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German Pages 330 Year 2014
Anne Becker 9/11 als Bildereignis
Image | Band 58
Anne Becker hat nach ihrem Auslandsstudium in den USA Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Nordamerikastudien sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin studiert und 2013 promoviert. Sie arbeitet als Marktforscherin.
Anne Becker
9/11 als Bildereignis Zur visuellen Bewältigung des Anschlags
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Meinen Eltern
I NHALT 1. Einleitung und Darstellung des Untersuchungsverlaufs _ 9
1.1 Einleitung | 9 1.2 Darstellung des Untersuchungsverlaufs | 16 2. 9/11 als Bildereignis _ 21
2.1 Bild und Erfahrung in der Postmoderne | 27 2.1.1 Jean-François Lyotard: Das Erhabene als Ausdruck des Bruchs | 28 2.1.1.1 Das Sublime in der abstrakten Kunst: Die Werke Barnett Newmans | 39 2.1.2 Jean Baudrillard: Das Bild zwischen Realität und Virtualität | 44 2.1.2.1 Der 11. September als „symbolisches“ (Bild-) Ereignis | 49 2.1.3 Paul Virilio: Echtzeit-Bild und Echtzeit-Ereignis | 58 2.2 Zäsur 9/11: Bildereignis und Schreckenserfahrung | 69 3. Schrecken und Hoffnung: Der öffentliche Bilderkanon des 11. September _ 89
3.1 Das Schrecklich-Erhabene in Edmund Burkes Philosophischer Untersuchung (1757) | 93 3.2 Das Erhabene als Vehikel zur Schreckensbewältigung: Immanuel Kants Analytik des Erhabenen (1790) | 103 3.2.1 Das Mathematisch-Erhabene | 107 3.2.2 Das Dynamisch-Erhabene | 108 3.3 Die Aktualität von Burke und Kant für das Erlebnis der Bilder des 9/11 | 112 3.4 Thomas E. Franklin: Raising the Flag at Ground Zero (11.09.2001) | 122 3.4.1 Das Motiv der Flaggenhissung in der US-amerikanischen Kultur: Joe Rosenthals The Raising of the Flag on Iwo Jima (23.02.1945) | 128 3.4.2 Die Medienikone als Repräsentantin historischer Ereignisse | 134 3.4.2.1 Exkurs: Die traditionelle byzantinische Ikone und der mittelalterliche Bilderstreit | 137 3.4.3 Das Reportagebild als 9/11-Ikone | 145
3.5 „You are heroes“: Die Heroisierung der New Yorker Feuerwehrmänner | 166 3.5.1 Die Darstellung des Erhabenen in der Tragödie: Friedrich Schillers Dramentheorie Vom Pathetischen und Erhabenen (1803) | 171 3.5.1.1 Das Pathetischerhabene und dessen Darstellung in der tragischen Kunst | 175 3.5.1.2 Laokoon als Paradigma des leidenden Helden und Chiffre des Pathetischerhabenen | 181 3.5.2 „New York’s Bravest“: Konstruktion und Inszenierung der FDNY-Helden | 187 3.5.2.1 Held oder Opfer? (Themengruppe 1) | 191 3.5.2.2 Der Held im aktiven Widerstand gegen das Ausmaß der Katastrophe (Themengruppe 2) | 205 3.5.2.3 Der Held als politische Leitfigur (Themengruppe 3) | 210 3.5.2.4 „Hunks“, Pin-ups und Superhelden: FDNY Calendar of Heroes 2003 (Themengruppe 4) | 217 3.5.3 Fazit zu den Heldendarstellungen: Der Held im Informationszeitalter | 227 4. Verschwindende Bilder und Bilder des Verschwindens _ 233
4.1 Das Verschwinden der Stürzenden | 235 4.1.1 Richard Drew: Falling Man (11.09.2001) | 251 4.2 Bilddokumente des Verschwindens | 265 5. Schlussdiskussion und Ausblick _ 277
5.1 Schlussdiskussion | 277 5.2 Ausblick | 285 Bibliographie _ 289 Abbildungen _ 309 Abbildungsnachweise _ 323
1. Einleitung und Darstellung des Untersuchungsverlaufs
1.1 E INLEITUNG „Von all diesen Vorgängen“, so Jean Baudrillard über die Terroranschläge des 11. September 2001, „behalten wir vor allem das Erlebnis der Bilder, sie sind jetzt, ob wir es wollen oder nicht, unsere Urszene.“1 Damit beschreibt er ein zentrales Charakteristikum der Geschehnisse jenes Tages, die das Paradigma eines Bildereignisses von globalem Ausmaß darstellen. Zerstörung und physisches Geschehen der Terroranschläge sind an geographische Orte innerhalb der Vereinigten Staaten gebunden, aber dennoch wird der Schock der Katastrophe durch die Omnipräsenz der Kameras und die rund um die Uhr andauernde Berichterstattung global verbreitet. Ein Großteil der Weltbevölkerung erlebt die Anschläge vor den Bildschirmen – weitab vom tatsächlichen Geschehen. Dabei sind es vor allem die Bilder der Zerstörung aus New York, die das Ereignis und dessen Wahrnehmung nachhaltig prägen: hier generieren die Anschläge Bilder, die das Fassungsvermögen der Zuschauer überschreiten und sich in das visuelle Gedächtnis einer schockierten Bevölkerung einbrennen. Die Bilder einschlagender Passagierflugzeuge, der brennenden und schließlich in sich zusammensackenden gewaltigen Türme des World Trade Centers (WTC) laufen in einer
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Jean Baudrillard: Die Gewalt der Bilder. Hypothesen über den Terrorismus und das Attentat vom 11. September (S. 65-78). In: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Hrsgeg. von Peter Engelmann. Dt. Erstausgabe, Wien: Passagen 2002, S. 72
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Endlosschleife über die Bildschirme und versetzen gleichsam Rezipienten2 wie Medienschaffende in einen Zustand der Hilf- sowie Sprachlosigkeit. Selbst erfahrene Journalisten ringen angesichts des unfassbaren Geschehens mit den Worten; fassungslose Rezipienten sind unmittelbar und ungefiltert mit der Gewalt des Echtzeit-Bildes konfrontiert. Es sind Bilder, die sich nicht in den Normalbetrieb der Medien integrieren lassen und einen medialen Ausnahmezustand herbeiführen; daher bewirken die Terroranschläge neben dem Ausmaß der physischen Zerstörung auch eine bislang nicht gekannte Erschütterung der Medienlandschaft. Die mediale Vermittlung der Terroranschläge stellt ein neues Phänomen dar, da die Live-Bilder bislang bekannte Grenzen des Medienbildes überschreiten und die Trennung von primärer und sekundärer Erfahrung auflösen: die mediale Vermittlung bewirkt eine ‚echte‘ Schockerfahrung und die Bilder der Bedrohung werden selbst zur Bedrohung.3 Die Bedeutung des Bildes im Kontext 9/11 beschränkt sich nicht nur auf die Live-Aufnahmen der Anschläge und der Berichterstattung, sondern erstreckt sich auch auf die Katastrophenbewältigung, was vor dem Hintergrund der spezifischen Wirkung der Live-Bilder als ‚logischer‘ Schritt zu betrachten ist. Im Chaos des Ereignisses wird das Bild zum Vehikel, um Orientierung zu erlangen und des Schreckens mithilfe des Festhaltens im Bildobjekt habhaft zu werden. „Allein schon das Hantieren mit der Kamera“, so Susan Sontag in ihrer Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie, „ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung [...].“4 Aufgrund der Verfügbarkeit von Bildtechnologien im 21. Jahrhundert unterliegt die Bildproduktion nicht mehr nur den Medien, sondern jeder, der am 11. September und in den Tagen danach eine Kamera zur Hand hat, kann die Katastrophe visuell dokumentieren. Die Aufnahmen von professi-
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In dieser Arbeit wird zumeist die maskuline Form verwendet; dennoch sind auch stets Rezipientinnen, Betrachterinnen und Zuschauerinnen in die Argumentation mit einbezogen.
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Auf die neuartige Wirkung der Bilder im Hinblick auf die Überschreitung der Grenze zwischen primärer und sekundärer Erfahrung weisen die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie hin. Siehe dazu Kapitel 3.3 der vorliegenden Arbeit.
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Susan Sontag: In Platos Höhle (S. 9-30). In: Susan Sontag: Über Fotografie. 15. Auflage Frankfurt am Main: Fischer 2003, S. 15
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onellen Fotografen und Amateuren, die eine Bandbreite an unterschiedlichen Ausdrucksformen aufweisen, haben die Bilderflut, die das Ereignis generierte, zusätzlich zur medialen Bildproduktion angereichert. Dabei offenbart die Krisenbewältigung sowohl im Hinblick auf die (Reportage-) Bilder der Katastrophe selbst als auch auf den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit ihnen enorme Spannungsfelder, deren Analyse auf eine neue politische Dimension des Medienbildes verweist. Die visuellen Reaktionen offenbaren die Suche nach Ausdrucksformen für die unmittelbar als Zäsur empfundenen Geschehnisse bzw. nach Möglichkeiten eine nachträgliche Sinnproduktion für das singuläre historische Ereignis zu schaffen. Die Versuche einen Ausdruck für das Undarstellbare und Unkommunizierbare des traumatischen Ereignisses zu finden, manifestieren sich im Bildarchiv 9/11 sowohl im Rückgriff auf tradierte Bildschemata als auch in der Absage an tradierte Darstellung. An die unterschiedlichen Formen der visuellen Kommunikation sind spezifische non-verbale Botschaften gekoppelt mit unterschiedlichen Folgen für die Bewältigung des Traumas. Das Scheitern der Sprache angesichts von Schrecken, Chaos, Gewalt, Zerstörung, Desorientierung, Fassungslosigkeit – diese Charakteristika der Geschehnisse des 11. September 2001, für die das Datum 11. September oder 9/115 zur Chiffre geworden ist, verweisen auf eine ästhetische Kategorie,6 innerhalb derer seit Jahrhunderten Phänomene diskutiert werden, die
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Die Begriffe ‚11. September 2001‘, ‚11. September‘, Nine Eleven sowie 9/11 werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Das Datum ist zur Chiffre für das Ereignis der Terroranschläge in New York, Washington, D.C. sowie Shanksville, Pennsylvania geworden und auch wenn andere historische Ereignisse auf den 11. September fallen, so bezieht sich das Datum hier allein auf die Terroranschläge innerhalb der Vereinigten Staaten. Dadurch soll jedoch keinesfalls anderen Ereignissen, die auf dieses Datum fallen, ihre historische Bedeutung abgesprochen werden.
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Im Zuge der Querelle des Anciens et des Modernes im 17. Jahrhundert erfolgt eine Wiederbelebung der Schrift Vom Erhabenen des Pseudo-Longinus und nun erhält die ehemals im Rahmen der Rhetorik diskutierte Kategorie Eingang in die Ästhetik. (Vgl.: Maria Isabel Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen: Burke, Kant, Adorno, Lyotard. Wien: Passagen 1994, S. 17-18. Vgl. auch: Jörg Villwock: Sublime Rhetorik. Zu einigen noologischen Implikationen der Schrift Vom
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das Fassungsvermögen des Menschen überschreiten, seine Erkenntniskräfte überfordern und sich jenseits des gesellschaftlich Anerkannten bewegen. Es handelt sich hierbei um das sogenannte Erhabene, ein seit über zweitausend Jahren interkulturell existierendes komplexes Phänomen,7 das der Kategorie des Schönen, die das gesellschaftlich Anerkannte und eine harmonische Verbindung von Subjekt und Welt beschreibt, diametral entgegengestellt ist. Eine exakte Begriffsbestimmung des Sublimen8 erweist sich als äußerst schwierig, denn diese Kategorie ist nicht statisch und unterliegt keiner festen Definition – vielmehr stellt sich Undefinierbarkeit als ihr wesentlicher Charakterzug heraus, und so ist die Vorstellung des Sublimen im Laufe der Zeit stets Wandlungen und Umdeutungen unterworfen gewesen.9 Es wird sowohl auf Naturphänomene als auch auf das Göttliche bezogen, steht einmal für höchste Vollkommenheit, ein anderes Mal für Schrecken und Chaos.10 Dabei dient diese Kategorie zur Darstellung von Phänomenen und Erfahrungen, die sich jenseits der Grenzen des Rationalen befinden11 und sich einer Erfassung in Form und Sprache entziehen. Aufgrund der enormen Widersprüchlichkeit, die dem Sublimen inhärent ist, wird in den Diskussio-
Erhabenen. (S. 33-53). In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1989, S. 33) Weder Verfasser noch Entstehungszeit der Schrift Vom Erhabenen sind bislang eindeutig identifiziert. Vermutungen bezüglich der Entstehungszeit siedelt Jörg Villwock anhand seiner Untersuchungen zwischen dem ersten und dritten nach-christlichen Jahrhundert an. Vgl.: Villwock: Sublime Rhetorik, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 34 7
Vgl.: Klaus Poenicke: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts (S. 75-90). In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1989, S. 77
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Die Begriffe ‚Erhabenes‘ bzw. ‚erhaben‘ und ‚Sublimes‘ bzw. ,sublim‘ werden im Folgenden synonym verwendet.
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Vgl.: Christine Pries: Einleitung (S. 1-30). In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1989, S. 3
10 Vgl.: Pries: Einleitung, (S. 1-30). In: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 3 11 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 18
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nen stets auf Dichotomien und „extreme[...] Doppelungen“12 zurückgegriffen,13 die Ausdruck der besonderen Komplexität dieses Gefühls sind. Charakteristisch für das Erhabene ist, dass es nicht nur das eine Extrem des jeweiligen Spannungsfeldes bezeichnet, sondern es stellt ein Gefühl dar, in dem beide Extreme zugleich aktiviert werden und erweist sich daher als Grenzphänomen.14 Vor allem seit dem 18. Jahrhundert ist die Vorstellung, dass Phänomene existieren, die das rational Erfassbare und Vorstellbare überschreiten, mit dem Gefühl der Furcht verknüpft. So bringt das 18. Jahrhundert den spezifischen Typus des Schrecklich-Erhabenen hervor. Diese besondere Ausprägung des Sublimen entspringt der Angst vor einer Natur, die sich trotz des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Beherrschung durch das Subjekt entzieht und der der Mensch letztlich unterlegen ist.15 Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Diskussion um das Erhabene ebenfalls mit der Erfahrung des Schreckens verknüpft, dessen Quelle nun nicht mehr eine unberechenbare Natur sondern das Subjekt selbst ist. So muss sich die Postmoderne mit der bewusstseinsverändernden Wirkung vom Menschen verursachter Katastrophen wie dem Zweiten Weltkrieg, der Shoah und Hiroshima auseinandersetzen. Zudem stellen technologische Entwicklungen, u.a. die Informationstechnologien, einen Einschnitt im menschlichen Bewusstsein dar, rufen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen hervor und
12 Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 6 13 Vgl.: Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 6. „Irrationalität und Rationalität, [...] Abgrund und Übergang, Chaos und Ordnung“ (ebd., S. 11), sind nur einige Beispiele, die Christine Pries nennt. 14 Vgl.: Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 11 15 In seiner Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) stellt Edmund Burke den Schrecken ins Zentrum des Sublimen: „Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; [...] es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist.“ (Hervorh. i.O.) Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Hrsgeg. von Werner Strube. 2. Auflage, Hamburg: Meiner 1989, S. 72
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werden – explizit oder implizit – im Rahmen des Sublimen diskutiert. Essenzielle Unterschiede zu den Interpretationen des Erhabenen in der Aufklärung ergeben sich nicht nur im Hinblick auf die Quelle des Schreckens sondern auch im Hinblick auf das Resultat dieses Gefühls. Da das Erhabene durch Undarstellbarkeit und Unkommunizierbarkeit charakterisiert ist, mag es zunächst als Widerspruch erscheinen, das Bildereignis 9/11 vor dem Hintergrund dieser Kategorie zu untersuchen. Doch in einer Zeit, in der der Medienbetrieb das Sichtbarmachen im Bild verlangt, in der es als realitätsgetreues Abbild rezipiert wird und wesentliches Instrument der Erfahrung ist, stellen sich Fragen nach der Erfahrbarkeit von Geschehnissen durch das (Medien-) Bild sowie nach Möglichkeiten und Grenzen visueller Erfassung von Phänomenen, die sich in ihrer ungeheuren Dimension dem Fassungsvermögen des Subjekts entziehen. Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Wirkung der Bilder des 11. September 2001 auseinander und mit der Frage, wie sie die Erfahrung einer historischen Zäsur geprägt haben. Da es beim Typus des SchrecklichErhabenen auch um die Bewältigung erlebten Schreckens geht, wird neben der Wirkung der Live-Aufnahmen des Geschehens die Rolle des Bildes bei der Katastrophenbewältigung beleuchtet. Es ist zunächst vor allem die spezifische Wirkung der Live-Bilder, die den Kern des Bildereignisses ausmacht und von denjenigen Katastrophen abhebt, die Teil des alltäglichen Medienkonsums sind. Gerade der Umstand, dass die 9/11-Echtzeit-Bilder sich der Integration in den regulären Medienbetrieb verweigern, macht sie bedeutend für eine Betrachtungsweise, die von der klassischen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft abweicht. So ist die vorliegende Untersuchung ein Versuch, sich den Bildern und ihrer Wirkung anhand eines bildtheoretischen, interdisziplinären Ansatzes zu nähern: beispielsweise lässt sich vor dem Hintergrund postmoderner Medienkritik die besondere Wirkung der Live-Bilder untersuchen. Des Weiteren gibt eine kunsthistorische Betrachtung Aufschluss über Encodierung und Dechiffrierung non-verbaler Botschaften in Bildschemata und beleuchtet die kulturelle Verankerung sowie Bedeutung bestimmter Motive, die in Reportagebildern aufgegriffen werden. Basierend darauf lässt sich das Machtpotential spezifischer Darstellungen analysieren. Der Rückgriff auf philosophisch-ästhetische Aspekte dient dazu, Spannungsfelder innerhalb des Bildarchivs 9/11 aufzuzeigen, die erkenntnisfördernd im
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Hinblick auf gesellschaftliche Selbstbilder sind, die wiederum Wahrnehmung und Erinnerung des Ereignisses prägen. Auf einen interdisziplinären Ansatz zur Untersuchung der Bedeutung von Bildern für kollektive Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung von Kriegen greift auch der Historiker Gerhard Paul in Bilder des Krieges – Krieg der Bilder16 zurück.17 Er richtet den Fokus auf Visualisierungen unterschiedlicher historischer Kriegssituationen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert (u.a. auch Nine Eleven), da er ein Defizit in der deutschen Geschichtswissenschaft diagnostiziert, die sich schwerpunktmäßig mit texthaften historischen Quellen auseinandersetzt – das Bild (Fotografie, Film, Fernsehen und Internet) als historische Quelle jedoch weitgehend außer Acht lässt.18 Paul konzentriert seine Analyse auf diejenigen Bilder, die aufgrund verstärkter Publizierung und politischer Bevorzugung als ikonische Repräsentanten und als „das öffentliche Gesicht des Krieges“ gelten.19 Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von Pauls Ansatz darin, dass die Visualisierungen verstärkt vor dem Hintergrund von Spannungsfeldern diskutiert werden. So thematisiert die Untersuchung spezifischer Einzelbilder zusätzlich zu 9/11-Ikonen auch Aufnahmen, die entweder aktiv von der öffentlichen Bildfläche verbannt werden oder gar nicht erst besonders in den medialen Fokus geraten. Denn die Hervorhebung bestimmter Bilder hat stets zur Folge, dass andere Bilder überlagert, in den Hintergrund gedrängt und letztlich aus dem offiziellen Gedenken ausgeschlossen werden. Die ‚visuellen Randerscheinungen‘ erweisen sich als aufschlussreich, da sie im Gegensatz zu den Bildern des öffentlichen Bilderkanons darauf verweisen, was mit dem Selbstbild einer Gesellschaft nicht konform ist, was Irritation und Störgefühle erzeugt. Die Thematisierung von Polaritäten generiert letztlich ein umfassenderes Verständnis der mit der visuellen Kommunikation verknüpften Krisenbewältigung und den Folgen für öffentliches Gedenken sowie politisches Handeln nach dem 11. September 2001.
16 Gerhard Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004 17 Vgl.: Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder, S. 21 18 Vgl.: Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder, S. 16-17 19 Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder, S. 20
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1.2 D ARSTELLUNG DES U NTERSUCHUNGSVERLAUFS Im Einzelnen ergeben sich für die vorliegende Arbeit folgende Zielsetzungen: zunächst soll die Wirkung des Bildes bzw. medial vermittelten Bildereignisses im Hinblick auf die Erfahrung des Schreckens untersucht werden. Zudem wird aufgezeigt, dass auch in einer verbilderten und rationalisierten Welt Phänomene existieren, die sich der visuellen Fixierung entziehen, oder trotz bildhafter Erscheinung die Erkenntniskräfte des Subjekts außer Kraft setzen. Des Weiteren soll analysiert werden, welche Rolle dem (Medien-) Bild bei der Krisenbewältigung zukommt und welche visuellen Ausdrucksformen daraus hervorgehen. D.h. hier gilt es zu untersuchen, auf welche Codierungen zurückgegriffen wird, wie diese dechiffriert werden und welche Botschaften encodiert sind. Da das Medienbild weithin als Repräsentant der Realität gilt, besitzt es ein nicht zu unterschätzendes Machtpotential. So soll die Untersuchung der Visualisierungen des 9/11 auch dazu dienen, die politische Dimension der Kategorie des Erhabenen zu beleuchten. Nicht zuletzt ist es das Ziel dieser Arbeit aufzuzeigen, dass der 11. September 2001 als historische Zäsur eine neue Sensibilität für das visuelle Erfassen von Welt hervorgerufen bzw. Fragen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen sowie der Mechanismen medialer Reproduktion aufgeworfen hat. Die Arbeit gliedert sich in drei Untersuchungsstränge: der erste setzt sich mit dem Bildereignis auseinander, der zweite und dritte beschäftigen sich mit exemplarisch ausgewählten Bildern, wobei hier die Dichotomie zwischen einerseits häufiger und andererseits geringer medialer Reproduktion zugrunde gelegt wird. Als Untersuchungsgegenstand dienen die Bilder aus New York, da vor allem sie es sind, die „sich in unsere Netzhaut eingebrannt“20 haben. In Kapitel 2 erfolgt eine Analyse des Bildereignis 9/11 insgesamt, um die Geschehnisse in den Kontext des Schrecklich-Erhabenen einzuordnen. Das Paradox eines Ereignisses, das für viele Menschen durch das Bild stattfindet und dennoch die Erkenntniskräfte an Grenzen treibt, soll durch postmoderne Analysen und Medienkritik beleuchtet werden. Die Relevanz
20 Frank Berberich: Vorwort (S. 9-12). In: Haus am Lützowplatz, Lettre International, Berlin: Der Schock des 11. September und das Geheimnis des Anderen – Eine Dokumentation. Köln: König 2002, S. 9
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der Interpretationen postmoderner Denker ergibt sich zum einen daraus, dass sie sich mit vom Menschen verursachten Katastrophen auseinandersetzen und zum anderen, dass sie die Bedeutung des Bildes für die Erfahrung von Welt in den Vordergrund rücken. Jean-François Lyotard hat das Sublime in der Postmoderne neu interpretiert. Seine Abgrenzung zum Kantischen Erhabenen ermöglicht eine differenzierte Betrachtung derjenigen Bilder des 11. September, die verstärkt reproduziert werden und denen, die visuelle Randerscheinungen darstellen. Zudem bildet seine Auseinandersetzung mit dem Sublimen im Kontext der abstrakten bildenden Kunst einen Diskussionsrahmen für exemplarische Fotografien, die mit den Konventionen dieses Mediums brechen und sich neuen Ausdrucksweisen für die Darstellung der Geschehnisse zuwenden. In seinen Analysen des 11. September greift Jean Baudrillard das Sublime nicht explizit auf, implizit lassen sich jedoch auch hier Elemente des Erhabenen erkennen. Dabei ist seine Definition der Geschehnisse als „symbolisches Ereignis“21 von Bedeutung. Seine Relevanz für die vorliegende Arbeit besteht auch darin, dass er der Frage nachgeht, wie Wahrnehmung in einer verbilderten Welt funktioniert, wenn Realität und Fiktion für das Subjekt kaum zu unterscheiden sind. Im Zentrum von Paul Virilios Denken stehen das Thema der Geschwindigkeit und ihre Auswirkung auf Wahrnehmung. Er verknüpft Geschwindigkeit mit Medienkritik und das Bild ist zentraler Referenzpunkt seiner Analysen. Vor allem im Zeitalter der Echtzeit ist das Bild für Virilio politisch und er untersucht dessen Potential hinsichtlich der Beeinflussung gesellschaftlichen sowie politischen Handelns. Das dritte und vierte Kapitel widmen sich bildhaften Reaktionen auf die Katastrophe und deren Bewältigung mithilfe des Visuellen, wobei drei Komponenten untersucht werden: Bildproduktion, Reproduktion und Auslöschung von der öffentlichen Bildfläche. In Kapitel 3 stehen Aufnahmen im Fokus, die bei der Bewältigung und Etablierung einer Gedenkkultur des 11. September verstärkt medial reproduziert werden. Untersuchungsgegenstand sind sowohl ikonische Einzelbilder als auch Bildgruppen. Über den
21 Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes (S. 11-35). In: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Hrsgeg. von Peter Engelmann. Dt. Erstausgabe, Wien: Passagen 2002, S. 11
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Aspekt einer ästhetischen Betrachtungsweise hinaus eignen sich Aufnahmen wie Raising the Flag at Ground Zero (Fotograf: Thomas E. Franklin, 11.09.2001) dazu, die politische Dimension einer ästhetisierten Darstellung der Katastrophe zu beleuchten. Die Ästhetisierung des Schreckens ist ein Wesenszug der im 18. Jahrhundert entstandenen Theorien des SchrecklichErhabenen, in denen das Sublime als Vehikel dient die durch Naturkatastrophen verursachte Erschütterung des menschlichen Bewusstseins in die Selbststärkung des Subjekts zu überführen. Hier sind die Schriften von Edmund Burke sowie Immanuel Kant von Bedeutung, deren Aktualität im Hinblick auf das Bildereignis 9/11 untersucht wird. Der Begriff ‚Medienikone‘ ist trotz des säkularen Kontext im christlichen Verständnis verwurzelt. Da der traditionellen Ikone das Bestreben zugrunde liegt, mittels sinnlicher Codes auf das Übersinnliche zu verweisen, gibt sie Aufschluss über Mechanismen, wie Inhalt bzw. Botschaften encodiert sowie dechiffriert werden. Über kunstwissenschaftliche und ästhetische Aspekte hinaus manifestiert sich in der Ikone ein konkretes Machtpotential, das sich auch bei den Medienikonen des 11. September aufzeigen lässt. Der Versuch den Schrecken der Katastrophe zu transzendieren wird am Heroisierungsprozess der New Yorker Feuerwehrmänner dargestellt. Es soll untersucht werden, wie durch mediale Inszenierung ein Heldenmythos konstruiert wird, der u.a. auch dazu dient, politische Botschaften zu übermitteln. Zudem zeigen sich innerhalb dieser Bildgruppe enorme Spannungsfelder, die Anknüpfungspunkte an das Schrecklich-Erhabene bieten. Als theoretische Basis dient Friedrich Schillers Dramentheorie, in der Möglichkeiten ausgearbeitet sind, wie das Sublime im Rahmen der Tragödie einem anonymen Massenpublikum vermittelt werden kann und in der die Figur des tragischen Helden eine wesentliche Funktion übernimmt. Kapitel 4 ist als Gegenpol zu den verstärkt im öffentlichen Raum reproduzierten Bildern konzipiert: hier werden visuelle Dokumente untersucht, die bewusst von der medialen Bildfläche und somit aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden oder als visuelle Randerscheinungen eine geringere Reproduktion erfahren. Das übergreifende Thema der unterschiedlichen Aufnahmen bildet der Aspekt des Todes, der das Paradigma menschlicher Grenzerfahrung repräsentiert. Falling Man (Fotograf: Richard Drew, 11.09.2001) ist die Fotografie, deren Publizierung vor allem in den USA einen Aufschrei in der Bevölkerung hervorruft. Die Auseinandersetzung mit der Thematik der Stürzenden und die Bildanalyse des Falling Man sol-
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len die Gründe für die gesellschaftliche Ablehnung aufzeigen. Im vierten Kapitel werden darüber hinaus Fotografien untersucht, die mit dem traditionellen Verständnis dieses Mediums brechen und ein ungewohntes Phänomen im Medienalltag darstellen. Durch die Hinwendung zur Abstraktion implizieren sie die Suche nach neuen Ausdrucksformen für das Unvorstellbare der Katastrophe. In der vorliegenden Arbeit greife ich teilweise auf Erkenntnisse aus meiner Magisterabschlussarbeit mit dem Titel Das Erhabene in der amerikanischen Kunst im Zeitalter der Massenmedien (Freie Universität Berlin 2003, unveröffentlichtes Manuskript) zurück, in der ich an den Werken des Pop Art-Künstlers Andy Warhol Ausdrucksformen sowie die Relevanz des Sublimen in einer massenmedial geprägten Gesellschaft untersucht habe. Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit war die Feststellung, dass das Erhabene sich auch im Zeitalter der Massenmedien manifestiert und – auch wenn es Umdeutungen erfahren muss – Aktualität besitzt. Diese Erkenntnis dient als Ausgangspunkt für die Dissertation: hier geht es weniger darum, die Existenz bzw. Relevanz des Sublimen aufzuzeigen, als vielmehr spezifische Ausdrucksformen und Manifestationen im Hinblick auf die bildhaft vermittelte Schreckenserfahrung zu beleuchten.
2. 9/11 als Bildereignis
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„Es sind wahrscheinlich die stärksten Bilder unserer Zeit.“ David Westin (Nachrichtenchef des Fernsehsenders ABC)
Es ist weniger die sprachliche Fassung, die den Menschen das Ereignis 9/11 vermittelt hat, sondern es sind vor allem die Bilder, die im Zentrum der Rezeption der Terroranschläge stehen und die die Erfahrung, Wahrnehmung sowie Erinnerung der Katastrophe nachhaltig geprägt haben. „Die Realität der Bilder, nicht so sehr die Realität in Manhattan, wurde zur Folie, auf der Politiker und Militärs in der Folgezeit agierten. Die Konstruktion dieser Bilder, nicht so sehr das physische Ereignis selbst, war einmalig [...].“2 Die Wirkung des Visuellen erfuhr eine Steigerung durch die Simultanität von Ereignis und Berichterstattung in den audiovisuellen Medien, was dazu geführt hat, dass die Geschehnisse nicht allein im Hinblick auf politische Dimensionen sondern auch als Medien- bzw. Bildereignis rezipiert und diskutiert werden.3
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Zitiert nach: Harald Martenstein: Ein TV-Drama – inszeniert von den Tätern. In:
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Gerhard Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des
GEO Epoche: Der 11. September 2001 (2001), Nr. 7, S. 160 modernen Krieges. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, S. 438 3
„The attacks produced more pictures, bigger pictures, and more prominent pictures.“ Robert E. Denton, Jr.: The Language, Symbols, and Media of 9/11: An Introduction (S. 1-15). In: Robert E. Denton, Jr. (Hrsg.): The Language, Symbols, and the Media. Communication in the Aftermath of the World Trade Cen-
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Neben den bewegten Bildern der Anschläge und ihrer Folgen, die in Endlosschleifen auf den Bildschirmen wiederholt wurden, war auch in den Printmedien eine verstärkte Bildreproduktion zu verzeichnen, die noch mehr als einen Monat nach den Terroranschlägen anhielt.4 Aufgrund der Intensität der Bilder, vor allem die der rund um den Globus gesendeten LiveAufnahmen, werden die Informationsmedien und die durch sie verbreiteten Bilder auch als Teil der Planung der Anschläge und die Omnipräsenz der Kameras als das Kalkül der Attentäter begriffen.5 Zusätzlich zu den LiveBildern der Medienberichterstattung selber, spielten die mediale Übertragung bzw. der durch die Anschläge hervorgerufene mediale Ausnahmezustand auch eine Rolle in den bildhaften Reaktionen auf das Ereignis. So befinden sich beispielsweise in dem Katalog zu der Fotoausstellung Here is New York. A Democracy of Photographs6 eine Reihe von Fotografien, die
ter Attack. New Brunswick, New Jersey/USA, London/UK: Transaction Publishers 2004, S. 11 4
Vgl.: Denton: The Language, Symbols, and Media of 9/11: An Introduction, in:
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Immer wieder ist auf die Planung der Anschläge im Hinblick auf die Medien
Denton (Hrsg.): The Language, Symbols, and the Media, S. 11 verwiesen worden. So z.B. in einem Artikel der Onlineausgabe der Die Zeit: „Dass die Zerstörung als Spektakel für die Weltmedien inszeniert wurde, beweist die technische Versiertheit und die oft leichtfertig bezweifelte Zeitgenossenschaft der Attentäter.“ Ute Vorkoeper: Nach dem Bildersturm. In: Zeit Online vom 17.08.2006. Quelle: http://www.zeit.de/feuilleton/kunst_naechste_ generation/terror_5. Aufgerufen am 24.03.2010. 6
Alice Rose George (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.). Ihren Anfang nahm die Ausstellung Here is New York. A Democracy of Photographs am 12.09.2001 in Manhattan, als eine Fotografie des World Trade Centers im Fenster eines leerstehenden Geschäfts ausgehangen wurde. Die Natur des Bildereignisses beeinflusste das Ausstellungskonzept insofern, dass jeder Bürger sein Bild der Geschehnisse der Ausstellung zur Verfügung stellen konnte, unabhängig ob es sich um professionelle Fotografen oder Amateure handelte. Die Aufnahmen wurden nicht nur ausgestellt sondern waren als Ausdrucke auch käuflich zu erwerben. Jedes Bild, gleichgültig ob es von einem renommierten professionellen Fotografen oder von einem unbekannten Amateur stammte, wurde zu einem Preis von jeweils $25 angeboten. Für weitere Details hinsichtlich der
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die Medienberichterstattung selbst – quasi als Bild im Bild – zum Thema erheben, was als eine Art Rückkopplungseffekt betrachtet werden kann.7 Die Flut der durch die Medien verbreiteten Live-Bilder wurde zusätzlich angereichert durch eine kaum überschaubare Bildproduktion aus der Bevölkerung. Die Verbreitung und Verfügbarkeit von Bild- und Informationstechnologien ermöglichten es prinzipiell jedem, der die Geschehnisse vor Ort oder vor dem Bildschirm miterlebte, das Ereignis zu dokumentieren und als Bildobjekt zu fixieren. Dies brachte neben den massenmedialen Bildern eine Vielzahl unterschiedlicher visueller Ausdrucksformen für das Erleben und die Wahrnehmung der Katastrophe hervor. Die Fixierung im Bild kann als gesellschaftliches Ritual betrachtet werden, das als Instrument der Angstbewältigung diente, wobei laut Susan Sontag, gerade das Medium Fotografie von großer Bedeutung ist: „Sie [die Fotografie; A. B.] ist vornehmlich ein gesellschaftlicher Ritus, ein Abwehrmittel gegen Ängste und ein Instrument der Macht.“
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Das Bild spielt eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Erfahrung und die Verarbeitung der Geschehnisse, was vor allem im Kontext eines globalgemeinschaftlich erlebten Ereignisses relevant ist: vor allem das Bild er-
Ausstellung siehe folgende Quellen: http://hereisnewyork.org/about/ (aufgerufen am 23.06.2011) und George (Hrsg.): Here is New York, S. 834-840. Stephanie Bunk weist auf die besondere Bedeutung des Projekts Here is New York. A Democracy of Photographs hin, die sie im Hinblick auf „neue, veränderte Praktiken der Dokumentation“ (Stephanie Bunk: Eine Demokratie der Fotografien. Die fotografische Archivierung des 11. September 2001 (S. 37-53). In: Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001. Würzburg: Königshausen & Neumann GmbH 2004, S. 39) untersucht. Dieses Projekt steht für eine Form der fotografischen Archivierung des Ereignisses, wogegen die in den Massenmedien publizierten Fotos lediglich als „Spitze des Eisbergs“ (ebd.) erscheinen, auch wenn sie den sichtbareren und aktiven Teil des Gesamtarchivs bilden. Vgl.: ebd. 7
Beispielbilder siehe: George (Hrsg.): Here is New York, hier S. 201, S. 203, S. 207, S. 616, S. 684 und S. 690-691
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Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 14
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möglichte die Teilhabe am Geschehen unabhängig von geographischer Nähe und physischer Präsenz. Die Thematik des medialen Bildereignisses wirft Fragen danach auf, wie ‚wahre‘ Erfahrung von Welt gemacht werden kann: kann sie allein unmittelbar (primär) oder auch medial vermittelt (sekundär) stattfinden? In den im 18. Jahrhundert entstandenen Theorien zur Kategorie des Erhabenen, deren Einfluss sich bis in das 21. Jahrhundert ausdehnt, ist es vor allem die unmittelbare Konfrontation von Subjekt und Welt, die Erfahrung und Erkenntnis ermöglicht. Im Gegensatz dazu geschieht dies in einer medial vermittelten und verbilderten Welt zunehmend in sekundärer Form: Geschehnisse werden den Rezipienten beispielsweise als Nachricht mit vorgefertigter Deutung und visualisiert dargeboten, unabhängig von eigener physischer Präsenz am geografischen Ort des Geschehens. Doch ist die Irritation der Grenzen zwischen primärer und sekundärer Erfahrung ein wesentliches Charakteristikum des Bildereignis 9/11. Wo die physische Distanz im normalen Medienbetrieb mit einer psychischen Distanz einhergeht, die aus einer Abstumpfung der mit Schreckensbildern überfluteten Rezipienten resultiert, da affizierten die Bilder des 11. September 2001 ein globales Medienpublikum in bislang nicht gekanntem Maße und machten eine Weltgemeinschaft zu Augenzeugen des Schreckens.9 Im Kontext des Sublimen, das gerade durch Undarstellbarkeit und Nicht-Kommunizierbarkeit charakterisiert ist, mag es zunächst als Widerspruch erscheinen, ein Ereignis, das so eindeutig mit dem (Ab-) Bild verknüpft ist, vor diesem Hintergrund zu untersuchen. Und doch lässt sich mit Hilfe des Ereignisbegriffs eine erste Verbindung zwischen den Visualisie-
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Die Omnipräsenz der (Fernseh-) Kameras sowie die Echtzeit-Informationstechnologien erweiterten die Gruppe der Augenzeugen um ein Vielfaches und verwischten die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Erfahrung. Der Begriff der Augenzeugenschaft muss im Kontext 9/11 differenziert betrachtet werden: Zum einen gibt es die Augenzeugen, die physisch in New York vor Ort waren und das Ereignis aufgrund geographischer Nähe unmittelbar erlebten. Zum anderen gilt der Begriff der Augenzeugenschaft aber auch für die Menschen, die das Ereignis medial vermittelt, beispielsweise an den Fernsehbildschirmen miterlebten. Durch die Berichterstattung in Echtzeit konnten sie das Geschehen live verfolgen, waren jedoch aufgrund fehlender geographischer Nähe auf die Medienberichterstattung angewiesen, um von den Geschehnissen zu erfahren.
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rungen des 11. September und der Kategorie des Erhabenen herstellen. Was diesem Ereignis innewohnt, ist die Idee der Zäsur, des Durchbrechens gewohnter Strukturen – und dessen Bilder sind Dokumente dieser Zäsur, eines „Geschehen[s], nach dem die westliche Welt nicht mehr dieselbe ist wie zuvor“.10 Die Definition des Ereignisbegriffs und die beschriebenen Charakteristika weisen Parallelen zum Gefühl des Sublimen auf: Ereignis und Erhabenes durchbrechen gewohnte Alltagsstrukturen und sind gekennzeichnet durch Irrationalität, Plötzlichkeit sowie Irritation der Wahrnehmung. Die Konfrontation des Subjekts sowohl mit dem Ereignis als auch mit dem Sublimen stellt eine Überforderung für die Erkenntniskräfte dar: „[...] die Distanz vom Erlebnis ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass dieses Erlebnis sich vor dem Hintergrund der Alltäglichkeit abhebt. Es ist dieses Erleben auch mit dem Attribut des Plötzlichen versehen worden. [...] [E]igentlich ist es die Überraschung, das Erstaunen über eine Bewusstseinstatsache, die das Ereignis/ Erlebnis ausmacht. Diese Überraschung ist wohl nicht gleichzeitig mit dem plötzlich eintretenden Ereignis, sondern [...] sie hinkt hinterher, so schnell wird das Ereignis erlebt. Das Ereignis [...] kann nicht gehalten werden von einem normalen Bewusstsein. [...] Jeder Mensch weiß hinterher, ob der gerade erlebte Augenblick ein Ereignis gewesen ist oder nicht. 11
Das Ereignis ist nicht rational erklärbar [...].“
Diese Definition des Ereignisbegriffs lässt sich sowohl mit grundlegenden Theorien des Erhabenen aus dem 18. Jahrhundert in Verbindung setzen sowie auch mit postmodernen Interpretationen. So lässt sich hier beispielsweise der von Edmund Burke beschriebene Moment des Erschauerns erkennen, der einen „Zustand der Seele [beschreibt; A. B.], in dem alle ihre Bewegungen gehemmt sind“.12 Einen weiteren Anknüpfungspunkt bildet die Aufhebung der gewohnten zeitlichen Abfolge von Wahrnehmungspro-
10 Zit. nach: Martin Amis (Hrsg.): Editorische Notiz und Quellennachweis (S. 155156). In: Dienstag 11. September 2001. 3. Auflage, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 155 11 Jürgen Brankel: Der Augenblick. Eine mystische Erfahrung. Wien: Turia + Kant 2006, S. 72 12 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 91
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zessen, in der schon Burke die Macht des Erhabenen erkennt, das nicht durch Räsonnement hervorgerufen wird, sondern „diesem vielmehr zuvorkommt und uns mit unwiderstehlicher Kraft fortreißt.“13 Auch in Immanuel Kants Konstrukt des Sublimen spielt das „Zeitproblem“14 eine zentrale Rolle, denn der Moment des Erhabenen überfordert das Synthesevermögen der Einbildungskraft, die nicht in der Lage ist das Geschehen aufgrund eines Zu-Viel und Zu-Schnell des Ereignens in ein Gesamtbild zu überführen.15 In der Postmoderne wird der Ereignisbegriff vor dem Hintergrund der durch den Menschen verursachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts und der bewusstseinsverändernden Wirkung der neuen Informationstechnologien diskutiert. Das Ereignis wird als Zäsur begriffen, ähnlich wie das Erhabene als Bruch interpretiert wird. Anders als die Diskussionen des 18. Jahrhunderts, die das Erhabene zwar als Ausnahmezustand beschreiben, jedoch bemüht sind, diesen in einen letztendlichen Sieg des Subjekts umzuwandeln, thematisiert die Postmoderne gerade den Bruch, das Spannungsfeld, die Zäsur.
13 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 91 14 Christine Pries: Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik. Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 49 15 Vgl. hierzu: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsgeg. von Gerhard Lehmann. Stuttgart: Reclam 1963, S. 156-157
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2.1 B ILD
UND
E RFAHRUNG
IN DER
P OSTMODERNE
Das Interesse der postmodernen Denker an Ästhetik16 und speziell am Undarstellbaren bzw. am Erhabenen entsteht maßgeblich aus ihrem Interesse an Brüchen und Widersprüchen.17 Es sind vor allem die wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen in ihrer bedrohlichen Dimension, die zu einem Umbruch in der menschlichen Wahrnehmung geführt haben. „Man kann zum Beispiel die Vernichtung einer ganzen Stadt mit Hilfe von Computern realisieren und dies am Fernsehapparat verfolgen. Man geht spazieren und wird, ohne das [G]eringste zu merken, von radioaktiven Strahlungen getroffen, die man weder wahrnehmen noch sehen kann.“18 Das Vertraute wird zur potentiellen Gefahrenquelle und so sieht sich das Subjekt mit dem Zustand steter, latenter Gefahr konfrontiert. Dies ist auch ein Charakteristikum des 11. September 2001, als Passagierflugzeuge zu verheerenden Waffen, urbane Architektur zur tödlichen Falle und die Konsumware Reportagebild zum Boten des Schreckens werden. Der Aspekt des Bedrohlichen entspricht dem Kern des speziellen Typus des Schrecklich-Erhabenen, der in Edmund Burkes Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) ausgearbeitet wurde. Während Burke seine Theorie in Bezug auf die
16 Im 18. Jahrhundert wird die Kategorie des Erhabenen im Kontext der Ästhetik diskutiert, vor allem im Hinblick auf die Geschmacksproblematik. 17 Walter Reese-Schäfer weist auf einen Widerspruch hin, der schon dem Begriff „postmodern“ inhärent ist: „‚Modern‘ bezeichnet ja gerade das Neueste. Wenn man diesen Begriff nun aber wie ‚Barock‘ oder ‚Expressionismus‘ historisiert, tut man einem definitorisch-logischen Verständnis von Sprache einigen Zwang an. Eigentlich müsste der Begriff ‚modern‘ immer mit der Gegenwart mitlaufen; ‚postmodern‘ könnte es dann gar nicht geben. Sprache ist auf diese Weise offenbar nicht festzulegen, sie wächst historisch, sie kann auch Widersprüche aushalten und Unklarheiten neuer Sinnentwicklungen ausdrücken.“ Walter ReeseSchäfer: Lyotard zur Einführung. 2. erweiterte Auflage. Hamburg: Edition SOAK im Junius 1989, S. 42 18 María Isabel Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik. Eine Untersuchung zum Begriff des Erhabenen im 18. und 20. Jahrhundert bei Burke, Kant, Adorno und Lyotard. Dissertation, Würzburg 1992, S. 129
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bedrohliche Dimension der Natur entwickelt, hat sich der Ursprung der Bedrohung im postmodernen Denken von der Natur hin zum Subjekt selber verlagert: nun sind es vom Menschen verursachte Katastrophen, den technologischen Entwicklungen innewohnende Gefahrenpotentiale sowie eine sich scheinbar unkontrollierbar entwickelnde Technik, die das Verhältnis von Subjekt und Welt verändern. Um über den postmodernen Ereignisbegriff eine Verbindung zur Kategorie des Erhabenen herzustellen, die als Basis für die Diskussion der Bilder des 11. September 2001 dienen soll, werden im Folgenden relevante Aspekte der Analysen und Interpretationen von Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard sowie Paul Virilio skizziert.
2.1.1 Jean-François Lyotard: Das Erhabene als Ausdruck des Bruchs Jean-François Lyotard gilt als der Vertreter des philosophischen Postmodernismus. Mit großer Präzision und Nachhaltigkeit wie kein anderer vor ihm, hat er einen Begriff der Postmoderne im philosophischen Kontext aufgestellt.19 „Mit dem Namen Postmoderne“, so äußerte er sich in einem Gespräch mit Christine Pries, „belege ich [...] einen sehr wichtigen Gedanken, nämlich, daß der Modernismus, nicht die Moderne, nicht mehr möglich ist, nämlich eine Kunst, die ein allgemeines Emanzipationsprojekt begleitet, unterstützt und illustriert. Irgend etwas ist zerbrochen.“20 (Hervorh. A. B.)
19 Vgl.: Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 5. Auflage, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 35-36 20 Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries (S. 319-347). In: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 326. Auch wenn die Bezeichnung „Postmoderne“ schon früh in einem philosophischen Kontext diskutiert wurde, so erfuhr dieser Ausdruck erst im Jahr 1979 durch Jean-François Lyotards Schrift Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsgeg. von Peter Engelmann. Vollst. überarb. Fassung, Graz, Wien: Böhlau 1986) eine tatsächliche begriffliche Fassung und ausgereifte Konzeption. (Vgl.: Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 31) Das postmoderne Wissen war ein Gutachten, das Lyotard im Auftrag des Universitätsrats der Regierung von
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Das postmoderne Wissen unterscheidet sich vom modernen durch den Verlust der Einheit, die in den drei Meta-Erzählungen der Moderne, den „alles legitimierende[n] Leitidee[n]“21 (die Emanzipation der Menschheit in der Aufklärung, die Teleologie des Geistes im Idealismus und die Hermeneutik des Sinns im Historismus), verankert war. Die Postmoderne diagnostiziert den Zerfall der Einheit; an die Stelle von Totalität sind Fragmentierung und Pluralität getreten. Bezeichnend für die postmoderne Position ist die Überwindung der Trauer über die Auflösung der Einheit, wie Wolfgang Welsch in Unsere postmoderne Moderne darlegt: Nostalgie wird überwunden; stattdessen rücken positive Gesichtspunkte sowie Chancen der Pluralität in den Vordergrund.22 Doch auch wenn Pluralität als positiv erachtet wird, besteht die Schwierigkeit darin, die Heterogenität zu vereinbaren. Zum Fokus der Postmoderne werden so gerade „die Grenzen und Konfliktzonen, [...] die Reibungen, aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft widerstreitendes [...] hervorgeht“23. Das postmoderne Denken wendet sich den Brüchen, Grenzen, Konflikten sowie Fragmenten zu und es ist nicht verwunderlich, dass das Erhabene in diesem Kontext neu belebt wird.24
Quebec verfasste und in der er eine Konzeption der Universitäts- und Wissenschaftsplanung im Hinblick auf die neuen Informationstechnologien und deren Auswirkungen erarbeitete. (Vgl.: Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung, S. 7) Darin setzt Lyotard sich mit den neuen Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Politik, Kunst und Alltagsleben auseinander. Ungewöhnlich ist an seiner Arbeit, dass er diese nicht als Fortführung des Projekts der Moderne versteht, sondern die Postmoderne als Bruch mit der Moderne begreift. Er wendet sich von bestehenden Prinzipien der Gesellschaftstheorie ab, da ihm traditionelle Theorien zur Erfassung aktueller Entwicklungen nicht mehr adäquat erscheinen. Vgl.: Peter Engelmann: Vorwort (S. 9-11). In: Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 9-10 21 Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 32 22 Vgl.: Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 32-33 23 Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 34 24 Lyotard begreift die Postmoderne nicht als eine zeitlich an das ausgehende 20. Jahrhundert gebundene Epoche sondern versteht als postmodern generell „[...] wer sich jenseits von Einheitsobsessionen der irreduziblen Vielfalt der Sprach-, Denk- und Lebensformen bewußt ist und damit umzugehen weiß.“ (Welsch:
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Lyotards Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen Postmoderne und Moderne findet im Rahmen des Ästhetischen statt und er überführt die Ästhetik der „Negativität des Schönen“25 (Hervorh. i.O.) der Moderne letztlich in eine „Antiästhetik“26 des Erhabenen, in der Schönheit, Form und Subjekt in Frage gestellt werden.27 Die moderne Ästhetik ist für Lyotard zwar auch eine des Sublimen, jedoch greift sie für ihn zu kurz. Der Grund dafür liegt auch hier in der Nostalgie, die er der Moderne zum Vorwurf macht: das Nicht-Darstellbare erscheint durch den Rückgriff auf das Figurative lediglich als „abwesende[r] Inhalt“28, nicht jedoch als negative Darstellung. Die Form stiftet dem Betrachter nach wie vor Orientierung und Trost, wodurch das Gefühl der Lust die Oberhand gewinnt. Dies wird der Essenz des Sublimen nicht gerecht, so Lyotard in Postmoderne für Kinder, da dieses Gefühl sich auszeichnet durch die Verschränkung von Lust und Unlust. Im Gegensatz zur modernen Ästhetik verweigert sich die Postmoderne der Form und dem Konsens des Geschmacks: es fehlen nun nicht nur Formen, die dem Betrachter Trost gewähren – es wird auch die Basis für das gemeinsame Empfinden der „Sehnsucht nach dem Unmöglichen“29 entzogen. So geht es darum, das Gefühl für die Existenz eines Undarstellbaren zu schärfen – die neuen Darstellungsmöglichkeiten sind dabei lediglich das Vehikel, nicht jedoch das eigentliche Thema.30
Unsere postmoderne Moderne, S. 35) In diesem Kontext qualifiziert sich für ihn auch Kant als „postmodern“. Vgl.: Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 35 25 Peter V. Zima: Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 162 26 Zima: Ästhetische Negation, S. 162 27 Vgl.: Peter V. Zima: Ästhetische Negation, S. 162 28 Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern? (S. 1131). In: Jean-François Lyotard: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Hrsgeg. Von Peter Engelmann. Dt. Erstausgabe, Wien: Passagen 1987, S. 29 29 Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern?, in: Postmoderne für Kinder, S. 29 30 Vgl.: Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern?, in: Postmoderne für Kinder, S. 29
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Lyotards Interesse am Erhabenen resultiert aus seiner eingehenden Auseinandersetzung mit den Schriften Kants; vor allem über dessen politisches Denken und den Begriff des Enthusiasmus findet Lyotard den Einstieg in die Problematik des Sublimen.31 In seiner Beschäftigung mit dieser Kategorie und mit Kant bildet die philosophische Tradition ein Erbe, das Lyotard durchaus anerkennt und schätzt, gegen das er jedoch gleichzeitig ankämpfen muss, „mit ihm gegen es ankämpfen, damit etwas präsent wird, was noch nicht präsent ist“.32 Ein Philosophieren, das ein System der Welt bildet, was das Denken und die Dinge einschließt, wie es sich u.a. in Kants Schriften niederschlägt, hält Lyotard in der Postmoderne für unmöglich. Das Denken muss sich nun der Unmöglichkeit, ein System oder eine in sich geschlossene Doktrin aufzustellen, anpassen. Dabei ist es das reflektierende Urteil, dem die zentrale Rolle zugeschrieben wird, denn es ermöglicht das
31 Vgl.: Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 320. Außer von Kant wurde Lyotards Ästhetik auch maßgeblich von Adorno beeinflusst, worauf hier jedoch aus arbeitsökonomischen Gründen nicht weiter eingegangen wird. Mit dem Einfluss Adornos auf Lyotard hat sich María Isabel Peña Aguado in ihrer Dissertation detailliert auseinandergesetzt. Siehe dazu: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik. Obwohl Lyotard sein Konzept des Erhabenen in der Auseinandersetzung mit dem Kantischen Konstrukt entwickelt, ist seine Arbeit nicht im Sinne einer streng exegetischen Interpretation zu verstehen. Vielmehr erfahren Kants Texte eine Um- und Neuschreibung; Lyotard selbst sieht seine Auseinandersetzung mit Kant als Widerstreit, der vor allem deshalb interessant ist, weil sich darin der Kontrast zwischen modernem und postmodernem Denken manifestiert. Vgl.: Tim Kammasch: Politik der Ausnahme. Die „Politique philosophique“ von Jean-François Lyotard und ihr Widerstreit mit Kant. Mandelbachtal, Cambridge: edition cicero 2004, S. 269-270 32 Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 334. Dies stellt jedoch ein Unterfangen dar, von dem er weiß, dass es der Philosophie nicht gelingen wird. Vgl.: ebd., S. 335
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Erbe zu analysieren und zu hinterfragen um darauf aufbauend Neues zu generieren.33 Was die Rolle von Kants Analytik des Erhabenen (1790) im abendländischen Denken betrifft, so lässt sie sich zwar in eine lang gewachsene und historisch entwickelte Tradition einordnen, doch kritisch betrachtet ist sie für Lyotard ein Enigma, sogar ein „Einschlag eines finsteren Unheils“34. Obwohl er die Leistung Kants im Hinblick auf die Bestimmung des Sublimen anerkennt, so konstatiert er dennoch das Scheitern dieses Versuchs.35 Den Grund dafür sieht er im Erhabenen selber, bzw. in der Gewalt, die diesem Gefühl inhärent ist: „Die erhabene Gewalt ist wie ein Blitzschlag. Sie schließt das Denken mit sich selber kurz. Die Natur [...] dient nur als der Wackelkontakt, von dem aus der Funke überspringt. Die teleologische Maschine explodiert. Die lange ‚Leitung‘, die die Natur durch ihren Leitfaden zum Denken, das sich auf seine finale Erleuchtung zubewegt, legen sollte, muß am Ende ausfallen.“
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Im Kantischen Erhabenen amalgamieren die widersprüchlichen Gefühle der Unlust und der Lust. Die Konfrontation der Einbildungskraft mit Dimensionen wie dem Schlechthin-Großen oder furchterregender Naturgewalt führt ihr Scheitern herbei, was das Gefühl der Unlust hervorruft. Diese anfängliche Unlust vermischt sich jedoch mit dem Gefühl der Lust, wenn das Vermögen der Vernunft in der Lage ist, zur Darstellung des Unendlichen als einer Idee zu gelangen bzw. im Subjekt die Idee der Überlegenheit über die Naturgewalt zu erzeugen. Während bei Kant das zunächst als zweckwidrig
33 Vgl.: Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 335336 34 Jean-François Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen. München: Fink 1994, S. 67 35 „Diese Bemühung leistet keinerlei Beitrag zum allgemeinen Projekt der Versöhnung von Natur und Freiheit, das heißt der Vereinigung der Philosophie. Die Teleologie im zweiten Teil der dritten Kritik wird ebenfalls keinen, zumindest keinen ausdrücklichen Gebrauch von den Resultaten der Analyse des erhabenen Gefühls machen.“ (Hervorh. i.O.) Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, S. 68 36 Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, S. 68
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empfundene Scheitern der Erkenntnisvermögen in die Selbstbehauptung des Subjekts umgewandelt wird, wodurch das Gefühl des Sublimen zustande kommt, ist das Erhabene bei Lyotard Ausdruck des Bruchs und der Diskontinuität.37 Statt der Einheit wird nun das Unvereinbare zum zentralen Thema, das Lyotard u.a. auch als Ereignis, Dissens oder Heterogenität bezeichnet.38 Beim Gefühl des Sublimen handelt es sich um das entfesselte Denken, das der Versuchung kaum widerstehen kann, die in der Kritik behandelten Grenzen des Erlaubten und Rechtmäßigen zu überschreiten. Während die Herausforderung für die Einbildungskraft darin besteht, darzustellen, dass sie nicht mehr darstellen kann, widersetzt sich die Vernunft dem Gebot, nicht in der sinnlichen Anschauung nach ihren Begriffen entsprechenden Objekten zu suchen. Das Gefühl des Erhabenen, das aus diesen Grenzüberschreitungen resultiert, ist laut Lyotard das Begehren nach Grenzenlosigkeit, nach Unmäßigkeit, mit der das Denken seine eigene Endlichkeit herausfordert. In der Kritik wird das Sublime letztlich mit Wahnsinn in Verbindung gebracht und die Untersuchung dieses Gefühls findet lediglich als Anhang Aufnahme in Kants Kritik der Urteilskraft. Das eigentlich interessante an dieser eigentümlichen Stellung des Erhabenen ist für Lyotard, dass es einen Zwiespalt offenbart, dem sich das Denken hier ausgesetzt sieht.39 Angesichts dessen, was das sinnliche Darstellungsvermögen (die Einbildungskraft) des Subjekts übersteigt, wird die Vernunft auf den Plan gerufen, die sich berufen fühlt das Undarstellbare darzustellen. Sie wird in einen Zustand der Ekstase versetzt, wie Peña Aguado in ihrer Analyse des Erhabenen bei Lyotard aufzeigt. In diesem Zustand ignoriert die Vernunft ihre eigenen Gesetze, um eine sinnliche Darstellung eines Gefühls zu erlangen, das keine Entsprechung in den Formen der Natur zu haben scheint. Die Einbildungskraft, die angesichts der rasenden Vernunft der Möglichkeit be-
37 „The sublime disrupts our cosy world-picture much as the differend invariably does – small wonder then that Lyotard wants to emphasize it so forcefully.“ Stuart Sim: Jean-François Lyotard. Hertfordshire: Prentice Hall/Harvester Wheatsheaf 1996, S. 102 38 Vgl.: Jean-François Lyotard: Vorwort. Vom Humanen (S. 11-17). In: JeanFrançois Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Hrsgeg. von Peter Engelmann. 2. durchgesehene Auflage, Wien: Passagen 2001, S. 14 39 Vgl.: Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, S. 68-69
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raubt wird, sich zu wehren oder auch nur das Unrecht zum Ausdruck zu bringen, wird zum Opfer in diesem Widerstreit. Im Gegensatz zu Kant, der eine Erweiterung der Einbildungskraft im Erhabenen diagnostiziert, bleibt sie für Lyotard das Opfer, für das er Position bezieht.40 Lyotards Interesse gilt nicht dem Moment der Erhebung des Subjekts, der das Resultat des Kantischen Erhabenen ist, sondern dem „Spasmus im Denken“41, der angesichts der Konfrontation mit dem relationslosen Absoluten geschieht und der den Moment bezeichnet, in dem das Denken an seine äußerste Grenze gerät.42 Dies ist der Augenblick, der vor jeder sinnlichen Darstellung in Raum und Zeit präsent ist und Lyotard zum „paradoxen Unternehmen einer Ästhetik ohne ‚Formen‘“43 führt. Eine solche Ästhetik, die sich jenseits von Raum-Zeit-Formen bewegt, verlangt auch eine neue Sensibilität, die wahrnehmen kann, was sich jenseits dessen ereignet: der gegenwärtige Moment, der Augenblick, der geschieht.44 Lyotards Ziel ist es, diese Sensibilität für die Existenz von Dingen zu schärfen, die sich der Darstellung entziehen, in denen die Formen von Raum und Zeit durch die Präsenz des Anderen gar erschüttert werden – das Gefühl des Erhabenen ist dabei sein Vehikel.45 Die neue Rezeptivität, die die Ästhetik des Erhabenen
40 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 107-109 41 Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, S. 70, vgl. auch: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 96 42 Vgl.: Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, 1994, S. 69-70 43 Jean-François Lyotard: Grundlagenkrise (S. 1-33). In: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl (Hrsg.): Argumentation in der Philosophie. Neue Hefte für Philosophie (Heft 26). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 14 44 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 109-110 45 „Nun hat die Analytik des Erhabenen selbst ein wichtiges Ereignis zum Inhalt: die Ohnmacht der Einbildungskraft, den Entzug der Gebung, das Schwinden einer Mittelbarkeit und die Abnahme einer Rezeptivität. [...] Und dieses Ereignis gibt, in der Kantischen Ausarbeitung, Anlaß zu dem paradoxen Unternehmen einer Ästhetik ohne ‚Formen‘ [...].“ Lyotard: Grundlagenkrise, in: Bubner, Cramer, Wiehl (Hrsg.): Argumentation in der Philosophie, S. 14
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erfordert, wird für Lyotard verkündet von der Avantgarde-Kunst, da gerade hier „das Bedürfnis nach einer anderen Offenheit“ entstanden ist:46 „Indem Kant die Mangelhaftigkeit der sinnlichen Anschauung oder der Einbildung im Gefühl des Erhabenen aufzeigt, eröffnet er [...] den Blick für eine Kunst, die im Begriff ist, die zeitlich-räumlichen Formen selbst zu hinterfra47
gen [...].“
Hier sei darauf hingewiesen, dass Lyotard nicht der erste Denker ist, der das Sublime im Kontext der Kunst untersucht. Vielmehr ist es Theodor W. Adorno, der das kritische Potential dieser Kategorie erkannt und in seiner Ästhetischen Theorie48 auf künstlerisches Schaffen bzw. moderne Kunst bezogen hat. Maßgeblich für die Übertragung des Erhabenen auf diesen Bereich ist die Erfahrung von Auschwitz,49 einem Ereignis, das das Paradigma einer historischen Zäsur darstellt.50 Auschwitz steht als Zeichen für Geschehnisse, deren Dimension sich der sprachlichen Fassbarkeit entziehen.51
46 Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 110 47 Lyotard: Grundlagenkrise, in: Bubner, Cramer, Wiehl (Hrsg.): Argumentation in der Philosophie, S. 26 48 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsgeg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 49 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 110 50 „Nach der Diagnose der Dialektik der Aufklärung wird das Erlebnis des Erhabenen so wie Kant es in Bezug auf die Natur beschrieb, unmöglich sein. Die Erschütterung kann sich nicht mehr im unmittelbaren Kontakt mit der Natur ereignen. Eine solche Erschütterung fand mit Auschwitz statt und hallt mit unserer Erinnerung an Auschwitz nach. [...] Nur die Kunst ist noch imstande, die Erinnerung an ein anderes Verhältnis zur Natur aufrechtzuerhalten.“ (Hervorh. i.O.) Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 110-111 51 „[...] Angenommen, ein Erdbeben zerstört nicht nur Leben, Bauwerke, Gegenstände, sondern auch die Instrumente, mit denen man direkt und indirekt die Erdbeben messen kann. Die Unmöglichkeit der Quantifizierung versagt den Bewohnern nicht die Vorstellung einer äußerst großen tellurischen Kraft, son-
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„Nicht ein Begriff resultiert aus ‚Auschwitz‘“, so Lyotard, „sondern ein Gefühl“.52 Mit der sprachlichen bzw. sinnlichen Nicht-Fassbarkeit entzieht sich das Ereignis auch einer auf Kausalität angelegten Narration. Historische Zäsuren verursachen Umbrüche im menschlichen Bewusstsein, erfordern ein neues Denken und sind Auslöser für die Suche nach neuen Ausdrucksformen – sowohl sprachlich als auch visuell. Die Kunst nimmt auch in Lyotards Denken eine zentrale Rolle ein, als der Bereich, in dem ein neues soziales Bewusstsein zur Entfaltung kommen kann und so ist sein Blick darauf nicht ein rein ästhetischer, sondern auch ein politischer.53 Das Interesse an Kunst hat seinen Ursprung im Erhabenen, nicht im Schönen oder im ästhetischen Genießen: in diesem Kontext ist die Kunst nicht mehr der Ort der Versöhnung sondern der Ort, wo der Sinn für das Andere, das Anders-Sein-Können, das Rätsel, aufrechterhalten wird.54 Im Gegensatz zu Kant, der die Kunst aus dem Bereich des Sublimen ausschließt, wendet sich Lyotard gerade ihr zu, wobei er sich sogar auf Kant beruft: „[...] [D]as eigentlich wichtige [ist; A. B.] [...] dieser Bruch oder split im Darstellungsvermögen durch Synthese [...], daher das Thema der ‚Unform‘ [im
dern sie ruft sie geradezu hervor. Der Wissenschaftler sagt, er wisse nichts davon, die große Masse der Menschen empfindet ein komplexes Gefühl, das von der negativen Darstellung des Unbestimmten hervorgerufen wird. Mutatis mutandis ist das Schweigen, das das Verbrechen von Auschwitz dem Historiker abverlangt, für die Mehrzahl der Menschen ein Zeichen. Die Zeichen [...] sind keine Referenten, an die sich Bedeutungen heften, die sich im kognitiven Regelsystem validieren ließen; sie zeigen vielmehr an, daß etwas, das in Sätze gebracht werden muß, in den geltenden Idiomen nicht artikuliert werden kann [...].“ (Hervorh. i.O.) Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. 2., korrigierte Auflage, München: Fink 1989, S. 105 52 Lyotard: Der Widerstreit, S. 179 53 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 123 54 Vgl.: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Nach dem Ende der großen Erzählungen. Jean-François Lyotards postmoderne Philosophie (S. 193205). In: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie (Band 2. Frankreich/Italien). Hamburg: Rotbuch 1996, S. 203
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Original deutsch]. Die natürliche Unordnung [...]. Der eigentliche transzendentale oder kritische Inhalt dessen, was Kant das Erhabene nennt, ist viel eher das Unvermögen zur Synthese, und man kann sich sehr wohl vorstellen, daß Künstler entweder durch Abstraktion oder Minimal Art versuchen, etwas hervorzubringen, was diese Formsynthesen zum Scheitern bringt und deshalb mit der transzendentalen Essenz des Erhabenen bei Kant ziemlich genau übereinstimmt.“
55
(Hervorh. i. O)
Es sind Kants Verweise auf das mosaische Bilderverbot56 und auf die „negative Darstellung“57, anhand derer Lyotard eine Ästhetik der erhabenen Malerei umreißt, die es strikt vermeidet figurativ und abbildend zu sein und sich der reinen Abstraktion verschreibt. Für ihn ist die Ästhetik des Sublimen die treibende Kraft für die moderne Kunst,58 die ihre Mittel einsetzt um die Existenz eines Nicht-Darstellbaren zu zeigen. Dabei geht es nicht um dessen objekthafte Fassung, sondern darum, darzustellen, dass es etwas gibt, das man zwar denken, jedoch weder sehen noch sichtbar machen kann. Die Frage danach, wie die moderne Malerei dies erfassen kann, beantwortet Lyotard mit dem Rückgriff auf Kants Analytik des Erhabenen. Die abstrakte Malerei stellt zwar etwas dar, aufgrund der Abwendung vom Figurativen jedoch nur negativ.59 „[S]ie [die erhabene Malerei; A. B.] wäre ‘weiß’ wie ein Quadrat von Malewitsch, sie würde nur sichtbar machen, indem sie zu sehen verbietet, sie würde nur Lust bereiten, indem sie schmerzt.“60
55 Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 321322 56 Siehe dazu: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182 57 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 181 58 Vgl.: Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern?, in: Postmoderne für Kinder, S. 22 59 Vgl.: Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern?, in: Postmoderne für Kinder, S. 24 60 Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist Postmodern?, in: Postmoderne für Kinder, S. 24-25. Es mag an der Komplexität des Erhabenen generell liegen, dass sich auch in Lyotards Interpretation Widersprüche und Unklarheiten aufdecken lassen, beispielsweise in seiner Forderung nach der negativen Darstel-
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Was im Kontext des Erhabenen also in den Vordergrund tritt, ist die Frage nach der Darstellung des „Etwas“61. Das Ringen mit sprachlicher sowie visueller Form, um etwas zu kommunizieren und darzustellen, das sich im Kern der Darstellung entzieht, ist auch charakteristisch für das Erlebnis 9/11. Dies bezieht sich sowohl auf die Live-Übertragung der Anschläge, die einen medialen Ausnahmezustand bedeutet, als auch auf die Bildproduktion im Rahmen der Krisenbewältigung. Denn was die Heterogenität der als Reaktion entstandenen Bilderflut offenbart, ist die Suche nach Möglichkeiten und Grenzen sinnlicher Fassung sowie nach Ausdrucksformen für das Erlebte in traditionellen Bildschemata aber auch in der Abkehr vom traditionellen (Medien-) Bild.
