analysen fördert in zuweilen krasser Weise eine induktive Empirie, die sich kaum mehr von der Phänomen-Ebene der einzelnen Quellenaussagen zu lösen vermag und so in einen naiven Positivismus umschlagen kann« (Sarasin: Arbeit, S. 75).
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weisen« vor Ort zu großen Teilen.172 Chroniken würdigen diese Verflechtungen – die gesellschaftliche Prägung selbst des alltäglichsten und lokalsten Ereignisses – praktisch nicht. Damit unterlaufen sie zentrale Errungenschaften der alltagsgeschichtlichen Bewegung – gerade auch im Blick auf die nationalsozialistische Geschichte, beispielweise wenn es darum geht, die Ursprünge der NS-Verfolgungspolitik ethnischer und anderer Minderheiten im Kleinsten sichtbar zu machen.173 Ortschroniken tragen stattdessen zur Verfestigung einer strikten Dualität zwischen Alltag und Erfahrung auf der einen Seite und Ideologie und Politik auf der anderen Seite bei.174 Freilich gelang es – in umgekehrter Blickrichtung – auch der wissenschaftlichen Lokal- und Alltagsgeschichte nicht immer, die postulierte Wechselseitigkeit beider Ebenen zu würdigen. Nicht selten blieb die Asymmetrie, die eigentlich überwunden werden sollte, bestehen, so dass die Lokalgeschichte vielfach doch als bloßer Beispielfundus für die historisch entscheidenden, überregionalen Gesellschaftsstrukturen diente. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba schrieb 1985 über Konflikte im ländlichen Raum in der alltagsgeschichtlichen Publikation »Geschichte entdecken« von Hannes Heer und Volker Ullrich: »Benachteiligungen und Privilegien scheinen vielmehr eher zufällig oder naturwüchsig verteilt. Die vielen Querverbindungen und Beziehungen der Familien, Verwandtschaften, Nachbarschaften, Altersgruppen verdecken die tieferliegenden sozialen Gegensätze und Strukturen. Man wird lange und meist vergeblich nach offenen Konfliktfronten suchen, weil die Quellen immer nur von kleinen Auseinandersetzungen zwischen konkreten Personen berichten, die ihre scheinbar unwichtigen Privatfehden austragen. Erst wenn man das ›gegenliest‹, wenn man dieses Puzzle nach Themen und Situationen, nach Sozial- und Berufsgruppen, nach sozialen Räumen und Geschlechterrollen sortiert, zeigen sich auch die systematischen Züge dörflicher Gesellschaft und Herrschaft.«175 Kaschubas Ausführungen lassen wenig Zweifel daran erkennen, dass diese »tieferliegenden, systematischen« Verhältnisse letztlich doch das bedeutendere Element in der Konfrontation mit den »zufälligen« Ereignissen und Beziehungen bleiben. In dieser Sicht trägt Ortsgeschichte 172 Ebd., S. 76. Vgl. Lüdtke: Geschichte, S. 146. 173 Vgl. Lüdtke: Alltagsgeschichte, S. 561. 174 Die Alltagsgeschichte versuchte gerade dies zu vermeiden: »Die Mikrohistorie, oder die sorgfältige Konstruktion historischer ›Miniaturen‹, erlaubt uns, den Zweideutigkeiten und Widersprüchen näherzukommen, in denen die Menschen ihr Leben tatsächlich leben. […] Dieser alltägliche Kontext zersetzt die konventionellen Dualitäten von persönlich und politisch, öffentlich und privat. Es geht aber darum, keine neue Dualität zwischen der öffentlichen Sphäre, der Politik und der Ideologie einerseits und der ›realen Erfahrung‹ und dem Alltag andererseits einzuführen, sondern zu zeigen, wie die Politik eben genau an diesem Punkt […] ihre emsige Wirkung entfaltet« (Eley : Politik, S. 27). 175 Kaschuba: Leben, S. 84–85.
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exemplarisch zu einer Strukturgeschichte des »dörflichen Lebens« bei. Die Ortschronik-Historiografie stellt demgegenüber eine (weitgehend unbewusste) Gegenbewegung gegen den geschichtswissenschaftlichen Hang zur Vorordnung der Makro- bzw. Mesoebene dar. Damit sind vier zentrale Komplexe benannt, in denen die Chronik-Geschichtsschreibung praktisch deutlich anderen Prämissen folgt, als der wissenschaftlichen Alltagsgeschichte vorschwebten und weiterhin vorschweben – ohne dass sie in die entsprechenden theoretischen und methodologischen Diskussionen involviert gewesen wäre. Noch ein Wort zum Nationalsozialismus in der wissenschaftlichen Alltagsgeschichte auf der einen Seite und der Ortschronik-Historiografie auf der anderen Seite: Die westdeutsche Alltagsgeschichte richtete ihr Augenmerk in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren vor allem auf die »Betroffenen« des Nationalsozialismus, indem sie Potentiale der Widerständigkeit im Alltag des »Dritten Reichs« auszuloten versuchte. Das alltägliche Verhalten wurde daraufhin untersucht, welche Freiräume es für den eigensinnigen, teils ablehnenden, teils erschwerenden, teils sabotierenden Umgang mit den Vorgaben der nationalsozialistischen Obrigkeiten zuließ.176 Gleichzeitig versuchte die Alltagsgeschichte, die verschwiegenen Verbrechen im Namen des Nationalsozialismus vor Ort hervorzuholen und der lokalen Öffentlichkeit bewusst zu machen. Spätestens ab den 1990er Jahren ging die akademische Alltagsgeschichte dann dazu über, die weite Verbreitung der Konformität, des Hinnehmens, wenn nicht aktiven Teilnehmens an nationalsozialistischen Herrschafts- und Gewaltpraktiken zu betonen. Alltagsgeschichte verband sich mit der neuen Konjunktur einer Täterforschung, die den Blick nun auf die »ganz normalen Täter« lenkte.177 Nach einigen aufsehenerregenden, jedoch kurzlebigen Kontroversen wie der »Goldhagen-Debatte«178 begann sich die Historiografie nationalsozialistischer Täterschaft zunehmend von den bisher bestimmenden Polaritäten zu lösen, dass heißt von der Polarität von Pathologie und Normalität auf der einen Seite und Dämonisierung und Viktimisierung auf der anderen Seite. Vor allem seit dem neuen Jahrtausend differenzierte die Geschichtswissenschaft eine Vielzahl von Tätergruppen mit unterschiedlichster sozialer Herkunft und Motivation.179 Parallel dazu haben die Nachkommen einstiger NS-Täter selbst stärker die Öffentlichkeit gesucht, beispielsweise in Memoiren oder Dokumentarfilmen.180 Die Ortschronik-Historiografie hat diese Entwicklungen nicht mit vollzogen. Vielmehr stellt sie bis heute Opfererzäh176 Siehe beispielhaft Broszat: Resistenz. 177 Lüdtke: Stofflichkeit, S. 75–76; Browning: Männer; Welzer : Täter. 178 Goldhagen: Hitler; in deutscher Übersetzung erschienen als »Hitlers willige Vollstrecker«. Siehe auch Schoeps (Hg.): Volk. 179 Kühne: Tatmotivationen. 180 Wrochem: Einführung.
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lungen in den Mittelpunkt. Zudem tendieren Ortschroniken in vielen Fällen dazu, alltägliche Konflikte recht schnell und umfassend zu oppositionellem Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime zu stilisieren. Chroniken agieren in dieser Hinsicht meist mit der Logik eines Entweder-Oder : Lokale Konflikte sind demnach oft gleichbedeutend mit einer grundlegenden Ablehnung des Regimes und seiner Ideologie. Die komplexe Verwobenheit von Teilnahme und Verweigerung, von der die akademische Forschung zum nationalsozialistischen Alltag ausgeht, findet sich in diesem Bild nicht wieder.
Landes-, Regionalgeschichte und Ortschroniken Landesgeschichte vom frühen 19. Jahrhundert bis zu den 1970er Jahren In zahlreichen deutschen Herrschaftsgebieten begannen die Landesherren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigene Geschichtsschreibung zu fördern. Diese richtete sich primär auf die Geschichte der herrschaftlich umgrenzten Territorien; sie entstand in einem gewissen Spannungsverhältnis zum aufkommenden Nationalbewusstsein.181 An diese historiografischen Bemühungen schloss sich vielerorts unabhängig voneinander die Gründung von Geschichtsvereinen an. Auch deren Arbeit orientierte sich in erster Linie an politischen und Verwaltungsgrenzen. In den ländlichen Gegenden und kleineren Städten führten diese Vereine Akademiker und Laien aus dem Bürgertum zusammen.182 Zugleich entstanden erste Periodika. Die heutige Landesgeschichte verfolgt ihre Entstehungsgeschichte meist bis zu diesen Anfängen zurück.183 Zum Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich die Landesgeschichte in historischen Kommissionen zu institutionalisieren und damit zunehmend vom Geschichtsvereinswesen zu emanzipieren.184 Ihr disziplinäres Selbstbewusstsein festigte sich in der Weimarer Republik weiter ; zahlreiche landesgeschichtliche Institute wurden nach dem Ersten Weltkrieg gegründet. Die Landesgeschichte stand in einem doppelten Spannungsverhältnis: einerseits zur mittlerweile fest etablierten universitären Geschichtswissenschaft, andererseits zu der von Laien betriebenen Heimatgeschichte. Von der Geschichtswissenschaft übernahm die Landesgeschichte einen gefestigten methodischen Rahmen. Sie wurde dennoch als eher zweitrangig angesehen von einer Historiografie, die sich bis weit in die zweite Hälfte des 181 182 183 184
Steinbach: Regionalgeschichte, S. 528. Ditt: Heimatbewegung, S. 136–138. Vgl. z. B. Küster : Medien; Steinbach: Diskussion, S. 185. Ditt: Heimatbewegung, S. 140.
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Ortschroniken und Geschichtsschreibung
20. Jahrhunderts vor allem auf die nationale Geschichte konzentrierte. Von der ersten heimatgeschichtlichen Bewegung hingegen übernahm die Landesgeschichte einen erweiterten Raumbegriff, der sich weniger auf politische Grenzen als auf »Kulturräume« bezog. Derartige Räume wurden durch ihre »Stammes«bzw. »Volksgeschichte« sowie geteilte kulturelle Praktiken und Gruppenidentitäten bestimmt.185 Einen vergleichbaren Raumbegriff hatte auch die »Kulturgeografie« vertreten, die von zentraler Bedeutung für die Landeskunde war. Auch wenn die Grenzen zwischen kulturgeschichtlichen, volkskundlichen, heimat- und landesgeschichtlichen Forschungen im Laufe des späten 19. und des 20. Jahrhunderts in fachlicher Hinsicht zu keiner Zeit trennscharf zu ziehen waren, bewahrte die Landesgeschichte eine gewisse, vor allem institutionell bedingte Eigenständigkeit. Diese verschaffte ihre eine begrenzte, aber stabile Basis ihrer Forschungstätigkeit, isolierte sie jedoch zu einem gewissen Grad von der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Dazu trug auch die bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts und teilweise bis heute ausgeprägte geografische Schlagseite der Landesgeschichte maßgeblich bei.186 Im »Dritten Reichs« arbeite sie ähnlich eng mit dem Regime zusammen wie die Heimatkunde. Vor allem die organizistischen Vorstellungen der Verbindung von Mensch und Raum, die die Landesgeschichte in den 1920er Jahren entwickelt bzw. die sie aus der Kulturgeografie übernommen hatte, waren unmittelbar anschlussfähig an die nationalsozialistische »Blut-und-Boden«-Ideologie.187 Die Landesgeschichte leiste in diesem Rahmen – teils bereitwillige – Beiträge zur »Ostsiedlung« und ihrer wissenschaftlich-völkischen Begründung.188 Daraus folgte eine – faktisch kaum aufgearbeitete – Belastung der Landesgeschichte in der Nachkriegszeit. Eine Reaktion darauf war die noch stärkere Distanzierung von einer vorgeblich emotional getränkten »Heimatgeschichte«, an deren Stelle eine rein wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lokalen treten müsse. Eine andere Reaktion bestand in der Konstruktion regionaler, von der NS-Zeit vermeintlich unberührter Traditionslinien, deren Bearbeitung keinerlei Neuorientierung bedürfe. Das nationalsozialistische Regime erschien demgegenüber vorrangig als »Problem auf Staatsebene«.189 Dessen ungeachtet bemühte sich die 185 186 187 188
Vgl. Speitkamp: Regionalismen, S. 32–33. Vgl. Fried: Einleitung, S. 5–6. Ditt: Raum; Speitkamp: Landesgeschichte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg trauerten manche Landeshistoriker noch länger dem Verlust des »Volksdeutschtums in Ostmitteleuropa« nach, Bosl: Landesgeschichte, S. 175– 176. 189 Vgl. Bosl: Landesgeschichte, S. 185–186. So ist es zu interpretieren, wenn Pankraz Fried noch 1978 in einseitiger Rhetorik davon spricht, dass des der »Nationalstaat« gewesen sei, von dem die »kleinen Länder und Territorien […] oft vergewaltigt worden waren«, und dass die Länder sich nach 1945 »wieder auf ihre Eigenart und ihre eigengeprägte Geschichte […] besinnen« würden, Fried: Einleitung, S. 9.
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Landesgeschichte in den 1950er und 1960er Jahren weiterhin um ihre Legitimation gegenüber der »großen« Geschichte. Sie arbeitete sich an theoretischen Fragen des Zusammenhangs von Teil und Ganzem einer Nation bzw. Lokal- und »Universalgeschichte« ab.190 Daneben vertrat sie thematisch einen ganzheitlichen – in der Praxis eher eklektischen als »interdisziplinären« – Zuständigkeitsanspruch für Räume unterhalb der Größe von Staaten.191
Landes- und Regionalgeschichte ab den 1970er Jahren In den 1970er Jahren erwuchs der Landesgeschichte eine neue Herausforderung durch die im Entstehen begriffene »Regionalgeschichte«, die ebenfalls »Räume mittlerer Größe« für sich reklamierte.192 Der Aufstieg der Regionalgeschichte überschnitt sich mit der alltagsgeschichtlichen und neuen Heimatbewegung.193 Sie orientierte sich jedoch anfangs am etablierten, derzeit bereits konventionellen Methodenkanon der Historischen Sozialwissenschaft, anstatt die erfahrungsgeschichtlichen Innovationen der akademischen Alltagsgeschichte zu übernehmen. Thematisch betrachtet standen in den 1970er Jahren wirtschaftsgeschichtliche Fragen sowie Debatten um Zentren und Peripherien der Industrialisierung im Mittelpunkt. Bald darauf hielten allerdings ein breiteres Themenspektrum sowie historisch-anthropologische Perspektiven Einzug in die neue Regionalgeschichte.194 Unter anderem durch didaktische Studien beeinflusst machte sie das »regionale Bewusstsein« zu ihrem Thema.195 Zudem zeichneten sich die regionalgeschichtlichen Forschungen durch einen deutlich konstruktivistischeren Begriff der »Region« aus, der den aktiven, gesellschaftlichen Beitrag zu ihrer Herstellung hervorhob.196 Auch wenn sich die »Regionalgeschichte« rasch als gängiges Etikett für eine Vielzahl von Forschungsbemühungen, die sich auf »die Heimatgeschichte, Stadtgeschichte, die Geschichte administrativer Gebietseinheiten (Bezirke, Kreise) und der örtlichen Arbeiterbewegung sowie die Betriebsgeschichte« richteten, durchsetzte,197 bewahrte sich die Landesgeschichte weiterhin ihre disziplinäre Eigenständigkeit. Der Aufstieg der Regionalgeschichte führte al190 191 192 193 194 195 196 197
Vgl. Bosl: Landesgeschichte. Vgl. Schlenger : Landeskunde, S. 71–73; Petry : Grenzen. Vgl. Zang: Reise. Parallel dazu hatte sich eine Modernisierung der Geografie eingestellt, insbesondere ihre Öffnung gegenüber der Soziologie, was nicht ohne Folgen für die Landes- und Regionalgeschichte blieb, vgl. nur Hitz: Geografie. Reulecke: Landesgeschichte, S. 202–207. Vgl. Knoch/Leeb: Heimat. Vgl. Richterhoff: Geschichte, S. 18; Mulley : Regionalgeschichte, S. 48; Kühne: Region. Sonnet: Heimat, S. 122.
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Ortschroniken und Geschichtsschreibung
lerdings zu einer parallelen Erweiterung des landesgeschichtlichen Methodenspektrums, das sozialgeschichtliche Forschungsansätze und Raumkonzepte aufzunehmen begann.198 Die Landesgeschichte erwies sich hierbei jedoch als eher zögerlich und konservativ. Noch 1978 erschien eine Anthologie zu »Problemen und Methoden der Landesgeschichte« herausgegeben von dem bayrischen Landeshistoriker Pankraz Fried, die Grundlagentexte für die landesgeschichtliche Lehre und Forschung zusammenstellte und sich hierbei nicht scheute bis in die 1920er Jahre zurückzugehen.199 Zwar wurden die »heiklen« Jahrzehnte der 1930er und 1940er Jahre ausgespart, doch stammte der Großteil der Beiträge aus den 1950er und 1960er Jahren, unter anderem von völkischen Ostforschern wie Hermann Aubin. Der Herausgeber bezeichnete die Verfassungs- und Siedlungsgeschichte sowie die politische Geschichte auf Länderebene trotz aller strukturgeschichtlichen Erneuerungsversuche als noch immer »von ausschlaggebender Bedeutung« für das Fach.200 Des Weiteren ist die Landesgeschichte im Unterschied zur Regionalgeschichte bis heute skeptisch gegenüber den historisch-anthropologischen Perspektiven, die die neuen Geschichtsbewegungen der 1970er und 1980er Jahre maßgeblich inspiriert hatten. Erst jüngst zeigte sie Ansätze, das sozialhistorische Spektrum zu überwinden und kulturgeschichtliche Perspektiven neuerer Provenienz zu integrieren.201 Viele Autoren verwenden die Begriffe Landes-, Heimat- und Regionalgeschichte synonym oder in Kombination.202 In den letzten Jahrzehnten reihten sich zudem die Bezeichnungen Alltags- und Lokalgeschichte in dieses Bündel zusammenhängender, nicht immer trennscharfer Bereiche ein. In der Tat weisen alle diese Richtungen recht große Überschneidungen bei ihren Gegenstandsbereichen und methodischen Ansätzen auf.203 Es ist deshalb unmittelbar einsichtig, dass sich ihre Konjunkturen seit den 1970er Jahren vielfach gegenseitig befeuert haben.204 Dennoch lassen sich bis heute gewisse Differenzierungen aufrechterhalten.
Vgl. Hinrichs: Stand; Bartosˇ : Probleme; Steinbach: Regionalgeschichte; ders.: Diskussion. Fried (Hg.): Probleme. Fried: Einleitung, S. 7. Vgl. die Periodisierung bei Ditt: Wandel. Vgl. nur Mütter : Heimatgeschichte, S. 456. Deutlich seltener fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingegen die zuvor ebenfalls geläufige Bezeichnung »Territorialgeschichte« Verwendung. 203 Vgl. Speitkamp: Regionalismen, S. 39. 204 Vgl. Hauptmeyer : Rückblick, S. 20; Zang: Annäherung.
198 199 200 201 202
Landes-, Regionalgeschichte und Ortschroniken
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Landes-, Regionalgeschichte und Ortschroniken Aufgrund der erwähnten Überschneidungen gilt zum Verhältnis der Landesbzw. Regionalgeschichte zur Ortschronistik Einiges, was bereits in den vorangehenden Kapiteln zur Heimat- und Alltagsgeschichte gesagt worden ist. Speziell im Blick auf die Landes- und Regionalgeschichte ist allerdings der räumlich abweichende Zuschnitt zu bedenken: Per definitionem beschäftigen diese sich eher mit Gebieten unterhalb der Größe von Nationen.205 Ortschroniken und Heimatbücher, so wie ich sie in der vorliegenden Studie betrachtet habe, konzentrieren sich demgegenüber auf Kleinsträume. Ein weiterer Punkt, der ebenfalls dazu führt, dass sich zum Verhältnis von Landesgeschichte und Ortschronistik vergleichsweise wenig sagen lässt, ist das recht steife Verhältnis ersterer zur Laiengeschichte im Allgemeinen. Wie gesehen grenzte sich die Landesgeschichte lange Zeit, um ihre eigene Identität und Existenz zu sichern, gegenüber allen Formen nicht-wissenschaftlicher »Heimatgeschichte« ab. Sie öffnete sich in den 1970er und 1980er Jahren nicht in gleicher Weise für eine Geschichte »von unten« wie die Alltagsgeschichte – oder auch die Regionalgeschichte, die viel stärker Anschluss an die alltagsgeschichtliche und neue Heimatbewegung suchte. Landeshistoriker zeigen traditionell eine eher geringe Bereitschaft, historiografische Phänomene wie Ortschroniken und Heimatbücher, die dem eigenen, strengen wissenschaftlichen Anspruch nicht entsprechen, in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen.206 Die Landesgeschichte unterhielt und unterhält zur Heimatgeschichte im Allgemeinen ein weitgehend einseitiges Verhältnis, das diese als laienhafte Hilfs-»Wissenschaft« der akademischen bzw. institutionalisierten Forschung ansieht.207 In dieser Perspektive bilden Ortschroniken (nur) »die unterste Quaderschicht für den Bau der Landesgeschichte«.208
205 Vgl. Steininger: Heimatkunden, S. 35–36. Zur aktuellen Reflexion des Verhältnisses von Regional- und Lokalgeschichte vgl. etwa Reeken/Thießen: Geschichtskulturen. 206 Vgl. z. B. Reinhard (Hg.): Gemeindebeschreibungen. 207 Fried: Einleitung, S. 7; Hermann: Ortschronik, S. 43. 208 Heider-Neuburg: Ortsgeschichte, S. 49.
Ortschroniken in der DDR?
Einleitung Die Geschichtsschreibung in der ehemaligen DDR ist seit den 1990er Jahren intensiv aufgearbeitet worden. Nach einigen Jahren sei, so konstatierten die Historiker Konrad Jarausch, Matthias Middell und Martin Sabrow 1998, die anfängliche »Distanzierungs- und Bilanzierungsphase« zu Ende gegangen. Diese Phase sei auf der einen Seite vorwiegend von (persönlichen) Abrechnungen sowie moralischen und politischen Verurteilungen der Fehlleistungen der DDR-Historiografie und auf der anderen Seite von korrespondierenden Verteidigungs- und Rehabilitierungsanstrengungen geprägt gewesen. Die sich anschließende »Entpolitisierung« und »Verfachlichung« der Debatte hätten zu einer breiten »methodisch-theoretischen Diversifizierung« geführt.1 Seitdem sind zahlreiche Einzelstudien zu verschiedenen Aspekten der DDR-Geschichtswissenschaft sowie zusammenfassende Syntheseversuche erschienen, insbesondere zur Geschichtspolitik sowie zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.2 Dabei ging es auch um den Vergleich west- und ostdeutscher Geschichtsschreibung.3 Eine zunehmend wichtige Rolle spielt mittlerweile die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung, insbesondere die spannungsreichen Verflechtungen offizieller, öffentlicher, familiärer und privater Erinnerungskulturen.4 Eine weniger intensive Berücksichtigung hat demgegenüber die Heimat- und 1 Jarausch/Middell/Sabrow : Störfall, S. 36. 2 An dieser Stelle seien in Auswahl gennant: Bauer : Geschichtskultur ; Finker : Integration; Fox: Memory ; Leonhard: Geschichtsbewusstsein; Moller : Vergangenheit; Sabrow : Geschichte; ders.: Erinnerungskultur ; Tillack: Erinnerungspolitik; Wachsmuth: NS-Vergangenheit. 3 Danyel: Vergangenheit; Herf: Memory ; Schneider: Abschied. Hierbei geraten zunehmend die transnationalen Verflechtungen der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in den Blick, vgl. z. B. Brunner/Grashoff/Kötzing (Hg.): Asymmetrisch, S. 21–76. 4 Siehe z. B. Sabrow : DDR. Vor diesem Hintergrund wäre eine weiterführende Studie zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in Ortschroniken und Heimatbüchern der neuen Bundesländer vielversprechend.
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Ortschroniken in der DDR?
Regionalgeschichtsschreibung der DDR erfahren. Im Zuge der Wende ist auch sie zum Gegenstand kritischer »Rückblicke« geworden, die vor allem ihre politische Instrumentalisierung und Zensur hervorhoben.5 Ebenso finden sich vereinzelte Apologien, die eine im Grunde unpolitische, rein sachliche Lokalgeschichte zu behaupten versuchen.6 Differenziertere, analytische Entwürfe sind hingegen selten. Der israelische Historiker Alon Confino hat vor einiger Zeit zum Heimat-Verständnis der DDR im Allgemeinen geschrieben, dass es sich zwischen einem auf Natur und Tradition konzentrierten, eher sentimentalen Pol, der nahtlos an ältere Heimatkonzepte anknüpfen konnte, und einem ideologischen, klassenkämpferischen Pol bewegt habe. Confino deutet die Beziehung zwischen der lokalen Praxis der Konstruktion von Heimat und den gesellschaftlichen Leitbildern zwar komplexer, als dies bislang geschehen war, streift diese Frage jedoch eher am Rande.7 Die heimatgeschichtliche Praxis der DDR, auf Kreis- und Gemeindeebene, muss weiterhin als weitgehend unerforscht gelten.8 Eine exemplarische Studie zur Heimat- und Regionalgeschichte zwischen den 1930er und 1950er Jahren in Sachsen hat Thomas Schaarschmidt 2004 vorgelegt. Schaarschmidts Diktaturenvergleich stellt die Funktionalisierung von Heimat durch (politische) Interessen in den Mittelpunkt. Der Autor beleuchtet hierbei auch die Abhängigkeit der Regime-Vertreter von »regionalkulturellem Engagement und Freiwilligkeit« und die sich daraus ergebenden Beschränkungen der »offiziellen Kulturpolitik«.9 Das hebt auch Petra Behrens in ihrer Studie der heimatgeschichtlichen Aktivitäten im Eichsfeld zwischen 1918 und 1961 hervor. Behrens beschreibt eine Mischung aus Steuerungswillen und Angewiesenheit auf die Eigeninitiative der Regionalverbände.10 An diese Ambivalenz der historiografischen Praxis auf lokaler Ebene werden auch die folgenden Überlegungen immer wieder anschließen können. Der Vergleich, den ich zwischen der BRD und der DDR im Blick auf Ortschroniken und Heimatbüchern aus dem ländlichen Raum vornehmen werde, ist ein asymmetrischer. Bislang haben wir die typischen Charakteristika dieses Phänomens an westdeutschen Chroniken sowie Chroniken aller Bundesländer 5 6 7 8
Vgl. Blaschke: Landesgeschichte. Gemkow : Erforschung; Gutsche: Restriktionen. Confino: Germany, S. 108–111. Siehe zur regionalen Identität sowie zur Beschäftigung mit Heimat im weiteren Sinn – im Spannungsfeld von »socialist ideology« und »popular practice« – vor allem Palmowski: Nation; vgl. Oberkrome: Konzeption. 9 Schaarschmidt : Regionalkultur, S. 10. Siehe auch Scheunemann: »Gegenwartsbezogenheit«. Vgl. für einen allgemeineren Zuschnitt das Forschungsprojekt »Die DDR-Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht« am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, (zuletzt geprüft am 1. 9. 2015). 10 Behrens: Identität.
Heimatgeschichte in der DDR
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nach 1990 kennengelernt. Es wird sich zeigen, dass sich ein vergleichbares Genre mit der hinreichenden Eigenständigkeit in der DDR nicht etablieren konnte. Auch wenn sich einzelne Parallelen zwischen von Laien verfassten Heimatbüchern in beiden deutschen Staaten zeigen lassen, so setzten sich Heimatbüchern in Ostdeutschland zu keinem Zeitpunkt als eindeutig erkennbare, relativ unabhängige historiografische Form ab – gegenüber anderen (wissenschaftlichen, offiziellen) Formen der Geschichtsschreibung. Die Hauptgründe hierfür sind, um es vorwegzunehmen, zweierlei: Erstens war der Zugang zu den unverzichtbaren Ressourcen (Papier, Druckereien) eng begrenzt. So scheiterten viele Vorhaben schlicht an den materiellen Grundlagen. Der Druck und die Verbreitung von Publikationen zwar, zweitens, einem Begutachtungssystem unterworfen, dass im Wesentlichen an wissenschaftlichen und politischen Maßstäben orientiert war. Zumindest dem Anspruch nach sollten alle, auch kleinere Veröffentlichungen begutachtet und genehmigt werden. Die Möglichkeiten, Texte zu Papier zu bringen, die von den politischen und wissenschaftlichen Leitprinzipien allzu stark abwichen, waren – trotz aller praktischen Flexibilisierungen der Ansprüche – stark eingeschränkt. Dennoch wird dieser Abschnitt Ansätze und Spuren des Genres Ortschroniken und Heimatbücher in der lokalen, historiografischen Praxis der DDR zusammentragen. Dem vorangestellt ist eine umfassende Rekonstruktion der offiziellen Heimat- und Regionalgeschichte der DDR und ihrer Abweichungen und Ähnlichkeiten zur Alltags-, Heimat- und Lokalgeschichte der BRD.
Heimatgeschichte in der DDR Heimat-, Regionalgeschichte und »Ortschroniken« von der Nachkriegszeit bis zu den 1970er Jahren In der Deutschen Demokratischen Republik nahm die Entwicklung der Heimatund Lokalgeschichte einen anderen Verlauf als in der BRD. Zwar galt der Begriff der Heimat ebenfalls als stark belastet durch seine nationalsozialistische (und bürgerliche) Indienstnahme, allerdings sollte er im sozialistischen Staat radikal neu besetzt werden. Heimat sollte nunmehr mit der zu errichtenden sozialistischen Gesellschaft assoziiert werden.11 Es handele sich um den Raum, in dem der Aufbau des Kommunismus in der eigenen Lebenswelt erfahren werde. Wissenschaftliche Autoren verknüpften den Begriff mit der marxistischen Gesellschaftstheorie, woraus folgte, dass bestimmte objektive, soziale Voraussetzungen – namentlich die Überwindung der Klassengesellschaft – herbeigeführt 11 Mohr/Hühns: Einführung; Palmowski: Nation; Schwarz: Liebe.
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Ortschroniken in der DDR?
worden sein mussten, damit ein Ort überhaupt für jeden zur Heimat werden könne. Dadurch grenzten die Heimattheoretiker der DDR ihren Begriff zum einen von seiner »subjektiv-individualistischen« bürgerlichen Verwendung ab,12 zum anderen wurde »Heimat im Sozialismus« zu einer »ständigen Aufgabe«.13 Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen sich erste lokale Vereine in der sowjetischen Besatzungszone (wieder) zu formieren, hierunter auch einige Vereine, die sich dem Schutz oder der Erforschung der Heimat widmen wollten. Diese Entwicklung stieß auf Skepsis bei den politischen Funktionären; zugleich wollten sie kulturelle, »volksbildende« Tätigkeiten fördern. So wurden die verstreuten Initiativen noch vor der Staatsgründung der DDR per Verordnung dem »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung der DDR« angegliedert – einer Organisation die von Beginn an sehr zentralistisch und hierarchisch agierte.14 Der Kulturbund und seine Unterorganisationen hatten sich bei ihrer Arbeit an den Parteitagsbeschlüssen der SED auszurichten, die regelmäßig Interpretationen der deutschen und internationalen Geschichte enthielten; was sich bis zum Ende der DDR nicht ändern sollte.15 Die Heimatschützer und -forscher wurden in den »Natur- und Heimatfreunden« zusammengeführt, einem Zusammenschluss von Arbeitsgemeinschaften, die dem Kulturbund angehörten. Die Natur- und Heimatfreunde sollten vom Anspruch her alle heimatpflegerischen Aktivitäten der Besatzungszone bzw. der DDR erfassen, unterstützen, anleiten und kontrollieren. In einer Stellungnahme aus dem Präsidium des Kulturbundes heißt es in den 1950er Jahren, dass die Arbeit der Natur- und Heimatfreunde »auf die Schaffung einer schöpferischen Heimatkunde und -pflege gerichtet ist und alle Einzelbestrebungen auf die Mitarbeit am Ganzen des Aufbaus des Sozialismus in der DDR lenkt«.16 Im Laufe der 1950er Jahre kristallisierte sich die organisatorische 12 Riesenberger: Heimatgedanke, S. 330. 13 Lange: Wesen, S. 18. 14 Oberkrome: Landschaftsschutz, S. 229; Raschke: Methoden, S. 33; vgl. zum Kulturbund allgemein: Dietrich: Kulturbund; Zilch: Zeittafel. 15 Vgl. z. B. Paul Lauerwald: Die neuen Aufgaben nach dem X. Parteitag der SED und der 1. Zentralen Delegier-tenkonferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte auf dem Gebiet der Heimatgeschichte und der Chronikfüh-rung (Referat zum Leitungsseminar des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik vom 19.-22. 1. 1982 in Bad Saarow), in: BA, DY 27/9028; Deutscher Kulturbund: Aktuelle Probleme der marxistisch-leninistischen Heimatgeschichte. Arbeitstagung der Zentralen Kommission Natur und Heimat des Präsidialrates und ihres Fachausschusses Heimatgeschichte und Ortschronik, 2.-4. 6. 1972, in: BA, DY 27/7314, Bl. 98. Diese geschichtspolitischen Vorgaben betrafen prinzipiell alle historischen Aktivitäten im Kulturbund, auch die heimatgeschichtlichen. In der Folgezeit mussten sich die Heimathistoriker im Kulturbund zudem regelmäßig der Vorbereitung der nationalen Feiertage (allen voran den Geburtstagen der DDR) widmen. 16 Stellungnahme der Kommission des Präsidialrates des Deutschen Kulturbundes, 13. 11. 1959, in: BA, DY 27/7387, Bl. 1. Die Natur- und Heimatfreunde stellten mit ca. 50.000 Mit-
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Unterteilung in eine staatliche, eine Bezirks- und eine Kreisebene heraus, wobei die beiden letzteren den Weisungen der jeweils höheren Ebene unterlagen. Der Arbeit der Natur- und Heimatfreunde kam hierbei auf allen Ebenen ein untergeordneter Status gegenüber der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu; weit davon entfernt eine »Heimat-Bewegung« oder »Geschichte von unten« zu sein, hatte sie im Prinzip Hilfs- und Zuarbeit für die marxistische National- und Globalgeschichte zu leisten. Die erste Zentrale Tagung der Natur- und Heimatfreunde fand im November 1950 in Dresden mit etwa 200 Teilnehmern statt.17 Bereits auf der zweiten Zentralen Konferenz in Quedlinburg im Folgejahr wurde der »Zentrale Fachausschuß Heimatgeschichte/Ortschronik« gegründet, der sich der Vorbereitung einer nationalen Ortschronik-Verordnung widmete. Eine weitere Aufgabe bestand in der Unterstützung des schulischen Heimatkunde-Unterrichts, der ab 1954 eingeführt wurde. Darüber hinaus waren die Heimatpfleger des Kulturbundes in den 1950er und 1960er Jahren in die Gründung von Heimatmuseen, die Gestaltung von Dorffesten und Jugendfreizeiten und den Wettbewerb »Das schöne sozialistische Dorf« involviert. Zudem gründeten sich in einigen Bezirken und Kreisen Heimatzeitschriften. Die hauptsächliche Diskussion um den Heimatbegriff fand allerdings in der 1952 gegründeten Zeitschrift »Natur und Heimat« statt.18 Die Leitungsgremien des Kulturbundes achteten hierbei sorgfältig auf ihre Definitionsmacht über den sozialistischen Heimatbegriff.19 Neben den theoretischen Debatten, die sich vor allem um das Verhältnis von »Heimat« zu »Vaterland«, »Nation« und »sozialistischem Weltlager« oder zu Sozialismus und Klassengesellschaft drehte,20 fiel das inhaltliche Spektrum der Natur- und Heimatfreunde sehr breit aus. Es reichte von der Heimatgeschichte und der Denkmalpflege über die Vor- und Frühgeschichte bis hin zum Naturschutz oder auch zu wissenschaftlichen Spezialgebieten wie der Entomologie. Die sozialistische Heimatauffassung führte auch dazu, dass bereits in den 1950er Jahren erste Ansätze »agrar-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte« in die Heimatgeschichte aufgenommen wurden.21 Die Parteiorgane drängten
17 18 19 20 21
gliedern landesweit die größte Teilorganisation des Kulturbundes dar, Palmowski: Rules, S. 151–152. Gutsche: Grundtendenzen, S. 5. Für weitere Heimatzeitschriften-Gründungen in den 1950er und 1960er Jahren siehe Riesenberger : Heimatgedanke, S. 324; Raschke: Methoden, S. 35; Gutsche: Grundtendenzen, S. 9. Vgl. den Brief von Liesel Noack an die Bezirkskommission Frankfurt/Oder, 6. 6. 1958, in: BA, DY 27/6960, Bl. 29. Vgl. z. B. die Konzeption für die Aktivtagung der Natur- und Heimatfreund des Bezirkes Frankfurt (Oder) am Sonnabend den 19.7. und Sonntag den 20. 7. 1958, in: BA, DY 27/6960, Bl. 14–19. Riesenberger: Heimatgedanke, S. 324–326.