lung. Diesbezüglich erweist er sich als inkonsequent, denn letztendlich gesteht er nicht nur der abstrakten sondern auch der figurativen Kunst die Möglichkeit der Darstellung des Sublimen zu. (Vgl. dazu auch: Wolfgang Welsch, Christine Pries: Einleitung (S. 1-23). In: Wolfgang Welsch, Christine Pries (Hrsg.): Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard. Weinheim: Acta Humaniora 1991, S. 8) Lyotard schlussfolgert, „[...] daß wahrscheinlich jede wichtige Malerei immer schon an der Grenze der Repräsentierbarkeit arbeitet und daß es in der großen Malerei [...] darum geht, die Schuld einer Präsenz zu begleichen, die immer verfehlt wird.“ (Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 323) Was als wichtig bezeichnet werden kann, so Lyotard, ist erst im Nachhinein festzustellen. Zudem macht er keine Vorgaben, was das Wesentliche des betreffenden Kunstwerks ist, denn es geht vielmehr um die Darstellung eines nicht weiter spezifizierten „Etwas“. Vgl.: Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 323324 61 Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen JeanFrançois Lyotard und Christine Pries, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 324
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2.1.1.1 Das Sublime in der abstrakten Kunst: Die Werke Barnett Newmans Lyotard hat sich im Rahmen des Sublimen mit den Werken des USamerikanischen Abstrakten Expressionisten Barnett Newman auseinandergesetzt, der sich selbst auf theoretischer Ebene sowie in seinem künstlerischen Schaffen mit dieser Kategorie beschäftigt hat. Lyotards Betrachtung der Leinwände Newmans findet vor dem Hintergrund der Erhabenheitstheorien europäischer Philosophen des 18. Jahrhunderts, namentlich Burke und Kant, statt, die auch Newman bekannt waren. Die Fragen, denen Lyotard im Hinblick auf die abstrakten Werke nachgeht, sind die nach der Möglichkeit das Sublime im Bild darzustellen, welche Ausdrucksform als die adäquate erscheint, wie sich der erhabene Moment im Kunstwerk äußert und welche Wechselwirkung zwischen Leinwand und Betrachter stattfindet. Es sind vor allem die vom Menschen verursachten Schrecken des 20. Jahrhunderts und deren bewusstseinsverändernde Wirkung, die sich in der Kunst des Abstrakten Expressionismus im Bruch mit der objekthaften Darstellung und in der Hinwendung zur Abstraktion manifestieren. Der zentrale Unterschied zwischen dem modernen Kunstwerk und einem Kunstwerk, das zum Träger des Sublimen wird, liegt für Lyotard in der „plastische[n] Nacktheit“62, die er in den Werken Newmans sieht und die mit der Narrativität herkömmlicher (figurativer) Darstellungen bricht. Zusätzlich zu dieser „Nacktheit“ bricht Newman mit dem traditionellen Kommunikationsmodell, bestehend aus Sender, Empfänger und Referent, da es keine Botschaft im traditionellen Sinne gibt63 – sondern nur die direkte, unvermittelte Konfrontation von Gemälde und Betrachter. „Die Botschaft ‚spricht‘ von nichts, sie geht von niemandem aus.“64 Die unvermittelte Konfrontation von Werk und Betrachter wird vom Künstler zudem gefordert durch seine Anweisung, die Leinwände aus einer extremen Nahsicht anzusehen, was eine physische Konfrontation mit dem Werk bewirkt. Zudem resultieren unterschiedliche Abstände in unterschiedlichen Erfahrun-
62 Jean-François Lyotard: Der Augenblick, Newman (S. 95-105). In: Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Hrsgeg. von Peter Engelmann. 2. durchgesehene Auflage, Wien: Passagen 2001, S. 97 63 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 98 64 Lyotard,: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 98
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gen.65 „Es ist ein großer Unterschied,“ so Peter Johannes Schneemann über Newmans Vir Heroicus Sublimis (1950-51) (Abb. 1), „ob dieses Gemälde aus großer Entfernung [...] aufgefaßt wird oder ob der Betrachter sich der Nahdistanz zur Fläche aussetzt. Das Werk selbst [...] enthält keine Direktiven.“66 Über die physische Konfrontation hinaus findet durch das Fehlen einer Botschaft auch eine psychische Konfrontation statt; denn der Betrachter selber muss das Gemälde und dessen „plastische Nacktheit“67 mit eigenen Emotionen aufladen. Der Ereignischarakter des erhabenen Kunstwerks ist bei Newman gekennzeichnet durch die zeitliche Komponente: der Moment des Jetzt, der Augenblick, der geschieht, ohne dabei das Vorher oder Nachher einzubinden.68 Lyotard sieht in diesen Leinwänden eine „unerwartete Antwort“69 auf das Problem der Zeit, denn „das Bild selbst [ist; A. B.] die Zeit“70. Der Aspekt der Präsenz, der sich aus dem Scheitern der Synthese von Materie und Form ergibt, ist das zentrale Thema, wobei sich dies weniger auf eine physische Ortsbestimmung als auf eine zeitliche bezieht.71 Lyotard sieht das Erhabene bei Newman in dem Jetzt, in dem, „[...] was das Bewußtsein außer Fassung bringt, es destituiert, was ihm nicht zu denken gelingt und was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren. Was wir nicht zu denken vermögen ist, daß etwas geschieht, oder vielmehr und einfacher: daß es geschieht [...]“72. Die Frage nach dem Inhalt dessen, was geschieht (dem quid) rückt in den Hintergrund, denn der Fokus liegt darauf, dass überhaupt et-
65 Vgl.: Peter Johannes Schneemann: Who’s afraid of the word: die Strategie der Texte bei Barnett Newman und seinen Zeitgenossen. Freiburg im Breisgau: Rombach 1998, S. 45-46 66 Schneemann: Who’s afraid of the word, S. 45 67 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97 68 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 96 69 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 95 70 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 95 71 In Das Erhabene und die Avantgarde, dem Text eines Vortrags an der Berliner Kunsthochschule im Januar 1983, hebt Lyotard explizit den Aspekt der Zeit hervor. Siehe dazu: Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde (S. 107-125). In: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien: Passagen 2001, S. 107 72 Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Das Inhumane, S. 108
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was geschieht (auf dem quod). Für Lyotard ist das Ereignis der Augenblick, der geschieht; dies zu zeigen betrachtet er als die Intention der Newmanschen Werke.73 Das Ereignis des quod vollzieht sich zunächst unabhängig von der Natur bzw. unabhängig von der Bedeutung des quid, dessen Voraussetzung es ist. Zuerst erscheint das Fragezeichen des quod: „Geschieht es? Ist es, ist das möglich?“74 (Hervorh. i.O.) – erst danach wird die Frage nach dem, was geschieht, formuliert.75 Lyotard hebt das Unvermögen einer sprachlichen Auseinandersetzung mit der „plastische[n] Nacktheit“76 der Leinwände Newmans hervor: es gibt nichts Sinnliches zu beschreiben, nichts zu sagen, was nicht offensichtlich ist. Was bleibt, ist ein Ausruf als Ausdruck eines Gefühls, der letztlich nur eines bedeutet: den erhabenen Augenblick.77 „Alles da, Dimension, Farbe, Linien, ohne Anspielung. Das macht die Sache problematisch für den Kommentator. Was soll man sagen, was nicht schon vorgegeben ist? Die Beschreibung ist leicht, aber platt wie eine Paraphrase. Die beste Deutung ist die Frageform: Was soll man sagen? oder ein Ausruf: Ah! oder Überraschung: Na sowas! So viele Ausdrücke für ein Gefühl, das in der modernen ästhetischen Tradition (und im Werk Newmans) einen Namen 78
hat: das Erhabene. Es ist das Gefühl des ‚da ist es‘.“
Dies korrespondiert damit, was Newman in seinem Essay The First Man Was An Artist (1947) als „yells of awe and anger [...] at his own helplessness before the void“79 (Hervorh. A. B.) bezeichnet. Lyotard deutet diese
73 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 96 74 Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Das Inhumane, S. 108 75 Vgl.: Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Das Inhumane, S. 108 „[...] [D]aß es geschieht: das ist die Frage als Ereignis; ‚danach‘ erst bezieht sie sich auf das Ereignis, das soeben geschehen ist. Das Ereignis vollzieht sich als Fragezeichen noch bevor es als Frage erscheint.“ (Hervorh. i.O.) Ebd. 76 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97 77 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 96-97 78 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97 79 Barnett Newman: The First Man Was An Artist (S. 156-160). In: John P. O’Neill: Barnett Newman. Selected Writings and Interviews. New York: Alfred A. Knopf 1990, S. 158
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Leere als Chaos des Beginns, die die Essenz des Erhabenen widerspiegelt:80 Vir Heroicus Sublimis erzeugt im Betrachter das Gefühl der Bedrohung, die Angst, dass „nichts“ geschehen könne, Desorientierung und Ortlosigkeit. Gleichzeitig erkennt Lyotard im zip81 jedoch ein „Leuchten“, das die Dunkelheit zerteilt und das Chaos unterbricht.82 Den weißen zip, der aus der roten Farbfläche hervorsticht, deutet er als die „Verkündigung“83 der sinnlichen Welt, den Neubeginn.84 Es ist die unbestimmte Zeitlichkeit des unendlichen Beginns, die Tatsache des quod, die präsent, aber für die menschliche Einbildungskraft nicht fassbar ist, denn es gibt nichts Konkretes, das der Orientierung dienen kann. Das quod wird als Präsenz aufgefasst, die das Chaos der Geschichte für einen Augenblick unterbricht und daran erinnert, „[...] daß „etwas da ist“, bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat.“85 Mit dem Begriff avoir lieu versucht Lyotard das auszudrücken, was er in Newmans Monumentalbildern als das Sublime, die Präsenz, betrachtet: „Das Erhabene ist, daß mitten in diesem drohenden Nahen des Nichts doch etwas geschieht, etwas
80 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 99 81 Der zip tauchte bei Newman erstmals 1948 in dem Werk Onement I auf und wird von ihm und seinen Anhängern als epochales Ereignis in der zeitgenössischen Malerei angesehen. Der zip gilt als Möglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung des Erhabenen und wird fortan zum zentralen Element in Newmans Schaffen. Vgl.: Robert Hughes: Bilder von Amerika. Die amerikanische Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. 1. Auflage. München: Karl Blessing 1997, S. 492 82 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 102-103 83 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 96 84 „Das Wort, wie ein Blitz in der Dunkelheit oder eine Linie auf einer leeren Fläche, trennt, teilt, begründet einen Unterschied, macht durch diesen Unterschied, so gering er auch sein mag, spürbar und begründet so eine sinnliche Welt. [...] Er findet in der Welt statt, als ihr ursprünglicher Unterschied, der Beginn ihrer Geschichte. Er ist nicht von dieser Welt, weil er sie erzeugt, er kommt aus der Vorgeschichte oder einer Geschichtslosigkeit. [...] Ohne diesen Blitz gäbe es nichts als des Chaos. Der Blitz ist ‚die ganze Zeit‘ da (wie der Augenblick), und niemals da.“ Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 99 85 Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Das Inhumane, S. 104
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,statt‘ findet (avoir lieu), das ankündigt, daß nicht alles zu Ende ist.“86 Diese „Verkündigung“ resultiert in dem, was Burke als Frohsein und Kant als Lust bzw. höhere Zweckmäßigkeit bezeichnet.87 Die Metapher des Blitzes taucht bei Lyotard auch in Anima Minima88 auf, worin er die Minimalbedingung des Ästhetischen sieht – eine sinnliche Materie, die einen Affekt erweckt.89 Ähnlich wie bei Newmans zip, symbolisiert der Blitz für Lyotard auch hier einen Neubeginn.90 Um affiziert zu werden, benötigt die Seele das sinnliche Ereignis, das sowohl eine Farbe, als auch ein Timbre oder ein Duft sein kann. Dies erweckt sie aus dem, was Lyotard als das „Nichts des Unaffiziertseins“ bezeichnet.91 Hier scheinen Assoziationen eine wichtige Rolle zu spielen, die durch das Sinnliche ausgelöst werden, das nicht notwendigerweise in figu-
86 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 101 87 Lyotard hat Adorno stets seine für die Moderne symptomatische melancholische Haltung vorgeworfen, die die Krise zwar diagnostiziert, sie jedoch letztendlich nicht akzeptiert. Und doch, so bemerkt Peña Aguado, wird auch Lyotard im Laufe der Zeit zunehmend melancholischer, gar hoffnungslos. So mutet seine Interpretation der Präsenz im Newmanschen Werk geradezu schwermütig und wie die Suche nach dem verlorenen Paradies an. Zu Lyotards Annäherung an Adorno siehe: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, hier S. 111-112 und S. 132. „In Lyotards Denken gibt es dennoch Trauer und Melancholie, und diese gehören auch zum Erhabenen. Lyotards Denken selbst ist erhaben, denn es pendelt zwischen dem Enthusiasmus der Ankündigung einer Präsenz und der Angst vor der Ohnmacht nach der Vernichtung des Körpers, oder was dasselbe ist, nach der Opferung der Sinnlichkeit.“ Ebd., S. 132 88 Jean-François Lyotard: Anima Minima (S. 417-427). In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993 89 Vgl.: Lyotard: Anima Minima, in: Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen, S. 427 90 „Die Empfindung durchbricht eine träge Inexistenz. Sie rüttelt diese wach, oder vielmehr: sie bringt sie zur Existenz. Was wir ‚Leben‘ nennen, entspringt einer Gewalt, die von außen auf etwas Lethargisches wirkt.“ Lyotard: Anima Minima, in: Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen, S. 423 91 Lyotard: Anima Minima, in: Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen, S. 422-423
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rativer Darstellung vorhanden sein muss. Denn wie außer durch die Macht der Assoziation sollte dieser Prozess des Affizierens der Seele sich sonst erklären lassen? Peña Aguado, die in Lyotards Präsenz Dimensionen des Mystischen und Heiligen sieht, weist auch auf die Bedeutung der Seele in diesem Zusammenhang hin. Lyotard, so Peña Aguado, ist auf der Suche nach der Seele, jener unsichtbaren, nicht-subjektiven und unbestimmte Instanz, die eine solche Präsenz hervorbringen kann. Die Voraussetzung dafür, dass diese Seele ohne Gegebenes überhaupt empfunden werden kann, ist die Fähigkeit sich berühren zu lassen, ein absolutes Offensein, ohne jegliche Verdrängung und ohne Erinnerung. Auch wenn Peña Aguado diesen Anspruch letztlich als unrealisierbar einstuft und die Risiken einer solchen Denkweise aufzeigt,92 so gewinnt der Aspekt des ‚Sich-Berühren-Lassens‘ im Informationszeitalter, das durch permanente mediale Reizüberflutung und damit einhergehender Abstumpfung charakterisiert ist, eine neue Bedeutung.
2.1.2 Jean Baudrillard: Das Bild zwischen Realität und Virtualität Der französische Theoretiker Jean Baudrillard gilt als einer der bedeutendsten aber auch provokantesten zeitgenössischen Denker und hat sich explizit mit den Anschlägen des 11. September auseinandergesetzt.93 Er lässt sich
92 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 134 93 So beispielsweise im 2002 erschienenen Band Der Geist des Terrorismus, in dem er das Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Siehe: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Hrsgeg. von Peter Engelmann. Dt. Erstausgabe, Wien: Passagen 2002. Allgemein ist anzumerken, dass Baudrillards scharfsinnige Beobachtungen und Interpretationen, die provozierend und keineswegs unwidersprochen sind, zwar durchaus ernst, aber nicht wortwörtlich genommen sondern vielmehr hinterfragt werden sollten. Vgl.: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale. Jean Baudrillards nihilistische Kulturphilosophie (S. 35-47). In: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie (Band 2. Frankreich/Italien). Hamburg: Rotbuch 1996, S. 46
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schwer kategorisieren, denn in seinen Beobachtungen widmet er sich unterschiedlichen Phänomenen der Alltagskultur und seine Ideen haben die verschiedensten Disziplinen (u.a. Soziologie, Fotografie, Kunsttheorie, Geschichte, Philosophie, Architektur, Medienwissenschaften) beeinflusst. Zu den Alltagsphänomenen, die in Baudrillards Analysen eine wichtige Rolle spielen, zählen auch die Massenmedien, mit ihnen verbundene Technologien sowie dadurch bedingte gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche im menschlichen Bewusstsein. Obwohl er sich als polarisierend erweist und die mangelnde wissenschaftliche Beweisbarkeit seiner Interpretationen kritisiert wird, dienen seine Analysen dennoch als Referenzpunkte, die helfen kulturelle Prozesse zu verstehen.94 Baudrillard bricht als ein „klassischer“ Vertreter postmodernen Denkens bewusst mit dem traditionellen Verständnis dessen, was eine Theorie ist und sich noch an Kategorien wie Wahrheit und Sinn orientiert.95 Im Zentrum seiner Analysen steht die Differenzierung zwischen dem Symbolischen und dem Semiotischen. Diese beiden Konzepte bzw. ihre Unterscheidung sind erkenntnisfördernd auch für die Interpretation der Geschehnisse des 11. September als „singuläres“ Ereignis, beispielsweise im Hinblick auf die Differenzierung zwischen dem durch die Anschläge bedingten medialen Ausnahmezustand und medialem Normalzustand. Das Symbolische ist Ausdruck eines singulären, an Emotionen geknüpften, durch persönliche Interaktion gekennzeichneten Aktes.96 Dies, so die pes-
94 Vgl: William Merrin: Baudrillard and the Media. A Critical Introduction. Cambridge, Malden: Polity Press 2005, S. 5 und vgl.: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 44. „While many academics retain a deep suspicion towards his beyond-the-pale, postmodern excesses, for a wider public and media he has been elevated to ubercool icon – to a media and pop-cult sign, namedropped by journalists taking the temperature of the cultural zeitgeist to signal their own cutting-edge, clued-up cachet.“ Merrin: Baudrillard and the Media, S. 5 95 Vgl.: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 45 96 Vgl.: Merrin: Baudrillard and the Media, S. 18. Als Beispiel eines symbolischen Tausches, der in einer durch Simulation charakterisierten Zeit fortlebt, gilt für Baudrillard der Austausch von Eheringen. Einmal ausgetauscht, wird der
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simistische Diagnose, ist in der heutigen Zeit jedoch verdrängt worden vom Semiotischen, was nicht zuletzt bedingt ist durch den Einfluss der elektronischen Medien. Mit dem Theorem der Simulation bezeichnet Baudrillard das Verschwinden des Realen zugunsten von Simulation und Hyperrealität, die ohne Referenten im Realen existieren.97 Somit ist die Simulation kein Spiegelbild der Realität mehr, sondern eine Zeichenwelt (Simulakrum), die an die Stelle des Realen tritt. Ohne reale Referenten und ohne irgendetwas zu bezeichnen, interagieren Simulationen ausschließlich unter- sowie miteinander, was zur Folge hat, dass eine unmittelbare, sinnliche Wahrnehmung der Welt unmöglich wird.98 Die „Dominanz der Zeichen“99 belegt der französische Theoretiker mit dem Begriff der Semiokratie. „Bedingung für diese referenzlose Epistemologie der postindustriellen Gesellschaft ist nach ihm die Tatsache, daß neue Technologien, insbesondere die Medien, als
Ehering zur einzigartigen und unersetzlichen Inkarnation der jeweiligen Beziehung. (Siehe dazu: ebd., S. 17) „Das Symbolische ist weder ein Begriff, noch eine Instanz oder eine Kategorie, noch eine ‚Struktur‘, sondern ein Tauschakt und eine soziale Beziehung, die das Reale beendet und auflöst; und zugleich löst es den Gegensatz von Realem und Imaginärem auf.“ (Hervorh. i.O.) Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1991, S. 209 97 Vgl.: Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 1995, S. 10 98 Vgl.: Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 23. Simulation bezeichnet den Zustand, in dem das Klischee über die Realität triumphiert, da sich die Realität an das (Ab-) Bild angepasst hat. Die Simulation, die nicht nur die Massenmedien sondern auch Politik und Wirtschaft beherrscht, erreicht schließlich ein Stadium, in dem sie von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden ist und selbst zur Wirklichkeit wird. Damit einher geht eine von Baudrillard kritisch beobachtete Entwicklung hin zu zunehmender Ästhetisierung der menschlichen Lebenswelt. Allerdings, so die häufige Kritik an Baudrillards Simulationstheorem, tendiert seine scharfsichtige Analyse aufgrund seiner Totalisierung zum undifferenzierten Gesamturteil abzugleiten. Vgl.: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 41 99 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 23
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systembegründende Faktoren auftreten und daß der Code das Konstituens moderner Gesellschaften geworden ist.“100 Schon in seinen frühen Arbeiten, entwickelt Baudrillard ein semiotisches Konzept des Simulakrums als der Transformation des gelebten Symbolischen in das semiotische Zeichen. Er zeigt eine historische Entwicklung auf, durch die er demonstriert, wie auf primärer Erfahrung beruhende menschliche Realität immer mehr zu einer geformten, präzisierten semiotischen Produktion geworden ist.101 Er unterteilt die Simulakra in drei Ordnungen: die erste ist noch dem Äquivalenzprinzip unterworfen, d.h. basiert maßgeblich auf dem Prinzip der Imitation von Mensch, Natur oder Gott. Die Simulakra dieser Ordnung, die Baudrillard im Zeitalter der Renaissance ansiedelt,102 „ermöglichten nicht nur synthetische Spielereien mit dem Material und nährten die Versuchung, die erfahrbare Welt durch identische Abbildungen ihrer selbst zu verherrlichen, sondern“, so Falko Blask, „begründeten auch ein kontrollierbares System von Ordnung und Macht mit dem Anspruch, eine durch die Reformation entzweite Welt mittels Homogenität und Universalisierung der Sprache wieder zu vereinen.“103 Die Simulakra der zweiten Ordnung, verortet Baudrillard in der Epoche der industriellen Revolution, in der sich die Natur vom Objekt der Imitation zu einem Objekt gewandelt hat, das beherrscht werden kann. Die Simulakra brechen nun mit dem Prinzip der Imitation und ersetzen den Vorgang der Produktion durch den identischer Reproduktion. Während der Widerstreit mit dem Realen noch charakteristisch für die Simulakra der ersten Ordnung ist, beginnen die der zweiten das Reale aufzulösen.104 Das Simulakrum der dritten Ordnung ist ein Charakteristikum der modernen Simulationsgesellschaft: die Prinzipien der Imitation und Reproduktion sind gänzlich verdrängt worden von Codes und Modellen, die selbst aus zufälligen Kombinationen resultieren und somit Teil einer allumfassenden Simulation sind. Das System der Simulation ist ein sich selbst produzierendes und auf sich selbst bezogenes; an Wahl- sowie Antwortmöglichkeiten ist alles schon vorgegeben und alles wird relativiert. Dennoch, darauf
100 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 23 101 Vgl.: Merrin: Baudrillard and the Media, S. 32 102 Vgl.: Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 26 103 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 27 104 Vgl.: Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 27
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verweist Blask, ist das Simulakrum dieser Ordnung nicht als bloße Inszenierung zu verstehen, denn es kann reale Geschehnisse beeinflussen.105 Im Kontext artifiziell produzierter Bilder, die nunmehr „[e]x nihilo aus dem numerischen Kalkül und dem Computer entsprungen“106 sind, stellt sich für Baudrillard die Frage, ob der Begriff des Bildes bzw. das traditionelle Konzept des Bildes im Sinne des Abbildenden überhaupt noch adäquat ist.107 Die Informations- und Kommunikationsmaschinerien unterwerfen das Bild und tun ihm durch die Virtualisierung Gewalt an. Sie zwingen ihm Bedeutung auf und berauben es gleichzeitig der Zeit, die das Bild benötigt um zu „werden“. Die Echtzeit verwandelt den Moment des Entstehens des Bildes, den Augenblick seiner Aufnahme, in eine nostalgische Erinnerung an Bilder vergangener Zeiten.108 Die Signifikanz der Simulation bezieht sich nicht nur auf das Bild, sondern erstreckt sich auch auf andere Lebensbereiche. Für Baudrillard, einen ausgebildeten Architekten, manifestiert sich die dritte Ordnung der Simulakra auch in der Architektur der New Yorker Zwillingstürme, die jeder originalen Referenz ein Ende setzt und in der sich das eine Zeichen nur noch auf das andere bezieht. Die Rhetorik der Vertikalität der Türme, die in einen Zustand der wechselseitigen Reflexion mündet, bildet einen Kontrast zu anderen Gebäuden Manhattans, die noch der Rhetorik des Spiegels an-
105 Vgl.: Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 28-29. Als Beispiel für die potentielle Auswirkung der Simulakra dritter Ordnung auf reales Geschehen führt Blask den Tod sich aus dem Fenster stürzender Broker im Zuge des Ereignisses eines Börsenkrachs an. Vgl.: ebd., S. 28-29 106 Jean Baudrillard: Die Gewalt des Globalen (S. 37-64). In: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Hrsgeg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 2002, S. 47 107 „Wenn aber der Referent total verschwindet, wenn es genau genommen keine Repräsentation mehr gibt, wenn sich das reale Objekt in der technischen Programmierung des Bildes verflüchtigt, wenn das rein artifizielle Produkt nichts und niemanden mehr reflektiert und nicht einmal mehr durch das Stadium des Negativen geht – kann man dann noch von Bild sprechen?“ Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 48 108 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 48-49
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gehören; dazu zählt Baudrillard das Rockefeller Center, dessen Glasfassade noch als Spiegel für den Spiegelcharakter der Stadt fungiert.109 Angesichts der Baudrillard’schen Diagnose der Simulationsgesellschaft, kann der Eindruck entstehen, dass die Realität zu ihrem Ende gelangt ist110 und alles nur noch aus und als Zeichen besteht. Es ist jedoch nicht die Realität per se, sondern es sind vor allem die traditionelle Auffassung vom Realen und dessen bekannter Formen, deren Verschwinden Baudrillard konstatiert. Das Problem liegt hier in der Verwischung der Grenze zwischen Realem und Imaginärem – dem Signifikant und dem Signifikat – die in der Simulation stattfindet und das Wahrheitsprinzip unterläuft, was ein Resultat der Techniken der Computeranimation sowie -simulation ist.111 Die Welt hat sich zunehmend in eine Zeichenwelt verwandelt, wobei jedes Zeichen nur noch auf ein anderes verweist, was letztendlich zum völligen Verlust des Realitätsprinzips führt. „Die Wirklichkeit ist einem Kosmos fluktuierender Zeichen gewichen, einem gigantischen Spiegelkabinett, in dem die Menschen abgeschnitten von jeder authentischen Erfahrung umhertaumeln.“112 2.1.2.1 Der 11. September als „symbolisches“ (Bild-) Ereignis Im Zusammenhang der Terroranschläge des 11. September 2001 haben Jean Baudrillards provokante Analysen eine Wiederbelebung und neue Aktualität erfahren.113 In die laut ihm durch Simulation, Hyperrealität und
109 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 38 110 So heißt die Kapitelüberschrift bei Blask „Das Ende der Realität“. Siehe Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 29 111 Vgl.: Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 30 112 Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 37 113 Vgl.: Daniel Haas: Zum Tode Jean Baudrillards. Willkommen im Second Life. In:
Spiegel
Online,
07.03.2007.
Quelle:
http://www.spiegel.de/kultur/
gesellschaft/0,1518,470364,00.html. Aufgerufen am 23.04.2010. „In den Neunzigern geriet der Star-Denker mit seiner Virtualitätsschelte aus der Mode. Man hatte genug von den postmodernen Schreibweisen, ihrer effektsicheren und dabei oft rätselhaften Rhetorik. Und dass wir in einer Endlosschleife der Bilder leben, war auch ein alter Hut. Simulakrum? Sei's drum. Dann kam
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„Nichtereignisse“114 dominierte Welt bricht 9/11; die Bilder der Terroranschläge werden zu Waffen in einem medial geführten Krieg und halten der westlichen Gesellschaft die eigene Verwundbarkeit schockartig vor Augen: „Neben den anderen Waffen, die die Terroristen dem System entwendet und gegen es gewendet haben, haben sie auch die Echtzeit der Bilder, ihre augenblickliche weltweite Verbreitung ausgebeutet.“115
Baudrillard sieht den 11. September als „ein symbolisches Ereignis von globaler Bedeutung“116, das sich als solches von der Masse der durch die Medien inflationär verbreiteten Geschehnisse unterscheidet, die für ihn keine wirklichen Ereignisse, sondern Pseudo- oder Nichtereignisse darstellen. Denn der mediale Normalbetrieb ist gekennzeichnet durch eine höchst ambivalente Rolle des Bildes, die Baudrillard in Der Geist des Terrorismus beschreibt: einerseits sind es die verbreiteten Bilder, die das Ereignis reproduzieren, verstärken und so erst dem Rezipienten zugänglich machen. Andererseits wird dem Ereignis durch das Bild Gewalt angetan, indem es neutralisiert und in eine Konsumware gewandelt wird. Als konsumierbares Bild-Ereignis verliert das Ereignis seinen realen Charakter und gleitet in den Bereich der Virtualität und Fiktion ab.117 Durch die Forcierung des Bildes in einer Gesellschaft, in der, so die Kritik Baudrillards, alles visualisiert werden muss, verschwindet das Reale hinter der Bilderflut. Der Verlust der realen Substanz des Bildes mit der Rezipienten fortwährend konfrontiert
der 11. September, und der ehemalige Germanist und Übersetzer stand wieder hoch im Kurs. [...]“ Ebd. 114 „Was wird heute zum Ereignis? Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik, sie alle bringen heute lauter Nichtereignisse hervor. Selbst der Krieg ist kein Ereignis mehr. All das geht in den Universalaustausch ein. Was ist denn in der Lage, wieder eine Zone zu erschaffen, in der der Tausch unmöglich ist, die potentielle Leere, aus der eine ungewöhnliche, fremdartige Situation erwachsen könnte?“ Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 68 115 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 29 116 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 11 117 Vgl.: Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 29-30
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sind, führt letztlich dazu, dass das Subjekt der realen Welt gegenüber in einen Zustand der Indifferenz verfällt.118 Das Ziel von Baudrillards Auseinandersetzung mit dem Ereignis bzw. dem Nichtereignis im Rahmen der Medienindustrie erklärt William Merrin folgendermaßen: „His aim in this is primarily critical, in seeking to problematize the media’s processing and production of our experience and knowledge, to demonstrate its functioning in support of a code of power, and to challenge these processes in both the form and content of his work.“
119
Die Bilder der Anschläge des 11. September entfalten ihre Wirkung gerade im Kontext der Flut bedeutungsloser Bilder und einer durch mehr oder weniger bedeutungslose Pseudo-Ereignisse gekennzeichneten Medienlandschaft: 9/11 „bedeutet [...] ein abruptes Innehalten des Bildes, ein brutales Innehalten der Welt, ein gewaltsames Innehalten der Informationskette.“120 Es ist unvorhersehbar121, durchbricht sinnstiftende Kontinuität und Kausali-
118 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 45. Der Zustand der Indifferenz ist nicht mit dem Burkeschen Verständnis des Begriffs gleichzusetzen. Bei Edmund Burke handelt es sich hierbei um einen neutralen Zustand, während die Indifferenz im Kontext der bilderüberfluteten Informationsgesellschaft, die Baudrillard beschreibt, im Sinne der Abstumpfung des Menschen interpretiert werden muss. 119 Merrin: Baudrillard and the Media, S. 98 120 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 70. Baudrillard spricht in diesem Kontext von „der Brandung bedeutungsloser Ereignisse und banaler Bilder“, in die die Anschläge des 11. September hinein brechen. Ebd. 121 In seine Auseinandersetzung bezieht Baudrillard u.a. Zerstörungsszenarien aus Hollywood-Produktionen ein, die in der Diskussion um die Anschläge immer wieder aufgegriffen werden. Doch auch wenn ähnliche Szenarien z.B. in Filmen schon entworfen wurden und man meinen könnte, dass Rezipienten an Katastrophendarstellungen gewöhnt seien, so vermindert dies nicht das Ereignis bzw. seine Wirkung. 9/11 als solches, so Baudrillard, war vollkommen unvorhersehbar, als reales Ereignis unvorstellbar und so können virtuelle Szenarien niemals das Ereignis selbst ausschöpfen. Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 71
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tät, setzt gewohnte Strukturen und Wahrnehmungsmuster außer Kraft und vereint als solches zentrale Merkmale, die auch der Kategorie des Erhabenen inhärent sind.122 Für Baudrillard stellt 9/11 die „‚Mutter‘ aller Ereignisse“123 dar. In seiner Analyse der Geschehnisse nimmt er die Thematik des Todes auf, die eng mit dem Gefühl des Schrecklich-Erhabenen verknüpft ist. Zudem greift er immer wieder auf Extreme und die dazwischen liegenden Spannungsfelder zurück.124 Diese Vorgehensweise, die den Diskussionen, die sich (explizit) mit der Kategorie des Erhabenen beschäftigen, durchaus ähnlich ist, soll als Grundlage dafür dienen, die Baudrillard’sche Auseinandersetzung mit dem 11. September und dessen Bildern in den Kontext des Schrecklich-Erhabenen einzuordnen. Der Tod ist für Baudrillard ein Schlüsselelement, um die Anschläge als singuläres Ereignis zu klassifizieren, denn für ihn ist er die „äußerste[...] Form der Singularität“125. Der Ereignischarakter des 9/11 besteht für Baudrillard zunächst darin, dass durch den Tod, der das Unwiderrufliche repräsentiert und im Zentrum der Geschehnisse steht, innerhalb des bestehenden virtuellen verallgemeinerten Tauschsystems eine Zone geschaffen wird, in der ein Tausch nicht mehr möglich ist. Der unmögliche Tausch des Todes und der unmögliche Tausch des Ereignisses, auch gegen jeglichen im
122 Baudrillard verwendet in seiner Analyse des 9/11 u.a. Begrifflichkeiten wie „unser Theater der Grausamkeit“ oder bezeichnet das Ereignis als „Katastrophenfilm[...] aus Manhattan“ (Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 75), wodurch sich Bezüge zum Typus des Schrecklich-Erhabenen herstellen lassen. Hier deutet sich der Aspekt des gleichzeitigen Abstoßens und Anziehens an, den vor allem Kant im Erhabenen ausarbeitet. Zudem lassen Baudrillards Vergleiche an Schillers Dramentheorie denken, in der Möglichkeiten untersucht werden, wie Erfahrung des Schreckens durch die Schaubühne vermittelt werden kann. 123 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 11 124 Einige Dichotomien, die er thematisiert, sind neben Realität – Fiktion z.B. auch „Nullhypothese“ – „Maximalhypothese“ (vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 65) sowie Präsenz – Absenz (vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 44). 125 Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 54
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Nachhinein stattfindenden Diskurs, verleihen dem 11. September eine symbolische Dimension, die ihn letztendlich auch zu dem Ereignis gemacht hat, als das es wahrgenommen wird. In dieser symbolischen Dimension sieht Baudrillard den Grund für die tiefe Ergriffenheit der Menschen angesichts der Geschehnisse. Der Aspekt des Unfassbaren, ebenfalls ein Schlüsselcharakteristikum des Erhabenen, ist wesentlich für seinen Begriff des Ereignisses, denn es entzieht sich der sprachlichen Fassbarkeit und dem Diskurs:126 „Es besteht ein absolutes Problem, über ein absolutes Ereignis zu sprechen, das heißt ohne Vermittlung irgendeiner Erklärung, denn es bleibt für immer 127
unerklärlich.“
Den Moment des Ereignisses beschreibt Baudrillard als „Zusammenstoß der Extreme“128, in der sich eine weitere Parallele zwischen seiner Analyse des 9/11 und dem Sublimen erkennen lässt. Seine Interpretation erinnert an eine Lust-Unlust-Dialektik, die Burkes und Kants Zwei-Phasen-Modell des Erhabenen prägt und im gleichzeitigen, untrennbar miteinander verbundenen Anziehen und Abstoßen besteht. So greift Baudrillard die den Bildern inhärente Ambivalenz des Schreckens auf, der gleichzeitig abstößt und dennoch eine enorme Anziehungskraft auf die Rezipienten ausübt:129 „Alles ist im ersten Augenblick da. Im Zusammenstoß der Extreme unmittelbar verbunden. Wenn man diesen Moment der Bestürzung, der – zweifellos unmoralischen – Bewunderung, in der sich jedoch – durch die Unmoral des Bildes – die verblüffende Ahnung des Ereignisses verdichtet – wenn man diesen Moment ablehnt, vermisst man jede Chance des Verstehens.“
130
126 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 65-66. „Diese symbolische Macht ist es, die uns alle an den Ereignissen von Manhattan so tief ergriffen hat.“ Ebd., S. 66 127 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 66 128 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 66 129 Als Indiz für die Anziehungskraft des medial vermittelten Ereignisses 9/11 sei auf den in Kapitel 2.2 dieser Arbeit erwähnten stark erhöhten Medienkonsum im Zuge der Anschläge (sowohl im Hinblick auf Fernseheinschaltquoten als auch auf Internet und Printmedien) verwiesen. 130 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 66
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Baudrillard impliziert hier die Notwendigkeit bzw. die Fähigkeit des Subjekts sich zu öffnen, um das Ereignis verstehen zu können. Der rationale Diskurs versperrt die Möglichkeit des Sich-Öffnens und distanziert das Subjekt vom Ereignis. Doch selbst ohne rationalen Diskurs, kann man dem Ereignis „nie nahe kommen [...] – so wenig wie dem Big Bang oder dem Urverbrechen.“131 Was hier zunächst paradox erscheint, wird auch in den Erhabenheitstheorien der Aufklärung im Hinblick auf die Distanz zur Gefahrenquelle thematisiert. Erst durch diese wird es überhaupt möglich, das Sublime zu fühlen – ohne schützende Distanz wäre das Subjekt der Vernichtung preisgegeben. Das Ereignis kann den Menschen, der die Abwehrmechanismen des rationalen Diskurses fallen lässt, allenfalls berühren – wirklich nahe kommen kann man ihm jedoch nicht. Eine weitere Parallele zwischen Baudrillards Interpretation und den Erhabenheitstheorien des 18. Jahrhunderts sind die Spannungsfelder Zweck – Zwecklosigkeit bzw. Sinn – Sinnlosigkeit, die er im Kontext der Gewalt, mit der das Ereignis verknüpft ist, thematisiert. Er bezeichnet den Terror selbst als ein extremes Phänomen, das in seiner gewaltsamen Dimension „herkömmliche Gewalt“132 übersteigt, da er weder Sinn noch Zweck hat und sich somit der Sinngebung durch das System entzieht:133 „Der Terrorismus enthält keine ideologische oder politische Alternative [...]. Darin wird er zum Ereignis: Er ist nicht Teil einer kontinuierlichen Geschichte, einer realen Geschichte; er gehört zu den reinen Ereignissen, zu jenen, die ihre Ursachen kurzschließen [...].“
134
Durch dieses Entziehen von Sinn und Kontinuität reiht sich das terroristische Ereignis in die Ordnung der Diskontinuität und des Bruchs ein,135 in der seit Jahrhunderten auch die Diskussionen um das Erhabene geführt
131 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 67 132 Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 57 133 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 57 134 Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 57-58 135 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 58
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werden. Da 9/11 den gewohnten Lauf der Dinge unterbricht, stellt das Ereignis eine Bedrohung für bestehende Strukturen dar. Deshalb, so Baudrillard, wird versucht, es durch einen Diskurs zu löschen um Normalität zurück zu erlangen, wobei auch der Krieg als Vehikel dient.136 Das Ereignis ist zuerst „da“137 – eine Formulierung, die an Lyotards quod erinnert. Noch deutlicher als bei Lyotard steht für Baudrillard der Moment des Daseins (dem quod vergleichbar) im Gegensatz zu dem sich anschließenden quid im Vordergrund. Jeder Versuch, das Ereignis nachträglich zu erklären, die Frage nach dem Sinn zu debattieren oder zu versuchen es in einen Kausalzusammenhang einzuordnen, nimmt dem Ereignis seinen wahren Charakter. Statt der „Maximalhypothese [...], die den Ereignischarakter des 11. September, die maximale Wucht des Ereignisses hervorhebt“138, würde man zur „Nullhypothese“ gelangen, die besagt, dass nichts geschehen sei, da alles erklärbar ist.139 Denn was das Ereignis als symbolisches kennzeichnet, ist gerade das Fehlen des Kausalitätsprinzips, die Unmöglichkeit es in eine Reihe von Ursachen und Wirkung einzugliedern.140 Das Denken, das sich mit dem Ereignis befasst, muss sich diesem Bruch anpassen, indem es seine herkömmlichen Bahnen verlässt und sich dem Kausalitätsprinzip versagt.141 Ein weiteres Spannungsfeld spielt sich zwischen den Polen Verschwinden und Darstellung ab: einerseits steht Ground Zero für einen „magnetischen Raum des Verschwindens, wo alles sich zusammenballt“142, anderer-
136 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 71 137 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 67 138 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 65 139 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 67 140 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 67 Baudrillard differenziert an dieser Stelle zwischen symbolischem und realem Ereignis: während das symbolische Ereignis mit dem Kausalitätsprinzip bricht, unterliegt das reale Ereignis letzterem. Siehe dazu: ebd. 141 „[...] [W]enn sich in dem singulären Ereignis die Folgen von ihren Gründen befreien, dann muss das Denken, das sich mit ihnen befasst, sich auch von seinen Voraussetzungen und Bezügen befreien [...].“ Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 67-68 142 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 68. An einen „magnetischen Raum des Verschwindens“, in dem doch die Katastrophe
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seits ist es gerade das Erscheinen im Bild was die Geschehnisse für alle nicht unmittelbar Anwesenden zum Ereignis macht. Seine besondere Bedeutung erhält der 11. September, indem das Verhältnis von Bild und Ereignis in der massenmedialen Welt radikal durchbrochen wird. Im normalen Medienbetrieb, so Baudrillard, ist das Bild zum Substitut für das Ereignis geworden, das im Bildkonsum verzehrt wird und durch einen Nullgehalt an Information gekennzeichnet ist. Es handelt sich nunmehr um ein Nichtereignis, in dem das Visuelle eine Zuflucht vor dem echten Ereignis bietet. Im Falle des 11. September hingegen verschmelzen Bild und Ereignis miteinander und das Bild selbst wird zum Ereignis.143 Was diese Bilder für Baudrillard so bedeutend macht, ist auch die Wechselsteigerung von Realität und Fiktion, denn sie können weder eindeutig der Virtualität noch der Realität zugeordnet werden und lassen die Grenzen zwischen Realem und Fiktionalem verschwinden. Der Ereignischarakter wird nicht vom virtuellen Erscheinungsbild untergraben, sondern erlebt gerade durch die Wechselsteigerung ein Mehr an Realität, ebenso wie ein Mehr an Fiktion und wird zu einer „totalen symbolischen Tatsache“.144 9/11 ist somit (zumindest für diejenigen, die die Geschehnisse durch die audiovisuellen Medien erleben) zunächst weder eindeutig als real noch als fiktiv einzuordnen: zwar erkennt das Subjekt, dass die Bilder auf dem Bildschirm auf reales Geschehen verweisen – aber dennoch findet es ‚nur‘ in Bildern statt, die in ihrer visuellen Sprache an Katastrophenszenarien aus Hollywoodfilmen erinnern. Die Problematik der 9/11-Bilder liegt maßgeblich in dem scheinbar unauflösbaren Zwiespalt zwischen Realität und Fiktion, den auch Baudrillard nicht vollkommen aufzulösen vermag. Auch er zieht keine eindeutigen Schlüsse über das Verhältnis dieser Gegensätze, vielmehr beschreibt er es als einen Wettstreit, wer wohl am unvorstellbarsten sei – die Realität oder die Fiktion?145 So bleibt er konsequent hinsichtlich seiner Definition des Ereignisses als Bruch und gerade
dieses Tages ‚sichtbar‘ bzw. präsent wird, erinnert auch das Cover das Art Spiegelman für die am 24. September 2001 erschienene Sonderausgabe des Magazins The New Yorker entwarf. Siehe dazu auch Kapitel 4.2 dieser Arbeit. 143 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 69-70 144 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 70 145 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 73
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der nicht harmonisierbare Widerstreit zwischen Realem und Fiktionalem erweist sich als Parallele zum Erhabenen. Die den Bildern inhärente Dimension des Realen stellt für Baudrillard eine „Schreckensprämie“146 dar, die den Schock des Bildes durch die Addition des Realen noch steigert: „Nicht die Gewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Bildes, sondern das Bild war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Realen.“
147
Die durch den Widerstreit von Realität und Fiktion hervorgerufene Sphäre des Irrealen und Surrealen erzeugt eine Atmosphäre von enormer Unsicherheit im Subjekt, das von den Bildern überwältigt wird, ohne eine lineare Struktur vorzufinden, an der es sich orientieren kann. Für Baudrillard erlangen sowohl das Bild als auch das Ereignis selbst ein extremes Stadium, das letztendlich in Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit resultiert.148 Hierin liegt das besondere Paradox des Bildereignisses: denn das reale Ereignis findet im Medienbild, also prinzipiell in sinnlich-fassbarer, figurativer Form statt, und dennoch werden die Grenzen der menschlichen Erkenntniskräfte gesprengt: „Das hat wohl jeder gedacht, der die Türme einstürzen sah: Es ist unvorstellbar! Und es ist in der Tat auch keine Repräsentation dieses Ereignisses möglich, es ist in allen Diskursen und Deutungen, politisch, ökonomisch, psychologisch, undarstellbar. Als reines Ereignis steht es über allem.“
149
So lautet eine Schlussfolgerung, dass es auch im von Bilderflut und Bildgläubigkeit charakterisierten Zeitalter digitaler Massenmedien Phänomene gibt, die trotz der Erfassung der Oberflächenerscheinungen im Bild letztendlich doch die Vorstellungskraft übersteigen und die Erkenntniskräfte an Grenzen treiben. Hier wird deutlich, dass das Bild die Essenz des Ereignisses nicht abzubilden vermag. Es kann lediglich mittels sinnlicher Codes auf
146 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 74 147 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 74 148 Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 70 149 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 70
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eine Dimension des Ereignisses verweisen, die sich im Kern jedoch der konkreten Anschauung entzieht.
2.1.3 Paul Virilio: Echtzeit-Bild und Echtzeit-Ereignis Paul Virilio, Urbanist und Medienkritiker, gilt als „Denker der Geschwindigkeit“150, der den Einfluss einer immer schneller werdenden Technik auf das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die gesellschaftliche Verfasstheit untersucht. Sein Forschungsgebiet ist das der Dromologie, in das er Mediengeschichte, Urbanistik, Militärwissenschaft sowie Physik einfließen lässt.151 Darin geht es um das „Wesen der Geschwindigkeit, ihre[...] Entstehungsbedingungen, Wandlungen und Auswirkungen“152, denn Geschwindigkeit ist bei Virilio der Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Verhältnisse sowie ein zentraler Machtfaktor. Der Schnelligkeit der Übermittlung von Informationen beispielsweise, misst er wesentlich größere Bedeutung bei als Besitz- oder Produktionsverhältnissen. Die Beziehung von Dromologie und Medien besteht darin, dass aus jedem Medium eine spezifische Wahrnehmung von Geschwindigkeit entsteht,153 wobei der menschliche Körper mit seiner direkten, sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit das wichtigste Medium ist.154 Bei Virilio tritt der Inhalt der Information
150 Dies ist dem Titel der Dokumentation Paul Virilio: Denker der Geschwindigkeit (Frankreich 2007, Regie: Stéphane Paoli) entliehen, die sich mit der Philosophie Paul Virilios auseinandersetzt. 151 Vgl.: Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. 3., aktualisierte Auflage, München: Fink 2007, S. 133 152 Claus Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio. Dromologie. (Schriftenreihe Spektrum Philosophie. Hrsgeg. von Arno Baruzzi, Alois Halder, Klaus Mainzer unter Mitwirkung von Hans Peter Balmer, Severin Müller, Ulrich Weiß. (Band 24) Würzburg: ERGON 2002, S. 11 153 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 134 154 Für Virilio ist prinzipiell alles, was sich verändernd auf die Wahrnehmung von Geschwindigkeit auswirkt ein Medium. Daher ist sein Medienbegriff als relativ unpräzise zu beurteilen. (Vgl.: Daniela Kloock: Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur. Analyse aktueller Medientheorien. Berlin: Spiess 1995, S.