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zudem konstant darauf, die »Geschichte der Arbeiterbewegung« in den Mittelpunkt zu rücken und ihre Entwicklung »regional und örtlich aufzudecken«.22 In der Praxis ergab sich daraus allerdings eine mehr oder weniger ausgeprägte Arbeitsteilung, denn alsbald wurden eigene Arbeitsgemeinschaften gegründet, die sich in Betrieben, Kreisen und Gemeinden der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung widmeten.23 Entscheidend für die Tätigkeit der Heimathistoriker unter den Natur- und Heimatfreunden war die im Jahr 1954 einsetzende systematische Begutachtung heimatgeschichtlicher Literatur. Von nun an sollte nicht nur die sogenannte verlagsgebundene Literatur, sondern auch alle nicht verlagsgebundenen heimatgeschichtlichen Manuskripte vollständig begutachtet werden.24 Von der Begutachtung war die Druckgenehmigung abhängig; folglich konnte keine heimatgeschichtliche Schrift mehr ohne eine solche erscheinen. Das offizielle Ziel lag in der Verbesserung der Qualität heimatkundlicher Publikationen. Darin inbegriffen war die ideologische Kontrolle bzw. Zensur der Texte. Bald ging die Begutachtung auf die Bezirksebene der Natur- und Heimatfreunde über. Dies änderte jedoch nur bedingt etwas daran, dass der heimatgeschichtliche Gutachtenbetrieb bis zum Ende der DDR faktisch überlastet war und Autoren oft sehr lange Zeit auf Rückmeldungen warten mussten. Wenden wir uns dem besonderen Gebrauch des Begriffs »Ortschronik« in der DDR-Historiografie zu: In der frühen Nachkriegszeit bis in die erste Hälfte der 1950er Jahre widmeten sich die Historiker und Archivare unter den Natur- und Heimatfreunden notgedrungen konservatorischen Tätigkeiten. Es galt, das durch Kriegszerstörungen vernichtete und verstreute, lokalgeschichtliche Quellenmaterial zu sichern sowie die weitere Vernichtung historischer Akten durch Gemeindeverwaltungen und Privatpersonen zu verhindern.25 Darüber hinaus drängten die leitenden Heimathistoriker des Kulturbundes auf eine staatliche Anordnung zur Einrichtung ortschronistischer Dokumentationen in möglichst allen Gemeinden der DDR, um wenigstens das gegenwärtig entste22 Schmiedt: Rezension, S. 864. Vgl. als weiteres Beispiel den entsprechenden Auftrag an professionelle und Laienhistoriker auf der zehnten, landesweiten Tagung des Ausschusses »Heimatgeschichte/Ortschronik« im Jahr 1966, Maur : X. Tagung, S. 152. 23 Gemkow : Arbeit. 24 Gutsche: Grundtendenzen, S. 8; Mohr/Hühns (Hg.): Einführung, S. 286. Nicht verlagsgebundene Literatur durfte einen Umfang von hundert Seiten nicht überschreiten und konnte von anderen Einrichtungen als den Verlagen herausgegeben werden, beispielsweise den Räten der Kreise oder Gemeinden. 25 Hans Heinrich Leopoldi: Stadtarchive, Stadtgeschichte und Ortschronik, 30. 5. 1952, in: BA, DY 27/3317. Im Hintergrund standen zum einen Kapazitätsprobleme und zum anderen die Vernichtung belastenden Beweismaterials aus der NS-Zeit, vgl. Zentraler Fachausschuß Heimatgeschichte/Ortschronik: Richtlinien für die Anlage und Führung von Orts- und Gemeindechroniken ab 1945, 29. 7. 1952, in: BA, DY27/3317, Bl. 103.
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hende Quellenmaterial für die Zukunft zu sichern.26 Schließlich erließ die staatliche Regierung im Jahr 1955 eine sogenannte »Anordnung über die Führung von Ortschroniken«.27 Das Hauptziel stellte die fortlaufende Sammlung und Aufbereitung zeitgeschichtlicher Materialien dar, um die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ab 1945 zu dokumentieren. Hierbei formulierte die Anordnung einen ganzheitlichen Anspruch, der sich vom gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich bis zu den Naturverhältnissen erstreckte. Gerade kleinere Gemeinden waren bei dieser Aufgabe auf die Mitarbeit interessierter Laien angewiesen. Die von den Gemeinderäten zu bestellenden Ortschronisten sollten dabei jedoch in ein Geflecht regionaler Institutionen wie Archive, Bibliotheken und Museen eingebunden sein. Zugleich war die Koordination und Anleitung der lokalen Unternehmungen durch die Vertreter höherer Ebenen des Kulturbundes vorgesehen. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die unmittelbare Gegenwart sowie die »Zeitgeschichte« von 1870 bis 1945, die den Propagandisten der Chronik-Verordnung vorschwebte, traf sich nicht immer mit den Interessen der Laienforscher. Oft standen die frühneuzeitlichen und mittelalterlichen Zeitabschnitte im Mittelpunkt von deren Interesse. Deshalb und aufgrund fehlender Kapazitäten bzw. Ressourcen kam die Ortschronik-Anordnung vielerorts gar nicht oder nur in Ansätzen zur Umsetzung.28 Betrachten wir zudem das Schicksal der Landesgeschichte in der DDR. Neben der sozialistischen Umwidmung des Heimatbegriffs begann der damals vergleichsweise ungebräuchliche Begriff der »Region« in den 1950er Jahren den des Landes weitgehend zu verdrängen.29 Dies ist einerseits auf die Belastung, die der Landesgeschichte durch ihre Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus zugekommen war, und andererseits auf die zentralistischen Vorbehalte der DDR-Führung gegenüber der »territorialen Zersplitterung« in Länder zurückzuführen.30 Nichtsdestoweniger fand 1961 in Görlitz die Gründungstagung der »Arbeitsgemeinschaft Heimat- und Landesgeschichte« der Deutschen Histori-
26 Vgl. die in Abstimmung mit der Hauptabteilung Archivwessen des Innenministeriums vorgelegten Richtlinien für die Anlage und Führung von Orts- und Gemeindechroniken ab 1945, 1952, in: BA, DY27/3317, Bl. 123–125. Vergleichbare Bestrebungen in der frühen BRD führten nicht zum Ziel, vgl. z. B. Ohne Autor : Tagebuch. Der Begriff »Ortschronik« als gegenwartsbezogene Materialsammlung geriet deshalb in der BRD schnell außer Gebrauch. 27 Die Anordnung datiert vom 16. März 1955, siehe Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 30. 3. 1955, Nr. 17, S. 117–118. 28 Raschke: Methoden, S. 34. 29 Blaschke: Landesgeschichte, S. 255. 30 Blaschke: Probleme, S. 12. Der fortschreitende Ausbau des Sozialismus sollte in den Augen der Theoretiker letztlich dazu beitragen, die Nation »zu einem harmonischen Gesamtsystem« zu machen, Lange: Wesen, S. 20.
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ker-Gesellschaft statt.31 Die inhaltliche Eigenständigkeit der landesgeschichtlichen Forschung war in jedem Fall eingeschränkt, da sie der Nationalgeschichte zuarbeiten musste und auf eine »sozialistische Nationalgeschichtsschreibung im Kleinen« verpflichtet war.32 Der Bezug zur Meistererzählung des Aufbaus des Kommunismus musste stets deutlich erkennbar bleiben.33 Die (nominelle) Dominanz der »Regionalgeschichte« gegenüber der Landesgeschichte ließ sich letztlich nicht aufhalten; 1966 rief die Deutsche Historiker-Gesellschaft zudem eine Fachkommission zur Regionalgeschichte ins Leben. Bis in die 1970er Jahre litt die ostdeutsche Regionalgeschichte an einer schlechten finanziellen und organisatorischen Ausstattung. Allerdings entstanden einige umfangreiche, regionalgeschichtliche Vorzeigeprojekte wie zum Beispiel die Buchreihe »Werte der Heimat«, die 1957 in Sachsen ins Leben gerufen worden war. Aufgrund ihrer sorgfältigen Berücksichtigung der »Natur-, Wirtschafts-, Kultur- und Sozialstruktur und ihrer genetischen Entwicklung« diente sie der westdeutschen Landeskunde als Vorbild. Ein anderes Beispiel stellt der zwischen 1957 und 1961 erschienene »Mitteldeutsche Heimatatlas« dar.34 Hierbei handelte es sich allerdings um hervorstechende Einzelbeispiele, von denen keineswegs auf eine flächendeckende Etablierung der Landes- bzw. Regionalgeschichte in der DDR geschlossen werden darf.
Heimat-, Regionalgeschichte und »Ortschroniken« ab den 1970er Jahren bis zur Wendezeit Im Laufe der 1970er Jahre begann sich die DDR-Historiografie im Allgemeinen für neue Themenfelder zu öffnen – ein mittlerweile vielfach dokumentierter Prozess, der einerseits auf eine breitere Nachfrage nach historischen Themen reagierte und diese andererseits selbst stimulierte. Vergleichbar zur Bundesrepublik entstand ein »neuer Markt für historische Publikationen«. Dabei gewannen vor allem populärwissenschaftliche und alternative historiografische Formen an Bedeutung, beispielsweise: »Gesamtdarstellungen, Handbücher, Taschenbücher, Kalender und die auflagenstarke populäre Edition der ›illustrierten historischen hefte‹«.35 Zu dieser Zeit erfuhr auch die Heimatgeschichte neuen Aufwind; gelegentlich ist auch von einer »zweiten Heimatwelle« in der DDR die Rede. Etwa zeitgleich zur Entwicklung in Westdeutschland habe sich ein »ein stark anschwellendes Interesse der Bevölkerung an Heimatgeschichte« 31 32 33 34 35
Czok: Gründungstagung. Riesenberger: Heimatgedanke, S. 340. Vgl. Steinmetz: Aufgabe. Grundmann: Ortsbeschreibungen, S. 19–20. Schultz: DDR-Geschichtswissenschaft, S. 228–229.
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geäußert, das sich neben der Nachfrage nach Literatur auch in »steigenden Besucherzahlen in Heimat- und Regionalmuseen zeigte.«36 Eine steigende Zahl von Laien betätigte sich selbst alltags- und lokalgeschichtlich. Die »Freie Presse« in Karl-Marx-Stadt bilanzierte 1987: »Wer heute die mit viel Liebe und Sorgfalt entstandenen historischen Gedenkstätten, Heimatmuseen oder Postmeilensäulen in unserem Bezirk in Augenschein nimmt, der kommt zu dem Schluß, hier sind viele fleißige Bürger am Werk, die in ihrer Freizeit die Geschichte ihrer Heimat erforschen und die Ergebnisse anderen zugänglich machen. In den zurückliegenden fünf Jahren hat sich das öffentliche Interesse für Heimatgeschichte in unserem Land beträchtlich verstärkt.« Der Presseartikel versäumte nicht darauf hinzuweisen, dass diese Freizeitforscher in der großen Mehrzahl im Kulturbund organisiert seien: »Über 21.000 DDR-Bürger beschäftigen sich während ihrer Freizeit allein in Arbeits- und Interessengemeinschaften des Kulturbundes der DDR mit der Entwicklung ihrer unmittelbaren Umgebung und deren Besonderheiten.«37 Es war weiterhin einzig die Kooperation mit den offiziellen Einrichtungen im Bereich der Heimatgeschichte, die Aussichten auf die Veröffentlichung bzw. Verbreitung eigener Forschungen bot. Der begrenzte und stark reglementierte Zugang zu den nötigen Ressourcen machte das Aufkommen einer von Laien getragenen alltagsgeschichtlichen Bewegung in der DDR unmöglich.38 Die DDR-Historiografie sah sich auch nicht veranlasst, von ihren geläufigen disziplinären Bezeichnungen der »Heimat«- und »Regionalgeschichte« abzuweichen. Der Begriff des »Alltags« bzw. der »Alltagsgeschichte« hielt dennoch vielerorts Einzug in fachliche Debatten, allerdings eher unsystematisch und meist ohne ausdrückliche Bezugnahmen auf die westdeutsche Verwendung.39 Allerdings wurde die »zweite Heimatwelle« in der DDR von einigen institutionellen Veränderungen begleitet, allen voran der Gründung der »Gesellschaft für Heimatgeschichte« im Kulturbund zu Beginn des Jahres 1979. Diese Organisation übernahm die historiografischen Bereiche der Natur- und Heimatfreunde, die aufgelöst worden waren bzw. in verschiedenen Nachfolge-Gesellschaften weitergeführt wurden. Die Führung der Gesellschaft für Heimatgeschichte hatte Willibald Gutsche inne; ihren Zentralen Fachausschuss Heimatgeschichte/ 36 Schmid: Heimatgeschichte, S. 59–60. 37 Ohne Autor : Bürger. Vgl. auch Paul Lauerwald: Referat Konferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 25.11.89 in Berlin »Ortschronik und Ortsgeschichte – Erfahrungen und Probleme bei der Auswertung von Ortschroniken«, in: BA, NY 4638, Bl. 8, 15. 38 Laak: Alltagsgeschichte, S. 53. 39 Vgl. z. B. das Manuskript des Vortrags von Prof. Dr. R. Badstübner : »DDR-Geschichtsschreibung – neue Ergebnisse, Probleme und Aufgaben« auf der Tagung: »Die Bedeutung der Heimatgeschichte für die DDR-Geschichtsschreibung« in Neubrandenburg, 5. 5. 1984, in: BA, DY 27/6920, Bl. 7–8, in dem der Begriff »Alltag« in verschiedenen Zusammenhängen fällt. Vgl. zudem Kuczynski: Geschichte.
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Ortschronik leitete Paul Lauerwald. Dieser sagte anlässlich seiner Berufung im Jahr 1979: »Die Bildung dieser Gesellschaft ist Ausdruck der hohen gesellschaftspolitischen Bedeutung und des Stellenwertes, den die Heimatgeschichte genießt«. Wie die Natur- und Heimatfreunde zuvor würde sie danach trachten, »Freizeit- und Fachhistoriker, Geschichtskommissionen der SED, antifaschistische Widerstandskämpfer, die territorialen Bezirksverbände der HistorikerGesellschaft, Heimatmuseen und viele andere Organisationen« zusammenzuführen.40 Bereits seit 1976 hatte der Kulturbund begonnen, die Schriftenreihe »Arbeitsmaterial für Fachgruppen Heimatgeschichte/Ortschronik« herauszugeben, die ab 1979 zusätzlich den Haupttitel »Heimatgeschichte« trug. Die Veröffentlichungen in dieser Reihe waren als Arbeitshilfen für Historiker aller Ausbildungsstufen und Laien gedacht. Die Ortschronik-Anordnung von 1955 war nur in wenigen Gemeinden der DDR umgesetzt worden. Zu Beginn der 1980er Jahre waren schätzungsweise 15 bis 30 Prozent aller Orte der Verordnung nachgekommen und hatten eine Chronik erstellt;41 und dies obwohl die staatliche Führung die Bedeutung, die sie der Heimat- und Regionalgeschichte zumaß, auf dem achten Parteitag der SED im Jahr 1971 nochmals ausdrücklich bekräftigt hatte.42 War die OrtschronikVerordnung aus den 1950er Jahren »im Drange der Geschäfte offenbar vergessen« worden, wurde sie nun – im Zuge der neuen Popularität der Heimatgeschichte am Übergang zu den 1980er Jahren – vielerorts »wiederentdeckt«.43 Zugleich erneuerte die politische Führungsebene wiederholt ihr Bekenntnis zur ortsgeschichtlichen Dokumentation der Zeitgeschichte: Auf dem 35. Jahrestag der Gründung der SED im Jahr 1981 hieß es, dass die Erforschung der Parteigeschichte auf der Kreis- und Bezirksebene deutlich ausgebaut werden müsse.44 Entsprechend hob der »Zentrale Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR« für die Jahre 1981 bis 1985 die »wachsende Bedeutung der Regional- und Heimatgeschichte« hervor.45 Währenddessen hatten zwei überregionale Tagungen, die sogenannten »Ortschronistenkonferenzen«, eine Neufassung der Ortschronik-Anordnung entworfen und debattiert.46 Diese Bestrebungen mündeten in eine Vorlage – nunmehr »Ver40 Paul Lauerwald: Referat zur Neuberufung des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik am 24. 3. 1979, in: BA, DY27/9033, Bl. 2. 41 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 19; Lauerwald: Aufgaben, S. 10. Vgl. für eine regionale Bestandsaufnahmen zu Beginn der 1980er Jahre den Beschluss des Rats des Bezirks Mageburg: Maßnahmeplan zur Durchführung der Verordnung des Ministerrates vom 26. 11. 1981 über Ortschroniken, 26. 8. 1982, in: BA, D01/32002, Bl. 5. 42 Sonnet: Heimat, S. 122. 43 Brief von F. Donath an Herfurth, 22. 3. 1977, in: BA, DY27/08469. 44 Sonnet: Heimat, S. 125. 45 Lauerwald: Aufgaben, S. 5. 46 Kulturbund der DDR (Hg.): Aufgaben; ders./Gesellschaft für Heimatgeschichte (Hg.): Platz.
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ordnung« geheißen –, die der Ministerrat der DDR Ende des Jahres 1981 verabschiedete.47 Sie trat zum 1. Februar 1982 in Kraft und löste die Anordnung aus dem Jahr 1955 ab. Die Vorschrift für jeden Ort der DDR, vom Stadtteil der Großstädte bis zu den kleinsten Gemeinden, eine Ortschronik zu führen, wie sie faktisch bereits seit den 1950er Jahren bestand hatte, erfuhr darin eine nachdrückliche Bekräftigung. Weiterhin bezeichnete der Terminus »Ortschronik« nicht ein Geschichtsbuch, sondern die fortlaufende Sammlungs- und Archivierungstätigkeit. In der Praxis verwischte die Unterscheidung zum Schreiben einer zusammenhängenden Ortsgeschichte jedoch etwas; denn gerade in kleineren Orten war nicht selten von einer »Personalunion von Ortschronist und Heimathistoriker« auszugehen.48 Dies erschien den heimatgeschichtlichen Funktionären allerdings auch in anderer Hinsicht als problematisch: Sprach sich doch auch die Neufassung der Chronik-Verordnung für die Bildung von Ortschronisten-Kollektiven aus, die einer »Einmannarbeit« stets vorzuziehen sei.49 1983 erschien die Broschüre »Ortschroniken – warum, was wie?« in der Reihe »Der sozialistische Staat: Theorie – Leitung – Planung« des Staatsverlags der DDR mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren. Es handelte sich zum einen um eine Art Bericht zur Umsetzung der Verordnung von 1981 und zum anderen um die Anleitung neuer Ortschronisten. Ortschroniken fungierten hier als »ein Instrument heimatgeschichtlicher und massenpolitischer Arbeit«, das der »Verantwortung der örtlichen Staatsorgane« unterlag. Die Autoren machten detaillierte Vorgaben zum Inhalt und Aufbau einer Ortschronik sowie ihrer Nutzungsmöglichkeiten. Auch gaben sie Empfehlungen zur Auswahl und Weiterbildung der Chronisten. Des Weiteren enthielt die Broschüre eine Fülle praktischer Hinweise zur Auswahl, Konservierung und Archivierung der gesammelten Materialien.50 Außerdem sollten mehrere heimatgeschichtliche Konferenzen in den Bezirken die konsequente Umsetzung der neuen Verordnung befördern und überwachen sowie das »Niveau« bestehender Aktivitäten »erhöhen«.51 Darüber hinaus stieg der Druck, den die Verantwortlichen im Kulturbund auf die Kreis- und Gemeindeverwaltungen ausübten, im Laufe der 1980er Jahre deutlich an. Die Gesellschaft für Heimatgeschichte forderte die 47 Verordnung über Ortschroniken vom 26. November 1981, Gbl. I 1982 Nr. 1, S. 11. 48 Lauerwald: Arbeitstechniken, S. 53. 49 Paul Lauerwald: Arbeitstechniken in der Chronikarbeit. Referat zur Konferenz des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik am 10./11. Oktober 1981 in Görlitz, in: BA, DY 27/9028, Bl. 10. 50 Siehe zur Verbreitung der Broschüre: Paul Lauerwald: Referat Konferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 25.11.89 in Berlin »Ortschronik und Ortsgeschichte – Erfahrungen und Probleme bei der Auswertung von Ortschroniken«, in: BA, NY 4638, Bl. 4. 51 Vgl. z. B. für den Bezirk Dresden: Beschluss des Rats des Bezirks Dresden 150/83 vom 15. 6. 1983, in: SÄHSTA, 11430, Nr. 10533, Bl. 4; Bezirksarbeitsgruppe Ortschronikarbeit: Arbeitsplan 1988, in: SÄHSTA, 12485, Nr. 454, Bl. 1.
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kontinuierliche Erstellung von Übersichten aller bereits engagierten Ortschronisten; mahnte bestehende Lücken an und nahm die Bürgermeister auch kleinerer Orte stärker in die Pflicht.52 Die Zahl der Gemeindeleitungen, die – zumindest auf dem Papier – Ortschronisten benannten, stieg deutlich an. Zu der angestrebten flächendeckenden Umsetzung der Ortschronik-Verordnung führten all diese Maßnahmen jedoch auch in den 1980er Jahren nicht. Für die Heimatgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in der DDR gilt, dass Politik und Wissenschaft wie schon in den vorangehenden Jahrzehnten versuchten, die eigenständigen, historiografischen Initiativen von Laien umfassend zu vereinnahmen. Die Ortsgeschichte erfuhr eine breite staatliche Förderung, die sich darauf richtete, das Interesse und Potential eines möglichst breiten Spektrums der Bevölkerung abzuschöpfen. Die Bezirks- und Kreisausschüsse der Gesellschaft für Heimatgeschichte waren fortlaufend auf der Jagd nach höheren Ortschronik-Quoten in ihren Gebieten; sie strebten nach der Angleichung lokaler ›Rückständigkeiten‹ und der flächendeckenden Ausstattung aller Gemeinden mit Ortschronisten. Dennoch blieb die Heimatgeschichte in ihrer Breite entscheidend von Freiwilligkeit und Eigeninitiative abhängig, für die die offizielle Kulturpolitik weiterhin Freiräume gewähren musste. Angesichts dieser Ambivalenz ist kaum zu entscheiden, inwieweit die Ausweitung der Ortschronik-Tätigkeit im Laufe der 1980er Jahre auf einen Anstieg freiwilliger historischer Betätigung in den Gemeinden zurückzuführen ist und inwieweit auf das unnachgiebige Drängen der heimatgeschichtlichen Institutionen des Kulturbundes. Am wahrscheinlichsten ist eine Mischung aus beidem.
Heimat- und Regionalgeschichte der DDR im Vergleich zur BRD Die heimat- und regionalgeschichtliche Forschung der DDR nahm immer wieder auf die westdeutsche Geschichtsschreibung Bezug, nicht ohne sich dabei deutlich abzugrenzen von der vermeintlich ideologisch verzerrten, »bourgeoisen« und »imperialistischen« Geschichtsschreibung. Die bundesrepublikanische Historiografie spiegelte diese phrasenhafte Abgrenzung – von der »DDRmarxistischen Heimatgeschichte« – wider.53 In der Tat wies die Heimatge-
52 Vgl. z. B. die Topografie der Verteilung von Ortschronisten in den Kreisen im Bezirk Dresden: Bezirkskabinett für Museumsarbeit Dresden: Übersicht über den Stand der Ortschronikarbeit im Bezrik Dresden, 15. 1. 1987, in: SÄHSTA, 12485, Nr. 454, Bl. 1. 53 Carl-Hans Hauptmeyer bezeichnete die Heimatgeschichtsschreibung der DDR in den 1980er Jahren als »systemimmanentes Kampfmittel, das keinen Einfluß auf die Tendenzen der Heimatgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland besitzt« (Hauptmeyer : Heimatgeschichte, S. 91). Vergleichsweise oft zitierten westdeutsche Alltagshistoriker in diesem Zu-
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schichte und »Ortschronistik« der DDR eine Reihe gravierender Unterschiede auf; es gab allerdings auch Gemeinsamkeiten. Es ist schwierig und wenig ertragreich, die Differenzen und Berührungspunkte eindeutig voneinander zu trennen, sie sind vielmehr eng miteinander verwoben. Der folgende Vergleich zwischen der (offiziellen) Lokalgeschichte der DDR und der BRD ist in acht Komplexe untergliedert. 1) Kommen wir eingangs kurz auf die thematischen Schwerpunkte zu sprechen: Im Gegensatz zur Alltagsgeschichte in der BRD, die sich eine Erneuerung und Differenzierung der »Vergangenheitsbewältigung« auf die Fahnen geschrieben hatte, spielte der Nationalsozialismus in der DDR nur eine geringe Rolle. In Westdeutschland strebte die kritische, alltagsgeschichtliche Bewegung danach, die »dunklen Flecken« der nationalsozialistischen Vergangenheit vor Ort aufzudecken; für die DDR-Heimatgeschichte stand bis zum Ende der 1980er Jahre der »Aufbau des sozialistischen Staates« nach 1945 im Vordergrund. Die Wahrnehmung des »Dritten Reichs« erfolgte demgegenüber sehr selektiv und wurde im Wesentlichen durch die leitende Dichotomie von Faschismus und Antifaschismus bestimmt. Der thematische Fokus beider Seiten traf sich bei der Geschichte der Arbeiter und der Betriebe. Hatte bereits die britische »History Workshop«-Bewegung sowie die schwedische »Grabe, wo du stehst«-Bewegung den »einfachen Arbeiter« in den Mittelpunkt gerückt, so galt dies umso mehr für den »Arbeiterund Bauernstaat« DDR. Folgt man den offiziellen Vorgaben, so sollte sich die Ortschronik-Historiografie in diesem Bereich mit der Arbeit anderer historischer Organisationen wie den Kommissionen zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei den Bezirks- und Kreisleitungen der SED und den Betriebsgeschichtskommissionen der SED in Kombinaten, Betrieben und Genossenschaften treffen.54 Während die Heimatgeschichte der DDR diesen Arbeitsschwerpunkt bereits in den 1950er Jahren formulierte, hielt er in die westdeutsche Alltagsgeschichte erst im Laufe der 1970er Jahre Einzug. Abgesehen von den inhaltlichen Schwerpunkten und Einschränkungen, die die Verpflichtung der ostdeutschen Heimatgeschichte auf das sozialistische Narrativ mit sich brachte, verfolgte sie einen ganzheitlichen Anspruch. In der Lokalgeschichte wie in ortschronistischen Archiven sollten »die Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Leben sowie in den Bevölkerungs-, Siedlungs- und Naturverhältnissen« dokumentiert werden, wie die Chronik-Verordnung des Jahres 1981 zusammenfasste.55 Zudem wurden auch Gebäude- und Hofchroniken geführt, die für bundesrepublikanische sammenhang die fünfbändige Studie »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes«, die der Ostberliner Historiker Jürgen Kuczynski ab 1980 veröffentlicht hatte. 54 Riesenberger : Heimatgedanke, S. 332–333; Krusch: Aufschwung. 55 Verordnung über Ortschroniken vom 26. November 1981, Gbl. I 1982 Nr. 1, S. 11.
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Heimatbücher so wichtig waren. Um diese inhaltliche Bandbreite abzudecken, griff die ostdeutsche Heimatgeschichte schon seit den 1950er Jahren vermehrt auf nicht-archivalische Quellen wie private Aufzeichnungen und mündliche Erinnerungen zurück.56 2) Die ostdeutsche Lokalgeschichtsschreibung strebte – genau wie die westdeutsche – nach einer Verbindung von Mikro- und Makroebene. Die westdeutsche Alltagsgeschichte wollte der bislang unter der Geschichte der gesellschaftlichen Strukturen verdeckten Geschichte der »Betroffenen« zu ihrem Recht verhelfen. Wissenschaftlich-theoretische Entwürfe forderten etwas weniger emphatisch, statt der bisherigen Asymmetrie von Gesellschafts- und Alltagsgeschichte ihre Wechselseitigkeit herauszuarbeiten. Auch in Ostdeutschland sollten »die Zusammenhänge zwischen örtlicher, regionaler, nationaler und internationaler Entwicklung« gewürdigt werden. Die Ortsgeschichte sollte zwar »das Spezifische der örtlichen Entwicklung« nicht vernachlässigen, sie sollte sich jedoch ebenso wenig auf »eine isolierte lokale Betrachtung« beschränken.57 Stattdessen galt es die Wechselseitigkeit von Mikro- und Makrodimension herauszuarbeiten; ein Verhältnis, das in den heimatgeschichtlichen Programmschriften der DDR wiederholt als »Dialektik« beschrieben wurde. Es ist allerdings deutlich, dass die offizielle Lokalgeschichtsschreibung der DDR ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wurde bzw. werden konnte. Das Verhältnis von lokaler und überregionaler Geschichte blieb faktisch ein einseitiges. Die Geschichte des Orts oder des Betriebs erfüllte letztlich eine bloße Beispielfunktion für die nationale, sozialistische Erzählung. Das vorrangige Ziel der Lokalgeschichtsschreibung sollte es sein, sich »in den vorgegebenen theoretischen Rahmen des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes einzupassen.«58 Diese Einbettung lokaler historischer Ereignisse in einen allgemeinen Geschichtsverlauf ließ allen Versuchen, die Eigenständigkeit der Orts- bzw. Alltagsgeschichte herauszustellen, nur einen sehr begrenzten Rahmen. Die Vielfalt der lokalen Geschichte, ihre scheinbare Einzigartigkeit, sollte auf zugrundeliegende gesellschaftliche Triebkräfte zurückgeführt werden; es gehe darum, »in der Mannigfaltigkeit der jeweiligen Ereignisse und Prozesse die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die sich oft unter der Oberfläche scheinbar rein zufälligen Geschehens verbergen.«59 Zwar galt es auch die lokalen Widersprüche bei der Umsetzung des Sozialismus darzustellen, sie waren jedoch – im dialektischen Sinne – zu letzten Endes
56 Allerdings kaum im Sinne der später in der westdeutschen Geschichtsschreibung adaptierten oral history ; siehe hierzu die späteren Bemerkungen zu »Veteranen«-Erinnerungen. 57 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 17. 58 Sonnet: Heimat, S. 125. 59 Golub/Moritz: Probleme, S. 600.
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verstärkenden Faktoren des geschichtlichen Fortschritts umzudeuten.60 Darüber hinaus sollte bereits das Quellenmaterial entsprechend vorselektiert werden. Von vorrangiger Bedeutung für Auswahl und Archivierung ortsgeschichtlicher Quellen war ihr Beitrag, das historische Gewicht der »Partei der Arbeiterklasse« und ihren Beitrag zum sozialistischen Fortschritt zu dokumentieren.61 Gleiches gilt für die Aufzeichnung und Verwertung (auto-)biografischer Schilderungen von »Veteranen der Arbeiterbewegung«, die bereits während Kaiserzeit, Weimarer Republik oder »Drittem Reich« in sozialistischen Organisationen und Untergrundbewegungen aktiv gewesen waren. Solchen Lebenserinnerungen kam seit den 1950er Jahren eine hervorgehobene Bedeutung für die Propagandaarbeit der SED und der staatlichen Organe bei der Verbreitung eines »sozialistischen Bewusstseins« zu.62 Auch in diesem Zusammenhang existierte die Wechselseitigkeit, die zwischen dem individuellen Erleben und dem »nationalgeschichtlichen Geschehen« bzw. dem »sozialistischen Aufbau« bestehen sollte, nur auf dem Papier.63 Das Verhältnis blieb asymmetrisch; die Erzählungen durften den engen Rahmen der hegemonialen Interpretation der Zeitgeschichte nicht überschreiten. Deshalb kann auch nicht von einer besonderen Wertschätzung persönlicher Erinnerungen in der DDR gesprochen werden, die der Entwicklung in Westdeutschland um einige Jahrzehnte voraus gewesen wäre. Es ging der ostdeutschen Heimatgeschichte gerade nicht darum, die Diskrepanz von persönlichem Erleben und nationaler Geschichte hervorzuheben und beide Ebenen gegeneinander auszuspielen.64 Daran änderte sich nichts, als sich die Erforschung von »Lebenserinnerungen« im Laufe der 1980er Jahre dem DDR-Alltag öffnete. 1989 veranstaltete der Zentrale Fachausschuss Kulturgeschichte/Volkskunde der Gesellschaft für Heimatgeschichte beispielsweise einen »Erfahrungsaustausch« zu Themen wie »Alltag und Erfahrungen älterer Industriearbeiterinnen in den 50er Jahren«, »Lebensgeschichte und Betriebsgeschichte« oder »Arbeiterleben in den 50er Jahren«.65 Die zeitlichen und the60 Sonnet: Heimat, S. 126. 61 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 17. 62 Siehe z. B. Herzberg: Lebensgeschichte; Neef/Rohls: Sammeln; Hallesche Tagung der Kommission für die Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, in: BA, DY 27/7382; Arbeitskreis Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung am 5. 6. 1956, in: BA, DY 27/7382; sowie verschiedene Akten in: BA SgY 30/2169 und 1250/1. Vgl. Epstein: Last Revolutionaries, S. 187–213; Franzen: Opfererinnerung. 63 Siehe für die Formulierungen: Hans Wendler : Einschätzung der Arbeit von Bfr. Wulff: »Genosse Wilhelm Isensee«, 16. 5. 1967, in: BA, DY27/7414. 64 Vgl. Vierneisel: Erinnerungsarchiv. 65 Rundschreiben der Gesellschaft für Heimatgeschichte, 11. 8. 1989, in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 1583/2. Vgl. auch die Rechenschaftsberichte der Arbeitsgruppe »Erinnerungsberichte« der Geschichtskommission der SED Schwerin, 1983, in: LHA-S, 10.34–3, 3969.
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matischen Erweiterungen führten nicht dazu, das Verhältnis von sozialistischem Geschichtsverlauf und bloß veranschaulichender, persönlicher Erinnerung komplexer als bisher zu gestalten. 3) Zwar waren auch weite Teile der westdeutschen Heimat- und Alltagsgeschichte – mehr oder weniger deutlich – von Meistererzählungen geprägt, beispielsweise einer Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Zudem legten die politischen Parteien auch in Westdeutschland einen ausgeprägten Ehrgeiz an den Tag, die Deutung der Geschichte zu beeinflussen.66 Ebenso entstanden politische Förderinstrumente, um die Bürger für die Beschäftigung mit der Geschichte zu begeistern und dadurch – zumindest indirekt – ihre Identifikation mit dem eigenen Staat zu stärken. Nicht zuletzt wies die kritische alltagsgeschichtliche Bewegung ein ausgesprochen politisches Selbstverständnis auf, da sie sich mit den alternativen sozialen Bewegungen assoziiert und auf Emanzipation und Demokratisierung verpflichtet hatte. Der deutliche Unterschied zur DDR lag allerdings darin, dass die ostdeutsche Regierung »Heimat- und Regionalgeschichte« ausdrücklich als politisches Programm formuliert hatte. Daraus folgte die Errichtung einer landesweiten staatlich gesteuerten Infrastruktur zur Umsetzung dieses Programms. Alle Aspekte von der Organisation, Finanzierung und Materialsammlung über die Ausbildung von Laienforschern unterlagen der staatlichen Förderung und Kontrolle zugleich. Bis zum Ende der DDR oblag es den regionalen Verwaltungsorganen sowie dem Kulturbund, heimatgeschichtliche »Arbeitspläne« aufzustellen, ›geeignete‹ Ortschronisten auszuwählen und sämtliche Manuskripte vor der Veröffentlichung in inhaltlicher und ideologischer Hinsicht zu begutachten. Auch war die »marxistisch-leninistische Bildung« all derer, die Heimatgeschichte betrieben, fortlaufend sicherzustellen.67 Die DDR-Organisationen strebten im Prinzip nach einer vollständigen Übersicht und Kontrolle aller (Laien-)Aktivitäten. Die Aufgabe des Zentralen Fachausschusses Heimatgeschichte/Ortschronik war es, alle »Potenzen auf ortschronistischem Gebiet« zu erfassen und zu beurteilen, womit sämtliche Aktivitäten von den Großstädten und bis zu den kleinsten Gemeinden gemeint waren.68 Die Mitgliedschaft in einer Organisation des Kulturbundes – in der Regel der einzige Zugang zu praktischer Arbeit im Bereich der Heimatgeschichte – bedeutete zugleich sich einer regelmäßigen Bewertung in »Kaderanalysen« zu unterziehen. Diese bewerteten beispielsweise das persönliche Engagement, den
66 Steinbach: Kontroversen, S. 162–171. 67 Vgl. nur Gesellschaft für Heimatgeschichte Zentraler Fachausschuss Heimatgeschichte/ Ortschronik im Kulturbund der DDR: Arbeitsplan 1987, 20. 10. 1986, in: BA, DY27/6899, Bl. 1. 68 Gedanken über die nächsten Aufgaben der AG Ortschronik im ZFA, 10. 5. 1982, in: BA, DY27/ 6899, Bl. 181.
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Output und die Integration in das jeweilige Arbeitskollektiv.69 Nicht zuletzt wurde die Umsetzung der Arbeitsvorgaben der hierarchisch übergeordneten Ebenen überprüft und dabei meist bemängelt. Noch im Zuge der Wende kritisierte der Leiter der Gesellschaft für Heimatgeschichte, Willibald Gutsche, »das Fehlen einer zentralen staatlichen Kontrolle« bei der Umsetzung der Verordnung zur Anlage von Ortschroniken als eines der zentralen Probleme der ostdeutschen Heimatgesichte.70 4) Dieser grundlegende Unterschied gegenüber der westdeutschen Lokalgeschichte wirkte sich auf die Art der Einbindung von Laienhistorikern aus. Die führenden Heimathistoriker im Kulturbund proklamierten eine stetige Ausweitung der Heimatgeschichte. Nach Möglichkeit sollten »alle gesellschaftlichen Kräfte« erreicht werden, die ein entsprechendes Interesse hegten oder bei denen sich ein solches erzeugen ließ. Ohne die systematische Mitarbeit einer Vielzahl von Laien schienen so ambitionierte Vorhaben wie die flächendeckende Umsetzung der Ortschronik-Verordnungen kaum umsetzbar zu sein. Dies galt in besonderem Maße für ländliche Räume und kleinere Gemeinden. Letztlich sollte der Theorie nach jeder Ort eine »ehrenamtliche Arbeitsgruppe Ortschronik« bilden. Diese Arbeitsgruppen sollten »verschiedene Bevölkerungsgruppen und Berufe« übergreifen und dabei Bürger mit und ohne akademische Vorbildung zusammenführen.71 Die Einbindung in derartige Gruppen sollte »Freude und Begeisterung« bereiten, hatte aber zugleich einen »erzieherischen Wert« im Blick auf das »sozialistische Heimatgefühl«.72 Die Zusammenarbeit von Laien- und professionellen Historikern, daran ließen die offiziellen Verlautbarungen keinen Zweifel, blieb allerdings eine eindeutig asymmetrische. Es war selbstverständlich, dass jede heimatgeschichtliche Arbeit, auch die von Laien, nach wissenschaftlichen Prinzipien zu erfolgen hatte. Alle wichtigen Leitungs- und Entscheidungsfunktionen sollten geschichtswissenschaftlich geschulten Personen vorbehalten bleiben; diese stellten auch die Wunschkandidaten für die Verschriftlichung von Forschungsergebnissen dar.73 Das bewusste Unterlaufen der Grenzen zwischen akademischer 69 Vgl. die Beispiele der Kreise im Bezirk Leipzig in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 1581. Vgl. für den Bezirk Dresden: Gerhard Thümmler an die Leiter der Interessengemeinschaften Heimatgeschichte, 19. 9. 1984, in: SÄHSTA, 12485, Nr. 466. 70 Willibald Gutsche: Manuskript ohne Titel und ohne Datum [1989/1990], in: BA, DY27/9023, Bl. 7. 71 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 24–32. 72 Sonnet: Heimat, S. 123, 126; Karl-Heinz Moeller : Ein großes Kollektiv schreibt die Geschichte von Glienicke/Nordbahn. Vortrag auf der XI. Zentralen Tagung für Heimatgeschichte und Ortschronikführung am 8. und 9. 11. 1969 in Erfurt, in: BA, DY27/11194, Bl. 12. 73 In der oben zitierten Ortschronik-Broschüre aus dem Jahr 1983 schrieben Lauerwald und Wietstruk: »Die Geschichte eines Ortes in ihrer Komplexität aufzuzeichnen, stellt hinsichtlich der Quellen und Arbeitsmethoden hohe Anforderungen. Ein geschichtswissen-
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und nicht-akademischer Wissenschaft, wie es ein vorrangiges Ziel der westdeutschen Alltagsgeschichte war, fand (auch in den 1980er Jahren) kein Gegenstück in der DDR. Die ostdeutsche Lokalgeschichtsschreibung lässt sich als Zusammenspiel von professioneller Leitung und privater »Zuarbeit« beschreiben.74 Die Aufrechterhaltung dieser klaren Arbeitsteilung hing damit zusammen, dass heimatgeschichtliche Veröffentlichungen und Ortschroniken unzweideutig als Teil der Geschichtswissenschaft verstanden wurden. Die Entstehung einer eigenständigen Historiografie im lokalen Bereich, jenseits der professionellen Geschichtswissenschaft, wollten die verantwortlichen, staatlichen Stellen nicht dulden. Es sollte offenkundig gewährleistet bleiben, dass selbst die Chronik der kleinsten Gemeinde den sozialistischen Doktrinen folgte, auf die die akademische Geschichtswissenschaft verpflichtet worden war. Der Anspruch, »die örtlichen Fakten, Ereignisse und Prozesse bei der Verwirklichung der einheitlichen Staatspolitik in seinem Ort richtig beurteilen und in internationale Zusammenhänge einordnen zu können« galt gleichermaßen für alle nicht- und halb-professionellen Heimathistoriker.75 Ein Rollentausch zwischen allgemeiner und Alltagsgeschichte bzw. zwischen Experten und Laien, wie ihn die »Grabe, wo du stehst«-Bewegung gefordert hatte, stand für die Heimatgeschichte der DDR außer Frage. Dieses ungebrochene, wissenschaftliche Ideal stand auch im Hintergrund der umfassenden Anleitungsliteratur für die ortschronistische und heimathistorische Praxis. Veröffentlichungen wie die Broschüre von Lauerwald und Wietstruk waren nicht alleine als Ratgeber für Laienchronisten aufzufassen. Sie orientierten sich nicht nur an deren praktischen Bedürfnissen, sondern vor allem auch an den staatlichen Vorgaben der Ortschronik-Verordnung. Da die Anlage einer Ortschronik eine gesetzliche Verpflichtung der Gemeinden darstellte, existierte zudem eine standardisierte Vorlage des Vertrags, der zwischen der politischen Führung der jeweiligen Gemeinde und dem Ortschronisten aufgesetzt werden musste.76 Neben den schriftlichen Hilfestellungen gab es ständige Beratungsstellen für Ortschronisten. Sie konnten sich beispielsweise an die »Arbeitsgruppen zur Erforschung und Propagierung der Regional- und Heimatgeschichte« bei den Bezirks- und Kreisräten wenden, die im Zuge der neuen schaftlich nicht ausgebildeter ehrenamtlicher Ortschronist wäre mit diesem Auftrag überfordert und würde die Freude an der Arbeit verlieren« (Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 10). 74 Schmid: Heimatgeschichte, S. 54. Vgl. für diese Struktur auch das Vorhaben einer mehrbändigen Geschichte des deutschen Volkes, die das Zentralinstitut für Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zu Beginn der 1970er Jahre plante und die auf der »Zuarbeit« von Laien aus allen Bezirken aufbauen sollte, Brief von Friedrich Donath an Willibald Gutsche, 10. 11. 1970, in: SÄSTA-L 21756, Nr. 465/1. 75 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 18. 76 Ebd., S. 70–72.
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Verordnung von 1981 zu diesem Zweck eingerichtet worden waren. Die Funktion dieser Arbeitsgruppen war die einer Schnittstelle zwischen »staatlichen und nicht-staatlichen Kräften«.77 Zwar erschien auch in der BRD eine Fülle an Ratgeber-Literatur für Heimat- und Alltagshistoriker und es gab mehr oder weniger fest institutionalisierte Beratungsstellen mit didaktischen Zielen, doch kam diesen im Vergleich eher ein Angebotscharakter zu. In der DDR hingegen war die Umsetzung der Vorgaben in aller Regel der einzige Weg, auf dem Manuskripte nicht am Begutachtungsverfahren scheiterten. Die Hierarchie von Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern spiegelte sich auf anderen Ebenen wider : zum einen in der Dominanz der allgemeinen Geschichtswissenschaft, die nahezu ausschließlich von professionellen Historikern betrieben wurde, über die Heimat- und Regionalgeschichte, die zum größten Teil von ehrenamtlicher Arbeit getragen wurde. Die Arbeitspläne der heimatgeschichtlichen Einrichtungen hatten vielfach den »Wünschen der Geschichtswissenschaft« zu entsprechen.78 Zum anderen waren die Leitungsebenen der Natur- und Heimatfreunde bzw. der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund hierarchisch gestaffelt. Die nationale Führung kontrollierte die Arbeit der Bezirke, die Bezirke wiederum überwachten die Kreise – zumindest der Theorie nach. So beschwerte sich Willibald Gutsche Mitte der 1960er Jahre in einem Rundbrief an die Bezirksorganisationen der Natur- und Heimatfreunde, dass deren Vertreter nicht ausreichend auf Konferenzen und Fortbildungen präsent seien und somit die Vorgaben des Zentralen Fachausschusses die unteren Ebenen nicht erreichen würden: »Es ist Ihnen bekannt, welche bedeutsamen Aufgaben bei der Förderung und Anleitung der auf dem Gebiet der Heimatgeschichte und der Führung der Ortschroniken tätigen Natur- und Heimatfreunde vor unserer Organisation stehen. Diese Aufgaben können nur gelöst werden, wenn einmal die vom Zentralen Fachausschuß Heimatgeschichte und Ortschronik gefaßten Beschlüsse und Anregungen von den Bezirksfachausschüssen tatsächlich bis in jede Fachgruppe hinein weitergeleitet und er77 Lauerwald/Thommes/Wietstruk: Verordnung, S. 25–26. 78 Arbeitsplan des Zentralen Fachausschusses »Heimatgeschichte/Ortschronik« für das Jahr 1978, in: BA, DY 27/9033; vgl. auch den Brief von W. Gutsche/W. Herfurth an die Vorsitzenden der Bezirksfachausschüsse Heimatgeschichte/Ortschronik, 4. 3. 1976, in: BA, DY 27/ 9033; Schaarschmidt: Geschichtsbild, S. 199. Die Befreiung von derartigen »Anmaßungen« der Allgemeinhistoriker an die Heimat- und Regionalgeschichte sollte in der Wendezeit zu einer zentralen Forderung der Gesellschaft für Heimatgeschichte werden. Es hieß, die Geschichte des deutschen Volkes dürfe keine apodiktischen Vorgaben mehr für die Geschichte niedrigerer räumlicher Ebenen machen, da dies eine schwerwiegende Einschränkung der Forschungsfreiheit dargestellt habe, Willibald Gutsche: An alle Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR: Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR und Demokratische Erneuerung (Diskussionsgrundlage), 12.1989, in: BA, DY27/9023, Bl. 2–3.
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läutert werden und wenn zum anderen die verantwortlichen haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre der Bezirke an den wenigen Sitzungen, die der Zentrale Fachausschuß mit ihnen zur Beratung wichtiger Fragen veranstaltet, selbst teilnehmen oder zum mindesten einen geeigneten Vertreter entsenden.«79 5) Die Einbindung von ehrenamtlichen und Freizeithistorikern war von zentraler Bedeutung für die ostdeutsche Heimatgeschichte. Auf diesem Wege eröffnete sich ihr eine Fülle privater Quellensammlungen und Erzählungen. Viele Bürger sammelten jenseits der staatlichen Ortschronik-Verordnungen mehr oder weniger systematisch historisches Material. Insbesondere die offiziellen Ortschroniken zehrten (zumindest teilweise) von solchen Privatsammlungen. In der Ortschronik-Broschüre von Lauerwald und Wietstruk hieß es 1983 über einen Ort in der Uckermark: »Meist sind es, wie hier in Fürstenwerder, Kreis Prenzlau, interessierte Bürger, die Dokumente, Bilder, Zeitungsausschnitte und andere Materialien über die Entwicklung der Gemeinde zusammentragen. Erich Blietschau, ein ehemaliger Gastwirt und seine Frau befassen sich seit 1949 mit dieser Aufgabe.«80 Diesem Beispiel ist eine Grafik beigefügt, die das Ehepaar in ihren Privaträumen bei der Durchsicht ihrer Dokumente zeigt – eine Abbildung, die den vielen Selbstporträts westdeutscher Ortschronisten durchaus vergleichbar ist (Abb. 4). Die Fotografie spiegelt auf der einen Seite eine Atmosphäre von Gemütlichkeit und Freizeit wider, auf der anderen Seite aber auch eine gewisse Intimität und Privatheit. Für die Ortschronistik der DDR galt es, die vielfältigen, verstreuten Materialsammlungen von Privatleuten zu erfassen und nutzbar zu machen. Die lokale Verwaltung war dazu aufgerufen, private Sammlungen aufzukaufen. Verfügten die jeweiligen Ortschronisten bereits über Quellenmaterial, ging dieses gegen eine finanzielle Entschädigung in den öffentlichen Besitz über.81 Außerdem waren »allgemeine Aufrufe zur Unterstützung des Ortschronisten bzw. Chronistenkollektivs« üblich, um weitere Bürger zur Abgabe von Quellenmaterial zu bewegen. Darüber hinaus schlugen die Heimathistoriker des Kulturbundes vor, »Wettbewerbe und Ausschreibungen 79 Willibald Gutsche (Deutscher Kulturbund – Bundessekretariat – Abteilung Natur und Heimatfreunde): Liebe Bundesfreunde!, 15. 5. 1965, in: SÄHSTA, 12790, Nr. 20. Weiter heißt es dort: »Es ist dem Zentralen Fachausschuß unverständlich, daß nur zwei Bezirksfachausschüsse der Einladung zu der wichtigen Beratung am 13. April dieses Jahres gefolgt waren. […] Der Zentrale Fachausschuß wendet sich deshalb auf diesem Wege mit der dringenden Bitte an die Vorsitzenden der Bezirksfachausschüsse, an die Bezirkssekretäre für die Arbeit der Natur- und Heimatfreunde, an die Kreissekretäre und die Vorsitzenden der Kreiskommissionen, der Förderung und Anleitung der heimatgeschichtlichen und ortschronistischen Arbeit mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden und verantwortungsbewußter als bisher die Bemühungen des Zentralen Fachausschusses Heimatgeschichte und Ortschronik zu unterstützen.« Vgl. auch Thesen zu Aufgaben und organisatorischen Maßnahmen der Gesellschaft für Heimatgeschichte, ohne Datum, in: SÄHSTA, 13435, Nr. 84, Bl. 2–3. 80 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 9. 81 Lauerwald/Thommes/Wietstruk: Verordnung, S. 24.
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wie ›Das schönste Foto‹, ›Unsere Heimat im Bild‹, ›Erlebnisse und Geschichte – Gesehen und erlebt bei der Entwicklung meines Heimatortes‹« auszurichten, »mit denen vielfältige geschichtliche Dokumente für die Ortschronik erschlossen werden können.«82
Abb. 4: Ein Ehepaar in der Uckermark blättert seine lokalhistorische Sammlung durch.
6) Wie in der BRD auch diskutierten die Heimat- und Regionalhistoriker in der DDR über neue Formen der Verbreitung bzw. der »historischen Öffentlichkeitsarbeit«.83 Im Mittelpunkt stand die Frage, wie historische Forschung möglichst »anschaulich« gestaltet werden könne, um weitere Adressatenkreise anzusprechen. Vor allem die Materialien der Ortschroniken sollten eine vielfältige »propagandistische« Nutzung erfahren, zum Beispiel im Rahmen von Kommunalwahlen und Staatsjubiläen der DDR, aber auch im Alltag.84 Es zirkulierten zahlreiche Ideen; in seinem Perspektivplan für die Jahre 1971 bis 1975 82 Lauerwald/Wietstruk: Ortschroniken, S. 44. 83 Breuer u. a.: Ortschronik, S. 50–53. 84 Vgl. z. B.: »Bdrf. Bischoff zeigte leicht transportierte Tischaufsteller, auf denen durch Wort und Bild Teile der Chronik von Neuenhagen in ansprechender und verständlicher Weise vorgestellt werden. Diese Tischaufsteller sind ein gutes Beispiel dafür, wie mit der Ortschronik, ohne großen Aufwand, schnell propagandistisch gearbeitet werden kann« (Kurzprotokoll der Sitzung des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik am 23. September 1970 in Berlin, in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 465/1).
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schlug der Zentrale Fachausschuss Heimatgeschichte/Ortschronik eine ganze Reihe von Möglichkeiten vor, die Heimat- und Regionalgeschichte zu verbreiten: »Vorträge, Führungen, heimatgeschichtliche und heimatkundliche Wanderungen, populärwissenschaftliche Artikel, Auswertung der Ortschroniken, Hilfe für Heimatmuseen, Gestaltung kleiner Ausstellungen, Hilfe und Unterstützung der AG Junger Historiker, Arbeit in Pionierhäusern, Unterstützung sozialistischer Brigaden bei der Gestaltung des geistig-kulturellen Lebens«. Auch sollten, heißt es im selben Dokument, neue, vorzugsweise »kleine Formen« historischer Texte entwickelt werden, zum Beispiel »biographische Skizzen, Anekdoten, Interpretationen von Bildern […], Faltblätter«.85 Die heimatgeschichtliche »Propaganda-Arbeit« der DDR erwies sich wie die westdeutsche Alltagsgeschichte als offen gegenüber neuen Formen der Verbreitung und Vermittlung. 7) Ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen der ost- und westdeutschen Heimatgeschichte liegt in der Fortschritts- bzw. Krisendiagnose. Die lokal- und regionalgeschichtliche Programmatik der DDR ging nicht von einer Verfallsdiagnose aus, wie sie im Hintergrund der neuen Heimatbewegung der BRD stand. Statt der Auflösung traditioneller dörflicher (und städtischer) Lebenswelten und Gemeinschaftsformen, statt unwohnlichen »Betonwüsten« stand in der DDR die Fortschreibung des sozialistischen Aufbaus im Vordergrund. Dieses Aufbau-Primat der DDR-Heimathistoriografie stand in direktem Zusammenhang mit dem zeitgeschichtlichen Schwerpunkt auf der Zeit ab 1945. Die Fortschrittserzählung der DDR schwebte bis zu ihrem Ende als Leitmotiv über der Geschichtschreibung. Demnach folgte auf die »antifaschistisch-demokratische Umwälzung« 1945 bis 1949 der »Aufbau der Grundlagen des Sozialismus« von 1949 bis 1961. Es schlossen sich die Etappen des »entwickelten Sozialismus« zwischen 1961 und 1971 und der »Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft« ab 1971 an. Dieser verbindliche Rahmen galt auch für die Ortsgeschichte. Die Freiberger Ortsgeschichte von 1986, der dieses allgemeine Periodisierungsschema entnommen ist, ordnete die Stadtgeschichte in den kontinuierlichen Fortschritt des Sozialismus ein: »Das Wohl der Freiberger heute ist eng mit der Stärke der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik verknüpft. Noch nie war die soziale Sicherheit und der Lebensstandard seiner Bürger so hoch wie heute.«86 Betrachten wir ein Beispiel vom Ende der 1970er Jahre – der Zeit also, als der (ländliche) Strukturwandel zum Gegenstand heftiger Kritik der alltagsgeschichtlichen Bewegung in Westdeutschland geworden war. Eine ostdeutsche Anleitungsschrift zur Führung von Ortschroniken aus dem Jahr 1978 nannte als 85 Ohne Autor : Grundsatzrede aus dem Zentralen Fachausschuss Heimatgeschichte/Ortschronik, ohne Jahr [1971], in: BA, DY 27/11191, Bl. 37. 86 Kasper/Wächtler (Hg.): Freiberg, S. 7–8, 12.
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einen Themenbereich die »Umweltgestaltung«. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch den »Schutz unserer Kulturlandschaften« sowie die »aktive Einbeziehung der Natur, des Grüns, in die Gestaltung städtebaulicher Räume«; beides erinnert an entsprechende Forderungen in der BRD. In dem ostdeutschen Chronik-Leitfaden blieben diese Punkte jedoch randständig gegenüber einer kontinuierlichen Fortschrittserzählung des Ausbaus der Städte. Im Vordergrund standen beispielhafte Erzählungen wie die folgende aus einer Rostocker Chronik: »Dort, wo heute die Statteile Evershagen und Lichtenhagen emporwachsen, war 1971 noch Ackerland und Wiese. Heute wohnen in diesen neuen Stadtteilen einschließlich Lütten Klein 70 000 Einwohner, und der erste Block im neuen Rostocker Stadtteil Schmarl ist bereits fertiggestellt.« Hier setzte sich die »schrittweise Lösung der Wohnungsfrage« seit 1945 vermeintlich ungebrochen fort. Anlässe, den Lebenswert bisheriger Siedlungsformen zu überdenken, gehen aus dem Leitfaden nicht hervor. Das gleiche Bild zeigt sich bei der »landwirtschaftlichen Produktion«. Die Vorgaben für ihre Darstellung in Ortschroniken muten technokratisch an: Der Landwirtschaft komme im Sozialismus die Aufgabe zu, »die Ernährung des Volkes mit hochwertigen Nahrungsmitteln und die Versorgung der Industrie mit Rohstoffen« zu gewährleisten, »wozu ein stetiges Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion« erforderlich sei. Ein Beispiel hierfür biete die vorbildliche Errichtung einer »Milchviehanlage für 2000 Kühe« auf Sagard in Rügen. »Die Vorteile industriemäßiger Milchproduktion sind eindeutig: Mehr Leistung mit sehr viel weniger Arbeitskräften. Was früher in Handarbeit gemacht werden mußte, ist hier in hohem Maße mechanisiert.«87 Auch in diesem Zusammenhang findet sich keine Spur der Technik- und Fortschrittskritik, der teils nostalgischen Wehmut der westdeutschen Heimatforschung; keine Spur ihres Fokus auf die subjektive Erfahrung volkswirtschaftlicher Zwänge, gesellschaftlicher Großplanungen etc.88 Analoge Unterschiede zeigten sich beiderseits der innerdeutschen Grenze in der Bewertung städtischer Wohnblocks. Die »sozialistische Heimat« musste aktiv erarbeitet werden; sie bezog sich vor allem auf die Aneignung der Lebenswelt durch die Arbeiterklasse und war von der Gesellschaftsstruktur abhängiger als von der landschaftlichen Umwelt. Die Arbeiter, so lehrte die offizielle Geschichtsschreibung der DDR, deren Leben in der bürgerlichen Gesellschaft im »trostlosen und dunklen Hinterhof« verlaufen sei, hätten einzig eine »rein passive gefühlsmäßige« Bindung an die Lebenswelt entwickeln können. Heimat hingegen mussten sie sich »erst in harten politischen Auseinan87 Breuer u. a.: Ortschronik, S. 21–24. 88 Vgl. als weiteres Beispiele Embersmann u. a.: Gera, S. 5–6; Rat der Stadt Pulsnitz (Hg.): Pulsnitz, S. 7–8.
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dersetzungen erkämpfen«; deshalb müsse der Begriff vor allem auf »die aktive Tätigkeit des Menschen« abstellen.89 Zu einem paradigmatischen Beispiel für solche Prozesse der Heimat-Aneignung entwickelten sich die städtischen Neubaugebiete, die in den 1970er und 1980er Jahren verstärkt in den Blick der Gesellschaft für Heimatgeschichte gerieten. In diesen vergleichsweise geschichtslosen urbanen Siedlungen galt es, »die Bewohner schnell heimisch werden zu lassen, sie mit der Geschichte, den Sitten und Gebräuchen und Traditionen dieses Territoriums vertraut zu machen.« Dieses »Heimisch-werden« sollte dazu führen, »den Reproduktionsprozeß der Werktätigen optimal zu gestalten und über einen erfolgreichen Identitätsprozeß mit der neuen Heimat einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu leisten«. Die Funktionsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft, ihre wirtschaftliche Produktivität, war in dieser Argumentation in direkter Weise von der ›Beheimatung‹ ihrer Bürger abhängig. Für die DDR-Heimathistoriker boten die städtischen Neubausiedlungen »in einmaliger Art die Möglichkeit, Entstehung und Entwicklung von Teilterritorien umfassend festhalten und dokumentieren zu können. Deshalb sehen die Gesellschaft für Heimatgeschichte und ihre Mitglieder gerade in der chronistischen Arbeit in den Neubaugebieten, im Festhalten und Dokumentieren sozialistischer Entwicklung und sozialistischer Lebensweise einen besonderen Schwerpunkt ihrer Arbeit.«90 Während solche Wohnsiedlungen die Hauptangriffspunkte vieler Alltagshistoriker in der BRD darstellten, boten sie der DDR-Heimatgeschichte ein vermeintlich besonders prägnantes Beispiel für die sozialistische Heimat. 8) Betrachten wir abschließend die Gesamtentwicklung der Heimatgeschichte von den 1940er bis zu den 1980er Jahren in der DDR, so fällt ihre Gradlinigkeit und relative Starrheit im Vergleich zur westdeutschen Heimatgeschichte ins Auge. Die grundsätzlichen Maßstäbe der ostdeutschen Heimatforschung waren in der Frühzeit der DDR bereits formuliert und ihre Vertreter rückten bis zur Wiedervereinigung nicht wesentlich davon ab. Sei es die eindeutige Hierarchie von professionellen und Laienhistorikern, sei es der thematische Fokus auf den »Aufbau des Sozialismus«, sei es die Verengung der NS-Geschichte auf dem Kampf von »Faschisten« und »Antifaschisten« oder auch die Bevorzung von »Kollektiven« vor der Arbeit von Einzelautoren, es stellten sich allenfalls graduelle Verschiebungen ein.91 Dies wird vor allem im Vergleich zur Entwicklung 89 Hühns: Inhalt, S. 7–8. 90 Paul Lauerwald: Zuarbeit zum Referat zur 1. Delegiertenkonferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte im November 1981 in Neubrandenburg, 10. 6. 1981, Anlage 2, in: BA, DY 27/9028. 91 Hier brachte auch die Erweiterung des Spektrums offiziell bearbeitbarer Themen im Rahmen der Diskussion um Erbe und Tradition der sozialistischen Gesellschaft ab den späten 1970er Jahren keinen radikalen Wandel. Vielmehr galt es in den 1980er Jahren einmal mehr,
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in der BRD deutlich, die durch die einschneidende Wende der neuen Heimatbewegung bzw. der alltagsgeschichtlichen Bewegung Ende der 1970er Jahre gekennzeichnet ist. Der Hauptgrund für die relative Kontinuität bzw. Beharrlichkeit der DDR-Heimatgeschichte liegt vermutlich in der fortgesetzten Abhängigkeit von den Vorgaben der SED, die nur wenig Raum für die Erarbeitung eigenständiger Arbeitsgrundsätze ließ. Die Heimathistoriker blieben dadurch strikt an das offizielle Fortschrittsnarrativ der DDR gebunden. Die heimatgeschichtliche Arbeit im Kulturbund konnte sich selbst einzig als Konsolidierung und Differenzierung von einmalig als richtig erkannten Prinzipien deuten.92
Heimat- und Regionalgeschichte zur Wendezeit Im Herbst des Jahres 1989 geriet die Gesellschaft für Heimatgeschichte in den Sog der »demokratischen Erneuerung« des Kulturbundes. Die Leitung reagierte in ambivalenter Weise: Auf der einen Seite hielt sie an herkömmlichen Rezepten fest. So sollte die Gesellschaft auf die »neuen Anforderungen« mit einer weiteren »Konzentration auf heimatgeschichtliche Aufgaben und Themen« begegnen, die bereits in der Vergangenheit verfolgt worden waren.93 Zwar stellte der Zentralvorstand die ursprünglichen Arbeitspläne für die Jahre 1990 und 1991 neu zur Disposition, doch stand dieses Instrument der Planung und Koordination der landesweiten heimatgeschichtlichen Arbeit nicht generell in Frage; an die Stelle der alten Pläne sollte noch im November 1989 ein überarbeiteter, umfangreicher Arbeitsplan für die Jahre 1991 bis 1995 treten. Dabei ging es weiterhin um die Schulung und Weiterbildung des leitenden Personals als auch der »Basis in den Orten, Kreisen und Bezirken« im Sinne einer »Vertiefung des sozialistischen Staatsbewußtseins«. Auch sollte die Ortschronikarbeit »auf propagandistischem Gebiet« weiterhin »effektiv« genutzt werden.94 Publikationen plante man wie die Geschichte der DDR zu dokumentieren, um der jungen Generation die Leistungen beim Aufbau des Sozialismus zu präsentieren – einer Generation, die, wie Erich Honecker beispielsweise auf dem 10. Parteitag der SED äußerte, das Leben in der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr aus eigener Anschauung kenne und die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft deshalb für allzu selbstverständlich nehme. 92 Symptomatisch ist, dass Willibald Gutsche sich in seiner Übersicht über die Entwicklung der Heimatgeschichte in der DDR von 1945 bis 1985 ab der »zweiten« und »dritten Phase« (1949 bis 1960 und 1960 bis 1971) fortlaufend zu wiederholen beginnt und wieder und wieder identische Formulierungen verwendet, um vorgeblich neue Entwicklungen zu beschreiben, Gutsche: Grundtendenzen. 93 Kurzprotokoll der erweiterten Sonderberatung des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 19./20.1.90 in Erfurt, in: BA, DY 27/9023. 94 Die »Ortschronik« als Sammlungstätigkeit stand nicht zur Debatte; sie sollte weitergeführt werden und dabei auch die jüngsten Ereignisse der »friedlichen Revolution« dokumentieren,
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zuvor »vorbehaltlich der Bestätigung des Papierkontingentes« und internationale Kooperationen einzig mit den Staaten des Ostblocks.95 Das Geschichtsbild des Leiters der Gesellschaft, Willibald Gutsche, war, so zeigen seine Vorträge und Arbeitspapiere der Jahre 1989/1990 deutlich, weiterhin sozialistisch geprägt. Zwar sprach auch Gutsche von einem »erneuerten Sozialismus«, doch dominierte nach wie vor der Dualismus »revolutionärer« bzw. »progressiver« und »reaktionärer« Kräfte.96 Alles in allem zog er eine Erfolgsbilanz der heimatgeschichtlichen Arbeit des Kulturbundes: »Zu dem, was wir auf der Haben-Seite verbuchen können, zählt, daß die nunmehr über 26.000 Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR einen spezifischen und nicht unwesentlichen Beitrag zur Geschichtsforschung und für die Herausbildung von Heimatverbundenheit und Heimatgefühl eingebracht haben.«97 Auf der anderen Seite brachte die Leitung der Gesellschaft für Heimatgeschichte eine teilweise harsche Kritik vor – vorgeblich aus eigener Überzeugung und im Namen der »Basis« zugleich. Ein zentraler Kritikpunkt richtete sich auf die Vereinnahmung der heimatgeschichtlichen Forschung durch politische Institutionen und Interessen. Die im Grunde sachliche und unpolitische Arbeit der Heimathistoriker im Kulturbund sei von außen stark eingeschränkt und behindert worden. In Zukunft müsse folglich eine deutliche Trennung politischer und wissenschaftlicher Interessen erfolgen. Der Zentralvorstand hatte im Oktober 1989 eine Vorlage erarbeitet, die den Mitgliedern der Gesellschaft auf mehreren Konferenzen zur Abstimmung vorgelegt wurde; darin hieß es: »Unsere in den letzten Jahren mehrfach gegebenen Anregungen die regionale Geschichte der DDR mit all ihren Widersprüchen, Fehlentscheidungen und Problemen ohne Beschönigung darzustellen, blieben weitgehend ohne Erfolg, weil vor Ort durch dirigistische Eingriffe von Personen, Institutionen und Gremien der SED und des Staatsapparates deren Verwirklichung kaum möglich war und angesichts der vorherrschenden Atmosphäre von vorgegebenen Tabus, abgeforderter Hofberichterstattung und einseitiger Erfolgsbilanzierung auch die Heimathistoriker in einer Selbstzensur Zuflucht suchten oder suchen mußten. Selbst punktuelle, weiterführende Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft zu Fragen der jüngeren und jüngsten DDR-Geschichte stießen bei Partei- und Staatsorganen in den Territorien auf Ablehnung und ließen sich deshalb nur vgl. z. B. Bezirksvorstand Dresden der Gesellschaft für Heimatgeschichte/Bezirksfachausschuß Heimatgeschichte/Ortschronik: Arbeitsplan 1990, 14. 2. 1990, in: SÄHSTA, 122485, Nr. 454, Bl. 1. 95 Gesellschaft für Heimatgeschichte: Vorläufiger Plan 1990 des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR, 24. 11. 1989, in: BA, DY 27/9023. 96 Willibald Gutsche: Ohne Titel, ohne Datum [1989/1990], in: BA, DY27/9023, Bl. 1. 97 Willibald Gutsche: An alle Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR: Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR und Demokratische Erneuerung (Diskussionsgrundlage), Dezember 1989, in: BA, DY27/9023, Bl. 2–3.
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schwer durchsetzen, zumal darüber in den Orten, Kreisen und Bezirken entschieden wurde.«98 Neben der eindeutig apologetischen Tendenz dieser Analyse wird klar, dass die führenden Heimathistoriker im Kulturbund die marxistische Deutung der Geschichte keineswegs aufgeben wollten. Die direkte politische Einflussnahme habe jedoch zu einem allzu »einlinigen, genormten Geschichtsbild« geführt, so Paul Lauerwald.99 Demgegenüber sei in Zukunft der »Pluralismus der Meinungen« zu fördern, der die Heimathistoriker »unabhängig von ihrer politischen und weltanschaulichen Bindung« zu Wort kommen lasse.100 Eng verbunden mit der Forderung einer stärkeren Trennung von Politik und Wissenschaft war die Kritik an einem einseitigen Weisungsverhältnis der Allgemein- und Nationalhistoriker gegenüber der Heimatgeschichte. Lauerwald forderte auf einer Tagung zu »Ortschronik und Ortsgeschichte« im November 1989, die Beziehung von Lokal- und Nationalgeschichte künftig komplexer zu fassen und erstere nicht zum »Beweisfeld« letzterer zu degradieren. Die Lokalgeschichte sei »nicht lediglich zu deren Illustration da. Wir müssen die lokalgeschichtlichen Eigenarten und Spezifika stärker beachten und herausarbeiten anstatt sie, wie zuweilen in der Vergangenheit zu eliminieren.« Außerdem müsse sich die ostdeutsche Heimatgeschichte neuen Ansätzen gegenüber offen erweisen; dazu zählten insbesondere Themenfelder, die aus der westdeutschen Historiografie geläufig waren wie z. B. die »Mentalitäts- und Alltagsgeschichte«.101 Vor allem der Begriff des »Alltags« fand nun verstärkt Eingang in die Äußerungen der DDR-Heimathistoriker. Auch erfuhr die Verwertung von »Lebenserinnerungen« und mündlicher Geschichte eine erneute Renaissance.102 Die methodischen Neuerungen sollten hierbei allerdings in Einklang mit der unangetasteten sozialistischen Geschichtserzählung erfolgen. Die institutionellen Konsequenzen, die die führenden Kulturbund-Vertreter aus der vorgebrachten Kritik zogen, fielen eher unspektakulär aus. Die Gesellschaft für Heimatgeschichte sollte, gemäß ihres Zentralvorstands und den Vorsitzenden der Bezirkskommissionen, als »Dachverband für alle an der Hei98 Ebd., Bl. 3–4. 99 Paul Lauerwald: Referat Konferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 25. 11. 1989 in Berlin »Ortschronik und Ortsgeschichte – Erfahrungen und Probleme bei der Auswertung von Ortschroniken«, in: BA, NY 4638, Bl. 10. 100 Willibald Gutsche: An alle Mitglieder der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR: Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR und Demokratische Erneuerung (Diskussionsgrundlage), Dezember 1989, in: BA, DY27/9023, Bl. 8–9. 101 Paul Lauerwald: Referat Konferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 25. 11. 1989 in Berlin »Ortschronik und Ortsgeschichte – Erfahrungen und Probleme bei der Auswertung von Ortschroniken«, in: BA, NY 4638, Bl. 12. 102 Gesellschaft für Heimatgeschichte: Vorläufiger Plan 1990 des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR, 24. 11. 1989, in: BA, DY 27/9023.