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in seiner Bedeutung hinter der Geschwindigkeit ihrer Übermittlung zurück und somit ist die Geschwindigkeit selbst letztlich die eigentliche Information. Hierin erkennt er die verändernde Wirkung auf das menschliche Verhältnis zu Raum und Zeit bzw. zum „Da-sein“155. Das Resultat der aufgrund technischer Entwicklung immer weiter voranschreitenden Beschleunigung ist letztlich der Verlust der natürlichen Wahrnehmungsfähigkeit des Subjekts.156 Das Bild steht im Zentrum von Virilios Analyse, da sich der Mensch darüber seine Welt erschließt157 und deshalb bilden Wahrnehmung sowie Sehen wesentliche Referenzpunkte seiner Interpretationen. Er unterteilt die Geschichte des Bildes in drei Zäsuren anhand derer er die Entwicklung bzw. Veränderung menschlicher Wahrnehmung aufzeigt: die formale Logik, die dialektische Logik und die paradoxe Logik des Bildes.158 Malerei, Radierung und Architektur gehören dem Zeitalter der formalen Logik an, das mit dem 18. Jahrhundert abschließt.159 Kennzeichnend für die visuelle Wahrnehmung ist hier die Korrespondenz zwischen dem Bild, das das Auge durch ‚Abtasten‘ des physischen Raumes erfasst, und dem Resultat des mentalen Bildes, das der Betrachter in der individuell benötigten Zeit ‚entwickeln‘ muss.160 Auch der Künstler benötigt seine ihm eigene Zeit für die sorgsame Auswahl der Materialien sowie für die Kreation des Werkes. Im traditionellen Kunstwerk verdichtet der Künstler eine zeitliche Abfolge von
123) In der vorliegenden Arbeit findet die Auseinandersetzung mit Virilio im Hinblick auf Massenmedien im herkömmlichen Sinne statt. 155 Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. 2., korrigierte und erweiterte Auflage, München: Fink 2000, S. 135 156 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 135 157 Vgl.: Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio, S. 71 158 Vgl.: Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio, S. 60-61 159 Vgl.: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989, S. 143 160 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 139-140 und Virilio: Die Sehmaschine, S. 16. Unter Berufung auf die Studien von W. R. Russel und Nathan (1946) (Vgl.: Virilio: Die Sehmaschine, S. 28) über die Traumata ehemaliger Soldaten stellt Virilio den Aspekt der Dauer bei der Entstehung mentaler Bilder heraus: „der Erwerb des mentalen Bildes geschieht niemals spontan, er ist eine sich nach und nach verfestigende Wahrnehmung.“ Virilio: Die Sehmaschine, S. 29
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Bewegungen in einem einzigen Bild und vermittelt dadurch den Eindruck eines Bewegungsflusses.161 Laut Rodin, auf den Virilio sich in diesem Kontext beruft, ist dies der Realität menschlicher Wahrnehmung näher als die Fotografie, die die Zeit aufhebt, indem sie sie im Bild anhält.162 Der künstlerische Schaffensprozess führt vom mentalen Bild hin zu dessen physischer Ausführung auf materiellen Trägern, so dass sich das mentale Bild schließlich als Form in Malerei oder Architektur manifestiert. Wahrgenommene Erscheinung und körperlicher Ausdruck sind voneinander abhängig und die Möglichkeit der Wahrnehmung ist eingeschränkt durch die Grenzen des sinnlichen Körpers. Das zentrale Charakteristikum der formalen Logik ist also das Erscheinen des Wahrgenommenen in sinnlich fassbarer Form im Kunstwerk.163 Als persönlicher Ausdruck individueller Wahrnehmung ist die sinnliche Darstellung des mentalen Bildes einzigartig und technisch nicht reproduzierbar.164 Diese Ästhetik des Erscheinens ändert sich mit Beginn der dialektischen Logik des Bildes, mit der für Virilio die Ästhetik des Verschwindens beginnt.165 Die dialektische Logik bezeichnet das Zeitalter von Fotografie und Kinematografie im 19. Jahrhundert.166 Zwischen das menschliche Auge und das Gesehene wird ein technischer Apparat geschaltet (z.B. eine Kamera), wodurch das direkte Sehen in ein technisches Visualisieren übergeht, mit dem sich das Bewusstsein von Dimension und Entfernung radikal verändert.167 Die dialektische Logik ist gekennzeichnet durch einen Bruch mit der physischen und zeitlichen Komponente der Bildproduktion: „Der Photograph ist nicht mehr ein Künstler, der sich Zeit nimmt, seine individuellen Phantasien in/auf einem Materialgrund auszudrücken, sondern das
161 Vgl.: Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio, S. 61 und S. 63 162 Vgl.: Virilio: Die Sehmaschine, S. 13 163 Vgl.: Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio, S. 62 164 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 140 165 Vgl.: Die Ästhetik des Verschwindens. Ein Gespräch zwischen Fred Forest und Paul Virilio (S. 334-342). In: Florian Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 339 166 Vgl.: Virilio: Die Sehmaschine, S. 144 167 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 141
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Bild ist Ergebnis eines photochemischen Prozesses, [...] bei dem sich ausschließlich Licht auf einer Platte einschreibt. Das zu Erkennende ist Ergebnis 168
einer Belichtungszeit.“
Die fotografische Unmittelbarkeit verfälscht die Zeit, indem sie sie einfriert und unterläuft das für die formale Logik essentielle Nachvollziehen der Zeitdauer, was im Erstarren des menschlichen Blicks resultiert. Denn der Stillstand der Zeit im Foto läuft den natürlichen Sehgewohnheiten zuwider, bei denen das Auge ständig die unmittelbare Umwelt abtastet, um Dinge klar wahrnehmen zu können. Das Kameraobjektiv hingegen fixiert die Beweglichkeit des Auges und macht somit die Möglichkeiten des natürlichen Blicks und der sinnlichen Wahrnehmung zunichte.169 Mit der Fotografie findet eine Verlagerung vom Vordringen in eine zeitliche Tiefe der Materie im Kunstwerk hin zum Vordringen in ein anderes Universum statt: die optischen Hilfsmittel projizieren Bilder, die außerhalb der Reichweite des natürlichen Blickes liegen. Die Distanz zwischen Nahem und Fernem wird aufgehoben und beides kollidiert im Bild.170 Hier diagnostiziert Virilio auch den Verlust des Vorstellungsvermögens bzw. der Fähigkeit mentale Bilder zu entwickeln – es findet eine Verarmung des menschlichen Vorstellungsvermögens statt.171
168 Kloock, Spahr: Medientheorien,. 3., aktualisierte Auflage, S. 140 169 Vgl.: Virilio: Die Sehmaschine, S. 14-15. Virilio beruft sich in diesem Kontext (S. 14) auf Aldous Huxley, den er hier zitiert (Aldous Huxley: Die Kunst des Sehens. München: Passim 1987, ohne Seitenangabe). Auch Susan Sontag kritisiert einen Prozess der Verarmung menschlicher Erfahrung – sie spricht sogar von „Verweigerung von Erfahrung“ – durch den Akt des Fotografierens, da beispielsweise ein Reisender seine Erlebnisse auf die Suche nach möglichst fotogenen Motiven beschränkt und somit Erfahrung in ein Souvenir, eine „feste Form“ verwandelt. Siehe dazu: Sontag: Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 15 170 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 141 171 „In dem Moment, wo wir uns die Mittel verschaffen wollen, das, was man im Universum noch nie gesehen hat, in immer größerem Maßstab und immer besser zu sehen, befinden wir uns an einem Punkt, an dem wir das schwache Vermögen verlieren, uns das noch nie Gesehene in der Phantasie vorzustellen.“ Virilio: Die Sehmaschine, S. 20
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Neben der Fotografie verändert auch die Kinematografie, die ebenfalls der dialektischen Logik des Bildes angehört, menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis drastisch.172 Die Kinematografie friert das Bild zwar nicht ein, jedoch verfälscht sie durch Bewegung und zahlreiche technische Manipulationsmöglichkeiten von Raum-Zeit-Ebenen und –Verhältnissen das natürliche Raum-Zeit-Empfinden. „Die schnellen Filmaufnahmen führen dazu, daß die subjektive Reflexion und Imagination vollends verschwinden und damit auch die inneren, mentalen, idiosynkratrischen Bilder und Phantasien; es kommt zu einer Gleichschaltung des Unbewußten.“173 Die Geschwindigkeit von Filmaufnahmen überholt das natürliche Sehvermögen des Menschen, der mit der Technik nicht mehr mithalten kann. Im ZuSchnell, das das Subjekt überfordert, sieht Virilio einen erheblichen Machtfaktor, der der Beeinflussung der Massen, der Konditionierung und den Propagandatechniken dienen kann.174 Analog dazu betrachtet er die Entwicklung der Kinematografie primär als militärtechnologische Entwicklung.175 Mit der Einführung der Kinematografie beginnt für Rezipienten auch ein Lernprozess, der der Bewältigung Angst erregender Darstellungen dient. Durch die Konfrontation mit dem Schrecken auf der Kinoleinwand gewöhnt das Publikum sich an den Anblick des Schreckens: Rezipienten lernen ihre Gefühle zu beherrschen und Schocks werden routinisiert.176 Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts beginnt schließlich das Zeitalter der paradoxen Logik des Bildes, das gekennzeichnet ist vom Phänomen der
172 Obwohl hier auf Fotografie und Kinematografie separat eingegangen wird, richtet sich Virilios Interesse vor allem auf die Kombinatorik unterschiedlicher Bildtypen; er spricht auch von „Fotokinematografie“ oder im Fall von Video und Infografie von „Videoinfografie“. Vgl.: Die Ästhetik des Verschwindens. Ein Gespräch zwischen Fred Forest und Paul Virilio, in: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 336 173 Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 143 174 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 143. Siehe dazu auch: Virilio: Die Sehmaschine, S. 63 175 Für eine detaillierte Darstellung der Verzahnung von Kinematografie und Militärtechnik siehe: Kloock, Spahr: Medientheorien,. 3., aktualisierte Auflage, S. 144-146 176 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 144
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„Echtzeit“.177 Das Echtzeit-Bild beherrscht das Dargestellte „in dieser Zeit, die sich gegenüber dem wirklichen Raum verselbständigt, in dieser Virtualität, die an die Stelle der Aktualität tritt und den Begriff von ‚Wirklichkeit‘ umwälzt.“178 Hier diagnostiziert Virilio die Krise für herkömmliche öffentliche Präsentationsformen, die abgelöst werden durch eine paradoxe „TelePräsenz“179, in der das Vorhandensein entfernter Objekte sofort ersetzt werden kann.180 Elektronische Bilder markieren für ihn das Ende des Bildes, da sie keinen Referenten im Materiellen mehr haben, allein auf Lichtgeschwindigkeit beruhen und zum Substitut der realen Dinge werden.181 Die audiovisuellen, echtzeitlichen Medien bringen eine radikale Veränderung des menschlichen Verhältnisses zur materiellen Realität mit sich: das Subjekt ist isoliert von der körperlich-sinnlichen Erfahrung des „Hier und Jetzt“182 und stattdessen nur noch präsent bei Ereignissen, die außerhalb seiner physischen Präsenz stattfinden.183 Analog zu fortschreitender Beschleunigung lässt sich so ein Entfremdungsprozess bzw. der Verlust des Unmittelbaren nachvollziehen.184 In Ground Zero185, einem anlässlich des ersten Jahrestages der Anschläge vom 11. September 2001 erschienenen Band, thematisiert Virilio die Problematik einer ‚globalen Optik‘: ein Zustand, in dem die immer ausgeklügeltere technische Wahrnehmungsfähigkeit (z.B. durch Satelliten) dazu führt, dass das okulare Bild kein natürliches mehr ist, sondern ein tech-
177 Vgl.: Virilio: Die Sehmaschine, S. 144-145 178 Paul Virilio: Das öffentliche Bild (S. 343-345). In: Florian Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 344 179 Virilio: Das öffentliche Bild, in: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 344 180 Vgl.: Virilio: Das öffentliche Bild, in: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 344 181 Vgl.: Kloock: Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur, S. 135 182 Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 136 183 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 136 184 Vgl.: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Geschwindigkeit ist Gewalt. Paul Virilios Sicht der Moderne (S. 219-232). In: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie (Band 2. Frankreich/Italien). Hamburg: Rotbuch 1996, S. 222 185 Paul Virilio: Ground Zero. London, New York: Verso 2002
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nisch reproduziertes künstliches. Wenn Sehen nur noch über künstliche Bilder stattfindet, dann wird es selber artifiziell. Im konkreten Fall der live übertragenen Terroranschläge hat dieser Zustand dazu geführt, dass viele Fernsehzuschauer zunächst glaubten, sie sähen einen der im Medienalltag üblichen fiktionalen Katastrophenfilme. Erst als sie beim Umschalten auf andere Sender genau die gleichen Bilder erblickten, wurde ihnen bewusst, dass es sich nicht um Fiktion sondern um reales Geschehen handelte.186 Wie auch Baudrillard greift Virilio die Problematisierung des Verhältnisses von Realität und Fiktion auf. Angesichts von digitalen Bilderwelten, Hologrammen und Videogrammen ist die Virtualität der paradoxen Logik für den Betrachter kaum noch einzuschätzen.187 Technik und die dadurch bedingte Beschleunigung, so lässt sich aus Virilios Analysen schlussfolgern, überfordern den Menschen und seine Wahrnehmungsfähigkeit: das Zu-Schnell und Zu-Viel der Bilder liegen jenseits der Kontrolle des Subjekts – es entsteht der Eindruck, dass die audiovisuellen Medien das Subjekt und dessen Wahrnehmung beherrschen. Die Geschwindigkeit hat auch grundlegende Auswirkungen auf journalistische Berichterstattung sowie Geschichtsschreibung: im Zeitalter der Echtzeit, in dem das Ereignen und das Rezipieren simultan verlaufen, sind Geschehnisse unmittelbar an ihre technische Übertragung geknüpft. Für die Umstrukturierung der Berichterstattung durch die Echtzeit gibt es folgende Gründe: zum einen die sorgfältige Auswahl der Bildeinstellungen und zum anderen die Unmittelbarkeit – das „Jetzt“ der Übertragung – die das Ge-
186 Vgl.: Virilio: Ground Zero, S. 37-38 187 Vgl.: Virilio: Das öffentliche Bild, in: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 344 In Ereignislandschaft stellt Virilio einen Bezug zwischen der Hochauflösung und Beschleunigung von Fernsehbildern einerseits und menschlicher Wahrnehmung von Realität und Fiktion andererseits her: „[...] mit Hilfe der Forschung zur Hochauflösung [...] [wird; A. B.] ein direkt übertragenes Fernsehbild [...] [erzeugt; A. B.], dessen Mängel dem bloßen Auge verborgen bleiben, da die Auflösung des elektronischen Bildes derjenigen des menschlichen Auges überlegen ist, so daß am Ende das Bild realer zu sein scheint als der Gegenstand, dessen ‚Bild‘ es doch nur ist! [...] [E]in buchstäblich verblüffendes Phänomen, das unter anderem möglich gemacht wird durch die Beschleunigung [...].“ (Hervorh. i.O.) Paul Virilio: Ereignislandschaft. München, Wien: Carl Hanser 1998, S. 90-91
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schehnis der Reflexion sowie der öffentlichen Analyse entzieht.188 „Diejenigen Journalisten oder Diplomaten,“ so Virilio, „die immer noch glauben, daß man warten müsse, um Geschichte niederzuschreiben, haben sich bedauerlicherweise im Zeitalter geirrt!“189 Am Beispiel des Golfkriegs zeigt er auf, dass die Echtzeitberichterstattung auch dazu dient, Kriege und Konflikte zu verkleinern: „Indem der totale Krieg zu einem ‚intensiven‘ und nicht mehr wie einst zu einem ‚extensiven‘ Krieg gemacht wird, hat der postmoderne Mensch sogar das Ausmaß der Gewalt auf seine kleinstmögliche Ausdrucksform reduziert: auf 190
ein Bild.“
(Hervorh. i.O.)
Die geographische Fläche, die traditionelle Kriege vor Beginn des Informationszeitalters einnahmen, ist nun auf Bildschirmmaße geschrumpft.191 Informationen und ihre Übertragung werden zu Waffen in einem Krieg, in dem es nicht mehr um die Eroberung von Territorien geht sondern um das sofortige, allumfassende Sichtbarmachen.192 Im Gegensatz zur Kommunikation im realen Raum, die von genügend oder nicht genügend Zeit abhängt, überbrücken echtzeitliche Kommunikationstechnologien räumliche sowie zeitliche Beschränkungen und können Kommunikation erleichtern, indem sie die Beschränkungen aufheben und Differenzen überbrücken. Das im Fernsehen übertragene Ereignis, so Virilios Analyse in Ereignislandschaft, findet gewissermaßen zweimal statt
188 Vgl.: Virilio: Ereignislandschaft, S. 47-48 189 Virilio: Ereignislandschaft, S. 48 190 Virilio: Ereignislandschaft, S. 49 191 Vgl.: Virilio: Ereignislandschaft, S. 49 192 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 147. Schon vor den Anschlägen vom 11. September 2001 hat Virilio sich mit dem Anschlag auf das World Trade Center vom 26. Februar 1993 und dessen Bedeutung im Hinblick auf die Kommunikation als einem zentralen Faktor der Kriegsführung beschäftigt: „Nach der Boden-, der See- und der Luftfront erleben wir nun wahrhaftig die schrittweise Errichtung einer vierten Front, und zwar derjenigen der Informationsmacht. Wir sollten nicht vergessen, daß der internationale Terrorismus unlöslich mit dieser Medienfront verknüpft ist [...].“ Virilio: Ereignislandschaft, S. 45
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(im realen Raum des örtlichen Geschehens und in der Übertragung), wobei es jedoch aufgrund der Übertragungsgeschwindigkeit auch den Aspekt der Gleichzeitigkeit beinhaltet. Während der menschliche Wahrnehmungshorizont im realen Raum geographisch beschränkt ist, ist der des Fernsehzuschauers begrenzt durch Einrahmung des Ereignisses durch Bildschirmrand, Sendezeit und echtzeitlichen Empfang.193 Insgesamt findet durch die elektronischen Medien eine Verlagerung statt vom realen Wahrnehmungshorizont hin zu dem, der sich aus der medialen Übertragung konstituiert.194 Der Medienrezipient bewegt sich nicht mehr durch den Raum sondern nur noch an Ort und Stelle, was zur Folge hat, dass er zunehmend von sinnlicher Erfahrung des geographischen Raumes isoliert ist und Wahrnehmung nur noch via Bildempfang stattfindet.195 Virilio ist sich der Tatsache bewusst, dass auch natürliches Sehen geographisch bedingten Einschränkungen unterliegt, doch tendiert dies in seiner Medienkritik unterzugehen. Am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem expandierenden Cyberraum besteht für Virilio ein weiterer Bruch: menschliches Interagieren und Handeln haben sich zunehmend vom realen in den virtuellen Raum verlagert, weshalb er das Ende traditioneller Formen von Politik sowie die Entstehung von Cyberpolitik und Cyberkrieg diagnostiziert. Die Einheit von Raum und Zeit ist zerbrochen und der Raum der Politik hat seine Form und konkrete Gestalt verloren.196 Auch wenn elektronische Informationstechnologien die Kommunikation durch die Überbrückung zeitlicher und geographischer Entfernungen er-
193 Vgl.: Virilio: Ereignislandschaft, S. 84-85 194 „Diese Bewegungslosigkeit des individuellen Körpers resultiert ganz offensichtlich aus dem allgemeinen Eingang der (optischen und akustischen) Informationen, wodurch alles beim Menschen zusammenläuft und sich konzentriert, der aufmerksam auf die unverzüglich übermittelten Bilder und Töne achtet. Hierbei wird der Bildschirm unversehens zu einem letzten ‚Sehhorizont‘, dem Horizont der beschleunigten Teilchen, der den geographischen Horizont des Raumes ersetzt, in dem sich noch der Körper des Fernsehzuschauers bewegt.“ (Hervorh. i.O.) Virilio: Ereignislandschaft, S. 86 195 Vgl.: Virilio: Ereignislandschaft, S. 92 196 Vgl.: Daniela Kloock: Interview mit Paul Virilio (S. 216-223). In: Daniela Kloock: Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur. Analyse aktueller Medientheorien. Berlin: Spiess 1995, S. 218
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leichtern können, so führen Vernetzung und Verschaltung der Lebenswelt des Menschen bei Virilio letztendlich zur Verneinung des Raumes sowie zum Verlust von realer Präsenz und Nähe. Mit dem Verlust des realen Raumes, des sinnlich fassbaren, physischen Grund und Bodens, wird das Subjekt all dessen beraubt, was es und seine sozialen Gefüge über Jahrhunderte hinweg definierte und es verliert mit der Liquidierung des Raumes197 auch den Boden, auf dem politisches Handeln basiert.198 Wenn Menschen sich versammeln, so geschieht dies immer weniger im realen Raum, sondern in der Zeit – genauer: in der Sendezeit. Dies bewirkt eine Umstrukturierung von Gemeinschaft bzw. Gruppenzugehörigkeit, die nun nicht mehr geographisch definiert wird (beispielsweise durch Landesgrenzen oder die „Nation“), sondern durch „atopische[...] Tele-Gemeinschaften“199. Darin sieht Virilio die Gefahr, dass Ereignisse verschwinden:200 „Damit fordert er implizit auf, eine Antwort auf die Herausforderung der Echtzeit zu finden. Sollte diese ausbleiben so ereilt dieser Krieg das gleiche Schicksal wie die Fernsehnachrichten, nämlich kaum gesehen schon vergessen zu sein. Denn letztendlich führt das elektronische Verfahren zur Bildkomprimierung zur historischen Komprimierung und schließlich zum Verschwinden 201
der Ereignisse selbst.“
Was hier anklingt, erinnert an Baudrillards Kritik der im normalen Medienbetrieb inflationär generierten und verbreiteten Pseudo-Ereignisse, in denen das Bild zum Substitut für das Ereignis wird und es dadurch letztlich vernichtet. Die Dichotomie von Erscheinen und Verschwinden kommt auch in Virilios Analysen zum Ausdruck und bezeichnet ein für die Betrachtung des Bildes zentrales Spannungsfeld, das letztlich jedoch auch hier keine Auflösung findet. Virilio stellt der Ästhetik des Erscheinens die Ästhetik des Verschwindens gegenüber, die mit der Entstehung der Fotografie ein-
197 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien,3., aktualisierte Auflage, S. 152 198 Vgl.: Paul Virilio, Sylvère Lotringer: Der reine Krieg. Berlin: Merve 1984, S. 141 199 Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 153 200 Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien,3., aktualisierte Auflage, S. 153 201 Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 153-154
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setzt und durch die immer größere Beschleunigung der Bilder dazu führt, dass das Verschwinden der Dinge zum zentralen Charakteristikum wird.202 Aufgrund der technischen Möglichkeiten der Informationsmedien und der Übertragungsgeschwindigkeit wird Wahrnehmung im 21. Jahrhundert maßgeblich von Bildern geprägt, worin Virilio auch am 11. September 2001 die Ursache für die Synchronisierung und Gleichschaltung von Gefühlen sieht. Ein anonymes Massenpublikum wird zeitgleich Zeuge der Bilder der Anschläge auf das World Trade Center; mit der Gleichschaltung der Bilder erfolgt eine Gleichschaltung von Emotionen und so ist das globale Publikum vereint in einem allgemeinen Gefühl des Entsetzens. Die Geschwindigkeit, mit der die Rezipienten von den Bildern heimgesucht werden, verringert die Distanz zum Ereignis, so dass individuelle Reflexion und Analyse kaum mehr möglich sind:203 „Die Geschwindigkeit der Bildersprache hemmt die Analysefähigkeit des Betrachte[r]s [sic! A. B.] und verfälscht die zwischenmenschlichen Beziehungen; dem Betrachter fehlt es an Abstand zum Gesehenen, demokratisches Denken 204
wird erschwert.“
Am 11. September sind es vor allem die Bildschirme, die es den global vernetzten Rezipienten ermöglichen das Ereignis live mitzuverfolgen, gemeinsam zu verarbeiten und Eindrücke z.B. durch die Dokumentation im Bild
202 „Die Dinge existieren durch ihre Eigenschaft des Verschwindens; nicht durch ihren langsamen Verfall wie bislang, sondern durch ihr unmittelbares Verschwinden, durch ihr einfaches und reines Verschwinden. Die Präsenz in 24 Bildern pro Sekunde vergegenwärtigt uns die Realität viel mehr als die Ästhetik des Erscheinens, als die des Moses von Michelangelo, die sich Stück für Stück in der Materie des Marmors verkörpert. In der Ästhetik des Verschwindens sind die Dinge desto präsenter, je mehr sie uns entgleiten.“ Die Ästhetik des Verschwindens. Ein Gespräch zwischen Fred Forest und Paul Virilio, in: Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein, S. 339-340 203 Vgl.: Salomé Kiner: Paul Virilio, der Preis des Fortschritts. Erstellt am 12.01.2009, letzte Änderung am 19.01.2009. Quelle: http://www.arte.tv/de/D OS__Paul-Virilio/2382838,CmC=2394340.html. Aufgerufen am 05.03.2010. 204 Salomé Kiner: Paul Virilio, der Preis des Fortschritts. Aufgerufen am 05.03.2010.
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bzw. den Austausch von Bildern zu teilen. Modernen Kommunikationstechniken, speziell Fernsehen, Internet und Mobiltelefone, kritisiert Virilio als technische Hilfsmittel, die eine physische Nähe lediglich simulieren – und doch ermöglichen diese „simulators of proximity“205 (Hervorh. i.O.) ein gemeinsames Erleben der Katastrophe und ihrer Bilder, auch wenn diese Gemeinschaft stark in den virtuellen Raum verlagert ist. Ohne diese Technologien, so ist festzustellen, wären das gemeinsame Erleben des Ereignisses in dem globalen Ausmaß, in dem es stattgefunden hat, sowie die gemeinschaftliche Bewältigung des Schreckens nicht möglich gewesen.
2.2 Z ÄSUR 9/11: B ILDEREIGNIS
UND
S CHRECKENSERFAHRUNG
„Zuschauer bei Katastrophen sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung [...]. Kriege – das sind inzwischen auch Bilder und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen.“
206
Susan Sontag
Der 11. September 2001 stellt das Paradigma einer neuen Form des Ereignisses dar und hat Fragen im Hinblick auf das Bild per se sowie durch Bilder vermittelte Erfahrung aufgeworfen. Damit verbunden ist auch die Frage nach der Darstellbarkeit grenzüberschreitender Phänomene in einer von Bildern dominierten Medienwelt. Die Auswirkungen veränderter (medien-) technologischer und gesellschaftlicher Bedingungen auf menschliche Wahrnehmungsfähigkeit unterziehen Lyotard, Baudrillard und Virilio kritischen Analysen, die wertvolle Ansatzpunkte für eine Untersuchung der Eigenschaften und Wirkung des Bildereignisses liefern. Die Massenmedien spielen bei 9/11 eine zentrale Rolle, denn durch sie ist die Auswirkung des Ereignisses potenziert worden. Im Mittelpunkt steht
205 Virilio: Ground Zero, S. 41 206 Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main: Fischer 2005, S. 25
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zunächst das Fernsehen, das als Hauptinformationsquelle und als „Leitmedium“207 bei der Übertragung fungiert und wesentlicher Faktor für die Wahrnehmung ist:208 „[...] während sich die Presse eher auf ihre traditionelle Rolle als Verbreiter von Analysen und Hintergrundinformationen besann, [...] wurde das Fernsehen aufgrund seiner Rund-um-die-Uhr-Übertragungen, seiner apokalyptischen Bildsprache und seiner emotionalen Erzählhaltung für einen Großteil der Bevölkerung zur maßgeblichen Integrations- und Orientierungshilfe in den ersten Stunden ‚danach‘.“
209
Rezipienten nahmen das Geschehen gefiltert durch die Medien wahr und somit ist die Erfahrung als sekundäre zu bezeichnen. Die omnipräsenten Kameraobjektive lenkten die Blicke eines Millionenpublikums; sie zeigten bestimmte Bilder – und andere Bilder zeigten sie wiederum nicht oder ließen sie verschwinden. Für die Mehrheit derjenigen, die die LiveÜbertragung mitverfolgten, war eine unmittelbare, primäre Erfahrung aufgrund raum-zeitlicher Distanz unmöglich, dennoch wurden auch sie durch die audiovisuelle Berichterstattung zu Augenzeugen der Katastrophe. So erwies sich das echtzeitliche medial vermittelte Bild als ambivalent: es implizierte die Distanz zur Gefahrenquelle und hob sie gleichzeitig auf. Der Aspekt der Distanz wird thematisiert in verschiedenen Ansätzen, die sich mit menschlicher Wahrnehmung und Möglichkeiten der Erfahrung auseinandersetzen: wie weit darf das Subjekt vom Objekt entfernt sein um zu ‚wahrer‘ Erfahrung zu gelangen und wie nah darf es dem Schreckensereignis kommen, um ihm nicht selber zum Opfer zu fallen? Fragen nach der Distanz werden sowohl in der Aufklärung im Hinblick auf primäre Erfahrung gestellt, als auch in der Postmoderne, in der Erfahrung zunehmend sekundär stattfindet. Distanz zur Gefahrenquelle ist in traditionellen Theorien des Erhabenen entscheidend für die Wirkung des Schreckens. In seiner Philosophischen Untersuchung bemerkt Edmund Burke dazu:
207 Stephan Alexander Weichert: Die Krise als Medienereignis. Über den 11. September im deutschen Fernsehen. Köln: Halem 2006, S. 33 208 Vgl.: Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 33 209 Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 33
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„Wenn Gefahr oder Schmerz zu nahe auf uns eindringen, so sind sie unfähig, uns irgendein Frohsein zu verschaffen; sie sind dann schlechthin schrecklich. Aber aus einer gewissen Entfernung und unter gewissen Modifikationen können sie froh machen [...].“
210
Im Gegensatz zum positiven Vergnügen ist das Frohsein eine Empfindung, die aus der Beseitigung von Gefahr oder Schmerz resultiert und einen konstitutiven Moment für das Gefühl des Erhabenen darstellt.211 Nur wenn das Subjekt nicht unmittelbar bedroht und durch Distanz zur Gefahrenquelle geschützt ist, kann das Gefühl des Sublimen entstehen. Das Verhältnis von Nahem und Fernem ist in einer durch elektronische Massenmedien bestimmten Zeit radikalen Veränderungen unterworfen. Kritisch betrachtet werden von den postmodernen Denkern der Verlust des Unmittelbaren und die Aufhebung traditioneller Raum-Zeit-Strukturen. Vor allem Virilio beschreibt den Verlust physischer Nähe, die Entfremdung von Mensch und Welt, die aus der Schaltung technischer Hilfsmittel zwischen menschliches Auge und Geschehen resultieren. Zwar erlauben moderne Kommunikationstechnologien den Blick in jeden Winkel der Erde, doch werden Bilder und Informationen den Rezipienten gefiltert und vorinterpretiert zum Konsum in der Sicherheit des eigenen Umfeldes dargeboten. Distanz ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch; denn angesichts einer Flut an medialen Schreckensbildern ist der Rezipient zunehmend abgestumpft. Dies widerspricht zunächst der unmittelbaren Erfahrbarkeit von Welt durch die Medien und stellt auch die Relevanz eines sekundär vermittelten Bedrohungsszenarios für den Rezipienten in Frage. Doch 9/11 hat demonstriert, dass auch mediale Vermittlung zur Erfahrung des Schocks führen kann: das Medienbild hat das Zu-Viel an schützender Distanz unterlaufen und aufgehoben – das Bild der Bedrohung ist selbst zur Bedrohung geworden. Die Wirkung des Bildereignisses resultiert maßgeblich aus folgenden Komponenten: Geschwindigkeit von Geschehnis und unmittelbarer Übertragung, Plötzlichkeit, Irritation der Grenze zwischen Realem und Fiktionalem sowie der jähen Unbeherrschbarkeit eines vertrauten Objekts.
210 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 73 211 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 68 und S. 70
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Im Kontext der paradoxen Logik des Bildes thematisiert Virilio die Echtzeit-Geschwindigkeit der Bild- und Informationsübertragung, wobei seine Kritik dem Zu-Schnell gilt, dem der Rezipient nicht gewachsen ist. 9/11 ist das Paradigma eines Echtzeit-Ereignisses, das durch die Plötzlichkeit, das Zu-Schnell sowie Zu-Viel nicht nur Zuschauer sondern auch Medienschaffende überfordert. Die Geschwindigkeit der Geschehnisse, die zugleich als reales Ereignis und für ein Millionenpublikum als Bildereignis stattfinden, eliminiert die Distanz, die im medialen Normalbetrieb durch journalistische Berichterstattung entsteht. Zwar sind Rezipienten durch physische Entfernung geschützt, die psychische Distanz wird jedoch dadurch aufgehoben, dass der Puffer einer journalistischen Filterung von der Plötzlichkeit des Geschehens, der Geschwindigkeit der Übertragung sowie der Irritation der Grenze zwischen Fiktion und Realität unterlaufen wird. Selbst erfahrene Journalisten fühlen sich angesichts der außer Kontrolle laufenden Bilder hilflos und so sind auch die Zuschauer hilflos den Bildern ausgeliefert. Diese Situation ruft Assoziationen an die unmittelbare Konfrontation hervor, die die Leinwände Barnett Newmans vom Betrachter fordern: ohne den formalen Rahmen gewohnter journalistischer Berichterstattung, die das Geschehen in einen Kausalitätszusammenhang einordnet, dem Rezipienten Sinn stiftet und als Orientierungshilfe dient, ist das Subjekt unmittelbar mit dem Schrecken des Ereignisses und seiner Bilder konfrontiert. 9/11 hat in bislang nicht gekanntem Maße die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Erfahrung unterlaufen, was sich anhand der Wirkung auf den Medienbetrieb und die Rezipienten aufzeigen lässt. Die Nachricht der Anschläge breitete sich gleich einer Schockwelle über den Globus aus, setzte den normalen Medienbetrieb in bislang beispiellosem Maße außer Kraft und rief einen medialen Ausnahmezustand hervor.212 Dieser Ausnahmezustand als ungewöhnliches Ereignis, wie er sich in der Unterbrechung des regulären Sendebetriebs sowie in der Gleichschaltung der Kanäle zeigte, manifestiert sich auch in den Bildern, die als visuelle Reaktionen entstanden sind. In der Fotoausstellung Here is New York. A Democracy of Photographs wurden Aufnahmen zusammengetragen, die die Medienbe-
212 Zum Ausmaß der Unterbrechung des regulären Medienbetriebes aufgrund der Anschläge vom 11. September siehe: Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 25 und S. 27 ff.
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richterstattung des Ereignisses selbst zum Thema erheben: sie zeigen beispielsweise Fernsehbildschirme, auf denen die Bilder der einstürzenden Türme übertragen werden,213 oder die Titelseiten von Zeitungen sowie Zeitschriften, auf denen ebenfalls die Bilder der brennenden oder einstürzenden Türme zu sehen sind.214 Andere Fotografien wiederum fixieren die Unterbrechung des Sendebetriebs: sie zeigen u.a. einen schwarzen Fernsehbildschirm, auf dem es nichts zu sehen gibt außer dem Logo des Senders und dem schriftlichen Hinweis, dass der Sendebetrieb aufgrund der tragischen Ereignisse eingestellt wurde.215 Der Schockzustand, der im medialen Ausnahmezustand seinen sichtbaren Ausdruck findet, tritt in diesen Fotografien zutage und es wird deutlich, dass die Medien der zentrale Referenzpunkt für das Erleben der Katastrophe sind. Zudem zeigt sich die Selbstreferentialität des medialen Systems, das sich immer wieder selbst zitiert. Das elektronische (Medien-) Bild fungiert als Träger des Ereignisses und wird in der fotografischen Fixierung zum Vehikel der Bewältigung und Erinnerung – das Bild ist somit Ereignis, Erfahrung und Erinnerung zugleich. In dem Maße, wie die Live-Übertragung den normalen Medienbetrieb außer Kraft setzte, war auch ein erhöhter Medienkonsum zu verzeichnen. Nicht nur die Fernseheinschaltquoten erreichten im Zuge der Anschläge neue Rekorde, auch der Datenverkehr im Internet stieg um ein Vielfaches an und Server waren zeitweise überlastet.216 Ebenso erhöhte sich der Absatz von Zeitungen und Zeitschriften im Schatten des Ereignisses sprunghaft.217 Die Unterbrechung des medialen Normalbetriebs beschränkte sich nicht nur auf den 11. September und die unmittelbar darauf folgenden Tage, sondern
213 Beispielbilder siehe: George (Hrsg.): Here is New York, S. 203, 216, 616 214 Beispielbilder siehe: George (Hrsg.): Here is New York, S. 74, 372, 797 215 Siehe dazu: George (Hrsg.): Here is New York, S. 207 216 Vgl.: Steven Geyer: Der deutsche Onlinejournalismus am 11. September. Die Terroranschläge als Schlüsselereignis für das junge Nachrichtenmedium. (Internet Research Bd. 21) Hrsgeg. von Patrick Rössler, München: Fischer 2004, S. 44-45 217 Vgl.: Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 30-31. Weichert führt hier unter Berufung auf unterschiedliche Studien zum Medienkonsum im Kontext des 11. September 2001 genaue Zahlen bezüglich Einschaltquoten, Auflagenzuwächsen etc. an.
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hielt über einen Zeitraum von mehreren Wochen an,218 in denen Fernsehen und Printmedien sich dem Ereignis anpassten. Die New York Times z.B. führte eine Woche nach den Anschlägen eine gesonderte Rubrik unter dem Titel A Nation Challenged ein, um über die Geschehnisse in textlicher und visueller Form zu berichten. „Diese [...] Rubrik ermöglichte es den Redakteuren, die Ereignisse ausführlich und fundiert darzulegen, und [...] gab [...] zugleich Raum für Fotografien und Grafiken, wie sie niemals zuvor in dieser Form in der Times veröffentlicht wurden.“219 (Hervorh. i.O.) Der mediale Ausnahmezustand wurde nicht zuletzt hervorgerufen durch die Plötzlichkeit des Geschehens: die Katastrophe traf Menschen und Medienbetrieb vollkommen unerwartet, so dass erst mit dem Eintreten des Ereignisses nach Bewältigungsmechanismen und –strategien gesucht werden konnte. Der Aspekt der Plötzlichkeit, mit der die Bedrohung das Subjekt konfrontiert, ist charakteristisch für das Sublime und wird schon in den Theorien des 18. Jahrhunderts als wesentlicher Faktor dargelegt. Die Konfrontation mit dem Schreckensereignis trifft das Subjekt unvorbereitet und ohne Vorwarnung: „Alles, was beim Sehen oder Hören den Übergang von einem Extrem zum andern erleichtert, verursacht keinen Schrecken [...]. Bei allen plötzlichen und unerwarteten Dingen hingegen sind wir geneigt, stutzig zu werden: d. h. wir haben eine Wahrnehmung von Gefahr, und unsre Natur reizt uns an, uns dagegen zu verteidigen.“
220
218 Weichert, der die Auswirkungen des 11. September auf den deutschen Fernsehsendebetrieb untersucht, beschreibt die Situation folgendermaßen: „Der reguläre Sendebetrieb wurde auf eine ausgiebige Sonderberichterstattung umgestellt, die den Sendefluss noch wochenlang in eine andere Richtung lenkte als ursprünglich geplant. Der ansonsten starre Programmrahmen wurde bis auf weitere angepasst, und noch Wochen später bestimmte die Krisenberichterstattung die deutschen Nachrichten.“ Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 32 219 Howell Raines: Einleitung (S. 8-9). In: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen. Der 11. September und seine Folgen. München: Collection Rolf Heyne 2002, S. 9 220 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 121. „Es ist eine [...] Form von Anschlag, wie man ihn nie für denkbar gehalten hätte“, kommentierte Peter
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Das Plötzliche und Unerwartete des 11. September treten im Hinblick auf den Anfang jenes Tages umso deutlicher hervor. Häufig wird auf den strahlend blauen Himmel des sonnigen Septembermorgens verwiesen, der eine surreal erscheinende Kulisse für das katastrophische Ereignis bildet: „Es war ein Spätsommertag, der zunächst nur allzu schön zu beginnen schien, doch bald darauf nur allzu schrecklich endete.“
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Der Kontrast zwischen der Schönheit der Kulisse (eine Schönheit die sich letztlich als trügerisch erweist) und dem Schock der Flugzeugeinschläge, betont das Plötzliche und Unerwartete des Ereignisses. Die Bilder, die den Moment der Einschläge erfassen, die aus den Türmen schießenden Feuerbälle der Explosionen, dokumentieren den Aspekt des plötzlichen Geschehens und gehören zu den Bildern, die ikonische Repräsentanten des 9/11 geworden sind. Sie bannen den unmittelbaren Moment in dem das Unfassbare geschieht. Es ist vor allem der Moment des zweiten Flugzeugeinschlags, in dem der Glaube, es habe sich beim ersten Einschlag um einen Unfall gehandelt, jäh verworfen werden muss und in dem sich die tatsächliche Dimension des Ereignisses wie ein Abgrund vor den Augen der Weltöffentlichkeit öffnet. Dies ist ein zentraler Moment des Schocks.222
Kloeppel um 15:30 Uhr in der zweiten RTL-Sondersendung zu den Anschlägen am 11. September 2001, „[e]s gab immer wieder die Drohungen von Terroristen [...], dass es Anschläge gegen die Amerikaner geben sollte. Aber man hatte nie damit gerechnet, dass es Amerika direkt treffen würde, das heißt [...] dass es Anschläge in Amerika geben würde.“ Zitiert nach: Christoph Weller: Die massenmediale Konstruktion der Terroranschläge am 11. September 2001. Eine Analyse der Fernsehberichterstattung und ihre theoretische Grundlage. In: INEF Report. Institut für Entwicklung und Frieden der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Heft 63/2002, Duisburg: INEF 2002, S. 55 221 N. R. Kleinfield: Das Unvorstellbare (S. 13-14). In: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 13 222 Auch der Einschlag des ersten Flugzeugs war ein Schock, doch mit dem zweiten Einschlag musste die Hypothese eines Unfalls verworfen werden. Ein Flugzeugunglück wandelte sich in ein konkretes Bedrohungsszenario und das zunächst als ‚Unfall‘ wahrgenommene Geschehen wurde zum Ereignis. Der
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In seiner Philosophischen Untersuchung stellt Burke fest, dass sich das Subjekt zumeist in einem Zustand befindet, den er als „Indifferenz“ bezeichnet und der eine Art Normalzustand ist, in dem das Subjekt weder Schmerz noch Vergnügen empfindet.223 Die Anschläge des 11. September treffen die Rezipienten in einem Zustand der Indifferenz und einem Gefühl von relativer Sicherheit. Doch im massenmedialen Zeitalter besitzen das unerwartet und plötzlich auftretende Ereignis sowie der Zustand der Indifferenz eine sehr viel größere Komplexität: auch wenn die Anschläge das Kriterium der Plötzlichkeit erfüllen, so ist dies zunächst zwiespältig. Die Plötzlichkeit der Katastrophe führt hier über einen Umweg zum Schock bzw. zur Übermächtigung, denn bevor der Rezipient den Schrecken, der den Echtzeit-Bildern innewohnt, im Kern erkennen und wahrnehmen kann, gilt es zunächst die Frage nach Fiktion oder Realität des Gesehenen zu klären. Um zum Unvorstellbaren zu gelangen, muss zuerst „[d]er Eindruck des Unwirklichen [weichen; A. B.]“224. Symptomatisch für das Medienereignis 9/11 – dies wird in den Analysen Baudrillards sowie Virilios herausgestellt – ist, dass die Menschen vor den Bildschirmen sich zunächst nicht bewusst waren, dass es sich um reales Geschehen und nicht um das fiktionale Szenario eines Katastrophenfilms handelte.225 Das Subjekt, das aufgrund geographischer Distanz nicht die
Moment des zweiten Flugzeugeinschlags wird in der Dokumentation 11. September (USA, Frankreich 2001, Regie: Jules Naudet, Gedeon Naudet, James Hanlon) folgendermaßen kommentiert: „When the second plane hit … that’s when you could see fear … you could see it in everybody’s eye[s] …“ Transkription aus der Dokumentation 11. September (USA, Frankreich 2001, Regie: Jules Naudet, Gedeon Naudet, James Hanlon; DVD: Paramount Pictures 2009). 223 Vgl.: Edmund Burke: Philosophical Enquiry, S. 64 224 Kleinfield: Das Unvorstellbare, in: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 13 225 Auf die Problematik der Verwechselung der Bilder des live übertragenen Ereignisses mit den spektakulären Bildern von Hollywoods Katastrophenfilmen verweist auch Scorzin. Siehe dazu: Pamela C. Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen. Betrachtungen über eine patriotische Ikone in der Medienlandschaft (S. 19-44). In: Ursula Franke, Josef Früchtl
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Möglichkeit hat, den Raum okular abzutasten ist abhängig von sekundärer (medialer) Vermittlung, um eine Einordnung des Gesehenen vornehmen zu können. Der primären Erfahrung beraubt war der Zuschauer am 11. September zunächst kaum in der Lage, die Bilder eindeutig als real oder als fiktional einzuordnen. Erst als beim Umschalten auf andere Kanäle immer wieder das Gleiche zu sehen war, was ein außergewöhnliches Phänomen im Medienalltag darstellte, wurde erkannt, dass es sich um Realität handelte. Die Gleichschaltung der Medien, die das Außerkraftsetzten des normalen Medienbetriebs bedeutete, war für die Erkenntnis des Realen das ausschlaggebende Kriterium. In der Forcierung des Bildes bzw. der immer gleichen Bilder auf allen Kanälen wurde die Flucht vor dem Ereignis durch Umschalten unmöglich.226 Nicht nur für die Rezipienten waren Realität und Fiktion nicht oder kaum zu unterscheiden, sondern auch für die Medienmacher, die im Moment des Geschehens vielfach ebenfalls auf die Übertragung angewiesen waren, schien dies zuzutreffen. So kommentierte Claus Kleber, am Tag der Anschläge telefonisch aus Washington, D.C. zugeschaltet um 15:59 Uhr MEZ in Tagesthemen Extra: „,Im Moment sehe ich, dass ein, ein Bild, ich kann es gar nicht fassen, dass offensichtlich das, einer der Türme des World-Trade-Centers förmlich in sich zusammenbricht [...]. Das Bild sehe ich nur auf dem Fernsehen, ich hör’ noch
(Hrsg.): Kunst und Demokratie. Positionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hamburg: Meiner 2003, S. 19-20 226 Die Bedeutung des Medienbildes für 9/11 wird auch in der zeitgenössischen Kunst reflektiert. Der deutsche Künstler Hans-Peter Feldmann hat für sein Werk 9/12 front page (2001) insgesamt 151 Titelseiten internationaler Tageszeitungen vom Tag nach den Anschlägen zusammengestellt. Mit Ausnahme der englischen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigen alle Titelseiten Bilder aus New York: teils die brennenden oder einstürzenden Zwillingstürme, teils die Stahlskelette der zusammengestürzten Gebäude. 9/12 front page verdeutlicht auch die Gleichschaltung der Medien auf globaler Ebene und die Fokussierung auf ein Thema.
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einer der beiden Türme ... ‘“
(Hervorh. A. B.)
Die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Realität und Fiktion demonstriert letztlich die Entfremdung von Subjekt und Welt bzw. eine veränderte Wahrnehmung von Welt. „Wirklichkeit und Inszenierung, Sein und Schein – Kategorien, die man in der Philosophie immer streng auseinandergehalten hat, geraten in der Welt der Medien durcheinander oder vielmehr: sie springen ineinander über wie auf einem Vexierbild.“228 Das Modell des Erhabenen, wie es bei Burke und Kant dargelegt ist, muss deshalb angesichts des massenmedialen Bildereignisses adaptiert werden: noch vor der Einschätzung, ob sich das Subjekt in Gefahr befindet oder nicht, muss eine Einschätzung erfolgen, ob es sich bei der (potentiellen) Gefahrenquelle um eine reale Bedrohung oder um ein fiktionales Bedrohungsszenario handelt. Erst wenn das Subjekt das Reale erkannt hat, kann in einem zweiten Schritt beurteilt werden, ob es tatsächlich bedroht ist oder nicht. Erweist sich das Gesehene hingegen als fiktional, besteht ohnehin keine unmittelbare Gefahr. Die Einschätzung, ob die eigene Existenz gefährdet ist, durchläuft im Zeitalter von Simulation und Virtualität also zwei Stufen, da – dies kritisieren die postmodernen Denker – die Sensibilität für das Reale verloren gegangen ist. Dies beeinflusst auch die Wirkung schreckenerregender Bilder. Virilio hat auf den Prozess der Routinisierung von Schocks verwiesen, der mit der Entstehung der Kinematografie einsetzt. In der paradoxen Logik des Bildes (Virilio) oder Simulation (Baudrillard) ist die Routinisierung zu einem Extrem geführt worden: auf Schockwirkung angelegte Bilder gehören zum Alltag der massenmedialen Gesellschaft, „in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource geworden ist.“ 229 Die Informationsmedien und -technologien haben das Subjekt soweit an Schocks gewöhnt, dass die ‚Routinisierung‘ über sich hinausgetrieben wurde. Angesichts einer Flut an Bildern von Katastrophen,
227 Zitiert nach: Weller: Die massenmediale Konstruktion der Terroranschläge am 11. September 2001, S. 67 228 Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 35 229 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 30
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Kriegen und Unglücken sowie angesichts der Produktion möglichst realitätsnaher Darstellungen mithilfe von Simulation, ist weniger von ‚Routinisierung‘ als vielmehr von einer Abstumpfung zu sprechen, die verstärkt zum Normalzustand der Mediengesellschaft geworden ist. Ein ‚SichÖffnen‘ und ‚Sich-Berühren-Lassen‘ werden zunehmend schwieriger. „Jeder hat mitbekommen, wie sehr das Ausmaß von akzeptierter Gewalt [...] in der Massenkultur gewachsen ist [...]. Bilder, bei denen vor vierzig Jahren das Publikum zurückgeschreckt und voller Abscheu weggeschaut hätte, sieht sich heute jeder Teenager im Multiplex an, ohne mit der Wimper zu zucken. Für viele Menschen in den meisten modernen Kulturen sind Chaos und Blutvergießen heute eher unterhaltsam als schockierend.“
230
Die immer realistischeren filmischen Darstellungen fiktiver Katastrophenszenarien machen es den Rezipienten schwer – wenn nicht gar unmöglich – beim Betrachten eines Bildes (gleichgültig, ob es sich um ein bewegtes Bild oder um ein Standbild handelt) zwischen realer und fiktiver Darstellung zu differenzieren. In der Ära des Cyberspace, so beobachtet auch Virilio, scheinen der Machbarkeit des Bildes keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Der Mensch ist abgekoppelt von der Notwendigkeit seiner physischen Anwesenheit und aufgrund technischer Möglichkeiten ist kaum noch vorstellbar, dass es etwas geben könnte, das nicht darstellbar, herstellbar oder vorstellbar ist.231 Baudrillard bezeichnet die realen Geschehnisse als „Katastrophenfilm aus Manhattan“232 – dieser Begriff verdeutlicht auch den Verlust der Fähigkeit in einer von Bildern dominierten Welt unmittelbar zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können. Der Moment der Erkenntnis der realen Dimension dessen, was sich auf den Bildschirmen abspielt, lässt sich in Bezug setzen zu Lyotards quod, dem Moment, in dem es geschieht (bevor das, was geschieht näher bezeichnet werden kann). In der aktuellen Situation kann das quod als der Augenblick interpretiert werden, in dem das Subjekt verspürt, dass das Gesehene sich real ereignet; demnach fände hier eine Verlagerung vom „es geschieht“ hin zum ‚es geschieht real‘ statt. In
230 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 117 231 Vgl.: Morisch: Technikphilosophie bei Paul Virilio, S. 80 232 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 31
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dem Moment, in dem der Rezipient von der Erkenntnis der Realität des Ereignisses durchdrungen wird, werden auch die (Schutz-) Mechanismen von Routinisierung und Abstumpfung durchbrochen. Im Angesicht des realen Schreckens, der das Bild durchdringt, ist das Subjekt nicht (oder zumindest kaum) gewappnet. Ein weiteres Spannungsfeld, das das Ereignis prägt, spielt sich zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ab. Im normalen Medienbetrieb wird das Bild durch das Subjekt beherrscht: von den Medienmachern wird es zu einem bestimmten Zweck produziert und veröffentlicht. Es dient der Untermauerung des gesprochenen oder geschriebenen Kommentars, dient als Beleg oder Beweis. Ähnlich verhält es sich mit den Medien allgemein: sie werden produziert und rezipiert, wodurch sie der Kontrolle des Produzenten oder/ und Rezipienten unterliegen. Diese befriedete Medien- und Bilderlandschaft erfuhr mit den Terroranschlägen eine gewaltige Erschütterung: die Bilder des Ereignisses und damit das Ereignis selber liefen außer Kontrolle. Sie entzogen sich zunächst der Beherrschung selbst durch erfahrene Medienmacher, die nun versuchen mussten, Möglichkeiten zu finden, das Geschehen und die Bilder in den sinnstiftenden Rahmen einer kausalen Narration zu überführen sowie einem anonymen Massenpublikum zu vermitteln: „So waren die Ereignisübertragungen [...] geprägt von einer gewissen Ohnmacht innerhalb der Fernsehredaktionen, die von schnellen Nachrichten abhängig sind, zeitweise aber auch nicht mehr wussten als das ahnungslose Publikum. [...] Indem Medienschaffende laufend Interpretationen zu den vermeintlichen Hintergründen und Ursachen [...] lieferten und dem Zuschauer auf diese Weise suggerierten Wir haben alles unter Kontrolle, trugen sie wesentlich zur Integration und Orientierung des Publikums, also insgesamt zur ge233
sellschaftlichen Ordnung und Krisenbewältigung bei [...].“
(Hervorh. i.O.)
Die Geschwindigkeit von Ereignis und dessen Übertragung zwang die Medien die Berichterstattung anzupassen und unmittelbar zu reagieren. Dies ist jedoch deshalb als problematisch zu betrachten, da die sofortige Reaktion die Möglichkeiten der Reflexion und Analyse weitgehend unterbindet, ein Kritikpunkt den Virilio im Hinblick auf das Zu-Schnell der Echtzeittechno-
233 Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 24-25
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logien anbringt. Während der Live-Berichterstattung waren Medienmacher weitgehend in der Situation, dass sie ohne Vorbereitung und Analyse (die durch zeitliche Distanz erfolgt) das Geschehen einem anonymen Massenpublikum vermitteln mussten. Zwar trugen die Medien, wie von Stephan Alexander Weichert beschrieben, im Verlauf des Ereignisses und in den Tagen danach zur Krisenbewältigung bei, doch waren sie im ersten Moment selbst mit einem Mangel an Ordnung und Analyse konfrontiert. Die Ohnmacht angesichts des Schreckens, die aus der Übermächtigung des Subjekts entsteht und hier zum Ausdruck kommt, ist ein zentrales Element des Gefühls des Sublimen. In seinem Essay Über das Erhabene234 stellt Friedrich Schiller fest, dass im Gegensatz zum künstlichen Unglück seines Konstrukts des Pathetischerhabenen, „das wahre Unglück [...] seinen Mann und seine Zeit nicht immer gut [auswählt; A. B.]; es überrascht uns oft wehrlos, und was noch schlimmer ist, es macht uns oft wehrlos.“235 (Hervorh. i.O.). Dies spiegelt sich auch im ersten Moment der 9/11Berichterstattung wider, der gekennzeichnet ist von Hilflosigkeit, die aus einem Interview mit dem ehemaligen Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert deutlich wird: „Am 11. September sah ich die Bilder im selben Moment wie der Zuschauer, Menschen, die aus Fenstern in den Tod springen. Und ich konnte nicht eingreifen und die Fakten konzentrieren oder reduzieren. Da fühlte ich mich zuweilen hilflos.“
236
234 Friedrich Schiller: Über das Erhabene (S. 83-100). In: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hrsgeg. von Klaus L. Berghahn, bibliographisch ergänzte Auflage, Stuttgart: Reclam 1995 235 Schiller: Über das Erhabene, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 97 236 „Ich habe mich zuweilen hilflos gefühlt“ (ohne Verfasser). Interview mit Ulrich Wickert in: Welt Kompakt vom 30.08.2006, S. 30. Hilflosigkeit kommt auch im Kommentar des RTL-Moderators (Peter Kloeppel?) in der dritten RTL-Sondersendung am 11. September 2001 (16:01 Uhr MEZ) zum Ausdruck: „[...] es ist etwas, was sich niemand vorstellen kann. Auch Sie sehen mich ja hier in dieser Situation, dass mir manchmal die Worte fehlen, um zu beschreiben, was ich hier gerade auch zum ersten Mal sehe.“ (Zitiert nach: Weller: Die massenmediale Konstruktion der Terroranschläge am 11. Sep-
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Aufgrund der Übertragungsgeschwindigkeit und der mangelnden Analysemöglichkeit durch Medienschaffende wird das traditionelle Modell von Sender, Empfänger und Referent unterlaufen. Die Gültigkeit dieses Modells insgesamt wird von den postmodernen Denkern kritisch hinterfragt; Lyotard spricht von der „plastische[n] Nacktheit“237 der Leinwände Barnett Newmans und Baudrillard diagnostiziert den Verlust des realen Referenten mit fortschreitender Simulation. Kontrollverlust und Hilflosigkeit angesichts des Geschehnisses und der Bilder, die sich dem gewohnten Kommunikationsmodell widersetzen, waren nicht auf die Life-Berichterstattung beschränkt, sondern erstreckten sich auch auf die darauf folgende (sprachliche sowie visuelle) Bewältigung der Katastrophe.238 Das Bild, das normalerweise der Kontrolle des Subjekts unterliegt, erweist sich in dieser Situation als zweckwidrig. Das Gefühl der Zweckwidrigkeit, die daraus entsteht, dass sich ein beherrscht geglaubtes Objekt der Herrschaft des Subjekts entzieht und zur Bedrohung wird, ist charakteristisch für das mit dem Schrecklichen verknüpfte Erhabene. Deutlich stellt Kant dies in seiner Analytik des Erhabenen als ein Kernelement heraus: das jeweilige Objekt muss als fremd wahrgenommen werden und darf dem Subjekt keinesfalls zweckdienlich sein.239
tember 2001, S. 69) Eine allgemeinere Situation innerhalb der Fernsehredaktionen am 11. September beschreibt Weichert: „Noch nie hatte ein Ereignis in der auf Echtzeit getrimmten Nachrichtenmaschinerie eine derart nachhaltige Unterbrechung des routinemäßigen Programmflusses [...] verursacht: Als die Katastrophe plötzlich über sie hereinbrach, waren die meisten TVRedaktionen unvorbereitet – und mussten trotzdem viele Stunden lang senden und das Geschehen einordnen.“ Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 25 237 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97 238 Die Berichterstattung der New York Times beispielsweise wird folgendermaßen beschrieben: „Die Anspannung ist der gesamten Zeitung anzumerken. [...] Dass der Times, die immer eine autoritäre Stimme, vielleicht sogar die Stimme der Autorität überhaupt gewesen war, gerade diese Stimme abhanden gekommen ist. Dass auch sie vorübergehend den Überblick verloren hat.“ Michael Saur: Suche nach Orientierung. In: Berliner Zeitung (Nummer 217) vom 17.09.2001, S. 17 239 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 175-176
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Die Zweckwidrigkeit vom Menschen geschaffener Objekte greift auch Baudrillard auf. Er sieht das Objekt im Widerstand gegen das Subjekt: das, was der Mensch zu beherrschen glaubte – Technik, Wissenschaft und Sprache –, richtet sich nun gegen ihn, entzieht sich der Kontrolle und der Zweckdienlichkeit.240 Am 11. September richtet sich die Technik nicht nur in Form der zu Waffen gewordenen Passagierflugzeuge gegen das Subjekt, sondern auch in Form von Bild- bzw. Medientechnologien. Bilder werden nun zu Waffen in einem Krieg, in dem Informationstechnologien eine Schlüsselrolle einnehmen. Was Virilio schon Ende der 90er Jahre mit Besorgnis erkennt, hat bei 9/11 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, in dem das katastrophale und mediale Ausmaß der Anschläge in keinem Verhältnis zur Anzahl der Attentäter steht.241 Das katastrophische Bildereignis hat das menschliche Wahrnehmungsund Erkenntnisvermögen vor neue Herausforderungen gestellt. Betrachtet man es im Hinblick auf die einschneidende Unterbrechung der Routine des Medienbetriebs, die Überforderung des Subjekts, Kontrollverlust und
240 Vgl.: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Der Triumph der Zeichen über das Reale, in: Breuer, Leusch, Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf, S. 43. „Diesen Aufstand und Rachefeldzug der Dinge nennt Baudrillard Die fatalen Strategien, eine Form von Gegenfinalität, der das Subjekt ausgesetzt ist. Aufstand der Dinge meint freilich nichts Intentionales oder Sinnhaftes, sondern die ‚Tücke des Objekts‘ [...].“ (Hervorh. i.O.) (Ebd.) Die Wendung der Objekte gegen den Menschen sieht Baudrillard als Resultat einer fast zum Extrem getriebenen Perfektionierung von Systemen, die in diesem Stadium beginnen, Störungen in ihrem Inneren auszulösen. Vgl.: ebd., S. 44 241 In einem Krieg, in dem man sich der Informationsmaschinerie bzw. der Informationstechnologien als Waffe bedient, sieht Virilio die Gefahr, dass schon der einzelne Attentäter durch die Ausnutzung der Massenmedien enormen Druck auf die öffentliche Meinung in internationalem Umfang ausüben kann. (Vgl.: Virilio: Ereignislandschaft, S. 45) Virilios Auseinandersetzung mit dem Anschlag von 1993 verweist schon auf das katastrophale Potential der Informationswaffe, erfährt mit den Anschlägen vom 11. September 2001 allerdings dann noch eine Steigerung – sowohl was das Ausmaß der Zerstörung als auch deren Bedeutung im Kontext des mit Informationswaffen geführten Krieges betrifft. 9/11 kann daher als Paradigma eines Bildereignisses und eines Bilderkrieges bezeichnet werden.
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Hilflosigkeit angesichts der Bilder, das Kollidieren von Realität und Fiktion im Bild, so kommt die Assoziation an einen gewaltsamen Kurzschluss auf, ähnlich dessen was Lyotard in seiner Auseinandersetzung mit Kants Analytik des Erhabenen beschreibt: die erhabene Gewalt, die gleich einem Blitzschlag das Denken mit sich selber kurzschließt.242 Die dem Sublimen inhärente Gewalt lässt sich unter veränderten Bedingungen und in abgewandelter Form auf den 11. September beziehen. Im Hinblick auf die (Live-) Bilder der Anschläge besteht der Gewaltakt in zweifacher Hinsicht: zum einen dokumentieren sie eine Gewalttat – die Terroranschläge –, zum anderen sind sie selbst Gewalt, die den normalen Medienbetrieb durchbricht und auf das betrachtende Subjekt einwirkt. An dieser Stelle ist eine Differenzierung der Visualisierungen des Ereignisses notwendig: einerseits gibt es die Bilder des unmittelbaren Geschehens der Anschläge, die mit der Live-Medienberichterstattung identisch und selber das Ereignis sind. Dies sind die Bilder, die den medialen Normalbetrieb außer Kraft setzen, sich der Kontrolle und der Kausalität entziehen und dem Subjekt zunächst Orientierung verweigern. Andererseits gibt es aber auch eine erhebliche Bild(re)produktion nach den Anschlägen: diese Visualisierungen thematisieren sowohl die Anschläge selbst, als auch deren Nachwirkungen und Folgen. Anhand der bildhaften Reaktionen und visuellen Bewältigung lässt sich aufzeigen, wie im Nachhinein versucht wird, die Kontrolle über die Bilder, das Ereignis sowie den Schrecken (zurück-) zu erlangen und eine nachträgliche Sinnproduktion zu schaffen. Allerdings ist auch diesen Bildern ein Gewaltakt inhärent, der darin besteht, das Geschehen in Objekte der Erinnerung zu transformieren, worauf in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit eingegangen wird. „Die Fotografie“, so Susan Sontag in ihrem Essay In Platos Höhle, „ist zu einem der wichtigsten Hilfsmittel geworden, um eine Erfahrung zu machen, um den Anschein der Teilnahme an irgendetwas zu erwecken.“243 Wo Sontag sich auf die fotografisch fixierten Erfahrungen Reisender bezieht, ist die Fotografie – d.h. das Produzieren eines eigenen Bildes des 9/11 – ein wichtiger Faktor der Teilnahme und Teilhabe an dem Ereignis sowie der Krisenbewältigung. Das eigene Foto wird zum Beweis, dass man ‚dabei war‘ – entweder unmittelbar vor Ort oder als Medienrezipient. Das hapti-
242 Vgl.: Lyotard: Die Analytik des Erhabenen, S. 68 243 Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 16
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sche fotografische Objekt bietet zudem die Möglichkeit, das Ereignis buchstäblich festzuhalten und in objekthafter Form zu besitzen. Trotz Bildgläubigkeit und des von Baudrillard diagnostizierten Zustands der „Zwangstransparenz“244 hat das Bild jedoch eine zwiespältige Funktion. Darauf macht das im Katalog der Ausstellung Here is New York publizierte Foto eines handgeschriebenen Plakates aufmerksam, auf dem folgender Text zu lesen ist: „All Of You Taking Photos I wonder if you really see what’s here or if you’re so concerned with getting that perfect shot that you’ve forgotten this is a tragedy site, not a tourist attraction. [...] I kept wondering what makes us think we can capture the pain, the loss, the pride + the confusion – this complexity – into a 4x5 glossy. I
my city – Firegirl, NYC, 09-17-01“245 (Hervorh. A. B.)