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matgeschichte interessierten Bürger« weiterbestehen. Der Zentralismus der Heimatgeschichte würde bestehen bleiben, der Vorstand der Gesellschaft sollte allerdings künftig »demokratischer und loser wirken«. In diesem Sinne wurden einerseits kosmetische Änderungen wie die Umbenennung des »Arbeitsausschusses« in »Initiativgruppe« vorgeschlagen, andererseits sollten die Vorgaben für die inhaltliche Arbeit der Unterorganisationen in den Bezirken und Kreisen zurückgefahren werden. In personeller Hinsicht führten Neuwahlen zu einer weitgehenden Kontinuität des bisherigen Leitungspersonals, allen voran des Ersten Vorsitzenden Willibald Gutsche. Von größerer Bedeutung ist demgegenüber, dass das bisherige Genehmigungsverfahren für alle heimatgeschichtlichen Veröffentlichungen abgeschafft werden sollte.103 Die Diskussionen in den Leitungsgremien des Kulturbundes wurden derweil rasch durch die heimatgeschichtliche Praxis überholt. Es fanden die ersten Gründungen historischer Vereine auf dem Gebiet der DDR statt, die die bestehenden Bezirkseinteilungen ignorierten und sich namentlich auf die Landesgeschichte beriefen. Der Sächsische Verein für Heimatgeschichte und Denkmalpflege beispielsweise schloss sich letztendlich zwar dem Kulturbund an, doch war diese Assoziation keineswegs unumstritten unter den Mitgliedern.104 Bereits im Februar des Jahres 1990 war die Gesellschaft für Heimatgeschichte zunehmend unhaltbar geworden; sie rief schließlich selbst zur Gründung einer Nachfolgeorganisation in Form eines »Verbandes« auf. Dabei sollte es sich um einen »demokratisch organisierten Interessenverband von einzelnen Bürgern, von Vereinen, und Verbänden, Gesellschaften, Freundeskreisen, Ortsgruppen, Chronistenkollektiven, Interessengemeinschaften, Geschichtswerkstätten und anderen Vereinigungen [handeln], die sich in ihrer Freizeit oder beruflich der Erforschung, der Pflege, der Vermittlung oder der rezeptiven Beschäftigung mit der Geschichte und der Kultur der Heimat« widmeten.105 Etwa zur selben Zeit veröffentlichte ein Zusammenschluss von DDR-Heimatforschern – nun als »Deutsche Natur- und Heimatfreunde« firmierend – eine gemeinsame Erklärung mit dem westdeutschen Heimatbund. Darin hieß es, dass die »bisher zentralistisch ausgerichteten Verbandsstrukturen der Gesellschaften im Kulturbereich […] in föderative Strukturen umgewandelt werden« sollen. Die »neuen Grundprinzipien« der Organisationsstruktur sollten »Selbstbestimmung« und »Selbständigkeit« lauten.106 103 Kurzprotokoll der erweiterten Sonderberatung des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Heimatgeschichte am 19./20.1.90 in Erfurt, in: BA, DY 27/9023. 104 Sächsischer Verein für Heimatgeschichte und Denkmalpflege, Regional Leipzig, im Kulturbund e.V., in: SÄSTA-L 21756, Nr. 2396. 105 Initiativgruppe »Verband Heimat- und Kulturgeschichte«: Aufruf zur Gründung eines Verbandes für Heimat- und Kulturgeschichte, 21. 2. 1990, in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 1577. 106 Deutscher Heimatbund – Presse- und Informationsdienst: Deutsch-deutsche Kooperation
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Heimat- und Regionalgeschichte in den neuen Bundesländern In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung wähnte sich die westdeutsche Alltagsgeschichte in deutlicher Überlegenheit gegenüber der ehemaligen ostdeutschen Heimatgeschichte. Es schien eindeutig, dass ein Gegenstück zur emanzipatorischen alltagsgeschichtlichen Bewegung in der DDR nicht existierte.107 Die Friedrich-Ebert-Stiftung förderte 1990 und 1991 zwei länderübergreifende Tagungen zur Lokalgeschichte, die diesen Befund – bei aller Anerkennung der Leistungen ostdeutscher Heimat- und Regionalgeschichte – im Wesentlichen bekräftigten.108 Das westliche ›Erfolgsmodell Geschichtswerkstätten‹ sollte in die neuen Bundesländer exportiert werden.109 Die in Westdeutschland am Ende der 1980er Jahre bereits merklich verblasste fachliche und gesellschaftliche Demokratisierungs-Verheißung der Alltagsgeschichte erfuhr im Zuge ihrer Übertragung auf die historiografische Landschaft Ostdeutschlands einen zweiten Frühling. Wie ein gutes Jahrzehnt zuvor im Westen sollte eine Geschichte »von unten« abermals dazu dienen, die verkrusteten Strukturen einer kanonischen, professionellen Historiografie aufzubrechen.110 Bereits 1990 riefen Akademiker die Ost-Berliner Geschichtswerkstatt ins Leben. Sie setzte grundlegend andere thematische Schwerpunkte als die westdeutsche Alltagsgeschichte der 1970er und 1980er Jahre, indem sie sich auf die Aufarbeitung der jüngst überwundenen Diktatur konzentrierte. Im Zentrum stand die Forderung, »den Verfolgten und Opfern des Stalinismus Stimme und Geschichte zurückzugeben«.111 Somit blieb die ehemalige Konzentration der DDR-Heimatgeschichte auf den »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden« nunmehr in negativer Form erhalten. Die neuen Initiativen strahlten jedoch nur bedingt über die akademischen Zirkel, die sie hauptsächlich trugen, auf historische Laienforscher aus.112 Das kurzzeitig wiedererwachte Missionsbewusstsein der Alltagsgeschichte wich einer baldigen Ernüchterung. Dadurch wurde auch der westdeutschen Alltagsgeschichte der Spiegel vorgehalten: Die Geschichtswerkstätten der BRD waren nach dem Auslaufen vieler Arbeitsbe-
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zwischen dem Deutschen Heimatbund und den Deutschen Natur- und Heimatfreunden (DDR), 13. 2. 1990, in: BA, DY 27/9023. Die »Deutschen Natur- und Heimatfreunde« waren kurz zuvor aus Mitgliedern der Gesellschaften für Natur und Umwelt, für Denkmalpflege und für Heimatgeschichte im Kulturbund hervorgegangen. Clemens: »Geschichte«. Doßmann: Geschichtswerkstätten. Doßmann: Geschichtswerkstatt-Initiativen, S. 328. Dehne: W(a)ende, S. 80. Clemens: »Geschichte«, S. 18. Für Beispiele von Geschichtswerkstätten, die sich vorrangig mit der NS- und DDR-Geschichte beschäftigen siehe die Geschichtswerkstatt Weimar-Apolda e.V. (später : PragerHaus-Verein) oder die Geschichtswerkstatt Jena e.V.
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schaffungsmaßnahmen in die Krise geraten; ihre dauerhafte Übernahme durch »Laien« war höchstens punktuell erfolgt, worauf ostdeutsche Historiker wiederholt hinwiesen.113 Stattdessen erfasste die neuen Bundesländer ab 1990 eine unkoordinierte Gründungswelle lokaler Heimat- und Geschichtsvereine ohne organisatorische oder ideelle Anbindungen an die kritische Alltagsgeschichte. Wie in Westdeutschland wurden diese Zusammenschlüsse von Ehrenamtlichen nicht selten zum Ausgangspunkt der Produktion von Ortschroniken und Heimatbüchern. Die Praxis, ABM- bzw. SAM-Kräfte für die Abfassung von Festschriften und Ortschroniken oder andere heimatgeschichtliche Auftragsarbeiten anzustellen, wiederholte sich ebenfalls in den neuen Bundesländern, insbesondere in Regionen mit hohen Arbeitslosenzahlen.114 Diese Praxis führte zu einer recht hohen soziodemografischen Vielfalt im Blick auf den beruflichen Hintergrund und die akademische Vorbildung der Chronikautoren, unter denen zudem relativ viele Frauen zu finden waren. Nach dem schrittweisen Auslaufen der Beschäftigungsprogramme am Ende der 1990er Jahre blieb das Laieninteresse an der Ortsgeschichte vielerorts bestehen. Die nach den staatlichen Verordnungen von 1955 und 1982 zu führenden Ortschronik-Sammlungen hatten in den alten und neuen Bundesländern der Bundesrepublik kein direktes Pendant. Ihre Zukunft nach der Wiedervereinigung war ungewiss. Da die kommunalen Verwaltungen hier keine Zuständigkeit mehr hatten, gingen die Sammlungen vielerorts in den Privatbesitz ehemaliger Ortschronisten über. In manchen Orten übernahmen neugegründete Geschichtsvereine die Materialien.115 Vielerorts bedeutete das Ende der DDR allerdings auch das Ende für »Ortschroniken« sowie den endgültigen Verlust der Sammlungen.116 Wo ältere, verschriftlichte Ortschroniken bzw. Ortsgeschichten die Wiedervereinigung überlebten, wurden sie in späteren Jahren gelegentlich durch Heimatvereine oder einzelne Heimatforscher wiederentdeckt und neu editiert; so zum Beispiel im Falle des sächsischen Leisnig, wo der örtliche Heimat- und Geschichtsverein die Schrift des Heimatforschers Max Grimmer, die dieser 1951 vorgelegt und in den Jahren 1952 bis 1954 fortgeführt hatte, im Jahr 2003 erneut herausgab.117 Wie bereits an anderer Stelle gesehen verwerteten Heimatbuch-Autoren und -Herausgeber in den neuen Bundesländern gelegentlich vielschichtige Vorlagen, die sich aus Versatzstücken aus Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus sowie ortschronistischen Samm-
113 Doßmann: Geschichtswerkstatt-Initiativen, S. 333. 114 Vgl. als Beispiele aus Mecklenburg-Vorpommern: Banzkow ; Leopoldshagen; Pölchow ; und aus Sachsen: Großpösna; Obercunnersdorf. 115 So z. B. im Fall des Vereins für Ortsgeschichte e.V. in Fraureuth. 116 Vgl. Lüptitz: S. 7–8. 117 Leisnig.
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lungen und heimatgeschichtlichen Texten aus der DDR zusammensetzten, und ergänzten diese um eigene, aktuelle Aufzeichnungen.
Heimatgeschichte als lokale Praxis Die Frage, ob in der ehemaligen DDR ein den westdeutschen Ortschroniken und Heimatbüchern vergleichbares Genre entstanden ist, ist trotz aller Unterschiede in der Organisation heimatgeschichtlicher Forschungen nicht ganz einfach zu entscheiden; auch wenn sie letzten Endes klar zu verneinen ist. Die Rekonstruktion der offiziellen Programmatik der ostdeutschen Heimatgeschichte im vorangehenden Kapitel hat gezeigt, dass die institutionellen Ausgangsbedingungen der Verbreitung von Laienchroniken eindeutig im Wege standen. Lassen wir die nominelle Festschreibung der Unterscheidung von »Ortschroniken« als Sammlungen und »Ortsgeschichten« als lokalgeschichtlichen Monografien einmal beiseite, so ließ das heimatgeschichtliche Verständnis des Kulturbundes die Entstehung von Heimatbüchern, wie sie in Westdeutschland vor allem ab den späten 1970er Jahren florierten, eigentlich nicht zu. Dem widersprach zunächst das durchgehende Festhalten an der Hierarchie von Wissenschaft und Laiengeschichte. Des Weiteren strebten die zentralistischen Organe der ostdeutschen Heimatgeschichte nach einer möglichst vollständigen Erfassung – und damit auch Kontrolle – aller heimatgeschichtlichen Aktivitäten, von Professionellen wie von Laien. Diese Kontrolle ließ Abweichungen vom marxistisch-leninistischen Geschichtsbild nicht zu; eine klare Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte, wie sie der westdeutschen Ortschronistik zugrundelag, war dadurch der Theorie nach ausgeschlossen. Zwar führte die sozialistische Historiografie praktisch nicht zu einer Wechselseitigkeit von Lokal- und Nationalgeschichte, sondern degradierte erstere in aller Regel zu einem bloßen Beispielfeld letzterer, doch war der Anspruch einer konstanten Einbettung lokaler Ereignisse in national- und weltgeschichtliche, revolutionäre Abläufe allgegenwärtig. Hinzu kam die zentrale Orientierung auf die soziale Spaltung zwischen Klassen, deren Antagonismus in jeglicher Geschichtsschreibung sichtbar zu machen war. Das erschwerte es erheblich, die Geschichte aus der Perspektive einer zeitlosen, geschlossenen Dorfgemeinschaft jenseits politischer Fragmentierungen zu rekonstruieren (was den Ausgangspunkt der westdeutschen Ortschronistik darstellte). Nichtsdestoweniger war die DDR-Heimatgeschichte von der freiwilligen Teilnahme einer großen Anzahl an Freizeithistorikern abhängig, die – trotz aller diesbezüglichen Bemühungen – das sozialistische Geschichtsbild kaum verinnerlicht hatten. Um die notwendige »Freude« aller »gesellschaftlichen Kräfte« an der heimatgeschichtlichen Mitarbeit dennoch zu ermöglichen, waren in der
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Praxis gewisse ideologische Abstriche erforderlich; dessen waren sich die offiziellen Stellen durchaus bewusst. Ausschlaggebend dafür, dass im lokalen Rahmen trotzdem keine Laien-Chroniken im westdeutschen Sinne produziert und verbreitet werden konnten, war letztlich ein anderer Aspekt: der stark eingeschränkte Zugang zu den materiellen Ressourcen, die für die Veröffentlichung heimatgeschichtlicher Bücher unumgänglich sind. Die Kontingentierung von Papier und die Abhängigkeit aller – auch der nicht verlagsgebundenen Literatur – von der Begutachtung vor dem Druck machten die Entstehung eines eigenständigen, von der offiziellen Geschichtsschreibung relativ unabhängigen Genres praktisch unmöglich. Dennoch lässt sich nach Spuren eines vergleichbaren Phänomens in der lokalen, heimatgeschichtlichen Praxis der DDR suchen. Es ist nicht zuletzt die rasche Verbreitung von Heimatbüchern in den neuen Bundesländern, deren historische Perspektiven von denen westdeutscher Chroniken nicht zu unterscheiden sind, die es nahelegt, dass die Bereitschaft entsprechende Bücher zu schreiben und zu lesen bei vielen Laien bereits zu Zeiten der DDR vorhanden war.118 Die Forschung zur ostdeutschen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen hat bereits gezeigt, dass von der relativen Uniformität und dem ideologischen Dogmatismus der gedruckten Texte nicht zwangsläufig auf eine entsprechend einheitliche Wahrnehmung der Akteure geschlossen werden kann. Viele Kontroversen spielten sich nicht in den Veröffentlichungen, sondern im geschützten Vorfeld ab. Konrad Jarausch schreibt: »Typisch für diese Art der Meinungsbildung waren interne Diskussionen, in denen ein störrischer Kollege durch intensive Einwirkung auf den von der Partei festgelegten Pfad zurückgebracht wurde. Kritik von Textentwürfen war dabei das Schlachtfeld, auf dem der Konflikt unter anderem ausgetragen wurde.«119 Nicht zuletzt wegen dieser Mechanismen propagierte die DDR-Historiografie die Arbeit in »Kollektiven«, auch auf dem Gebiet der Heimatgeschichte. Heinrich Gemkow aus der Leitung der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund betonte bereits in den 1950er Jahren, dass gerade Laien in Kollektiven zusammenkommen sollten: »Dort, wo heimatgeschichtliche Arbeiten entstehen, existieren fast ausnahmslos auch Arbeitsgruppen für Heimatgeschichte. Das ist das Forum, in dem zunächst um die Klärung schwieriger Probleme gerungen werden muß. Fast alle der oft groben politischen Fehler in unseren Arbeiten könnte durch eine offene Diskussion 118 Vielversprechende Ergebnisse im Blick auf die Ähnlichkeit lokaler Erinnerungskulturen in Ost und West sind zudem von dem Forschungsprojekt von Marcel Thomas an der Bristol University zu erwarten, der den Zusammenhang von lokaler Identität, Raumwahrnehmung und Erinnerung in den Orten Ebersbach in Baden-Württemberg und Neukirch in Sachsen vergleicht (der Arbeitstitel lautet: »Negotiating Space in the Province: Villagers Spatial Practices and Everyday Life in the Divided Germany«). 119 Jarausch: Texte, S. 274.
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zweifellos gleich an Ort und Stelle berichtigt werden.«120 Da Gemkow derzeit auch für die Begutachtung heimatgeschichtlicher Literatur verantwortlich und damit chronisch überlastet war, hat diese Aussage einen weiteren Beigeschmack: Wenn sich heimatgeschichtliche Laienautoren dieser Art von vorwegnehmender Selbstzensur unterwarfen, hatte ihre Arbeit eine bessere – vor allem schnellere – Aussicht auf eine tatsächliche Veröffentlichung, als wenn sie in den Mühlen des überforderten Gutachtenapparats stecken bliebe.121 Vergleichbare Formen der Selbstzensur hat die Forschung zur allgemeinen Geschichtswissenschaft der DDR ebenfalls bereits herausgearbeitet. So schrieb Siegfried Lokatis über die Folgen des Begutachtungssystems der verlagsgebundenen Literatur : »In jahrzehntelanger ›Erziehungsarbeit‹ wurden Verleger und ideologisch verantwortliche Cheflektoren daran gewöhnt, von sich aus nur Manuskripte abzuliefern, die sie als druckreif ›verantworten‹ konnten.«122 Gleiches gilt für den größten Teil der nicht-verlagsgebunden Literatur im heimatgeschichtlichen Bereich, die in aller Regel von den Räten der Kreise, Städte oder Gemeinden herausgegeben wurde. Auch hier wurden zahllose abweichende Manuskripte aus diesem Grund bereits im Vorfeld der Begutachtung fallen gelassen oder entsprechend den ›erwarteten Erwartungen‹ grundsätzlich überarbeitet. Diese Überlegungen deuten darauf hin, über die tatsächlich gedruckten Texte hinauszugehen und unsere Untersuchung auf Archivalien auszudehnen. Die heimatgeschichtlichen Organisationen der DDR haben auch auf der Bezirksund Kreisebene umfangreiche Archivbestände hinterlassen. Im Rahmen meiner Untersuchungen habe ich einige exemplarische Stichproben vorgenommen,123 die zeigen, dass jenseits der gedruckten Literatur vielfach Positionen verhandelt wurden, die auch für die westdeutsche Ortschronistik prägend waren. Zudem fanden auch in der DDR einige lokale Publikationen in den Druck, die – trotz der umfassenden Vereinnahmungsversuche der offiziellen Organe – den Richtlinien der DDR-Historiografie nicht genügten und teilweise deutliche Ähnlichkeiten zu Heimatbüchern der Bundesrepublik aufwiesen. Verbreitet war beispielsweise die Praxis, im Grunde klassische Heimatbuchinhalte in Festschriften mit dogmatischen, marxistischen Ausführungen in Vor- und Geleitworten zu rahmen und dadurch zu legitimieren. Unterm Strich bleibt es jedoch dabei, dass Ortschroniken und Heimatbücher mit den typischen Entstehungsprinzipien und historiografischen Perspektivierungsweisen, wie ich sie in der vorliegenden Studie 120 121 122 123
Gemkow : Arbeit, S. 148. Vgl. Gemkow : Erforschung, S. 49–50. Lokatis: Zensur, S. 283. Namentlich aus dem Bundesarchiv Berlin (BA), dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden (SÄHSTA), dem Sächsischen Staatsarchiv Leipzig (SÄSTA-L) und dem Landeshauptarchiv Schwerin (LHA-S).
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skizziert habe, für die DDR nicht nachzuweisen sind. Diese Frage bleibt hier letztlich die leitende; für eine eigenständige Rekonstruktion der heimatgeschichtlichen Praxis der DDR unabhängig davon, ob sie mit dem westdeutschen Ortschronik- bzw. Heimatbuchschreiben vergleichbar ist, sei auf andere Studien verwiesen.124
Die Grenzen von Übersicht und Kontrolle Im Sommer des Jahres 1958 teilte ein Vertreter des Rats des Bezirks Erfurt dem Innenministerium mit, dass im Kreis Weimar in der ersten Jahreshälfte zwei Tagungen stattgefunden hatten, zu der die Ortschronisten aller Gemeinden geladen worden waren. Auch wenn diese Konferenzen unter dem Motto »Erfahrungsaustausch« firmiert hatten, bezeichnete sie der Bezirksvertreter ausdrücklich als »Kontrolle« der lokalgeschichtlichen Aktivitäten. Die Ergebnisse dieser Kontrolle waren allerdings ernüchternd ausgefallen. Dass nur zwei Drittel aller 98 Gemeinden des Kreises einen Vertreter entsendet hatten, sei vor diesem Hintergrund bereits als Erfolg zu werten. Es heißt: »Der weitaus größte Teil der Gemeinden hat unseres Erachtens überhaupt noch gar nichts auf dem Gebiet der Ortschroniken getan.« Noch besorgniserregender erschien jedoch die Qualität – und in den Augen des Bezirksrates direkt damit verknüpft: die politische Tendenz – der vorgelegten Produkte. »Erfahrungsgemäß kann aber hier gesagt werden, daß erst ein kleiner verschwindender Teil die Chroniken richtig schreiben wird; ein Teil unbrauchbare Arbeiten liefern, sogar feindliche Aufzeichnungen machen wird.« Die Bezirksregierung stand diesen Problemen nach eigener Aussage größtenteils machtlos gegenüber. Die »Anleitung«, so die Ausdrucksweise im gerade zitierten Schreiben, die der Bezirk den Ortschronisten seiner insgesamt über 800 Gemeinden angedeihen lassen könne, beschränke sich aus Kapazitätsgründen auf Einzelfälle und Stichproben. Dies und die Arbeitsbelastung (potentieller) Chronisten in den Orten »lassen es einfach nicht zu, das Problem der Ortschroniken gründlicher zu bearbeiten«. Dies gelte gleichermaßen für die Kreisverwaltungen. Es komme hinzu, dass die Hinweise der zuständigen Sachbearbeiter von den Chronisten oder Gemeindevertretern schlicht missachtet würden.125 Eine weitere Tagung im Juni 1960 im Kreis Sonderhausen war noch schlechter besetzt; nur etwa die Hälfte der Gemeinden des 124 Siehe insbesondere die bereits besprochenen Studien von Behrens: Identität, und Schaarschmidt: Regionalkultur. Die heimatgeschichtliche Praxis der DDR lässt jedoch noch viel Raum für zukünftige Studien. 125 Brief vom Rat des Bezirkes Erfurt an Regierung der Deutschen Demokratischen Republik – Ministerium des Innern, 1. 7. 1958, in: BA, D01/33602, Bl. 2.
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Kreises war vertreten.126 Der stellvertretende Vorsitzende des Rats der Kreise des Bezirks Erfurt wiederholte die Klage, dass sich die lokalen Verwaltungen kaum bemüht hätten, ortschronistische Aktivitäten vor Ort zu installieren bzw. auszubauen. Die programmatischen Vorgaben der staatlichen Chronik-Anordnung, die entsprechenden Verlautbarungen aus dem Zentralkomitee der SED und andere offizielle Richtlinien könnten so kaum umgesetzt werden. In den Kreisen abgehaltene Fortbildungen blieben »ohne Erfolg, wenn an den Tagungen nur vereinzelte Chronisten teilnehmen«.127 Es zeigt sich, dass der gewünschte Überblick über alle laufenden Arbeiten und Aktivitäten im Bereich der (Laien-)Heimatgeschichte praktisch nicht zu gewährleisten war. Gewisse Teile der Lokalgeschichte auf den untersten Ebenen, das heißt vor allem in ländlichen Gegenden und in kleinen Gemeinden, blieben der direkten Kontrolle durch die Kreise und Bezirke entzogen. Diese Ungewissheit war besonders in den ersten Nachkriegsjahrzehnten eklatant;128 doch änderte sich die Lage bis zum Ende der 1980er Jahre eher graduell, nicht grundlegend. Stetige Versuche der zuständigen Stellen in den Bezirks- und Kreisverwaltungen, ihre Übersichten zu vervollständigen, weitere Gemeinden zu heimatgeschichtlichen Initiativen, allen voran der Führung von Ortschroniken, zu bewegen und die bestehenden Aktivitäten zu verbessern, blieben dennoch zu keiner Zeit aus. Anfang Mai des Jahres 1976 veranstaltete der Zentrale Fachausschuss Heimatgeschichte/Ortschronik der Natur- und Heimatfreunde beispielsweise ein Seminar in Bad Saarow, das sich ausdrücklich an Bezirks- und Kreisvertreter wandte. Der Seminarleiter Wolfgang Herfurth konstatierte, dass die »zahlenmäßige Beteiligung als völlig ungenügend einzuschätzen« sei. Es fehle, so heißt es in seiner Auswertung der Veranstaltung weiter, ohnehin an 126 Brief vom Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Kreises Sonderhausen an den Rat des Bezirkes Erfurt, Abteilung Innere Angelegenheiten, Referat Archivwesen, 22. 6. 1960, in: BA D01/33602, Bl. 2. 127 Rundbrief des stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Kreise, Bezirk Erfurt, an alle 15 Kreise, 26. 1. 1960, in: BA, D01/33602, Bl. 2. 128 Vgl. für den Bezirk Frankfurt/Oder : Protokoll von der Sitzung der Bezirkskommission Natur- und Heimatfreunde am 20. April 1956, in: BA, DY 27/6960, Bl. 50: »Koll. Kurth gab einen Bericht über den Stand und stellte fest, daß es sehr traurig mit der Organisation der Natur- und Heimatfreunde aussieht, da keine Übersicht vorhanden ist, welche Arbeitsgemeinschaften und Fachgruppen bestehen und in welchen Orten sich die bestehenden befinden. Die Bdfrd. Kretschmann bat darum, daß es auch für die Mitglieder der Bezirkskommission notwendig ist, eine solche Übersicht zu haben, was bisher jedoch nicht möglich war. Sie ist der Meinung, daß alle Bezirkskommissionsmitglieder genau orientiert sein müssen, wo sich Natur- und Heimatfreunde in den Kreisen, Gemeinden usw. Befinden, um Anknüpfungspunkte zu finden in Orten durch die man fährt oder sich aufhält.« Vgl. des Weiteren die Anstrengungen der Archive, z. B. in: Staatliche Archivverwaltung: Stellungnahme zu dem in der Zeitschrift »Natur und Heimat«, Heft 2/1961, S. 61, erschienen Artikel von J.A. Hauf »Wer schreibt die Ortschronik?«, 25. 3. 1961, in: BA, D01/30173.
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einem ausreichenden Überblick über die heimatgeschichtlichen Akteure in den Regionen. Im bürokratischen Stil Herfurths liest sich das folgendermaßen: »Als unzureichend wurde die analytische Tätigkeit als wichtige Grundlage der Leitungstätigkeit eingeschätzt. So besteht in den Bezirken keine exakte Übersicht zu solchen u. ä. Fragen wie: Wieviel Bundesfreunde beschäftigen sich mit Heimatgeschichte und wieviel Ortschroniken gibt es im Territorium.« Auch war dem Zentralen Fachausschuss der inhaltliche Charakter vorliegender Arbeiten weitgehend unbekannt; eine weitere offene Frage lautete: »Welche Themen werden behandelt und welche inhaltlichen Aussagen sind zu erwarten.«129 Nichtsdestoweniger deuten Herfurths Ausführungen an, dass mit zahlreichen nicht offiziell bekannten Aktiven im Bereich der Lokalgeschichte zu rechnen war ; diese »Freizeithistoriker« galt es sämtlich zu erfassen und in die bestehenden heimatgeschichtlichen Institutionen einzubinden. Die Zielsetzung einer vollständigen Dokumentation aller Tätigkeiten wurde bis zum Ende der DDR nicht aufgegeben; ebenso wenig das Streben, letztlich alle heimathistorisch Interessierten und Aktiven in die hierarchische Organisation des Kulturbundes einzubinden. Die Erfassung lief zugleich auf die möglichst umfassende Kontrolle der geschichtspolitischen Ausrichtung der Heimatgeschichte hinaus. Ein Arbeitsplan der Arbeitsgruppe Heimatgeschichte im ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik vom Beginn der 1980er Jahre sah als zentralen Punkt »Bibliographische Arbeiten« vor. Dies bedeutete: »Jedes Mitglied der AG erfaßt alle ihm bekanntwerdenden Ortsgeschichten und ortsgeschichtlichen Abrisse soweit es möglich ist, mit folgenden Angaben: Autor, Titel, Herausgeber, Umfang und Form. […] Halbjährlich sind die erfaßten Ortsgeschichten und ortsgeschichtlichen Abrisse an den Vorsitzenden der AG zu melden, der diese Übersichten zusammenfaßt und vervielfältigt allen ZFA-Mitgliedern zur Verfügung stellt.« In diesem Rahmen waren Belegexemplare zu erwerben, die eine stichprobenhafte, inhaltliche Prüfung ermöglichen sollten; das Papier forderte die: »Analyse ausgewählter Ortsgeschichten und ortsgeschichtlichen Abrisse auf inhaltliche Gestaltungsgrundsätze.«130 Gleichartige Erfassungs- und Kontrollvorhaben wurden mit jährlicher Regelmäßigkeit in den Bezirks- und Kreisorganisationen des Kulturbundes durchgeführt.131 Wie bereits an anderer Stelle gesehen fiel insbesondere die Umsetzung der Ortschronik-Anordnung aus dem Jahr 1955 in den Augen der Kulturbund-
129 W. Herfurth: Auswertung des Seminar [sic] »Heimatgeschichte/Ortschronik« vom 3. Mai bis 6. Mai 1976 in Bad Saarow, Juni 1976, in: BA, DY27/08469. 130 Langfristiger Arbeitsplan der Arbeitsgruppe Heimatgeschichte im ZFA Heimatgeschichte/ Ortschronik ohne Datum [~1982], in: DY 27/9028, Bl. 2–3. 131 Vgl. als eines von unzähligen Beispielen die Aufstellungen in: SÄHSTA, 12845, Nr. 470.
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Vertreter in vielen Regionen äußerst mangelhaft aus.132 Ihre Neuauflage aus dem Jahr 1981 sollte vor allem die unklare Verantwortungslage bei der Bestellung von Ortschronisten klären. Die Abteilung des Innenministeriums, die die Anordnung des Jahres 1955 erlassen hatte, das Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten, war bald darauf aufgelöst worden, was zur Folge hatte, dass die Verantwortung für die Chronik-Anordnung in der Schwebe blieb. In der Folge versuchten sich verschiedene staatliche Einrichtungen diese Verantwortung gegenseitig zuzuschieben, ohne dass eine von ihnen sich geneigt zeigte, sie tatsächlich bzw. gänzlich zu übernehmen. Neben Kulturbund, Kultur- und Innenministerium waren beispielsweise auch das Ministerium zur Anleitung und Führung der Bezirks- und Kreisräte sowie die Staatliche Archivverwaltung im Gespräch.133 Erst mit der neuen Verordnung ließen sich ab den 1980er Jahren bestimmte Instanzen in den Gemeinden und Kreisen verantwortlich machen; das langgehegte Bestreben, vollständige Übersichten aller offiziellen Ortschronisten aufzustellen, bestehende Lücken zu füllen sowie die inhaltlich akzeptable Ausrichtung der Chroniken zu kontrollieren, erhielt dadurch neuen Aufwind.134 132 Zudem hatte sich die eindeutige nominelle Trennung zwischen »Ortschronik« als Sammlung und »Ortsgeschichte« als zusammenhängender historiografischer Darstellung in der lokalen Praxis nur eingeschränkt durchgesetzt. Dies bezeugen wiederholte Klagen: HansHeinrich Leopoldi referierte auf einer Arbeitstagung des Kutlurbundes zur »Führung von Ortschroniken« 1955, dass »eine grundlegende Unklarheit über den Begriff Ortschronik, als über den Inhalt derselben, in den meisten Kreisen und Bezirken der Republik vorhanden ist. Da wird sehr viel berichtet von Ortschroniken, die seit Jahrhunderten geführt, jetzt fortgesetzt werden müssen und da wird darauf hingewiesen, daß dieser oder jener Ort, heimatgeschichtliche Arbeiten verschiedenster Art zu einer Ortschronik zusammengefaßt hat, sodaß der berechtigte Eindruck entsteht, daß man die Anordnung zwar gelesen, an ihrer eigentlichen Aussage aber in wesentlichen Punkten vorbeigegangen ist« (HansHeinrich Leopoldi: Über die Führung von Ortschroniken seit 1945 – Referat auf der Arbeitstagung über die Führung von Ortschroniken am 28. 9. 1955, in: BA, DY27/11184, Bl. 59–60). Vgl. als weiteres Beispiel den Brief von Gerhard Reiche, Stadtarchivar Wernigerode, an den Zentralen Fachausschuß Heimatgeschichte/Ortschronik im Deutschen Kulturbund, 22. 8. 1972, in: BA, DY 27/11191. 133 Siehe die Aktennotiz über eine Beratung zur Klärung der staatlichen Verantwortung für das Ortschronikwesen in der DDR am 24. März 1969 im Ministerium für Kultur, 14. 11. 1969, in: BA, DY27/10887. Vgl. auch Hans Heinrich Leopoldi: Entwurf von Stadtarchivdirektor Hans Heinrich Leopoldi, Schwerin für eine Neufassung der Anordnung über die Führung von Ortschroniken, 6. 11. 1969, in: BA, DY27/10887. 134 An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Streben nach vollständiger Übersicht und Kontrolle aller heimatgeschichtlichen Arbeiten auch im Kontext der deutsch-deutschen Konkurrenz stand. Die Heimathistoriker des Kulturbundes fürchteten das Einsickern der »revanchistischen« und »imperialistischen« Tendenzen der westdeutschen Heimatgeschichte in die lokalgeschichtliche Praxis der DDR, insbesondere wenn es um Grenzgebiete wie das geteilte Eichsfeld ging. Die Heimatgeschichte der BRD galt als konzertiertes Vorhaben von Wissenschaft und Politik, die ersten Schritte zum »Heim-ins-Reich-Holen« solcher Regionen einzuleiten, wie es zum Beispiel Paul Lauerwald formulierte. Angesichts derartiger Bedrohungen sei »jeder Abfall der heimatgeschichtlichen Forschung und Propaganda in eine
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Die Grenzen der institutionellen Zentralisierung Das Unterfangen eines umfassenden Überblicks über alle heimatgeschichtlichen Aktivitäten wurde begleitet von dem Versuch, die institutionellen Strukturen des Kulturbundes flächendeckend im gesamten Staatsgebiet zu installieren. Der beste Weg, die inhaltliche Kontrolle der Arbeit aller Heimathistoriker zu gewährleisten, schien darin zu liegen, sie an die zentralistische Organisation der Natur- und Heimatfreunde bzw. der Gesellschaft für Heimatgeschichte zu binden. Doch erreichte diese institutionelle Einbindung vor allem auf dem Land ihre Grenzen. Die Bildung von Kommissionen der Natur- und Heimatfreunde erwies sich oftmals bereits auf Kreisebene als mühsam. Neben der Existenz weniger vorbildlicher Gruppierungen klafften in vielen Gegenden große Lücken. Bei vielen Arbeitsgruppen waren sich die Vertreter des Kulturbunds (auf den höheren Ebenen) zudem nicht im Klaren über die inhaltliche Ausrichtung und Qualität der Arbeit sowie die Bereitschaft, sich dem Kulturbund anzuschließen.135 Dieser Situation begegneten die heimathistorischen Funktionäre bereits in den 1950er Jahren mit einer Verstärkung der Werbungsbemühungen. In einem Memorandum über den Bezirk Schwerin aus dem Jahr 1958 heißt es: »Auch im landwirtschaftlichen Bezirk Schwerin sind Menschen vorhanden, die sich für die Arbeit der Natur- und Heimatfreund interessieren und zur Mitarbeit bereit sind. Hauptsächlich sitzen diese Freunde jedoch in den kleinen Landstädtchen, und es erfolgt kaum eine Ausstrahlung unserer Bemühungen auf die Dörfer und ländlichen Gemeinden. […] Man bemüht sich zu wenig in den neuen MTS- und LPG-Dörfern Fuß zu fassen.« Diese Integrationsbemühungen standen eindeutig im Zeichen der inhaltlichen bzw. politischen Kontrolle: »In den bestehenden Arbeitsgemeinschaften und Fachgruppen gibt es wenig wirklich progressive Kräfte, deshalb besteht die Gefahr der Bildung von Gruppen, die in ihrer Zusammensetzung und Arbeit sehr den ehemaligen Verkehrs- und Verschönerungsvereinen gleichen.« Die organisatorische Expansion sei bislang vor allem an zu halbherzigen Bemühungen gescheitert: »Das Bezirkssekretariat ist wohl bemüht, geht aber zu formal an die Erledigung dieser Arbeitsaufgaben heran. Materialien und Hinweise werden wohl an die Kreissekretäre, Kreiskommissionsvorsitzenden und Arbeitsgemeinschaften versandt, es gibt aber kaum eine Terminstellung, kaum eine Kontrolle der Erledigung der Arbeit. Alles Art ›Heimattümelei‹ und jedes Abweichen vom Marxismus-Leninismus als methodische und methodologische Grundlage der heimatgeschichtlichen Arbeit« fahrlässig, woraus Lauerwald letztlich die Notwendigkeit einer vollständigen qualitativen Kontrolle aller heimatgeschichtlichen Arbeiten ableitete, Paul Lauerwald: Manuskript ohne Titel, ohne Datum [1976–1984], in: BA, DY 27/9033, Bl. 2. 135 Vgl. für den Bezirk Schwerin: Protokoll über die Sitzung der Bezirkskommission Naturund Heimatfreunde Schwerin, 24. 2. 1957, in: BA, DY 27/6962, Bl. 17–18.