Dass sogar die Frage nach der Berechtigung des Bildes im Bild dokumentiert wird, ist ein Paradox. Das Plakat möchte sich der Visualisierung verweigern, wird dennoch in fotografischer Form dem Bildarchiv einverleibt. Angesichts der Flut von Darstellungen brennender Türme, fliehender Menschen, Feuerwehrmännern, Fotos von Vermissten etc. stellt dieses Plakat eine Frage, die seit je her im Zentrum der Kategorie des Erhabenen angesiedelt ist und sich auch angesichts des aktuellen Ereignisses stellt: können Bilder die Essenz des Schreckens, der dem Ereignis innewohnt, widerspiegeln? Können sie die sich aus Schmerz, Verlust und Verzweiflung zusammensetzende Komplexität, die die Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens übersteigt, festhalten? Können sie den Schrecken – egal in welcher Form – durch die Fixierung im Bild bannen? Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen ist die Hinwendung zum Bild bei der Katastrophenbewältigung als logische Fortführung des Ereignisses zu betrachten: der 11. September hat als Bildereignis begonnen und das Bild wird folglich zur Verarbeitungsstrategie. „Von all diesen Ereignissen“, schreibt Baudrillard, „behalten wir vor allem die Sicht der Bil-
244 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 69 245 George (Hrsg.): Here is New York, S. 815
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der zurück. Und wir müssen diese Prägnanz der Bilder [...] bewahren, denn sie sind, ob wir es wollen oder nicht, unsere Urszene.“246 Neben dem Bildobjekt an sich, ist auch auf die Rolle der Bild- und Kommunikationstechnologien hinzuweisen, die wesentlich zur Wahrnehmung des Ereignisses beigetragen haben. Denn die neuen Technologien erlauben es nicht mehr nur den Medien, Bilder massenhaft zu produzieren und zu übermitteln; sie verändern auch die Handlungsmöglichkeiten sowie die Rolle des Rezipienten und erzeugen dadurch ein höheres Maß der Teilhabe an den Geschehnissen. So können Menschen weltweit nicht nur aktiv Informationen über 9/11 aus unterschiedlichen Quellen abrufen sondern dessen Wahrnehmung mitgestalten, indem sie eigene produzierte Bilder und Filme, z.B. über die Internetplattform YouTube, dem öffentlichen Raum zuführen. Die neuen Informationstechnologien gestatten es einer breiten Masse weitgehend unabhängig von räumlichen und zeitlichen Einschränkungen, in virtueller Form am Ereignis teilzuhaben, im öffentlichen Raum darauf zu reagieren sowie mit anderen virtuell zu interagieren.247 Die Technologien, die solche Gestaltungsräume schaffen, wirken sich auf die Wahrnehmung von Welt und Dasein aus. Auf die beispielsweise durch das World Wide Web hervorgerufene Veränderung menschlicher Wahrnehmung verweist Gerhard Paul: Wahrnehmung wird nun weniger durch starre Programmformate als durch aktive Teilhabe am Kommunikati-
246 Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, in: Der Geist des Terrorismus, S. 29 247 Steven Geyer weist in seiner Untersuchung des deutschen Onlinejournalismus am 11. September auf die Bedeutung des Internets für die interpersonale Kommunikation hin: „Das zweite dominante Motiv der Webnutzung am und nach dem 11. September 2001 war die interpersonale Kommunikation. Das war auch für onlinejournalistische Angebote relevant [...]“. (Geyer: Der deutsche Onlinejournalismus am 11. September, S. 53-54) Obwohl das Fernsehen als „Leitmedium“ (Weichert: Die Krise als Medienereignis, S. 33) der Berichterstattung der Anschläge gilt, ist das Internet von besonderem Interesse hinsichtlich der Möglichkeit dialogischer Kommunikation: Nutzer können zum einen gezielt nach Informationen suchen und zum anderen beispielsweise durch E-Mails oder Blogs auf Informationen reagieren sowie eigene Gedanken und Gefühle einem anonymen Massenpublikum zugänglich machen. Zudem ermöglicht das Internet nicht nur das Einstellen, Versenden und Teilen von verbalen Informationen, sondern auch von Bildmaterial.
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onsgeschehen geprägt, wobei gerade die Verlagerung vom „BildKonsumenten“248 (Hervorh. i.O.) hin zum „Bild-Produzenten“249 (Hervorh. i.O.) bedeutend ist. Die Möglichkeit, das eigene Bild der Welt zu konstruieren und produzieren, scheint auch in verstärktem Maße das Bedürfnis zu wecken, eigene bildhafte sowie sprachliche Informationen dem öffentlichen Raum zuzuführen. Das Teilen des Erlebens der Katastrophe im öffentlichen Raum mit einer anonymen Masse lässt sich im Hinblick auf 9/11 beobachten und so ist im Teilen von Bildern eine individuelle und kollektive Bewältigungsstrategie zu vermuten. Das Bild in Kombination mit den neuen Kommunikationstechnologien bewirkt also nicht nur das Erleben des Schreckensereignisses, sondern prägt auch dessen (gemeinschaftliche) Bewältigung.
248 Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bilderkanon des kulturellen Gedächtnisses (S. 14-39). In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band I: 1900 bis 1949. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 22 249 Paul: Das Jahrhundert der Bilder, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band I, S. 22. Paul begreift den Übergang zu digitalen Medientechnologien, der zur Jahrtausendwende stattfindet, als „Beginn einer neuen Medienrevolution“. (Ebd., S. 21) „Mit der Befreiung der Bildkommunikation aus den reglementierenden, auf kommerziellen Erfolg und politischen Proporz ausgerichteten Programmformaten der Filmgesellschaften und Fernsehsender erreichte die Beteiligung und Involviertheit der Zuschauer eine neue Qualität. Diese wurden potentiell erstmals in die Lage versetzt, sich mit Hilfe der neuen Medien ein eigenes Bild der Welt zu erarbeiten. [...] Durch die Verfügbarkeit der neuen digitalen Medien, ihre Mobilität und Benutzerfreundlichkeit beginnt sich zugleich die bisherige Trennung von Bildproduzenten und –konsumenten aufzulösen; aus Bild-Konsumenten werden zunehmend Bild-Produzenten [...].“ (Hervorh. i.O.) Ebd., S. 21-22
3. Schrecken und Hoffnung: Der öffentliche Bilderkanon des 11. September
Die Rolle des Bildes ist gerade im Fall der Terroranschläge vom 11. September 2001 eine besonders komplexe: das sich unerwartet als zweckwidrig erweisende Bild stellt die Weltbevölkerung vor eine Grenzerfahrung von Schrecken, Angst sowie Orientierungslosigkeit und macht sie im Moment der Live-Berichterstattung hilflos. Obwohl es Träger des Schreckens ist, wird es gleichzeitig zum Instrument um den Schrecken zu bannen und Orientierung im Chaos zu erlangen. Das Bild wird Teil der öffentlichen Reaktion auf das Ereignis; die visuelle Fixierung ist als Versuch zu betrachten, das Unfassbare zu (er-) fassen sowie als ein Mittel um gegen den Schrecken der Anschläge und ihrer Bilder anzukämpfen. Die Besitzerin eines New Yorker Fotogeschäfts berichtete, „wie die Leute in den Laden drängten, um Wegwerfkameras zu kaufen: ‚Einige warteten nicht einmal auf das Wechselgeld, sie rannten nur wieder raus. [...]‘“1 (Hervorh. i.O.) Charakteristisch für das Ereignis 9/11 ist über die Bildproduktion hinaus auch das Bedürfnis, die subjektive Perspektive auf die Geschehnisse in Form von Visualisierungen mit einer breiten Öffentlichkeit zu teilen. So stellten auch die „Zufallsreporter[...]“2 aus der Bevölkerung ihre Aufnahmen beispielsweise der Fotoausstellung Here is New York zur Verfügung, brachten ihre Aufnah-
1
Malkie Yadaie, Besitzerin des Fotogeschäfts Ben-Ness. Zitiert nach: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 51
2
Nancy Lee: Danksagung (S. 238). In: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 238
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men in die Redaktion der New York Times3 oder stellten eigenes Bildmaterial auf YouTube ein. „Alles muss gesehen werden, alles muss sichtbar sein. Das Bild ist der Ort dieser Sichtbarkeit par excellence. Alles muss visuell werden (und nicht nur imaginiert)“4, beschreibt Baudrillard den Zustand der massenmedialen Informationsgesellschaft. Dieses Bedürfnis nach dem Sichtbarmachen im Bild ist auch ein zentrales Merkmal des 11. September, wie sowohl die mediale Bilderflut als auch die Bildproduktion der Bevölkerung verdeutlicht. Aus der Vielzahl visueller Dokumente, die aus dem Ereignis heraus entstehen, gibt es einige, die vor allem aufgrund der häufigen medialen Reproduktion hervorstechen. Bilder, die im Kontext der Krisenbewältigung und des Gedenkens an die Terroranschläge verstärkt reproduziert und dadurch zu Referenzpunkten für die öffentliche Diskussion sowie das öffentliche Erinnern geworden sind, werden in dieser Arbeit unter dem Begriff des ‚öffentlichen Bilderkanons‘ zusammengefasst. Der Begriff des Kanons bzw. der Kanonisierung beinhaltet die Übereinstimmung zwischen dem Dargestellten und den Einstellungen des Betrachters. Dies impliziert zum einen Immanuel Kants Idee des „sensus communis“5 wie zum anderen den Gedanken der Zweckdienlichkeit des Bildes, dessen Inhalt sich innerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Anerkannten abspielt: „Der Prozess der Kanonisierung einzelner Aufnahmen wird gesehen als ein Ergebnis der Übereinstimmung von gesellschaftlichen Rezeptionsbedürfnissen und Sinnangeboten, die auf der Basis der Bilder gewonnen werden können. Diese Übereinstimmung kann empirisch nicht belegt, sondern nur als Mög6
lichkeit plausibel gemacht werden.“ (Hervorh. A. B.)
3
Vgl.: Nancy Lee: Danksagung, in: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 238
4
Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 45
5
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 123
6
Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung. Dissertation, Berlin 2007, S. 31. Quelle: http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2007/1536/pdf/hamann_ christoph.pdf
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Die Idee der Kanonisierung im Sinne des sensus communis spielt in Kants Auseinandersetzung mit dem Erhabenen eine besondere Rolle, denn bei der Dichotomie des Schönen und des Erhabenen geht es stets um den Kontrast zwischen dem gesellschaftlich Anerkannten einerseits, das auf der Annahme „eines g e m e i n s c h a f t l i c h e n [...] Beurteilungsvermögens“7 (Hervorh. i.O.) basiert, und dem Unbehagen andererseits, das durch das Andere ausgelöst wird. Im Folgenden soll an exemplarisch ausgewählten Fotografien aufgezeigt werden, wie das im Bild fixierte Schreckensereignis durch Ästhetisierung domestiziert und in Überhöhung überführt wird. Durch die Ästhetisierung entsteht eine spezifische Signalfunktion, die das Unfassbare der Katastrophe in kausale Strukturen und einen Sinnzusammenhang überführt. Da diese Bilder den Schrecken nachträglich in eine Narrative einbinden, die eine Sinnstiftung zulässt, eignen sie sich in besonderem Maße dazu, die öffentliche Wahrnehmung der Geschehnisse sowie die Gedenkkultur zu prägen und auch politisches Handeln vor dem Hintergrund des Ereignisses zu legitimieren. Die Ästhetisierung des Schreckens nimmt innerhalb der Diskussion um das Erhabene eine wichtige Rolle ein und wird vor allem in der Philosophie der Aufklärung, die den spezifischen Typus des Schrecklich-Erhabenen hervorgebracht hat, theoretisch erfasst. In der Ästhetisierung von Schreckensereignissen manifestiert sich der Versuch des Menschen, der durch Grenzerfahrung ausgelösten Angst und Orientierungslosigkeit habhaft zu werden, den Schrecken in einen Sinnzusammenhang zu überführen und dadurch letztlich zu domestizieren. Das Sublime wird dabei zum Vehikel. Edmund Burke und Immanuel Kant beispielsweise diskutieren diese Kategorie zwar maßgeblich im Rahmen der Ästhetik, liefern aber auch Ansätze, die die politischen Implikationen des Erhabenen offenbaren bzw. die Rele-
7
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 214. Kant bezieht die Idee des Gemeinsinns maßgeblich auf das Schöne, doch lässt sich deren Relevanz auch für die Erfahrung bzw. Bewältigung des Schreckensereignisses erkennen, denn Krisenbewältigung findet im Zeitalter digitaler Medientechnologien verstärkt im öffentlichen Raum statt. Dabei implizieren vor allem die Bilder mit häufiger Reproduktion die Existenz eines sensus communis im Hinblick auf Bewältigungsmechanismen.
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vanz der Ästhetik von auf politischer Ebene instrumentalisierten Bildern aufzeigen. Im 18. Jahrhundert entstehen in der westlichen Philosophie grundlegende Theorien des Sublimen, deren Aktualität und Relevanz sich über die folgenden Jahrhunderte hält und die auch in zeitgenössischen Diskursen immer wieder belebt werden. Die Diskussion um das Erhabene während der Aufklärung ist eng mit der Thematik des Geschmacks verknüpft. Im Gegensatz zum Schönen bezeichnet das Erhabene das Andere, das, was nicht bereits gesellschaftlich anerkannt ist. Burke und Kant versuchen allgemeine Prinzipien des Geschmacksurteils zu finden, die die Basis gesellschaftlichen Zusammenlebens bilden. Diese Idee kommt in Kants Begriff „sensus communis“8 zum Ausdruck: hierbei handelt es sich um ein subjektives Prinzip, welches Voraussetzung dafür ist, dass ein Geschmacksurteil gefällt werden kann und gemeinschaftsfördernd wirkt, wenn dem auch kein präzise festgelegtes Regelwerk zugrunde liegt. Sensus communis ist der Begriff, der sich zur Zeit der Aufklärung in Europa ausbreitet und die Entwicklung der Kunst sowie Kunstkritik prägt.9 Das Wohlgefallen des Geschmacks wird durch sinnliche Anschauung ausgelöst, woraus das Gefühl der Lust entsteht, dessen Ursache in der harmonischen Übereinstimmung der Erkenntniskräfte liegt. Da das Sublime im Gegensatz zum Schönen das reine nicht-kommunizierbare Gefühl bezeichnet, nicht auf Erkenntnis basiert und eine Dissonanz der Erkenntniskräfte bewirkt, wird es aus der Problematik des Geschmacks vollkommen ausgeschlossen.10 Das Schöne avanciert zum Geschmacksurteil jener Zeit schlechthin, womit sich auch die merkwürdige Stellung des Erhabenen innerhalb von Kants Kritik der Urteilskraft erklären lässt. In der Epoche der Aufklärung ist der Begriff des Sublimen und des damit einhergehenden Gefühl des Schreckens unmittelbar mit der Natur verknüpft, denn der Glaube an ihre Beherrschbarkeit wird wiederholt durch Naturkatastrophen erschüttert. Im Erdbeben von Lissabon 1755 erkennt Hartmut Böhme ein Ereignis, das „auf bewußtseinsgeschichtlicher Ebene einen entscheidenden Einschnitt darstellt. Das Lissaboner Erdbeben zerstört
8
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 123
9
Vgl.: Eva-Maria Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Lang 1992, S. 69
10 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 38
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die alteuropäischen Sicherungssysteme der Metaphysik [...]; es unterstreicht damit nachdrücklich die physische Endlichkeit und metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen, wodurch [...] gewaltige philosophische Anstrengungen für die säkulare Selbstbegründung des menschlichen Daseins erforderlich wurden.“11 So ist Kants Philosophie geprägt durch den Versuch, die aus dem Lissaboner Erdbeben resultierende Erschütterung und Angst zu bewältigen.12 Beim Erhabenen handelt es sich also nicht um die Natur in ihrer harmonischen und harmonisierenden Erscheinung, wie sie die Kategorie des Schönen bezeichnet; vielmehr ist es ihre unbezwungene und bedrohliche Seite, die auf Phänomene verweist, die sich dem Verstand des Subjekts entziehen. Die Relevanz der theoretischen Ansätze des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf die in diesem Kapitel untersuchten Bilder des 9/11 ergibt sich gerade aus den Anstrengungen eine Domestizierung des Schreckens und eine Harmonisierung der Erkenntniskräfte sowie eine Harmonisierung von Subjekt und Welt herbeizuführen.
3.1 D AS S CHRECKLICH -E RHABENE IN E DMUND B URKES P HILOSOPHISCHER U NTERSUCHUNG (1757) „[A]ls der klassische Text einer empirisch-sensualistischen Ästhetik“13 gilt in der Ästhetik-Geschichte Edmund Burkes Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (im Original A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful). Diese Schrift, die 1757 in erster Auflage in London erschien, ist Burkes einzige über Ästhetik geblieben und nimmt innerhalb seines gesamten Schaffens eine Sonderstellung ein. Dennoch erlangte sie über ihre
11 Hartmut Böhme: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des „Menschenfremdesten“ (S. 119-141). In: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 124-125 12 Vgl.: Böhme: Das Steinerne, S. 125 13 Werner Strube (Hrsg.): Einleitung (S. 9-32). In: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 9
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Zeit sowie die Grenzen Englands hinaus große Aufmerksamkeit und bot kritische Ansatzpunkte u.a. für Kant und Schiller. In der Philosophischen Untersuchung verfolgt Burke zwei Ziele: zum einen beabsichtigt er die ästhetischen Konzepte des Erhabenen und des Schönen klar voneinander zu unterscheiden sowie die damit verknüpften Eigenschaften und Gefühle herauszuarbeiten. Zum anderen, gilt es zu untersuchen, wie das menschliche Gemüt jeweils durch das Erhabene und das Schöne affiziert wird.14 Dabei legt Burke die Hypothese zugrunde, dass der Mensch über die Sinne zu inneren Empfindungen gelangen kann.15 Die von ihm vorgelegte Ästhetik ist eine „doppelte Ästhetik“16, in der er Erhabenheit und Schönheit als „Gegensatzzusammenhang“17 diskutiert und auf konsequenter Dichotomisierung beider Ideen und der jeweiligen Affekte aufbaut. Bei der Betrachtung des Schönen und Erhabenen geht es Burke nicht allein um die Frage ästhetischer Rezeptivität sondern auch um die Frage ihrer sozialen und politischen Implikationen.18
14 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 18-19 15 Vgl.: Strube (Hrsg.): Einleitung, in: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 9. Betrachtet man die zu jener Zeit revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnisse, so wird deutlich, dass es kein Zufall ist, dass man sich gerade in England erstmals mit der Unterscheidung des Schönen und Erhabenen auseinandersetzt. Denn die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit zeigen sich auch auf dem Gebiet der Philosophie als richtungweisend: z.B. die von Newton eingeführte empirische Methode ist nicht nur für die Physik bahnbrechend, auch Philosophen und Theoretiker erhoffen sich dadurch einen besseren Zugang zur Erforschung der menschlichen Natur. Man möchte sich nicht mehr mit Spekulationen begnügen sondern Hypothesen durch Erfahrung und deren Analyse belegen. Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 18 16 Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 1995, S. 12 17 Winfried Wehle: Vom Erhabenen oder über die Kreativität des Kreatürlichen (S. 195-240). In: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Frühaufklärung (Romanistisches Colloquium Bd. 6), München: Fink 1994, S. 199 18 Vgl.: Robert Zimmer: Edmund Burke zur Einführung. Hamburg: Junius 1995, S. 39-40. Zimmer zeigt die im englischen Klassizismus begonnene Verlagerung des Verständnisses ästhetischer Sensibilität auf, das sich nun weniger an den Normen etablierter Modelle, dafür mehr an menschlichen intersubjektiven Er-
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Die Grundlage für die Allgemeingültigkeit des Geschmacks bildet laut Burke das Zusammenspiel dreier Vermögen: Sinne, Einbildungskraft und Urteilskraft. Sie verbinden das Subjekt mit der Welt und sind allen Menschen gemeinsam.19 Mithilfe der Sinne, die die Brücke zwischen Subjekt und Objekt bilden, nimmt das Subjekt die äußere Umwelt wahr. Von der physiologischen Gleichheit menschlicher Organe schließt Burke auf die (weitgehende) Übereinstimmung der Wahrnehmung von Objekten bei allen Menschen, bzw. auf die ähnliche Wirkweise von Objekten auf die menschlichen Sinne.20 Burke stellt eine Reihe von Eigenschaften zusammen, die im Allgemeinen den als erhaben oder schön geltenden Dingen zugeordnet werden.21 Sein Vorgehen ist physiologisch, da mit der Erregung beider Gefühle physische Begleiterscheinungen einhergehen.22 Schmerz und Furcht, die signifikant für das Sublime sind, bewirken eine „unnatürliche Spannung und gewisse heftige Erregungen der Nerven“23; Ruhe und Untätigkeit hingegen lassen den Körper erschlaffen.24 Als Basis allen menschlichen Handelns identifiziert Burke drei Leidenschaften: Neugierde, Schmerz und Vergnügen. Darüber hinaus identifiziert Burke einen weiteren Zustand der „Lockerung [und; A. B.] Ruhe“25, eine Art Normalzustand, den er „Indifferenz“26 nennt und in dem sich das Gemüt seinen Erkenntnissen zufolge die meiste Zeit befindet. Die Neugierde bezeichnet „jedes Verlangen, das wir nach Neuem haben, und jedes Vergnügen, das wir daran finden.“27 Sie ist die oberflächlichste der Leiden-
fahrungen orientiert. Diese im 18. Jahrhundert eingeleitete Wende beeinflusst auch die Diskussion um philosophische Ästhetik bis ins 20. Jahrhundert. Vgl.: Ebd., S. 43-44 19 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 44 und S. 57 20 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 44-45 21 Vgl.: Strube (Hrsg.): Einleitung, in: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 10 22 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 24 23 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 173 24 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 174 25 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 64 26 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 64 27 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 63
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schaften, dennoch aber eine Voraussetzung für menschliches Leben, da sie als aktives Prinzip die Annäherung des Subjekts an Objekte fördert.28 Schmerz und Vergnügen gelten Burke als einfache Ideen von positiver Natur. Die Trennung dieser beiden Affekte ist bedeutend für seine Konzeption: beide sind voneinander unabhängig, d.h. Schmerz ist nicht notwendigerweise das Resultat eines Mangels an Vergnügen. Verspürt das Subjekt hingegen einen Mangel an Vergnügen, dann fällt es zumeist in den Zustand der Indifferenz zurück.29 Diese Unterscheidung führt dazu, dass Burke differenziert zwischen dem Gefühl, das das Gemüt bei beseitigtem Schmerz bewegt und dem „positive[n] Vergnügen“30. Entgeht das Subjekt einer „drohenden Gefahr“31, so empfindet es kein Vergnügen – denn dieses Gefühl entspringt niemals Gefahr oder Schmerz – sondern es wird in den „Zustand einer starken Nachdenklichkeit“32 versetzt, der „von der Empfindung der Ehrfurcht geprägt“33 ist und in dem sich das Subjekt nach innen kehrt. Burke beschreibt diesen Zustand auch als eine „Art Ruhe, beschattet von Schrecken“34. Die Abwendung von Gefahr ruft ein Gefühl der Erleichterung hervor,35 das er mit dem Begriff „Frohsein“36 belegt. Dieses „relative[...] Vergnügen“37, das vom positiven Vergnügen unterschieden wird, ist ein konstitutives Element seiner Konzeption. Die Empfindung des Frohseins ist geknüpft an Ideen von Bedrohung, Gefahr und Schmerz; sie entsteht, wenn das Subjekt sich schreckenerregenden Objekten oder Ereignissen gegenüber sieht, ohne dabei in seiner physischen Existenz unmittelbar
28 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 27 29 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 64-66. Für Burke gibt es drei verschiedene Arten, wie sich der Mangel an Vergnügen auf das Gemüt des Subjektes auswirken kann: Indifferenz, Enttäuschung und Kummer. Sie sind nicht mit positivem Schmerz zu vergleichen und haben daher ihren Ursprung immer im Vergnügen. Vgl.: ebd., S. 70 30 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 69 31 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 67 32 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 67 33 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 67 34 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 67 35 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 27 36 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 69 37 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 69
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bedroht zu sein.38 So ist die Distanz zur Gefahrenquelle, die das Subjekt vor der eigenen Vernichtung schützt, eine Bedingung, ohne die das Frohsein und die Erfahrung des Erhabenen nicht entstehen können.39 Der Aspekt der Distanz ist durchaus zwiespältig, denn einerseits ist das Subjekt von der Gefahrenquelle entrückt – d.h. die Gefährdung der eigenen Existenz ist stets eine imaginäre –, andererseits kann die Erfahrung des Erhabenen nur dann stattfinden, wenn keine konkrete Bedrohung besteht. Die Distanz ermöglicht das Erleben realen Schreckens so als Möglichkeit, die für das beobachtende Subjekt letztlich ein Schauspiel, d.h. imaginär bleibt. Als Grundlage menschlichen Sozialverhaltens identifiziert Burke zwei Urinstinkte: die Erhaltung der Gesellschaft, die er dem Schönen zuordnet, und die Selbsterhaltung, die charakteristisch für das Erhabene ist.40 Selbsterhaltung wird hauptsächlich mit „Schmerz und Gefahr“41 (Hervorh. i.O.), beispielsweise mit „Ideen von [...] Krankheit und Tod“42 (Hervorh. i.O.) assoziiert und als mächtiger eingestuft als die gesellschaftserhaltenden Leidenschaften, denn die Wirkung des Schmerzes ist stärker als die des Vergnügens und vermag das menschliche Gemüt am stärksten zu bewegen.43 Im Zusammenhang mit der Erhaltung der Gesellschaft arbeitet Burke drei Leidenschaften heraus, die in sich komplex sind und die er auch auf das Erhabene bezieht: Sympathie, Nachahmung und Ehrgeiz.44 Die Sympathie reizt das Subjekt, sich Objekten und Menschen zu nähern, sie wirkt
38 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 86 39 Vgl. dazu: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 81. „Kein Schauspiel suchen wir so begierig auf wie das Schauspiel irgendeines ungewöhnlichen und sehr bedauerlichen Unglücks; so daß uns ein Unglücksfall immer froh macht, mag er sich nun vor unseren Augen abspielen oder mag unser Blick nur durch eine Erzählung auf ihn gelenkt werden.“ (Ebd.) In Burkes Verweis auf das durch Erzählung vermittelte Unglück deutet sich bereits die Möglichkeit vermittelter Erfahrung an. 40 „[...] Selbsterhaltung und Gesellschaft; alle unsere Leidenschaften sind darauf angelegt, einem dieser beiden Zwecke zu entsprechen.“ (Hervorh. i.O.) Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 41 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 42 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 43 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 44 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 78
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empathisch und ermöglicht es, sich in die Lage anderer zu versetzen. Besonders ausgeprägt ist diese Leidenschaft, wenn es um Schmerz und Gefahr geht. Sie reißt das Subjekt aus dem Zustand der Indifferenz, ermöglicht die Teilhabe am Geschehen aus sicherer Distanz. Dabei ist die Wirkung der Sympathie die gleiche, egal ob ein Unglück sich vor den Augen des Subjekts abspielt, oder ob es durch Erzählung davon erfährt.45 Angesichts von Gefahrensituationen kann das Frohsein entstehen und die Sympathie Ursprung des Sublimen sein.46 Die Wirkung der Sympathie bzw. eine daraus resultierende Erfahrung des erhabenen Gefühls ist abhängig vom jeweiligen Objekt, mit dem das Subjekt konfrontiert ist. Um Unterschiede zu erläutern, stellt Burke die Inszenierung eines tragischen Ereignisses auf der Theaterbühne der Wirkung eines realen Unglücksfalls gegenüber. Die Darstellung in der Tragödie kann, auch wenn sie sich an der Wirklichkeit orientiert, immer nur Nachahmung sein und das Subjekt wird sie stets als solche erkennen. Allein das reale Unglück kann die Art von Sympathie erregen, durch die das Frohsein entsteht. Dieses Gefühl der Erleichterung angesichts von Tragödien und Unglücksfällen entsteht jedoch niemals aus Sorglosigkeit oder Schadenfreude des Beobachters, sondern lediglich aus der Position physischer und psychischer Distanz zur Gefahrenquelle.47 In einer solchen Situation ist Frohsein „mit beträchtlicher Unlust vermischt“48, doch es hindert das Subjekt daran, sich vom Unglück abzuwenden und bewirkt eine Art Wechselwirkung: „der Schmerz, den wir dabei fühlen, treibt uns an, uns selbst aufzurichten, indem wir diejenigen aufrichten, die leiden; und dies alles vor jedem Räsonnement bloß vermöge eines Instinkts [...]“49. In seiner Differenzierung zwischen Realität und Nachahmung ist Burke allerdings inkonsequent. Wenn er auch in Bezug auf die Tragödie der
45 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 79-81 46 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 78 47 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 82 48 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 81 49 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 81. Hier deutet sich ein Verwischen der Grenze zwischen Selbsterhaltung und Erhaltung der Gesellschaft an. Angesichts der Leidenschaft der Sympathie scheint das eine das andere zu bedingen, da eine Wechselwirkung zwischen beobachtendem Subjekt und Betroffenen entsteht.
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Nachahmung die Fähigkeit zur Erzeugung des Erhabenen weitestgehend abspricht, so gesteht er dies doch der Literatur zu. Hier bezieht er sich auf Berichte über die Zerstörung Trojas, die er als authentisch einstuft.50 Es kann jedoch bezweifelt werden, dass die als „authentische Berichte“51 bezeichneten Aufzeichnungen tatsächlich solche sind und die Schilderungen der Ereignisse als objektive, realitätsgetreue historische Zeugnisse betrachtet werden können. Vielmehr ist anzunehmen, dass ihnen eine Interpretation und Inszenierung der Geschehnisse zugrunde liegt, wodurch die Grenze zwischen Realität und Tragödie/ Fiktion undeutlich wird. Ein weiterer Aspekt, den Burke bei der Beurteilung historischer Ereignisse anführt und der Elemente von Schillers Dramentheorie vorweg nimmt, ist der des leidenden Helden. Für Burke sind es gerade die Nöte und Leiden tugendhafter Charaktere, die das Subjekt affizieren und durch die Sympathie das Moment des Frohseins erzeugen können.52 Das Bild des (leidenden) Helden wird auch im Zuge der Bewältigung des 9/11 zu einer Projektionsfläche für eine traumatisierte Bevölkerung und so lässt sich die Relevanz der Inszenierung „tugendhafte[r] Charaktere“53 bei katastrophischen Ereignissen bis in die Gegenwart verfolgen. Die Leidenschaft der Nachahmung hat denselben Ursprung wie die Sympathie: wo letztere vor allem durch Empathie geprägt ist, da bewirkt die Nachahmung dass das Subjekt aktiv in seinem sozialen Umfeld mithandelt und interagiert; sie ist daher wesentlich für die Gestaltung und Erhaltung der Gesellschaft.54 Die Leidenschaft der Nachahmung ist im englischen Klassizismus ein ästhetisch und staatspolitisch an den Modellcharakter der Antike angelehntes gesellschaftliches und kunsttheoretisches Prinzip, dem die Orientierung an einem „vernünftig geordneten Kosmos“55 zugrunde liegt.56 Im Bereich der Nachahmung siedelt Burke die Macht und Aufgabe der Kunst an. Ob ein Kunstwerk Sympathie hervorruft oder lediglich der Nach-
50 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80 51 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80 52 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80 53 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80 54 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 83-84 55 Zimmer: Edmund Burke zur Einführung, S. 41 56 Vgl.: Zimmer: Edmund Burke zur Einführung, S. 41
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ahmung verhaftet bleibt, ist abhängig vom jeweiligen dargestellten Objekt. Ist das Dargestellte so aufsehenerregend, dass es im Subjekt den Wunsch weckt, ihm in der Realität zu begegnen, so wird die Leidenschaft der Sympathie aktiviert und das Erhabene kann entstehen. Die Ursache dafür liegt jedoch im Objekt selbst und nicht in der Art der Darstellung.57 Obwohl Burke zwischen realem und nachgeahmtem Ereignis differenziert, scheint diese Grenze durch das Verlangen des Subjektes verwischt zu werden, denn es ist letztlich die Leistung des Beobachters, sich in Beziehung zum Objekt zu setzen. Wenn die Entstehung des erhabenen Gefühls so stark vom Objekt abhängt, wie Burke annimmt, dann kommt Assoziationen als Eigenleistung des Subjekts eine essenzielle Bedeutung zu.58 Dies wiederum verweist auf die Möglichkeit, dass auch die Nachahmung – z.B. ein im Kunstwerk dargestelltes oder in der Fotografie fixiertes Objekt – mit den gleichen Assoziationen aufgeladen werden kann wie ein Naturobjekt.59 Die Leidenschaft des Ehrgeizes ist verknüpft mit individuellem Machstreben des Subjekts, das versucht, sich seinen Mitmenschen gegenüber hervorzuheben, und für die Weiterentwicklung der Gesellschaft verantwortlich.60 Ehrgeiz ist eine soziale Qualität, wenn er sich jedoch als individuelles Machtstreben äußert, ist er dem Selbsterhaltungstrieb und dadurch dem Sublimen näher.61 Die Wirkung dieser Leidenschaft ist ebenfalls am stärksten in Situationen, die mit Gefahr und Schrecken in Zusammenhang stehen.62 Um den Zustand zu erläutern, den erhabene Objekte im Menschen hervorrufen, führt Burke eine deskriptiv-psychologische Analyse der ästhetischen Zustände durch.63 Das zentrale Element seiner Konzeption ist das
57 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 84 58 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 26 59 Burke hat diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, doch Peña Aguado weist auf die Bedeutung von Assoziationen für das Burkesche Konstrukt hin: „Bei der Darstellung des Erhabenen spielt die Assoziation von Ideen eine fundamentale Rolle, denn der Abstand von der direkten Ursache ist die absolute Voraussetzung für das Erhabene.“ Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 26 60 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 85 61 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 30 62 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 85-86 63 Vgl.: Strube (Hrsg.): Einleitung, in: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 11
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Gefühl des „Erschauern[s]“64, das im Moment der Konfrontation mit dem Schrecken entsteht. Aufgrund der Fokussierung auf die Aspekte der Gefahr und des Schmerzes sowie auf den Moment des Erschauerns ist Burkes Definition des Sublimen bezeichnend für den Typus des SchrecklichErhabenen.65 Carsten Zelle betrachtet die mit dem Schrecken verbundene Begriffsentwicklung des Sublimen, die negative Fixierung und die Betonung des Paradoxen, als Spezifikum für das England des 18. Jahrhunderts, da zu jener Zeit „das Nicht-mehr-Schöne: Entsetzliche, Schreckliche und Häßliche [...] [u]nter dem Mantel des Erhabenen [...] Einlaß in die Ästhetik“66 erhält. Die Besonderheit von Burkes Konzeption liegt in einer „Art frohen Schreckens“67, die durch das Erhabene hervorgerufen wird und aus dem Zusammenspiel der widersprüchlichen Emotionen der Unlust und Lust resultiert. Ästhetische Erfahrung ist hier in zwei Phasen unterteilt: Schrecken, der bei der geringsten Befürchtung von Lebensbedrohung und aus der Konfrontation mit furchtauslösenden Naturphänomenen entsteht, ist charakteristisch für die erste Phase.68 Tod, Dunkelheit, Stille, Einsamkeit – dies sind Situationen, die Burke als bedrohlich wahrnimmt. Der Schrecken, der das Subjekt unvorbereitet und ohne Einwirkung der Vernunft übermächtigt, führt das Erschauern, einen Zustand vollkommener Lähmung, herbei.69 Auf
64 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 91 65 „Eine Art von Schrecken oder Schmerz ist immer die Ursache des Erhabenen [...].“ Burke: Philosophische Untersuchung, S. 176. „[...] his fundamental claim is that anything which can occasion pain or terror or some kindred passion is a potential source of the feeling of the sublime. This feeling can be occasioned in two different ways. First, when the perceptually overwhelming properties of objects test and strain our perceptual faculties so as to cause a weak state of preconscious pain; and second, where dangerous objects are encountered from a position of safety, thus causing a weak or moderate state of terror.“65 (Hervorh. A. B.) Paul Crowther: The Kantian Sublime. From Morality to Art. Oxford: Clarendon Press 1989, S. 8 66 Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 124 67 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 110 68 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 31 69 „Daher kommt die große Macht des Erhabenen: daß es nämlich, weit davon entfernt, von unserem Räsonnement hervorgerufen zu sein, diesem vielmehr zuvor-
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das Gefühl der Übermächtigung folgt in der zweiten Phase die „mit ebenso totaler Lust gekoppelte[...] Reflexion über diese Erfahrung.“70 In dem Moment, in dem aus der psychischen und physischen Lähmung des Subjekts eine ästhetische Erfahrung entsteht, ist die Distanz zur Gefahrenquelle bedeutend. Denn bei Burke kann ästhetische Erfahrung nur dann stattfinden, wenn das Subjekt weit genug von der Gefahrenquelle entfernt ist, um nicht in seiner eigenen Existenz bedroht zu sein71 – d.h. ein ansonsten existenzbedrohendes Erlebnis kann nur „froh machen“72, wenn die Bedrohung für den Beobachter imaginär ist. Ist diese Bedingung erfüllt, so können sich „Würde und [...] Wichtigkeit“73 des Naturobjekts auf das Subjekt übertragen und ein „Gefühl innerer Größe“74 erzeugen. Da es ohne Distanz nicht zur Erfahrung des Sublimen kommen kann, verweist Maria Isabel Peña Aguado auf die Bedeutung des Assoziationismus, dem Burke als Erklärungsprinzip stets ablehnend gegenüberstand.75 Doch, so Peña Aguado, kann das Gefühl des Erhabenen aus der Distanz nur durch Assoziationen entstehen: „Wären die Sinne unmittelbar vom Schmerz affiziert, so gäbe es nur Leiden und kein Gefühl des Erhabenen[...]. Vorstellungen wie Macht, Unendlichkeit oder Dunkelheit sind Beispiele dafür, wie Burke seine Theorie [...] nur durch die Assoziation von Ideen und Vorstellungen erklären kann. Nicht durch die Erregung der Sinne wird das Gefühl des Erhabenen hervorgerufen, sondern durch die Einbildungskraft, welche die Verbindung von bestimmten Ideen mit bestimmten Reaktionen herstellt.“
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kommt und uns mit unwiderstehlicher Kraft fortreißt.“ Burke: Philosophische Untersuchung, S. 91 70 Poenicke: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 85 71 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 73 72 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 73 73 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 86 74 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 86 75 Vgl.: Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 25-26 76 Peña Aguado: Ästhetik des Erhabenen, S. 32
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Die „Erhebung des Gemüts“77 ist für Burke das höchste Ziel menschlicher Bestrebungen, denn dadurch soll das Individuum „seine Kraft und Weisheit auch in [seiner; A. B.] Schwäche und Unvollkommenheit entdecken“78 sowie seine Grenzen akzeptieren, dort „wo [menschliches; A. B.] Forschen am Ende ist“79.
3.2 D AS E RHABENE ALS V EHIKEL ZUR S CHRECKENS BEWÄLTIGUNG : I MMANUEL K ANTS A NALYTIK DES E RHABENEN (1790) Immanuel Kants Auseinandersetzung mit dem Erhabenen in seiner 1790 in erster Auflage erschienenen Kritik der Urteilskraft repräsentiert einen Meilenstein in der Diskussion um diese Kategorie, da er den Begriff als erster, unter Berücksichtigung der Tradition der Auseinandersetzung, systematisch in eine Theorie integrierte.80 Dennoch nimmt das Erhabene innerhalb der dritten Kritik eine eigentümliche Stellung ein; Kant selbst bezeichnet die Analytik des Erhabenen als „einen bloßen Anhang zur ästhetischen Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Natur“81. Doch es ist gerade dieser eher stiefmütterlich behandelte Teil, der sich als „wahre Fundgrube von großer Wichtigkeit für die gesamte kritische Philosophie“82 erweist und richtungsweisend für nachfolgende Auseinandersetzungen mit dem Thema ist. Kants Einfluss manifestiert sich in Schillers Dramentheorie und hat auch im
77 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 88 78 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 88 79 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 88 80 Vgl.: Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 33-34. Der Begriff der Theorie erweist sich im Kontext des Erhabenen als schwierig, denn die Komplexität dieses Gefühls ist in einer kohärenten Theorie nur schwer zu erfassen. Darauf weist auch die eigentümliche Stellung der Analytik des Erhabenen innerhalb der Kritik der Urteilskraft hin, die letztlich auch das (zumindest teilweise) Scheitern des Versuchs der kohärenten theoretischen Erfassung zum Vorschein bringt. 81 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 137 82 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 43
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20. Jahrhundert nicht nachgelassen, wie Lyotards Rückgriff auf die Analytik des Erhabenen demonstriert. Kants Schrift über das Sublime gilt als Bindeglied zwischen den älteren und neueren Reflexionen und hat für seine Nachfolger neue Maßstäbe gesetzt – seine Analyse bildet für folgende Debatten um diese Kategorie einen zentralen Bezugs- und Kritikpunkt. Die empirisch-sensualistische Tradition seiner britischen Vorgänger dient Kant als Grundlage, darüber hinaus bezieht er die Metaphysik mit ein83 und so gilt die Analytik gemeinhin als Brücke zwischen dem Reich des Sinnlichen und des Übersinnlichen. Im Unterschied zu Burke, der einen empirischen Ansatz verfolgt, nimmt Kant bei seiner Analyse ästhetischer Urteile eine transzendentale Position ein, „d. h. er such[t] die Bedingungen der Möglichkeit von Schönheits- und Erhabenheitsurteilen unabhängig von jeder [empirischen; A. B.] Erfahrung zu ermitteln.“84 Die Metaphysik an sich war zu Kants Zeiten nichts Neues, sein Ansatz unterscheidet sich jedoch darin von dem seiner Vorgänger, dass er nicht vom Übersinnlichen auf das Sinnliche schließt, sondern umgekehrt davon ausgeht, dass im Sinnlichen bereits Hinweise auf das Übersinnliche vorhanden sind und somit „eine Art ,Darstellung‘ der übersinnlichen Idee entdeckt [werden kann; A. B.].“85 Diesen Übergang kann er jedoch nur bewerkstelligen, indem er von der Apriorität des Prinzips der Zweckmäßigkeit ausgeht, denn diese zu zeigen ist das eigentliche Ziel der dritten Kritik.86 Das Erhabene bietet sich für einen solchen Übergang in besonderem Maße
83 Vgl.: Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 7 84 Tschurenev: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns, S. 70 Kant bricht schon in der Kritik der reinen Vernunft mit den zentralen philosophischen Schulen seiner Zeit, dem Rationalismus und dem Empirismus. Beide Richtungen empfindet er als zu einseitig, stattdessen betrachtet er „[...] Erkenntnis als eine Handlung des erkennenden Subjekts. Die Aktivität dieses Subjekts bestimmt den Erkenntnisprozeß, der durch die Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand gekennzeichnet wird.“ Dieter Teichert: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Ein einführender Kommentar. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 1992, S. 13 85 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 78. Ähnlich wie schon bei Burke ist auch hier zu vermuten, dass auch bei Kant Assoziationen eine zentrale Rolle dabei spielen, zu Ideen des Übersinnlichen beim Anblick des Sinnlichen zu gelangen. 86 Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 79
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an, da Einbildungskraft und Vernunft – das sinnliche und das übersinnliche Vermögen – aufeinander treffen und von der Urteilskraft in Relation zueinander gesetzt werden. Das Scheitern der Einbildungskraft beweist schließlich ästhetisch die Existenz der Vernunft und so verweist das sinnliche Vermögen indirekt auf das Übersinnliche, das das Subjekt angesichts bestimmter Naturphänomene als Idee denken kann.87 Die Natur dient in diesem Zusammenhang als „,Zeichen‘ des Übersinnlichen, nicht in dem Sinne, daß sie es (objektiv) symbolisiert, sondern indem sie es (subjektiv) im Gemüt des Betrachters auf den Plan ruft.“88 Die Thematik von Zweckmäßigkeit und Zweckwidrigkeit der Gefühle des Schönen und des Erhabenen steht im Zentrum der Kritik der Urteilskraft. Kant differenziert zwischen dem Verstand, der Welt der Begriffe, und der Vernunft, der Welt der Ideen. Verstand und Vernunft stehen in stetem Spannungsverhältnis zueinander, innerhalb dessen sich auch die Dichotomie von Schönem und Erhabenem, die beide Reflexionsurteile darstellen, abspielt. Anders als das Schöne tritt das Erhabene als Störung auf, die das Gemüt des Subjekts in Aufruhr versetzt und einen gewaltsamen Akt assoziiert: „Das Erhabene zerstört die harmonische Struktur der Schönheit als Überein89
stimmung unserer Erkenntnisvermögen.“
(Hervorh. A. B.)
Charakteristisch für das Erhabene sind Erschütterung, Amorphie, Unendlichkeit und Quantität. Es ist ein zweckwidriges, in sich zutiefst widersprüchliches Gefühl, das, wie bei Burke, auch bei Kant aus zwei gegensätzlichen Momenten besteht: aus Unlust und Lust, aus Abstoßen und Anziehen.90 In der ersten Phase sieht sich das Subjekt mit einem übermächtigen oder schlechthin großen Naturphänomen konfrontiert; in einer solchen Situation kann die Einbildungskraft die auf sie einstürmenden Eindrücke nicht in eine sinnlich fassbare Form, d.h. in Zweckmäßigkeit übersetzen. Die Erkenntniskräfte werden kurzzeitig außer Kraft gesetzt und das Subjekt
87 Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 87 88 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 87 89 Peña Aguado: Das Erhabene als Rettungsbegriff der philosophischen Ästhetik, S. 49-50 90 Siehe dazu: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 134-135
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erlebt einen Zustand der Lähmung. Während die Einbildungskraft beim Schönen ihren Zweck erfüllt, scheitert sie angesichts des Erhabenen, was im Subjekt, das die Natur in diesem Zustand als zweckwidrig empfindet, das Gefühl der Unlust hervorruft.91 In der zweiten Phase wird die Unlust mit dem Gefühl der Lust verknüpft, da das Subjekt durch Reflexion zu dem Schluss kommt, dass die zunächst übermächtig erscheinende Natur im Vergleich zum „unendlichen Ideenvermögen“92 dann doch klein ist; „ihre Macht [kann; A. B.] zwar der endlichen, sinnlichen Seite des Menschen, nicht aber diesem seinem intelligiblen Vermögen etwas anhaben [...], daß es sich also als Vernunftwesen in Sicherheit befindet und der Natur überlegen ist.“93 Der Sieg des Subjekts über die Natur erzeugt ein Gefühl der Lust und überführt die anfängliche Zweckwidrigkeit in eine „höhere Zweckmäßigkeit“94, die wie bei Burke auch bei Kant nur aus der physischen und psychischen Distanz zur Gefahrenquelle entstehen kann. Die Komplexität des erhabenen Gefühls besteht darin, dass die Momente des Abstoßens und Anziehens, der Unlust und der Lust, nicht neben- oder nacheinander geschehen, sondern gleichzeitig und wechselseitig stattfinden: „Die Harmonie, von der die Lust im Erhabenen [...] ‚im zweiten Anlauf‘ zeugt, kommt nur durch einen „Kontrast“ zustande [...], die Unlust ist Bedingung der Lust [...], die erste Phase des Gefühls des Erhabenen wird nicht in der zweiten ‚aufgehoben‘, sondern beide Gefühlsmomente finden gleichzeitig statt: Um dies zu veranschaulichen, spricht Kant von einem „Widerstreit“ zwi95
schen Vernunft und Einbildungskraft [...].“
Während Kant das Gefühl des Schönen als Einheit untersucht, unterteilt er das Erhabene in zwei Modi, die er getrennt voneinander analysiert. Schon diese Trennung innerhalb des Erhabenen in zwei unterschiedliche Ausprägungen kann als Indikator für die Komplexität dieses Gefühls gedeutet werden. Da die Einbildungskraft beim Sublimen nicht auf den Verstand
91 Vgl.: Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 8-9 92 Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 9 93 Pries: Einleitung, in: Pries (Hrsg.): Das Erhabene, S. 9 94 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 136 95 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 52
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sondern auf die Vernunft bezogen wird, die sich in die theoretische und die praktische gliedert, arbeitet Kant analog dazu seine beiden Modi des Erhabenen heraus: beim Mathematisch-Erhabenen wird die Einbildungskraft auf das Erkenntnisvermögen (die theoretische Vernunft) bezogen, beim Dynamisch-Erhabenen hingegen auf das Begehrungsvermögen (die praktische Vernunft).96
3.2.1 Das Mathematisch-Erhabene Mit dem Mathematisch-Erhabenen beschreibt Kant eine empirisch nicht messbare Größe, die er das Schlechthin-Große nennt: „Wenn wir aber etwas nicht allein groß, sondern schlechthin [...] groß, d. i. erhaben, nennen, so sieht man bald ein: daß wir für dasselbe keinen ihm angemessenen Maßstab außer ihm, sondern bloß in ihm zu suchen verstatten. Es ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist. Daß das Erhabene also nicht in den 97
Dingen der Natur, sondern allein in unsern Ideen zu suchen sei [...].“
Der Maßstab, den Kant zugrunde legt, führt zu keiner logischmathematischen sondern nur zu einer subjektiven ästhetischen Beurteilung, die angesichts des Schlechthin-Großen an Grenzen stößt. „Wo es der mathematischen Größenschätzung objektiv mißlingt, die Totalität zusammenzufassen, da mißlingt es der ästhetischen Größenschätzung angesichts des Schlechthin-Großen subjektiv, die absolute Totalität zusammenzufassen [...]. [...] Die ästhetische Größenschätzung besteht aus zwei Handlungen der Einbildungskraft: auffassen und zusammenfassen“98 (Hervorh. i.O.), so dass die „Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht.“99 Kant sieht die Schwierigkeit beim Erhabenen nicht in der Auffassung, der „apprehensio“100, die ins Unendliche gehen kann, sondern in der Zusammen-
96
Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 46
97
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 143
98
Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 48
99
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 140
100 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 145
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fassung, der „comprehensio aesthetica“101. Das Synthesevermögen der Einbildungskraft versagt hier aufgrund eines „Zeitproblem[s]“102, das Kant als „Zugleichsein“103 bezeichnet: das Subjekt ist mit der Unmöglichkeit konfrontiert, die wahrgenommenen Teile auf Anhieb zu einem Gesamtbild zu synthetisieren, denn das Schlechthin-Große gewährt keine Zeit für ein progressives Voranschreiten der Einbildungskraft, wodurch es beim Subjekt zur Empfindung von Zweckwidrigkeit und Unlust kommt.104 Erhaben ist für Kant demnach „die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt“105 und in der die Zahlenbegriffe des Verstandes nicht gelten. Obwohl hier keine sinnliche Darstellung generiert wird, kann die Zweckwidrigkeit in eine Zweckmäßigkeit umgewandelt werden, da angesichts des Scheiterns der Einbildungskraft das Vermögen der Vernunft aktiviert wird. Die Vernunft übernimmt im Kantischen System die Rolle des übersinnlichen Vermögens, das zwar ebenfalls keine sinnliche Darstellung von Totalität leisten, dafür aber dieses Phänomen in eine Idee überführen kann: so wird das Schlechthin-Große für das Subjekt denkbar.106
3.2.2 Das Dynamisch-Erhabene Im Fokus des Dynamisch-Erhabenen steht die „Natur [...] als Macht“107. Während das Mathematisch-Erhabene eine Gefährdung geistiger Existenz darstellt, bezieht sich das Dynamisch-Erhabene auf die (imaginäre) Gefährdung physischer Existenz durch ein scheinbar übermächtiges Naturobjekt. Ähnlich wie in Burkes Konzeption entsteht auch hier das Sublime nur im Zusammenhang mit dem Gefühl der Furcht,108 wird bei Kant aber im Subjekt selber und nicht im Naturobjekt lokalisiert.
101 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 145 102 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 49 103 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 156 104 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 156-157 105 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 151 106 Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 51 107 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 159 108 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 159
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Bei diesem Modus des Erhabenen geht es „um praktische Vernunft und Macht, Gewalt und Freiheit.“109 Wird das Subjekt mit einem übermächtigen, furchterregenden Naturphänomen konfrontiert, so scheitert die Einbildungskraft auch hier daran, das Phänomen in eine sinnlich fassbare Form von Raum und Zeit zu übersetzen. Zum Dynamisch-Erhabenen zählt Kant auch die göttliche Macht. Im Unterschied zu Burke betont er in diesem Zusammenhang weniger den Aspekt des Schreckens sondern stärker die „ruhige[...] Kontemplation und ganz freies Urteil“110, um göttliche Größe bewundern zu können: „Nur [...] wenn [der Mensch; A. B.] sich seiner aufrichtigen gottgefälligen Gesinnung bewußt ist, dienen jene Wirkungen der Macht, in ihm die Idee der Erhabenheit dieses Wesens zu erwecken, sofern er eine dessen Willen gemäße 111
Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst erkennt [...].“
Hier wird die Fokussierung auf das Gemüt des Subjekts sowie dessen eigene Stärke und Superiorität deutlich. Denn bei Kant geht es weniger um die Furcht vor dem Übermächtigen als darum, dieses Gefühl in die Selbststärkung des Subjekts umzuwandeln, so dass es sich seiner eigenen Macht und Größe bewusst wird.112 Ob ein Objekt das Gefühl des Sublimen hervorrufen kann, ist maßgeblich davon abhängig, ob es sich für das Subjekt als zweckdienlich oder zweckwidrig erweist. Ähnlich wie bei Burke spielen auch bei Kant Assoziationen eine essenzielle Rolle, mit denen das Subjekt das Objekt auflädt und sich in Beziehung zu den Dingen in der Welt setzt. Dies lässt sich am Beispiel von Kants Auseinandersetzung mit dem Ozean demonstrieren, die auch seine Weiterentwicklung des Erhabenen im Gegensatz zu Burke verdeutlicht, denn beide greifen dieses Naturobjekt in ihren Analysen auf unterschiedliche Weise auf. Während Burke den Ozean explizit als Quelle des Erhabenen anführt,113 negiert Kant dies zunächst und bezeichnet ihn ledig-
109 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 55 110 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 164 111 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 164 112 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 165 113 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 92
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lich als „gräßlich“114, nimmt dann jedoch eine Differenzierung vor, wann dieses Naturobjekt als Quelle des Sublimen gelten kann und wann nicht. Der Ozean stellt für Kant zunächst keine Idee der Vernunft dar, sondern gehört dem Bereich der Einbildungskraft an, die, ausgestattet mit „allerlei Kenntnissen (die aber nicht in der unmittelbaren Anschauung erhalten sind) [...], ihn d e n k e n“115 (Hervorh. i.O.) kann. D.h. dieses Vermögen ist in der Lage auch ohne direkte Anschauung beispielsweise der Ufer, den Ozean in eine räumlich begrenzte Form zu überführen. Bei einem ästhetischen Urteil würde diese Fähigkeit überfordert. Doch unter bestimmten Bedingungen kann dieses Naturobjekt das Gefühl des Erhabenen auslösen, nämlich dann, wenn der Ozean als „alles zu verschlingen drohenden Abgrund“116 wahrgenommen wird. Er kann unter der Bedingung eine Quelle des Sublimen sein, dass man ihn „nicht auf Begriffe der Zwecke“117 hin betrachtet, was ein teleologisches Urteil wäre, sondern als Fremdes, d.h. als zweckwidrig wahrnimmt.118 Ob ein Objekt als schön oder als erhaben empfunden wird, hängt demzufolge maßgeblich davon ab, in welche Beziehung das Subjekt Objekt und Einbildungskraft setzen kann. Dies deutet darauf hin, dass die Eigenleistung des Betrachters und Assoziationen eine entscheidende Rolle spielen. Für die Beurteilung von Phänomenen, die mit dem Sublimen verbunden sind, ist ein höheres Maß an Kultur erforderlich als bei schönen Gegenständen, die durch den sensus communis bereits gesellschaftlich festgelegt sind.119 Die Grundlage des Erhabenen verortet Kant „in der menschlichen Natur, und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Verstande zu-
114 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 136 115 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 175 116 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 176 117 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 175-176 118 „[M]an muß den Ozean bloß, wie die Dichter es tun, nach dem, was der Augenschein zeigt, etwa, wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Wasserspiegel, der bloß vom Himmel begrenzt ist, aber er ist unruhig, wie einen alles zu verschlingenden drohenden Abgrund, dennoch erhaben finden können.“ Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 175-176 119 Vgl: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 166-167
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gleich jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen.“120 Bezüglich der Darstellung des Sublimen im Bild, spricht Kant der Kunst diese Möglichkeit ab, was viele seiner Nachfolger als Beweis für „sein scheinbar unbedarftes Verhältnis zur Kunst“121 interpretieren. Dieser Kritikpunkt ist Christine Pries zufolge nicht gerechtfertigt, denn sie erkennt gerade im Kantischen Erhabenen eine große Relevanz „für die zeitgenössische ‚nicht-mehr-schöne‘ Kunst“.122 Aus seinen Bemerkungen über das mosaische Bilderverbot geht hervor, dass Kant die negative Darstellung den Visualisierungsversuchen in sinnlich fassbarer Form (dem (Ab-) Bild) vorzieht.123 Für ihn ist es gerade die negative Darstellung, die die Einbildungskraft in starke Bewegung versetzt, so dass sie kaum noch zu mäßigen ist. Man müsse also keineswegs die Erlahmung dieses Vermögens befürchten – „Bilder[...] und kindische[r] Apparat“124 hingegen seien eher hinderlich als hilfreich.125 So ist Kants Analyse des Erhabenen, obwohl er die Kunst explizit als Ursache eines erhabenen Gefühls ausschließt, laut Theodor W. Adorno „zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber“126 geworden. Über rein ästhetische Aspekte hinaus, ist die Rolle des Bildes ambivalent und die Frage nach dem Sichtbarmachen im Bild bzw. nach der negativen Darstellung beinhaltet durchaus machtpolitische Implikationen, die Kant kritisch betrachtet. In der sinnlichen Visualisierung sieht er ein Instrument, das der Sicherung von Herrschaftsansprüchen und politischer Kontrolle dient: „Daher haben auch Regierungen gerne erlaubt, die Religion mit [Bildern; A. B.] reichlich versorgen zu lassen, und so dem Untertan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen zu benehmen gesucht, seine Seelenkräfte über die
120 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 167 121 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 41 122 Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 41 123 Siehe dazu: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 181-182 124 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182 125 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182 126 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 293
112 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS Schranken auszudehnen, die man ihm willkürlich setzen, und wodurch man ihn, als bloß passiv, leichter behandeln kann.“
127
3.3 D IE AKTUALITÄT VON B URKE UND K ANT E RLEBNIS DER B ILDER DES 9/11
FÜR DAS
„[...] wenn Sie [...] auf diese [...] Rauchwolke sehen, mehr sehen Sie nicht mehr vom World-Trade-Center, und an die tausenden Verschütteten, Toten, Verwundeten denken, dann [...] höre ich mich reden, aber [...] weiß nicht worüber. Ich habe sowas noch nie erlebt, dass man neben sich steht, weil man einfach nicht fassen, nicht glauben kann, was in diesem Moment passiert ist und immer noch weiter passiert. [...] trotzdem versucht man natürlich, seine Gedanken zu sammeln, und das fällt [...] außerordentlich schwer.“
128
Rolf Schmidt-Holz in der dritten RTL-Sondersendung am 11.09.2001 (16:39 Uhr MEZ)
„Zu allen Zeiten“, so Susan Sontag, „ist die Wirklichkeit durch die von Bildern vermittelten Berichte interpretiert worden; und seit Plato haben Philosophen immer wieder versucht, uns aus unserer Abhängigkeit von Bildern zu befreien, indem sie das Ideal eines bildfreien Erfassens der Wirklichkeit beschworen.“129 Dieser Versuch zeigt sich auch in den Erhabenheitstheorien des 18. Jahrhunderts, die mit der Darstellung im Bild und der Rolle bildlicher Darstellung bei der Vermittlung des sinnlich Nicht-Fassbaren ringen. Zwar versuchen Burke sowie Kant die visuelle Darstellung aus der Thematik des Sublimen auszuklammern und vertiefen die Untersuchung des Machtpotentials des Bildes nicht; dennoch liefern sie Anknüpfungs-
127 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182 128 Zitiert nach: Weller: Die massenmediale Konstruktion der Terroranschläge am 11. September 2001, S. 82 129 Susan Sontag: Die Bilderwelt (S. 146-172). In: Sontag: Über Fotografie, S. 146
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punkte für die Diskussion der Bilder des 9/11 vor dem Hintergrund des Schrecklich-Erhabenen. Obwohl einige Aspekte der in der Aufklärung entstandenen Theorien ihre Aktualität bis in das 21. Jahrhundert bewahrt haben, müssen sie im Kontext der Informationsgesellschaft jedoch hinterfragt, neu interpretiert und umgedeutet werden. Naturobjekte sind die zentralen Referenzpunkte für das Sublime bei Burke und Kant. Es ist die Natur, die sich trotz aller Beherrschungsversuche dem Subjekt widersetzt, sich als zweckwidrig erweist und ihm seine Grenzen aufzeigt. In den Theorien lässt sich der Versuch erkennen, der Erfahrung des Schreckens, der von der unbeherrschbaren Natur ausgeht, durch dessen Ästhetisierung das Bedrohliche letztlich zu nehmen, wobei die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der sinnlich-fassbaren Darstellung bedeutend ist. Im Hinblick auf sinnliche Darstellung und sekundäre Vermittlung des Erhabenen orientieren sich Burke und Kant an Poesie und Malerei, die beide eine nachahmende Funktion haben. Im Hinblick auf die Quelle des Schreckens sowie auf die Darstellungsmöglichkeiten des Schrecklich-Erhabenen ergeben sich für eine Untersuchung des Bildereignisses 9/11 bedeutende Unterschiede. Bei der Quelle des Schreckens handelt es sich hier um ein politisches Ereignis, d.h. um eine vom Menschen verursachte Katastrophe. Vollkommen verändert haben sich auch die Bildtechnologien, die wiederum eine Veränderung von Wahrnehmung und Erfahrung hervorgerufen haben. Angesichts der technischen Möglichkeiten der Bildproduktion und –übertragung im digitalen Medienzeitalter ist die Frage nach der sinnlichen Darstellung erheblichen Veränderungen unterworfen, denn das Erleben findet nun maßgeblich durch die Konsumware Bild statt.130 Medienbilder ahmen nicht nur Welt nach, son-
130 Susan Sontag, die die Bedeutung der Fotografie für menschliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Prozesse zahlreichen Analysen unterzogen hat, beschreibt die Transformation von Welt, die durch die Fotografie in ein Warenhaus verwandelt wird: „Wie auch immer die moralischen Ansprüche lauten mögen, die der Fotografie zugeschrieben werden: Ihre Wirkung besteht vor allem darin, daß sie die Welt in ein Warenhaus oder ein Freiluftmuseum verwandelt, in dem alles zum Konsumartikel abgewertet, zum Gegenstand der ästhetischen Würdigung erhoben ist.“ (Susan Sontag: Der Heroismus des Sehens (S. 84-110). In: Sontag: Über Fotografie, S. 108) Der Begriff der Fotografie, auf den Sontag sich hier im Speziellen bezieht, kann erweitert werden auf das
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dern sind Welt (d.h. sie werden von vielen Menschen als solches rezipiert). In einer Zeit, die durch das allumfassende Sichtbarmachen, durch eine Omnipräsenz von Kameras, durch Simulation etc. charakterisiert ist, muss die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung des Undarstellbaren neu betrachtet werden. 9/11 hat demonstriert, dass das Undarstellbare einen visuellen Ausdruck finden kann, denn durch die katastrophischen Bilder der Anschläge (sowohl die Aufnahmen der Live-Berichterstattung als auch die der Krisenbewältigung) fand das Abstraktum ‚internationaler Terrorismus‘ eine sinnlichfassbare Manifestation im Ereignis und in Bildern: „Terrorismus war für die meisten Amerikaner stets eine abstrakte Bedrohung. Doch dies änderte sich durch die so spektakulär im Fernsehen übertragenen Anschläge am Dienstag.“
131
(Hervorh. A. B.)
In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen nach der Wirkung der Bilder, nach spezifischen visuellen Ausdrucksformen sowie Codierungen des Schreckens in der bildlichen Fixierung und nach der Rolle, die dem Bild bei der Krisenbewältigung zukommt. Die Wirkweise der medial übertragenen katastrophischen Bilder der Anschläge ruft Assoziationen an das von Burke und Kant beschriebene Erhabene hervor. Vor allem Kant hat das gleichzeitig geschehende, wechselseitige Abstoßen und Anziehen herausgearbeitet. Dieses komplexe und zwiespältige Moment, in dem das Subjekt sich durch den Schrecken abgestoßen fühlt und doch nicht in der Lage ist, sich aus dessen Bann zu lösen, zeichnet sich auch bei dem Echtzeit-Bildereignis des 11. September ab: der Einbruch der Bilder des realen Ereignisses „in die medieninduzierte Welt glich dann Vielen einem völlig surrealen Déjà-vu-Erlebnis, das gerade auch vehement alle Sinne attackierte; sie durch Furcht, Angst, Schrecken und Staunen lähmte und dennoch zugleich eine schaurige Seh- und Angstlust
technisch reproduzierte Bild allgemein, das sowohl die Fotografie als auch das über audiovisuelle Medien übertragene Bild einschließt. 131 Bob Herbert, Kommentarseite vom 13. September 2001. In: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 60
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wie Spannung bei den Zuschauern an den Bildschirmmedien aktivierte.“132 Der Begriff „Seh- und Angstlust“ offenbart die für das Gefühl des Sublimen charakteristische Unlust-Lust-Dialektik. Dieses zwiespältige Gefühl kommt gerade angesichts von Zerstörungsszenarien zum Ausdruck; Burke z.B. entwirft das imaginäre Szenario der Zerstörung Londons, um die Faszination von Katastrophen darzulegen: „London, diese prächtige Stadt, [...] durch Feuersbrunst oder Erdbeben zerstört zu sehen, dies ist glaube ich, niemand verrucht genug zu wünschen, selbst wenn er für seine Person der Gefahr auch noch so weit entrückt wäre. Aber gesetzt, das unglückliche Ereignis wäre geschehen: was für eine Menge von Menschen würde sich von allen Seiten herzudrängen, die Ruinen zu sehen 133
[...].“
(Hervorh. A. B.)
In einer Zeit, in der durch Computersimulation die Zerstörung von Städten beliebig in artifiziellen Bildern inszeniert und zum Medienkonsum dargeboten werden kann, deuten die Publikumserfolge zahlreicher HollywoodProduktionen wie beispielsweise Independence Day (USA 1995, Regie: Roland Emmerich) darauf hin, dass die von Burke beschriebene Faszination des Schreckens Aktualität besitzt. Auch das reale Schreckensereignis des 11. September übt eine enorme Anziehungskraft aus – das indiziert der Anstieg bei Einschaltquoten und Auflagen –, allerdings ist diese Anziehungskraft durch Zwiespalt geprägt, den Slavoj Žižek kommentiert: „When, days after September 11 2001, our gaze was transfixed by the images of the plane hitting one of the WTC towers, we were all forced to experience what the ‘compulsion to repeat’ and jouissance beyond the pleasure principle are: we wanted to see it again and again; the same shots were repeated ad nauseam, and the uncanny satisfaction we got from it was jouissance at its purest.“
134
(Hervorh. i.O.)
132 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 19-20 133 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 82 134 Slavoj Žižek: Passions of the real, passions of semblance (S. 5-32). In: Slavoj Žižek: Welcome to the desert of the real! Five essays on September 11 and related dates. London, New York: Verso 2002, S. 11-12. Diesen Zweispalt beim
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Nicht allein die Bilder selbst sondern das Bewusstsein des Realen reißen den Medienkonsumenten jäh aus seinem Zustand der Erschlaffung, den Susan Sontag als charakteristisch im Normalbetrieb der Medien diagnostiziert.135 Wo Burke und Kant (unter vollkommen anderen technologischen Voraussetzungen) noch mit der Frage der Wirkung sinnlicher Darstellung (z.B. der Nachahmung) auf das Subjekt ringen, da hat 9/11 gezeigt, dass das Bild als sekundäre Erfahrungsform in seiner Wirkung die Grenze zum primären Erleben überschritten hat. Das Bild und das Reale verbinden sich in diesem Ereignis zu einer Einheit und darin zeigt sich die Verschmelzung von primärer und sekundärer Erfahrbarkeit. „Im Fall des World Trade Centers [...]“, so Baudrillard, „findet eine Wechselsteigerung des Ereignisses und des Bildes statt, das Bild selbst wird ereignishaft, es wird als Bild zum Ereignis.“136 In der Psychotraumatologie beschäftigt man sich mit den Auswirkungen des 11. September auf die menschliche Psyche, wobei die Medienübertragung, die die Zahl der Augenzeugen und Opfer um ein Vielfaches erweitert hat,137 ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Symptome der Post-
Erleben des Ereignisses, das die Sinne attackiert, gleichzeitig aber eine „schaurige Seh- und Angstlust“ (Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 20) bei den Rezipienten erzeugt, stellt auch Günter H. Seidler in seiner psychotraumatologischen Perspektive auf den 11. September heraus: „Die Anzahl der Stunden, die jemand vor dem Fernseher verbringt, ist selbst gewählt. Was hat es damit auf sich, dass bestimmte Menschen sich bestimmte Schreckensmeldungen immer und immer wieder optisch, auf dem Fernsehapparat, vergegenwärtigen, um den Preis, dass sie Schaden nehmen an ihrer seelischen Gesundheit?“ Günter H. Seidler: Terror und Trauma. Gedanken zum 11. September aus Sicht eines Traumatologen (S. 103-124). In: Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg (Hrsg.): Der 11. September. Ursachen und Folgen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, S. 111 135 „Die Grundhaltung des Konsumenten ist die Erschlaffung.“ Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 123 136 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 69-70 137 „Im Hinblick auf die Folgen der Ereignisse vom 11. September ist der Traumabegriff zu eng, um seelische Folgen bei denen zu konzeptualisieren, die nicht unmittelbar in Lebensgefahr waren, die insofern keine Traumaopfer
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traumatischen Belastungsstörung (PTBS), die durch Schreckensereignisse mit traumatisierender Wirkung hervorgerufen wird, werden nicht nur bei den unmittelbar physisch Anwesenden festgestellt sondern auch bei Menschen die die Terroranschläge vor den Fernsehbildschirmen mitverfolgten:138 „Deren Leiden resultiert nicht aus der Exposition an Lebensgefahr, die medial nur bedingt vermittelt werden kann, sondern diese Opfer leiden daran, dass ein bislang allenfalls vage in Zweifel gezogener Glaube an die Vorhersehbarkeit, an die Kontrollierbarkeit und Sicherheit der Welt und an die eigene Verwundbarkeit erschüttert worden ist. Hier hat das Wort ‚Terror‘, das heißt ‚Schrecken‘ seinen Sinn.“
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Ausschlaggebend für das durch die Medienrezeption entstandene Trauma ist laut Günter H. Seidler der Aspekt des Realen. So können, auch wenn eine visuelle Ähnlichkeit zu bekannten Bildern aus fiktionalen Filmen besteht, diese nicht gleich den Bildern des realen Ereignisses wirken: „[...] hier ist zu erkennen, dass die Berichterstattung zu den Ereignissen des 11. September mit ihrer Bilderflut offenbar auch traumatisierende Wirkungen hatte. Nicht allerdings, das kann als gesichert gelten, gibt es die PTSD [im Englischen: Post-Traumatic Stress Disorder; A. B.] nach Unterhaltungsfilmen 140
[...].“
sind, die man aber durchaus als ‚Terroropfer‘ bezeichnen kann und die hier konzeptuell den Traumaopfern nicht mehr gegenübergestellt werden können, die aber als Erweiterung der Kategorie ‚Traumaopfer‘ betrachtet werden können.“ Seidler: Terror und Trauma, in: Der 11. September. Ursachen und Folgen, S. 115 138 Vgl.: Seidler: Terror und Trauma, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Der 11. September. Ursachen und Folgen, S. 110 und S. 115 139 Seidler: Terror und Trauma, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Der 11. September. Ursachen und Folgen, S. 115 140 Seidler: Terror und Trauma, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Der 11. September. Ursachen und Folgen, S. 110 und S. 111
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Analog dazu bemerkt Jeannot Simmen bezüglich der Aufnahmen der aus dem World Trade Center stürzenden Menschen in dem Film ƍƍ11ƍ09ƍƍ01 (Frankreich 2002, Regie: Alejandro González Inárritu), dass „[d]iese formale Attacke auf den Sehreiz [...] den Kinozuschauer [psychisch verletzt; A. B.]“141. Hierin kommt ebenfalls die Aufhebung der Grenze zwischen unmittelbarer und medial vermittelter Erfahrung zum Ausdruck. Im Mittelpunkt der psychotraumatologischen Auseinandersetzung mit 9/11 stehen die Fragen, wie das Ereignis sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gesellschaft als Ganzes einwirkt, welche Bewältigungsmechanismen in Gang gesetzt werden und welche Folgen daraus resultieren. Einige der Aspekte, die hier aufgegriffen werden, weisen Parallelen zu den Theorien auf, die um das Schrecklich-Erhabene kreisen – denn auch darin geht es letztlich um die Bewältigung des Schreckens. Seidler verweist u.a. auf den Aspekt der Willkür als einem Kerncharakteristikum des Terrors, dessen Ziel die Verbreitung des Schreckens ist und der sich nicht gezielt gegen einzelne Personen richtet sondern gegen eine Vielheit. Wer zum Opfer wird, ist dabei allein vom Zufall abhängig. Zufälligkeit und Unberechenbarkeit rufen das mit Schrecken verknüpfte Gefühl des „Es kann jeden treffen“ hervor.142 So bedeutet das Einbrechen der über die Massenmedien global verbreiteten Bilder der Anschläge, den Einbruch des Schreckens, der mit der plötzlich empfundenen Unsicherheit des eigenen Lebens verknüpft ist. Was Seidler aus wissenschaftlicher Sicht darstellt, ist im Kern auch implizit bei Kant angelegt. Denn dessen Analytik des Erhabenen entstand unter dem Eindruck des Schreckens, den das Lissaboner Erdbeben unter der Bevölkerung Europas auslöste. Kant, dessen weiteste Reise ihn nur knapp 100 Kilometer von seinem Heimatort Königsberg entfernte,143 konnte davon allein durch Berichterstattung erfahren haben. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass das Gefühl des Sublimen durchaus durch Berichterstattung, d.h. sekundär vermittelt, entstehen kann. Ausschlaggebend scheint
141 Jeannot Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11. Veröffentlicht auf Heise Online am 10.09.2005. Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20900/ 1.html. Aufgerufen am 25.01.2006. 142 Vgl.: Seidler: Terror und Trauma, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.): Der 11. September. Ursachen und Folgen, S. 117 143 Vgl.: Teichert: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 11
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auch hier zu sein, dass es sich bei der Quelle des Schreckens um ein reales Ereignis handelt. Zusätzlich zu dem verheerenden Ausmaß physischer Zerstörung erweist sich also auch die Wirkung der Bilder der Terroranschläge als Bedrohung. Hier scheint ein Bezug zu Kants Modi des Mathematisch-Erhabenen, als Gefährdung psychischer Existenz, und des Dynamisch-Erhabenen, als Gefährdung physischer Existenz interessant, denn die Bilder des 11. September lassen sich mit beiden in Beziehung setzen. Die Echtzeit-Aufnahmen der Anschläge stellen eine psychische Überforderung für den Rezipienten dar, der kaum in der Lage ist, das Geschehen, das fiktionalen Szenarien aus Katastrophenfilmen ähnelt, unmittelbar als real zu identifizieren. Durch die Wechselsteigerung von Realität und Fiktion im Moment der LiveBerichterstattung werden die Erkenntniskräfte überfordert.144 Es ist das ZuViel und Zu-Schnell an Bildern, die in Endlosschleifen über die Bildschirme laufen sowie die Printmedien beherrschen und sowohl Medienmacher als auch Rezipienten überfordern. Zudem sind die Bilder nicht allein als Teil der journalistischen Berichterstattung zu begreifen sondern müssen auch unter dem Gesichtspunkt von Waffen betrachtet werden. Virilio und Baudrillard bemerken, dass Bilder Waffen in einer neuen Art der kriegerischen Auseinandersetzung sind, die in erheblichem Maße über die Informationsmedien geführt wird. Es handelt sich hier also um einen Krieg, der für breite Teile der Weltbevölkerung keine unmittelbaren physischen Folgen hat, sich jedoch auf psychischer Ebene abspielt und dessen Erleben von der Bedingung geographischer Nähe abgekoppelt ist. Im ‚Krieg der Bilder‘ gehen die von Kant herausgearbeiteten Modi des Mathematisch-Erhabenen und des Dynamisch-Erhabenen ineinander über. Die Bilder fungieren als Waffen, sie sind Dokumente realer Zerstörung und als solches Zeugnisse physischer Gefährdung; dadurch lassen sie sich mit
144 Ein Foto wird dann als schockierend empfunden, so Susan Sontag, wenn es etwas Neuartiges zeigt. (Vgl.: Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 25). Da jedoch im Diskurs um das Ereignis 9/11 immer wieder die Ähnlichkeit der Bilder der Anschläge mit Hollywoodproduktionen thematisiert wird, ist die Schockwirkung der Bilder weniger in ihrer Neuartigkeit sondern vielmehr darin zu sehen, dass das aus der Fiktion bekannte Bild sich plötzlich als Realität erweist.
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dem Dynamisch-Erhabenen in Verbindung bringen. Da sie für den Medienrezipienten jedoch primär eine psychische Gefährdung darstellen, die zudem in Endlosschleifen reproduziert wird, greifen die Bilder in ihrer Wirkung auch in den Bereich des Mathematisch-Erhabenen über. Die Möglichkeit, dass das Mathematisch-Erhabene nicht allein eine empirisch messbare Größe sondern auch eine Größe im übertragenen Sinne bezeichnen kann, eröffnet Kant selbst. Das Mathematisch-Erhabene kann auch „ein a priori gegebener Maßstab, der durch die Mängel des beurteilenden Subjekts auf subjektive Bedingungen der Darstellung in concreto eingeschränkt ist: als im Praktischen, die Größe einer gewissen Tugend, oder der öffentlichen Freiheit und Gerechtigkeit in einem Lande“145 sein. In diesem Zusammenhang ist der Größenmaßstab als Dimension einer Idee zu verstehen. So lässt sich das Schlechthin-Große auch auf das Ausmaß der Zerstörung am 11. September beziehen: denn beispielsweise der Zusammensturz der riesenhaften Zwillingstürme als reale Tatsache überstieg das Fassungsvermögen der Zuschauer, obwohl sie Zeugen der Echtzeit-Bilder waren. Das Machtpotential von Bildern und die Möglichkeit der Beeinflussung von Menschen durch das Bild werden von Kant thematisiert, der diese Problematik innerhalb seiner Analytik des Erhabenen jedoch nicht weiter verfolgt. Vielmehr spricht er der objekthaften Darstellung (wobei ihm die Kunst als Referenzpunkt dient) die Möglichkeit ab, den Schrecken realen Geschehens in einer Art und Weise zu visualisieren, in der er für den Betrachter sekundär vermittelt erfahrbar wird. Doch konnte Kant sich noch nicht vorstellen, welche Dimensionen das Bild durch technologische Entwicklungen und die Verbildlichung der Welt knapp 200 Jahre später erreichen würde. Die Bilder der Katastrophe werden am 11. September 2001 zum zentralen Machtfaktor; sie sind Schreckensereignis sowie Bewältigungsmechanismus und somit wesentliches Instrument der Erfahrung.146
145 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 141 146 „Es ist sicher nicht falsch, zu sagen, daß der Mensch einen zwanghaften Drang zum Fotografieren hat, einen Drang, Erfahrung in eine bestimmte Sehweise zu verwandeln. Eine Erfahrung zu machen, wird schließlich identisch damit, ein Foto zu machen, und an einem öffentlichen Ereignis teilzunehmen, wird in zunehmendem Maß gleichbedeutend damit, sich Fotos davon
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Dabei lässt sich anhand einiger bildhafter Reaktionen sowie deren medialer Reproduktion erkennen, dass der Versuch, den Schrecken zu bannen und zu domestizieren, nicht auf das 18. Jahrhundert beschränkt ist. Die Erschütterung, die in der Aufklärung noch von der Natur ausging und die mit dem Lissabonner Erdbeben gerade in Kants Philosophie einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, findet am 11. September parallel zu den realen Orten der Anschläge auch in der Medienlandschaft statt: die Bilder der Anschläge durchbrechen eine durch den Menschen konstruierte, produzierte, beherrschte Medienlandschaft, sie erschüttern das Gefühl der Sicherheit und erweisen sich darin als zutiefst zweckwidrig. Um Kontrolle über das Ereignis zu erlangen, muss auch die Kontrolle über die Bilder zurückerlangt werden. So wie der Schrecken durch Bilder verbreitet wird, wird das Bild zum Instrument, um den Schrecken durch die Fixierung im Bild zu bannen. Anhand exemplarisch ausgewählter Bilder soll in den nachfolgenden Kapiteln analysiert werden, welche Ausdrucksweisen und (Nicht-) Formen in den Bildreaktionen erscheinen und welche gesellschaftlichen als auch politischen Implikationen damit verknüpft sind. Dabei sind das von Kant thematisierte Spannungsfeld zwischen sinnlicher und negativer Darstellung sowie das damit verknüpfte Machtpotential des Bildes für die Untersuchung von besonderem Interesse. Denn in den 9/11-Bildern zeichnet sich deutlich die Dichotomie von Erscheinen und Verschwinden ab, deren Relevanz auf unterschiedlichen Ebenen besteht: zum einen geht es um das, was im Bild gezeigt wird (d.h. in objekthafter Form erscheint) oder nicht gezeigt wird (d.h. durch Abstraktion verschwindet). Zum anderen geht es darum, welche Aufnahmen im öffentlichen Raum bzw. medial verstärkt reproduziert werden und welche wiederum von der medialen sowie öffentlichen Bildfläche gelöscht werden. Es sind vor allem die verstärkt reproduzierten Bilder, die Kants Aktualität im Hinblick auf die Instrumentalisierung des Bildes für politische Zwecke demonstrieren. Die Relevanz, die sein Misstrauen gegen den Einsatz des Bildes als Instrument politischer Kontrolle auch (oder gerade) im Informationszeitalter besitzt, lässt sich z.B. anhand der Analysen Herfried Münklers aufzeigen. In Die Neuen Kriege147 untersucht er neue Erschei-
anzusehen.“ (Hervorh. i.O.) Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 30 147 Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt 2004
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nungsformen des Krieges, bei denen Medien und Bilder eine zentrale Rolle spielen. Im Einsatz der Bilder sieht Münkler ein Mittel, „die Unterstützungs- und Folgebereitschaft einer Bevölkerung gegenüber den politischen Entscheidungen ihrer Regierung zu schwächen“148. Doch wenn die Macht des Bildes die Folgebereitschaft der Bevölkerung mindern kann, so liegt die Vermutung nahe, dass die Macht des Bildes auch dazu dienen kann, die Folgebereitschaft zu verstärken.
3.4 T HOMAS E. F RANKLIN : R AISING G ROUND Z ERO (11.09.2001)
THE
F LAG
AT
Raising the Flag at Ground Zero (Abb. 2) ist eines der Schlüsselbilder des 9/11. Es wurde am Tag der Anschläge von dem Fotoreporter Thomas E. Franklin in den Ruinen des wenige Stunden zuvor kollabierten World Trade Centers aufgenommen. Die Farbfotografie zeigt die drei New Yorker Feuerwehrmänner George Johnson, Dan McWilliams und Billy Eisengrein,149 die inmitten der Ruinenlandschaft Ground Zero die US-amerikanische Flagge hissen. Publiziert wurde Franklins Aufnahme erstmals am 12. September 2001 in The Record, einer Lokalzeitung in Bergen County, New Jersey. Schon unmittelbar nach seiner ersten Veröffentlichung wurde das Foto in nationalen und internationalen Medien immer wieder aufgegriffen und sowohl von Printmedien reproduziert als auch vom Fernsehen während der rund um die Uhr andauernden Berichterstattung der Katastrophe wiederholt gezeigt.150 Im Jahr 2002 wurde eine Gedenkbriefmarke mit der Abbildung der Aufnahme veröffentlicht. Die mit dem Titel „Heroes of 2001“151 versehene Briefmarke (Abb. 3) ist ein sogenanntes „semipostal“, eine Sondermarke zu Spendenzwecken, deren Gewinn an Familien von bei den Anschlägen ums
148 Münkler: Die neuen Kriege, S. 53 149 Vgl.: http://www.groundzerospirit.org/about.asp. Aufgerufen am 13.05.2010. 150 Vgl.: http://www.groundzerospirit.org/about.asp. Aufgerufen am 13.05.2010. 151 United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned. September 2005. Quelle: http://www.gao.gov/ new.items/d05953.pdf. Aufgerufen am 13.05.2010.
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Leben gekommenem oder dauerhaft schwerbeschädigtem Rettungspersonal ging.152 Bis zum 30. Juni 2005 betrug der Erlös der Marke, die vom 07. Juni 2002 bis zum 31. Dezember 2004153 verkauft wurde, mehr als $10,5 Millionen.154 Anlässlich der Veröffentlichung waren die drei abgebildeten Feuerwehrmänner sowie Thomas E. Franklin zur feierlichen Enthüllung der Marke in das Weiße Haus eingeladen.155 Um den Verkauf zu unterstützen, wurde zudem eine landesweite Printkampagne initiiert, die die Sondermarke u.a. in den Zeitungen New York Times sowie USA Today bewarb. Darüber hinaus schmückte sie die Haube eines Stockcars bei einer NASCAR Eröffnungsfeier des Daytona International Speedway.156 Insgesamt wurden
152 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 1. Seit 1998 gab der U.S. Postal Service im Rahmen des „semipostal program“, autorisiert durch den Kongress, insgesamt drei Sondermarken heraus. Die Heroes of 2001-Marke, die Derry Noyes entwarf, ist die einzige der drei „semipostals“, für die eine Fotografie verwendet wurde, während auf den anderen Grafiken zu sehen sind. Für die Briefmarke wurde der Bildausschnitt des im The Record veröffentlichten Fotos verkleinert, so dass Rettungskräfte und Flagge beinahe die komplette Bildfläche ausfüllen. Die obere Bildgrenze befindet sich anders als auf dem im The Record veröffentlichten Foto, wenig oberhalb der Fahnenspitze, wodurch der Hintergrund mit den Trümmern weniger Raum einnimmt. Vgl. dazu: Ebd., S. 8 und S. 52. Abbildungen der drei Briefmarken siehe S. 9. 153 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 10 154 United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 4 155 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 22-23 156 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 22
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$1.1 Millionen in die Werbekampagne für die Heroes of 2001-Marke investiert.157 Zusätzlich zur medialen Reproduktion bei der Berichterstattung wurde das Foto durch die Veröffentlichung als intensiv beworbene Sondermarke nicht nur der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht sowie für wohltätige Zwecke eingebunden, sondern durchlief auch staatliche Instanzen158 und vollzog einen signifikanten Wandel: das ursprüngliche Reportagefoto wurde schnell „fester Bestandteil der sogenannten populären Americaniana und obligatorischen US-Devotionalien.“159 Wie kaum ein anderes Bild verkörpert die Aufnahme Franklins den Wandel von einem Nachrichtenbild, dessen Funktion zunächst im Kommunizieren eines tagesaktuellen Geschehens besteht, hin zum nationalen Sinnbild und zu einer Ikone, die repräsentativ für das traumatische Ereignis 9/11 steht.160 Um zu ergründen, warum dieses Foto sich dazu eignet als nationale Ikone zu fungieren, welchen Beitrag es zur Bewältigung des Schreckens leistet und wie es sich in den Kontext des Schrecklich-Erhabenen einordnen lässt, soll es zunächst im Hinblick auf seine Oberflächenerscheinungen161 betrachtet werden. Basierend auf Abbil-
157 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, S. 21 158 Siehe dazu den Bericht des United States Government Accountability Office: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned. 159 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 22. Beispielsweise können im Museumsshop der Tribute WTC 9/11-Organisation auch Magneten mit dem Motiv der Aufnahme Franklins käuflich erworben werden. 160 Vgl.: Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 22 161 Der Begriff „Oberflächenerscheinungen“ bezieht sich auf den Ansatz Siegfried Kracauers, der die Oberflächenphänomene des 20. Jahrhunderts, wie sie sich beispielsweise in der Architektur oder im Film manifestieren, einer kritischen Analyse unterzogen hat. Von dem was sich an der Oberfläche der Gesellschaft zeigt, schließt Kracauer auf die geistige Verfasstheit einer Gesellschaft. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Massenphänomenen, wie z.B.
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dung 1 wird zunächst die Bildkomposition analysiert, um anschließend die ihr inhärenten Codierungen und Symbolik zu untersuchen. Die Gruppe der drei Feuerwehrmänner befindet sich im Vordergrund der unteren Hälfte des hochformatigen Fotos. Der Blick der Kamera ist zentral auf die in einer Dreieckformation angeordneten Männer gerichtet. Der in der Mitte stehende Feuerwehrmann ist frontal der Kamera zugewandt, während die beiden anderen im Profil zu sehen sind. Über ihren Köpfen schwebt die US-Flagge, die sie an einem diagonal von oben links nach unten rechts durch die Bildfläche verlaufenden Mast empor ziehen. Während die beiden Männer, die sich rechts und in der Mitte befinden, die Flagge aufziehen, steht der Mann links im Bild ohne physischen Kontakt zur Flagge und wird nur durch seinen auf sie gerichteten Blick in die Szene eingebunden. Die Männer scheinen vollkommen fokussiert auf ihre momentane Handlung: die Blicke richten sich nach oben und konzentrieren sich auf die aufsteigende Fahne, die so zum Fokus der Aufnahme wird. Es gibt keinen Blickkontakt zwischen den Fotografierten und dem Fotografen bzw. der Kamera und somit auch keine Anbindung an den Betrachter der Aufnahme. Der Bildhintergrund besteht aus den sich in bizarren Formen auftürmenden Trümmern des zusammengestürzten World Trade Centers. Von der Farblosigkeit des grauen Hintergrundes heben sich die Feuerwehrleute und die Flagge farblich ab. Letztere dominiert das Bild schon durch die Farbigkeit des kräftigen Rot und Blau. Was die drei Rettungskräfte betrifft, so lässt sich hier ein Farbverlauf erkennen: während die vom Staub bedeckten Füße und unteren Hälften der Uniformhosen mit dem Grau des
dem Medium Film: „Das innere Leben manifestiert sich in verschiedenen Elementen und Konglomeraten des äußeren Lebens, besonders in jenen kaum wahrnehmbaren Oberflächenerscheinungen, die eine wesentliche Rolle bei filmgerechter Behandlung spielen. Mittels Aufnahme der sichtbaren Welt – ob nun die gängige Realität oder ein imaginäres Universum – liefern Filme daher Schlüssel zu verborgenen geistigen Prozessen.“ (Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. 4. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 13) Obwohl Kracauer sich hier auf filmisches Material bezieht, so geht es auch bei der Fotografie um visuelle Erscheinungen, in denen geistige Prozesse eine sinnliche Ausdrucksform finden, weshalb das Konzept der Oberflächenerscheinung auf diesen Bereich übertragen werden kann.
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Unter- und Hintergrundes zu verschmelzen scheinen,162 lässt dies im Verlauf aufwärts nach. Die Farbigkeit ihrer Uniformen und Haut nimmt nach oben hin zu und ist auf der Höhe der Flagge am stärksten. Auffällig an der Bildkomposition ist die Dominanz der Dreiecksform, die sich mehrfach im Bild erkennen lässt: in der Anordnung der drei Feuerwehrmänner (der mittlere scheint im Vergleich zu den beiden anderen leicht nach hinten versetzt zu stehen) sowie in den Trümmerteilen. Auch in den gedachten Linien der Blicke der drei Männer, die sich in der oberen Spitze der Fahne zu treffen scheinen, lässt sich ein Dreieck bzw. eine Pyramide erkennen. Diese Oberflächenerscheinungen der Bildkomposition verweisen auf eine tiefer liegende symbolische Bedeutung, deren Dechiffrierung Aufschluss darüber gibt, warum das Reportagefoto eine herausragende Stellung im öffentlichen und politischen Raum einnehmen konnte. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Franklin nicht der Einzige war, der die Feuerwehrmänner fotografierte, als sie die Flagge hissten – doch es ist sein Foto, das ikonischen Status erlangt hat.163 Das Bild weist eine komplexe Symbolsprache auf, in der eine Botschaft codiert ist, die (unterbewusst) vom Betrachter dechiffriert werden kann und positiv aufgeladen ist, d.h. aufrichtend wirkt. Hierin ist der Grund für die häufige Reproduktion in US-amerikanischen und internationalen Medien sowie die Hervorhebung auf politischer Ebene zu vermuten. Im Bericht des U.S. Postal Service heißt es, dass Franklin sel-
162 Hamann deutet die farbliche Angleichung der Uniformhosen an den Unterund Hintergrund als Signal des „Verhaftetsein[s] in der Gegenwart der Katastrophe“. Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 112 163 Auch Ricky Flores, Fotoreporter bei The Journal News, hielt die Flaggenhissung im Bild fest. Allerdings war sein Standort ein anderer als der von Franklin und er fotografierte die Szene aus der Vogelperspektive, die den „Eindruck einer ins Bodenlose fallenden Tiefe“ erzeugt. (Ernst A. Weber: Sehen, Gestalten und Fotografieren. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 1990, S. 56) So ergeben sich grundlegende Unterschiede in Bildaufbau und Bildsprache zwischen Franklins und Flores’ Aufnahmen, was in unterschiedlichen Botschaften der Bilder resultiert. Auf eine detaillierte Analyse von Flores’ Foto wird an dieser Stelle aus arbeitsökonomischen Gründen allerdings verzichtet. Zu der hier erwähnten Fotografie von Ricky Flores siehe: http://dane. nyppa.com/NYPPAorg/ricky.html. Aufgerufen am 16.05.2010.
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ber die Flaggenhissung als Symbol der Stärke der Feuerwehrmänner und des Kampfes der amerikanischen Nation gegen das Unvorstellbare versteht.164 Das Motiv der Flaggenhissung ist gerade in der US-amerikanischen Gesellschaft ein tief verwurzeltes Bildschema, das der Bevölkerung schon durch die visuelle Konstruktion eines anderen historischen Ereignisses bekannt ist: die Schwarz-Weiß-Fotografie The Raising of the Flag on Iwo Jima (Joe Rosenthal, 23. Februar 1945) gilt in den Vereinigten Staaten als die (Medien-) Ikone, die repräsentativ für das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges steht und in der Franklins Fotografie ihren visuellen Vorläufer findet. Im Bildschema und der dadurch kommunizierten Signalwirkung sowie in der öffentlichkeitswirksamen Inszenierung beider Bilder lassen sich zahlreiche Parallelen aufzeigen, wodurch deutlich wird, dass die Rezeption der Franklinschen Aufnahme unmittelbar an den visuellen Vorgänger gekoppelt ist. Die Flaggenhissung ist das gemeinsame Motiv dieser Fotos, die beide eine Erfahrung des Schreckens dokumentieren und eine Zäsur im USamerikanischen Bewusstsein markieren. Beide Aufnahmen entstehen in Zeiten der Krise und des nationalen Traumas, sie werden auf politischer Ebene hervorgehoben, mit einer politischen Botschaft verbunden und in der Öffentlichkeit inszeniert. Aufgrund der visuellen Ähnlichkeit liefert die Untersuchung des Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg wertvolle Ansatzpunkte für die Analyse der Franklinschen Aufnahme, für deren Einordnung in die Thematik des Schrecklich-Erhabenen und für die Beantwortung der Frage nach der politischen Dimension dieser stark im Hinblick auf Ästhetik diskutierten Kategorie. Zudem lässt sich die Rolle des Rosenthalschen Fotos bzw. der kontinuierliche Prozess seiner Reproduktion über einen längeren Zeitraum verfolgen, der Aufschluss über die gesellschaftliche Bedeutung dieses spezifischen Bildmotivs gibt.
164 Vgl.: United States Government Accountability Office. Report to Congressional Committees: U.S. Postal Service. Factors Affecting Fund-Raising Stamp Sales Suggest Lessons Learned, hier S. 52
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3.4.1 Das Motiv der Flaggenhissung in der US-amerikanischen Kultur: Joe Rosenthals The Raising of the Flag on Iwo Jima (23.02.1945) The Raising of the Flag on Iwo Jima (Abb. 4) wurde am 23. Februar 1945 von Joe Rosenthal, einem Fotografen der Associated Press, auf der japanischen Pazifikinsel Iwo Jima aufgenommen. Das Foto zeigt sechs USSoldaten, die mit vereinten Kräften die amerikanische Flagge auf Mount Suribachi hissen. Diese (Bild-) Ikone des Zweiten Weltkrieges wurde seit ihrer Entstehung immer wieder in unterschiedlichen Kontexten reproduziert.165 Die historische Bedeutung des Fotos liegt darin, dass es eine Zäsur und einen Wendepunkt im amerikanischen Bewusstsein markiert: zum einen war die Schlacht um Iwo Jima für die US-Marines die bislang verlust-
165 Siehe dazu auch: Richard Goldstein: Joe Rosenthal, photographer at Iwo Jima, dies. Veröffentlicht am 21.08.2006 in der Onlineausgabe The New York Times. Quelle: http://www.nytimes.com/2006/08/21/business/media/22rosen thalcnd.html. Aufgerufen am 13.05.2010. “[...] Joe Rosenthal took the most famous photograph of the Second World War. His photograph of the flagraising atop Mount Suribachi [...], may be the most widely reproduced photo in American history. It was re-created on at least 3.5 million Treasury Department posters publicizing a massive war-bond campaign. It was engraved on three-cent Marine Corps commemorative stamps that broke Post Office records for first-day cancellations in 1945. It was reproduced as a 100-ton Marine Corps War Memorial bronze sculpture near Arlington National Cemetery.“ (Ebd.) Das Foto wurde nicht nur im militärischen und politischen Zusammenhang zitiert, sondern diente auch als visuelle Vorlage im künstlerischen sowie populärkulturellen Kontext. Edward Kienholz z.B. zitierte Rosenthals Foto in seiner Installation The Portable War Memorial (1968), mit dem er die US-amerikanische Kriegsmentalität und deren Normalität zu einer Zeit anprangerte, als der Kalte Krieg sich im zwanzigsten Jahr und der Vietnamkrieg auf seinem Höhepunkt befanden. (Vgl.: Hughes: Bilder von Amerika, S. 607-608) 1990 warben Models, die ähnlich wie die Soldaten auf Rosenthals Bild arrangiert waren, für Jeans der Marke h.i.s.. Abbildung siehe Vicki Goldberg: The Power of Photography. How Photographs Changed Our Lives. New York London, Paris: Abbeville Publishing Group 1991, S. 147
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reichste,166 zum anderen verkörperte die dargestellte Flaggenhissung für viele amerikanische Betrachter die Hoffnung auf baldigen Frieden.167 Im Bild manifestieren sich also die Spannungsfelder zwischen Niederlage und Triumph, Zerstörung und Hoffnung, Krieg und Frieden, die so bezeichnend für diese spezifische historische Situation sind. Die Aufnahme steht einerseits für das katastrophische Ereignis des Krieges, nimmt gleichzeitig aber auch dessen siegreichen Ausgang vorweg und verkündet den kommenden Frieden. Schon unmittelbar nach seiner Entstehung avancierte das Foto zur Ikone in der amerikanischen Gesellschaft.168 Seine Macht wurde auch von der US-Regierung sehr schnell wahrgenommen und so wurden das Bild selbst sowie die an der Flaggenhissung beteiligten, nun zu Helden stilisierten Soldaten zur Werbung für die siebte US-Kriegsanleihe wirksam in der Öffentlichkeit eingesetzt.169 Noch im gleichen Jahr erhielt Rosenthal für seine Aufnahme den Pulitzer Prize170 und im Juli 1945 veröffentlichte das United
166 Vgl.: Mitchell Landsberg: Fifty Years Later, Iwo Jima Photographer Fights His Own Battle. Quelle: http://www.ap.org/pages/about/pulitzer/rosenthal. html. Aufgerufen am 09.06.2010. 167 Vgl.: Goldberg: The Power of Photography, S. 145 168 Vgl.: Goldberg: The Power of Photography, S. 142 169 Der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt war für die Publizierung des Rosenthalschen Motivs auf einem Werbeplakat der siebten Kriegsanleihe verantwortlich. Zusätzlich zu dem Plakat wurde eine multimediale Werbekampagne initiiert. Der Einsatz des Motivs der Flaggenhissung erwies sich als überaus erfolgreich, denn die Anleihe wurde nicht nur schnell gezeichnet, sondern sogar überzeichnet. Neben der Mobilisierung der Spendenbereitschaft trug die Kampagne auch dazu bei, dass sich dieses Motiv in das kollektive Gedächtnis der US-amerikanischen Nation einschrieb und zu einer Ikone wurde, die fortan symbolisch für eine allgemeine Siegeszuversicht stand. Vgl.: Jost Dülffer: Iwo Jima. Die patriotische Siegesikone der USA (S. 674-681). In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band I: 1900 bis 1949. Bonn: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 677 170 Vgl.: Heinz-Dietrich Fischer (Ed.) in cooperation with Erika J. Fischer: The Pulitzer prize archive: a history and anthology of award winning materials in journalism, letters, and arts. Vol. 14: Pt. E. Liberal Arts, Press Photography
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States Post Office eine Briefmarke mit diesem Motiv. Auch im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg spielt es eine zentrale Rolle: zum 50. Jahrestag des Ereignisses wurde eine weitere Marke mit dem Foto von Iwo Jima herausgegeben und in Form einer Gedenkmünze zum 230. Jahrestag der Gründung des United States Marine Corps wurde es erneut im Jahre 2005 reproduziert.171 Die kontinuierliche Reproduktion des Motivs bis in die Gegenwart hat seine tiefe Verankerung in der Öffentlichkeit bewirkt. Vor allem die Instrumentalisierung im politischen und militärischen Kontext dient als Indikator dafür, dass die Macht dieses Bildes sich nicht allein im Bereich der Ästhetik erschöpft, sondern dass es auch konkrete politische Implikationen beinhaltet. Trotz seines ikonischen Status löste das Foto heftige Kontroversen aus, die darum entbrannten, dass Rosenthal zum einen vorgeworfen wurde, die Szene gestellt zu haben172 und zum anderen, dass dieses Bild die Aufnahme der Nachahmung einer ursprünglichen Handlung war. Denn am 23. Februar 1945 fanden zwei Flaggenhissungen im Abstand von nur wenigen Stunden statt, die beide fotografisch festgehalten wurden. Wie sich herausstellte, dokumentierte Rosenthals Fotografie nicht die erste, sondern eine Wiederholung. Bei The Raising of the Flag on Iwo Jima handelt es sich also um eine Inszenierung bzw. eine inszenierte Nachahmung, die, so Pamela C. Scorzins Kritik, nicht als Abbild der Realität verstanden werden kann. Vielmehr wird in diesem Bild die Unterscheidbarkeit zwischen Ereignis und Inszenierung, zwischen Realität und Fiktion aufgehoben. Statt eines
Awards 1942 - 1998: From Joe Rosenthal and Horst Faas to Moneta Sleet and Stan Grossfeld. München: Saur 2000, S. 11 171 Siehe dazu: www.usmint.gov/historianscorner/index.cfm?action=coinDetail &id=29342. Aufgerufen am 13.05.2010. 172 Rosenthal selbst dementierte zeitlebens die Vorwürfe, dass die Szene gestellt gewesen sei oder dass er versucht habe zu verschleiern, dass es sich nicht um die erste Flaggenhissung gehandelt hatte. Vgl.: Landsberg: Fifty Years Later, Iwo Jima Photographer Fights His Own Battle. Veröffentlicht auf www.ap.org. Siehe dazu auch: Goldstein: Joe Rosenthal, photographer at Iwo Jima, dies, in: Onlineausgabe The New York Times.
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wahren historischen Dokumentes handelt es sich hier um eine bildhafte Inszenierung in deren Mittelpunkt das Thema des Patriotismus steht.173 „Sie [die Bild-Inszenierung; A. B.] erinnert zugleich, mit Jean-François Lyotard gesprochen, verdächtig daran, dass jede mit normativem Anspruch erzählte Geschichte immer auch dazu tendiert, historische Wirklichkeit [...] zu verfälschen bzw. zu manipulieren. Bilder helfen augenfällig Geschichte strategisch zu konstruieren und dafür auch Traditionslinien zu erfinden oder neu zu etablieren.“
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Das Wissen, dass es sich nicht um die Fixierung des Originalmoments handelt, beeinträchtigt letztlich jedoch nicht den Status, den das Bild in der amerikanischen Gesellschaft erlangt hat. Obwohl die erste Flaggenhissung auf Mount Suribachi von Louis R. Lowery fotografiert worden war, wurden seine Aufnahmen vollkommen von Rosenthals in den Hintergrund gedrängt (ebenso wie die Tatsache, dass es diese erste Flaggenhissung überhaupt gegeben hatte, erst später und zögerlich die Öffentlichkeit erreichte). Sie wurden nicht Teil des öffentlichen Bilderkanons zum Gedenken an das Ereignis, obwohl es sich hierbei um die Dokumente des Originalmoments handelt. Angesichts dieser Tatsache drängt sich die Frage auf, warum ein Bild, das auf einer Nachahmung basiert, zur Ikone geworden ist, und nicht das Bild, das das Original repräsentiert. Beide Aufnahmen dokumentieren das gleiche historische Ereignis, unterscheiden sich jedoch grundlegend in ihrer Bildsprache. So liegt die Vermutung nahe, dass der Grund für die Ikonisierung der Darstellung einer Nachahmung in den visuellen Codes zu finden ist, die die Bildsprache determinieren und eine andere Botschaft als Lowerys Fotografie kommunizieren. Bei vergleichender Betrachtung beider Aufnahmen wird deutlich, dass die im Bild fixierte Nachahmung sich besser als die Realität zur Konstruktion von Geschichte und Gedenkkultur eignet, denn in ersterer wird die Realität überperfektioniert und zu einem Artefakt, das sich öffentlichkeitswirksam inszenieren lässt. Dabei erhält das Artefakt durch das Medium der
173 Vgl.: Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 28 174 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 28-29
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(Reportage-) Fotografie den Anschein von Realität, wodurch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion/ Nachahmung fließend werden. Über ihren Online-Shop vertreibt die Library of Congress einen Abdruck der von Lowery fotografierten Flaggenhissung175 (Abb. 5), deren Motiv hier dem Rosenthalschen Bild gegenüber gestellt werden soll. Lowerys Fotografie entstand wenige Stunden vor Rosenthals und zeigt die schon aufgerichtete Flagge, die nun über den Soldaten weht. Zwar halten drei der sechs Männer den Mast, der sich senkrecht durch das Bild zieht, fest, doch geschieht dies ohne sichtbare Anstrengung – ihre Arbeit ist allem Anschein nach bereits getan.176 Der Fahnenmast ist aufgerichtet und die Flagge gehisst – die Handlung hat ihren Höhepunkt bereits überschritten und die Spannungskurve der Geschichte, die das Bild erzählt, fällt nun wieder ab. Rosenthals Foto hingegen beschreibt einen anderen Moment: es dokumentiert den Akt der Aufrichtung selbst, die wenigen Sekunden bevor der Fahnenmast in die Senkrechte gelangt. Die Darstellung ist gekennzeichnet von physischer Anstrengung der Soldaten um das gemeinsame Ziel zu erreichen, das hier noch bevorsteht. Die Kraftanstrengungen konzentrieren sich auf das Stemmen des Mastes in den Boden und auf das aufrichtende Moment. Dabei findet die Bewegung der dreieckförmig angeordneten Männer von links nach rechts statt, der in der westlichen Welt üblichen Leserichtung, wodurch das Gefühl unterstützt wird, dass der narrative Höhepunkt, der Moment des Sieges, den die aufgerichtete Flagge symbolisiert, kurz bevorsteht. Die Kernbotschaft dieses Bildes ist ausgerichtet auf die Idee der Überwindung des traumatischen Ereignisses. Der Schrecken des Kriegserlebnisses fällt dadurch in den Hintergrund und dient hier als Bühne für die Inszenierung siegreicher Kriegshelden. Die Fokussierung auf die Überwindung des Schreckens und eine daraus resultierende Stärkung des
175 Siehe dazu: http://www.loc.gov/shop/index.php?action=cCatalog.showItem& cid=48&scid=390&iid=3583&PHPSESSID=f6578ab1e1a3ec132. Aufgerufen am 06.02.2011. 176 Insgesamt wirkt Lowerys Foto eher statisch. Durch den Soldaten in der unteren Bildhälfte, der das angelegte Maschinengewehr auf den rechten Bildrand bzw. auf ein darüber hinaus liegendes Ziel richtet, wird das Gefühl von weiterführender Handlung oder Spannung angedeutet. Dies trägt jedoch nicht wesentlich zu einer Dynamisierung der dargestellten Szene bei.
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Subjekts verweist auf die in dieser Arbeit einbezogenen Theorien zur Kategorie des Sublimen, die im 18. Jahrhundert entstanden. Die dem speziellen Bildmotiv inhärente Macht ist nicht allein auf Rosenthals Foto begrenzt, sondern überträgt sich auch auf Franklins Aufnahme und so gibt es eine offensichtliche Wechselwirkung zwischen beiden Bildern. Die Beispiele der unterschiedlichen Bildsprache der Fotografien spezifischer historischer Zäsuren sowohl von Rosenthal und Lowery als auch von Franklin und Flores verdeutlichen, dass Bilder auf der medialen Bühne unweigerlich miteinander konkurrieren.177 Auch wenn bei den Aufnahmen der Flaggenhissung auf Iwo Jima der Aspekt von Original und Nachahmung bzw. Realität und Fiktion im Vordergrund der Diskussionen steht, während es bei den Aufnahmen von Ground Zero vor allem um perspektivische Unterschiede geht, so wird doch deutlich, dass sich bestimmte Bildschemata auf der medialen Bildfläche stärker durchsetzen als andere. Bezüglich der Kanonisierung einzelner Bilder verweist Christoph Hamann auf die Schwierigkeit der empirischen Beweisführung178 und so lässt sich der ikonische Status des Rosenthalschen Fotos nur mit nicht empirisch belegten Vermutungen begründen. Doch besteht kein Zweifel daran, dass es so genannte „Schlüsselbilder“179 oder ‚(Medien) Ikonen‘ gibt, denen ein gewisses Machtpotential inhärent ist. „Das Bild“, so Hamann, „kann [...] nicht nur Ausdruck oder Stellvertreter einer kollektiven Deutung von Vergangenheit sein und diese Deutungen wiederum stabilisieren. Durch Bilder können auch das politische Bewusstsein von Individuen oder Gruppen der Gegenwart beeinflusst oder gar politische Entscheidungen herbeigeführt werden.“180 Wirksamkeit und Macht bestimmter Bilder existieren nicht erst seit Beginn des Medienzeitalters sondern lassen sich über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen. Gerade der Begriff der Ikone, der im aktuellen Sprachgebrauch auch als „Medienikone“181 auftaucht, verweist auf das Machtpotential des Bildes, das z.B. im Mittelalter zu heftigen Debatten und kriegerischen Auseinandersetzungen führte. In der Ikone vereinen sich zentrale
177 Vgl.: Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 30 178 Vgl.: Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 31 179 Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 41 180 Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 31 181 Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 41
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Elemente, die maßgeblich für die Kategorie des Erhabenen sind: der Aspekt der Macht sowie der Aspekt des Undarstellbaren, der im traditionellen Verständnis der Ikone mit dem Göttlichen als dem Undarstellbaren per se verknüpft ist.
3.4.2 Die Medienikone als Repräsentantin historischer Ereignisse Vor allem in einer Zeit, die durch die Omnipräsenz von Kameras geprägt ist, werden Ereignisse maßgeblich in Form von Medienbildern erinnert, die in einem Wechselverhältnis mit der Realität stehen. Sie dienen als formelhafte Zusammenfassung realer Ereignisse und können gleichzeitig die Konstruktion von Wirklichkeit beeinflussen: „Bilder bestimmen unsere Wirklichkeit und aus dem Bildermeer ragen jene [...] ‚Ikonen‘ heraus, die von einer globalen Medienindustrie in alle Welt und in das Gedächtnis Vieler getragen werden. Es sind die Bilder der Katastrophen, Bilder der Idole, des Glücks oder des Schmerzes. Und es sind Bilder, die nicht nur Wirklichkeit abbilden, sondern vor allem auch Wirklichkeit erzeugen, gerade auch im Kontext der überlieferten Bildmuster unserer Ge182
schichte.“
Von jedem Ereignis bleiben spezifische Bilder zurück, die besonders herausragen, im Medienalltag häufiger als andere reproduziert und oft mit dem Begriff Ikone belegt werden.183 Sie stellen formelhafte Verdichtungen des
182 Johannes Kirschenmann, Ernst Wagner: Vorwort (S. 9-10). In: Johannes Kirschenmann, Ernst Wagner (Hrsg.): Bilder, die die Welt bedeuten. „Ikonen“ des Bildgedächtnisses und ihre Vermittlung über Datenbanken. Kontext Kunstpädagogik Band 4. München: Kopaed 2006, S. 9 183 Vgl.: Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 41. Hamann differenziert in seinen Ausführungen zwischen den Begriffen Ikone und Schlüsselbild. Für die Analyse der Bilder des 11. September 2001 im Kontext des Schrecklich-Erhabenen erscheint diese Differenzierung allerdings nicht relevant. Vielmehr geht es hier um die Tatsache, dass es bestimmte Bilder gibt, die im kollektiven Gedächtnis stellvertretend für ein bestimmtes Ereignis ste-
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Ereignisses dar und dienen als Referenzpunkte für Erinnerung, Gedenken und Geschichtsschreibung. Als Beispiele sei auf folgende Bilder unterschiedlicher historischer Geschehnisse verwiesen: Das Zeppelin-Unglück von Lakehurst (Fotograf: Sam Shere, 06. Mai 1937), das Napalm-Opfer Kim Phúc (Fotograf: Nick Ut, 8. Juni 1972),184 die Challenger Katastrophe (28. Januar 1986), The Raising of the Flag on Iwo Jima und schließlich Raising the Flag at Ground Zero. Diese Einzelbilder mit ikonischem Status „werden zu bildhaften Zeichen eines Ereignisses und bestimmen auf diese Weise dessen Erinnerung weit mehr als die Summe der Bilder, die den Bestand [fotografischer Archive von Ereignissen; A. B.] bilden.“185 Obwohl es sich hier um Medienikonen – also zunächst um einen säkularen Kontext – handelt, so beinhaltet der Begriff dennoch konkrete Konnotationen, die ihre Wurzeln im traditionellen christlichen Verständnis von Ikonen und deren Bedeutung haben. So lassen sich Parallelen zwischen der traditionellen byzantinischen Ikone und den Bildikonen des Medienzeitalters im Hinblick auf ihre Bedeutung und den Umgang mit ihnen aufzeigen. Folgende Aspekte sind dabei für die vorliegende Untersuchung der Bilder des 11. September relevant: die Frage nach der Darstellung dessen, was sich der sinnlich-fassbaren Form entzieht mit den Mitteln des Sinnlichen
hen. Daher werden einige Aussagen, die Hamann im Zusammenhang mit seiner Definition des Schlüsselbildes macht, in dieser Arbeit auf das Bild als Ikone bezogen. Zu Hamanns Differenzierung zwischen Ikone und Schlüsselbild siehe: Ebd., S. 41-45 184 Die Macht und die doppelte Funktion von Fotoikonen, die zugleich ein Ereignis repräsentieren und auf die Wahrnehmung sowie das Verhalten von Rezipienten einwirken, beschreibt auch Susan Sontag am Beispiel der Aufnahme von Nick Ut: „Fotografien wie jene, die im Jahre 1972 fast überall in der Welt auf den Titelseiten der Zeitungen erschienen – ein nacktes südvietnamesisches Kind, das, soeben mit amerikanischem Napalm besprüht, eine Straße entlangläuft, direkt auf die Kamera zu, mit ausgestreckten Armen und vor Schmerz schreiend – haben vermutlich mehr dazu beigetragen, daß sich die Öffentlichkeit immer heftiger gegen den Krieg wandte, als hundert Stunden im Fernsehen ausgestrahlte Barbareien.“ Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 23-24 185 Bunk: Eine Demokratie der Fotografien, in: Lorenz (Hrsg.): Narrative des Entsetzens, S. 39-40
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(dem Bild). Auch die Art und Weise, wie Inhalt bzw. eine Botschaft in der Ikone codiert und vom Betrachter dechiffriert wird, ist gerade im Hinblick auf den öffentlichen Bilderkanon aufschlussreich. Aufgrund der tief verwurzelten Ikonentradition in der christlich geprägten Gesellschaft ist zudem zu vermuten, dass sie das Streben nach dem objekthaften Ausdruck für das Übersinnliche sowie die Mechanismen geprägt hat, mit denen Bedeutung chiffriert und dechiffriert wird, um zu einer Erfahrung des Übersinnlichen gelangen zu können. Neben kunstwissenschaftlichen und ästhetischen Aspekten der mittelalterlichen Kultbilder ist die Geschichte der Ikone auch eine politische. Vor allem der mittelalterliche Bilderstreit, der um die Ikonenverehrung entbrannte, wirft wichtige Fragen auf, die im Zusammenhang stehen mit der Diskrepanz zwischen den Darstellungen der Bilder des ‚öffentlichen Bilderkanons‘ des 9/11 und den ‚verschwindenden Bildern‘, die mit traditionellen Bildschemata, gesellschaftlich anerkannten Codes und somit auch mit den aufrichtenden Botschaften des öffentlichen Bilderkanons brechen. Hier geht es um die Macht des Bildes (bzw. spezifischer tradierter Bildschemata), das den Betrachter affizieren und beeinflussen kann. Das Machtpotential ist darin anzusiedeln, dass das kulturelle Bildgedächtnis auf der Möglichkeit beruht, die im Bildschema und als Zeichen dargestellte Botschaft intuitiv, unterbewusst und eindeutig verstehen zu können: „Die besondere Stärke unseres Bildgedächtnisses liegt im schnellen Wiedererkennen von Bildern, nicht in ihrem Rekonstruieren. Visuelle Eindrücke und Bilder werden meist unwillentlich gespeichert (‚enkodiert‘) und wiedererkannt (‚dekodiert‘). Auf dieser unwillentlichen Ebene beginnt die Karriere der 186
‚Ikonen‘ des individuellen und kollektiven Bildgedächtnisses.“
(Hervorh.
i.O.)
186 Alfred Czech: Bildkanon im Spannungsverhältnis zwischen individuellem und kollektiven Bildgedächtnis (S. 11-40). In: Kirschenmann, Wagner (Hrsg.): Bilder, die die Welt bedeuten, S. 19
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3.4.2.1 Exkurs: Die traditionelle byzantinische Ikone und der mittelalterliche Bilderstreit Die traditionelle Ikone ist im mittelalterlichen Byzanz verwurzelt und wird vor allem mit der Bilderverehrung in der orthodoxen Kirche assoziiert.187 Doch ist die Ikone (bzw. Ikonenmalerei) – wenn auch in abgeänderter Form – weit über diesen Bereich hinaus verbreitet und immer wieder ergeben sich Synthesen mit der abendländischen Kunst und Kultur.188 Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, die Relevanz der Ikone in der westli-
187 Im orthodoxen Glauben nimmt die Ikone einen erhabenen Rang ein, den sie in der abendländischen Gesellschaft – obwohl sie auch dort Verbreitung findet und verehrt wird – nicht innehat. (Vgl.: Kurt Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert. München: Prestel 1978, S. 7) In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch weniger um das Ritual der Ikonen- bzw. Bilderverehrung, vielmehr sollen Parallelen in der Rezeption und im Umgang mit Bildern in der abendländischen Kultur aufgezeigt werden. 188 Von Byzanz aus gelangte die Ikone auf politischem Weg im 10./11. Jahrhundert im Zuge der Christianisierung vor allem in die Länder, die der Ostkirche angehörten (vgl.: Boris Rothemund: Die Ikone im Laufe der Jahrhunderte (S. 25-31). In: Slawisches Institut München (Hrsg.): Handbuch der Ikonenkunst, S. 28), fand jedoch auch im römisch-katholisch geprägten Abendland Verbreitung. Viele der ostkirchlichen Kultbilder kamen während der Zeit der Kreuzzüge ins Abendland und in die lateinischen Kirchen, wo sie als Gnadenbilder verehrt wurden (vgl.: Boris Rothemund: Wundertätige Ikonen – Acheiropoieten und Lukasbilder (S. 41-49) und Die byzantinische und postbyzantinische Ikonenmalerei (S. 70-73). In: Slawisches Institut München (Hrsg.): Handbuch der Ikonenkunst, S. 41 und S. 73). Vor allem im orthodoxen Glauben gilt die Ikone als erhaben, ist dem geschriebenen Wort in ihrer Bedeutung gleichgestellt und zu einem festen Bestandteil der Liturgiefeier geworden (vgl.: Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 7). Doch auch im christlichen Abendland wurden viele der Heiligenbilder kopiert und verehrt, vor allem wenn ihnen wundertätige Kraft zugeschrieben wurde (vgl.: ebd.). Die christlich abendländische Religion ist vor allem eine Schriftreligion und dennoch widmeten sich Theologen der Frage der Daseinsberechtigung des Bildes in der Kirche wodurch auch hier eine „Bildlehre“ entstand (vgl.: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: Beck 1990, S. 19).