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wird nicht energisch und zielstrebig genug in die Hand genommen. Die Versammlungen der Kreiskommissionen, Arbeitsgemeinschaften und Fachgruppen müssen öfter von der Bezirkssekretärin und von Bezirkskommissionsmitgliedern besucht werden. Die Bezirkskommission und ihr Arbeitsausschuß leisten auf ihren Zusammenkünften eine gute politische Arbeit, diese dringt aber zu wenig nach unten.«136 Deutlich wird, wie sehr die Umsetzung des umfassenden Kontrollanspruchs des Kulturbundes von der vollständigen Erfassung und institutionellen Einbindung der Heimathistoriker abhängig war. Diese ließ sich bis in die 1980er Jahre in den meisten ländlichen Gebieten und kleineren Gemeinden jedoch höchstens in Ansätzen verwirklichen. In den Archiven ist eine große Menge an Fragebögen erhalten, die nahezu jährlich an die Kreis- und Gemeindeverwaltungen bzw. heimathistorischen Arbeitsgruppen versandt wurden und die diese ausgefüllt an die Bezirke zurücksenden sollten. Sie gewähren ausschnitthafte Einblicke in die organisatorischen Schwierigkeiten, die sich den institutionellen Vereinheitlichungsbemühungen des Kulturbundes vor Ort stellten und den Eigensinn vieler lokalhistorischer Gruppen. In den Kreisen und Gemeinden hatte man es in aller Regel mit historischen Laien zu tun, beispielsweise Ärzten, Handwerkern oder Bauern. Viele dieser »Freizeithistoriker« hatten keine Kontakte zu den Kulturbundorganisationen auf höheren Ebenen, auch waren ihnen deren Fortbildungsangebote und Anleitungsschriften oft gar nicht bekannt. Einige Initiativen versandeten zudem angesichts erfolgloser Versuche, organisatorische oder materielle Unterstützung zu erhalten. Die heimatgeschichtliche Arbeit hing vielerorts an Einzelpersonen und deren Engagement; das Ideal von »Arbeitskollektiven« erwies sich oft als nicht umsetzbar. Damit war die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit zu einem hohen Grad von den persönlichen Interessen und dem Engagement dieser Personen abhängig; auch kam die Arbeit mit dem Tod ihrer Initiatoren gänzlich zum Erliegen. Zudem war der Großteil der kommunikativen Strukturen, auf denen die lokalhistorische Forschung beruhte, informeller Art und schlug sich deshalb nicht in Protokollen, OrtschronistenVereinbarungen oder Ähnlichem nieder. Die heimatgeschichtliche Ortsgruppe Neusalza-Spremberg gab in einem Fragebogen für die Bezirksleitung in Dresden 1980 zum Beispiel an: »Die Zusammenabreit mit dem örtl. Organ [sic] ist sehr gut«; allerdings setzt sie hinzu: »Vereinbarungen in schriftlicher Form bestehen nicht«.137 Demgegenüber gab es Fälle von Ortsgruppen, die vergleichsweise gut ver136 Horst Bänninger : Bericht über den Instrukteureinsatz am 20. und 21. 8. 1958 im Bezirk Schwerin, 25. 8. 1958, in: BA, DY27/6962, Bl. 137–138. 137 Vgl. die Beispiele in den Unterlagen der Gesellschaft für Heimatgeschichte aus verschiedenen Kreisen der Bezirke Dresden und Leipzig, in: SÄHSTA, 12485; für die zitierten Beispiele siehe die Akten Nr. 466 und 468.
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netzt waren – mit den örtlichen Verwaltungen, den Kommissionen zur Geschichte der Arbeiterbewegung oder den Heimatmuseen und Denkmalpflegern – und deren Arbeit vergleichsweise gut dokumentiert war. Gemein war allen Ortsgruppen oder Einzelforschern jedoch, dass die thematischen Schwerpunkte ihrer Arbeit stark variierten. Eine Arbeitsgruppe im Kreis Löbau gab beispielsweise als einzige Aktivität für das Jahr 1984 »Anpflanzung einer Luthereiche mit Gedenktafel« an, während andere Gruppen verschiedenste Aktivitäten auflisteten, so zum Beispiel in Obercunnersdorf: »Sammlung von Material zur Ortsgeschichte 1880…1945 (Gespräche mit betagten Bürgern, Sichtung von Dokumenten, Beschaffung von Daten aus Nachbargemeinden); 6 Zusammenkünfte zu Austausch u. Beratung (z. T. mit Gästen); Beginn der Zusammenstellung für Heft IV der Ortschronik; Vorbereitung einer Ausstellung für 1984«. Andere Gruppen veranstalteten Natur- und historische Rundgänge, schilderten Lehrpfade aus oder errichteten (kleinere) Gedenkstätten, erfassten Steinkreuze, Postsäulen, Taubenhäuser und Rundbogentore und unterstützen Dorffeste oder den Schulunterricht.138 Zu Beginn der 1980er Jahre nahm die Dichte der Kulturbund-Arbeitsgruppen, ihre organisatorische Vernetzung sowie das bearbeitete Themenspektrum merklich zu. Zahlreiche Kollektive wurden neu gegründet, verzeichneten einen größeren Mitgliederzuwachs oder schlossen sich erstmals offiziell dem Kulturbund an. Vermehrt wurden Ortschronisten benannt, auch in kleineren Orten. Hierbei handelte es sich teilweise um eine Zunahme auf dem Papier im Zuge der Neufassung der Chronik-Anordnung, jedoch nicht ausschließlich. Die archivierten Aktionsprogramme der Kreise lassen zum Teil auf eine recht rege Aktivität schließen (während andere nur pauschal angaben, dass sie »Heimatgeschichte machen«). Trotz dieser Entwicklung blieb die grundlegende Diskrepanz der vorangehenden Jahrzehnte zwischen dem prinzipiellen Vollständigkeitsanspruch des heimatgeschichtlichen Programms und seiner tatsächlichen Umsetzung bzw. Kontrolle auch in den 1980er Jahren bestehen.
Die Mängel der lokalen Geschichtsschreibung Werfen wir einen Blick auf die zentralen Probleme, die der Laiengeschichtschreibung der kleineren Orte in den Augen der Kulturbundleitung anhafteten und die die stetigen Vereinnahmungsversuche so dringlich erscheinen ließen. Aus marxistischer Sicht ergaben sich vor allem vier Kritikpunkte, die in allen Jahrzehnten der DDR immer wieder auftauchten. In seiner Analyse eines hei138 Vgl. die detaillierte, sehr diverse Themen- und Arbeitsfelder vermischende Auflistung aus Wehrdorf, in: SÄHSTA, 12485, Nr. 460.
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matgeschichtlichen Laienwettbewerbs aus den frühen 1960er Jahren fasste Hans Maur drei davon beispielhaft zusammen: »Zum Wettbewerb ›Heimatgeschichte – ein beweiskräftiges Mittel für den Sieg des Sozialismus‹ wurden etwa 170 Arbeiten mit Themen zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung eingesandt. Der Mehrzahl der Arbeiten haften die alten Mängel an; kein richtiges Verhältnis von nationaler und örtlicher Geschichte, ungenügende theoretische Verarbeitung der dargebrachten Fakten, kritiklose Übernahme bürgerlicher und reformistischer Quellen.«139 Als vierter Hauptkritikpunkt sind die vermeintlich ›unsozialistischen‹ Themenschwerpunkte vieler Laienarbeiten zu nennen.140 Betrachten wir einige Beispiele. Viele heimatgeschichtliche Laienarbeiten glichen einem Sammelsurium unverbundener Details, das die Kulturbund-Vertreter oft mit dem abwertenden Label »faktologisch« belegten. Immer wieder geriet die vermeintlich willkürliche, nicht an der marxistischen Theorie orientierte Themenwahl in den Fokus der Kritiker. Ein Vertreter des Ost-Berliner »Arbeitskreises örtliche Arbeiterbewegung« warf der Zeitschrift »Berliner Heimat« in exemplarischer Weise vor : »Bei dem statistischen Versuch, wie weit die Zeitschrift Artikel über die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung gebracht hat, die in dieser Zeitschrift einen breiten Raum einnehmen sollten, wurde festgestellt, daß in den Jahrgängen 1955/56 auf Grund des gemeinschaftlichen Verzeichnisses bei 384 Seiten 24 Seiten Arbeiterbewegung, 12, 5 Seiten die Zeit vor 1900, 12,5 Seiten die Zeit nach 1900 und allein 31,5 Seiten Wirtschaft, Technik und Verkehr behandelten. Bei einem großen Teil der Beiträge nach den Überschriften gesehen, wäre möglich gewesen, auf die Rolle der Bedeutung der Geschichte der Arbeiterbewegung einzugehen.« Der Referent erläuterte dieses Ungleichgewicht zugunsten technischer Ausführungen an einem Beispiel: »Im Artikel über Verkehrswesen hätte über Entwicklung unserer Verkehrsmittel, historischer Überblick, Streiks, Frage der Tarife usw. gesprochen werden können. […] Auch die Kämpfe um die Verkehrsmittel im Stadtparlament sind nicht erwähnt. Der einschläfernde Artikel über Technik und Verkehr könnte dadurch belebter werden.« In dem Urteil über einen weiteren Artikel mit dem Titel »725 Jahre Spandau« spitzt sich die Kritik zu der zentralen Gegenüberstellung von marxistisch-politischer Interpretation und bloßem »historischem Füllmaterial« zu: »Die Redaktion [der Berliner Heimat] müßte sich ernsthaft die Frage vorlegen, wie sprechen wir wirklich über die Berliner Geschichte in einem ganz klaren bewußten und marxistischen Standpunkt und begnügen uns nicht mit historischem und 139 Hans Maur : Aktennotiz – Betr.: Weitere Zusammenarbeit mit den Natur- und Heimatfreunden im Deutschen Kulturbund, 11. 12. 1962, in: BA, DY 30/IV A 2/9.07/251; Hervorhebungen von mir. 140 Vgl. Heinrich Gemkow : Die Zusammenarbeit der Kommission der […] und der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund, 7.-9. 11. 1956, in: BA, DY 30/IV A 2/9.07/251.
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technischem Füllmaterial.« Im Allgemeinen müsse die Zeitschrift, um nicht eine bloße Fundgrube für zusammenhanglose Themen wie »Findlinge in Weißensee« oder »Tierpark Friedrichsfelde« zu sein, viel stärker die Geschichte der Arbeiterbewegung in den Mittelpunkt rücken und in diesem Sinne den Schwerpunkt auf die jüngst vergangenen Geschichtsepochen legen.141 Dass sich an der praktischen Arbeit zahlreicher Laienhistoriker im heimatgeschichtlichen Bereich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten nicht viel geändert hatte, macht ein Referat von Willibald Gutsche auf der Arbeitstagung des Fachausschusses Heimatgeschichte und Ortschronik 1972 in Leipzig deutlich: »Neben der wachsenden Anzahl unter aktuellen politischen Aspekten konzipierten, theoretisch fundierten, überzeugenden und interessant gestalteten heimatgeschichtlichen Artikeln, Aufsätzen und Vorträgen usw. gibt es immer noch eine nicht geringe Anzahl heimatgeschichtlicher Publikationen, deren Autoren sich darauf beschränken, Fakten zu vermitteln, ohne historische Zusammenhänge aufzudecken und Lehren abzuleiten, die sich mit Randproblemen der Geschichte ihres Ortes befassen, die keinerlei gesellschaftlichen Nutzen haben oder die sich damit begnügen, alte Publikationen – zum Teil bürgerlicher Provenienz – etwas umgearbeitet und modernisiert an den Mann zu bringen. Das gelegentliche Argument, man müsse doch Interessantes schreiben, was die Leute lesen wollten, geht am Kern des Problems vorbei. Es muß bei allen unseren Mitgliedern Klarheit darüber geschaffen werden, daß die Heimatgeschichte – ganz gleich ob sie hauptberuflich oder als Freizeitbeschäftigung betrieben wird – kein Steckenpferd sein kann, dass – gleichsam jenseits von Gut und Böse – unpolitisch geritten werden kann, und deren Wesen darin besteht, den Geschichtsprozeß in Geschichtchen über lokale Sensatiönchen aufzulösen, sondern daß die Heimatgeschichte ein integrierender Bestandteil der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft ist, daß sie auf der gleichen methodologischen Grundlage beruht, folglich ebenso wissenschaftlich betrieben werden muß und die gleichen politischen Aufgaben zu erfüllen hat, ob es sich nun um das Sammeln von Dokumenten, um die Führung der Ortschronik, um heimatgeschichtliche Artikel, Vorträge oder Führungen handelt.«142 Immer wieder kreideten Gutachter und Kritiker der Laiengeschichte auch das Fehlen einer marxistisch fundierten Periodisierung der Geschichte nach dem
141 Notizen aus der Sitzung des Arbeitskreises örtliche Arbeiterbewegung vom 24. 4. 1958, in: BA, DY 27/7382. 142 Willibald Gutsche: Die Regionalgeschichte als Teil der Geschichte des deutschen Volkes und der Weltgeschichte und ihre Rolle bei der Entwicklung und Festigung des sozialistischen Staatsbewußtseins. Die Funktion der Heimatgeschichte im geistig-kulturellen Leben des Territoriums, 3. 6. 1972, in: BA, DY27/11188, Bl. 8–9.
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Schema Urgesellschaft-Feudalismus-Imperialismus-Sozialismus an.143 Gleiches gilt für die fortlaufende Vernachlässigung der neueren Geschichte, insbesondere der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhunderts und des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft nach 1945. Führende Vertreter der Gesellschaft für Heimatgeschichte wie Paul Lauerwald und Willibald Gutsche bemängelten immer wieder den fehlenden Willen, die Zeitgeschichte in den Mittelpunkt der historiografischen Arbeit zu stellen. Da nicht wenige Laienhistoriker sich vor allem auf den Zeitraum der »Vor- und Frühgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts« konzentrieren würden, so Lauerwald im Zuge der Gründung der Gesellschaft für Heimatgeschichte 1979, komme es, »daß wir über die Besiedlung eines Kreises in der Jungsteinzeit besser Bescheid wissen als über die Gründungstermine der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften im gleichen Gebiet.«144
Verbesserungsstrategien Die Verantwortlichen im Kulturbund und in den anderen Einrichtungen, die mit Lokal- und Heimatgeschichte befasst waren, waren sich der ›unzureichenden Qualität‹ eines Großteils der heimathistoriografischen Laienarbeit also bewusst. Sie diskutierten von den 1940er bis in die 1980er Jahre verschiedene Maßnahmen, um diese ›Missstände‹ zu beheben. Dabei bewegte sich die offizielle Heimatgeschichte auf einem schmalen Grat, da sie durchaus von der Eigeninitiative und dem Interesse einer Vielzahl von Laien abhängig war. Es galt, deren Motivation nicht durch allzu rigorose Verbote, Zensur- oder Korrektureingriffe zu verprellen.145 Einigkeit bestand in aller Regel darüber, dass die Verbesserung der heimatgeschichtlichen Arbeit nicht zur »Holzhammernarkose« greifen dürfe, wie es auf einer Sitzung der Bezirkskommission der Natur- und Heimatfreunde in Frankfurt an der Oder 1957 hieß. Auch wenn die Interessenschwerpunkte vieler Laien offenkundig nicht dem sozialistischem Themenkanon entsprachen, galt es ihre Arbeit behutsam in die richtige Richtung zu drängen, ohne die Freude und den Erholungswert der Heimatgeschichte grundsätzlich zu trüben. Auf derselben Sitzung hieß es, »dass die Natur- und Heimatfreunde selbstverständlich Erholung und Entspannung in ihrer Arbeit finden sollen. Dabei darf jedoch keine politische Interessenlosigkeit entstehen. Es muss Pflicht jeder Organisation sein, ihre Mitglieder mit unseren neuen sozialistischen Ideen vertraut zu machen. Die Menschen müssen langsam im sozialistischen Sinne hin 143 Vgl. die Ausführungen in der Chronik von Plau, die 1945 nach der Übersiedlung des Autors nach Westdeutschland erschienen ist, Plau, S. 4. 144 Paul Lauerwald: Referat zur Neuberufung des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik am 24. 3. 1979, in: BA, DY 27/9033, Bl. 11. Vgl. Gutsche: Grundtendenzen, S. 5. 145 Vgl. Behrens: Identität, S. 303; Palmowski: Rules, S. 152–153.
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verändert werden. Hierbei gilt es, gefällige Formen zu wählen, um die Menschen an die sozialistische Idee heranzuführen.«146 Diese grundlegende Ambivalenz – effektive Kontrolle zu gewährleisten, ohne das unverzichtbare, freiwillige Engagement einzuschränken – prägte die Mehrzahl der Diskussionen über die qualitative Verbesserung der heimatgeschichtlichen Arbeit, vor allem in den kleineren Gemeinden und ländlich geprägten Kreisen. Der »Holzhammernarkose« stand darüber hinaus entgegen, dass heimathistorische Autoren und »Ortschronisten« auch in der DDR von gewissen Voraussetzungen abhängig waren, die für westdeutsche Chronikautoren typisch waren: das langjährige Miterleben der Ortsgeschichte und die Einbindung in den mündlichen Überlieferungszusammenhang des Ortes. Für den Zugang zum Quellenmaterial und das nötige Detailwissen über die lokalen Verhältnisse erwiesen sich diese Eigenschaften vor allem in kleinen Orten als unerlässlich. Diese Elemente auktorialer Autorität standen in einem Spannungsverhältnis zu der offiziell erforderlichen Fähigkeit, lokale Ereignisse in das sozialistische Narrativ einzuordnen. Dass beides zusammen kam, war in ländlichen Gegenden eher die Ausnahme als der Regelfall. In der Praxis mussten Kritik, Korrektur und Zensur stets gegen das Risiko abgewogen werden, potentielle Autoren zu verschrecken, deren lokale Einbindung dringend erforderlich war.147 Eines der wichtigsten Mittel zur Verbesserung der heimathistorischen Arbeit stellte die Durchführung von Schulungen und Fortbildungen dar. Der Anreiz zur Teilnahme ließ sich dadurch erhöhen, dass neben der obligatorischen marxistisch-leninistischen Schulung Hilfestellungen bei konkreten technischen und handwerklichen Fragen angeboten wurden. Das übergeordnete Ziel blieb davon jedoch unbenommen, wie das Beispiel eines Schulungskonzepts aus dem Bezirk Leipzig aus den 1960er Jahren verdeutlicht: »Der Heimathistoriker muß erkennen, daß seine Forschungsarbeit weder bloße Liebhaberbeschäftigung noch Selbstzweck sein kann, sondern daß er zur Befriedigung eines gesellschaftlichen Bedürfnisses beizutragen hat, daß auch in seinem eng umgrenzten Spezialgebiet die Wechselbeziehungen zwischen Politik und Wissenschaft eine hervorragende Rolle spielen und daß schließlich seine Bemühungen Früchte tragen müssen, wenn sie helfen sollen, die von Partei und Regierung gestellten Aufgaben für die Geschichtswissenschaft zu erfüllen.«148 Mit dieser Intention im Hintergrund reisten die heimatgeschichtlichen Experten zu zahllosen Schulungen im gesamten Staatsgebiet der DDR und hatten hierbei meist umfangreiches Bei146 Protokoll über die Sitzung der Bezirkskommission der Natur- und Heimatfreunde am 20.8.57 in Frankfurt (Oder), in: BA, DY 27/6960, Bl. 41–42. 147 Vgl. Heinrich Gemkow : Die Zusammenarbeit der Kommission der Partei und der Naturund Heimatfreunde im Kulturbund, 7.-9. 11. 1956, in: BA, DY 30/IV A 2/9.07/251, Bl. 5–6. 148 Konzeption für den Grundlehrgang: Einführung in die Heimatgeschichte, 21. 5. 1963, in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 533, Bl. 2.
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spielmaterial im Gepäck, an dem sie das konkrete Vorgehen veranschaulichen wollten. Unter anderem ging es auch um die nachhaltige Archivierung von Materialien im Rahmen von Ortschroniken oder Schreibunterricht.149 Neben der Fortbildung aktiver Heimhistoriker sollten die Veranstaltungen zudem der Werbung weiterer Mitarbeiter dienen. Denn auch in den 1980er Jahren war das umfangreiche »Anleitungssystem jährlicher Schulungen« noch lange nicht allen heimatgeschichtlich Interessierten bekannt.150 Ein weiteres Instrument, die Qualität der lokalgeschichtlichen Praxis zu erhöhen, sahen die Verantwortlichen in der »Verjüngung« der Akteure. Über den gesamten Zeitraum der DDR forderten die Kulturbund-Vertreter – mit letzten Endes sehr dürftigem Erfolg – das Durchschnittsalter der heimathistorisch Aktiven zu senken.151 Die Verheißung war, auf diesem Weg die bürgerliche Prägung der älteren Autoren und Heimatforscher zu überwinden. Heinrich Gemkow formulierte in einem Vortrag aus dem Jahr 1956: »Vorausgeschickt muß werden [sic], daß der größte Teil der Natur- und Heimatfreunde noch bürgerlicher Herkunft ist und entsprechend auch noch in bürgerlichen Anschauungen befangen. […] Sehr stark sind pensionierte und noch tätige Lehrer und Archivare vertreten. Der Anteil der Jugend, speziell der FDJ, ist auch noch viel zu gering.« Zum einen, so Gemkow weiter, bestehe ein direkter Zusammenhang zwischen der skizzierten Überalterung und der Bevorzugung früherer geschichtlicher Epochen.152 Zum anderen sei zu hoffen, so beispielsweise Paul Lauerwald in einem Vortrag aus den 1970er Jahren, dass die generationelle Verjüngung der Heimathistoriker zu einer Verbesserung des theoretischen Kenntnisstands führe, da man es dann nicht mehr mit älteren Autoren zu tun hätte, »die ihre Ausbildung noch in der Ära des Kapitalismus absolvierten und nicht über das erforderliche theoretische Rüstzeug des Marxismus-Leninismus
149 Vgl. z. B. K. Harke/W. Herfurth: Schulung der Ortschronisten am 21./22./23. April 1978 in Gardelegen, Bez. Magdeburg, in: BA, DY 27/08469. 150 Kulturbund der DDR/Abteilung Heimatgeschichte: Umlaufbericht. Konferenz der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR »Platz und Aufgaben der Ortschronik bei der geschichtswissenschaftlichen und geschichtspropagandistischen Arbeit in der DDR vom 1.–3. Oktober 1980 in der alten Handelsbörse zu Leipzig«, in: BA, DY 27/6920, Bl. 63. 151 Auch wenn keine landesweiten Statistiken vorhanden sind, sind die Hinweise auf ein ähnliches hohes Durchschnittsalter der Laienhistoriker wie in der BRD omnipräsent in den ausgewerteten Archivalien, vgl. für viele: Statistische Angaben zur Geschichtskommission der BL Schwerin, 3. 8. 1985, in: LHA Schwerin, 10.34–3, 3969. 152 »Eine Analyse der zwar sehr umfangreichen Forschungs- und Publikationstätigkeit ergibt, daß vorläufig noch annähernd 75 % der Arbeiten der Zeit des Feudalismus, bestenfalls des Frühkapitalismus gewidmet sind. Nur ein geringer Teil beschäftigt sich mit der Geschichte des 19., ein verschwindend geringer Teil mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts« (Heinrich Gemkow : Die Zusammenarbeit der Kommission der Partei und der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund, 7.-9. 11. 1956, in: BA, DY 30/IV A 2/9.07/251, Bl. 3).
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verfügen«.153 Entsprechende Forderungen, vermehrt junge Menschen als »Heimathistoriker und Ortschronisten« zu gewinnen, ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Natur- und Heimatfreunde bzw. der Gesellschaft für Heimatgeschichte.154 Erfolge stellten sich jedoch nur punktuell ein, beispielsweise bei der Einbindung von Schulklassen oder den »Jungen Historikern« in die heimatgeschichtliche Forschung.155 Im Großen und Ganzen blieb die Lokalgeschichte auch östlich der deutsch-deutschen Grenze ein Unterfangen, das vorrangig von Ruheständlern getragen wurde.
Interventionen und Korrekturen Heinrich Gemkow schrieb 1956 über die Kommissionen zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung: »In politisch-ideologischer Hinsicht ist die Hauptaufgabe der Kommission, mit Hilfe der im Kulturbund arbeitenden Genossen dafür zu sorgen, daß man sich mit den noch zahlreichen Überresten der idealistischen Geschichtsauffassung in den Arbeitsgruppen der Natur- und Heimatfreunde beharrlich auseinandersetzt. Aufgabe der Kommission wird sein, durch kameradschaftliche Überzeugung und durch Beispiele die parteilosen Heimatforscher auf die Behandlung der politische wichtigen Ereignisse und Etappen der Heimatgeschichte hinzulenken.« In einigen Fällen stieß das Ideal einer sanften Überzeugungsarbeit durch Beispiele und Vorbilder jedoch an seine Grenzen. Für diese Fälle war es unerlässlich, dirigierend einzugreifen und allzu deutliche, letztlich nicht anders zu behebende Abweichungen »zu beseitigen«: »Aufgabe der Kommission ist ferner, bei der Diskussion strittiger Einschätzungen der Heimatgeschichte klärend einzugreifen und damit zugleich mitzuhelfen, daß alle hier und da noch vorhandenen Überreste einer romantisierenden, mystifizierenden, fortschrittsfeindlichen Geschichtsschrei153 Paul Lauerwald: Referat zur Neuberufung des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik am 24. 03. 1979, in: BA, DY 27/9033, Bl. 8–9. Vgl. auch Schaarschmidt: Geschichtsbild, S. 191– 193. 154 Vgl. als weitere Beispiele Kulturbund der DDR – Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt – Bezirkskommission Natur und Heimat – Bezirksfachausschuß Heimatgeschichte/Ortschronik: Arbeitsprogramm 1974 des Bezirksfachausschusses Heimatgeschichte/Ortschronik, in: SÄHSTA, 12790, Nr. 355, Bl. 2; Paul Lauerwald: Empfehlungen für die Organisation und Leitung der Jugendarbeit auf dem Gebiet der Heimatgeschichte/Ortschronik, 15. 2. 1981, in: BA, DY 27/9028; Helmut Meier : Zum Beitrag der Gesellschaft für Heimatgeschichte zur patriotischen Bildung und Erziehung der Schuljugend (Erfahrungen und Möglichkeiten) – Referat auf dem Erfahrungsaustausch zwischen der Gesellschaft für Heimatgeschichte im Kulturbund der DDR und dem Ministerium für Volksbildung am 20. Oktober 1982, in: BA, DY 27/6920, Bl. 148–163. 155 Zimmermann (Hg.): Geschichte. Für weitere Beispiele vgl. die entsprechenden Angaben in: SÄHSTA, 12485, Nr. 460.
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bung beseitigt werden.«156 Den Strategien zur Besserung der heimatgeschichtlichen Arbeit standen folglich restriktive Maßnahmen zur Seite. Diese richteten sich in einigen Fällen gegen unerwünschte Personen, die sich den offiziellen Richtlinien nicht anpassen konnten oder wollten, meistens jedoch gegen Manuskripte, die vom Wohlwollen der Gutachter abhängig waren. Sofern sie zu stark den marxistisch-leninistischen Ansprüchen widersprachen und ein entsprechendes Exempel statuiert werden sollte, war ihre Veröffentlichung unmöglich. Das größte Misstrauen zogen in den ersten Jahrzehnten die »reaktionären« Heimatforscher der älteren Heimatbewegung auf sich. Lokale Arbeitsgruppen, die das Geschichtsbild früherer Geschichtsvereine (unter neuem Namen) offenkundig unverändert fortschrieben, konnten nicht geduldet werden. Sofern entsprechende Gruppen ihre Arbeit nicht bereits präventiv von sich aus einstellten,157 so wurden sie zur Zielscheibe von Umbildungs- oder Auflösungsbestrebungen. Betrachten wir nur ein Beispiel aus dem Kreis Lübz. In einem Protokoll des Bezirksfachausschusses der Natur- und Heimatfreunde heißt es 1958 über die »Arbeitsgemeinschaft Natur- und Heimatfreunde Plau«: »Bundesfreund Winterfeld, führender Geschäftsmann in Plau, hat Handwerker und Gewerbetreibende um sich in der Arbeitsgemeinschaft versammelt, keine politische Arbeit sondern ›Verkehrs-Verschönerungs-Verein‹. Dies scheint auch der Rat der Stadt zu sehen und steht deshalb der Arbeit der Gruppe skeptisch gegenüber.« Nach diesem vernichtenden Befund rät der Bezirksfachausschuss die zwangsweise Unterwanderung der »Arbeitsgemeinschaft« an: »Sobald als möglich mit dem Kreissekretär zum Bürgermeister und zur Parteileitung zu gehen, um die Arbeitsgemeinschaft durch fortschrittliche Elemente zu stärken.«158 Im Effekt führte diese Maßnahme zur Auflösung der Arbeitsgruppe in ihrer derzeitigen Form und zur Einstellung ihrer bisherigen Arbeitsvorhaben. In diesem und in anderen Fällen gaben die Gemeindeverwaltungen den Druck höherer Ebenen (der Bezirke, der staatlichen Institutionen) weiter. Daneben war die heimatgeschichtliche Praxis jedoch vor allem von Mechanismen der vorwegnehmenden Selbst-Korrektur bzw. Selbst-Zensur auf den unteren Ebenen geprägt. Betrachten wir einen exemplarischen Fall aus Lübbenau, wo der Rat der Stadt in Zusammenarbeit mit einem potentiellen Autor Ende der 1970er Jahre eine Publikation zur Ortsgeschichte plante. Um die Arbeit von vornherein gegen Kritik an der ideologischen Zuverlässigkeit des Projekts zu schützen, fragte der Autor beim Zentralen Fachausschuss Heimatgeschichte/Ortschronik 156 Heinrich Gemkow : Die Zusammenarbeit der Kommission der Partei und der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund, 7.-9. 11. 1956, in: BA, DY 30/IV A 2/9.07/251, Bl. 5. 157 Vgl. Palmowski: Rules, S. 157. 158 Bericht über den Instrukteureinsatz am 20. und 21. 8. 1958 im Bezirk Schwerin, in: BA, DY 27/6962, Bl. 135.
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an, ob ihm ein »wissenschaftlicher Betreuer« zur Seite gestellt werden könne: »Um allen Einwohnern Lübbenaus ein Dokument der Entwicklung ihrer Stadt in die Hand zu geben, ihre Verbundenheit mit dieser Stadt noch mehr zu festigen und die Touristen anzuregen, in Lübbenau zu weilen und diese Stadt in guter Erinnerung zu wahren, schreibe ich eine Lübbenauer Chronik. […] Ich sehe wie Sie, sehr geehrter Herr Dr. Gutsche, die Regionalgeschichte als Teil der Geschichte des deutschen Volkes und der Weltgeschichte und möchte mit der Lübbenauer Chronik zur weiteren Entwicklung und Festigung des sozialistischen Staatsbewußtseins unserer Bürger beitragen. Dazu stelle ich mir neben der allgemeinen regionalgeschichtlichen Forschung die Aufgabe, die Geschichte der Lübbenauer Arbeiterbewegung zielstrebig und umfassend zu ergründen. Um im Hinblick auf das marxistisch-leninistische Geschichtsbild und die Weltanschauung der Arbeiterklasse bei der Interpretation der regionalgeschichtlichen Fakten Fehler auszuschließen, stelle ich den Antrag, ein geeignetes Mitglied des ZFA Heimatgeschichte/Ortschronik zu benennen, das als mein wissenschaftlicher Betreuer für die Zeit vom 1. 3. 1978 bis 1. 3. 1981 fungiert.«159 Auch wenn der ZFA dieses Anliegen aufgrund der Arbeitsbelastung nicht gewährte, zeigt die Anfrage beispielhaft auf, wie sich Heimathistoriker gegenüber der erwartbaren Zensur bzw. dem Verbot ihrer Forschungen und Manuskripte im Vorhinein abzusichern versuchten.160
Veröffentlichung und Begutachtung Das Lübbenauer Beispiel verweist auf das Begutachtungssystem heimatgeschichtlicher Publikationen in der DDR. In diesem Bereich wurden sicherlich die meisten Konflikte um Ausrichtung und Inhalt lokalgeschichtlicher Arbeiten ausgetragen. Dass hierin eines der Haupterschwernisse heimatgeschichtlicher Laienpraxis zu sehen ist, machen die omnipräsenten Klagen von Autoren und Herausgebern deutlich, beispielsweise über fehlende Papierkontingente, über die teils jahrelange Verschleppung der Begutachtung oder über die vorgeblich ungerechtfertigte Ablehnung von Manuskripten. Der Großteil der überlieferten Gutachten enthält Urteile, die vermeintlich wissenschaftliche Maßstäbe anlegten. Es ist nicht zu entscheiden, ob die Gutachter, meist dem Kulturbund oder anderen historischen Organisationen zugehörig, hierbei tatsächlich im Bewusstsein reiner Wissenschaftlichkeit gehandelt haben oder diese zur Maskerade politisch-ideologischer Kriterien genutzt haben. Ohnehin waren beide Bereiche im marxistischen Wissenschaftsverständnis direkt miteinander ver159 Brief von Alfred Roßmy an Willibald Gutsche, 29. 1. 1978, in: BA, DY27/08469. 160 Vgl. Palmowski: Rules, S. 166.
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woben. Was sich stattdessen rekonstruieren lässt, ist, dass viele Laienautoren, deren Manuskripte abgelehnt worden waren, die Begutachtung eindeutig als politische Zensur empfanden. Betrachten wir den Fall einer Festschrift aus Lübtheen, die Anfang der 1960er Jahre von drei Gutachtern als ungenügend bzw. überarbeitswürdig abgelehnt worden war. Der Autor beschwerte sich daraufhin beim Rat des Bezirkes Schwerin sowie einigen weiteren Stellen; er zeigte sich überzeugt davon, dass seine Schrift aus politischen Gründen abgelehnt worden sei. Der Autor bracht hierbei selbst die Kategorien »staatsgefährdend«/»nicht staatsgefährdend« ins Spiel, wobei seine Schrift fälschlicherweise als Ersteres eingeschätzt worden sei. Einer der Gutachter, der Schweriner Archivar Hans Heinrich Leopoldi, verteidigte sich dagegen und beharrte darauf, dass er einen rein »wissenschaftlichen« Standpunkt eingenommen habe. Er schreibt an einen Vertrauten der zentralen Leitung der Natur- und Heimatfreunde: »Kein Mensch hat behauptet, daß seine Arbeit [die Lübtheener Festschrift] ›staatsgefährdend‹ sei. Aber er macht aus der Nichtgenehmigung des Druckes, die auf seine Weigerung, seine Arbeit unseren Hinweisen entsprechend zu ändern, zurückgeht, eine einseitige Maßnahme, um seine Arbeit zu unterdrücken. Nonsens ist das Ganze und jede Minute tut mir leid, die wir noch daran wenden müssen. Ich habe seit jeher die Praxis gehandhabt, nicht mit dem Holzhammer zu arbeiten.« Leopoldi bestand darauf, dass es in dem Streit einzig um die Anerkennung der »wissenschaftlichen Integrität« der Gutachter und keineswegs um politische Zensur gehe.161 Wessen Einschätzung des Falls zutreffender ist, kann hier kaum entschieden werden. Entscheidend ist, dass das Gutachtersystem von den Autoren vielfach als politisches Kontrollinstrument wahrgenommen wurde und dass es faktisch auch als solches genutzt werden konnte. Es ist zudem wahrscheinlich, dass viele Gutachter Manuskripte kritisierten oder ablehnten, um nicht selbst Gefahr zu laufen, im Nachhinein für die Veröffentlichung problematischer Texte verantwortlich gemacht zu werden. Der Streitfall um die Festschrift der Stadt Gransee bietet hierfür ein treffendes Beispiel, nach deren Veröffentlichung die Gutachter unter starkem Rechtfertigungsdruck gerieten.162 Letztlich blockierte die Kritik an der mangelnden Wissenschaftlichkeit einer Schrift ihre Veröffentlichung genauso effektiv, als wenn sie aus ideologischen Gründen abgelehnt wurde. Es fehlte nämlich oft an der Kapazität, die Überarbeitungsforderungen umzusetzen bzw. ein entsprechendes Lektorat durchzuführen. Ein Beispiel liefert die Verzögerung um das Manuskript »Die Lüssower«, zu dem es in den Unterlagen der 161 Hans Heinrich Lepoldi an Horst Bänninger, 23. 10. 1963, in: BA, DY 27/6962; siehe auch weitere zugehörige Schreiben im selben Bestand. 162 Für die Einzelheiten siehe die Unterlagen in: BA, DY 27/10829; Rat der Stadt Gransee (Hg.): Festschrift. Ich danke Theo Müller für diesen Hinweis.