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chen, vornehmlich christlich geprägten Gesellschaft und das aus dieser Bildtradition entstandene Verhältnis zum Bild aufzuzeigen, das noch heute aktuell ist. Der Ursprung des Wortes Ikone liegt im griechischen İȓࣀȫȞ und bezeichnet das Bild im Allgemeinen. Es kann sich auf die objekthafte Abbildung eines Gegenstandes in jeglicher Form (z.B. als Gemälde oder Statue), aber auch auf eine Abbildung im übertragenen Sinne, wie beispielsweise eine Vorstellung, ein Gedankenbild oder einen Vergleich beziehen. Im Christentum wird die Bedeutung des Begriffs Ikone spezifiziert auf das christliche religiöse Bild, das vom heidnischen Götzenbild differenziert wird.189 Dem traditionellen Verständnis nach ist es erst die kirchliche Weihe, durch die das Tafelbild zu einer Ikone wird.190 Bei der Ikone handelt es sich „um eine kollektive Kunst [...], die traditionell festgelegt ist.“191 Anders als bei Kultobjekten der Naturvölker, die in der Verehrung durchaus Parallelen aufweisen, „verfügt die Ikone [...] über eine historisch gewachsene und hoch-differenzierte spezifische theologische Begründung. Das heißt: ihr Bildkonzept ist anders als etwa bei der afrikanischen Skulptur nicht nur aus deren bildnerischen Eigenschaften zu erschließen, sondern ist theoretisch fundiert und über Jahrhunderte hinweg tradiert.“192
189 Vgl.: Hans-Georg Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, Heft 7 (S. 3-44). In: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975. Verlag der Bayrischen Akademie der Wissenschaften: München 1976, S. 5 190 Vgl.: Boris Rothemund: Die Bildinhalte der Ikonen (S. 194-195). In: Slawisches Institut München (Hrsg.): Handbuch der Ikonenkunst. 2. – verbesserte und erweiterte – Auflage, München: Slawisches Institut München 1966, S. 194-195 191 Verena Krieger: Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der russischen Avantgarde. Köln; Weimar; Wien: Böhlau 1998, S. 20 192 Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 20. Auch wenn die Ikone im Mittelalter von zentraler Bedeutung ist, so hat die frühe Kirche zu keiner Zeit versucht, Gott direkt darzustellen; es handelt sich vielmehr um indirekte Darstellungen in Form von Pars pro Toto, Symboltieren, Engeln etc.. Vgl.: Helmut Fischer: Die Ikone. Ursprung – Sinn – Gestalt. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1989, S. 67-69
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Ein wesentlicher Aspekt der Heiligenbilder ist das Verhältnis von Urbild und Abbild. Die ersten Urikonen (Acheiropoietoi), die im Byzanz des 5. Jahrhunderts entstanden, galten als nicht vom Menschen geschaffen und dienten als Vorlage für die Anfertigung weiterer Ikonen.193 Die Legende besagt, dass die Acheiropoietoi von Christus selbst gefertigt wurden, so beispielsweise das Grabtuch von Turin. Deshalb werden sie auch als Fotografien und „‚Dokumentar‘-Bilder“194 bezeichnet: „Das Ikonenbild Christi war [...] für die Bilderverehrer eine Fotografie im wahrsten Sinne des Wortes. Sobald wir aber eine Fotografie haben, müssen wir auch ein materielles Original für diese Fotografie haben. In diesem Fall wurde der Maler [...] mit einem mechanischen System identifiziert, das ein fotografisches Bild des Originals automatisch reproduziert.“195
Dieses Urbild wurde in der Folge von Malern vervielfältigt, wobei auf jeden persönlichen Stil verzichtet und gemäß der streng zu befolgenden Kanonizität und Stereotypie gearbeitet wurde.196
193 Vgl.: Krieger: Von der Ikone zur Utopie., S. 50 194 V. V. Byþkov: Die philosophisch-ästhetischen Aspekte des byzantinischen Bilderstreits (S. 58-72). In: Johannes Irmscher (Hrsg.): Der Byzantinische Bilderstreit. Sozialökonomische Voraussetzungen, ideologische Grundlagen, geschichtliche Wirkungen. Leipzig: Koehler & Amelang 1980, S. 68 195 Byþkov: Die philosophisch-ästhetischen Aspekte des byzantinischen Bilderstreits, in: Irmscher (Hrsg.): Der Byzantinische Bilderstreit, S. 67-68. Das byzantinische Verständnis einer ‚Fotografie‘ bzw. eines naturgetreuen Abbildes ist natürlich nicht mit dem heutigen Verständnis des fotografisch produzierten Abbildes gleichzusetzen; vielmehr bezieht sich dieser Vergleich auf ein komplexes System von Codes, das zur damaligen Zeit vom Betrachter sofort verstanden und ohne Schwierigkeiten dechiffriert werden konnte. In der Ikonenmalerei reifte diese Codierung von Inhalt in spezifischen Bildformeln zur höchsten Ausprägung. Vgl. dazu: Arne Effenberger: Vom Zeichen zum Abbild – Frühzeit christlicher Kunst (S. 14-39). In: Michael Brandt, Arne Effenberger (Hrsg.): Byzanz. Die Macht der Bilder. Hildesheim 1998 (Ausst.-Kat.), S. 27 196 Vgl.: Byþkov: Die philosophisch-ästhetischen Aspekte des byzantinischen Bilderstreits, in: Irmscher (Hrsg.): Der Byzantinische Bilderstreit, S. 68. Die
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In der orthodoxen Kirche wird die Ikonenverehrung durch die Menschwerdung Christi gerechtfertigt. Christus fungiert in seiner menschlichen Gestalt als Abbild Gottvaters, dem Urbild; daher repräsentiert die Ikone das Abbild des Göttlichen in der materiellen Welt. Sie verweist jedoch nicht nur auf das Urbild sondern sie enthält es auch. Durch diese Amalgamierung des Diesseitig-Materiellen mit dem Absoluten wird das Unaussprechliche dem Betrachter zugänglich.197 Im Hinblick auf die Rezeption ergeben sich grundlegende Unterschiede zwischen Ikone und neuzeitlichem Bild: das Verhältnis von Ikone und Betrachter ist charakterisiert durch einen „Offenbarungsprozeß“198, in dem der Betrachter keine aktive Rolle übernimmt und in dem keine wechselseitige Beziehung zwischen Subjekt und Bild entsteht. Vielmehr handelt es sich um einen kontemplativen Akt, der ein „völliges Sich-Öffnen“199 fordert, da das Individuum erst so am Urbild teilhaben kann.200 Die Ikone wird als Vertretung des Göttlichen in der menschlichen Welt gedeutet;201 die Trennung von Signifikat und Signifikant – und somit der Scheincharakter des Bildes – wird aufgehoben. Da das Signifikat auf das Transzendentale und nicht auf die Realität verweist, erhebt sich das Bild
Ikone ist ein Heiligenbild, d.h. sie „soll – ihrem Wesen nach – ein authentisches Bild der abgebildeten hl. Person sein [...]. Daher wachte man mit geradezu ängstlicher Sorgfalt über den geheiligten Zügen und ließ sie zum Schema, das immer wieder getreu kopiert werden mußte, erstarren.“ (Herbert J. Rothemund: Ikonenkunst. Ein Handbuch. München: Slavisches Institut e.V. 1954, S. 9) Die Heiligen werden im Allgemeinen nicht angstverzerrt oder gepeinigt sondern mit verklärten Gesichtszügen dargestellt, da die Ikone als Teil der östlichen Mystik gilt. Gerade in der byzantinischen Ikonenkunst, anders als in der abendländischen Kunst, wird es vermieden, den Figuren menschliche oder emotionale Gesichtsauszüge zu verleihen, um das Göttliche und Geistige zum Ausdruck zu bringen (vgl.: Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 111). 197 Vgl.: Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 51 198 Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 51 199 Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 52 200 Vgl.: Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 51-52 201 Vgl.: Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 20
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über die materielle Welt. Die „Macht des Bildes“202, so Verena Krieger in Von der Ikone zur Utopie, entsteht also nicht allein durch seine Wundertätigkeit, sondern durch den Verzicht, ein Abbild der Wirklichkeit zu sein. Indem die Ikone von den Beschränkungen einer wirklichkeitsabbildenden Funktion befreit ist und der Wirklichkeit nicht mehr untersteht, entwickelt sie ihre Macht.203 Die Geschichte der byzantinischen Ikone ist trotz oder gerade aufgrund ihrer Verehrung auch eine Geschichte, die das zwiespältige Verhältnis zum Bild beschreibt und um Fragen nach Darstellbarkeit und Undarstellbarkeit, nach der Berechtigung für die Verehrung oder die Ablehnung des Bildes, kreist. Neben religiösen Aspekten manifestieren sich in dieser Diskussion konkrete machtpolitische Ansprüche, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle, der Berechtigung und der Macht des Bildes notwendig gemacht hat. Im traditionsbewussten Lager der Ostkirche stößt die Bilderverehrung auf heftigen Widerstand, da sie mit „Götzendienst“204 gleichgesetzt und dem Heidentum zugeordnet wird. Diese Ablehnung bildlicher Darstellung hat ihre Wurzeln im mosaischen Bilderverbot.205 Im Bilderstreit, der 726 – 843 A. D.206 das byzantinische Reich durch einen Bürgerkrieg erschüttert, geht es nicht allein um theologische Fragen sondern auch um das kirchenund machtpolitische Kräftespiel. Jedoch wird die Thematik der Berechtigung der Heiligenbilder in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt und das Bild wird dadurch zum Politikum für Kirche und Staat.207
202 Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 58 203 Vgl.: Krieger: Von der Ikone zur Utopie, S. 58-59 204 Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 7 205 Vgl.: Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 7 206 Jahreszahlen entnommen aus: Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 7 207 Vgl.: Fischer: Die Ikone, S. 78. Auch Moshe Barash verweist auf die politische Dimension des Bilderstreits: „Thoughts about the nature and status of the image have stood [...] at the center of great historical movements; they dominated processes and events that shook societies, upset old institutions, and determined the course of events for centuries. What are euphemistically called Iconoclastic Debates in the Byzantine Empire [...], were in fact great social, political, and religious movements accompanied by a great deal of vio-
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Ausschlaggebend für den Bilderstreit ist der Versuch der Kaiser in Konstantinopel, den Einfluss der Mönche auf die Bevölkerung zu brechen, die die Anziehungskraft des Bilderkults und die Faszination wundertätiger Ikonen für ihre Zwecke ausnutzen.208 Im Rahmen seines Konstrukts des Simulakrums greift auch Jean Baudrillard das Thema des Bilderstreits auf. Er kommt zu dem Schluss, dass gerade die Ikonoklasten die wahre Macht des Bildes erkannten, die daraus entstand, dass die ursprüngliche Faszination, die die Idee Gottes ausübte, durch die visuelle Darstellung auf das Bild selbst überging. Die Bilder, so Baudrillard, reflektierten jedoch nicht das Original, sondern allein das Simulakrum.209 Der Bilderstreit zwingt die Ikonodulen durch eine genaue Definition die christliche Ikone vom heidnischen Götzenbild zu differenzieren. Sie argumentieren, dass die Verehrung nicht dem Bild selbst oder den Materialien gilt sondern dem Prototyp, der hinter der Darstellung steht und in ihr gegenwärtig wird.210 Es sind vor allem zwei Argumentationslinien die dazu dienen, den Bilderkult zu legitimieren: zum einen „die Gleichstellung zunächst von Hören und Sehen und schließlich die Bevorzugung des Sehens vor dem Hören in Sachen des Glaubens und der Glaubensunterweisung.“211 Zum anderen spielt die enge Verbindung zwischen Urbild und Abbild eine tragende Rolle.212 Bezüglich des Verhältnisses von Wort und Bild gibt es innerhalb der Kirche unterschiedliche Positionen. So argumentiert beispielsweise der Patriarch Nikophoros zugunsten des Sehens. Zwar ist auch das Wort ein Ab-
lence.“ Moshe Barash: Icon. Studies in the History of an Idea. New York, NY, London: New York University Press 1992, S. 2 208 Vgl.: Norbert Wolf: Die Macht der Heiligen und ihrer Bilder. Stuttgart: Reclam 2004, S. 108 209 Vgl.: Merrin: Baudrillard and the Media, S. 32-33 210 Vgl.: Weitzmann: Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, S. 7 211 Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 16 212 Vgl.: Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 16
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bild der Wirklichkeit, jedoch ist zu dessen Verständnis ein Denkprozess notwendig, der beim Betrachten eines Bildes entfällt:213 „Das Sehen und Betrachten führt den Geist unmittelbar zur Sache selbst, und schon ein erster Blick genügt und gewährt eine eindeutige Erkenntnis [...] des Dargestellten. Das Wort dagegen beinhaltet die Gefahr des seelischen Zwiespalts und des Zweifels [...]. Dagegen ist der Glaube aufgrund des Sehens [...] nach allen Seiten abgesichert und keinem Zweifel oder Irrtum ausgesetzt. [...] [D]a der Irrtum beim Bild ausgeschlossen ist, so ergibt sich [...] mit notwendiger Konsequenz eine Überordnung der Ikone über das Wort.“
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Zwar bedeutet die Bevorzugung der Ikone nicht gleichzeitig eine Abwertung des Wortes, doch ist diese „Bildtheologie“215 Ausdruck des Strebens nach „sinnlicher Anschaulichkeit und Erfahrung der transzendenten Welt“216 im mittelalterlichen Byzanz.
213 Vgl.: Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 17 214 Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 17-18. Hier scheint es allerdings notwendig, genauer zu spezifizieren. Denn ob das Gesehene ‚richtig‘ decodiert wird und der Betrachter so zur intendierten Deutung des Dargestellten gelangt, ist maßgeblich vom Verständnis dieser Codes abhängig. D.h. die Kenntnis spezifischer Codes (ob bewusst oder unbewusst) ist Voraussetzung dafür, sie in dem spezifischen kulturellen Zusammenhang ‚richtig‘ zu interpretieren. 215 Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 18 216 Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, in: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 18. Das Streben nach sinnlicher Anschauung ist nicht allein auf das Byzanz dieser Epoche beschränkt, sondern lässt sich im Kontext der christlich geprägten Kultur immer wieder aufzeigen. Dabei scheint das Streben nach dem Sichtbarmachen im Bild analog zur Entwicklung der Bildtechnologien stärker zu werden. Hier stellt sich die Frage, in wie weit das Streben
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Eine andere Perspektive in der Rechtfertigung der Ikonenverehrung liefert Theodoros Studites: „‚Wenn das, was abwesend ist’ – er versteht darunter die ganze transzendente Wirklichkeit – ‚nur geistig geschaut wird und nicht auch in sinnbildlicher Darstellung, dann verschließt es sich notwendig auch dem geistigen 217
Blick’.“
Hier gehen sinnliche und übersinnliche Wahrnehmung Hand in Hand, wobei die sinnliche Wahrnehmung als Basis für die geistige Wahrnehmung(sfähigkeit) dient, ein Ansatz der auch in den Erhabenheitstheorien Burkes und Kants zum Tragen kommt. Der mittelalterliche Bilderstreit hat Fragen aufgeworfen, deren aktuelle Implikationen bis in die Gegenwart reichen und die sich beispielsweise – wenn auch in abgewandelter Form – im „Kampf der Kunst-Ismen“218 im 20. Jahrhundert erkennen lassen. Auch in den USA wurde die Debatte um Abstraktion und Gegenständlichkeit geführt. Dabei wurde für die Abstrakten Expressionisten der Bruch mit der Gegenständlichkeit und die Hinwendung zur Abstraktion zum „Fluchtweg aus der Wirklichkeit, deren Schrecken seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu gestalten waren.“219 Die Frage nach Darstellbarkeit, das Suchen nach Form (oder Formlosigkeit) wird oftmals gerade im Zusammenhang mit Schreckensereignissen thematisiert, die eine Grenzerfahrung und Zäsur für eine Gesellschaft bedeuten. Die Suche nach dem Bild für das Undarstellbare ist im Informationszeitalter geradezu vom Zwang der Verbildlichung gekennzeichnet. Die audiovisuellen Massenmedien sind nicht darauf ausgerichtet, ein Ereignis ohne Vi-
nach sinnlicher Anschauung selbst die Ursache für die Entwicklung der Bildund Informationstechnologien ist. 217 Beck: Von der Fragwürdigkeit der Ikone, Heft 7 (S. 3-44). In: Ohne Hrsg., Bayrische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse: Sitzungsberichte Jahrgang 1975, S. 18 218 Hans Belting: Bilderstreit: ein Streit um die Moderne (S. 15-28). In: Siegfried Gohr, Johannes Gachnang (Hrsg.): Bilderstreit. Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960. Köln: DuMont 1989 (Ausst.-kat.), S. 15 219 Belting: Bilderstreit: ein Streit um die Moderne, in: Gohr, Gachnang (Hrsg.): Bilderstreit, S. 19
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sualisierungen zu übertragen oder sich der figurativen Darstellung zu verweigern. In der medial geprägten Gesellschaft scheint das Bild als Ausdruck von und Referenzpunkt für individuelle sowie kollektive Erfahrung unumgänglich und gerade im Kontext 9/11 kann man sich dem Bild nicht entziehen. Der Exkurs der byzantinischen Ikone verdeutlicht, dass eine enge Beziehung zwischen (sinnlicher) objekthafter Darstellung und konkretem gesellschaftlichen sowie politischen Gebrauch des Bildes besteht, denn letztlich wird der Betrachter auch hier durch spezifische festgelegte Bildschemata zu bestimmten Ideen des Übersinnlichen gelenkt. Das Bildschema wird also zum Instrument der Kanalisierung und Beeinflussung des betrachtenden Subjekts. Das Fehlen eines (Ab-) Bildes bzw. die negative Darstellung hingegen bietet der Einbildungskraft keinen konkreten Ankerpunkt und keine Begrenzung, wodurch sich die Ideen des Betrachters nur schwer lenken lassen.220 Ähnliche Mechanismen sind auch bei Medienikonen in Form von Reportagebildern festzustellen. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist charakterisiert durch Massenphänomene und auch das Bildereignis 9/11 sowie daraus hervorgegangene Einzelbilder sind im Wesentlichen bestimmt durch globale Massenrezeption. Da die Ikone sich an die Gläubigen als eine anonyme Masse richtet, für die der encodierte Inhalt eindeutig zu decodieren sein muss, lassen sich Bezüge zwischen der byzantinischen Ikone und der Medienikone herstellen. Der Aspekt der massenkompatiblen Codierung ist bedeutend für Bilder wie Franklins Raising the Flag at Ground Zero, die zu medialen, öffentlichen und politischen Referenzpunkten werden.
3.4.3 Das Reportagebild als 9/11-Ikone Anders als die byzantinischen Ikonen sind die des Medienzeitalters nicht mehr Produkte eines langwierigen kontemplativen Schaffensprozesses, sondern entstehen durch das Betätigen eines Apparats – einer Film- oder Fotokamera – durch die das Gesehene wahrgenommen und im Moment des Ereignens in Echtzeit fixiert wird. Obwohl die Schnelligkeit der Aufnahme
220 Dies wird auch von Kant im Kontext der negativen Darstellung thematisiert. Siehe dazu: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 181-182
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scheinbar keine Reflexion des Gesehenen zulässt, so offenbart doch die Auseinandersetzung mit der Fotografie Franklins, dass auch hier bestimmte Bildschemata erkannt und reproduziert werden. So dient die nationale Ikone Joe Rosenthals als Inspiration für die Aufnahme der Flaggenhissung auf Ground Zero: „The picture was an inspiration for Thomas E. Franklin of The Record of Bergen County, N.J., who took the photo of three firefighters raising a flag amid the ruins of the World Trade Center on Sept. 11, 2001. Franklin said he instantly saw the similarities with the Iwo Jima photo as he looked through his 221
lens.“
(Hervorh. A. B.)
Daraus wird deutlich, dass der Referent für Franklins Aufnahme weniger das reale Geschehen ist, sondern vielmehr eine andere Medienikone – ein anderes Zeichen. Die Realität wird vor dem Hintergrund bzw. in Form eines ikonischen Reportagebildes rezipiert, das nun im Kontext des aktuellen Krisenereignisses zitiert wird.222 Die „Standardisierung des Blicks“223, die Virilio als Resultat der Wahrnehmung von Welt durch das Kameraobjektiv kritisiert, lässt sich auch bei Raising the Flag at Ground Zero feststellen.
221 The Associated Press: Iwo Jima flag-raising photographer dies. Datum des Updates: 21.08.2006, veröffentlicht auf msnbc.com. Quelle: http://www. msnbc.msn.com/id/14446355/ns/us_news-life/t/iwo-jima-flag-raising-photogra pher-dies/#.Tpbotlu-W8A. Aufgerufen am 13.10.2011. 222 In diesem Zusammenhang ergibt sich auch die Frage, in wie weit Rosenthals Bildikone das Handeln der drei Feuerwehrmänner beeinflusste bzw. ob hier bewusst oder unbewusst auf das Ritual der Flaggenhissung zurückgriffen wurde um des Schreckens ‚habhaft‘ zu werden. Denn dem Bildschema liegt ein Handlungsschema zugrunde, das die Frage nach Ritualen, die in spezifischen Situationen wiederholt werden, aufwirft. Die Untersuchung dieses Aspekts würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch sprengen, die sich auf die Bewältigung des Schreckens mittels des Visuellen konzentriert. Eventuell ließe sich der Gesichtspunkt der Flaggenhissung als aktive Handlung zur Bewältigung der Katastrophe beispielsweise aus psychologischer Sicht beleuchten. 223 Paul Virilio: Die Sehmaschine, S. 42
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In der fotografischen Reproduktion der Flaggenhissung werden ähnlich wie bei der byzantinischen Ikone eine gewisse Kanonizität und Stereotypie des grundlegenden Bildschemas gewahrt. Dies erinnert auch an Baudrillards Kritik der Simulation, dem Zustand, in dem Zeichen sich nur noch auf andere Zeichen beziehen und somit ein auf sich selbst bezogenes System entsteht, in dem der Referent im Realen verloren gegangen ist. Doch, darauf weist Baudrillard hin, handelt es sich bei der Simulation nicht nur um eine vom Realen losgelöste Inszenierung, sondern – dies wird auch anhand der Fotos Franklins und Rosenthals deutlich – Inszenierung kann sich dazu eignen, die Realität politischen Handelns und gesellschaftlicher Prozesse zu beeinflussen. So entsteht eine Wechselwirkung zwischen Bild und Realität, zwischen einer passiven und aktiven Rolle des Bildes. Denn es reagiert sowohl auf das Ereignis, indem es dies festhält, wirkt gleichzeitig aber auch gestaltend auf die Realität, indem es als Handlungsanweisung fungiert.224 Wechselwirkung und Macht des Bildes als konkrete Handlungsanweisung für reale Prozesse steigen in dem Maße, so ist anzunehmen, wie der Mensch seine Umwelt mehr durch technische Hilfsmittel, als durch das primäre, unmittelbare Erleben von Welt wahrnimmt. Die Medienikonen, die Erinnerung an historische Ereignisse prägen, bieten dem Subjekt Orientierung und beeinflussen dadurch die reale Lebenswelt. Während die Rechtfertigung für die Bilderverehrung im 8. Jahrhundert aus der Menschwerdung Christi abgeleitet wurde, leitet sich die Rechtfertigung im (20. und) 21. Jahrhundert aus der Hervorhebung von Menschen und Ereignissen durch ein kalkuliertes (audiovisuelles) Medienkonzept ab, womit die bildliche Darstellung unabdingbar geworden ist. Die Massenmedien haben die Rolle des spirituellen Führers übernommen: „sie verwandeln Chaos in Ordnung, erzählen uns, was das sprichwörtlich ‚Gute Leben‘ ist, zeigen uns, wo wir uns in der Welt befinden, und verbinden das Individuum mit dem kommunalen Raum“225. Die kirchliche Weihe, die einst das Tafel-
224 Vgl.: Horst Bredekamp: Bildakte als Zeugnis und Urteil (S. 29-66). In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1. Berlin: Deutsches Historisches Museum 2004, S. 29-30 225 Doreet LeVitte Harten: Heaven erschaffen (S. 9-13). In: Doreet LeVitte Harten (Hrsg.): Heaven. Ostfildern/Stuttgart: Hatje Cantz 1999 (Ausst.-Kat.), S. 11
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bild in eine sakrale Ikone wandelte, ist ersetzt worden durch die mediale Weihe, die einzelne Bilder aus der Bilderflut heraushebt. Eine vergleichende Betrachtung von traditioneller Ikone und Medienikone deckt Unterschiede auf, die u.a. in der Problematik des Realitätsanspruchs beider Bildarten bzw. der Wahrnehmung des Betrachters im Hinblick auf die Realität liegen. Die Bildgläubigkeit, die schon in den Argumenten der Ikonodulen des Mittelalters zum Ausdruck kommt, hat in der Informationsgesellschaft durch die technischen Möglichkeiten der Bildproduktion und Abbildung von Welt neue Dimensionen erreicht. Während die byzantinische Ikone ihre Macht aus dem Verzicht, ein Abbild der Realität sein zu wollen bezieht, da gründet das Reportagefoto seine Macht gerade auf den Anspruch die Realität (objektiv) widerzuspiegeln. Daher ist das Bild nicht mehr das beispielsweise von Kant als Quelle des Erhabenen ausgeschlossene „Kunstprodukt[...]“226, sondern gilt gemeinhin als „Duplikat[...] der Welt“227. Im Vergleich zu anderen historischen Quellen erhält die Fotografie einen besonderen Status, der in der speziellen Wahrnehmung fotografischer Dokumente gründet. Denn trotz des scheinbar lediglich illustrativen Charakters, wird das Foto vom Betrachter instinktiv als ‚Wahrheit‘ rezipiert, da es den Eindruck vermittelt, man könne, wenn auch nur im Nachhinein, an dem Dargestellten partizipieren. Horst Bredekamp begründet die Annahme, dass ein Bild „wahr“ sei, damit, dass dessen „aktivierende[...] Botschaft“228 dem menschlichen Bedürfnis entgegenkommt, sich den Dingen zu nähern und am Geschehen teilzuhaben.229 Dieses Verhältnis des Betrachters zur Fotografie ist dem Verhältnis zur traditionellen Ikone ähnlich, denn durch letztere sucht der Betrachter einen Eindruck der dargestellten Person und die Erfahrung persönlicher Begegnung zu erlangen. 230
226 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 147 227 Susan Sontag: Objekte der Melancholie (S.53-83). In: Susan Sontag: Über Fotografie. 15. Auflage Frankfurt am Main: Fischer 2003, S. 54 228 Bredekamp: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen, S. 29 229 Vgl.: Bredekamp: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen, S. 29 230 Vgl.: Belting: Bild und Kult, S. 23. Auch Edmund Burke greift das menschliche Bedürfnis, sich den Dingen zu nähern in seiner Philosophischen Untersuchung im Kontext der Leidenschaft der Nachahmung auf: ob das Subjekt von
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Wenn Erfahrung zum großen Teil durch Bilder stattfindet, ist die Wahl der ‚richtigen‘ Bilder bedeutend, um den Rezipienten durch „aktivierende Botschaften“ zu affizieren. Anders als bei Burke und Kant, die das Sublime noch als elitären Gefühlszustand und stark in Bezug auf das Individuum diskutieren, ist die Gegenwart charakterisiert durch Schnelligkeit sowie kontinuierliche mediale Massenreproduktion. In der Informationsgesellschaft, die das Subjekt mit einem Zu-Schnell und Zu-Viel an sprachlichen und visuellen Informationen überfordert, liegt die Macht des ikonischen Medienbildes vor allem in der Aussagekraft, Relevanz sowie Klarheit der visuellen Codierung, die das einzelne Bild hervorhebt und es dem Rezipienten ermöglicht die Botschaft unmittelbar zu dechiffrieren. Damit das (Einzel-) Bild eine breite Masse affizieren kann, müssen die Codes auf einer gemeinsamen Basis gründen und kollektiv verankert sein. Die Analysen von Raising the Flag at Ground Zero (und auch The Raising of the Flag on Iwo Jima) demonstrieren das Potential des ikonischen Medienbildes, eine anonyme Masse von Rezipienten auf eine gemeinsame Basis – d.h. ein gemeinsames Wertesystem – zu vereinen. Franklins Reportagefoto verdeutlicht, dass Medien bzw. die Medienikone tragende Rollen als spirituelle Führer einer Gesellschaft übernommen haben, die unweigerlich auch das kollektive Gedächtnis prägen. Auf die Bedeutung der Medien für das kollektive Gedächtnis verweist Aleida Assmann: „Dieses Gedächtnis setzt sich nicht einfach fort, es muß immer neu ausgehandelt, etabliert, vermittelt und angeeignet werden. Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken. Ohne dies läßt sich kein generationen- und epochenübergreifendes Gedächtnis aufbauen [...].“
231
einem Objekt affiziert wird oder nicht, ist zwar abhängig von der Natur des Objekts selbst, doch schließt er nicht aus, dass auch die Nachahmung den Betrachter affizieren kann. Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 84 231 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 1999, S. 19
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Die Kontrolle über die Bilder (und Bildschirme) (zurück) zu erlangen wird im Rahmen der Krisenbewältigung des 9/11 zu einem bedeutenden Aspekt. Daher wurden Medienkonzepte derart gestaltet, dass auch auf visueller Ebene eine auf Überwindung der Krise ausgerichtete Botschaft kommuniziert wurde. So suggeriert auch Raising the Flag at Ground Zero dem Rezipienten, dass Chaos und Schrecken des Ereignisses in Ordnung gewandelt und eine erschütterte Nation gestärkt aus der Katastrophe hervorgehen würde. Dadurch, dass Franklin ein nationales Emblem (das Motiv der Flaggenhissung auf Iwo Jima) zitiert, wird seine Aufnahme selbst zum nationalen Emblem, die in der aktuellen Krisensituation ein kulturell verankertes Bildschema und die damit verknüpfte Botschaft wiederbelebt und verstärkt. Sowohl was den gesellschaftlichen Status als auch den Handlungskontext betrifft, lassen sich Bezüge zwischen nationalen Emblemen und traditionellen sakralen Ikonen herstellen: „After all, the national emblems share many of the traits of the sacred icon, including consecration in the form of dedicatory ceremonies and their status as pilgrimage sites. These monuments pose as shrines to national ideas and, in 232
reinforcing these ideals, affect our very consciousness and behavior.“ (Hervorh. A. B.)
So ist eine Auseinandersetzung mit nationalen Ikonen nicht allein Aufgabe der Kunstwissenschaft sondern auch der Historiker. Albert Boime unterscheidet zwischen den Begriffen „iconography“ als einem vordergründig beschreibenden Prozess und „iconology“, einem Prozess der sich mit der Dechiffrierung von Bildern im kulturellen, sozialen und politischen Kontext auseinandersetzt.233 In Boimes Forderung nach einer neuen Betrach-
232 Albert Boime: The unveiling of the national icons. A plea for patriotic iconoclasm in a nationalist era. Cambridge, UK: Cambridge University Press 1998, S. 2. Neben der Omnipräsenz des Bildmotivs in der amerikanischen Gesellschaft, diente Rosenthals Aufnahme auch als Vorlage für das Marine Corps Memorial (Felix de Weldon, 1954) in Arlington, Virginia und ist als Kriegerdenkmal zu einem manifesten nationalen Emblem geworden. 233 Vgl.: Boime: The unveiling of the national icons, S. 1-2. Boime beruft sich hier auf W. J. T Mitchell: Iconology: Image, text, ideology. Chicago 1986
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tungsweise nationaler Ikonen wird die Notwendigkeit einer Sensibilität für das Machtpotential der Medienikonen im Hinblick auf die Beeinflussung realen gesellschaftlichen und politischen Handelns deutlich. Eine ästhetische Betrachtungsweise des Bildes muss ergänzt werden durch eine politische, kulturelle und soziale. So wird das auf dem Rosenthalschen Reportagefoto basierende Marine Corps Memorial (Felix de Weldon, 1954) von Boime weniger im kunsthistorischen Sinne sondern vielmehr als politisches Symbol diskutiert. Deshalb muss auch Franklins Aufnahme im Hinblick auf seine ästhetische und politische Dimension, d.h. im Sinne eines ikonologischen Ansatzes, untersucht werden, da eine rein ästhetische Auseinandersetzung der Komplexität dieses Bildes nicht gerecht wird. Vergleicht man die Aufnahme Franklins mit der von Joe Rosenthal, so ist festzustellen, dass das Foto von Ground Zero insgesamt weniger dynamisch ist als Rosenthals Bild, das von physischer Kraftanstrengung der Soldaten zeugt, die den Fahnenmast aufrichten. Der Fokus der Feuerwehrmänner hingegen liegt nicht auf dem Aufrichten des Mastes sondern auf dem Emporziehen der US-Flagge an dem Mast. Aufgrund der im Vergleich zu Rosenthals Bild reduzierten Kraftanstrengung und Dynamik wirkt Franklins Aufnahme insgesamt ruhiger und vermittelt eine fast kontemplative Atmosphäre. Diese wird auch dadurch vermittelt, dass die Blicke der drei Rettungskräfte auf die emporschwebende Flagge gerichtet sind – im Gegensatz zur physischen Kraftanstrengung wird hier vor allem ein geistiges Moment dargestellt. So erfährt das Bildschema der Flaggenhissung in der aktuellen Reproduktion eine Variierung durch die Verlagerung vom Physischen hin zur Betonung des Kontemplativen. Dies assoziiert auch die Darstellung von Heiligen in der byzantinischen Ikone, wo man angstverzerrte und emotionale Gesichtszüge strikt vermied, um so Vergeistigung, Entmaterialisierung und das Göttliche zu betonen. Die ruhig wirkenden Gesichtsausdrücke der drei Feuerwehrmänner konterkarieren das traumatische Erlebnis der Terroranschläge, das Ausmaß der Zerstörung sowie die physische und psychische Anstrengung, die mit den Rettungsarbeiten verbunden ist. Nur die sich im Bildhintergrund auftürmenden Trümmerteile verweisen auf das Ausmaß der Zerstörung. So wie sich die Flagge über die apokalyptische Szenerie erhebt, so scheint sich diese Erhebung auch in der kontemplativen Aura der Rettungskräfte widerzuspiegeln. Die Idee der Erhebung im Sinne der Überwindung der Katastrophe und der Selbststärkung der US-Nation ist das zentrale Thema der Fotografie,
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das im Bildschema encodiert ist. Durch spezifische Codierungen wird der Schrecken des Ereignisses nicht negiert, doch er wird im Bild gebannt, ästhetisiert und domestiziert, indem durch die Einordnung in einen heilsgeschichtlichen Kontext Kausalität und Sinnstiftung ermöglicht werden. Denn das Motiv der Flaggenhissung weist eine enge Verknüpfung mit dem christlichen Topos der Kreuzaufrichtung auf, wie Scorzin in ihrer kunstwissenschaftlichen Untersuchung der Reportagefotografien Franklins und Rosenthals herausstellt. In der Kreuzaufrichtung ist symbolisch die Idee des Siegeszeichens und des Triumphes über den Tod verankert, eine Idee, die sie auch in der Aufnahme der Flaggenhissung vom 11. September 2001 angelegt sieht:234 „Erniedrigung wandelt sich in Erhöhung, Schrecken in Überwindung. [...] In [der Hissung der Flagge; A. B.][...] hypostasiert sich gleichsam das Aufbauende, das Aufgerichtetsein und der neue Aufbruch der gesamten Nation in ein neues Zeitalter. Demonstriert wird damit symbolisch, wie aus Chaos, Trümmern und Tod fast heilsgeschichtlich wieder Ordnung entsteht und eine neue Zeit anbricht. Das fotografisch dokumentierte singuläre historische Ereignis wird damit in die Zeitlosigkeit eines modernen Andachtsbildes gerückt 235
[...].“
Ein christliches Symbol, das das Spannungsfeld zwischen Zerstörung und Hoffnung/Triumph thematisiert, ist das Kreuz, das dem Topos der Kreuzaufrichtung inhärent ist und dessen Form beispielsweise in den sich auftürmenden Trümmern des World Trade Centers (z.B. oben links im Foto)
234 Vgl.: Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 30 235 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 30. Die staubbedeckten Uniformhosen der drei Feuerwehrmänner lassen sich ebenfalls im Sinne einer aufrichtenden Botschaft decodieren. Der Staub lässt die Gruppe visuell mit dem Untergrund verschmelzen, nimmt jedoch nach oben ab, so dass die Farben der Uniform klarer hervortreten. Visuell wird der Eindruck vermittelt, die Männer würden sich aus dem Staub erheben, was den Mythos des Phönix aus der Asche assoziiert, der sich aus der scheinbaren Vernichtung nicht nur emporhebt, sondern umso stärker daraus hervorgeht.
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angedeutet ist. Das Kreuz als „das heilige Zeichen der Erlösung“236 ist das Symbol für die christliche Religion schlechthin: es steht für das Leiden, gleichzeitig aber auch für den Triumph.237 Als „Sinnbild der Einheit von Extremen“238 vereint es die Polaritäten von Zerstörung der physischen Existenz und Erhebung über die Grenzen des Physischen, von Niederlage/ Schmach und Triumph/ Erhebung.239 Die diesem Symbol inhärenten Dichotomien spiegeln einen wesentlichen Charakterzug der Kategorie des Erhabenen wider.240 Allerdings ist das Kreuz als religiöses Symbol, unweigerlich auch ein politisches, wie Mark Noll herausstellt:
236 Dorothea Forstner: Die Welt der Symbole. 2. verbesserte Auflage, Innsbruck, Wien, München: Tyrolia 1967, S. 17 237 Vgl.: Herder-Lexikon Symbole (ohne Verfasser, bearbeitet im Auftrag der Lexikonredaktion von Marianne Oesterreicher-Mollwo). 5. Auflage, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1978, S. 93 238 Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. Neuausgabe, München: Diederichs 1998, S. 176 239 Das leere Kreuz taucht schon in der Kunst des 4. Jahrhunderts auf, da es von christlichen Schriftstellern zum Symbol für die Herrlichkeit und Macht Christi deklariert worden war (vgl.: Kerstin Bütow, Ulrike Kroneck: Bildungsschatz Bibel. Neues Testament. Neukirchen-Vlyn: Neukirchener Verlagshaus 2004, S. 169); es steht auch für „das gläubige Hinnehmen von Tod, Leiden und Opfern“ (J. C. Cooper: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole. Leipzig: VEB E. A. Seemann 1986, Lizenzausgabe Wiesbaden: Drei Lilien (o.J.), S. 101) und ist mit Assoziationen an Triumph verknüpft. Die großen geschnitzten Kruzifixe, die seit dem 11. Jahrhundert in Kirchen zu finden sind, bezeichnet man beispielsweise als „Triumphkreuze“. Vgl.: Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole. In Verbindung mit der Lexikonredaktion des Verlages Herder erarbeitet von Jutta Seibert. 2. Auflage, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1980, S. 187 240 Burke greift in seiner Philosophischen Untersuchung das Kreuz im Rahmen der Auseinandersetzung mit Sukzession und Gleichartigkeit – den Bestandteilen des künstlichen Unendlichen – auf. Allerdings beziehen sich seine Ausführungen dazu allein auf die Form und deren ästhetische Wirkung, wie sie z.B. in der Architektur von Kirchen zum Ausdruck kommt. Burke beschreibt die Kreuzform als limitierte Form, die die Einbildungskraft hemmt, von der Idee der Wiederholung bzw. Unendlichkeit ablenkt und somit unfähig ist, das
154 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS „The practical importance of the cross for politics can be illustrated in the history of almost any place on the globe where Christians have constituted a large enough group to exert real political influence.“
241
Beispielsweise war das Kreuz das herausragende Symbol in den Kreuzzügen zwischen 1096 und 1291, und so mit einem konkreten politischen Konflikt zwischen der christlich geprägten und der islamisch geprägten Welt verbunden.242 Das Kreuz repräsentiert in diesem Zusammenhang das Zeichen, das eine Gesellschaft von der anderen abgrenzt und ein spezifisches Wertesystem symbolisiert – es wirkt zugleich verbindend und differenzierend. Neben dem Kreuz ist die Zahl drei bzw. das Dreieck als christliches Symbol von Bedeutung. Zum einen sind drei Feuerwehrmänner an der Hissung der Flagge beteiligt; zum anderen ist das Dreieck ein zentrales Element der Bildkomposition. Hamann stellt die der geometrischen Form inhärente Spannung heraus, die neben dem Spannungsverhältnis von Horizontallinie und Schrägen auch aus der impliziten zeitlichen Dimension von Gegenwart und Zukunft resultiert.243 Die Stellung des vergangenen aber
Gefühl des Erhabenen zu evozieren (vgl. dazu Burke: Philosophische Untersuchung, S. 111-113). Hier offenbart sich eine Schwäche des Burkeschen Ansatzes, denn er ignoriert die Symbolik bzw. Symbolkraft des Kreuzes, die dem Grundriss christlicher Kirchen zu Grunde liegt und die über die Aspekte Beschränktheit versus Wiederholung hinausgeht. 241 Mark A. Noll: Adding Cross to Crown. The Political Significance of Christ’s Passion. Hrsgeg. von Luis E. Lugo. Washington, D.C.: The Center for Public Justice 1996, S. 25 242 Vgl. dazu: Heather Child, Dorothy Colles: Christian Symbols. Ancient & Modern. A handbook for students. London: G. Bell and sons Ltd. 1971, S. 36 f. 243 Vgl.: Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 110. Auf christlichsymbolischer Ebene repräsentiert die Drei die Dreieinigkeit und ist somit das Symbol Gottes (vgl.: Forstner: Die Welt der Symbole, S. 51-52), was sich ebenfalls in der geometrischen Form des gleichseitigen Dreiecks ausdrückt (ebd., S. 67). Zwar sind die Dreiecke im Bildaufbau von Raising the Flag at Ground Zero nicht gleichseitig, doch handelt es sich auch nicht um ein konzipiertes Tafelbild sondern um ein Foto. Daher wird die Erfüllung des Kriteri-
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noch präsenten traumatischen Ereignisses ist aufgrund der auf das Zukünftige ausgerichteten Signalfunktion der Fotografie problematisch: „Erinnerung an das vergangene Ereignis generiert hier gleichzeitig die Antizipation von Künftigem oder Möglichem, die das singuläre traumatische Ereignis der Vergangenheit eigentümlich überdeckt, unsichtbar werden läßt und optisch ausblendet. Das Bild fungiert darin als eine Art therapeutische Beschwörungsformel, ‚an unforgettable image of hope‘ [...].“
244
(Hervorh. A.
B.)
Die Bedeutung und tiefe Verwurzelung einer christlich geprägten Bildsprache in der heutigen säkularisierten Gesellschaft zeigt Hans Belting auf, der in Bildbegriffen das Überleben von Glaubensbegriffen sieht: der Ursprung von Bildpraktiken ist in Glaubenspraktiken zu finden, die trotz Säkularisierung weiterhin in der westlichen Mentalität präsent sind.245 Dem Thema der kollektiven Erinnerung widmet man sich zudem in der Gedächtnisforschung; hier betrachtet man kollektive Erinnerung als das Ergebnis einer strengen Auswahl, die das spezifische Identitätskonzept der jeweiligen Gemeinschaft widerspiegelt. Die Wahl von Bildern, durch die Ereignisse erinnert werden, richtet sich danach, ob sie das kulturelle und historische Selbstbild bestätigen und den Bedürfnissen der aktuellen Situation entsprechen.246 So tritt auch in dem gemeinhin als säkular, „wahr“ und objektiv geltenden Reportagefoto letztlich, ähnlich wie bei der traditionellen Ikone, ein
ums der Gleichseitigkeit des Dreiecks für die vorliegende Arbeit nicht als relevant erachtet. 244 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 38 245 Vgl.: Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Beck 2005, S. 7. „In Bildbegriffen überleben Glaubensbegriffe, und Bildpraktiken begannen einmal als Glaubenspraktiken. Auch wenn wir über ihre Geschichte nur noch wenig wissen, ist die christliche Religion selbst nach der Säkularisierung noch in der westlichen Mentalität präsent.“ Ebd. 246 Vgl.: Czech: Bildkanon im Spannungsverhältnis zwischen individuellem und kollektiven Bildgedächtnis, in: Kirschenmann, Wagner (Hrsg.): Bilder, die die Welt bedeuten, S. 24
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historisch gewachsenes Konzept zutage. Die Massenmedien dienen dabei als Archiv des kulturellen Gedächtnisses. Visuelle Informationen werden durch Medienproduktionen wie Nachrichtensendungen oder Zeitungsberichte mit einem spezifischen Sinn versehen und in einen kulturellen Deutungszusammenhang eingeordnet. Ein unterbewusster Prozess der Bedeutungsgebung findet statt, bei dem das visuelle Material organisiert und grammatikalischen Strukturen zugeordnet wird. Auf die Bedeutung massenmedialer Phänomene bei der Prägung des menschlichen Gedächtnisses verweist Gerhard Paul. Doch auch wenn Bilder erst mit Entstehung der Massenmedien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden, so scheint der Prozess der kulturell-visuellen Prägung bereits im Verlauf der Kunstgeschichte angelegt:247 bestimmte Bildschemata, zwar stilistischen Veränderungen unterworfen, werden in ihrem Kern über Jahrhunderte hinweg reproduziert. So auch der Topos der Kreuzaufrichtung, der im westlichen Kulturkreis über einen langen Zeitraum hinweg gewachsen ist, in einem spezifischen Deutungszusammenhang steht, und die fotografische Darstellung der Flaggenhissung auf Ground Zero mit Bedeutung auflädt.248 Im Hinblick auf die Hervorhebung dieses Reportagefotos aus der Masse an Medienbildern ist die Historie des Bildschemas ein entscheidender Faktor: aktuelle Bilder haben eine höhere Chance aus der visuellen Flut herauszustechen und Aufmerksamkeit zu erregen, wenn sie an bereits bekannte VorBilder in Fotografie und Malerei anknüpfen.249
247 Vgl.: Paul: Das Jahrhundert der Bilder, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band I, S. 27-28 248 Das Bildschema der Kreuzaufrichtung wird in der westlichen Kunstgeschichte immer wieder aufgegriffen und vielfach in unterschiedlichen Epochen auch im Tafelbild reproduziert. Vor allem seit dem 20. Jahrhundert wird dieses Bildschema aus seinem ursprünglich sakralen Zusammenhang herausgelöst und beispielsweise auf sozialkritischer Ebene zitiert. Um einige Beispiele von Darstellungen des Kreuzaufrichtungstopos aus unterschiedlichen Epochen und Regionen zu nennen, sei auf folgende Werke verwiesen: Peter Paul Rubens Triptychon Die Kreuzaufrichtung (1609-1610), Rembrandt Kreuzaufrichtung (1633) und Otto Dix Große Kreuzaufrichtung (1962). 249 Vgl.: Gerhard Paul: Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Onlineausgabe, 2 (2005),
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Auch wenn das Bildschema von Franklins Reportagefoto den christlichen Topos der Kreuzaufrichtung aufgreift, so stellt es letztlich die Flaggenhissung dar und somit die Aufrichtung des zentralen nationalen und politischen Symbols der Vereinigten Staaten von Amerika. Kein anderes Artefakt symbolisiert so prägnant die Essenz US-amerikanischer Ideale und Mythen; kein anderes Symbol ist so bedeutend für die Konstruktion der nationalen Identität.250 Ähnlich dem Kreuz ist die Flagge das Symbol einer Gemeinschaft; sie ist das Emblem der Identität einer Gruppe, das deren gemeinsame Werte ausdrückt und sie zugleich von anderen Gruppen (z.B. Nationen) absetzt. Vor allem in der Flagge manifestiert sich das menschliche Vermögen, Objekte mit tieferer Bedeutung und mit Ideen, die sich der Darstellung in sinnlich-fassbarer Form entziehen, aufzuladen: sie dient als Zeichen für Identität sowie Souveränität eines Volkes und ist das Symbol für Ehre und Ruhm einer Nation, für das Soldaten bereit sind ihr Leben zu opfern.251 Die Flagge gehört zu den nonverbalen Ausdrucksformen, die den Betrachter auf emotionaler Ebene ansprechen und sich als Bildelement dazu eignet, ihn zu beeinflussen.252 Im Laufe der Zeit hat eine Verlagerung hinsichtlich der Bedeutung der US-Flagge stattgefunden, die sich von einem Zeichen der Nationalität und territorialer Ansprüche zunehmend zu einem Kultobjekt gewandelt hat: „Flag ‘worship’ evolved relatively recently in our nation’s history and was deliberately encouraged through education and popular institutions.“
253
Während Boime von einer Metamorphose der Flagge vom Zeichen einer Nation hin zu einem Objekt von Kultstatus spricht254, so scheint angesichts des Reportagefotos der Flaggenhissung der Begriff der ‚Verschmelzung‘
H. 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Paul-22005, hier Abschnitt 6. Aufgerufen am 10.05.2010. 250 Vgl.: Boime: The unveiling of the national icons, S. 18 251 Vgl.: Boime: The unveiling of the national icons, S. 20 252 Vgl.: Paul: Das Jahrhundert der Bilder, in: Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band I, S. 23 253 Boime: The unveiling of the national icons, S. 21 254 Siehe dazu: Boime: The unveiling of the national icons, S. 21
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politischer und religiöser Implikationen passender. Auf diese Vermischung von Politischem und Religiösem in der US-amerikanischen Gesellschaft weist auch Scorzin hin, die den Begriff des „(Zivil-) Religiösen“ zur Beschreibung eines für die amerikanische Gesellschaft typischen Charakterzuges verwendet.255 Die tiefe Verwurzelung christlicher Themen in der zeitgenössischen Politik der USA hebt zudem Noll hervor: „Christological themes have regularly played a major role in the mainstream of American political life.“
256
(Hervorh. A. B.)
Die Verschmelzung des Religiösen und Politischen, die in Franklins Foto implizit im Bildschema angelegt ist, tritt in anderen Fotos des 9/11 explizit zutage. Das Bildarchiv Here is New York enthält u.a. die Schwarz-WeißAufnahme einer Prozession, in der das Kreuz neben der US-Flagge getragen wird. Oder das Foto einer Frau, die das Gesicht nach unten gewandt, in der rechten Hand einen Rosenkranz in die Höhe hält. Auf ihrem Stirnband sind die US-Flagge sowie die Aufschrift USA zu sehen; eine weitere Flagge ist in ihr Haar gesteckt.257 Über das Bildschema hinaus weist das Hissen der Flagge auch in Symbolik und Signalwirkung Parallelen zur Kreuzaufrichtung auf, deren Relevanz sich im Kontext der Legitimation politischen (und militärischen) Handelns als Reaktion auf das traumatische Ereignis 9/11 entfaltet. Auch hier ermöglicht der Bezug zu Joe Rosenthals Fotografie ein umfassenderes Verständnis der Bedeutung der Fotografie von Thomas E. Franklin: zu Rosenthals Aufnahme von Iwo Jima bemerkt Boime, dass die Flaggenhissung vielen Amerikanern als militärisches Äquivalent zum traditionellen Scheunenbau galt und allegorisch auf die Überwindung scheinbar unüberwindbarer Hindernisse durch gemeinschaftliche Anstrengung verwies.258 Allerdings wurde die Flagge auf Mount Suribachi über einen Monat vor dem eigentlichen militärischen Sieg gehisst. Mit dieser öffentlichkeitswirksamen Insze-
255 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 30 256 Noll: Adding Cross to Crown, S. 28 257 Siehe dazu: George (Hrsg.): Here is New York, S. 157 (Fotografie von Mel Rosenthal) und S. 769 (Fotografie von Monika Gaff) 258 Vgl.: Boime: The unveiling of the national icons, S. 180
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nierung der ersten Einnahme japanischen Territoriums verfolgte die USFührung das Ziel, die Moral der eigenen Truppen und der amerikanischen Bevölkerung daheim zu stärken. Dabei hatte die Botschaft der Flaggenhissung eine doppelte Wirkung: für die US-Truppen erwies sie sich als aufrichtend, für die japanischen Gegner als demoralisierend.259 Das Foto der Flaggenhissung am Ground Zero verkündet die Botschaft des bevorstehenden Triumphes ebenfalls zu einem Zeitpunkt, als die amerikanische Nation sowie die Menschen weltweit sich noch im Schockzustand befinden. Das ganze Ausmaß der Katastrophe (z.B. die genaue Anzahl der Opfer) steht noch nicht endgültig fest und die Krisenbewältigung ist nicht abgeschlossen. Die Bewältigung des Ereignisses kommt der Kontemplation des Schreckens zuvor und lässt kaum Raum für eine Reflexion der Geschehnisse. Die Zäsur des 11. September 2001 markiert nicht das Ende einer Krise sondern vielmehr den Beginn einer weltweiten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des internationalen Terrorismus sowie den Beginn militärischer Auseinandersetzungen, die im Zuge des 9/11 begonnen wurden. So lässt sich auch in der Hervorhebung von Franklins Reportagebild der Versuch vermuten, den Rückhalt der Bevölkerung für bevorstehende politische und militärische Aktionen zu erzeugen. An dieser Stelle sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass die Botschaft, die das Bild subtil, emotional und empirisch nur schwer beweisbar kommuniziert, auf semantischer Ebene in der Rhetorik der US-Regierung zu dieser Zeit reflektiert wird und visuell auf bevorstehende militärische Auseinandersetzungen verweist.260
259 Vgl.: Boime: The unveiling of the national icons, S. 191 260 Um zwei Beispiele für die Parallelen zwischen der im Bildschema codierten Botschaft und der Rhetorik der US-Regierung aufzuzeigen, sei auf die Reden des zur Zeit der Anschläge amtierenden US-Präsidenten George W. Bush verwiesen. In seiner Rede am Abend des 11. September 2001 hieß es unter anderem: „These acts of mass murder were intended to frighten our nation into chaos and retreat. But they have failed. Our country is strong. A great people has been moved to defend a great nation. Terrorist attacks can shake the foundations of our biggest buildings, but they cannot touch the foundation of America. These acts shatter steel, but they cannot dent the steel of American resolve. [...] Tonight I ask for your prayers for all those who grieve, for the children whose worlds have been shattered, for all whose sense of safety and
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Durch die Einbindung des politischen Symbols der US-Flagge in ein christliches Bildschema, das die Aussicht auf Triumph kommuniziert, wird auch die Legitimation des nachfolgenden militärischen Handelns der USRegierung mit einer religiösen Ebene verknüpft. Das katastrophische Ereignis wird überlagert durch eine Triumphbotschaft; Schrecken und Trauma
security has been threatened. And I pray they will be comforted by a power greater than any of us spoken through the ages in Psalm 23: ‘Even though I walk through the valley of the shadow of death, I fear no evil, for You are with me.’ This is a day when all Americans from every walk of life unite in our resolve for justice and peace. America has stood down enemies before, and we will do so this time.“ (Zitiert nach: http://archives.cnn.com/2001/US/ 09/11/bush.speech.text/index.html. Aufgerufen am 03.07.2010.) Und auch in seiner Rede vor dem Kongress am 20. September 2001 ist die aufrichtende Botschaft der Überwindung des Schreckens ein zentrales Element: „Tonight, we are a country awakened to danger and called to defend freedom. [...] America is successful because of the hard work and creativity and enterprise of our people. These were the true strengths of our economy before September 11, and they are our strengths today. [...] Some speak of an age of terror. I know there are struggles ahead and dangers to face. But this country will define our times, not be defined by them. As long as the United States of America is determined and strong, this will not be an age of terror. This will be an age of liberty here and across the world. [...] Our nation, this generation, will lift the dark threat of violence from our people and our future. We will rally the world to this cause by our efforts, by our courage. We will not tire, we will not falter and we will not fail. (APPLAUSE) It is my hope that in the months and years ahead life will return almost to normal. We'll go back to our lives and routines and that is good. Even grief recedes with time and grace. [...] Fellow citizens, we'll meet violence with patient justice, assured of the rightness of our cause and confident of the victories to come.“ (Zitiert nach: http://archives.cnn.com/2001/US/09/20/gen.bush.transcript/. Aufgerufen am 03.07.2010.) In den hier zitierten Ausschnitten aus den beiden Reden wird ersichtlich, dass der Schrecken der Anschläge des 11. September thematisiert, zugleich aber auch das Versprechen auf die Bewältigung des Schreckens durch nationalen Zusammenhalt und gemeinsame Anstrengungen gegeben wird.
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der Geschehnisse werden überdeckt von der Idee der Selbststärkung der US-Nation. Die Selbststärkung des Subjekts im Angesicht des Schreckens ist ein wesentliches Charakteristikum der Erhabenheitstheorien des 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den Ansätzen der Postmoderne geht es nicht um die Kontemplation des Schreckens als unauflöslichem Konflikt sondern um seine Domestizierung, was letztlich auch seine Verharmlosung zur Folge hat. Vor dem Hintergrund der Theorien der Aufklärung betrachtet, suggeriert Franklins Aufnahme und deren kommunikativer Kontext eine Verlagerung der Fokussierung des Sublimen: denn hier, dies impliziert vor allem die Flagge, geht es weniger um individuelle als um kollektive Erfahrung. Die Flagge als Symbol der Nation spricht das Subjekt nicht als Individuum sondern als Teil der Gemeinschaft an. In Franklins Fotografie ist die USFlagge das zentrale Element, auf das sich die Aufmerksamkeit der Feuerwehrmänner und somit auch die des Betrachters richtet. Dadurch wird die Idee nationaler Gemeinschaft zum zentralen Bildthema erhoben. Individuum und Gesellschaft werden im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Kategorien des Schönen und des Erhabenen voneinander differenziert betrachtet. In seiner Philosophischen Untersuchung bezieht Burke das Erhabene auf die Leidenschaft der Selbsterhaltung, während er die Erhaltung der Gesellschaft mit dem Schönen in Verbindung setzt.261 Zunächst scheint das der Einordnung des Reportagefotos in den Kontext des Schrecklich-Erhabenen zu widersprechen. Doch deutet dies vielmehr hin auf eine Verlagerung der Bedeutung von der Idee der Selbsterhaltung zur Idee der Erhaltung der Gesellschaft, als einem übergeordneten Ziel: im Fokus stehen die nationale Krise und das nationale Trauma, nicht individuelles Leiden. „Ideen von Schmerz, Krankheit und Tod“262 (Hervorh. i.O.) werden kommuniziert und verknüpft mit der Idee nationaler Selbsterhaltung – einem Ziel, das durch gemeinschaftliche Anstrengung erlangt werden muss. Die Fokussierung auf die Idee der Gemeinschaft und die Bedeutung der Flagge in diesem Zusammenhang beschreibt Guntmar Heck, Verteidigungsattaché der Republik Österreich:
261 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 262 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72
162 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS „Die Symbolkraft der amerikanischen Flagge als vereinigendes Zeichen ist dramatisch in den Vordergrund gerückt. Die Flagge wird als Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität am Revers getragen, und soll das Motto ‘United we 263
stand’ symbolisieren. [...]“
(Hervorh. A. B.)
Die „intensive Selbststeigerung“264, die charakteristisch ist für das Kantische Erhabene und später von Schiller aufgegriffen wird, scheint sich hier vom Individuum auf die gesamte US-Nation verlagert zu haben. Durch die christlichen Implikationen der Fotografie wird das ‚Wir‘ zudem über die Grenzen der US-Nation auf die christlich-geprägte Welt ausgedehnt und auf das Symbol der US-Flagge vereint. „Franklins Bildfotografie“, so Scorzin, „kann [...] als appellativ verstandener Ausdruck eines bestimmten aktuellen nationalen Gefühlszustandes aufgefaßt werden. Ein nationales Selbstbild, das explizit auch zum universalen Weltbild gerät.“265 Raising the Flag at Ground Zero lässt sich wegen des komplexen Bildschemas und der unterschiedlichen Bezüge mit dem Begriff des Intertextes, der ursprünglich aus der Literatur stammt, in Verbindung setzen. Intertexte gelten als charakteristisches Merkmal postmoderner Literatur, die sich mit Ereignissen wie der Shoah auseinandersetzt, für deren Beschreibung eine neue Ausdrucksweise gefunden werden muss, da das zu Beschreibende die Grenzen und Unzulänglichkeit bestehender Sprache aufzeigt.266 „[...] Inter-
263 Guntmar Heck: Zumindest die baulichen Wunden sind geschlossen. Aufgezeichnet von Gabriela Hartig. Veröffentlicht in der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung am 04.09.2002. Quelle: http://www.sueddeutsche.de/ politik/-september-zumindest-die-baulichen-wunden-sind-geschlossen1.752146. Aufgerufen am 16.06.2010. 264 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin: Erich Schmidt 2004, S. 145 265 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie. S. 37 266 Die Parallelen zwischen Frédéric Beigbeders 9/11-Roman Windows on the World und Literatur die sich mit der Shoah auseinander setzt, hat Ursula Hennigfeld untersucht. Siehe dazu: Ursula Hennigfeld: 9/11 als neuer Holocaust? Frédéric Beigbeders Roman Windows on the World (S. 183-199). In: Sandra Poppe, Thorsten Schüller, Sascha Seiler (Hrsg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur
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texte [sollen helfen; A. B.], wo die Erzählung versagt.“267 Mit Intertextualität bezeichnete Julia Kristeva 1966 die Beziehung eines jeden Textes mit allen vorangegangenen Texten, wobei jeder als Mosaik aus verschiedenen Zitaten begriffen wird. Texte sind somit als Zeichensysteme zu verstehen, die mit anderen Zeichensystemen in Beziehung stehen bzw. diese beeinflussen.268 Doch nicht nur Sprache, sondern auch Bilder sind Systeme von Zeichen, die historisch gewachsen sind und über die Bedeutung kommuniziert werden. Ebenso wie Literatur zitieren auch sie bildhafte Codierungen ihrer visuellen Vorgänger. Dies zeigt sich in Franklins Aufnahme, in der sich historisch gewachsene Zeichen wie zu einem Mosaik zusammensetzen und der non-verbalen Kommunikation in der aktuellen Krisensituation dienen.269 Anders als beim literarischen Intertext steht bei dem Reportagefoto jedoch nicht die Suche nach neuen Ausdrucksformen im Vordergrund, son-
und visuellen Medien. Bielefeld: transcript 2009. Hennigfeld zeigt auf, wie Beigbeder für seinen Roman auf Elemente der KZ-Literatur zurückgreift, die sich mit Ereignissen auseinandersetzt, bei denen die Unzulänglichkeit herkömmlicher Sprache aufgrund der ungeheuerlichen Dimension der Geschehnisse eine zentrale Rolle spielt. Das Versagen der Sprache führt dazu, dass Autoren, die die Shoah überlebt haben, auf andere Texte zurückgreifen. „Primo Levi zitiert Dante und Colderidge, Jorge Semprún zitiert Baudellaire, Heine, Goethe, Malraux, Char, Coleridge usw. Auch Beigbeder baut immer wieder literarische Texte ein [...].“ Ebd., S. 191 267 Hennigfeld: 9/11 als neuer Holocaust? Frédéric Beigbeders Roman Windows on the World, in: Poppe, Schüller, Seiler (Hrsg.): 9/11 als kulturelle Zäsur, S. 191 268 Vgl.: J. A. Cuddon (revised by C. E. Preston): The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory. 4. Auflage, London: Penguin 1998, S. 424 269 Wie ein Mosaik aus unterschiedlichen Versatzstücken liest sich auch allgemein die Diskussion um den 11. September 2001: als Referenzen werden Pearl Harbor, Hiroshima, die Apokalypse oder Zerstörungsszenarien aus Hollywoodfilmen herangezogen. In der Einleitung zu 9/11 in American Culture beispielsweise wird im Kontext der Geschehnisse des 11. September auf Pearl Harbor und Hiroshima verwiesen. Vgl.: Norman K. Denzin, Yvonna S. Lincoln: Introduction: 9/11 in American culture (S. xiii-xxi). In: Norman K. Denzin, Yvonna S. Lincoln (Hrsg.): 9/11 in American culture. Walnut Creek, CA: Altamira Press 2003, S. xiii
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dern vielmehr der gezielte Rückgriff auf spezifische tradierte Bild- und Bedeutungsstrukturen sowie deren Reaktivierung. So wird Sinnstiftung, wo das Fassungsvermögen des Menschen angesichts der ungeheuren Dimension des Schreckens an seine Grenzen gerät, im sinnlich-fassbaren Bildobjekt durch ein kulturell verankertes Codesystems transportiert. In Franklins Fotografie erfährt der Schrecken eine Ästhetisierung und somit auch Verharmlosung. Hier werden keine Opfer gezeigt und das enorme Ausmaß der Zerstörung wird nur im Hintergrund angedeutet. Raising the Flag at Ground Zero bricht nicht, wie beispielsweise Lyotard es von der erhabenen Kunst fordert, mit der Narrativität traditioneller Darstellungen, sondern es bedient diese. Die Aussage des Bildes sowie dessen Reproduktion im politischen Kontext zur Bewältigung des Traumas weist deutliche Parallelen zu Theorien des Sublimen aus dem 18. Jahrhundert auf. Denn auch hier wird der Schrecken ästhetisiert und dient als Basis zur Stärkung bzw. Selbststeigerung des Subjekts. Der Fokus auf spezifische nationale Symbole offenbart die politische Dimension der Kategorie des Erhabenen. Im Bildobjekt – traditionell dem Bereich der Ästhetik zugeordnet – amalgamieren nun das Ästhetische und das Politische. Dabei liegt die Macht des Bildes gerade in der formelhaften Verdichtung von Zeichen. Das Konzept der Überleitung vom Sinnlichen zum Übersinnlichen entwickelt Kant in seiner Analytik des Erhabenen. Er begreift Naturobjekte als sinnliche Zeichen, die auf Phänomene verweisen, die sich der sinnlichen Darstellung entziehen. Im Falle von Franklins Aufnahme lässt sich ein ähnlicher Prozess aufzeigen. Das Reportagefoto als ‚realistisches Abbild‘ der Welt hat die Natur als sinnliches Zeichen abgelöst. Das Bildobjekt mit seinen visuellen Codierungen aktiviert Ideen christlicher Werte, nationalen Zusammenhalts und nationaler Stärke. Durch die Ausrichtung auf die Botschaft der Überwindung der Krise erfährt die Katastrophe eine Verharmlosung, da nicht der Schrecken des Ereignisses sondern die Selbststärkung der US-Nation in den Vordergrund gerückt wird. Die spezifische Wirkung des Bildes ist empirisch nur schwer messbar, doch lassen die Präsenz des Motivs der Flaggenhissung in der USamerikanischen Kultur sowie der ikonische Status der Reportagefotos von Franklin und Rosenthal den Schluss zu, dass die inhärente Botschaft vom kulturell visuell vorgeprägten Rezipienten intuitiv als aufrichtend dechiffriert wird und der Schrecken eine positive Auflösung erhält. Deshalb eig-
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net sich dieses Bildmotiv dazu, die Bevölkerung in Krisenzeiten zum Durchhalten zu motivieren und gesellschaftliches sowie politisches Handeln zu legitimieren. Dabei liegt die Wirkungskraft der (Medien-) Ikone gerade in der schnellen Decodierbarkeit der (intendierten) Botschaft.270 Als weiteres Indiz für die Wirkweise des Fotos dient Susan Sontags Hinweis, dass es gerade die triumphalistischen Bilder historischer Ereignisse sind, die auf Briefmarken veröffentlicht werden,271 was die Heroes of 2001-Marke zu bestätigen scheint.
270 Vgl.: Aspekte zur Auswahl der „Ikonen“ (ohne Verfasser, ohne Datum). Quelle: http://www.ikonothek.de/ikonen-auswahlkriterien.pdf. Aufgerufen am 27.06.2010. 271 Vgl.: Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 100
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3.5 „Y OU ARE HEROES “ 272: D IE H EROISIERUNG N EW Y ORKER F EUERWEHRMÄNNER
DER
„For thousands of horrified office workers who fled the terrorist attacks, the most remarkable sight during their descent was the wave of determined firefighters advancing toward the burning sky.“
273
Dean E. Murphy: „Honoring the Rescuers“, The New York Times
Katastrophische Ereignisse, wie beispielsweise Kriege, sind einerseits verbunden mit menschlichem Leiden, haben jedoch andererseits stets auch als Basis für die Entstehung von Heldenmythen gedient, die in Kriegerdenkmälern und Bildern öffentlichkeitswirksam inszeniert worden sind. Diese Visualisierungen dienen als Referenzpunkte für das Erinnern und zur Einordnung der jeweiligen Kriegs- bzw. Krisensituation in einen spezifischen (historischen) Deutungskontext. Ein zentraler Wesenszug heroischer Darstellungen von Kriegshelden ist die Ästhetisierung des Leidens, die sogar bis
272 Der Satz „You are heroes“ stammt von einem Foto aus der Ausstellung Here is New York. Zu sehen ist in der Aufnahme von Michael Tapes eine Gruppe von Menschen, die ihre ‚Helden‘ anfeuern. Auf den Plakaten, die emporgehalten werden sind motivierende Botschaften zu lesen wie „Keep it up! You are heroes“ oder „You’re appreciated Thank you!!!“. Obwohl die Adressaten der Zurufe im Bild selbst nicht sichtbar sind, kann vor dem narrativen Hintergrund der Geschehnisse davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um Rettungskräfte handelt. Fotografie von Michael Tapes siehe: George (Hrsg.): Here is New York, S. 731 273 Dean E. Murphy: Honoring the Rescuers (ohne Datum). Veröffentlicht in der Onlineausgabe The New York Times. Quelle: http://www.nytimes.com/library/ national/091101rescuers.html. Aufgerufen am 23.09.2010. Veröffentlicht wurde dieser Artikel unter der Rubrik A Nation Challenged.
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zu dessen vollkommener Ausblendung geführt wird: die grausame Realität des Krieges wird geschönt und zu einem „ästhetisierte[n] Artefakt“274. Die Inszenierung von Helden, dies zeigt u.a. der öffentliche Umgang mit den drei an der Flaggenhissung auf Ground Zero beteiligten Feuerwehrmännern, ist ein zentrales Element der Bewältigung der Terroranschläge. Ähnlich wie schon die Soldaten von Iwo Jima, sind auch die drei Männer vom Ground Zero zu Helden stilisiert und öffentlich inszeniert worden, was letztlich eine konsequente Fortführung der Botschaft des fotografischen Bildschemas darstellt. Neben Franklins Aufnahme gibt es eine Reihe weiterer Bilder, die zur Konstruktion eines öffentlichen Heldenmythos beitragen, der im Wesentlichen um die New Yorker Feuerwehrmänner275 zentriert ist. Als das Ereignis der Terroranschläge die USA sowie die bislang als sicher und geordnet empfundene westliche Welt in ein unkontrollierbares Chaos stürzt, da ist es gerade die Figur des Helden, die das Potential besitzt zum rechten Handeln in der Krise anzuweisen. Der „tugendhafte Charakter[...]“276 verkörpert, dass man im Angesicht der Katastrophe über sich hinauswachsen und durch die Konfrontation mit dem Schrecken zu ungeahnter Stärke finden kann. Auch wenn das Bild des traditionellen Helden in einer säkularisierten, rationalisierten Gesellschaft einen starken Wandel
274 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 29 275 Unter den Rettungskräften des 11. September befanden sich auch Frauen, deren Handeln keineswegs weniger heldenhaft war als das ihrer männlichen Kollegen. Der Grund, warum der Fokus dieser Arbeit auf den Feuerwehrmännern liegt, besteht darin, dass die ikonischen Heldenbilder wie das der Flaggenhissung auf Ground Zero oder die Aufnahme des Feuerwehrmannes Bob Beckwith zusammen mit George W. Bush (siehe Kapitel 3.5.2.3 dieser Arbeit), ausschließlich Männer abbilden. In ihrer Beschäftigung mit Kriegsfotografie verweist Susan Sontag darauf, „daß der Krieg Männersache ist – daß die Kriegsmaschinerie ein Geschlecht hat und daß sie männlich ist.“ (Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 12). Letztlich geht es auch beim 9/11 um eine kriegerische Auseinandersetzung und wenn Krieg männlich ist, dann liegt nahe, dass im Mittelpunkt der daraus hervorgehenden Helden bzw. Heldenmythen Männer stehen. 276 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80
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vollzogen hat und der traditionelle Heros dem Alltagshelden gewichen ist, so „[giert; A. B.] das Volk [...] nach Helden, nach Vorbildern, an denen es sich festhalten kann, nach Heldentaten, in deren Glanz es strahlt.“277 Für die visuelle Kommunikation des Nine Eleven dienen heldenhafte Individuen als wesentliche Referenzpunkte: es sind vor allem die Mitglieder des New York City Fire Department (FDNY), die durch das Ereignis Heldenstatus erlangt haben und im öffentlichen Raum eine zentrale Rolle spielen, sowohl am Tag der Anschläge selber, als auch bei der nachfolgenden Bewältigung der Krise. Sie werden zu einem beliebten Objekt für die omnipräsenten Kameras und zum Thema zahlreicher Fotografien am und nach dem 11. September.278 Die Fotojournalistin Carolina Salguero begleitete die Feuerwehrleute vom Tag der Anschläge an für ein Jahr am Ground
277 Helden heute - Höhenflüge und die Abstürze Ein Film von Markus Reher aus der Reihe ZEIT-TV, Mittwoch, 4. Juni 2003, 20.45 Uhr (ohne Verfasser), 3satProgrammhinweis. Quelle: http://www.presseportal.de/pm/6348/451484/3sat. Aufgerufen am 21.05.2011. 278 Auf der Website der Organisation Here is New York machen die Fotografien der Feuerwehrleute in den nach Personengruppen aufgeteilten Kategorien den quantitativ höchsten Anteil der unmittelbar Involvierten (d.h. keine Zuschauer) aus. Insgesamt gibt es dort neun Kategorien nach Personengruppen, denen die Bilder thematisch zugeordnet sind: Feuerwehrmänner: 462 Bilder, Polizei: 198 Bilder, Opfer: 175 Bilder, Vermisste: 163 Bilder, Helfer: 117 Bilder, Militär: 113 Bilder, Mediziner: 74 Bilder, Rettungskräfte: 263 Bilder, Zuschauer: 550
Bilder.
(Vgl.:
http://hereisnewyork.org/gallery/.
Aufgerufen
am
23.09.2010.) Neben den Angehörigen der Feuerwehr, die am 11. September 2001 und bei den anschließenden Rettungsarbeiten im Einsatz sind, gibt es eine Reihe anderer Menschen bzw. Personengruppen, die ebenfalls als Helden bezeichnet werden, wie z.B. die Mitglieder der New Yorker Polizei und andere Rettungskräfte. Aus arbeitsökonomischen Gründen wird der Fokus dieser Arbeit jedoch auf die Bilder der Feuerwehrmänner gelegt, was jedoch keineswegs den Einsatz und die Leistung der hier nicht diskutierten Personengruppen schmälern soll. Oliver Stone inszenierte den Heldenmythos rund um die Geschichte der beiden in den Trümmern des WTC eingeschlossenen PortAuthority-Polizisten John McLoughlin und Will Jimeno in seinem Film World Trade Center (USA 2006).
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Zero mit ihrer Kamera und hat sich mit dem Prozess der Heroisierung dieser Gruppe auseinandergesetzt: „I began to document how their new status as heroes, made them walking human shrines for New Yorkers and Americans. Firefighters were used like fetishes or blank screens upon which people projected and worked through sadness, shock, and patriotism.“
279
Feuerwehrleute eignen sich in besonderem Maße zur Konstruktion von Heldenmythen. Allein die Wahl dieser Profession impliziert die Bereitschaft, die eigene Unversehrtheit und das eigene Leben zu riskieren, um das anderer zu retten. Der Beruf an sich ist sozusagen im Zentrum von Gefahrensituationen angesiedelt und ein gewisser Idealismus eine Voraussetzung.280 Das Opfer des eigenen Lebens – das „Supreme Sacrifice“281 – ist ein Berufsrisiko, das bei einem Einsatz durchaus einzukalkulieren ist und das am 11. September mehr als je zuvor in der Geschichte des New York City Fire Department bei einem einzelnen Einsatz gefordert wird. Feuer-
279 http://www.carolinasalguero.com/CSmenu.html (Rubrik WTC: FDNY). Aufgerufen am 28.09.2010. 280 Dieses Selbstverständnis wird auch in einem Interview von 1992 mit dem New Yorker First Deputy Fire Commissioner William Feehan deutlich, der zu den 343 Angehörigen der Feuerwehr zählt, die bei Rettungsarbeiten am 11. September 2001 ums Leben kamen: „[...] the whole department exists simply to serve the people of the City [...] the thing that sets the firefighter apart is that it’s he or she who when the bell sounds has to go and be ready at any moment to go and [harm? Anm. A. B.: An dieser Stelle ist die Aufnahme schwer verständlich] his way to do whatever is necessary to help the person who called them. [...] When you have a department whose men and women are expected to be ready at any moment to put their lives on a line to go to the aid of a stranger even when it means that you may put yourself in dire peril … I don’t think you can pay people to do that job … there has to be something beyond money that makes them do that [...].“ Transkription eines Ausschnitts aus einem Interview mit William Feehan, zitiert nach: http://www.nyc.gov/ html/fdny/media/tribute/tribute.html. Aufgerufen am 24.08.2010. 281 http://www.nyc.gov/html/fdny/media/tribute/tribute.html. 24.08.2010.
Aufgerufen
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wehrmänner werden zur Chiffre des Helden und zu Hauptfiguren in der sich in Manhattan abspielenden Tragödie, die auf der massenmedialen Bühne bildreich für die Weltöffentlichkeit dargestellt wird. Tragische Ereignisse, die durch Zerstörung, Leiden und Tod gekennzeichnet sind, stehen im Mittelpunkt der Erhabenheitstheorien, die dem Typus des Schrecklich-Erhabenen zuzuordnen sind. Hier geht es um Ideen, die den Selbsterhaltungstrieb aktivieren, „das Gemüt mit starken Bewegungen des Schauders [erfüllen; A. B.]“282 und daher eine Quelle des Sublimen darstellen. In den Theorien der Aufklärung spielen „tugendhafte Charaktere“283, die selbst in der direkten Konfrontation mit dem Leiden Haltung und Größe bewahren, eine wichtige Rolle. Durch sie werden beim Betrachter Sympathie und Identifikation erzeugt, wodurch das distanzierte (beobachtende) Subjekt zur Erfahrung des Sublimen gelangen kann. Wie das Gefühl des Erhabenen einem anonymen Massenpublikum vermittelt werden kann, entwickelt Friedrich Schiller in seiner Dramentheorie. Das Theater kann als erstes Massenmedium aufgefasst werden, da hier für die Bühne aufbereitete Inhalte einem anonymen Publikum vermittelt werden. Dabei verschiebt sich der Fokus vom Naturobjekt hin zur künstlerischen Darstellung bzw. Nachahmung als Quelle des Sublimen.
282 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 283 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 80
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3.5.1 Die Darstellung des Erhabenen in der Tragödie: Friedrich Schillers Dramentheorie Vom Pathetischen und Erhabenen (1803) Die Kategorie des Erhabenen steht im Zentrum von Schillers dramentheoretischen Schriften,285 in denen er Kants Kulturbegriff zu seiner Erziehungsidee weiterentwickelt. Vor allem Kants Dynamisch-Erhabenes findet als praktisch Erhabenes Eingang in seine Theorie;286 Schillers Ansatz ist jedoch ein sentimentalischer, d.h. bestimmend ist für ihn das Erhabene, nicht das Schöne.287 „Auf werkästhetischer Ebene greift er den mit dem Erhabenen verbundenen negativen Darstellungsmodus auf, und auf wirkungsästhetischer Ebene übernimmt er das gemischte Gefühl negativer Lust“288 (Hervorh. i.O.). Bezeichnend für den sentimentalischen Dichter ist der Verlust der harmonischen Einheit mit der Natur: während der naive Dichter diese Einheit noch besaß, ist sie für den sentimentalischen zerbrochen und „er muß sie sich erkämpfen. Sein künstlerisches Schaffen [...] ist nicht realistisch, sondern idealistisch bestimmt, seine Größe liegt nicht mehr in der Anmut der Erscheinung, sondern in der Würde der Gesinnung.“289 Ein bedeutender Unterschied zu Kant, der auch die spezifische Konzeption des Erhabenen prägt, besteht darin, dass Schiller in erster Linie Künstler ist. So bezieht er das Gefühl des Erhabenen weniger auf Naturphänomene sondern vor allem
284 Es handelt sich bei dieser Quelle um eine Sammlung von Aufsätzen, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. 1801 begann Schiller damit, sie in ein Werk zusammenzufassen. Der Aufsatz Über das Pathetische entstand 1793, Über das Erhabene vermutlich vor 1796. Vgl.: Klaus L. Berghahn (Hrsg.): Anmerkungen (S. 117-130). In: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie. Hrsg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam 1970, S. 122 und 126 285 Klaus L. Berghahn: Nachwort (S. 133-157). In: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 138 286 Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 17 287 Vgl.: Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 213 288 Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 214 289 Helmut Nürnberger: Geschichte der deutschen Literatur. 24. Auflage, München: Bayrischer Schulbuch-Verlag 1993, S. 136
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auf Kunstwerke, denen er eine größere moralische Verlässlichkeit zuspricht und die ihm als Mittel dienen, das Gefühl des Sublimen in objektivierter Form in den Bereich der menschlichen Verfügbarkeit zu überführen.290 In der nachahmenden Kunst sieht Schiller die Möglichkeit das Erhabene (in Kombination mit dem Schönen) zum Hauptzweck zu erklären. Während ästhetische Urteile durch die Natur nur zufällig evoziert werden, kann man sie in der Kunst mit Absicht und als Ganzes darstellen. Sie bietet die Möglichkeit bzw. den Vorteil, sich von den „Fesseln“291 der Natur zu befreien: denn die Freiheit der Kunst besteht darin, dass sie den Schein, in dem „der ganze Zauber des Erhabenen und Schönen“292 liegt, und nicht die Wirklichkeit, nachahmt.293 Mit der Akzentuierung des Sublimen in der darstellenden Kunst zeigt Schiller die Möglichkeiten der sinnlich-fassbaren Darstellung des Undarstellbaren auf und erweitert damit die Möglichkeit menschlicher Erfahrung. Schillers Dramentheorie liegt ein erzieherisches Ideal zugrunde, für dessen Vermittlung die Schaubühne eine wesentliche Rolle spielt: „Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. [...] Nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst sie zu ertragen.“
294
(Hervorh. i.O.)
Aufgabe des Dramas ist die Vorführung menschlicher Schicksale in einer Art, die den Zuschauer „künstlich in fremde Bedrängnis“295 bringt, ihm
290 Vgl.: Pries: Übergänge ohne Brücken, S. 16 291 Schiller: Über das Erhabene (S. 83-100), in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 100 292 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 100 293 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 99-100 294 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (S. 3-13), in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 6-8 295 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 9
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dadurch Erfahrung vermittelt und in seiner Beurteilung Anderer schult. Über den Bereich der Kunst hinaus besitzt Schillers Dramentheorie auch zivilisatorische Relevanz, denn für ihn ist „[d]ie Schaubühne [...] der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.“296 Dieser „gemeinschaftliche Kanal“ ist bedeutend für die Ausprägung des „Nationalgeist[es] eines Volkes“297, ein Begriff mit dem Schiller die „Übereinstimmung [von; A. B.] Meinungen und Neigungen bei Gegenständen“298 innerhalb einer spezifischen Gesellschaft bezeichnet. Aufgrund des Facettenreichtums der Darstellungen, die das gesamte Spektrum des Lebens durchleuchten, ist die Schaubühne prädestiniert dafür, diese Übereinstimmung herbeizuführen. So hat das Theater auch die Aufgabe, die Individuen einer Gesellschaft enger aneinander zu binden und gemeinsame Identifikationsmöglichkeiten zu bieten.299 Im Mittelpunkt der Tragödie steht der Konflikt zwischen Natur und Freiheit, der im Kampf des Menschen mit seinem Schicksal Ausdruck findet.300 Schiller sieht gerade in der dichterischen Nachahmung der tragischen Kunst das Potential, das Gefühl des Erhabenen hervorzurufen, da sie die Grundzüge der menschlichen Natur anspricht:
296 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 10. Zwar bietet das Theater eine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag, die heilsame und regenerierende Wirkung hat, schärft aber auch die Sinne und schult die Empfindungsfähigkeit der Zuschauer. Vor allem eine Empfindung hebt Schiller hervor: „es ist diese: ein Mensch zu sein.“ (Hervorh. i.O.) Ebd., S. 13 297 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 11 298 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 11 299 Vgl.: Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 11-12 300 Vgl.: Wolfgang Düsing: Schillers Idee des Erhabenen. Dissertation, Köln 1967, S. 34
174 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS „Es ist eine allgemeine Erscheinung in unsrer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen.“
301
Ähnlich wie Burke verweist auch Schiller auf die stark ausgeprägte Anziehungskraft von Szenen des Unglücks auf den Menschen, differenziert jedoch zwischen Schaulustigen, die sich „rohen Naturgefühle[n]“302 überlassen und lediglich am Unglück anderer ergötzen wollen, und dem kultivierten Menschen, dessen Erziehung und Anstand es ihm verbieten, sich der Schaulust ungezügelt zu überlassen.303 Die Tragödie hat nicht die Aufgabe zu belustigen, sondern durch die Absicht des „Moralischgute[n]“304 zu belehren und ist dennoch stets mit Vergnügen verbunden. Da das Vergnügen der Zweckmäßigkeit entspringt305 muss die zunächst zweckwidrig erscheinende Darstellung menschlichen Leids in eine Zweckmäßigkeit überführt werden. Dies erfolgt mit dem von Kant übernommenen ‚Zweiphasenmodell‘ des Erhabenen, bei dem die anfängliche, durch das Scheitern der Einbildungskraft hervorgerufene Unlust in Lust transformiert wird, da sich der erhabene Gegenstand als zweckmäßig für das Vermögen der Vernunft erweist.306 Für die Empfindung der Lust ist die Moral wesentliches Element.307 Moralische Zweckmäßigkeit, die sich
301 Schiller: Über die tragische Kunst (S. 30-54), in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 30 302 Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 31 303 Vgl.: Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 30-31 304 Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (S. 14-29), in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 15 305 Vgl.: Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 17 306 Vgl.: Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 18-19 307 „Der Zustand eines Gemüts aber, in welchem das Sittengesetz für die höchste Instanz erkannt wird, ist moralisch zweckmäßig, also eine Quelle moralischer
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an das Herz wendet, kann nur mit Hilfe der Naturzweckmäßigkeit, die „den Verstand befriedig[t]“308 hervorgerufen werden. Schiller richtet stets drei Anforderungen an den Menschen: Natur, denn ein Mensch ist immer empfindendes Wesen; Vernunft, um ihn als moralisches Wesen zu etablieren; Anstand, der den Menschen zu einer zivilisierten, der Gesellschaft förderlichen Person macht.309 Daraus leitet er zwei Gesetze für die tragische Kunst ab: das erste ist die „Darstellung der leidenden Natur“310, das zweite ist die „Darstellung des moralischen Widerstands gegen das Leiden“311. „Das ‚Vergnügen an tragischen Gegenständen‘ beruht letztlich darauf, daß eine Bewältigung des Leidens möglich sei“312 und das Subjekt somit seine Freiheit über die physischen Grenzen hinaus denken kann, was es vollends zum Menschen macht. Die Nachahmung bzw. Darstellung der vollständigen Handlung ist unerlässlich dafür, dass die Tragödie ihrer Rolle als Lehrstück gerecht werden kann: Ursachen der Affekte der tragischen Personen müssen ebenso beleuchtet werden wie Hintergründe und Wirkungen einzelner Begebenheiten, die miteinander verknüpft sind, denn „[e]in einzelnes Ereignis, wie tragisch es auch sein mag, gibt noch keine Tragödie.“313 3.5.1.1 Das Pathetischerhabene und dessen Darstellung in der tragischen Kunst Schillers Theorie des Erhabenen ist ebenso wie die von Burke und Kant von seiner Einstellung zur Natur geprägt: er begreift die Natur als „gesetzlose[s] Chaos von Erscheinungen“314; sie ist das „Unverständliche und
Lust.“ Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 24 308 Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 28 309 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische (S. 55-82), in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 58 310 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 58 311 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 58 312 Berghahn: Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 145 313 Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 49. Vgl. auch: S. 48 314 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 94
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Fremde“315, das dem Menschen eine Sinngebung des Daseins verweigert, dem er schicksalhaft ausgeliefert ist und gegen das er sich behaupten muss.316 Der Mensch wird bei Schiller als duales Wesen aufgefasst, das einerseits an die physischen Gegebenheiten gebunden ist, andererseits jedoch als metaphysisches Wesen nach Freiheit von physischen Begrenzungen strebt317 und sein Dasein über diese Grenzen hinaus zu etablieren sucht. Das Erhabene stellt für Schiller die Möglichkeit dar, den Dualismus zu überwinden. Das Sublime ist in seinem Konzept eng mit dem Pathetischen verbunden, ohne das es nicht zu erscheinen vermag.318 Das sogenannte „Pathetischerhabene ist der Modus des Erhabenen, in dem Schiller das Erhabene der tragischen Literatur im engeren Sinne methodischen Reflexionen über ästhetische Darstellung und ästhetische Rezeption zugänglich zu machen sucht“319 und wird innerhalb der Tragödie die bedeutendste Form des Sublimen.320 Die Komponente des Pathos ist der ästhetischen Anschauungsform zugeordnet321, während das Erhabene die moralische Dimension repräsentiert. Das Pathetische ist die „Darstellung des Leidens – als bloße[s] Leiden“322, allerdings immer als künstliches, das den Zuschauer emotional ansprechen und in seiner Meinungsbildung beeinflussen soll.323 Die Darstellung von Schmerz und Leid darf niemals primärer Zweck der Kunst sein,
315 Berghahn (Hrsg.): Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 139 316 Vgl.: Berghahn (Hrsg.): Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 139 317 Vgl.: Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 159 318 Umgekehrt ist auch das Pathetische ohne das Erhabene nicht der Darstellung würdig; beide bilden eine feste Einheit. Vgl.: Berghahn (Hrsg.): Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 138 319 Homann: Erhabenes und Satirisches, S. 61 320 Vgl.: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 164 321 Vgl.: Berghahn (Hrsg.): Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 138 322 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 55 323 Vgl.: Berghahn (Hrsg.): Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 135
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denn dies wäre Sensationalismus; das Leiden muss aber Mittel zum Zweck sein, um das Übersinnliche in der tragischen Kunst zum Vorschein zu bringen. Nur durch tiefgreifende, lebendige Darstellung des Leidens bzw. der „leidenden Natur“324 kann die moralische Freiheit des Subjektes dargestellt werden; und nur durch den Widerstand gegen das Leiden kann der Mensch Freiheit erlangen, indem sein geistiges Wesen – seine „Intelligenz“325 – ihm durch Ideen der Vernunft die Erhebung über physische Begrenzungen ermöglicht.326 Gerade dadurch, dass Schiller die moralische Selbstständigkeit des Subjekts im Leiden hervorhebt, wird das Heroische zu einem wesentlichen Aspekt des Pathetischerhabenen und zur Norm tragischer Darstellung.327 Dem Menschen, der sich im ständigen Machtkampf mit der ihn begrenzenden Natur befindet, ist nichts unwürdiger als Gewalt erleiden zu müssen.328 Der Tod steht paradigmatisch für das, was das Subjekt in seine Schranken verweist und über das es sich physisch nicht hinwegsetzen kann:329 es ist die eine Sache, die der Mensch „muß und nicht will“330 (Hervorh. i.O.). Schillers Konstrukt des Sublimen zielt darauf, das Subjekt von physischen Fesseln zu lösen und es als freies Wesen darzustellen, das ein durch die Natur dominiertes Machtverhältnis zu durchbrechen vermag. Das Ge-
324 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 58 Schiller betont in diesem Zusammenhang das heftige, überwältigende Leiden, das er von „schmelzenden Affekte[n]“ und „zärtlichen Rührungen“ unterscheidet. Letztere zielen nicht auf „den innern Zustand“ und den Geist des Subjekts, weshalb sie dem Bereich des Schönen zuzuordnen sind. Ebd., S. 58-59 325 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 60 326 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 59-60 327 Vgl.: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 165 328 „‚Kein Mensch muß müssen‘ [...]. Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.“ Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 83 329 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 83 330 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 83
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fühl der Freiheit kann zwar auch beim Schönen empfunden werden, doch entspringt diese Freiheit dem harmonischen Zusammenspiel von Vernunft und „sinnlichen Triebe[n]“331; beim Erhabenen hingegen löst sich der menschliche Geist davon und handelt nach eigenen Gesetzen.332 Den Dualismus zwischen dem Streben des Subjekts nach Freiheit und seiner physischen Begrenztheit versucht Schiller mit Hilfe des Kulturbegriffs aufzulösen: „Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen welches will.“
333
Letztlich, das erkennt Schiller, kann der Mensch die Natur niemals vollends beherrschen – ab einem gewissen Punkt entzieht sie sich der Beherrschbarkeit und verweist das Subjekt auf die Grenzen seines physischen Wesens. Um die „Gewalt dem Begriffe nach [zu; A. B.] vernichten“334, muss das Subjekt sich ihr zunächst unterwerfen. Doch nur wer Bildung (moralische Kultur) besitzt, ist dazu in der Lage. Die freiwillige Unterwerfung resultiert in der Auflösung des Spannungsverhältnisses, da der Mensch keinem Zwang mehr ausgesetzt ist. Dieser psychische Akt erhebt das Subjekt über die Natur, die das geistige Wesen des Menschen nun nicht beherrschen kann.335 Im Gefühl des Erhabenen mischen sich „Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als ein Schauer äußert, und [...] Frohsein“ 336 (Hervorh. i.O.). Die Widersprüchlichkeit dieses Gefühls, in dem zwei gegensätzliche Empfindungen miteinander verbunden sind, fasst Schiller als Beweis für die „moralische Selbständigkeit“337 des Menschen auf. Er schließt die Mög-
331 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 87 332 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 87 333 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 84 334 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 84 335 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 84 336 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 87 337 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 87
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lichkeit aus, dass ein Objekt dem Subjekt gegenüber in zweierlei gegensätzlichen Verhältnissen steht. Daraus zieht er den Schluss, dass das Subjekt sich auf unterschiedliche Art und Weise in Beziehungen zum Objekt setzen kann. Dies widerspricht jedoch den Gesetzen der sinnlichen Welt und verweist auf eine eigene Gesetzgebung des menschlichen Geistes, die von der Objektwelt unabhängig ist.338 So findet im Gefühl des Erhabenen die Trennung des Menschen in den durch Naturbedingungen begrenzten physischen und in den freien moralischen Menschen statt. Während das Schöne das Subjekt in der sinnlichen Welt gefangen hält, ermöglicht das Sublime Freiheit jenseits der Grenzen.339 „Nun sind aber Ideen im eigentlichen Sinn und positiv nicht darzustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung entsprechen kann“340 – und so ist Schiller mit der Problematik der Darstellung des Erhabenen konfrontiert. Doch bietet sich die negative Darstellung, die schon in Kants Analytik des Erhabenen als Brücke zwischen dem Sinnlichen und dem Metaphysischen angelegt ist, als Lösung an.341 Ideen können nicht positiv dargestellt, sondern nur im Gemüt des Subjekts fühlbar gemacht werden. Hier findet sich die Verbindung zwischen dem Pathetischen und dem Erhabenen, denn das Fühlbar-Machen erfolgt in der Tragödie durch die Darstellung von Leiden und dessen psychischer Überwindung, die auf das Publikum einwirken sollen.342 An die Stelle eines positiv darstellbaren Inhalts durch Verbildlichung
338 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 87 339 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 89-90 340 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 62 341 Vgl.: Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 214. „Aber negativ und indirekt sind sie [die Ideen; A. B.] allerdings darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen.“ Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 62 342 Vgl.: Berghahn: Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 141-142
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sittlicher Normen in der Person des „positiven Helden“343 rückt die Absenz, die in der sentimentalischen Dichtung „zur Grundlage einer sich fühlbar machenden Präsenz“344 wird.345 Das künstliche Unglück, das durch das Pathetische dargestellt wird, verweist als sinnliche Darstellung auf die Idee des Erhabenen. Im Unterschied zum realen Unglück, das den Menschen oft in einem Zustand der Wehrlosigkeit überrascht, ist das Subjekt auf das dargestellte Leid im Rahmen der Tragödie vorbereitet, hält also eine physische und emotionale Distanz zur Darstellung ein. Die tragische Kunst dient als Lehrstück, das den Zuschauer durch künstliches Leiden auf die Bewältigung realen Leids vorbereiten soll. Je intensiver er durch das Pathetische geschult wird, desto besser ist er auf den Ernstfall in der Realität vorbereitet und kann diesen, so Schiller, wie ein künstliches Unglück behandeln. Dies ermöglicht es dem Subjekt, Freiheit über seine Situation zu gewinnen und „das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung aufzulösen.“346 Die Zuordnung des Pathetischerhabenen vor allem in den Bereich der Kunst347 ist gerade für die Untersuchung eines Ereignisses relevant, bei
343 Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 215 344 Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 215 345 Vgl.: Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 215 346 Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 97 „[...] [N]ur in der Bekanntschaft mit [den Gefahren; A. B.] ist Heil für uns. Zu dieser Bekanntschaft nun verhilft uns das furchtbar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden und wieder zerstörenden Veränderung – des bald langsam untergrabenden, bald schnell überfallenden Verderbens, verhelfen uns die pathetischen Gemälde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit [...] welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt und die tragische Kunst nachahmend vor unsre Augen bringt.“ (Hervorh. i.O.) Ebd., S. 98 Für Schillers Konstrukt des Erhabenen ist der Aspekt der unkontrollierbaren Schicksalshaftigkeit des Lebens zentral. Die Ursachen der Anschläge vom 11. September sind jedoch vielmehr in konkreten politischen Hintergründen zu suchen und weniger im Schicksal. Daher soll der von Schiller verwendete Begriff des Schicksals hier vielmehr im Sinne von ‚Unvorhersehbarkeit‘ interpretiert werden. 347 Vgl.: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 143
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dem die Grenze zwischen dem Realen und fiktiven Bildstrukturen nahezu unkenntlich ist bzw. das Reale aus fiktionalen Szenarien bekannte Bildschemata aufweist. Es ist weder Schillers Intention im Pathetischerhabenen die Differenz zwischen Realem und Künstlichem aufzulösen, noch das Leiden so darzustellen, dass es als bloßer Schein gedeutet und dadurch verharmlost wird. Für ihn sind Realität und Fiktion, Kunst und Leben klar voneinander getrennt. Allerdings soll das Subjekt durch das Pathetischerhabene geschult werden, damit es in Anbetracht realen Unglücks eine innere Distanz wahren kann und von dem Unglück nicht widerstandslos übermannt wird.348 Das Erhabene ist also eine Art „Impfung“349, die das Subjekt mit Abwehrkräften wappnen und vor der Härte des wirklichen Schicksals schützen soll.350 3.5.1.2 Laokoon als Paradigma des leidenden Helden und Chiffre des Pathetischerhabenen Um ein anonymes Massenpublikum mittels des Pathetischerhabenen auf die Realität vorbereiten zu können, bedarf es einer Identifikationsfigur, für die sich ein heldenhafter Charakter in besonderem Maße eignet. Im traditionellen Verständnis hat der Held – als Heros351 – seinen Ursprung in Geschehnissen, die mit Tragik, Schrecken und Katastrophen verknüpft sind. Denn es sind gerade Tapferkeit im Angesicht tragischen Geschehens und Mut, sich einer schwierigen Aufgabe zu stellen, die den heldenhaften Menschen aus der Masse herausheben und zur Leitfigur für die Bevölkerung machen. Durch sein Handeln verkörpert der Heros den Widerstand gegen das tragische Ereignis sowie die Möglichkeit der Erhebung über den Schrecken.
348 Vgl.: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 146 349 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 147 350 Vgl.: Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 147 351 Im Folgenden wird sowohl der Begriff Heros als auch der Begriff Held verwendet, wobei zwischen beiden zu differenzieren ist. Der Begriff Heros bezieht sich ausschließlich auf das traditionelle Heldenverständnis, so wie bei Filadelfo Linares (Filadelfo Linares: Der Held. Versuch einer Wesensbestimmung. Bonn: Bouvier 1967) beschrieben. Mit Held hingegen wird auch der Typus des sogenannten ‚Alltagshelden‘ bezeichnet, der charakteristisch für die Populärkultur der massenmedialen Gesellschaft ist.
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In seiner Wesensbestimmung des traditionellen Helden verweist Filadelfo Linares auf die Charaktereigenschaften des heldenhaften Individuums: u.a. eine ausgeprägte Fähigkeit zu leiden, Todesverachtung, starke Vitalität und Größe der heroischen Seele.352 Darüber hinaus sind drei externe Faktoren für den Heroisierungsprozess determinierend: „GrundBegebenheit“, zeitliche Distanz und „Volksphantasie“.353 Mit „GrundBegebenheit“354 bezeichnet Linares das Ereignen einer äußeren Situation, die als Basis für die Möglichkeit heldenhaften Handelns dient. Die äußere Welt, mit der das heldenhafte Individuum interagiert, bildet das Fundament auf dem es als solches handeln kann, denn von ihr „gehen die Anregungen aus, mit denen der Held sie verwandelnd, auf diese selbe Welt einwirkt. [...] [D]as Zusammentreffen des Tuns des Helden mit seiner Welt ergibt eine Synthese: die konkrete Begebenheit [...], die dem Helden Bestand verleiht.“355 (Hervorh. i.O.) Den zweiten äußeren Faktor des Heroisierungsprozesses stellt die zeitliche Distanz dar, die aus zweierlei Gründen notwendig ist: zum einen kann erst dadurch das Handeln des jeweiligen Individuums im Kontext der spezifischen Begebenheit abgeschätzt und eingeordnet werden; erst daraus ergibt sich die Möglichkeit einer objektiven Reflexion historischen Geschehens, durch die der „Heldenkandidat[...]“356 im Laufe der Zeit zum Helden werden kann. Zum anderen bedingt die zeitliche Ferne das wesentliche Ereignis des Todes des Heldenkandidaten, denn „es gibt keine lebenden Helden“357 (Hervorh. i.O.).358 Die „Volksphantasie“359 ist der dritte und für Linares zentrale Faktor des Heroisierungsprozesses, der als einziger der drei Faktoren ein aktiver ist. Ob ein Individuum zum Helden oder
352 Vgl.: Linares: Der Held, S. 13-14 353 Linares: Der Held, S. 14 354 Linares: Der Held, S. 15 355 Linares: Der Held, S. 15 356 Linares: Der Held, S. 18 357 Linares: Der Held, S. 19 358 Vgl.: Linares: Der Held, S. 18-20 359 Linares: Der Held, S. 21
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‚nur‘ zu einem „geschichtliche[n] Individuum“360 wird, hängt davon ab, ob die „Volksphantasie“ aktiviert werden kann oder nicht.361 Durch den Tod des Helden entsteht beim Betrachter aktive Anteilnahme. Diese ist jedoch kein beständiger Faktor; sie schwindet je weiter der Zeitpunkt des Todes zurückliegt und verliert mit der Zeit an Intensität. Damit der Held nicht in Vergessenheit gerät, ist es notwendig, das Gedenken an ihn aufrecht zu halten und die Aufmerksamkeit der „Volksphantasie“ auf ihn zu fokussieren.362 Nach seiner Fixierung im öffentlichen Bewusstsein beginnt der Prozess der „Entmenschlichung“363 des Helden, der nun aufgrund der Größe seiner Charakterzüge vergöttlicht wird. Die „Entmenschlichung“ wiederum führt zur Entsozialisierung, zur Entfremdung von der menschlichen Gesellschaft.364 Diesem Prozess ist eine gewisse Gewalt inhärent, da das von anderen zum Helden stilisierte Individuum „jeder menschlichen Beschaffenheit oder Weise des Menschseins beraubt“365 (Hervorh. A. B.) wird. Eine visuelle Fassung des leidenden Helden, die in der westlichen Kultur zu einem Schlüsselsymbol menschlichen Leidens geworden ist, findet sich in der antiken Laokoonplastik. Dabei handelt es sich um die Darstellung des Priesters Laokoon und seiner beiden Söhnen, die sich im Todes-
360 Linares: Der Held, S. 21 361 „Hauptsächlich sie, ihre Präsenz oder Absenz, ist es ferner [...], die die Unterscheidung zwischen Held und geschichtlichem Individuum stiftet. Die Indifferenz der Volksphantasie ist das Reich des geschichtlichen Individuums, und dort, wo die Indifferenz aufhört, beginnt das Reich des Helden.“ Linares: Der Held, S. 21 362 Vgl.: Linares: Der Held, S. 23-24 363 Linares: Der Held, S. 28 364 Vgl.: Linares: Der Held, S. 25-29. „Indem sie [die Volksphantasie; A. B.] ihn [den Helden; A. B.] also außer sich projiziert, indem sie sich seiner entäußert, was seine Entfremdung impliziert, beginnt die Volksphantasie, ihn ‚natürlich‘ wie etwas ihr, ihrer eigenen menschlichen Beschaffenheit Fremdes anzusehen. Im Gefolge dieser Entfremdung taucht der Heroen k u l t auf.“ (Hervorh. i.O.) Ebd., S. 29 365 Linares: Der Held, S. 30
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kampf mit zwei riesenhaften Schlangen befinden (Abb. 6).366 Die bildhauerische Gestaltung der Gruppe, nicht die Sage des Laokoon in ihrer sprachlichen Fassung, inspirierte ästhetische Debatten,367 an denen sich neben Schiller u.a. Johann Joachim Winckelmann368 beteiligte. In ihrer spezifischen ästhetischen Aussage wird die Figur des „in ohnmächtiger Qual verzweifelte[n] Laokoon als Sinnbild menschlichen Leidens schlechthin“369 rezipiert und ist zum Symbol geworden „für den Menschen, der in irgendeiner Weise unter den Druck von Ereignissen und Kräften geraten ist, deren Existenz er nicht verhindern und deren Wirkung er nicht ausweichen kann.“370 Die spezifische Darstellung des leidenden Pries-
366 Die Sage des leidenden Laokoon ist unmittelbar verknüpft mit der Legende die sich um den Trojanischen Krieg rankt und markiert somit eine Krisensituation. Die Marmorgruppe entstand im 1. Jahrhundert B.C. auf Rhodos als Gemeinschaftswerk der Künstler Agesandros, Polydoros und Athenodoros. Im Januar 1506 in Rom beim Umgraben eines Weinbergs wiederentdeckt, löste die Laokoongruppe große Begeisterung aus, die über die Jahrhunderte hinweg anhielt. Vgl.: Michael Hertl, Renate Hertl: Laokoon. Ausdruck des Schmerzes durch zwei Jahrtausende. München: Thiemig 1968, S. 7 und S. 10-14 367 Vgl.: Hellmut Sichtermann: Laokoon. In: Carl Georg Heise, Manfred Wundram (Hrsg.): Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams UniversalBibliothek (Nr. 101). Stuttgart: Reclam 1964, S. 14. Auch Schiller thematisiert den Unterschied zwischen der Sage bzw. der Dichtung Virgils und der bildhauerischen Darstellung der Laokoongruppe. In Virgils Dichtung, so Schiller, steht die „strafende Gottheit“ im Zentrum, während es in der bildhauerischen Darstellung der „leidende Mensch“ ist, der als Held im Fokus steht. Siehe dazu: Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 67 368 Schillers Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe findet in enger Anlehnung an Winckelmanns Beschäftigung mit derselben statt. Interessant an Winckelmanns Betrachtung antiker Kunst ist sein Bemühen, den inneren, psychischen Gehalt der Werke zu erfassen. Im Zentrum seiner physiognomischen Studien steht unter anderem die Laokoonplastik, die er im Sinne des „Ausdruck[s] eines vollkommenen, in allen Erscheinungen von Körper und Seele edlen Menschen“ (Hertl, Hertl: Laokoon, S. 40) interpretiert. Vgl.: Ebd. 369 Sichtermann: Laokoon, S. 22 370 Hertl, Hertl: Laokoon, S. 47
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ters wird wegen der Lebendigkeit der künstlerischen Gestaltung auch als Momentaufnahme bezeichnet371 und erzeugt ein hohes Maß an Identifikation sowie Projektion beim Betrachter: „Wer selber Leid und Qual der menschlichen Existenz [...] erlebt und erfahren hat, dem sollte man es nicht verargen, wenn er hier ein Bild seines eigenen Schicksals sieht, wenn er in diesem Bilde das ausgedrückt findet, was ihn selbst beseelt.“
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Vor allem in der Dramatik des schmerzverzerrten Gesichtsausdrucks des Priesters manifestieren sich zugleich kämpferischer Widerstand und Resignation, die aus der Gewissheit der Unabwendbarkeit des Todes resultieren.373 Insgesamt ist die bildhauerische Gestaltung des gesamten Körpers paradigmatischer Ausdruck einer „unnatürlichen Nervenspannung“374, die Burke als physiologische Auswirkung des Erhabenen identifizierte. Der Laokoon der antiken rhodischen Gruppe repräsentiert den heldenhaften Menschen, der sich der Unabänderlichkeit des Schicksals bewusst ist, es jedoch nicht billigend und kampflos in Kauf nimmt. Für Schiller wird diese Darstellung zur Chiffre des Pathetischerhabenen per se, des „Kampf[es] der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur“375.
371 Vgl.: Sichtermann: Laokoon, S. 22 372 Sichtermann: Laokoon, S. 23-24 373 Vgl.: Hertl, Hertl: Laokoon, S. 20 374 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 171 375 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 66 Schillers Interpretation des Laokoon orientiert sich an Winckelmanns Untersuchungen, für den die Plastik das „Paradigma des Ästhetischen“ (Monika Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“. Ästhetische Theorie der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2005, S. 20) schlechthin ist. Allerdings dient die Laokoongruppe Schiller nicht wie Winckelmann als Basis, von der er allgemeine Regeln der Kunst ableitet, sondern sie wird als Fallbeispiel bemüht, das einen allgemeinen Begriff der Ästhetik bzw. des Pathetischen verdeutlicht. Vgl.: ebd., S. 125
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Nicht den Kampf des Laokoon um sein eigenes Leben sondern vielmehr dessen Opfer hebt Schiller hervor.376 Das Opfer des eigenen Lebens für seine Söhne, als die Erfüllung väterlicher Pflicht, erzeugt beim Betrachter Anteilnahme. Darüber hinaus dient die Aufopferung aus Pflichtgefühl Schiller dazu, den selbst riskierten Tod Laokoons als eine Willenshandlung zu legitimieren.377 Nur so ist es eine erhabene Handlung, „sich aus freier Wahl dem Verderben hin[zugeben; A. B.]“378. Denn die freiwillige Aufgabe des eigenen Lebens ist bei Schiller eine durch Zwiespalt geprägte Thematik und offenbart gesellschaftliche Tabus, deren Aktualität auch in den 9/11Bildern zutage tritt.
376 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 65 und S. 70 377 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 70. Schiller sieht in dem Motiv der väterlichen Sorge, das Laokoons Handeln zugrunde liegt, die „Möglichkeit eines ‚Übergangs‘ vom Physischen zum Moralischen.“ Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“, S. 135 378 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 70
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3.5.2 „New Yorkʼs Bravest“ 379: Konstruktion und Inszenierung der FDNY-Helden
„Ein ergreifender Tribut an die Helden des wirklichen Lebens, die in der dunkelsten Stunde ihrer Stadt mit außergewöhnlichem Mut und großer Anteilnahme handelten.“
380
Aus der Beschreibung des Filmes „11. September“ von Jules Naudet, Gedeon Naudet und James Hanlon
Das Konvolut der Fotos, die die Feuerwehrmänner, ihre Arbeit und Leistung dokumentieren, ist nicht homogen sondern weist ein enormes Spannungsfeld auf, das sich zwischen den beiden Polen der Darstellung von Leiden einerseits und der Übersteigerung des Helden bis hin zur visuellen Negierung des Leidens andererseits abspielt. Der öffentliche und politische Umgang mit Franklins Aufnahme der Flaggenhissung – die wegen des auf die Idee der Krisenüberwindung ausgerichteten Bildschemas den Pol der Übersteigerung bedient – verdeutlicht in besonderem Maße, dass dem Mythos des Helden ein konstruiertes und inszeniertes Image zugrunde liegt, welches von Dritten (z.B. der Öffentlichkeit) auf das jeweilige Individuum projiziert wird. Viele Fotos der Angehörigen der New Yorker Feuerwehr (sowohl am Tag der Anschläge, als auch an den Tagen danach), zeigen vom Trauma des Ereignisses gezeichnete Menschen und Rettungskräfte, die enormen Strapazen gegenüber stehen; sie sind Ausdruck menschlichen Leidens und zugleich des Widerstands gegen den Schrecken der Katastrophe. Unmittelbar mit dem Ereignis beginnt ein Prozess der medialen Heldenkonstruktion und -inszenierung, bei dem Zerstörung, Tod und Leiden immer mehr (zumin-
379 Alice McQuillan: 9-11 firemen in hunks calendar. Veröffentlicht am 02.07.2002 auf NYDailyNews.com. Quelle: http://www.nydailynews.com/ archives/news/2002/07/02/2002-07-02_9-11_firemen_in_hunks_calend.html. Aufgerufen am 12.07.2011. 380 Zitiert aus der Filmbeschreibung auf der Rückseite des Covers der DVD 11. September von Jules Naudet, Gedeon Naudet und James Hanlon (USA, Frankreich 2001). DVD: Paramount Pictures 2009
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dest auf visueller Ebene) in den Hintergrund geraten und die Ästhetisierung des Leidens schließlich das Idealbild des massenmedialen Superhelden hervorbringt. Das Ereignis des 11. September stellt als äußerer Faktor im Heroisierungsprozess die „Grund-Begebenheit“381 für die Möglichkeit heldenhaften Handelns dar: die Terroranschläge verbreiten ein bislang nicht gekanntes Maß an Zerstörung innerhalb der USA und Entsetzen, bieten jedoch auch die Basis dafür, dass ein Individuum heldenhaft handeln, d.h. Mut und Tapferkeit unter Beweis stellen kann. Der aktive Widerstand der New Yorker Feuerwehrmänner gegen die Katastrophe wird unmittelbar von der Bevölkerung anerkannt und so werden sie zum Thema unzähliger visueller Dokumente des Ereignisses. Dabei stehen die Feuerwehrleute gleichermaßen für menschliches Leiden, das aus der Nähe zur Gefahrenquelle resultiert sowie für die Bewältigung der Katastrophe durch Widerstand. Im Gegensatz zur antiken Laokoonplastik, in der in einem gemeinschaftlichen künstlerischen Reflexionsprozess Leiden und Erhebung in einer visuellen Darstellung verdichtet wurden, unterliegt die Darstellung der 9/11-Helden einer fragmentarischen Struktur. Die Abbilder entspringen nicht eingehender künstlerischer Reflexion, sondern dem Bedürfnis der Bevölkerung (d.h. vieler Individuen) einen flüchtigen, als bedeutsam erachteten Augenblick festzuhalten, von dem der jeweilige Fotograf sich erhofft, eine sinnlich-fassbare Formel für das traumatische Ereignis zu finden. Die vielen Aufnahmen, die den Einsatz der Feuerwehrleute dokumentieren, spiegeln die subjektive Sichtweise des jeweiligen Bildproduzenten wider. Deshalb hat das mit dem 11. September assoziierte Heldentum viele Gesichter und Ausdrucksformen. Angesichts der Verfügbarkeit von Technologien, die es prinzipiell jedem gestatten, sich ein Bild der Welt zu machen, der Möglichkeiten, visuelles Material (beispielsweise über das Web 2.0) mit einer anonymen Masse zu teilen sowie der neuen Formen visueller Archive, stellt sich die Frage, ob es noch das eine Bild gibt, das – wie Laokoon – zum Paradigma des Heldentums in der aktuellen Krise werden kann, oder ob nicht vielmehr eine auf gemeinsamen Motiven basierende Bildgruppe die paradigmatische Einzeldarstellung abgelöst hat. Die unterschiedlichen Aufnahmen der Feuerwehrleute lassen sich in Themengruppen einteilen, innerhalb derer jeweils ein spezifischer Aspekt
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des Helden bzw. Heroisierungsprozesses vorrangig zum Tragen kommt. Die verschiedenen Facetten der Heldendarstellungen sowie Mechanismen der Inszenierung werden in der vorliegenden Arbeit an folgenden Bildgruppen untersucht: 1) der am Ereignis leidende Held, wobei die Grenze zwischen Held und Opfer verschwimmt, 2) der aktive Widerstand des Helden gegen das enorme Ausmaß der Katastrophe, 3) der Held als politische Leitfigur und 4) der Held als medienkompatibler Superheld.382 Obwohl die Aufnahmen der Themengruppen 1-3 innerhalb des gleichen Zeitraumes entstehen, zeichnet sich ein Prozess der Heldenkonstruktion ab, im Zuge dessen der 9/11-Held immer mehr zu einer „Idealfigur“383 wird, die sich dazu eignet, als Leitfigur für die Bevölkerung zu dienen. Die Inszenierung in Themengruppe 4 zeigt schließlich die Überschreitung der Grenze zwischen Held und Medienstar. Das Konzept des Helden an sich besitzt eine historisch gewachsene Tradition, doch lässt sich im Hinblick auf die hier unter-
382 Neben diesen vier Bildgruppen, lassen sich noch weitere Themen identifizieren, z.B. der ‚Held als Kultobjekt‘, (hier geht es um Vergöttlichung/ Sakralisierung) oder der ‚Tod des Helden‘ (dazu zählen u.a. Aufnahmen von Beerdigungen). Auf eine Analyse dieser Fotografien wird hier jedoch verzichtet, zum einen da der Fokus dieser Arbeit auf dem speziellen Typus des Schrecklich-Erhabenen liegt und zum anderen da die für eine Diskussion der Bilder im Hinblick auf das Schrecklich-Erhabene relevanten Themen schon weitgehend durch die oben genannten vier Bildgruppen abgedeckt werden. Die Aspekte der Mystifizierung und Sakralisierung von Menschen, die eine starke Medienpräsenz aufweisen (wie dies auch bei den New Yorker Feuerwehrleuten im Zuge des 11. September der Fall ist), habe ich in meiner Magisterarbeit mit dem Titel Das Erhabene in der amerikanischen Kunst im Zeitalter der Massenmedien dargestellt. Hier sei insbesondere auf die Medienbilder von Elvis Presley und dessen Inszenierung in der Öffentlichkeit verwiesen sowie auf die Fotoserie How Great Thou Art (1978-1998) des amerikanischen Künstlers Ralph Burns, der das Phänomen der Elvis-Verehrung thematisiert (siehe dazu insbesondere Kapitel 5.2.3 und 5.3 der Magisterarbeit). Über die Sakralisierung des Helden hinaus lässt sich das Element des Sakralen vielfach auch in visuellen Dokumenten des 9/11 mit anderen thematischen Schwerpunkten aufzeigen. 383 Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH 2008, S. 10
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suchten vier Bildgruppen feststellen, dass sie mit wesentlichen Aspekten des Heros und dem traditionellen Heroisierungsprozess brechen. Ebenso wie das Echtzeit-Bildereignis jegliche zeitliche Distanz unterläuft, so ist auch die Reaktion der Medien und der Bildproduzenten aus der Bevölkerung durch Distanzlosigkeit geprägt: das Zu-Viel und Zu-Schnell der Live-Übertragung unterläuft die zur Reflexion notwendige Distanz und auch der Heroisierungsprozess ist weitgehend von der Aufhebung zeitlicher Distanz und somit von der Unmöglichkeit objektiver Reflexion des Geschehens geprägt. Helden werden unmittelbar im Zuge der Anschläge durch das Bild gemacht.384 Der Heldenkandidat, dessen Handeln einst erst im Nachhinein evaluiert werden musste, scheint obsolet geworden; vielmehr gehen Individuum, Heldenkandidat und Held ineinander über. Die Geschwindigkeit des digitalen Medienzeitalters, in der eine Information die nächste jagt, in der auf jedes Bild sofort ein weiteres folgt, lässt kaum Zeit zum Nachdenken. Die Taten der Rettungskräfte werden live von den Kameras dokumentiert, unmittelbar der Weltöffentlichkeit kommuniziert und sofort in einen narrativen Kontext integriert. Die Übertragungsgeschwindigkeit, die bei Virilio das entscheidende Kriterium innerhalb der paradoxen Logik des Bildes ist, beeinflusst somit auch den Heroisierungsprozess – das Echtzeit-Ereignis bringt ‚Echtzeit-Helden‘ hervor.385 Ihre Bilder werden unmittelbar denen von Tod und Zerstörung entgegengesetzt um Handlungsfähigkeit und Widerstandskraft der US-Nation bzw. der US-Regierung zu suggerieren. Das Spannungsfeld zwischen Tod(eskampf) und (Über-) Leben steht im Zentrum des 11. September und dessen visueller Darstellung: beide Pole sind in diesem Ereignis untrennbar miteinander verknüpft. Die hohe Zahl der Opfer unter New Yorker Feuerwehrleuten ist zwar bedeutend für die Erhebung der gesamten Gruppe in den Heldenstatus, doch ist festzustellen,
384 So findet beispielsweise mit der Publizierung der Fotografie Thomas E. Franklins mit ihrem offensichtlichen Zitatcharakter die unmittelbare Konstruktion bzw. Wiederbelebung eines Heldenmythos im Kontext der aktuellen Krise statt. 385 Eine Reihe von Fotografien thematisiert die unmittelbar einsetzende Verehrung der Feuerwehrleute als Helden. Für Beispielbilder siehe dazu: George (Hrsg.): Here is New York, S. 141 sowie The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 77
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dass der Fokus der visuellen Konstruktion und medialen Inszenierung des Heldenmythos auf den (Über-) Lebenden liegt: weniger das Sterben des Helden(kandidaten) bzw. sein Todeskampf, der für Schillers Interpretation des Laokoon wesentlich ist und den auch Linares beim traditionellen Heroisierungsprozess hervorhebt, sondern das Überleben gewinnt im Bild an Bedeutung. So sind es vor allem die überlebenden Rettungskräfte, die zu medialen Repräsentanten des Heldentums werden. Bei dem Versuch die Kontrolle über 9/11 und dessen Bilder zurückzuerlangen, wird der überlebende Held zum politischen Signal, dessen Wirkung sich sowohl nach innen an die eigene Bevölkerung, als auch an die Weltöffentlichkeit richtet: die Darstellung des lebenden Helden signalisiert, dass man nicht besiegt ist, nicht kampflos aufgibt und sich der schwierigen Aufgabe der Katastrophenbewältigung stellt. Es ist zu vermuten, dass ein Grund für die Verlagerung hin zum lebenden Helden darin besteht, dass nur er im Fortgang des Ereignisses medienwirksam inszeniert werden und so als Leitfigur für die Bevölkerung dienen kann,386 die durch sein unermüdliches Handeln (z.B. die Suche nach Überlebenden oder die Aufräumarbeiten auf Ground Zero) sieht, dass Widerstand möglich und der Schrecken besiegbar ist. Das Überleben wird zum Ausdruck dafür, dass der American Spirit ungebrochen ist und gerade im Angesicht der Krise die Stärke der US-Nation hervorgerufen wird. Menschliches Leiden sowie die Fragen wie es erfahrbar gemacht und bewältigt werden kann, sind bedeutend für das Schrecklich-Erhabene und als Kernthemen auch in den Bildern des 11. September angesiedelt. Dabei weisen die Heldenbilder unterschiedliche Ausprägungen der Darstellung des Leidens und dessen Überwindung auf, die im Folgenden untersucht werden. 3.5.2.1 Held oder Opfer? (Themengruppe 1) Die erste Bildgruppe stellt ein Heldentum dar, das diesem Begriff zu widersprechen scheint und sich einem auf politischer und öffentlicher Ebene propagierten Begriff des Heldentums verweigert. Feuerwehrleute, die durch
386 Schon die Instrumentalisierung der überlebenden Soldaten aus Rosenthals Foto im Rahmen der multimedialen Kampagne für die siebte Kriegsanleihe, ebenso wie die Inszenierung der drei von Franklin fotografierten Feuerwehrmänner sind Indikatoren für die Relevanz des lebenden Helden in einer medial ausgerichteten und durch das Bild bestimmten Gesellschaft.