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SED-Bezirksleitung Schwerin 1985 heißt: »Es liest sich gut und wirkt stark emotional. Alle Gutachter unterstreichen, daß eine Überarbeitung mit möglichst lektoratsmäßiger Betreuung notwendig ist. Kein Verlag übernimmt die Aufgabe.«163 Es dauerte einige Zeit, bis sich die erforderliche professionelle Mithilfe doch noch organisieren ließ und das äußert umfangreiche Buch 1987 erscheinen konnte.164 In vielen Fällen, in denen die Gutachter eine Publikation grundsätzlich befürworteten, betrafen die Kritikpunkte derart grundlegende Prinzipien, dass eine intensive Überarbeitung aller Textteile bzw. dessen Gesamtanlage erforderlich war ; was praktisch einer Ablehnung gleichkam, da die Anforderungen die Möglichkeiten der beteiligten (Einzel-)Autoren meist weit überstiegen.165 Betrachten wir die typischen Mängel, die Gutachten an heimathistorischen Laienmanuskripten monierten, so treffen wir auf einen überschaubaren Kanon wiederkehrender Topoi.166 Viele Aspekte haben wir im Laufe dieses Kapitels bereits angetroffen: Neben Redundanzen und Unstimmigkeiten im Aufbau störte die Gutachter der »faktologische« Charakter der Texte, das heißt, sie seien zu eklektisch und zu wenig eingebettet in breite historische Prozesse und Entwicklungen. Des Weiteren würden viele Manuskripte bürgerliche oder neutrale Themen, wie zum Beispiel die technischen Details lokaler Burgen, quantitativ und qualitativ zu stark gewichten – zuungunsten einschlägiger sozialistischer Themen. Oft heißt es, dass die Arbeiterklasse als treibende historische Kraft ebenso zu kurz komme wie der Wandel der Produktionsverhältnisse. Damit zusammen hing die Kritik einer weitgehenden Ignoranz gegenüber dem historisch-materialistischen Periodisierungsmodell der Geschichte oder einem bezugslosen Nebeneinander von älterer Ortsgeschichte und der Geschichte von Arbeiterbewegung, Partei und Sozialismus in jüngster Zeit. Hinzu komme, dass die Zeitgeschichte, insbesondere ab 1945 viel zu geringen Platz einnehme. Genauso häufig wurde die mangelhafte bis völlig fehlende Verbindung der lokalgeschichtlichen Details mit der Geschichte der DDR bzw. der sozialistischen Globalgeschichte angemahnt. Darüber hinaus kritisierten die Gutachter die Verwendung von veraltetem, bürgerlichem Quellenmaterial und die Vernachlässigung aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Nicht selten taten die Gutachten hierbei ganze Abschnitte der vorliegenden Manuskripte als überflüssig oder gar schädlich ab, während sie für andere eine grundsätzliche Überarbeitung anordneten. 163 Fragekatalog vom 6. 5. 1985, in: LHA-S, 10.34–3, 3969. 164 Homfeld: Lüssow. 165 Vgl. z. B. Thümmler : Druckantrag der Gemeinde Mittelherwigsdorf zum Material »Mittelherwigsdorf in Vergangenheit und Gegenwart/Kurz-Chronik«, 13. 3. 1979, in: SÄHSTA, 12485, Nr. 439, Bl. 3. 166 Vgl. für die folgende Aufzählung die Gutachten in: SÄHSTA, 12485, Nr. 439.
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Die Schriften, die in den DDR-Verlagen erschienen, mussten hierbei noch höhere Qualitätsstandards erfüllen. Für lokal- und heimatgeschichtliche Laienpublikationen kamen deshalb vor allem die Räte der Gemeinden oder Kreise als Herausgeber in Frage. Da nicht verlagsgebundene Schriften auf einen Umfang von weniger als 100 Seiten verpflichtet worden waren, erschienen eher selten ›dicke Bücher‹, die den in Westdeutschland boomenden Heimatbüchern vergleichbar gewesen wären. Üblicher waren Fest- und Jubiläumsbroschüren geringeren Umfangs oder alternative Veröffentlichungen, etwa Artikelserien in den regionalen Zeitungen, in Heimatkalendern oder anderen Periodika. Die Heimatforscher in Glienicke/Nordbahn fanden beispielsweise im »Kulturspiegel«, der vom Rat der Gemeinde herausgegeben und an alle Haushalte verteilt wurde, eine regelmäßige Publikationsmöglichkeit. Eine weitere Option stellten die in manchen Regionen gegründeten Heimatzeitschriften dar, die einen recht unterschiedlichen Professionalisierungsgrad im Blick auf Herstellung und Inhalt aufwiesen. Eine alternative Möglichkeit, die nicht wenige Laienforscher wählten, um das Begutachtungs- und Genehmigungsverfahren zu umgehen, stellte die Selbstverbreitung der Texte dar. Dem waren freilich enge Grenzen gesetzt, doch da sich Ortsgeschichten in vielen Fällen primär an die Einwohner des Ortes richteten, war der Rahmen potentieller Adressaten begrenzt. Ein Beispiel stellt die Chronik des kleinen Ortes Tewswoos in Mecklenburg-Vorpommern dar.167 Es handelt sich um ein maschinenschriftliches Manuskript mit handschriftlichen Zusätzen und einigen eingeklebten Fotografien (von teilweise sehr schlechter Qualität). Auch hat der Autor, der angibt, dass er die Arbeiten an der Chronik im Jahr 1981 begonnen hat, einige filigrane, handgefertigte Zeichnungen hinzugefügt. Interessierte konnten die Chronik im privaten Rahmen einsehen. Inhaltlich standen die Häuserchronik des Ortes sowie die frühneuzeitliche Geschichte im Mittelpunkt. Der Autor zitierte wiederholt und unkritisch bürgerliche Literatur und enthielt sich jeglicher Bezüge zum sozialistischen Geschichtsbild. Der Text wäre seinerzeit nicht publizierbar gewesen. Es steht zu vermuten, dass weitere heimatgeschichtliche Laienforscher in der DDR diesen Weg der privaten Anfertigung und begrenzten Verbreitung ihrer Arbeitsergebnisse wählten, insbesondere in kleineren Orten und ländlichen Gegenden. Vergleichbare Manuskripte, die in ostdeutschen Landesbibliotheken vorhanden sind, legen dies nahe; sie stellen vermutlich nur eine selektive Auswahl aus einer Vielzahl privat erstellter, jedoch nicht bibliothekarisch erfasster Schriften aus DDR-Zeiten dar. Eindeutig ist, dass die Nähe derartiger Schriften zu dem, was wir für West-
167 Pegel: Tewswoos.
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deutschland als Ortschroniken und Heimatbücher kennengelernt haben, deutlich größer ist als zu den heimatgeschichtlichen Publikationen der DDR.168 Für die praktische Arbeit der Laien-Heimathistoriker dürften in der Wendezeit 1989/1990 weniger die Umbenennungs- und Neugründungsbestrebungen der Kulturbund-Organisationen bzw. die Möglichkeit, unabhängige Heimatund Geschichtsvereine zu gründen, von ausschlaggebender Wirkung gewesen sein, als vielmehr der Abbau der Zugangsschranken zu den Druck- und Publikationsmöglichkeiten. So heißt es in einem offenen Brief des Bezirksvorstandes der Gesellschaft für Heimatgeschichte Leipzig vom November 1989, dass alle »bürokratischen Hemmnisse bei der Popularisierung heimathistorischer Erkenntnisse« abgebaut werden müssten, was »vorrangig die Vortrags- und Publikationsmöglichkeiten« betraf.169 Viele ältere Manuskripte, die in der DDR nicht zur Publikation zugelasen worden waren, erschienen unmittelbar nach der Wiedervereinigung in nicht oder kaum veränderter Form. Ein Beispiel stellt die Chronikbroschüre zu Velgast in Mecklenburg-Vorpommern dar, deren Erscheinen im Jahr 1992 hauptsächlich durch eine private, finanzielle Spende ermöglicht worden war. In den Vorbemerkungen heißt es, dass die Chronik bereits 1982 fertiggestellt gewesen sei, derzeit aber nicht publiziert werden konnte, da »sie sozialistischen Vorstellungen nicht entsprach«.170 Ein anderes Beispiel stellt das Manuskript des Benshausener Dorflehrers dar, ebenfalls 1992 erschienen, dessen Ablehnung durch die Natur- und Heimatfreunde im Jahr 1959 belegt ist. Auch wenn die genauen Gründe der Ablehnung nicht schriftlich überliefert worden sind, werden sie von den späteren Herausgebern als eindeutig »politisch« bezeichnet.171 Im Falle Leubingens hat der Verfasser zahlreicher Aufzeichnungen zur Dorfgeschichte deren Veröffentlichung in der DDR von vornherein als aussichtslos erachtet (der ehemalige Dorflehrer war Mitglieder der Waffen-SS gewesen und war deshalb 1946 aus dem Schuldienst entlassen worden). Die »Heimatfreunde Leubingen e.V.« publizierten seine im Privaten überlieferten Manuskripte schließlich erstmals im Jahr 2005.172
168 Vgl. als weitere Beispiele Pegel: Loosen; Bennöhr : Hohen-Viecheln. 169 Brief von M. Unger/H.-A. Grohmann/J. Wicke an die Mitglieder des Bezirksvorstandes und die Vorsitzenden der Kreisvorstände, 15. 11. 1989, in: SÄSTA-L, 21756, Nr. 1577. Auch sei der unkomplizierte Zugang zu allen benötigten Archivbeständen zu gewährleisten. 170 Velgast. 171 Benshausen. 172 Leubingen.
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Ortsmonografien von den 1950er bis zu den 1980er Jahren Wenden wir uns den in der DDR erschienenen Ortsgeschichten, Festschriften und Broschüren zu. Damit die Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zum westdeutschen Genre Ortschronik nicht ausufert, beziehe ich an dieser Stelle die Vielzahl heimathistorischer Aufsätze in Sammelbänden, Volkszeitungen, Heimatzeitschriften und anderen Periodika nicht mit ein. Was bleibt ist eine Vielzahl von Büchern bzw. Heften, die zu Orts- oder Staatsjubiläen veröffentlicht worden sind. Solche Festbroschüren sind in allen Regionen der DDR entstanden und wurden in der Mehrzahl von den lokalen Verwaltungen herausgegeben. Sie vereinen meist die Arbeit mehrerer Autoren, sind jedoch von eher geringem Umfang, da es sich wie erwähnt vorrangig um nicht verlagsgebundene Literatur handelte.173 Betrachten wir diese Veröffentlichungen zuerst im zeitlichen Wandel von den 1950er zu den 1980er Jahren. Zunächst fällt auf, dass ein Großteil der lokalgeschichtlichen Festschriften der 1950er Jahre, wie in Westdeutschland auch, auf ältere Autoren zurückging, die ihre heimatgeschichtliche Sozialisation während der ersten Heimatbewegung in den 1920er und 1930er Jahren erfahren hatten.174 Die Pläne für viele Veröffentlichungen entsprangen der Vorkriegszeit und nicht der offiziell proklamierten Aufbruchsstimmung im Zuge des sozialistischen Aufbaus nach 1945. Mancherorts erfuhren ältere Ortschroniken eine Neuauflage zu Ortsjubiläen nach dem Zweiten Weltkrieg; gelegentlich mit Überarbeitungen wie Kürzungen, Ergänzungen jüngerer Entwicklungen oder auch punktuellen Korrekturen politisch nicht mehr akzeptabler Passagen;175 gelegentlich allerdings auch ohne jegliche Überarbeitungen.176 Andere Autoren ordneten ihre Schriften ausdrücklich in 173 Ich greife in den folgenden Ausführungen stellenweise zusätzlich auf Veröffentlichungen zu größeren Städten zurück. 174 Vgl. z. B. Ohne Autor : Tagebuch. 175 Vgl. das Heimatbuch von Ohorn, in dessen Vorwort es zur Entstehungsgeschichte heißt: »Anläßlich der 600-Jahr-Feier der Gemeinde Ohorn im Jahre 1949 entstand der Plan, ein ›Ohorner Heimatbuch‹ herauszubringen. Diesem Heimatbuch sollte die handschriftlich vorhandene sogenannte ›Sticht’sche Chronik‹ zugrunde gelegt werden, um auf diese Weise die verdienstvolle Arbeit des Oberlehrers Sticht einem größeren Interessenkreis zugänglich zu machen. Oberlehrer Sticht amtierte in Ohorn von 1901 bis 1924. Er starb im Jahre 1945 im Alter von 82 Jahren. Für den Bearbeiter ergab sich die Aufgabe, das sehr umfangreiche Werk auf die Hälfte zusammenzustreichen, um es von ermüdenden Wiederholungen und uninteressanten Stellen zu befreien. Wer am Gesamtwerk interessiert ist, der sei auf das beim Bürgermeister verwahrte Original verwiesen. Die Ereignisse der schicksalsschweren Jahre 1937 bis 1949 waren nachzutragen. Und schließlich machte es sich notwendig, die vom Verfasser der Chronik subjektiv dargestellten, aus seiner Zeit heraus gesehenen Ereignisse zu berichtigen. Die Angaben über das heutige Ohorn entsprechen dem Stande des Jahres 1949« (Gemeinde Ohorn (Hg.): Heimatbuch, S. 5). 176 Vgl. z. B. Magirius: Chronik.
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eine vorgeblich ungebrochene Tradition bürgerlicher Vorgängerschriften bzw. eine systemübergreifende »Heimatliebe« ein.177 Viele dieser Arbeiten sind trotzdem in den Druck gelangt, was vor allem auf das Fehlen alternativer Autoren und Manuskripte in den Nachkriegsjahrzehnten zurückzuführen ist. Vergleichbare Vorarbeiten jüngerer, sozialistisch geschulter Autoren lagen praktisch nicht vor. Die Gutachter heimatgeschichtlicher Laienliteratur waren deshalb in den 1950er Jahren tendenziell eher bereit, in ihren Augen eigentlich ungenügende Texte zuzulassen, bevor das Heimatschrifttum ganz zum Erliegen gekommen wäre. Die Anpassungen dieser Veröffentlichungen an die Maximen der sozialistischen Heimathistoriografie sind in vielen Fällen kaum sichtbar oder eher oberflächlicher, kosmetischer Natur. Das Fortwirken der älteren Heimatgeschichte betraf allen voran die zeitlichen Interessenschwerpunkte. Die Autoren bevorzugten eindeutig die früheren Geschichtsepochen bis zum 19. Jahrhundert (und vernachlässigten die Zeitgeschichte weitgehend, insbesondere die jüngste Phase nach 1945). Dadurch fand auch die geforderte Priorisierung der Geschichte der Arbeiterbewegung in den wenigsten Ortsmonografien eine konsequente Umsetzung.178 Des Weiteren waren viele Texte weiterhin dem organizistischen und essentialistischen Vokabular der ersten Heimatbewegung verpflichtet. Hierzu genügt ein Blick in die Heimatbücher des Kreises Wittenberg, die eine Kommission für Heimatkunde des Pädagogischen Kreiskabinetts 1958 herausgegeben hat. Dort heißt es beispielsweise: »Jeder Mensch ist durch seine Geburt und seine Stammeszugehörigkeit an eine bestimmte Stelle der Erde gebunden. In diesem Gebiet haben seine Vorfahren meist seit langer Zeit die notwendigen Voraussetzungen für die Ernährung geschaffen und den ausreichenden Schutz gefunden. Das sind die Vorbedingungen zu einem bodenständigen Dasein.«179 Die essentialistische Denkweise dieser Ausführungen ist unvereinbar mit dem Historischen Materialismus. Statt die Schaffung eines »neuen, sozialistischen Menschentyps« zu unterstützen, sahen es viele Veröf-
177 Vgl. z. B. Anders: Darß/Zingst, S. 7–16, oder die Festschrift zum 700jährigen Jubiläum der Stadt Barth, die im Jahr 1955 eine Reihe älterer »Barther Chronisten« würdigte, indem sie ihre Biografien und ihr heimatgeschichtliches Werk vorstellte, ohne dabei ihre bürgerlichen Werdegänge aus sozialistischer Perspektive zu relativieren, Rat der Stadt Barth (Hg.): Festschrift, S. 5, 51–54. 178 Vgl. Gemkow : Arbeit, S. 147. 179 Kommission für Heimatkunde des Pädagogischen Kreiskabinetts Wittenberg (Hg.): Städte, S. 125–129. Vgl. z. B. auch ebd.: »Dreitausend Jahre zäher, fleißiger Kulturarbeit bedurfte es, um die Urlandschaft in den siedlungsbereiten Zustand umzuformen, in dem sich heute der Kreis Wittenberg darbietet.« Vgl. des Weiteren die romantisierenden Ausführungen zu »Wesen und Art der Menschen unserer Heimat« in der Kreisanalyse der Natur- und Heimatfreund Meiningens, ohne Jahr [vor1960], in: BA, DY 27/6955, Bl. 4, 24–25.
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fentlichungen der 1950er Jahre als ihre Hauptaufgabe an, Alt- und Neubürger in die »Heimat einzuwurzeln und in ihr bodenständig« werden zu lassen.180 In dieser Hinsicht glichen die Heimatschriften der frühen DDR denen der BRD. In einer anderen Hinsicht wichen sie jedoch davon ab, und zwar im Blick auf die Berücksichtigung bzw. Ausblendung typischer Themenkomplexe im Rahmen des Zweiten Weltkriegs. Während die Aufnahme großer Mengen an Flüchtlingen und Vertriebenen, das Leiden unter der Willkür der Besatzungsmächte oder »Fremdarbeiter-Horden« sich bereits früh als fester Kanon westdeutscher Heimatbücher etablierte, unterlagen diese Themen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR stärkeren Tabus. Sie erfuhren in den lokalgeschichtlichen Publikationen eine höchstens randständige und andeutungsweise Behandlung.181 Die Geschichte des »Dritten Reichs« hingegen stellte in den 1950er Jahren, wie in westdeutschen Heimatbüchern, weitgehend eine Leerstelle in lokalgeschichtlichen Monografien dar.182 Behandelten Festbroschüren und andere Ortsmonografien die nationalsozialistische Zeit, so übernahmen sie das starre, offizielle Muster der Faschismus-Antifaschismus-Dichotomie aus der DDR-Geschichtswissenschaft. Über abstrakte Erörterungen hinausgehende, konkrete Differenzierungen dieses Musters erfolgten dann punktuell durch Verfolgungs-Biografien örtlicher »Antifaschisten«. Die Adaption der konventionellen Sprachregelungen diente als eine Art historiografisches Alibi, um die Leerstelle der Heimatliteratur für die Jahre 1933 bis 1945 mehr zu übertünchen als auszufüllen. Im Laufe der 1960er Jahre begann sich die Heimatgeschichtsschreibung in der DDR schrittweise zu konsolidieren. Die Abhängigkeit von den älteren Heimatforschern schwand – auch wenn sich die erwünschte Verjüngung der ortsgeschichtlichen Autoren weiterhin nicht einstellte. Ein zahlenmäßig bedeutsamer Zuwachs an Heimatforschern sollte sich, wie in der BRD auch, nicht vor den späten 1970er und 1980er Jahren einstellen. Erste Modellbeispiele vorbildlicher Ortschroniken und Heimatbücher etablierten sich, so wurde beispielsweise die Chronik von Glienicke/Nordbahn auf zahlreichen Fortbildungen und Regionalkonferenzen immer wieder als Referenz herangezogen. Auch wurden Broschüren gedruckt, die ihre Entstehungsgeschichte, Anlage und Verwendung vorstellten und beispielhafte Auszüge der Chronik enthielten.183 Form und Inhalt von Festschriften und Ortsmonografien unterlagen in den 1960er Jahren einer weitgehenden Standardisierung. Die Texte orientierten sich im Allgemeinen 180 Ende: Forchheim, S. III. 181 Vgl. z. B. ebd., S. 126. 182 Vgl. z. B. Rat der Stadt Langewiesen (Hg.): Langewiesen; Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands – Sektion Natur und Heimatfreunde Bad Tennstedt (Hg.): Tennstedt; Kretschmer : Pohlitz; Fiedler : Langensalza. 183 Ohne Autor : Geschichte.
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deutlich stärker am sozialistischen Geschichtsverständnis, als dies in den 1950er Jahren der Fall gewesen war. Gerade im Blick auf die neuere Geschichte setzte sich nicht nur ein dominanter Themenkanon, sondern auch eine umfassende Ritualisierung des Vokabulars durch.184 Im Prinzip reduzierte die Mehrzahl der Publikationen den gesamten Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart auf die Geschichte der Entstehung der Arbeiterbewegung. Das »Dritte Reich«, das in den Texten der 1960er Jahre weiterhin eine eher spärliche Behandlung erfuhr, erstarrte nunmehr vollends in einem Gerüst formelhafter Wendungen zur Auseinandersetzung von Faschisten und Antifaschisten bzw. zum Zusammenhang von Imperialismus und Kapitalismus, garniert mit einigen biografischen Episoden von »antifaschistischen Widerständlern«.185 Für die Zeit »nach 1945« hat sich im Laufe der 1960er Jahre ebenfalls eine stark standardisierte Erzählung herausgebildet. Die Jahreszahl »1945« markierte eine vermeintlich entscheidende Wende in ostdeutschen Heimattexten; im Unterschied zur Periodisierung der »guten und schlechten Zeiten« in westdeutschen Heimatbüchern, die meist bereits in den letzten Kriegsjahren und dann erst wieder in den Jahren 1948/1949 Einschnitte setzten. In den Texten der DDR fällt der »Tag der Befreiung« durch die sowjetische Armee (zumindest nominell) mit der »Geburtsstunde der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung zusammen«. Für die nachfolgenden Jahre boten die lokalgeschichtlichen Festschriften eine Art Leistungsschau der Gemeinde. Sie lieferten eine Schilderung vor allem der technischen und lebensstandardlichen Errungenschaften sowie des Ausbaus von Landwirtschaft, Industrie, Infrastruktur und Wohnraum. Im Grunde war es jedoch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, die hierbei im Vordergrund stand, sondern vielmehr eine (materielle) Fortschrittsgeschichte des raschen, tatkräftigen (Wieder-)Aufbaus – eher oberflächlich in typische Formulierungen aus dem sozialistischen Vokabular verpackt. Der Unterschied gegenüber der westdeutschen Ortschronistik liegt vor allem darin, dass diese Leistungsschau in ostdeutschen Ortsmonografien zugleich Untertöne eines Rechenschaftsberichts trug, in dem es um die Erreichung oder Übererfüllung von Vorgaben ging. Die Schriften sind ab den 1960er Jahren geprägt von der Auflistung des »Entwicklungsstandes auf politischem, ökonomischem und geistig-kulturellem Gebiet« und der »Erfüllung von Aufgaben«, die sich aus den sozialistischen Jahresplänen ergaben.186 184 Im Hintergrund steht ein allgemeiner Umschwung vom »kulturpolitischen Pragmatismus« der 1950er Jahre zu einem »neuen Dogmatismus« in den 1960er Jahren im Bereich der Heimatgeschichte, wie Thomas Schaarschmidt schreibt, Schaarschmidt: Geschichtsbild, S. 198. 185 Vgl. für viele Rat der Stadt Waren (Hg.): Kurstadt. 186 Vgl. z. B. Rat der Stadt Wasungen (Hg.): Wasungen, S. 5–9; Rat der Gemeinde Kefferhausen (Hg.): Festschrift, S. 27.
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In den folgenden Jahrzehnten, den 1970er und 1980er Jahren, durchliefen derartige Rechenschaftsberichte eine leichte Schwerpunktverlagerung, indem sie immer deutlichere Züge einer Aufrechnung von Leistungen in der (impliziten oder expliziten) Konkurrenz zur BRD annahmen.187 Dadurch gewann gleichsam der Bruch »1945« weiter an Kontur im Blick auf die scharfe Trennung der kapitalistischen Vergangenheit und der sozialistischen Gegenwart.188 Das bedeutete auch, dass die Heimatmonografien der DDR zumindest am Rande immer wieder Bezüge auf Westdeutschland einstreuten; entsprechende Stellungnahmen gegenüber der DDR waren in westdeutschen Heimatbüchern hingegen nicht zu finden. Wir haben bereits gesehen, dass die Heimatgeschichte der DDR mit ihrer Fortschrittserzählung keinen Raum für Diagnosen eines Strukturwandels des ländlichen Raums oder sogar Verfallsszenarien bot. In der Tat lassen die gesichteten ostdeutschen Ortsmonografien der 1970er und 1980er Jahre so gut wie keine entsprechenden Hinweise erkennen. In den letzten beiden Jahrzehnten der DDR begann sich zudem eine unausgesprochene Arbeitsteilung im Blick auf ortsgeschichtliche Festbroschüren durchzusetzen, die sich in den vorangehenden Dekaden bereits angedeutet hatte: Demnach knüpften hauptsächlich die von Bürgermeistern oder Ratsvertretern geschriebenen Vorworte an die Bedeutung des Sozialismus und der nationalen Geschichte für die Ortsgeschichte an.189 Der Hauptteil der Veröffentlichungen wies demgegenüber nach wie vor einen vergleichsweise »faktologischen« Charakter auf. Anleihen aus dem marxistisch-leninistischen Interpretationshaushalt erfolgten zwar auch hier gelegentlich, doch blieben sie weiterhin punktuell und isoliert. Parallel hatte sich die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig zu einer Domäne der Geschichte der Arbeiterbewegung entwickelt und wurde – im Unterschied zu anderen Textteilen – von entsprechenden Spezialisten bearbeitet. Diese kamen meist aus den stärker marxistisch-leninistisch geschulten Gruppen zur Lokalgeschichte der Arbeiterbewegung oder der sozialistischen Parteien.190 187 Vgl. z. B. Spantig: Moraas, S. 52. 188 Vgl. z. B. Rat der Stadt Sömmerda (Hg.): Sömmerda, S. 3, 9; Rat der Gemeinde Siggelkow (Hg.): Siggelkow, S. 6. 189 Vgl. z. B. Rat der Gemeinde Schwarzburg (Hg.): Schwarzburg; Reich/Reich: Kohren-Salis. 190 Vgl. die Kritik: »Anläßlich verschiedener Ortsjubiläen (Heimatfeste, Schulfeste, Jahrhundertfeiern) erschienen und erscheinen vielerlei Festschriften, deren Niveau hinsichtlich der Form und des Inhalts recht unterschiedlich ist. Abgesehen davon, daß in der Mehrzahl dieser Publikationen keine klare Grenze zwischen einer Chronik und einer Ortsgeschichte vorhanden ist, tritt ein Punkt, den ich als entscheidenden Mangel empfinde, auffällig hervor, daß nämlich die ältere Geschichte bis hin zum 19. Jahrhundert in sich abgeschlossen betrachtet wird und die Kontinuität zur historischen Darstellung des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung fehlt. Als verschiedene Kapitel stehen Ortsgeschichte und Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung
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Im Allgemeinen lösten sich Ortsmonografien in der DDR auch in den 1970er und 1980er nicht von ihrer Bindung an Jubiläumsfeiern.191 Es handelte sich weiterhin meist um Broschüren, die anstehende Festwochen begleiteten anstatt um eigenständige Schriften (wie die westdeutschen Ortschroniken, deren Erscheinen sich oft eher zufällig mit anstehenden Jubiläen überschnitt). Die ostdeutschen Veröffentlichungen behielten deshalb in der überwiegenden Zahl der Fälle einen zwiespältigen Charakter im Hinblick auf ihre Zielgruppe bei: Neben den Ortsbewohnern wurden immer auch Besucher angesprochen. Viele der betrachteten Festschriften weisen deshalb Versatzstücke auf, die eher Touristenführern zuzuordnen sind, wie zum Beispiel Gaststättenverzeichnisse, Übersichten der örtlichen Sehenswürdigkeiten oder Hilfestellungen zur Benutzung des Nahverkehrs.192 Diese Ambiguität von heimatgeschichtlicher Selbstvergewisserung und werbender Repräsentation nach außen prägte auch manches historische Kapitel dieser Veröffentlichungen.
Bezugslosigkeit von Orts- und Sozialismusgeschichte Gehen wir nun von der diachronen Übersicht ostdeutscher Festbroschüren und Ortsmonografien zur Diskussion einiger zentraler Motive über. Das Augenmerk liegt hierbei auf den Abweichungen der veröffentlichten Schriften gegenüber den Leitlinien der DDR-Heimatgeschichte. Diese Abweichungen rücken manche Publikation in die Nähe westdeutscher Heimatbücher, dennoch ist es, daran sei hier erinnert, in der DDR zu keiner Zeit zur Emergenz eines eigenständigen Ortschronik-Genres – gewissermaßen jenseits oder unterhalb der offiziellen Heimatgeschichte – gekommen. Während unserer Besprechung der westdeutschen Chroniken sind wir auf das Motiv der Bezugslosigkeit von Text und Kontext gestoßen. Ostdeutsche Festschriften kleinerer Orte weisen streckenweise eine analoge Bezugslosigkeit von marxistisch-leninistischer Rahmung und eigentlichen, ortsgeschichtlichen Inhalten auf. Gerade Textpassagen zu älteren Geschichtsepochen zeichnen sich dadurch aus, dass sie entweder ganz auf sozialistisches Vokabular verzichten oder es sporadisch einstreuen, statt es systematisch zu verwenden. Entsprechende Zwischentöne stechen dann wie Fremdkörper in einer ereignisgeschichtlichen Darstellung hervor, die in Chanebeneinander« (Richter : Geschichte, S. III). Darüber hinaus finden sich auch in den 1970er und 1980er Jahren weiterhin Beispiele für Chroniken, die auf eine Darstellung der nationalsozialistischen Geschichte gänzlich verzichteten, vgl. z. B. Reich: Prießnitz; Rat der Gemeinde Siggelkow (Hg.): Siggelkow. 191 Dies gilt insbesondere auch für die Verbindung nationaler und ortsgeschichtlicher Jubiläen; eine Vielzahl von Festschriften erschien beispielsweise im Jahr 1974 zum 25jährigen Gründungsjubiläum der DDR. 192 Vgl. z. B. Rat der Stadt Annaberg-Buchholz (Hg.): Annaberg-Buchholz.
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rakter und Formulierung stark entsprechenden Ausschnitten westdeutscher Heimatbücher ähnelt. Zur Veranschaulichung ist es erforderlich, einige etwas längere Textauszüge aus ostdeutschen Ortsmonografien zu zitieren, da auf diesem Weg die relative Marginalität des historisch-materialistischen Vokabulars gegenüber dem eigentlichen Inhalt am besten deutlich wird. Lesen wir also einen Abschnitt aus dem Kapitel »Mittelalterliche Entwicklung bis zur Gemeindeverfassung 1119 bis 1440« der 1974 erschienenen Ortsgeschichte von Apolda. Die zitierte Passage hat ihren Ausgangspunkt in Überlegungen zur Herkunft des Stadtwappens. Es heißt, dass »für die Zeit um 1300 ein großes Obstanbaugebiet im Herressener Grund belegt ist und auch die ältesten Siegel der einstigen Herren von Apolda ebenso wie das Wappen der Stadt den Apfel bzw. Apfelbaum zum Grundmotiv haben; die endgültige Festsetzung des letztgenannten Wappens erfolgte 1856 durch einen Ministerialerlaß, der die bis heute verwendete Art bezeichnete: ›…in goldenem Felde einen schwarzen Stamm, der oben abgehauen ist, an den Seiten aber wieder grüne Blätter treibt…‹. Als Stadtfarben wurden in Anlehnung daran durch Gemeinderatsbeschluß im darauffolgenden Jahr schwarz, gelb und grün festgelegt. Der eigentliche Ort Apolda entstand in Verbindung mit der später zum Schloß umgebauten starken Burg, die den Ansiedlern zwar Schutz vor Überfällen bot, sie aber auch als Leibeigene oder Erbzinsbauern in die feudale Knechtschaft zwang. Hier residierten die Schenken und Vitzthume von Apolda als Lehnsträger und Ministerialen des Erzbischofs von Mainz. Ihr Stammvater war Ditterich, der nach dem Tode des Grafen Wichmann nicht nur mit Apolda belehnt, sondern vom genannten Erzbischof, der zugleich Dominus (Herr) von Erfurt war, auch zu seinem Vicedominus (Stellvertreter) in eben dieser größten thüringischen Stadt ernannt wurde; aus der Abwandlung jener Amtsbezeichnung entstand der Familienname derer von Vitzthum, denen auch das erzbischöfliche Schenkenamt (Weinmeister) übertragen wurde. Um 1250 erhielt Apolda das Stadtrecht und wurde im Anschluß an die Burg mit einem festen Mauerring umgeben, der zusätzlich durch einen breiten Wassergraben geschützt und nur durch zwei Tore mit Zugbrücken unterbrochen wurde.« Dieser Ausschnitt berührt eine ganze Reihe historischer Themen von der Herleitung des Stadtwappens, der rechtlichen Zuordnung Apoldas bis zur Gründung und zum Ausbau von Burg und Wehranlagen. Er ist repräsentativ für das gesamte Kapitel, da die aufeinanderfolgenden Themen meist gänzlich ohne ihre Einordnung in eine historisch-materialistische Geschichtsdeutung auskommen. Der isolierte Verweis auf die »feudale Knechtschaft« lässt sich in dieser Form auch in westdeutschen Heimatbüchern finden. Gleichsam punktuell verwendet der Autor von Zeit zu Zeit Begriffe wie »(früh-)kapitalistisch« oder »Ausbeutung«; der Charakter des Textes als Sammelsurium verschiedener Themen, Ereignisse, Jahreszahlen und Namen wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt.
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Betrachten wir eine weitere Passage aus dem Apoldaer Buch, und zwar aus dem Kapitel »Vom Ackerbürgerstädtchen zum Industriezentrum (1632 bis 1920)«, in der das marxistische Vokabular zwar quantitativ etwas präsenter ist, dafür aber gleichermaßen bezugslos neben den faktologischen Ausführungen des sonstigen Textes steht: »Der für das 19. Jahrhundert kennzeichnende Übergang zum kapitalistischen Fabrikbetrieb vollzog sich im Prozeß der industriellen Produktion und bewirkte ein gewaltiges Anwachsen der Arbeitsproduktivität, zugleich aber auch eine erhebliche Verschärfung der Ausbeutung und damit eine Zuspitzung der Klassengegensätze. Mit der Verarbeitung neuer Rohstoffe wie Baumwolle und Seide wurden auch neuentwickelte Maschinen eingeführt: der Walzenstuhl (1802), die Deckmaschine (1807), der Doppelkettenstuhl (1834), der Rundstuhl (1839) und schließlich der Fangkettenstuhl (Raschel). Die moderne Technologie ermöglichte nicht nur eine beträchtliche Produktionssteigerung, sondern auch eine wesentliche Erweiterung des Fertigungsprogramms. An die Stelle der bislang ausschließlichen Strumpfwirkerei trat mehr und mehr die Herstellung von Kleidern, Jacken und Röcken, Westen, Unterzeug, Schals, Handschuhen und ähnlichen Artikeln. Hauptabnehmer dieser Erzeugnisse war nun England. Der Fleiß und die Schöpferkraft der Apoldaer Stricker und Wirker sowie der Einsatz der jeweils modernsten Technik ließen das traditionsreiche Gewerbe alle durch Kriegswirren und Wirtschaftskrise verursachten Rückschläge überwinden und seinen Platz auf dem Weltmarkt behaupten. Die weitere kapitalistische Industrialisierung und der Warenabsatz wurden wesentlich gefördert durch die Einrichtung der ersten regelmäßigen Postexpedition nach Weimar (1843), vor allem aber durch die Eröffnung der Apolda berührenden Eisenbahnlinie Halle-Weimar (1846); 2000 Menschen hatten am dafür notwendigen Damm, am Einschnitt und am Viadukt gearbeitet, der mit 97 Meter Länge und etwa 19 Meter Höhe auf einem aus 1336 Einzelpfählen bestehenden Pfahlrost errichtet wurde.«193 Dieser Abschnitt stellt zu Beginn mittels der hier kursiv gesetzten Formeln einen Minimalbezug zum Historischen Materialismus her ; im Wesentlichen geht es jedoch auch hier um die Aneinanderreihung ortsgeschichtlicher Fakten zu Produktionsverfahren der Textilbetriebe, zu ihren Erzeugnissen oder zum technischen Ausbau der Infrastruktur. Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus Schwarzburg in Thüringen. Die folgenden Auszüge aus der 1971 erschienenen Festschrift gehen dabei in zweierlei Hinsicht über die bisherigen Beobachtungen hinaus: Erstens zeigt sich, dass die Bezugslosigkeit sozialistischer Sprachanleihen gelegentlich auch im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts auftritt und, zweitens, ist das Schwarzburger Buch ein treffendes Beispiel für die Rahmung eines im Grunde nicht-marxistischen Hauptteils mit ideologischen Versatzstücken zu Beginn und Ende. So 193 Schneider: Apolda, S. 6–7, 18; Hervorhebungen von mir.
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würdigt das Vorwort die bisherigen Leistungen auf dem »Weg zum Sozialismus« und ordnet die Ortsgeschichte in die Geschichte DDR ein. Die Hauptabschnitte des Textes enthalten sich in der Folge jedoch weitgehend marxistischer Geschichtsdeutungen und auch des entsprechenden Vokabulars; wo es Verwendung findet, bleibt es ohne systematischen Bezug zum Dargestellten. Das Buch widmet sich Themen wie der frühgeschichtlichen Besiedlung, der Abfolge der Herrschschaft im Territorium, dem Ausbau und Umbau der örtlichen Burg, der Bodennutzung und dem Handwerk sowie kriegerischen Ereignissen, Bränden und einigem mehr. Auch Folkloristisches ist präsent. Die Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Parteien taucht hingegen kaum auf. Betrachten wir einige Passagen aus den Ausführungen zu Schwarzburg als Kurort genauer. Hier geht es vor allem um landschaftliche Schilderungen und lange Zitate (berühmter) Kurgäste. Im Unterkapitel »Der Kurort der Werktätigen«, der sich dem 20. Jahrhundert widmet, treten vermehrt sozialistische Formeln auf, ohne jedoch den Textcharakter wesentlich zu beeinträchtigen. Es heißt beispielsweise: »Obwohl keine nennenswerten Wintersportmöglichkeiten vorhanden sind, kommen auch die Anhänger von Ski und Rodel zu ihrem Recht, da die schneesicheren Gebiete des Thüringer Schiefergebirges um Oberweißbach und Neuhaus am Rennweg verkehrstechnisch sehr günstig liegen und schnell erreicht werden können. Die Oberweißbacher Bergbahn, die steilste normalspurige Bahn der Welt, bildet einen weiteren Anziehungspunkt der näheren Umgebung. Der vom deutschen Imperialismus entfesselte zweite Weltkrieg veränderte auch das Gesicht Schwarzburgs. 1940 wurden fast alle Hotels zu Lazaretten umgewandelt. Die verbliebenen Privatbetten, die noch für Urlauberzwecke genutzt werden konnten, verfielen der Beschlagnahme und wurden 1944/ 45 Bombengeschädigten zur Verfügung gestellt. Gemessen an dem unsäglichen Leid und den großen Zerstörungen, die dieser Krieg mit sich brachte, fiel das zwar kaum ins Gewicht, von Schwarzburg als Kurort konnte aber vorerst keine Rede mehr sein. Viele Einwohner sahen für ihren Heimatort keine Zukunft mehr, resignierten deshalb und erkannten erst allmählich, welche ungeheure Schuld der deutsche Faschismus über unser Land gebracht hatte. Es gab jedoch auch fortschrittliche Kräfte, die aus der Vergangenheit die richtigen Schlußfolgerungen zogen und sogleich daran gingen, das Neue zu gestalten. Die Gründung der Ortsparteiorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Jahre 1946 war ein wichtiger Markstein in der neueren Geschichte unseres Ortes. Gemeinsam mit den Blockparteien und den Massenorganisationen wurde unter Mithilfe vieler Einwohner der Neuaufbau umfassend vorangetrieben. So konnte nach Überwindung der schwersten Kriegsfolgen der Kurbetrieb wieder anlaufen.« Wir lesen zwischen den ortsgeschichtlichen Ereignissen zwei kurze Verweise auf den Faschismus in Deutschland und einen etwas längeren auf den sozialistischen Neuaufbau. Das entsprechende Narrativ wird – jenseits dieser
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Einschübe – jedoch in keiner Weise ortsgeschichtlich ausgebaut, sondern geht in einer Fülle von Details zum Kurbetrieb unter, zum Beispiel Zahlen zur Bettenbelegung oder der Dauer von Kuraufenthalten. Der sprachliche Kotau gegenüber der sozialistischen Heimatgeschichte unterbricht den Lesefluss punktuell, anstatt ein interpretatives Grundmuster der Ortsgeschichte bereitzustellen. Die sich anschließenden Ausführungen zum Bau eines lange geplanten Freibads in Schwarzburg zeugen eher vom »Gemeinschaftssinn« der Einwohner – von einer Wiederaufbaugemeinschaft – als der Manifestation des am Rande erwähnten »Arbeiter- und Bauernstaats« vor Ort. Hier stehen Eigenschaften wie »Fleiß« und gemeinschaftlicher »Aufbauwille« im Vordergrund, die die Darstellung der Nachkriegsjahrzehnte in westdeutschen Ortschroniken gleichermaßen prägen. Zwar gibt die Festschrift die Eröffnungsrede zum Freibad, die sich freilich vielfach auf das neue Gesellschaftssystem der DDR bezog, wortgetreu wieder, doch demonstriert das eher das typische ortschronistische Verfahren, historische Quellen unkommentiert und im Wortlaut abzudrucken, statt der sozialistischen Kontextualisierung der ortsgeschichtlichen Vorgänge zu dienen. An einer weiteren Stelle der Schwarzburger Monografie steht ein ausführlicher, sehr detailreicher Abschnitt zur Forstwirtschaft und Jagd, der ganz ohne Bezüge zu sozialistischen Themen auskommt. An seinem Ende folgt dann ein durch drei Sternchen visuell abgetrennter Abschlusssatz: »In der Deutschen Demokratischen Republik haben diese drei Begriffe [Jagd, Forstwirtschaft und Wald] eine neue Bedeutung erhalten. Die Jagd ist von den Fesseln des Feudalismus und Kapitalismus befreit, heute wird sie von werktätigen Menschen ausgeübt«.194 Dieses bezugslose Nebeneinander bzw. diese oberflächliche Rahmung ortsgeschichtlicher Inhalte mit marxistischen Formeln ist typisch für das gesamte Buch sowie viele andere Festschriften kleinerer Orte der ehemaligen DDR.195 Viele andere Publikationen weisen hingegen die angesprochene Arbeitsteilung auf, bei der ein stark ideologisierter Buchabschnitt zur Geschichte des 20. Jahrhunderts – oder zumindest zur Zeit »nach 1945« – neben einem chro194 Rat der Gemeinde Schwarzburg (Hg.): Schwarzburg, S. 29–60. 195 Vgl. als weiteres Beispiel mit anderem thematischen Zuschnitt das Kapitel »Die Kriege und ihre Auswirkungen« in einem Geschichtsheft zu Marieney in Sachsen aus dem Jahr 1979. Das Kapitel beginnt und endet mit allgemeinen Bemerkungen von weltgeschichtlicher Spannweite, die auf den historischen Kampf von Imperialismus und Sozialismus verweisen. Die Ausführungen des Kapitels greifen diesen Rahmen jedoch praktisch nicht auf. Stattdessen folgt eine eklektische Aufzählung von Einzelheiten, die zum Teil auf einzelne Archivfunde zurückzuführen sind (z. B. eine Einquartierungsverordnung aus dem preußischösterreichischen Krieg). Die abschließende Formel, die den Bezug der verschiedenen Kriegserfahrungen zur Geschichte des Sozialismus herstellen soll, hat in ihrer Kürze und Abstraktheit einen eher rituellen als historisch-analytischen Charakter: »Mögen sie alle uns immer Mahnung sein, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die Macht der Arbeiterklasse zu festigen und den Frieden zuverlässig zu beschützen und zu verteidigen!« (Thomä/ Schmidt: Marieney, S. 38–39).
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nistischen Sammelsurium zur älteren Ortsgeschichte steht; meist insgesamt von einem Vor- und gegebenenfalls Schlusswort begleitet, die die Ortsgeschichte in die Geschichte des Sozialismus einbetten. Ein paradigmatisches Beispiel bietet die »Festschrift zum 1000jährigen Geburtstag der Gemeinde Klostermannsfeld«, in der auf den ersten, gesonderten Teil zur Geschichte ab 1945 ein zweiter Teil mit dem Titel »In der Chronik geblättert« folgt. Darin sind typische Inhalte, die uns aus westdeutschen Heimatbüchern bekannt sind, versammelt: Auf Frühgeschichtliches, Landschaftliches und die Ersterwähnungsurkunde folgen zum Beispiel Ausführungen zu Flurnamen, Wappen, Gründungsmythen, Sagen und Mundartlichem. Außerdem trifft der Leser auf verschiedene, unsortierte Einzelkapitel zu Quellenfunden oder Anekdoten. Schließlich werden auch die Schule, die Kirche, die Eisenbahn, der Bahnhof, die Feuerwehr und andere Einrichtungen wie der Gasthof mit eigenen Kapiteln bedacht. Erst das Nachwort des Bürgermeisters bezieht sich wieder ausdrücklich auf dem Marxismus. Das Nachwort liefert zugleich eine Selbstbeschreibung, die den fehlenden Zusammenhang der Buchteile (unfreiwillig) auf den Punkt bringt: »Die Verbindung zwischen den einzelnen Artikeln wurde absichtlich nicht künstlich hergestellt. Das kann den Gesamteindruck aber wohl nicht mindern.«196 Die heimatgeschichtlichen Funktionäre des Kulturbundes sahen Beispiele wie die bislang besprochenen in erster Linie als handwerklich unzureichend an; sie konnten den Maßstäben einer marxistisch fundierten, wissenschaftlichen Geschichtsschreibung offenkundig nicht entsprechen. Einzig indem Gutachter ein oder gar zwei Augen zudrückten oder indem angemahnte Überarbeitungen nicht konsequent umgesetzt wurden, konnten derartige Publikationen trotzdem zum Druck gelangen. Die DDR-Historiker duldeten sie zu einem gewissen Grad, um die heimatgeschichtliche Arbeit vielerorts nicht gänzlich zum Erliegen zu bringen. Es braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden, ob die Autoren der besprochenen Texte, den Ansprüchen einer sozialistischen Heimatgeschichte nicht gerecht werden konnten oder nicht gerecht werden wollten. Interessant ist, dass Merkmale aufscheinen, die an eine Geschichtsschreibung im Sinne westdeutscher Ortschroniken und Heimatbücher erinnern – auch wenn diese Ansätze unter den materiellen und ideologischen Gegebenheiten der DDRHeimatgeschichte nicht in ein eigenständiges, von der akademischen Historiografie entkoppeltes Genre mündeten.
196 Rat der Gemeinde Klostermannsfeld (Hg.): Festschrift, S. 69. Vgl. des Weiteren: Dorfklub Dittersdorf: Dorffestspiele, S. 6–29.
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Die Passivität der Ortsgeschichte Setzen wir die Betrachtungen anhand eines weiteren Themenkomplexes fort: der Passivität der Lokalgeschichte – ein Moment, das mit dem sozialistischen Geschichtsverständnis, das die Bewusstwerdung und den aktiven Kampf der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeutung so wie den lokalen Beitrag zur Ausgestaltung der sozialistischen Weltordnung verfolgen wollte, im Grunde nicht vereinbar war. In ostdeutschen Ortsmonografien zeigen sich hier dennoch stellenweise Parallelen zu westdeutschen Heimatbüchern. Das Geleitwort des Bürgermeisters in der Publikation »750 Jahre Langewiesen« aus dem Jahr 1955 beschrieb das Leitmotiv einer gegenüber den Wirren der Umwelt passiven Dorfgemeinschaft in relativ deutlicher Weise: »So wie überall in der Geschichte erlebte auch unser Ort im Wechsel der Zeiten Aufstieg und Niedergang. Die grenzenlose Ausbeutung, ganz besonders in der Zeit des Feudalismus, dazu Kriege, Seuchen, Brände und andere Naturkatastrophen, die das mühselig Geschaffene wieder vernichteten, schufen für manche Generationen fast unerträgliche Lebensbedingungen. Fleißige Menschen bauten nicht nur immer wieder neu auf, sondern die mutigen und aufrechten unter ihnen stellten den Kampf gegen die Unterdrücker und Ausbeuter in den Mittelpunkt ihres Ringens.«197 In der zitierten Passage tauchen einige typische Elemente auf, die wir aus westdeutschen Chroniken kennen: Der schicksalhafte Wechsel der äußeren Umstände, das bloße Ausgesetzt-sein gegenüber einer großen Geschichte, die ihre Quellen und Antriebskräfte andernorts hat (aus Sicht des Ortes »wie überall«), die paradigmatische Kombination von Kriegen mit Naturkatastrophen und, nicht zuletzt, die ungebrochene Wiederaufbaugemeinschaft. Es entsteht das heimatbuchtypische Bild einer passiv mit der Umwelt verbundenen Leidens- und Wiederaufbaugemeinschaft des Dorfes. Zugleich stößt dieser Vergleich an seine Grenzen, da das Zitat DDR-typische Elemente aufweist, die dieses Muster brechen: Neben die Kriege und Naturkatastrophen tritt die grundlegendere, nicht nur punktuelle »Ausbeutung«, die zum bestimmenden Element der Dorfgeschichte erklärt wird. Ebenso geht es nach den historischen Rückschlägen nicht allein um den Wiederaufbau eines im Grunde zeitlosen, existenziellen Dorflebens, sondern zugleich um die Fortführung des »Kampfs gegen Unterdrücker und Ausbeuter«. In diesem Sinne ist die Gemeinde aktiver an einem allgemeinen geschichtlichen Fortschritt beteiligt; eine Aktivität, die kein gleichwertiges Gegenstück in der westdeutschen Chronik-Historiografie findet. In diesem Zusammenhang treffen wir wiederum auf einen Unterschied bei der Behandlung der historischer Epochen: Im Blick auf die ältere Geschichte 197 Rat der Stadt Langewiesen (Hg.): Langewiesen, S. 5.
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gleichen sich west- und ostdeutsche Laien-Ortsgeschichten stärker, was das passive Erdulden der Geschichte durch eine im Grunde unpolitische, homogene Dorfgemeinschaft angeht. In der Zeit der Arbeiterbewegung tritt dieses Motiv dagegen zurück. Diese Diskrepanz wird oft dadurch verstärkt, dass die Epochen in der Regel von verschiedenen Autoren bearbeitet werden, deren historischmaterialistische Ausbildung und deren sozialistischer Bekenntnisgrad sich deutlich unterscheiden können. Werfen wir einen genaueren Blick in die Festschrift »600 Jahre Stadt Königstein« aus dem Jahr 1979. Das gut 30 Seiten lange Heft beginnt mit der üblichen, emphatischen Würdigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR im Vorwort. Es folgt der Abschnitt »Aus vergangener Zeit«. Zwar weist das Kapitel eine gewisse Häufung von Formulierungen wie »Feudalismus« oder »Ausbeutung« auf, die in westdeutschen Heimatbüchern seltener sind. Doch ist die Darstellung eindeutig von dem Muster eines im Grunde unpolitischen, passiven Erduldens verschiedener externer Unbilden geprägt. Die Besiedlung des Ortes wird aus unveränderlichen, naturräumlichen Gegebenheiten hergeleitet und als quasi-schicksalhafter Vorgang geschildert. Als ebenso natürlicher Vorgang erscheint das Aufkommen erster handwerklicher Schwerpunkte im Laufe der Zeit. Ein Zwischenfazit besagt: »Trotz aller Mühsal und allen Fleißes blieb aber die Lebensweise der meisten Bürger der Stadt karg und einfach. Nicht sie ernteten die Früchte ihrer Arbeit, sondern die adligen Grundherren, die das Recht in Anspruch nahmen, Abgaben und Dienstleistungen zu fordern, um so ein angenehmes – ein standesgemäßes – Leben führen zu können. Nicht nur diese Lasten drückten auf die Untertanen, sondern auch besondere Drangsale, wie Kriege und Krankheiten. So blieben schwere Heimsuchungen auch unserer Stadt nicht erspart.« Wir haben es nicht mit einer historisch-materialistischen Deutung der Ortsgeschichte zu tun, sondern vielmehr mit dem Rekurs auf eine ›anthropologische Grundform‹ der Heimatgeschichte: Primär für die eigene Existenz sorgende Dörfler werden von äußeren, nach Höherem strebenden Mächten bedrängt. Dieses Muster wiederholt sich in der Folge bei der gemeinsamen Schilderung von Bränden und Kriegshandlungen. Ob Feuersbrunst oder Verwüstung durch schwedische oder napoleonische Truppen, für das Dorf heißt es in gleichförmiger Weise: »In harter und mühevoller Arbeit gingen die Bewohner immer wieder daran, ihre Stadt neu aufzubauen«. Das anschließende Kapitel »Königstein wird Industriestadt« zeichnet sich durch eine vergleichbar schicksalhafte Interpretationen der Geschichte aus – auch hier trotz Begriffen wie »kapitalistische Produktionsverhältnisse«, die eher punktuell als systemtisch auftauchen (»Auch vor Königstein machte die Industrialisierung keinen Halt. Langsam aber stetig entwickelten sich auch in unserer Stadt die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die in vielfältiger Form in das Leben der Bewohner Königsteins eingriffen.«). Im Zentrum steht daraufhin eine typisch eklektische Sammlung von
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Daten und Fakten, beispielsweise zu spezifischen Arbeitstechniken, zur lokalen Infrastruktur oder zum alltäglichen Lebensstandard. Die Ausführungen legen in erster Linie eine Dorf-Umwelt-Differenz (eine Wir-und-die-anderen-Perspektive) zugrunde, anstatt die Ortsgeschichte in einen überregionalen Klassenkampf einzubetten; an die Stelle der Unterscheidung von Feudalherren und Untertanen ist nun mehr oder weniger austauschbar die Unterscheidung von Großunternehmern und lokalen Arbeitern und Angestellten getreten. Zum Ende des 19. Jahrhunderts und am Übergang zum 20. Jahrhundert beginnt die »Geschichte der Arbeiterbewegung« einen immer prominenteren Platz in der Königsteiner Festschrift einzunehmen. In diesem Rahmen stellt sich eine zunehmende Synchronisation von Orts- und Nationalgeschichte ein. Die Ortsgeschichte wird zu einem Beispielfundus einer weltgeschichtlichen Umwälzung. In typischer Weise ist auch das Kapitel zum »Dritten Reich« gänzlich vom »antifaschistischen Widerstandskampf« dominiert.198 Die Fälle, in denen das Muster einer kontinuierlichen Opfer- und Wiederaufbaugemeinschaft auch die Darstellung des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Zweiten Weltkriegs bestimmt, sind seltener in ostdeutschen Ortsmonografien. Es finden sich zwar auch hier Beispiele, in denen es hauptsächlich um Details aus dem Alltag geht, die dem entfernten Walten ortsfremder, politischer Mächte gegenüberstehen; »Fortschritt« bezeichnet in diesen Fällen kaum mehr als die Verbesserung des Lebensstandards (anstelle revolutionärer, gesellschaftlicher Veränderungen, an denen das Dorf teilhat). Im Zentrum steht die Hoffnung, von größeren Kriegszerstörungen und materiellen Einbußen verschont zu bleiben sowie der gemeinschaftliche Zusammenhalt beim physischen Wiederaufbau. Typische sozialistische Erzählelemente wie die »Männer der ersten Stunde« – eigentlich »Arbeiterveteranen«, die den gesellschaftspolitischen Wandel nach 1945 vorantrieben – symbolisieren in diesem Zusammenhang eher den ewigen Umschlag von der Leidens- zur Aufbaugemeinschaft.199 Dennoch erfahren diese Motive – im Unterschied zur westdeutschen Ortschronistik – immer wieder kleinere bis größere Brechungen durch gegenläufige Momente sozialistischer Geschichtsschreibung, die die Konstruktion einer geschlossenen, zeitlosen Dorfgemeinschaft und einer klaren Dorf-Umwelt-Differenz unterlaufen. Im Blick auf die NS-Zeit stellt die weitgehende Dominanz der Dichotomie von Faschismus und Antifaschismus ebenfalls einen Unterschied zu bundesrepublikanischen Heimatbüchern dar. Dennoch zeigt sich in vielen Fällen auch hier eine tieferliegende Parallele, und zwar im Blick auf die Verteilungsmuster von Konkretisierung und Pauschalisierung. Während die Opfer der 198 Festkomitee des Rates der Stadt Königstein (Hg.): Königstein, S. 5–8. 199 Vgl. z. B. Rat der Gemeinde Cunnersdorf (Hg.): Cunnersdorf, S. 5–8; Rat der Stadt Bützow (Hg.): Bützow.
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»faschistischen Verfolgungen« bzw. ihr Martyrium in ostdeutschen Ortsgeschichten konkret und detailreich geschildert wird, bleiben die Täter meist im Dunkeln. Sie werden nur in Ausnahmefällen namhaft gemacht; auch dann finden sich jedoch kaum Differenzierungen im Hinblick auf ihre Biografien, Motivationen, Beziehungen zur Dorfbevölkerung etc. Zudem sind die entsprechenden Abschnitte meist durch einen eindeutigen Kontrast von Tätern und Opfern – gut und böse – gekennzeichnet. Diese Konkretisierung der Opfergeschichten bei gleichzeitiger Ausblendung bzw. Pauschalisierung der Täter zeichnet den Umgang mit der NS-Zeit in westdeutschen Ortschroniken gleichermaßen aus. Hier wie dort legt dieses Vorgehen eine Zuständigkeitstrennung von lokaler und allgemeiner Geschichte nahe, bei der die Ortsgeschichte primär für die »eigenen Opfer« zuständig sei, während die Täter einem »großen Apparat der Gestapo« oder Ähnlichem zugerechnet werden, der Gegenstand der überregionalen Historiografie sei.200 Letztlich handelt es sich auch hier nur um einzelne Spuren typischer Motive bundesrepublikanischer Heimatbücher in heimatgeschichtlichen Veröffentlichungen aus Ostdeutschland; zur Abgrenzung eines eigenständigen, historiografischen Genres reichen sie nicht aus.
Ortschroniken der neuen Bundesländer Betrachten wir zum Abschluss die ortsgeschichtlichen Monografien der neuen Bundesländer, insbesondere aus den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung. Den bisherigen Analysen lag die Beobachtung zugrunde, dass sich die Veröffentlichungen aus den neuen Bundesländern sehr schnell und weitgehend den westdeutschen Ortschroniken angeglichen haben, so dass nach 1990 von einem gesamtdeutschen Heimatbuch-Genre gesprochen werden kann. An dieser Stelle frage ich in entgegengesetzter Richtung nach etwaigen Kontinuitäten der DDR-Heimatgeschichte in den ostdeutschen Heimatbüchern nach der Wende; auch frage ich eingangs nach deren Positionierung gegenüber der gerade vergangenen Diktatur. Dies kann nur kursorisch geschehen. Im Zentrum dieses Buches stand der Umgang des Genres mit der nationalsozialistischen Geschichte. Eine genauere Untersuchung des Umgangs mit der DDR-Geschichte in Heimatbüchern bleibt einer zukünftigen Untersuchung überlassen. Zuerst ist daran zu erinnern, dass nicht wenige der in der Wendezeit und danach erschienenen Heimatbücher auf Vorarbeiten oder Manuskripte aus der DDR-Zeit zurückgingen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich in vielen Veröffentlichungen weiterhin typische Versatzstücke der DDR-Historiografie antreffen lassen. In einigen Fällen ist dies auf die kaum gebrochene Identifikation 200 Siehe für die zitierten Formulierungen: Rat der Stadt Meerane (Hg.): Festschrift, S. 35.
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der Autoren mit dem ostdeutschen Staat und seinen Idealen zurückzuführen. In anderen Fällen handelt es sich jedoch um das genretypische Verfahren, Flickwerke zu veröffentlichen, deren Vorarbeiten, Zusätze, Haupt- und Teilkapitel aus verschiedenen Zeiten und politischen Systemen stammen. Wir sind vergleichbaren Praktiken bereits im Blick auf Manuskripte aus der ersten Heimatbewegung oder der NS-Zeit begegnet. In den Augen der Herausgeber stehen die Anleihen solcher Patchwork-Chroniken am offiziellen Vokabular und Themenrepertoire der DDR eher für eine oberflächliche, zeittypische Färbung als eine Politisierung der Chronik im Namen eines ephemeren staatlichen Systems – ganz im Sinne des unpolitischen Selbstverständnisses des Genres. Im Allgemeinen erschienen nach der Wiedervereinigung allerdings nur wenige Chroniken, die sich weiterhin emphatisch zur DDR bekannten und sich weiterhin in einer Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus positionierten. Eine späte Ausnahme bietet zum Beispiel die Chronik von Kranichfeld in Thüringen aus dem Jahr 2012. Der Autor identifiziert sich mit der »antifaschistischen, demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung« der DDR, deren Kern die »Schaffung einer menschenwürdigen Staatsund Rechtsordnung sowie Stadtverwaltung« gewesen sei. Die deutsche Wiedervereinigung habe dazu geführt, dass sich die »vernichtende Profitgier des Kapitals«, die den »imperialistischen Ausbeuterstaat BRD« beherrsche, auch in Ostdeutschland verbreiten konnte. Betriebe, Handwerk und Arbeitsplätze seien in großem Umfang weggefallen, das Kulturleben sei weitgehend zum Erliegen gekommen, gesellschaftliche Treffpunkte seien verschwunden, nicht zuletzt seien »anachronistische« Straßennamen-Änderungen durchgeführt und Bücher verboten worden. Dem stehen »Jahrzehnte sozialer Geborgenheit, menschenwürdigen Daseins und Sicherheit in einer humanitären Heimstatt wahrer Kameradschaft, gegenseitiger Achtung, Hilfe und klarer Zukunft« in der DDR gegenüber. Der Autor rechnet zudem mit »torpedierenden Meinungen maßgeblicher Bürger« des Ortes ab, die die Veröffentlichung seines Buches verhindern wollten.201 Die Chronik stellt nicht nur durch ihre klare Parteinahme für die DDR, sondern auch durch diesen generell auf Konfrontation statt auf Harmonie angelegten Gestus einen unüblichen Fall dar. Umgekehrt trifft man genauso selten auf Fälle, in denen Heimatbücher für eine entschieden polemische Abrechnung mit dem ostdeutschen Staat genutzt werden. Demnach steht auch die Wiedervereinigung in nur wenigen Chroniken für ein eindeutiges Niedergangsszenario. In vielen Texten stellt sie eher eine ambivalente Krisensituation dar, die ein altbewährtes Reaktionsmuster der Dorfbevölkerung erfordere: die gemeinschaftliche Anstrengung, das heißt zum Beispiel die Aktivierung zeit-
201 Kranichfeld, S. 5–6, 525.
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loser Tugenden wie »Heimatliebe«, »Fleiß«, »Tatkraft« und »Hilfsbereitschaft«.202 Der Großteil der Chroniken versucht sich ausdrücklicher politischer Stellungnahmen für oder gegen die DDR bzw. BRD nach Möglichkeit zu enthalten.203 Stattdessen stößt der Leser auf Verfahren, die an die Behandlung der NS-Geschichte erinnern. Dies betrifft zum Beispiel das bezugslose Nebeneinander von gesellschaftlichen Ereignissen und politischen Veränderungen auf der einen Seite und einem zeitlosen Gemeinschaftsleben auf der anderen Seite. Außerdem zeigt sich eine kaskadenhafte Verkettung des DDR-Kontextes mit der Ortsgeschichte, bei der äußere, politisch-ideologische Umstände in asymmetrischer Weise auf die grundsätzlich passive Dorfgemeinschaft einwirken. Vor diesem Hintergrund stellen viele Chroniken eine Mischung zahlloser Einzelheiten, episodenhafter Ausschnitte und Erinnerungs-Bruchstücke – positiver wie negativer Art – aus der DDR-Zeit zusammen.204 Hierbei stehen gemeinschaftsbildende, gesellige Aktivitäten im Vordergrund, während unpopuläre, staatliche Eingriffe implizit an die institutionalisierte Geschichtswissenschaft delegiert werden. Die typische Verteilung aktiver und passiver Formulierungen spielt dieser Assoziation mit einer über die Ortsgeschichte hinausgehenden ›allgemeinen DDR-Staats- oder Systemgeschichte‹ in die Hände.205 Betrachten wir hingegen den Umgang mit der NS-Zeit in den Chroniken der neuen Bundesländer, so treffen wir im Allgemeinen auf dieselben Muster wie in den Chroniken der alten Bundesländer. Zugleich weisen einige ostdeutsche Heimatbücher jedoch Residuen der DDR-Historiografie auf. Auffallend ist beispielsweise, dass auch neuere Ortschroniken von Zeit zu Zeit Kapitel zur »Geschichte der Arbeiterbewegung« beinhalten, die in westdeutschen Chroniken ganz unüblich sind. In der Chronik des sächsischen Gränitz aus dem Jahr 2013 ist ein solches Kapitel inmitten eines typischen Themenkanons von Schule, Kirche, Vereinen, Handwerk und Häuserchronik zu finden. Perspektivisch reihen sich diese Ausführungen zur Arbeiterbewegung allerdings nahtlos in die übergreifende Gemeinschafts-Orientierung der Chronik ein, anstatt soziale oder politische Spaltungen innerhalb der Gemeinde hervorzuheben.206 Darüber hinaus weisen viele ostdeutsche Chroniken weiterhin Fragmente eines für westdeutsche Chroniken unüblichen Vokabulars auf, insbesondere die Bezeichnung des NS-Regimes als »imperialistisch« oder »faschistisch«. Dabei steht jedoch in aller Regel keine marxistische Deutung der Geschichte im Hintergrund. Dies gilt auch dann, wenn die Verfolgungsopfer des »antifaschistischen 202 203 204 205 206
Vgl. für viele Pfaffschwende S. 73–75; Klepelshagen, S. 7; Userin, S. 54. Vgl. z. B. Gersdorf; Geithain. Vgl. z. B. Möschlitz, S. 34–35. Vgl. z. B. Tränke, S. 96–97. Gränitz.
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Widerstands« weiterhin einen gewissen Raum einnehmen.207 Die nominelle Reduktion der NS-Zeit auf eine Auseinandersetzung zwischen »Faschismus und Antifaschismus« ist in den meisten Ortschroniken der neuen Bundesländer schlicht darauf zurückzuführen, dass die vorhandenen Quellen oder Texte aus der DDR stammen. Die späteren Chronikautoren haben sich nicht allzu weit von der Sprache ihrer Vorlagen gelöst bzw. verfügten nur begrenzt über einen alternativen Wortschatz zur Beschreibung der NS-Geschichte. Im Blick auf die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, die eine so wichtige Rolle in Heimatbüchern spielt, hielten alsbald die gleichen Themen wie in Westdeutschland Einzug in die Ortschroniken der neuen Bundesländer. Im Rahmen dieser vormals stark tabuisierten Thematiken, wie z. B. Flucht und Vertreibung oder Zwangsarbeiter- und Besatzungskriminalität, greifen ostdeutsche Ortschroniken oft auf im Privaten tradierte, persönliche Erlebnisberichte zurück.208 Letzten Endes hielten die wesentlichen, historiografischen Perspektivierungsweisen westdeutscher Heimatbücher – ungeachtet vereinzelter, eher nomineller Unterschiede – nach der Wiedervereinigung ebenso schnell wie umfassend Einzug in die Chroniken der neuen Bundesländer.
207 Vgl. z. B. Ebersdorf, S. 57–58. 208 Vgl. z. B. Leubingen.
Schluss
Ortschroniken und Heimatbücher stellen eine – wenn nicht die – maßgebliche Quelle der Geschichtskultur in zahllosen kleinen, ländlichen Orten dar. Sie haben mittlerweile eine so hohe Verbreitung erreicht, dass die meisten Gemeinden Deutschlands über eine eigene Ortschronik verfügen. Nach einer prototypischen Phase der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre, in der wesentliche Merkmale des Entstehungskontextes und der historiografischen Perspektive von Ortschroniken bereits angelegt waren, sie sich aber noch nicht gänzlich aus der hierarchischen Beziehung zur akademischen Welt gelöst hatten, hat sich diese Publikationsform ab den späten 1970er Jahren zu einem eigenständigen Genre entwickelt. Dabei haben die Ortschronisten das Selbstbewusstsein, als Laie die Geschichte des eigenen Ortes zu schreiben, von der alltagsgeschichtlichen bzw. der neuen Heimatbewegung übernommen, ohne hierbei deren gesellschaftskritische Impulse zu übernehmen – gleichsam ohne die (letztlich nicht aufgegebene) Orientierung der Alltagsgeschichte auf wissenschaftliche Prinzipien beizubehalten. Sprechen Heimatbücher im Einzelfall ganz bewusst nur einen stark eingegrenzten Leserkreis an, so erreichen sie in der Summe eine nicht zu unterschätzende Zahl historisch interessierter Laien in der gesamten Bundesrepublik – Leser, die in der Regel keinen alternativen Kontakt mit der geschichtswissenschaftlichen Historiografie haben. Die Eigenlogik des Genres Ortschronik ist, vereinfacht gesprochen, durch zwei zentrale Merkmale gekennzeichnet: die Orientierung auf die Dorfgemeinschaft sowie eine klare Dorf-Umwelt-Differenz. Die Ortsgeschichte positioniert sich damit in einem binären Feld, in dem die Chronik exklusiv für die Geschichte der geschlossenen, räumlich gebundenen Gemeinschaft zuständig ist; dieser geschichtliche Kern unterliegt hierbei fortlaufenden Irritationen durch eine äußere, wechselhafte, diffuse, politisch-ideologische Umwelt. Beide Leitmotive, der Gemeinschaftsfokus und die Dorf-Umwelt-Trennung, bedingen sich wechselseitig. Am Beispiel der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs haben wir gesehen, dass sie zudem vielfältige, miteinander verwobene Formen annehmen. Sie bestimmen die Weise, in der Ortschroniken
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Schluss
Geschichte wahrnehmen, verarbeiten und präsentieren, ohne als ausdrückliches historiografisches Programm formuliert zu sein. Auch ist davon auszugehen, dass die vielfältigen Beratungs- und Anleitungsangebote von professionellen Historikern, die mittlerweile für Ortschronisten aller Regionen existieren, letztlich nur nach dem Durchgang durch diese typischen Filter des Genres Eingang in die ortschronistische Praxis finden. Ihre zentralen historiografischen Prinzipien prägen den Inhalt und die Erscheinungsform von Heimatbüchern in mehrdimensionaler Weise. In sozialer Hinsicht bieten sie eine Verortung der (imaginierten) Dorfgemeinschaft an. Die Chronik des bayerischen Gerzen enthält beispielsweise das paradigmatische Kapitel »Welche Gerzener Familien sind 100 Jahre auf ihrem Anwesen und woher stammen sie?«1 Durch derartige Kapitel soll die Dorfgemeinschaft gewissermaßen eine bessere Transparenz, Anschaulichkeit und Erfahrbarkeit erhalten. Hierbei geht es immer auch um eine Topografie der Leistungen für die Gemeinschaft, letztlich auch eine Topografie historischer Ansprüche und sozialer Hierarchien. Außerdem zielen Ortschroniken primär auf Wiedererkennungseffekte der Leser im historischen Material. Sie streben danach, die alltägliche Lebenswelt mit einer historischen Aura aufzuladen. Zugespitzt ließe sich sagen: Heimatbücher schreiben nicht nur die Geschichte des Ortes, sie schreiben zugleich Geschichte in den Ort. In zeitlicher Hinsicht konstruieren Chroniken eine historische Wirklichkeit, in der zwei sich kreuzende, doch relativ autonome Zeitlinien nebeneinander herlaufen. Unterhalb der wechselvollen gesellschaftlichen, nationalen, politischen Umweltgeschichte verläuft hierbei eine kontinuierliche Dorfgeschichte, die zugleich die Geschichte der Dorfgemeinschaft ist. Rufen wir uns das Vorwort der Großköllnbacher Chronik in Erinnerung, in dem es heißt, dass »der tägliche Ablauf des bäuerlichen und handwerklichen Lebens im Dorfe nichts Außerordentliches war […]. Das dörfliche Leben ist ja wohl zu allen Zeiten im Grund das gleiche gewesen. Es ging um Haus und Hof, um Säen und Ernten, um Geburt und Tod, um das Abhängigsein von Gott und den Menschen.«2 Diese existenziellen Konstanten bilden eine Sphäre relativer Stabilität und Zeitlosigkeit gegenüber der eigentlichen Geschichte. In räumlicher Hinsicht schließlich schreibt die Chronikhistoriografie eine Essentialisierung der Heimat fort. Darin stellt sie eine stillschweigende Gegenbewegung gegen alle interdisziplinären, wissenschaftlichen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte dar, den Begriff der Heimat zu de-essentialisieren. Im Zentrum der Ortschronistik steht der relativ geschlossene, geografisch begrenzte Behälterraum der Dorfgemeinschaft. In den ländlichen Gemeinden ist, so legen zumindest die zahlreichen Heimatbücher nahe, ein von akademischen, publizisti1 Gerzen, S. 85–86. 2 Großköllnbach, S. V.
Schluss
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schen und politischen Debatten weitgehend unabhängiges Geschichtsbild entstanden. Statt die Geschichte der Orte im Kontext der Geschichte der Nation zu schreiben, schreiben Ortschroniken die Geschichte ihrer Orte aus dieser Geschichte heraus. Um zu den Überlegungen am Beginn der Studie zurückzukommen: Sind diese Schlussfolgerungen nun Ausweis des problematischen Charakters von Ortschroniken und Heimatbüchern? Die Antwort auf diese Frage ist einmal mehr abhängig von der Perspektive. Die vorliegende Untersuchung hat am ehesten dazu beigetragen, dass eine einheitliche oder allgemeinverbindliche Antwort auf die Frage guter und schlechter Geschichtsschreibung kaum zu geben ist. In jedem Fall handelt es sich um eine Fragestellung, die nicht Gegenstand analytischer, sondern politischer Aushandlungen ist. Die vorliegende Analyse kann zwar keinen Beitrag zur Entscheidung dieser Aushandlungen liefern, doch bietet sie zumindest einen neuen Ausgangspunkt der Diskussion an, von dem aus die faktische historiografische Eigenständigkeit von Ortschroniken und Heimatbüchern wesentlich deutlicher sichtbar ist.
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Danksagung Ich danke der PRO*Niedersachsen-Stiftung des Niedersächischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur für die großzügige Förderung meiner Recherchen sowie der Ausarbeitung dieses Buchs. Ebensowenig wäre das Projekt ohne die (wie immer) sehr freundliche Aufnahme am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg zustande gekommen. Persönlicher Dank gebührt allen voran Malte Thießen und Dietmar von Reeken für ihre große Hilfe bei der Ausarbeitung und der Durchführung des Projekts an der Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen. Die wertvolle Unterstützung von Theo Müller, Julia Blanke und Linda Ennen hat zudem sehr zum praktischen Fortschritt meiner Forschungen beigetragen. Darüber hinaus ist den Mitarbeitern aller besuchten Archive und Landesbibliotheken zu danken, ohne deren kleinere und größere Hilfen das Gelingen des Projekts undenkbar gewesen wäre. Dennoch möchte ich die überaus ertragreiche Zusammenarbeit mit Dieter Hoffmann von der Saarländischen Universitäts- und Landesbiblithek sowie Florian Sepp von der Bayerischen Staatsbibliothek in München in diesem Zusammenhang besonders hervorheben. Des Weiteren gilt mein aufrichtiger Dank allen Gesprächspartnern, die mich an ihrer umfassenden Erfahrung mit der praktischen Arbeit an Ortschroniken und Heimatbüchern teilhaben lassen. Auch sei den Mitarbeitern des Verlags sowie den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe »Formen der Erinnerung« sowie die freundliche und reibungslose Zusammenarbeit gedankt. Nicht zuletzt bin ich denjenigen zu großem Dank verpflichtet, die das Manuskript gelesen und mir zum wiederholten Male produktive Hinweise zu seiner Verbesserung gegeben haben, namentlich Maria Daldrup und Thomas Etzemüller. Letzterem kommt zudem das große Verdienst zu, mich ursprünglich zu den Forschungen inspiriert zu haben, die diesem Buch zugrundeliegen.
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Abbildungen Abbildung 1: Margot Krempien: Körkwitz. Chronik eines mecklenburgischen Dorfes am Ribnitzer See 1257–2012, Körkwitz 2012, ohne Paginierung. Abbildung 2: Günther Blatter (Hg.): Karlsbrunn. Ein Heimatbuch. Geschichte und Geschichten, Großrosseln 2003, S. 9. Abbildung 3: Heinz Brich: Nordseebad Rantum/Sylt. Leben zwischen zwei Meeren. Chronik des Seebades Rantum. 1945–1998, Rantum 1998, S. 24. Abbildung 4: Paul Lauerwald/Siegfried Wietstruk: Ortschroniken – warum, was, wie?, Berlin 1983, S. 9.
Archive BA HSTAH LADS LHARLP LHA-S SÄHSTA SÄSTA-L
Bundesarchiv Berlin Hauptstaatsarchiv Hannover Landesarchiv des Saarlandes, Saarbrücken Landeshauptarchiv Rheinland-Pfalz, Koblenz Landeshauptarchiv Schwerin Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Sächsisches Staatsarchiv Leipzig
Ortschroniken Die bibliografischen Angaben zu Ortschroniken fallen zu einem gewissen Grad arbiträr aus. Die Publikationen liefern manchmal widersprüchliche Angaben, beispielsweise weichen Haupt- und Untertitel auf dem Buchdeckel, in der Titelei oder im Impressum voneinander ab. In zahlreichen anderen Fällen sind die Angaben unvollständig, allen voran im Blick auf Erscheinungsort und -jahr. Letztlich geben Chroniken verschiedene Funktionsbezeichnungen für die Hauptverantwortlichen Personen an: Autor, Herausgeber, Redaktion, Schriftleitung etc. Nicht immer sind hierbei alle am Inhalt beteiligten Personen angegeben und eindeutig zugeordnet worden. Ich habe die folgenden Angaben auf die Nennung von Autor(en) oder Herausgeber(n), Titel, Erscheinungsort und -jahr beschränkt. Dabei folge ich, wenn immer möglich, der Deutschen Nationalbibliothek und alternativ den jeweiligen Landesbibliotheken. Auf die bibliografischen Angaben folgen in eckigen Klammern die Seitenzahlen, auf denen die jeweilige Chronik im vorliegenden Buch Erwähnung findet. Das Verzeichnis kann dadurch gleichsam als Ortsregister verwendet werden.
Ortschroniken
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Acht: Frank Neupert (Hg.): Heimatbuch der Gemeinde Acht, Acht 2002. [161] Ahrenviöl: Volker Henningsen: Chronik der Gemeinde Ahrenviöl, Ahrenviöl 1984. [147, 176] Aichschiess-Krummhardt: Rose Schilling-Aichele/August Kiesel/Heinz Erich Walter: Chronik der Gemeinde Aichschiess-Krummhardt, Ludwigsburg 1968. [142, 161] Alt-Rehse: Wolfgang Köpp: Alt-Rehse. Schau auf dieses Dorf, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Blankenese 1999 [1995]. [57, 60] Alter Koog: Heinrich Erichsen: 330 Jahre Alter Koog, ohne Ort 1985. [176] Ambergen: Walter Schultze: 1000 Jahre Ambergen, Goldenstedt-Ambergen 1980. [34] Ankershagen: Christa Kostolnik: Die Geschichte des mecklenburgischen Dorfes Ankershagen. Heimatort des Trojaforschers Heinrich Schliemann. 1250–2010, Friedland 2011. [162] Argenstein: Günther Klein: Argenstein an der Lahn. Argorstene oder Argozstene. Ortsteil der Gemeinde Weimar (Lahn). 1332–2007. Chronik, Weimar a. d.Lahn 2007. [52, 142] Asweiler: Gisela Müller : Spurensuche. Asweiler Dorfgeschichte, Asweiler 2011. [25, 30, 90– 92] Auerbach: Hans-Jürgen Kugler : Auerbach in der Oberpfalz. Die Geschichte seiner Häuser und Familien. 2 Bde., Auerbach in der Oberpfalz 2008/2010. [23, 74–76] Aufhausen: Jakob Besenreiter/Karl Huf (Hg.): Gemeinde Aufhausen. Heimatkundliches Geschichts- und Lesebuch, Regensburg 1997. [46, 121] Bachem: Heimatverein Bachem (Hg.): Das alte Bachem in Wort und Bild, Merzig 1987. [22, 73] Ballenhausen/Bodenhausen: Fritz Scheidemann/Heinrich Lücke: Aus der Geschichte von Ballenhausen und Bodenhausen, Ballenhausen 1959. [180] Banzkow: Gemeinde Banzkow (Hg.): Chronik der Gemeinde Banzkow. Ein Lewitzdorf im Wandel der Zeit, Banzkow 2000. [280] Bärnau: Christine Brunner-Hastreiter : Bärnau. Ein Heimatbuch, Bärnau 1972. [109] Beilngries: Michael Schattenhofer : Beilngries. Chronik zur Neunhundertjahrfeier der Marktverleihung, Kallmünz i.d.Oberpfalz 1953. [216] Benshausen: Karl Weise: Benshausen. Ein Heimatbuch, Benshausen 1992. [302] Berge: Heimatverein Berge (Hg.): Berge – Kreis Bersenbrück. Dorfgeschichte, Heimatbilder, Chroniken, Berge 1954. [185] Bergen: Karl Heitmann: Bergener Geschichtsquellen. Ereignisse und Gestalten von der Jahrhundertwende bis zum Jahre 1939 Aus Exemplaren des »Boten aus dem ehemal. Amte Bergen«. Grundlagen zur Geschichte der alten Amtsvogtei, des späteren Amts und des Kirchspiels Bergen bei Celle 1930–1939, Bergen 1958. [71] Biesingen: Benno Boßlet: Biesingen 1206–2006. 800 Jahre Dorfgeschichte. Ein Heimatbuch anlässlich der urkundlichen Ersterwähnung von Biesingen vor 800 Jahren, Biesingen 2006. [49] Bissendorf: Heinrich Henstorf: Chronik von Bissendorf, Hannover 1939. [193] Bliesdahlheim: Arbeits- und Förderverein für Bliesdalheimer Dorfgeschichte e.V.: Bliesdalheimer Weissbuch von 1875 bis 2004, Bliesdalheim 2005. [72, 125] Bobbin: Lutz Goldfuß: Es war einmal…in einem Dorf auf Rügen. Bobbin im 20. Jahrhundert, Admannshagen-Bargeshagen 2013. [95] Bodenwerder : Karl Rose: Chronik der »Münchhausenstadt« Bodenwerder, Stadtoldendorf 1937. [188]
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Anhang
Bohmstedt: Gemeinde Bohmstedt/Arbeitsgemeinschaft Chronik (Hg.): Bohmstedter Chronik, Heft I–III, Bredstedt 1988/1989/1990. [171] Börßum: Georg Juranek: Das Dorf Börßum und seine Bewohner einst und jetzt. Ein Heimatbuch, Börßum 1974. [22, 143–144, 186] Bosbüll: Peter M. Paulsen/Albert Panten: Chronik der Gemeinde Bosbüll, Niebüll 2002. [149] Bothfeld: Gerhard Stoffert/Bernd Sperlich: Von Botvelde 1274 bis Bothfeld 2009. Chronik & Heimatbuch in zwei Teilen, 2 Bde., Hannover 2009. [52, 62, 227] Bramstedtlund: Hans Christian Davidsen: Bramstedtlund. Geschichte und Geschichten aus einer Schleswigschen Geestgemeinde, Bd.1., Bramstedtlund 1981. [32–34, 147] Brehme: Lothar Wandt: Brehme. Geschichte und Geschichten – Ein Heimatbuch, Duderstadt 2012. [62] Breitenborn: Breitenborner Verein für Heimat- und Brauchtumspflege (Hg.): 400 Jahr Breitenborn, Gründau-Breitenborn 2005. [54] Breitenbrunn: Eduard Dietz: Preitprunnin. 2000 Jahre Geschichte im Tal der Laber, Breitenbrunn 1986. [30, 125] Brennberg: Hans K. H. Schreier : Brennbergs Anwesen I und II: Geschichte der Anwesen des Gemeindeteiles Brennberg, Brennberg 2001/2010. [23, 36] Britten: AG Chronik »777 Jahre Britten«: 777 Jahre Britten. Eine Chronik, Britten 2005. [107] Brünnighausen: Ludwig Kerkmann/Hans Dobbertin: Brünnighausen. Kreis HamelnPyrmont. Chronik eines Dorfes, Brünnighausen 1964. [68, 88–89, 188] Buchbach: Marktgemeinde Buchbach (Hg.): 1200 Jahre Buchbach, Buchbach 1988. [32] Budberg: Gerhard Köhnen: Chronik der Gemeinde Budberg Kreis Moers, Budberg 1971. [186] Cramonshagen: Gemeinde Cramonshagen (Hg.): Chronik der Gemeinde Cramonshagen. Aus der Geschichte der Dörfer Cramon, Cramonshagen und Nienmark, Cramonshagen 2008/2009. [89] Dalberg: Gemeinde Dalberg (Hg.): 725 Jahre Dorf Dalberg (1271–1996). Aus der Geschichte eines Dorfes, Dalberg 1996. [64] Danndorf: Dietrich Wilkens: 850 Jahre Danndorf – Danndorfer Chronik, Danndorf 2001. [29] Dernbach I: Marianne Pöller-Salzmann (Hg.): Chronik von Dernbach. Ein Dorf mit Geschichte, 1977. [32, 195] Dernbach II: Ortsgemeinde Dernbach (Hg.): 700 Jahre Dernbach – 1300–2000, Rheinbreitbach 2000. [52, 103–104] Dietersheim: Franz Alois Como: Chronik des Dorfes Dietersheim, Koblenz 1952. [129– 130] Dill: Fritz Schellack: Dill – ein Burgdorf mitten im Hunsrück, Dill 2008. [156] Döbernitz: Heimatverein Döbernitz e.V.: 700 Jahre Döbernitz, Döbernitz 2010. [22, 40] Dohnsen-Wohlde: Ewald Schrader : Chronik Dohnsen-Wohlde. Mit Siddernhausen, Roxhüllen, Hünenburg und Salzmoor, Bergen 1976. [190] Dorfmark: Adolf Domeier u. a.: Ortschronik Dorfmark. Fischendorf – Westendorf – Winkelhausen, Fallingbostel 1994. [88–89] Dromersheim: Gemeinde Dromersheim (Hg.): 1200 Jahre Weinbaugemeinde Dromersheim bei Bingen am Rhein, Dromersheim 1956. [123, 155–156]
Ortschroniken
329
Ebersdorf: Rudolf Steudtner/Egon Storch: Aus der Vergangenheit des Ortes Ebersdorf bei Löbau. Ortschronik, Ebersdorf 1991. [320] Edewecht: Gemeinde Edewecht (Hg.): 800 Jahre Edewecht. Eine Jubiläumsschrift für alle Freunde der Gemeinde, Edewecht 1950. [39, 173] Eggenfelden: Josef Haushofer : Geschichte von Eggenfelden, Eggenfelden 1977. [141] Eglfing: Gemeinde Eglfing (Hg.): Gemeinde Eglfing. Obereglfing, Untereglfing, Tauting und der Weiler Heimgarten. Ein Heimat- und Volksbuch, Eglfing 1992. [116–117, 142] Egling/Heinrichshofen: Johann Burkart: Ortsgeschichte von Egling und Heinrichshofen. Landkreis Landsberg am Lech, Landsberg a.Lech 1954. [109, 148, 156] Einöd-Ingweiler : Joseph Müller : Orts- und Familien-Geschichte der Gemeinde EinödIngweiler (Saarpfalz), Kusel 1938. [209] Eisdorf/Willensen: Michael Gajewski: Chronik Eisdorf/Willensen 1932–2000, Eisdorf 2001. [151, 177–178] Eiweiler : Viktor Heck/Edwin Didas: Eiweiler Lesebuch. Geschichte und Geschichte aus unserem Dorf, Nonnweiler 1999. [100, 161] Ellierode: Kurt Kronenberg: Ellierode. Das verborgene Dorf. Chronik, Bad Gandersheim 1963. [4, 99] Emmersweiler: Heimatkundlicher Verein Warndt e.V. (Hg.): Emmersweiler. Ein Grenzort im Warndt, Völklingen 1995. [84] Ensheim: Helmut Wilhelm/Alexander Wilhelm (Hg.): Ensheim. Ortschronik Ensheim. Wechselvolle Geschichte unseres Dorfes im Wandel der Zeiten, Ensheim 1977. [46, 107] Epterode: Hermann Nobel u. a.: Chronik Epterode. Von Euerharderot zu Epterorde. 825 Jahre Epterode, Großalmerode 2007. [34, 52, 54, 199] Ergeshausen: Richard Pfeifer/Manfred Keiling: Ergeshausen im Wandel der Zeit. Die Geschichte des Dorfes, Ergeshausen 2002. [32] Eschbach: Gemeinde Eschbach (Hg.): Eschbach. Geschichte eines Dorfes, Eschbach 2004. [151, 155] Eschlkam: Josef Pongratz: Eschlkam. Ein Heimatbuch, Eschlkam 1973. [186–187] Eschringen: Heinrich Moog/Roland Schmitt: Eschringen im Wandel der Zeiten. Eine kleine Ortsgeschichte – nicht nur für junge Leser, Saarbrücken 2004. [126] Este: Friedrich Gerdes: Chronik des Kirchspiels an der Este, Rotenburg a. d.Wümme 1969. [188] Ewighausen: Ortsgemeinde Ewighausen (Hg.): 600 Jahre Ortsgemeinde Ewighausen. 24.– 25. Mai 1997, Ewighausen 1997. [23] Fachbach: Ursula Rindsfüsser (Hg.): Fachbach an der Lahn. Geschichte wird lebendig, Fachbach 2006. [73] Fallingbostel: Wilhelm Westermann: Orts-Chronik von Fallingbostel, 2 Bde., Hannover 1949/1952. [122, 164, 181, 186, 189, 211] Fickingen-Saarfels: Robert Werwie: Aus der Vergangenheit des Dorfes Fickingen-Saarfels, Saarfels 1995. [44] Flegessen: Heinrich Niclas: Chronik von Flegessen, Hannover 1958. [21, 51, 71] Flögeln: Eduard Rüther/Georg Holthusen: Chronik von Flögeln, Otterndorf 1952. [45, 190] Floß: Adolf Wolfgang Schuster (Hg.): 1000 Jahre Floss, Floss 1976. [163–164] Freisen: Franz-Rudolf Klos: 775 Jahre Freisen. Festtage vom 11.–13. Juni 2010, Freisen 2010. [129] Fürweiler : Emilie Stors: Fürweiler Dorfgeschichte, Merzig 2009. [25, 155]
330
Anhang
Garbenheim: Waldemar Küther (Hg.): Garbenheim 776–1976. Ein Heimatbuch, Garbenheim 1976. [85] Garding: Ulf O. Postel (Hg.): 400 Jahre Stadt Garding. Blick in die Geschichte, Neumünster 1990. [102] Geithain: Gottfried Senf: Chronik der Stadt Geithain. III: Von 1924–2000, Geithain 2011. [40, 319] Georgsdorf: Gemeinde Georgsdorf (Hg.): Georgsdorf – eine Ortschronik, Nordhorn 1991. [101–102] Gersdorf: Isidor Hottenroth: Blicke in die Vergangenheit Gersdorf ’s, Gersdorf 1991. [44– 45, 319] Gerstungen: Gerhard Rösing (Hg.): 1250 Jahre Gerstungen. Ein Heimatbuch, Ringgau 1993. [43] Gevelsberg: Franz Overkott: Gevelsberg. Die Kleineisen-Industriestadt an der Ennepe. Ein Heimatbuch, Gevelsberg 1956. [89–90] Gischow: Jürgen Wolff: Gischow. Aus der Geschichte eines kleinen Bauerndorfes, Lübz 2011. [70] Goldenstedt I: Walter Schultze: Goldenstedt. Heimatkunde einer südoldenburgischen Gemeinde, Goldenstedt 1965. [59, 191] Goldenstedt II: Walter Schultze/Engelbert Hasenkamp: Goldenstedt im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte der Gemeinden Goldenstedt und Lutten im Oldenburger Münsterland, Goldenstedt 2003. [191] Gränitz: Hanna Ellmann/Heidemarie Liebscher : Gränitz. Ein Grenzdorf im Freiberger Land, Brand 2013. [319] Großköllnbach: Adolf Moser :Aus der Geschichte Großköllnbachs sowie der Grafen von Leonsberg und des Landgerichts Leonsberg, Pullach 1958. [104, 190, 322] Großpösna: Renate Müller (Hg.): Ortschronik Großpösna, Dreiskau-Muckern 2003. [22, 280] Güdingen: Emil Schäfer (Hg.): Festschrift 700 Jahre Güdingen, Güdingen 1959. [177] Haching: Karl Hobmair : Hachinger Heimatbuch, Oberhaching 1979. [200] Hachmühlen: Heinz-Peter Willmer (Hg.): 750 Jahre Hachmühlen, Hachmühlen 1968. [38] Haieshausen: H. Ehlers: Chronik der Gemeinde Haieshausen im Leinetal, Haieshausen 1957. [104, 170–171, 190] Harlingen: Bruno Welsch: Harlingen. Ein Dorf am Sonnenhang des Hohe Berges. Wallfahrtsort, Merzig 2010. [63–64, 78–81] Harzburg: Otto Rohkamm: 1000 Jahre Harzburg. Aus der Chronik einer kleinen Stadt, Bad Harzburg 1972. [51, 194] Hasborn-Dautweiler : Johann Engel: Tausend Jahre Hasborn-Dautweiler. Ein Heimatbuch, Hasborn-Dautweiler 1964. [31, 190] Haslach: Karl Rosenegger : Geschichte der politischen Gemeinde Haslach 1818–1978, Traunstein 1984. [157–158] Hasselbach: Ortsgemeinde Hasselbach (Hg.): 750 Jahre Ortsgemeinde Hasselbach. 1262– 2012, Hasselbach 2012. [82–83] Hausbay : Werner Stoffel: Ortschronik Hausbay – Hunsrück, Hausbay 2007. [64] Hegenlohe: Manfred Langhans: Hegenloher Heimatbuch. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des mittleren Schurwaldes, Hegenlohe 1969. [105]
Ortschroniken
331
Heiligenwald: Nikolaus Schmitt: Chronik der Gemeinde Heiligenwald. Zur 200-Jahrfeier der Ortsgründung, Neunkirchen 1954. [35, 121, 123–124, 157] Herrenkoog: Albert A. Panten (Hg.): Chronik des Herrenkoogs, Herrenkoog 1985. [124] Hertigswalde: Bernd Strunz (Hg.): Hertigswalde. Von Hertewigisswalde zum Ortsteil von Sebnitz 1446–2001. Beiträge zu einer Chronik, Sebnitz 2001. [171] Hillesheim: Hermann Meyer: Hillesheim. Die Geschichte eines Eifelstädtchens, Trier 1962. [39, 132–133] Hiltpoltstein: Marktgemeinde Hiltpoltstein (Hg.): 900 Jahre Hiltpoltstein. 1109–2009. »Hier lässt es sich gut leben«, Hiltpoltstein 2009. [121] Himmelpforten: Christoph Schomerus: 700 Jahre Himmelpforten, Stade 1951. [53, 103] Hirschau: Heribert Batzl: Geschichte der Stadt Hirschau, Hirschau 1968. [139–141] Hohenkirchen: Geschichtswerkstatt Wangerland e.V. (Hg.): Beiträge zur Ortschronik von Hohenkirchen, Wangerland 2001. [43, 48] Holdorf: Ernst Böhm/Johannes Kampers/Barbara Schlärmann (Hg.): Gemeindechronik Holdorf. 1188–1988, Holdorf 1988. [168] Hollern-Twielenfleth: Altländer Sparkasse (Hg.): Hollern-Twielenfleth, Stade 1984. [44] Hondelage: Gerhard Bothe (Hg.): Chronik des Dorfes Hondelage, Hondelage 1975. [165] Hordorf: Erich Schlüter (Hg.): Hordorfer Chronik. Überlieferte und erlebte Geschichte und Erzählungen, Cremlingen 1989. [33, 67–68] Hotteln: Erich Rühmkorf: Hotteln. Chronik eines Dorfes, Hildesheim 1976. [172, 195] Hüttigweiler I: Johann Engel: Hüttigweiler. Das Dorf und seine Geschichte, Hüttigweiler 1959. [102, 190] Hüttigweiler II: Martin Mark: Historische Hüttigweiler Begebenheiten. Zeitraum 1480– 2004. Erforscht und erzählt von Martin Mark, Hüttigweiler 2005. [100–101] Ilten: Hugo Remmert: Aus Iltens Geschichte, Bd. 1, Sehnde 1962. [106] Ittersdorf: Hermann Maisant: Von Ucelstorf bis Ittersdorf. Dorfchronik, Wallerfangen 1989. [160, 196, 313] Jonsdorf: Andreas Wenzel: Jonsdorf in vergangenen Zeiten. Ein Streifzug durch das soziale und kulturelle Leben des Ortes in Bildern und Dokumenten. Bd. 2, Olbersdorf 2013. [39] Jühnde: Joachim Jünemann: Eine Chronik von Burg und Dorf. Jühnde zur Tausendjahrfeier gewidmet, Göttingen 1960. [190, 194] Kahlenberg: Lutz Baumbach/Birgit Eichler/Christina Reißig: Festschrift zum Ortsjubliäum 750 Jahre Kahlenberg, Wutha-Farnroda 1998. [35] Karlsbrunn: Günther Blatter (Hg.): Karlsbrunn. Ein Heimatbuch. Geschichte und Geschichten, Großrosseln 2003. [42] Katlenburg: Karl-Heinz Oley (Hg.): Katlenburg. Geschichte und Gegenwart, KatlenburgLindau 1989. [92–93] Katzenelnbogen: Bernhard Meyer : 700 Jahre Stadt Katzenelnbogen. Eine Heimatgeschichte zur 700. Wiederkehr der Verleihung der Stadt- und Marktrechte für Katzelnbogen, Katzelnbogen 2012. [121] Kaufering: Bernhard Müller-Hahl (Hg.): Ortsgeschichte von Kaufering. Landkreis Landsberg, Landsberg a. Lech 1952. [190] Kiefersfelden: Hans Moser : Chronik von Kiefersfelden, Rosenheim 1959. [189] Kirchlinteln: Robert Kienzle (Hg.): Chronik Kirchlinteln, Kirchlinteln 1969. [39, 47]
332
Anhang
Klarenthal: Andreas Schönberger/Alfred Marx: Gemeinde Klarenthal 1662–1962, Saarlouis 1962. [35, 89] Kleinbobritzsch: Birgit Grosch (Hg.): Ortschronik Kleinbobritzsch. 1335–2003, Frauenstein 2004. [67, 93] Kleinopitz: Werner Kerndt (Hg.): Chronik von Kleinopitz. 1. Teil 14. bis 19. Jahrhundert/ 2. Teil 19. und 20. Jahrhundert, Nossen 1999. [58] Klepelshagen: Hildegard Wegener : 700 Jahre Klepelshagen. Ein Dorf in der Uckermark, Milow 1995. [319] Knau/Unterzetzscha: Elfriede Külbel: Ortschronik Knau und Unterzetzscha. Aus Anlass des 100. Geburtstages des Heimatforschers Kuno Apel am 23. 3. 2002, Altenburg 2002. [25, 206] Körkwitz: Margot Krempien: Körkwitz. Chronik eines mecklenburgischen Dorfes am Ribnitzer See 1257–2012, Körkwitz 2012. [40–41] Kotzenbüll: Hans Green u. a.: 500 Jahre Kirchspiel Kotzenbüll (= Eiderstedter Hefte 2), St.Peter-Ording 1995. [54, 129] Kranichfeld: Wolfgang Kahl: Geschichte der Stadt Kranichfeld. Ein Heimatbuch, Bad Langensalza 2012. [318] Kreuzebra: Ludwig Pfad u. a.: Kreuzebra. Ein Geschichts- und Heimatbuch, Duderstadt 2001. [103, 200] Kreuzweiler/Dilmar : Sandra Ost: Kreuzweiler – Dilmar – Schloss Thorn. Eine Ortschronik, Trier 2011. [39–40] Krölpa: Rudi Klein u. a.: Krölpa. Eine Ortschronik, Krölpa 1998. [62] Kuhstorf: Georg Baumgart: 650 Jahre Kuhstorf. Dit un dat öwer uns Dörp. Gestern und heute, Kuhstorf 2013. [168] Langelsheim: Heinrich Schlüter : Kriegsende und demokratischer Neubeginn in Langelsheim. Dokumentation der Ereignisse seit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Langelsheim am 10. April 1945 bis zum Jahr der Währungsreform 1948. Ein Beitrag zur Ortschronik, Landelsheim 2002. [166] Langenhanshagen: Eleonore Rösel: Ein Dorf abseits der großen Straßen. Chronik von Langenhanshagen, Ribnitz-Damgarten 1995. [137, 144–145] Leck: Herbert G. Hegedo/Georg Koester : 750 Jahre Leck. Zahlen – Fakten – Impressionen, Husum 1981. [48, 239] Leisnig: Max Grimmer : Chronik von Leisnig. 1700–1954, Leisnig 2003. [280] Leopoldshagen: Ute Rahm: 250 Jahre Leopoldshagen. 1748–1998. Vom Kolonistendorf zum Dorf der Jahrtausendwende, Leopoldshagen 1998. [124, 280] Leubingen: Heimatfreunde Leubingen e.V.: Heimatbuch des Dorfes Leubingen. Von der Ersterwähnung bis zur Gegenwart, Sömmerda 2005. [103–104, 302, 320] Lichtenhain: Irmtraut Hille: Das Kirchdorf Lichtenhain in der Sächsischen Schweiz. Chronik Teil 4: Vom Ende der Weimarer Republik (1933) bis zur LPG-Gründung (1960), Altendorf 2010. [112–113] Lisdorf: Lisdorfer Institutionen und Vereine (Hg.): Lisdorf 1100 Jahre – 911–2011. Festschrift zum Jubiläum, Saarlouis 2011. [43, 121] Lohkirchen: Rita Huber-Sperl: Festschrift zum 1200jährigen Jubiläum der Gemeinde Lohkirchen. Geschichte des Pfarr- und Bauerndorfes Lohkirchen, Lohkirchen 1990. [114–115]
Ortschroniken
333
Lohnde: Ortsrat Lohnde (Hg.): Ortsgeschichte Lohnde. Vom Ursprung in die Gegenwart, Bd. 1, Seelze 1982. [52, 180] Lüptitz: Georg Rolf Petersitzke: Die geschichtliche Entwicklung des Ortes Lüptitz von der Ersterwähnung im Jahre 1185 bis zum Jahr 2010 – Teil 1 Die Chronologie des Ortes Lüptitz, Leipzig 2010. [280] Mainzweiler : Ortsrat Mainzweiler (Hg.): Heimatbuch Mainzweiler. Ein Dorf und seine Menschen im Laufe der Geschichte, Ottweiler 1988. [69–70] Maitzborn: Christa Eckes: Maitzborn 1304–1988. Chronik einer Hunsrückgemeinde, Maitzborn 1988. [39, 43, 47, 49] Marktschorgast: Heinrich Fuchs: Marktschorgast. Pfarrei, Amt und Markt. Ein Gang durch seine Geschichte 1109–1959, Bamberg 1959. [62, 189, 198] Mauggen: Arbeitskreis »Ortschronik Mauggen«: Ortschronik Mauggen – 1053–2003. Die Geschichte eines ländlichen Dorfes im Landkreis Erding, Mauggen 2003. [93] Merten: Wilhelm Andreas Sechtem: Unser Merten. Geschichte und Geschichten, Bonn 1993. [101, 106, 152, 163] Merzig: Stadt Merzig (Hg.): 100 Jahre Stadt Merzig. Festwoche der Stadt Merzig vom 25. Mai bis 2. Juni 1957 anlässlich der Verleihung der Rheinischen Städteordnung, Merzig 1957. [56, 63, 80] Mestlin: Günther Peters/Andrea Matischewski/Dieter Garling: Mestlin. Chronik eines mecklenburgischen Dorfes. Von der Vorgeschichte bis 1945, Mestlin 2001. [39, 69, 152– 153, 172–173] Mittweida: Reinhard Oldeweme (Hg.): Heimatbuch Mittweida. Beiträge zur Stadtgeschichte, Horb a. Neckar 1999. [93] Molbitz: Elfriede Külbel: Ortschronik von Molbitz. Von den ehemaligen Dörfern Obermolbitz und Untermolbitz bis zum heutigen Ortsteil der Gemeinde Rositz, Altenburg 2009. [25, 130, 161] Monreal: Friedrich Hermes: Heimatchronik von Monreal in der Eifel, 2. Auflage, Merzig 2011. [39, 142, 150] Möschlitz: Bürgerverein Möschlitz e.V. (Hg.): 675 Jahre Möschlitz. Ein Heimatbuch, Möschlitz 2008. [131, 319] Naßweiler : Heimatkundlicher Verein Warndt e.V. (Hg.): Naßweiler. Ein lebendiges Dorf stellt sich vor, Völklingen 2009. [74, 76, 180] Nennig: Waldemar Bach: Ortschronik Nennig, Bd. 1, Perl 1987. [40, 55–56, 142] Neubeuern: Josef Bernrieder : Chronik des Marktes Neubeuern. Ein Heimatbuch, Neubeuern 1987. [107, 127, 156, 173, 190] Neuweiler : Ortsinteressenverband Neuweiler/Verkehrs- und Heimatverein der Stadt Sulzbach: 250 Jahre Neuweiler. Festschrift zur Jubelfeier am 2.–4. Juni 1962, Neuweiler 1962. [198] Niederbexbach: Hubert Roeder : 700 Jahre Niederbexbach., Niederbexbach 2010. [59–60] Nienburg: Hans-Otto Schneegluth: Nienburg, Erfurt 2003. [142] Nitzlbuch/Bernreuth: Hans-Jürgen Kugler : Nitzlbuch/Bernreuth. Geschichte einer bäuerlichen Region in der nördlichen Oberpfalz, Auerbach 2000. [161] Nöpke: Fritz Winkel (Hg.): Chronik der Gemeinde Nöpke im Rahmen der niedersächsischen Landesgeschichte, Wunstorf 1958. [165] Oberböhmsdorf: Dorf- und Heimatverein Oberböhmsdorf e.V. (Hg.): 675 Jahre Oberböhmsdorf. Ein Heimatbuch, Schleiz 2008. [123–124, 159–160]
334
Anhang
Obercunnersdorf: Arbeitsgruppe Heimatpflege der Gemeinde Obercunnersdorf (Hg.): Obercunnersdorf. Beiträge zur Ortsgeschichte 1221–1996, Obercunnersdorf 1996. [280, 290] Oberföhring: Fritz Lutz: Oberföhring. Zur 75-Jahrfeier der Eingemeidung Oberföhrings, Buchendorf 1988. [57] Oberzell: Richard Miller : Beiträge zur Geschichte des Marktes Oberzell, Passau 1963. [189] Oetzen: Hans Grün/Ernst-August Steinfeld: Oetzen. Dorfchronik 1192–1992, Oetzen 1992. [147] Ommersheim: Gemeinde Ommersheim (Hg.): Gemeinde Ommersheim. Festschrift zum Heimatfest vom 30. Mai bis 2. Juni 1959, Dudweiler 1959. [166] Orscholz: Albert Enderlein: Orscholz 1100 Jahre – 911–2011, Nalbach 2010. [52] Oster-Ohrstedt: Gemeinde Oster-Ohrstedt (Hg.): Chronik der Gemeinde Oster-Ohrstedt, Oster-Ohrstedt 1989. [105, 176] Painten: Markt Painten (Hg.): Painten in Geschichte und Gegenwart, Hemau 2005. [38, 89] Pestenacker : Bernhard Müller-Hahl (Hg.): Ortsgeschichte Pestenacker – Landkreis Pestenacker, Dießen 1951. [57, 148, 190] Pfaffschwende: Walter Fricke: Ortschronik von Pfaffschwende 1399–1999, Pfaffschwende 1999. [319] Plau: Karl Friedrich Gebert: Chronik der Stadt Plau. Aus frühester Vergangenheit bis zum Jahre 1975, Ratzeburg 1975. [293] Pliening: Willi Kneißl u. a.: 1200 Jahre Pliening, Pliening 2013. [83–84] Pölchow: Anke Sperling: Chronik der Gemeinde Pölchow, Pölchow 2013. [280] Rabenau: Dietrich Noack: Ein Gang durch die Geschichte der Stuhlbauerstadt Rabenau und ihrer Ortsteile. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Rabenau 2010. [64] Rantum: Heinz Brich: Nordseebad Rantum/Sylt. Leben zwischen zwei Meeren. Chronik des Seebades Rantum. 1945–1998, Rantum 1998. [150–151, 173] Rehburg: Werner Hübner : Rehburg. Geschichte einer kleinen Stadt, Rehburg 1966. [34–35, 133–134] Reichertshofen: Martin Sedlmeier : Chronik Markt Reichertshofen, Reichertshofen 2011. [119–120, 158–159] Reiskirchen: Erich Scherer/Werner Brass: Reiskircher Geschichte(n). Tatsachen, Anekdoten, Nacherzählungen, Reiskirchen 2013. [106] Riegelsberg: Hans-Walter Herrmann (Hg.): Ortschronik Riegelsberg. Entstehung und Entwicklung einer modernen Wohngemeinde, Riegelsberg 1980. [49] Rieps: Klaus Friedrich: Chronik der Gemeinde Rieps, Schwerin 2014. [36, 74] Rinding: Die Rindinger Bürgerinnen und Bürger (Hg.): Rinding. Die tausenjährige Geschichte einer Dorfgemeinschaft, verfasst und herausgegeben von den Rindingern daselbst im Juni 2010, Ebersberg 2010. [43–44] Ringelheim: Gustav Hartmann/Hildegard Hausdorf: Heimatgeschichte von Ringelheim – dem Hauptort des alten Salzgaues, Salzgitter 1956. [22, 171, 185] Roden: Ortsinteressenverein Roden e.V. (Hg.): Eine Zeitreise durch Roden. Geschichten von Rodenern – Für Rodener, Saarlouis 2011. [7] Rott am Inn: Richard Kirchlechner : Rott am Inn. Ortschronik, Horb am Neckar 2003. [109–110] Ruhla: Lothar Köllner u. a.: Mi Ruhl, mi Heimet. Ruhlaer Heimatbuch und Chronik. Bd. 1, Ruhla 2008. [20]
Ortschroniken
335
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Anhang
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Literatur
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Anhang
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