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9/11 zum Paradigma heldenhafter Individuen werden, sind hier in einer Art und Weise festgehalten, die sie eher als Opfer denn als Held erscheinen lassen: zu sehen sind Menschen, deren Gesichter ausdruckslos wirken und die von den Strapazen der Rettungsarbeiten erschöpft sind. In vielen Aufnahmen innerhalb dieser Bildgruppe fungieren das menschliche Gesicht und/ oder der menschliche Körper als Chiffren für das Unfassbare der Katastrophe und werden zu Identifikationsobjekten, durch die das Ereignis für den Betrachter erfahrbar wird. Hier ergeben sich u.a. Anknüpfungspunkte an die Darstellung der Gesichtszüge in der antiken Laokoonplastik, wenn diese auch maßgeblich auf Unterschieden basieren. Durch die Absenz pseudo-pathetischer Gesten und siegreicher Posen markieren diese Abbildungen der 9/11-Rettungskräfte einen Gegenpol zu gewohnten Heldendarstellungen des regulären Medienbetriebs. Darüber hinaus manifestiert sich eine komplexe Verknüpfung von positiver (objekthafter) und negativer Darstellung, z.B. in den Aufnahmen von Staub/ Asche bedeckten Personen. Zunächst ist festzustellen, dass es sich hier um die Aufnahmen Überlebender der Terroranschläge handelt. Während Leiden und Heldentum des Laokoon untrennbar mit dessen Tod verbunden sind, bringen die Fotografien der Feuerwehrleute ein mit dem Überleben der Katastrophe verknüpftes Leiden zum Ausdruck. Dies stellt das traditionelle Konzept des triumphierenden Helden in Frage, das zur Bewältigung des 9/11 auf politischer und öffentlicher Ebene medienwirksam wiederbelebt wird. Um eine unübliche Darstellung von Kriegshelden geht es auch in Otto Dix Triptychon Der Krieg (1929-32, Abb. 7) und so liefert dieses Kunstwerk interessante Anknüpfungspunkte für die Diskussion derjenigen Bilder des 11. September, die die Grenze zwischen Held und Opfer auflösen. Das Trauma eines Krieges, bei dem man zwar darauf vorbereitet war, dass er Opfer fordern würde, der die Menschen dann aber angesichts der ungeahnten Vernichtungskraft der neuen Waffen fassungslos machte, ist das Thema des Gemäldes Der Krieg.387 Otto Dix erlebte den Ersten Welt-
387 Vgl.: Norbert Nobis: Der Erste Weltkrieg und die Künstler (S. 7-9). In: Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit dem Sprengel Museum Hannover (Hrsg.): Otto Dix: Grafikmappe ‚Der Krieg‘ von 1924. Berlin: Kulturstiftung der Länder 2004, S. 7. Die Beschreibung des Triptychons erfolgt in dieser Arbeit nur umrissartig und erhebt keineswegs den Anspruch einer vollständigen
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krieg als Soldat und dessen Schrecken stellte für ihn das elementare Ereignis dar, das sein künstlerisches Schaffen nachhaltig prägte. Für ihn war der Krieg ein apokalyptischer Ausbruch an Gewalt, der die Welt in ihren Grundfesten erschütterte; er empfand ihn „als Weltuntergangsstimmung, als Un- und Übermenschliches, als etwas was dem Menschen längst entglitten ist.“388 Für Der Krieg, eine Panoramadarstellung des Kriegsgeschehens, knüpft Dix an das Altarbild Alter Meister an, dessen „Pathos-Formel“389 ihm die Möglichkeit bietet, die apokalyptische Gewalt des Krieges darzustellen.390 Die vier Tafeln des Triptychons fügen sich zu einem Zeitkontinuum zusammen, jedoch ohne ein Raumkontinuum zu bilden.391 Im linken Flügel blickt der Betrachter auf einen Zug von Soldaten, die in die bevorstehende Schlacht marschieren. Es ist eine gespenstisch anmutende, anonyme Masse, in der das Individuum in einem Strom von Stahlhelmen verschwindet, der
Bildbeschreibung. Für die Untersuchung sind vor allem die Darstellung des aus der Schlacht Zurückkehrenden im rechten Flügel sowie die Predella relevant, die in Bezug zu den Bildern des 11. September 2001 gesetzt werden sollen. Eine detaillierte Beschreibung des Werkes Der Krieg findet sich in folgenden Quellen: Otto Conzelmann: Der andere Dix. Sein Erlebnis des Krieges und des Menschen. Stuttgart: Klett 1983 oder Dieter Scholz: Das Triptychon ‚Der Krieg‘ von Otto Dix (S. 261-267). In: Wulf Herzogenrath, JohannKarl Schmidt (Hrsg.): Otto Dix. Zum 100. Geburtstag 1891-1991. Stuttgart: Hatje 1991 (Ausst.-Kat.) 388 Conzelmann: Der andere Dix, S. 83 389 Conzelmann: Der andere Dix, S. 198 390 Vgl.: Conzelmann: Der andere Dix, S. 198. Für die Mitteltafel des Kriegstriptychons dient insbesondere die Mitteltafel des Isenheimer Altars (1512-15) von Mathis Nithart Gothart (genannt Grünewald) als künstlerischer Bezugspunkt. Bei der Darstellung der Predella ließ Dix sich von Hans Holbein d. J. Christus im Grabe (1522) inspirieren. Vgl.: Scholz: Das Triptychon ‚Der Krieg‘ von Otto Dix, in: Herzogenrath, Schmidt (Hrsg.): Otto Dix. Zum 100. Geburtstag 1891-1991, S. 263 und S. 266 391 Aus einem unveröffentlichten Vortrag von Olaf Peters (Martin-LutherUniversität, Halle-Wittenberg). Titel des Vortrags: Otto Dix: Der Krieg (1929-32). Genese, Kontext und Erzählstruktur des Triptychons in der Weimarer Republik. Gehalten am 16.11.2009 an der Universität Hamburg.
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sich in Richtung Mitteltafel bewegt, die das Schlachtfeld darstellt, jedoch ohne die Schlacht direkt zu zeigen. Zu sehen ist eine Ruinen- und Trümmerlandschaft, die sich vor allem aus zerfetzten Leichen(teilen) und zerstörten Gebäuden zusammensetzt. Im rechten Flügel wird die Rückkehr dreier Soldaten aus der Schlacht dargestellt. Bestimmt wird dieser Teil des Triptychons durch die Figur eines Soldaten, der einen verwundeten (oder toten?) Kammeraden trägt, dem Betrachter entgegenblickt und bei dem es sich um ein Selbstbildnis Dix handelt.392 Die Figur des aus der Schlacht zurückkehrenden Soldaten Dix als bestimmendes Motiv erscheint in geisterhaften Weiß-393 und Grauschattierungen vor einem apokalyptischen Feuerball inmitten der verwüsteten Kraterlandschaft. Wie aus einer anderen Welt kommend beugt sich der Rückkehrer Dix dem Betrachter entgegen, fixiert ihn mit seinem Blick und stellt somit als einzige Figur in Der Krieg den direkten Kontakt zum Betrachter her. Das Gesicht wirkt starr, der Blick fest aber leer, wie vom Schrecken des Gesehenen erstarrt. Wo die anderen Darstellungen menschlicher Figuren und ihrer Überreste sich farblich und kompositorisch in das Gesamtbild einfügen, da widersetzt sich der Rückkehrer einer harmonischen (soweit der Begriff ‚harmonisch‘ hier überhaupt verwenden werden kann) Eingliederung in die Gesamtkomposition. Er ist gleichzeitig Teil des Gemäldes, und fällt dennoch heraus. Der zeitliche Ablauf des Kriegsgeschehens schließt sich in der Predella unterhalb der Mitteltafel, wo erschöpfte Soldaten in einem sargähnlich anmutenden Unterstand dicht aneinandergedrängt „den Schlaf der Toten schlafen, neue Kräfte sammelnd für einen Krieg, der für die Davongekommenen immer wieder von vorne beginnt [...] – wie des Sisyphus Sträflingsarbeit.“394 Die direkte Kriegshandlung sowie ein Gegner sind im Bild absent; Dix zeigt allein das Davor und das Danach mit allen unerbittlichen Konsequenzen. Entgegen der zeitgenössischen Darstellungen des ‚tapferen Kriegshelden‘, wie sie vielfach in Kriegerdenkmälern zu finden sind, erscheint der
392 Vgl.: Conzelmann: Der andere Dix, S. 198-199 393 Die Farbe Weiß symbolisiert nicht nur Licht und Reinheit sondern steht auch für Geister und Gespenster; sie „steht dem Absoluten, dem Anfang wie dem Ende sowie deren Vereinigung nahe“. Herder-Lexikon Symbole (o. Verf.), S. 182 394 Conzelmann: Der andere Dix, S. 199
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Soldat im Triptychon nicht als Held, sondern als Opfer – unabhängig davon, ob er die Schlacht überlebt oder darin fällt. Denn in den Überlebenden, vor allem in der Gestalt des Rückkehrers, hat sich der Schrecken des Ereignisses festgesetzt. Dix Darstellung des vermeintlichen Kriegshelden ist eine sich den politischen und gesellschaftlichen Tendenzen der Weimarer Republik widersetzende, entheroisierende und entmystifizierende: „In dieser Zeit [Dix bezieht sich hier auf das Jahr 1928; A. B.] propagierten viele Bücher ungehindert in der Weimarer Republik erneut ein Heldentum und einen Heldenbegriff, die in den Schützengräben des ersten Weltkrieges längst ad absurdum geführt worden waren.“
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Das Kriegstriptychon ist nicht allein ein Versuch der Bewältigung des Schreckensereignisses, sondern hat eine konkrete politische Intention und zielt als Anti-Kriegsbild auf öffentliche Wirkung ab.396
395 Otto Dix in einem Interview mit Karl-Heinz Hagen: Zur Kunst gehört Können. In: Neues Deutschland, Dezember 1964. Zitiert nach: Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis. Ost-Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, 1978 (S. 244-246), S. 244 396 Vgl. dazu: Scholz: Das Triptychon ‚Der Krieg‘ von Otto Dix, in: Herzogenrath, Schmidt (Hrsg.): Otto Dix. Zum 100. Geburtstag 1891-1991, S. 261. Zur intendierten öffentlichen Wirkung des Werkes siehe auch: Otto Dix in einem Interview mit Karl-Heinz Hagen: Zur Kunst gehört Können, in: Neues Deutschland, zitiert nach: Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, S. 244-245. Eine summarische Darstellung des Ereignisses 9/11 erweist sich als ebenso schwierig wie eine summarische Darstellung des Ersten Weltkrieges, an der sich Dix in Der Krieg versuchte. Anders als bei diesem Werk der bildenden Kunst, das sich zahlreicher Symbole und kunsthistorischer Verweise bedient, die schließlich in eine Gesamtkomposition integriert wurden, erlaubt die Fotografie im digitalen Zeitalter nicht dieses Maß an künstlerischer Reflexion, da sie vor allem auf Schnelligkeit und das Erfassen des Augenblicks angelegt ist. Doch es gibt unterschiedliche Fotos, die unterschiedliche Perspektiven des Geschehens beleuchten und als einzelne Bilder dem Betrachter ein Fenster zu bestimmten Aspekten des Ereignisses öffnen. Dabei stellen die Rettungskräfte einen Bezug zwischen dem Betrachter und den Geschehnissen her. Ähnlich den Soldaten in Dix Triptychon befinden sich die New Yorker Feuerwehrleute
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Im Hinblick auf die Darstellung von Heldentum im Kontext des 11. September 2001 sollen in dieser Arbeit Parallelen zur rechten Seitentafel sowie zur Predella des Dix’schen Gemäldes diskutiert werden. Obwohl der Genese des Triptychons ein künstlerischer Reflexionsprozess zugrunde liegt, wogegen die 9/11-Bilder eine durch Geschwindigkeit charakterisierte technische Reproduktion realen Geschehens und zudem fragmentarische Dokumente unterschiedlicher Bildproduzenten sind, weist Dix Figur des Rückkehrers ikonographisch Parallelen zu einigen Fotografien der FDNYRettungskräften auf. Trotz der öffentlichen Heroisierung rufen diese Aufnahmen eher Assoziationen an die entmystifizierende Darstellung von Helden in Der Krieg hervor, als an einen Triumph. Sie vermitteln nicht die Idee von Erhebung über den Schrecken, sondern werden vielmehr zum Sinnbild für das Trauma des Ereignisses. In den Aufnahmen, in denen das menschliche Gesicht das Hauptbildelement darstellt, werden die fixierten Gesichtsausdrücke zum sinnlichfassbaren Verweis auf das Undarstellbare und Unaussprechliche. Exemplarisch für diese Art der Darstellung ist die Farbfotografie von Peter Foley (Abb. 8), die einen Feuerwehrmann vor dem Hintergrund des Einsatzortes am Ground Zero festhält. Der Blick des Mannes ist fest in die Kamera gerichtet, wodurch eine Anbindung an den Betrachter geschaffen wird. Die Mimik wirkt ernst, regungslos und ganz ohne Pose, so dass der Eindruck entsteht, die Kamera bemächtige sich des Subjekts, indem sie in einem Moment ein Bild ‚schießt‘, in dem die fotografierte Person nicht darauf vorbereitet ist. Auch wenn der Dargestellte eindeutig zu identifizieren ist, geht es weniger um individuelles Leiden, sondern die Aufnahme wird zur Chiffre des kollektiven Traumas 9/11. Über die Bedeutung eines Gesichtsausdrucks als sinnliche Manifestation der traumatischen Erfahrung äußerte sich beispielsweise eine Krankenschwester des New Yorker St. Vincent’s Catholic Medical Center:
im Zentrum des Schreckens; sie stellen eine Verbindung zwischen den Geschehnissen am Ground Zero, der der Öffentlichkeit unmittelbar nach dem Zusammensturz der Türme nicht mehr zugänglich ist, und der Weltöffentlichkeit her.
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„[...] I observed a firefighter, the look on his face represented to me the trauma New Yorkers were going to be experiencing.“
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Der Gesichtsausdruck übernimmt eine wesentliche kommunikative Funktion: die Gefühle, die sich in bestimmten Signalen widerspiegeln, gelten als universell und transkulturell verständlich,398 was gerade im Kontext eines global erlebten und verarbeiteten Bildereignisses bedeutend ist. So besitzt auch das fotografische Abbild des Gesichts das Potential einer kulturübergreifend einheitlichen Decodierung der Emotionen einer darstellten Person. Der kommunikative Effekt der hier exemplarisch aufgeführten Bilder wird dadurch verstärkt, dass die Fotografierten in die Kamera blicken und somit eine direkte Beziehung zum Betrachter herstellen.399 Die Relevanz menschlicher Physiognomie lässt sich auch an der antiken Laokoonplastik aufzeigen: vor allem der Gesichtsausdruck des Priesters macht den Schrecken für den Betrachter erfahrbar und gerade die in den Gesichtszügen angelegte Kombination aus Schmerz und Widerstand wird zum Ausdruck des Sublimen. Der Schmerz des Laokoon richtet sich nach außen und wird aufgrund der Betonung des Physischen – dem schmerzverzerrten Gesicht, den hervortretenden Muskeln und dem schmerzvoll verdrehten Körper – sichtbar. Im Gegensatz dazu fehlt der physische Ausdruck des Leidens in den Bildern der Rettungskräfte: sie erscheinen äußerlich ruhig – das Leiden, das hier zum Ausdruck kommt, verlagert sich nach innen, in das Subjekt.
397 Zitiert nach: http://www.tributewtc.org/exhibits/gallery2.php. Aufgerufen am 13.07.2010. 398 Vgl.: Sigrid Weigel: Phantombilder: Gesicht, Gefühl, Gehirn zwischen messen und deuten (S. 242-276). In: Oliver Grau, Andreas Keil (Hrsg.): Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Frankfurt am Main: Fischer 2005, S. 253 399 Die zentrale Bedeutung des menschlichen Gesichts und sich darin widerspiegelnder Emotionen für den Versuch, den Schrecken im Bild zu erfassen, lässt sich beispielsweise aus der beträchtlichen Anzahl an Aufnahmen im Ausstellungskatalog Here is New York ableiten, deren Fokus die menschliche Physiognomie ist. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Bilder der Rettungskräfte sondern u.a. auch im Hinblick auf die Fotos von Menschen, die die Anschläge auf den Straßen New Yorks miterlebten und in deren Gesichtern sich Schock und Fassungslosigkeit widerspiegeln.
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Die Wirkung der Tragödie ist für Schiller u.a. davon abhängig, ob der Zuschauer sich mit der Darstellung identifizieren kann und ob sie als ‚wahr‘ eingeordnet wird. Stellt der Betrachter eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem leidenden Subjekt sowie den Wahrheitsgehalt fest, dann kann er durch die Leidenschaft des Mitleids eine emotionale Anbindung an das Dargestellte knüpfen und durch eine Wechselwirkung zur Erfahrung des gezeigten Leidens gelangen.400 Diese von Schiller aufgestellten Bedingungen der Wirkung der Tragödie lassen sich auf die fotografisch fixierten Gesichter der FDNY-Rettungskräfte übertragen: die vom Schrecken gezeichneten Feuerwehrleute werden zu „emotionalen Identifikationsfigur[en]“401, durch die die Katastrophe für andere erfahrbar wird. Das (Reportage-) Foto, das einen realen Gefühlsmoment fixiert, wird zum Träger menschlicher Emotionen und Erfahrung, denn „Gefühle sind das Salz in der Suppe; sie sind ein zentrales Moment menschlichen Erfahrens und Erlebens“402. Die abgebildeten Gesichter wirken ähnlich dem des Rückkehrers in Dix Kriegstriptychon: versteinert, der starre Blick fixiert den Betrachter, hält ihn unerbittlich fest. Ohne explizit emotionale Mimik, in der sich Schmerz und Leiden – also Pathos – manifestieren, bilden die „Gesicht-Objekt[e]“403 einen Gegenpol zu Tragik und Chaos des Ereignisses, aber auch zur künstlichen Emotionalisierung, die kennzeichnend für den Zustand der massenmedialen Gesellschaft steht. Die Absenz des Pathos ist das Charakteristikum dieser speziellen 9/11-Aufnahmen.
400 Vgl.: Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 43 401 Michael Lüthy: Andy Warhol. Thirty Are Better Than One. Frankfurt; Leipzig: Insel 1995, S. 100 402 Andreas Keil, Oliver Grau: Mediale Emotionen: Auf dem Weg zu einer historischen Emotionsforschung (S. 7-19). In: Grau, Keil (Hrsg.): Mediale Emotionen, S. 7 403 Heiner Bastian verwendet den Begriff „Gesicht-Objekt“ im Kontext seiner Diskussion der Porträts der trauernden Jackie Kennedy, die Andy Warhol für seine Siebdruckbilder verwendete. Siehe dazu: Heiner Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität – Der Verbleib der Emotion (S. 12-39). In: Heiner Bastian (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive. Berlin: Neue Nationalgalerie 2002 (Ausst.-Kat.), S. 32
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Das Pathetische dient Schiller als Instrument um „ein höheres Vermögen im Menschen aufleuchten zu lassen.“404 Das Verständnis dieses Begriffs, das ihm noch als „Ausdruck des leidenden Menschen“405 galt, hat eine Wandlung vollzogen und das, was heute als pathetisch bezeichnet wird, ist entleert, ausgehöhlt und lediglich eine Karikatur des in der Epoche der Aufklärung gebräuchlichen Begriffs.406 Dies ist nicht zuletzt das Resultat künstlicher Emotionalisierung bzw. Hyperemotionalisierung von Ereignissen durch die Massenmedien.407 Gerade in einer Medienwelt, in der Darstellungen menschlichen Leidens zur alltäglichen Konsumware geworden sind und in der auf das (künstliche) Emotionale rekurriert wird, um immer neue medienwirksame Spektakel zu kreieren, zeugt die Absenz des Pathetischen in diesen Aufnahmen der Feuerwehrmänner von einer Dimension des Ereignisses, die sich der sinnlich-fassbaren Darstellung entzieht. Statt eines (pseudo-) emotionalen Spektakels erscheint ein nachdenkliches Moment. Die Bilder erweisen sich als Bruch mit Leidensdarstellungen des medialen Normalbetriebs: das Gesicht wird gerade durch Starrheit und Ausdruckslosigkeit zur Chiffre des Unaussprechlichen und Unfassbaren der Katastrophe.
404 Berghahn: Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 139 405 Berghahn: Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 135 406 Vgl.: Berghahn: Nachwort, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 134 407 Die künstliche Emotionalisierung des Medienbetriebes kritisierte der Pop ArtKünstler Andy Warhol bereits in den 60er Jahren. In seinem 1963 entstandenen Werk Jackie (The Week That Was), beispielsweise, verarbeitete er das Medienereignis der Ermordung John F. Kennedys, das die amerikanische Nation zutiefst traumatisierte. Dabei dienten ihm Pressefotos von Jackie Kennedy als Grundlage, von denen er für seine Leinwand das Gesicht der Witwe als Bildausschnitt auswählte. Warhol begriff die in den Pressefotos dargestellte öffentliche Maske Jackies als Objekt, in dem sich das Unerklärliche dieses Ereignisses manifestierte und das den Rezipienten als Identifikationsobjekt diente um das Unglück zu erfassen (vgl.: Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität, in: Bastian (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive, S. 32). Zu diesem Thema siehe auch die Ergebnisse meiner Magisterarbeit, hier insbesondere Kapitel 6.2 „The Week That Was — Die Porträts der Jacqueline Kennedy (1963)“.
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Es ist der „stumme Schmerz“408, der dem Pathetischerhabenen zugrunde liegt und den Schiller, unter Berufung auf Winckelmann auch in der Plastik des schmerzverzerrten Laokoon sieht.409 Gerade diese Fähigkeit der Kontrolle des Schmerzes wird als ein Charakteristikum gedeutet, das die übersinnlichen Kräfte des Menschen offenbart und ihn über die Natur erhebt. Bei der Darstellung von Leiden vermag auch nur der stumme Schmerz die Idee des Pathetischerhabenen zu vermitteln und das Publikum zu affizieren: „Eine leidende Person, klagend und weinend dargestellt, wird daher nur schwach rühren, denn Klagen und Tränen lösen den Schmerz schon im Gebiet der Tierheit auf. Weit stärker ergreift uns der verbissene stumme Schmerz, wo wir bei der Natur keine Hilfe finden, sondern zu etwas, das über alle Natur hinausliegt, unsre Zuflucht nehmen müssen; und eben in dieser Hinweisung 410
auf das Übersinnliche liegt das Pathos und die tragische Kraft.“
(Hervorh.
i.O.)
Auch in dem exemplarisch angeführten „Gesicht-Objekt“ des New Yorker Feuerwehrmannes drückt sich das Leiden nicht im Sinne eines Klagens aus sondern manifestiert sich in der fassungslos wirkenden Physiognomie als stummer Schmerz. In seiner physiologisch orientierten Untersuchung des Erhabenen greift Burke auf Begriffe wie „attonitus“411 (Hervorh. i.O.) oder „stupeo“412 (Hervorh. i.O.) zurück, um die physische Wirkung des Schreckens zu beschreiben, der das Subjekt lähmt und förmlich erstarren lässt.413 Der Eindruck des Erstarrens entsteht auch in der Aufnahme Peter Foleys, die einen fragmentarischen Ausschnitt des Ereignisses liefert. Doch durch die rund um die Uhr stattfindende Berichterstattung kann das Bildfragment
408 Friedrich Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 65 409 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 65-66 410 Schiller: Über das Pathetische, in: Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 65 411 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 92 412 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 92 413 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 92
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durch die Eigenleistung des Rezipienten in den Gesamtkontext eingeordnet werden. D.h. über den im Bild fixierten Moment/ Gesichtsausdruck der Fassungslosigkeit hinaus bilden Opferbereitschaft und die unermüdliche Arbeit der Rettungskräfte bei der Katastrophenbewältigung den Hintergrund dieser Aufnahme. Auch wenn hier nur ein Bildfragment des Geschehens für den Betrachter sichtbar ist und zunächst der vollständige Handlungskontext fehlt, den Schiller zur Bedingung innerhalb seiner Dramentheorie macht,414 so ist davon auszugehen, dass der Rezipient mithilfe der Medienberichterstattung das Fragment in eine vollständige Handlung überführen und die Fotografie in diesem Rahmen interpretieren kann. Vor allem die Bilder staubbedeckter Feuerwehrleute (exemplarisch auch hierfür Abb. 8) bringen das Handeln des Helden im Zentrum des Schreckens zum Ausdruck, denn der Staub wird zum sichtbaren Beweis für die Nähe zur Gefahrenquelle.415 Der Staub des eingestürzten World Trade Centers lässt die Menschen farblos und wie versteinert erscheinen: zwar sind sie dem Tod entronnen – doch haftet ihnen der Schrecken der Katastrophe an. Ikonographisch lassen sich hier Parallelen zur Darstellung des Rückkehrers in Dix Kriegstriptychon feststellen, denn auch er erscheint in seiner Farblosigkeit vom Schrecken ‚gezeichnet‘. Das ‚Vom-StaubBedeckt-Sein‘ taucht mehrfach als Bildelement bzw. Bildthema auf und wird zum Symbol für das Trauma, das Opfern und Rettern gleichermaßen anhaftet. „Als blicke man in die Hölle“, beschreibt ein Augenzeuge die
414 Vgl.: Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 48-49 415 Staub- und aschebedeckte Menschen gehören zu den charakteristischen Bildern des 9/11. So ist z.B. das Foto der staubbedeckten Macy Borders (Fotograf: Stan Honda/Agence France-Presse), die aus dem 81. Stockwerk des Nordturms entkam, eines der ikonischen Bilder des Ereignisses. Die Frau mit dem entsetzten Gesichtsausdruck erscheint in der ebenfalls von Staub bedeckten Umgebung wie versteinert. Abbildung und Information zum Foto siehe: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 51. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich bei der Untersuchung des Motivs staubbedeckter Menschen auf die Bilder von New Yorker Feuerwehrleuten.
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Szenerie in New York, „Schutt und Glas klebte an den Menschen. Alle waren mit Asche überzogen.“416 Als Bildelement beinhalten Staub bzw. Asche eine komplexe Symbolik: zum einen dienen sie als Verweis auf die unmittelbare Nähe zur Gefahrenquelle. Zum anderen sind sie Rückstände von etwas, das nicht mehr existiert und damit sinnliche Elemente physischer Subjekte und Objekte, die nun absent sind. In Staub und Asche, die sich nach dem Einsturz der Zwillingstürme über die Straßen und Menschen in Manhattan gelegt hatten, manifestieren sich Absenz und Präsenz gleichermaßen. Im Hinblick auf die Absenz kommt in den Bildern staubbedeckter Rettungskräfte der Schrecken des ‚Nichts‘ bzw. dessen, was das Ereignis ausgelöscht hat zum Ausdruck: die Männer und Frauen des New York City Fire Department begeben sich in das Zentrum der Katastrophe, um Menschenleben zu retten, sind jedoch nach dem Zusammensturz der Gebäude damit konfrontiert, dass sie kaum noch Überlebende finden. Von 2.973 Menschen, die den Terroranschlägen im World Trade Center zum Opfer fallen, werden nach dem Einsturz der Türme nur noch vereinzelt Überlebende aus den Trümmern geborgen und so besteht die Realität der Rettungskräfte größtenteils darin, nach Verstorbenen und menschlichen Überresten zu suchen. „New York ist eine Stadt, die einem zunehmend das Herz zerreißt, ohne Aussicht auf Linderung. ‚Es ist schlimmer, als man sich das überhaupt jemals vorstellen kann‘, sagte der Feuerwehrmann Rudy Weindler, der zwölf Stunden weitgehend erfolglos zwischen Rauch und Trümmern nach Überlebenden suchte.“
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Doch manifestiert sich in den Asche- und Staubteilchen als physischem Element nicht nur das Absente sondern auch die Präsenz des Ereignisses, das sich hier komprimiert wiederfindet: die pulverisierten Überreste dessen, was nun nicht mehr existiert. All dies haftet den staubbedeckten Überlebenden physisch an und wird gleichzeitig zum Symbol des Traumas. Das Ereignis findet sich hier gewissermaßen in abstrahierter Form wieder, die
416 Reverend Lloyd Prator, zitiert nach: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 51 417 Bob Herbert, Kommentarseite vom 13. September 2001. Zitiert nach: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 120
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an Kants Begriff der negativen Darstellung418 erinnert. Durch die Abstraktion wird das sinnliche Element zum Verweis auf das Absolute und Undarstellbare.419 Die Feuerwehrleute müssen Tapferkeit und Durchhaltevermögen nicht nur in den brennenden Türmen des World Trade Centers unter Beweis stellen, sondern auch bei den anschließenden Rettungsarbeiten, die sie zwingen über ihre Grenzen hinauszugehen. Das Ausmaß des Ereignisses kommt dabei in der physischen und psychischen Grenzüberschreitung des Subjekts zum Ausdruck, das bei dem Versuch das Leben anderer zu retten, all seine Kräfte mobilisieren und über sich hinauswachsen muss. Dieser Grenzgang wird auch in einer Vielzahl von Fotografien dargestellt, die das Motiv der Erschöpfung aufgreifen und Menschen zeigen, die im Schutt liegen und sich ausruhen, bevor sie sich wieder an ihre unermüdliche Suche nach Überlebenden und Toten begeben (Abb. 9). Das Motiv wird visuell nicht nur von der Bevölkerung aufgegriffen, die die Arbeit und Strapazen ihrer Helden von außen wahrnimmt, sondern auch vom New York City Fire Department selber. Beispielsweise enthält die offizielle FDNY-Website unter der Kategorie „Ground Zero Photos“ das Bild eines auf dem Boden schlafenden Feuerwehrmannes, begleitet von der Bildunterschrift „Sheer exhaustion“420. Ähnlich den erschöpften Soldaten in der Predella des Dix’schen Kriegstriptychons, scheinen auch die Feuerwehrmänner in diesen Bildern „den Schlaf der Toten [zu; A. B.] schlafen, neue Kräfte sammelnd für einen Krieg, der für die Davongekommenen immer wieder von vorne beginnt
418 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182-183 419 Die tiefe Verwurzelung einer christlich geprägten Bildsprache in der zeitgenössischen Gesellschaft, auf die schon im Kontext der Analyse der Flaggenhissung auf Ground Zero verwiesen wurde, lässt sich auch auf diese Bilder übertragen. „Asche zu Asche, Staub zu Staub“ ist zentraler Bestandteil der christlichen Liturgie, symbolisiert Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen und ist mit Riten der Trauer und Buße verknüpft. Vgl.: Christoph Wetzel: Das große Lexikon der Symbole. Darmstadt: Primus Verlag (Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2008, S. 14 420 Siehe dazu: http://www.nyc.gov/html/fdny/html/wtc_other/ground_zero/1831 _21.shtml. Aufgerufen am 10.04.2011.
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[...]“421. Angesichts dieser Aufnahmen verschwimmt die Grenze zwischen Held und Opfer, denn sie evozieren das Gefühl sich endlos wiederholender Strapazen. In der Zeit unmittelbar nach den Anschlägen, in denen die Bilder der Flugzeugeinstürze und des Zusammenbruchs der Türme in Endlosschleifen über die Bildschirme laufen, erhebt sich auch der 9/11-Held immer wieder von Neuem, um seine im Grunde genommen aussichtslose Aufgabe (zumindest was die Suche nach Überlebenden betrifft) von neuem zu beginnen. Das Ausmaß der Erschöpfung des als Helden rezipierten Individuums wird in diesen Bildern zum Hinweis auf das Ausmaß der Katastrophe, das das Subjekt zur Überschreitung seiner Grenzen zwingt. Die in diesem Kapitel exemplarisch betrachteten Aufnahmen vermitteln das Bild eines Helden, der ein vom Ereignis gekennzeichneter Mensch ist. In der fixierten Fassungslosigkeit des Gesichtsausdrucks, im anhaftenden Staub und der körperlichen Erschöpfung hat sich das Ereignis physisch eingeschrieben und so wird durch diese Fotos das Trauma für den Rezipienten erfahrbar. Stellt man einen Bezug zum Helden in Schillers Dramentheorie her, die den Schrecken des Sublimen durch die Selbststeigerung des Subjekts positiv auflöst, so ergibt sich ein wesentlicher Bruch mit dem Heldenbild des 11. September. Das Leiden erfährt in diesen Aufnahmen keine positive Auflösung, sondern es wird offen gehalten. Die vergebliche Suche nach Überlebenden, die über einen langen Zeitraum andauernden physischen und psychischen Strapazen bilden den Hintergrund der Fotografien derer, die zwar tapfer und unermüdlich ihrer Aufgabe ins Auge sehen, aber letztlich auch Opfer sind. Hier findet eine Irritation des traditionellen Verständnisses des Helden statt, denn der Unterschied zwischen Held und/ oder Opfer ist in diesen Bildern kaum zu erkennen. Statt der Erhebung über die Katastrophe manifestiert sich der Schock des Ereignisses, dessen Bewältigung zum Zeitpunkt der fotografischen Fixierung erst noch bevorsteht. Die Diskrepanz zwischen den in dieser Themengruppe diskutierten Aufnahmen und der Benennung der New Yorker Feuerwehrleute als „heroes“ dient als Hinweis darauf, dass Helden von Außenstehenden gemacht werden. So wird der Begriff des Heldentums entlarvt als artifizielles Konstrukt einer nach Orientierung suchenden Öffentlichkeit und einer Regierung, die durch
421 Conzelmann: Der andere Dix, S. 199
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die Integration von Heldenfiguren in die visuelle Kommunikation Botschaften mit politischem und militärischem Inhalt sendet. Auch wenn der Moment der Erhebung über den Schrecken sowie die Vorstellung des siegreichen Helden in der ersten Themengruppe unterlaufen werden, so erweist sich non-verbale Kommunikation doch als Möglichkeit das Unfassbare und Unaussprechliche zu vermitteln. Das als Held rezipierte und fotografisch fixierte Individuum wird zum sinnlichen Identifikationsobjekt, durch das die Katastrophe für ein anonymes, globales Massenpublikum erfahrbar wird. 3.5.2.2 Der Held im aktiven Widerstand gegen das Ausmaß der Katastrophe (Themengruppe 2) Das Moment der Übermächtigung des Subjekts und ein daraus resultierender Zustand der Hilflosigkeit sind charakteristisch für die Empfindung des Sublimen. Aber die Übermächtigkeit der Katastrophe bildet auch die Basis heldenhaften Handelns, da gerade hier die Möglichkeit besteht, sich durch außergewöhnliche Taten von der Masse abzuheben und zu demonstrieren, dass der Schrecken überwunden werden kann. In den Bildern des 11. September offenbart sich die Übermacht des Ereignisses u.a. in den Aufnahmen, die einen direkten physischen Größenvergleich zwischen den Rettungskräften und dem Trümmerfeld Ground Zero herstellen. Wo die beiden riesenhaften Schlangen in der Laokoonplastik Sinnbild der Macht der Natur und des Schicksals sind, da wird im Kontext 9/11 die enorme Dimension der Schutthaufen der in sich zusammengestürzten Zwillingstürme zum sinnlichen Verweis auf das unvorstellbare Ausmaß der Katastrophe. Aufnahmen der in den Trümmermassen beinahe zu verschwinden scheinenden Feuerwehrmänner stammen beispielsweise von Ruth Fremson (New York Times) (Abb. 10) und Michael Rieger (Abb. 11). In beiden Fotografien erscheinen die Gestalten der Rettungskräfte inmitten der apokalyptischen Ruinenlandschaft so klein, dass sie oftmals auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind. Das Bild der Fotojournalistin Ruth Fremson ist aus der Vogelperspektive aufgenommen und lässt den Betrachter in einen kraterähnlichen Abgrund auf Ground Zero sowie auf die in den Trümmern arbeitenden Menschen blicken. Am tiefsten Punkt des Kraters, der sich von der Mitte der unteren Bildhälfte bis in die linke untere Bildhälfte erstreckt, ist die Ansammlung von Personen verdichtet, wodurch der Eindruck, dass die Ret-
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tungskräfte sich im Zentrum der Katastrophe befinden, visuell verstärkt wird. Zu allen Seiten erheben sich Schuttmassen, in denen bei näherem Hinsehen ebenfalls vereinzelt Personen zu erkennen sind. In der linken Bildhälfte ragen drei Stahlskelette (Reste der Fassade des World Trade Centers) aus dem Untergrund empor, wobei ihr Verlauf vom oberen Bildrand abgeschnitten wird. Die restlichen Trümmer bestehen aus zerborstenen Teilen der Türme, die sich übereinandergeworfen zu abstrakten Mustern formieren und den gesamten Bildraum ausfüllen. In der unteren linken Ecke der Aufnahme sind Teile von Baugeräten zu erkennen. Das Ausmaß der Trümmerlandschaft lässt nicht nur Menschen winzig erscheinen, sondern stellt auch die Effektivität selbst dieser schweren Geräte in Frage. In dieser Fotografie scheinen Kants Modi des Mathematisch-Erhabenen und des Dynamisch-Erhabenen zu amalgamieren, denn der Schutthaufen kann sowohl im Hinblick auf das Schlechthin-Große als Gefährdung geistiger Existenz betrachtet werden, als auch im Hinblick auf die Gefährdung der physischen Existenz durch Gewalt, die Kant im Dynamisch-Erhabenen betrachtet. Das komplette Ausmaß des Trümmerfeldes kann vom Auge der Kamera, die hier stellvertretend für das Auge des Betrachters steht, nicht in seiner ganzen Dimension und in einem Bild als Ganzes erfasst werden. Die bizarren Muster der Trümmerteile dehnen sich über den Bildrand aus und scheinen sich unendlich fortzusetzen; das absolute Ausmaß der Katastrophe widersetzt sich der Erfassung in einem Bild und assoziiert das Mathematisch-Erhabene. Die Fotografie nur im Hinblick auf diesen Modus des Sublimen zu betrachten, wäre jedoch zu kurz gegriffen, denn der schlechthingroß erscheinende Schutthaufen ist das Ergebnis einer konkreten Gewalteinwirkung und trägt somit die Idee einer Dimension von Gewalt und Schrecken in sich, vor der das Subjekt zunächst hilflos steht und die dem Dynamisch-Erhabenen zuzuordnen ist. Die apokalyptische Trümmerlandschaft dient als sinnlicher Verweis auf die Idee des Unvorstellbaren, wobei sich psychische und physische Grenzerfahrung kaum mehr trennen lassen. Es findet eine Wechselwirkung zwischen der Größe der Trümmer und dessen, was sie repräsentieren (den Schrecken der Terroranschläge) statt, denn – darauf verweist Burke in seiner Philosophischen Untersuchung – „wenn wir mit Dingen von großer Dimension [...] noch die Idee des Schrecklichen verknüpfen, so werden sie unvergleichlich erhabener.“422
422 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 92
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Das Bild fordert einen direkten Größenvergleich zwischen der Dimension des Schutthaufens, Sinnbild des Ausmaßes der Katastrophe, und den Rettungskräften, die die Zerstörung bewältigen müssen. Im Hinblick auf die schiere Größe der Ruinenlandschaft erscheinen Mensch und Maschinen hilf- und orientierungslos, werden visuell von den zerborstenen Teilen des World Trade Centers beinahe absorbiert. Hinzu kommt, dass die Entfernung zwischen Kameraobjektiv und Rettungskräften es kaum möglich macht, zu erkennen, was die arbeitenden Menschen jeweils genau tun, d.h. für den Betrachter sind keine konkreten Handlungen und Aktionen zu erkennen, was den Eindruck der Hilf- und Orientierungslosigkeit verstärkt. In der von der New York Times herausgegebenen Publikation Ins Herz getroffen – Der 11. September und seine Folgen, in der die Fotografie auf einer Doppelseite veröffentlicht ist, wurde folgender Kommentar vom 13. September 2001 hinzugefügt: „Am späten Nachmittag schlugen gewaltige Kräne ihre Greifer wahllos in die Schutthaufen, während Polizisten, Feuerwehrmänner, Soldaten und andere Rettungskräfte den Boden mit Schaufeln und Brecheisen absuchten.“
423
(Her-
vorh. A. B.)
Den Eindruck der Hilflosigkeit angesichts der Dimension der Zerstörung und einer aussichtslos scheinenden Aufgabe, der durch das Bildschema vermittelt wird, spiegelt auch dieser Kommentar wider. Das Bild zeigt als Helden rezipierte Individuen, doch es unterläuft Ideen von Sieg und Erhebung, denn hier kommt eher die Übermächtigkeit der Katastrophe als die Übermächtigkeit des Subjekts zum Ausdruck. Der Held wird einer übermächtig erscheinenden Aufgabe physisch gegenübergestellt, die Frage nach der Bewältigung des Ereignisses bleibt offen. Eine andere Tonalität liegt der im Katalog der Ausstellung Here is New York veröffentlichten Aufnahme von Michael Rieger zugrunde (Abb. 11), mit einem Motiv bzw. Bildschema, das in anderen Fotografien in ähnlicher Form auftaucht. Bei Riegers Bild handelt es sich um die Darstellung zweier Feuerwehrmänner in der Rückenansicht, die von einem Leiterwagen Löscharbeiten auf Ground Zero durchführen. Die Leiter und der sich daraus
423 Dan Barry vom 13.09.2001. Zitiert nach: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 65
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fortsetzende Wasserstrahl bilden eine Diagonale, die die gesamte Bildfläche von unten links bis oben rechts durchläuft. Der nach unten abfallende Wasserdunst überzieht die darunter befindlichen Trümmer wie mit Nebelschwaden. Der Bildhintergrund wird ausgefüllt von aufragenden Fassadenresten des WTC; die Linienstrukturen der Stahlskelette laufen fast senkrecht über den oberen Bildrand hinaus. Wie in Fremsons Aufnahme dehnen sich die Trümmer über den Bildrand aus, wobei der Eindruck der Unendlichkeit bei Rieger durch die linienhafte Struktur der Fassadenteile stärker hervortritt. Der Eindruck der Fortsetzung über den Rand des Bildobjekts hinaus, lässt sich mit Burkes Ausführungen bezüglich der Sukzession von Teilen verbinden: die Gleichartigkeit treibt die Einbildungskraft über ihre Grenzen zur Idee der Fortsetzung ins Unendliche.424 Auch Riegers Fotografie kontrastiert die enorme Größe der Trümmerteile mit der im Vergleich winzig erscheinenden physischen Größe der beiden Personen. Der Wasserstrahl, den sie ausrichten, scheint sich in den Trümmern zu verlieren und ins Leere zu laufen, denn ein Ziel, auf das er ausgerichtet ist, ist für den Betrachter nicht sichtbar. Im Unterschied zur Aufnahme von Ruth Fremson ist hier eine konkrete Handlung der Feuerwehrmänner zu erkennen, so dass eher der Eindruck eines aktiven Widerstandes entsteht. Zudem ist der Blick der Kamera aus einer leichten Froschperspektive auf die Personen gerichtet, was ein aufschauendes Moment suggeriert. Dies wird zusätzlich unterstützt durch die von links nach rechts (der im westlichen Kulturkreis üblichen Leserichtung) aufsteigende Diagonale aus Leiter und Wasserstrahl. Auch in Riegers Aufnahme wird letztlich jedoch kein heroisches Moment dargestellt, das die Erhebung über die Katastrophe andeutet, sondern ein Subjekt, das vor dem Hintergrund der Fassadenskelette gegen die Katastrophe ankämpft aber dennoch durch das ungleiche Größenverhältnis ohnmächtig wirkt. „[D]er Widerstand“, so Schiller, „[...] kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden.“425 In den exemplarischen Bildern von Fremson und Rieger wird die Stärke des Angriffs, dem es nun gilt sich entgegenzustellen, durch das Ausmaß der Trümmerlandschaft repräsentiert, die in beiden Fällen nicht in einem Bild als Ganzes erfasst werden kann.
424 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 111 425 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 55
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Um dem Zuschauer das Gefühl des Sublimen mithilfe der Figur des Helden zu vermitteln, ist die sichtbare Darstellung des Leidens wesentlicher Faktor. Heldenhaft ist für Schiller das Subjekt, das „das Leiden stark und innig fühl[t] und doch nicht davon überwältigt“426 wird. Das Leiden, dem die Feuerwehrleute bei den Rettungsarbeiten ausgesetzt sind, ist in diesen Bildern nicht ersichtlich, da keine individuellen Gesichtsausdrücke zu erkennen sind. Dass sie leiden, ergibt sich jedoch aus dem Kontext der medialen Berichterstattung sowie den vielen anderen Bildern, die von Trauma und Strapazen gezeichnete Rettungskräfte festhalten und in dieser Arbeit der ersten Themengruppe der Heldendarstellungen zugeordnet sind. In der zweiten Bildgruppe kommt vorrangig der aktive Widerstand gegen das Übermächtige des Ereignisses zum Ausdruck, der sich in den Rettungsarbeiten manifestiert. Das ungleiche Größenverhältnis von Subjekt und Zerstörung sowie das Fehlen von erkennbarem Gesichtsausdruck lassen die Frage unbeantwortet, ob das Subjekt vom Leiden überwältigt wird oder nicht, ob es sich um einen Helden im Schiller’schen Sinne handelt oder ob das von der Öffentlichkeit als ‚Held‘ bezeichnete Individuum nicht doch Opfer der Katastrophe ist. Ähnlich wie die Bilder, der ersten Themengruppe, in denen sich die Grenze zwischen Held und Opfer auflöst, widersetzen sich die Aufnahmen der Rettungskräfte inmitten der enormen Schutthaufen der Idee des triumphierenden Helden. Denn auch sie zeigen keine heroischen Posen oder siegreichen Gesten, sondern lassen die Fotografierten hilflos und ohnmächtig im Angesicht der Zerstörung erscheinen. Statt Triumph und Erhebung sind sie Ausdruck des Preises, der für den Heldentitel zu entrichten ist: die Bilder von Rieger und Fremson verweigern sich einer positiven Auflösung und verkünden nicht Überwindung als Versprechen, denn ihr Fokus liegt auf dem ‚Hier und Jetzt‘ der Katastrophenbewältigung. Im Moment der Aufnahme taucht die Bewältigung noch als Frage auf. Zwar lassen diese visuellen Dokumente nicht an Mut, Tapferkeit und Größe der Rettungskräfte zweifeln, doch sie unterlaufen die Idee der Erhebung über das Schreckensereignis und entlarven das Bild des siegreichen (Kriegs-) Helden als artifizielles Konstrukt – als Mythos.
426 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 57
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3.5.2.3 Der Held als politische Leitfigur (Themengruppe 3) Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York haben die Grenze zwischen zivilen und militärischen Zielen aufgelöst. In einer neuen Form des Krieges, bei dem Bilder eine tragende Rolle spielen, lässt sich die Amalgamierung des Zivilen und Politischen bzw. Militärischen auch in der Bildproduktion aufzeigen, die als visuelle Antwort der US-Regierung auf 9/11 zu betrachten sind. Dies kommt in der medienwirksamen Inszenierung des Helden sowie in der gemeinsamen Inszenierung der politischen Führung mit dem Helden besonders zum Ausdruck. Eine Transformation findet statt, in der der Feuerwehrmann durch visuelle und mediale Konstruktion die Grenze vom zivilen Helden zum Kriegshelden überschreitet. Die innerhalb dieser Themengruppe exemplarisch untersuchten visuellen Dokumente verdeutlichen, dass der Held nicht nur eine „purely social creation“427 ist, sondern hier zeigt sich, dass er vielmehr eine ‚politische Kreation‘ ist. Aufgrund ihres Rettungseinsatzes sowie der hohen Anzahl an ‚Gefallenen‘428 in den eigenen Reihen, werden die New Yorker Feuerwehrleute unmittelbar zu zentralen Sympathieträgern in der Öffentlichkeit. Sie rufen durch ihr Handeln eine Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung hervor, die inspiriert wird, durch gemeinschaftliche Anstrengung aktiv an der Bewältigung der Krise mitzuwirken. Auf die Leidenschaft der Sympathie führt Burke zurück „daß wir an den Angelegenheiten der anderen Anteil nehmen, daß wir bewegt werden, wie sie bewegt sind, und daß wir niemals indifferente Zuschauer bei irgend etwas sein können, was andre Menschen tun oder leiden.“429 Diese Wirkung der Sympathie auf den Betrachter lässt sich auch im Kontext der aktuellen Katastrophe nachvollziehen: „If you were in New York then, you saw it in the streets, and not just at ground zero, where countless thousands of good Samaritans joined the official responders and caregivers to help, at the cost of their own health. You saw it as New Yorkers of every kind gathered around the spontaneous shrines to the
427 Sean O’Faolain: The vanishing hero. Studies in novelists of the twenties. London: Eyre & Spottiswoode 1956, S. 14 428 Tatsächlich ist der Begriff „fallen brothers“ als Bezeichnung für im Einsatz verunglückte Feuerwehrleute gebräuchlich. 429 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 78
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fallen and the missing at police and fire stations, at churches and in parks, to lend solace or a hand.“
430
Gerade die Feuerwehrleute verkörpern Verlust und Leiden ebenso wie den aktiven Widerstand gegen das Ereignis bzw. dessen aktive Bewältigung.431 In dieser Verknüpfung von Leiden, Widerstand gegen die Katastrophe und Sympathie ist der Grund zu vermuten, warum sich die FDNYRettungskräfte in besonderem Maße für die medienwirksame Inszenierung auf politischer Ebene bei der Krisenbewältigung eignen und warum sie, ihre Bilder und die Symbole des New York City Fire Department im Rahmen folgender politischer und militärischer Aktionen eingebunden werden. So trug der amtierende Bürgermeister der Stadt New York Rudolph W. Giuliani bei seinem Besuch der Unglücksstelle am 12. September 2001 eine Baseballkappe und Bekleidung mit dem Schriftzug FDNY. Als Präsident George W. Bush und Bürgermeister Giuliani die Unglücksstelle zusammen am 14. September 2001 besuchten, entstand eine Aufnahme (Fotograf: Doug Mills, Associated Press), die beide Politiker zusammen mit Thomas von Essen, dem Chef der Feuerwehr, zeigt (auch hier trug Giuliani die FDNY-Kappe) und die auf der Titelseite der New York Times vom 15. September 2001 erschien.432 Am gleichen Tag entstand eine der Bildikonen des 9/11, als Präsident Bush eine Ansprache an die Rettungskräfte auf Ground Zero hielt, wobei er einen Arm um Bob Beckwith, einen pensionierten New Yorker Feuerwehrmann, der sich als Freiwilliger an den Rettungsarbeiten beteiligte, gelegt hatte (Abb. 12). Diese medial übertragene Ansprache be-
430 Frank Rich: Whatever Happened to the America of 9/12? Veröffentlicht am 10.09.2006 in der Onlineausgabe The New York Times. Quelle: http:// query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9E06E0DC1431F933A2575AC0A9 609C8B63&sec=&spon=&pagewanted=1. Aufgerufen am 14.10.2010. 431 Der englische Begriff „firefighter“ impliziert stärker als die deutschsprachige Übersetzung ‚Feuerwehrmann‘ eine aktive Rolle bzw. das (An-) Kämpfen gegen ein Feuer. 432 Abbildung der veröffentlichten Fotografie von Doug Mills in der Ausgabe der New York Times vom 15.09.2001 siehe: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 58
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einflusste das öffentliche Ansehen des Präsidenten positiv433 und das Standbild der Rede ist zu einer Bildikone geworden.434 Die ikonische Bedeutung dieser Aufnahme ist nicht begrenzt auf die unmittelbaren Geschehnisse des 9/11 sondern besitzt auch Relevanz für die Darstellung der Amtszeit von George W. Bush; dies suggeriert die wiederholte Reproduktion anlässlich des Endes der Bush-Regierung.435
433 Kenneth R. Bazinet von den Daily News bezeichnete die Ansprache als „one of his more famous speeches“ und anlässlich des fünften Jahrestages der Anschläge schrieb der Spiegel Online über Bushs Besuch auf Ground Zero am 14. September 2001: „Das war der Tag, an dem er auf die Trümmer stieg und, mit einem Megafon in der Hand, al-Qaida den Krieg erklärte. Der Tag, an dem er die Herzen der Amerikaner eroberte, selbst die seiner Gegner. Der Tag, an dem er die Nation hinter sich vereinte, seine Popularität auf seither unerreichter Höhe.“ Marc Pitzke: Die Zeit steht still am Ground Zero. Veröffentlicht im Spiegel Online am 11.09.2006. Quelle: http://einestages. spiegel.de/static/topicalbumbackground/141/die_zeit_steht_still_am_ground_ zero.html. Aufgerufen am 30.09.2010. Für das Zitat aus den New York Daily News siehe: Kenneth R. Bazinet: Retired FDNY hero Bob Beckwith, with President Bush on the Ground Zero pile, will be at last speech. Veröffentlicht am 15.01.2009 auf NYDailyNews.com. Quelle: http://www.nydailynews.com/ ny_local/2009/01/15/2009-01-15_retired_fdny_hero_bob_beckwith_with_ pres.html. Aufgerufen am 08.10.2011. 434 Vgl.: Iconic figures from Sept. 11: Where are they now? (ohne Datum), veröffentlicht unter der Rubrik 9/11: Nine Years Later auf msnbc.com. Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/39038466/. Aufgerufen am 03.10.2010. Da es sich ursprünglich um eine audiovisuell übertragene Rede – d.h. um eine Sequenz bewegter Bilder – handelt, gibt es verschiedene Standbilder daraus, die auch in Printmedien reproduziert worden sind. Die Einzelbilder weisen (leichte) Unterschiede in Perspektive und Bildausschnitt auf. Der Begriff ‚Ikone‘ bezieht sich daher – anders als bei Franklins Aufnahme der Flaggenhissung – weniger auf ein spezifisches Einzelbild als auf das Bildmotiv dieser Rede generell. 435 Vgl.: Rückblick: Acht Jahre George W. Bush (ohne Verfasser). Veröffentlicht auf Focus Online am 31.10.2008. Quelle: http://www.focus.de/politik/ ausland/uswahl/rueckblick-acht-jahre-george-w-bush_did_20945.html.
Auf-
gerufen am 30.09.2010. Auch in den New York Daily News wurde eine Auf-
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Gerade im Kontext eines Ereignisses, dessen Schrecken und Gewalt durch das Bild potenziert worden sind, bedarf es einer visuellen Antwort der der US-Regierung und so ist der Inszenierung zusammen mit dem Helden als Sympathieträger eine wesentliche Signalfunktion zuzuschreiben, deren Botschaft sich an die eigene Bevölkerung sowie an die Weltöffentlichkeit richtet. Stärke und Durchhaltevermögen der New Yorker und der gesamten US-Nation im Angesicht der Katastrophe sollten sichtbar gemacht werden: „[...] President George W. Bush stood with a bullhorn in one hand and his arm around retired New York City Fire Department firefighter Bob Beckwith – instantly making Beckwith an iconic image of the nation’s strength and resilience in the wake of the attacks.“
436
(Hervorh. A. B.)
Die Ansprache des Präsidenten ist nicht nur als eine an die Rettungskräfte adressierte Motivations- und Dankesrede zu verstehen, sondern auch als ei-
nahme der Ansprache vom 14.09.2001 nochmals am 15.01.2009 veröffentlicht anlässlich Bushs letzter Ansprache an die Nation als amtierender Präsident der Vereinigten Staaten. Das Foto wurde folgendem Artikel hinzugefügt: Bazinet: Retired FDNY hero Bob Beckwith, with President Bush on the Ground Zero pile, will be at last speech. Veröffentlicht auf NYDailyNews.com am 15.01.2009. Aufgerufen am 29.09.2010. Ebenfalls anlässlich der dem Ende zuneigenden Regierungszeit
Bushs,
schrieb
Olivia
Schoeller, USA-
Korrespondentin der Berliner Zeitung, über die Wirkung seiner Ansprache vom 14.09.2001: „New York war wie erstarrt [...]. Es herrschte Endzeitstimmung. Amerika fehlten die Worte. Bushs Rede gab damals Mut. [...] Neunzig Prozent seiner Landsleute standen hinter ihm. Die Amerikaner sahen in ihm die Leitfigur, die sie in den ersten Monaten seiner Amtszeit vermissten. Er sah sich fortan als Führer der freien Welt im ‘Krieg gegen den Terror‘.“ Olivia Schoeller: Mission erfüllt. Veröffentlicht in der Onlineausgabe der Berliner Zeitung vom 31. Oktober 2008, S. 3. Quelle: http://www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/1031/seite3/0001/index.html. Aufgerufen am 03.10.2010. 436 Iconic figures from Sept. 11: Where are they now?, veröffentlicht auf msnbc.com. Aufgerufen am 03.10.2010.
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ne Kriegserklärung,437 in der er implizit militärische Konsequenzen ankündigte. Dass Beckwith während der gesamten Dauer der Ansprache neben ihm stand, lässt ein kalkuliertes Medienkonzept vermuten, denn Beckwith war von Bush explizit dazu aufgefordert worden, während der Rede an seiner Seite zu bleiben.438 Der zivile Feuerwehrmann, repräsentativ für die Gruppe von zentralen Sympathieträgern, mit Heldentum assoziiert, wird visuell eingebunden in eine Botschaft mit militärischem Inhalt. Die Vermutung liegt nahe, dass dem demonstrativen ‚Seite-an-Seite‘ die Intention einer Wechselwirkung zugrunde liegt, in der der Rückhalt, den der Held in der Bevölkerung genießt, sich auf die US-Regierung und bevorstehendes militärisches Handeln übertragen sollte. Die Instrumentalisierung und Inszenierung der Symbole des New York City Fire Department wurde anschließend bei konkreten militärischen Aktionen fortgesetzt, zum Beispiel während der Kriegsführung in Afghanistan: „[...] [I]n diesen ersten Wochen des Krieges gaben die Bilder von Bombern, die verziert mit den Emblemen der New Yorker Feuerwehr aus großer Höhe die Trainingslager der al-Qaida in Schutt und Asche legten, den Amerikanern das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde.“
439
(Hervorh. A. B.)
Die FDNY-Symbole fungieren dabei als sinnlicher Verweis und stete Erinnerung an das nationale Trauma 9/11, das den Rezipienten hier im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen gehalten wird. Die Symbole stehen für das widerfahrene Leid und für Heldentum gleichermaßen, sie dienen als Verweis auf die Ursache der militärischen Aktionen und ihre Rechtfertigung. Die Symbolik des zivilen Alltagshelden wird eingesetzt, um den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern: das positive Image der New Yorker Feuer-
437 Vgl. dazu: Marc Pitzke: Die Zeit steht still am Ground Zero, veröffentlicht im Spiegel Online am 11.09.2006. Aufgerufen am 30.09.2010. 438 Siehe dazu: Sibylle Salewski: New Yorker Feuerwehrmann: Held der Nation. Veröffentlicht in der Onlineausgabe Der Tagesspiegel vom 22.09.2001. Quelle: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/new-yorker-feuerwehrmann-heldder-nation/258054.html. Aufgerufen am 04.07.2011. 439 Celestine Bohlen: Die Folgen in Amerika (S. 98-99). In: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen, S. 98
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wehrleute soll sich auf den „Krieg gegen den Terror“ übertragen und so wird der zivile Held zum Kriegshelden transformiert. Das heroische Individuum dient in Schillers Pathetischerhabenem zur Versinnbildlichung von Anleitungen zum ‚richtigen‘ Handeln in Krisensituationen, durch das sich der Zuschauer seiner moralischen Selbstständigkeit bewusst werden kann. Doch anders als Schillers Konzept, dem eine erzieherische Motivation zugrunde liegt, ist die massenmediale Inszenierung von Helden weitaus kritischer zu betrachten. Denn statt des erzieherischen Gedankens geht es hier vielmehr darum, den Rückhalt in der Bevölkerung für bevorstehendes Handeln zu sichern. So setzen sich die visuelle Konstruktion und Inszenierung der zivilen 9/11-Helden im politischen und militärischen Zusammenhang dem Verdacht der Meinungsbeeinflussung aus. In diesem spezifischen Kontext der Instrumentalisierung des heroischen Subjekts wird deutlich, warum eine Verlagerung vom toten oder sterbenden Helden hin zum (über-) lebenden stattfinden muss. Denn es sind die Überlebenden, die sich zur sichtbaren, medienwirksamen Inszenierung bei audiovisuell übertragenen Ansprachen und zur Übermittlung von Botschaften mit aufrichtender Intention eignen. Der lebende Held wird in diesem Falle zum Symbol der gemeinschaftlichen Anstrengung, der Stärke einer ganzen Nation, des Durchhaltens und somit zur Leitfigur für das in der Krisensituation ‚richtige‘ Handeln. Die Möglichkeit der Ausbalancierung des Leidens bietet für Schiller der Tragödienheld, um zu vermeiden, dass der Zuschauer die Grenze vom „Mit-leiden“440 zum „Selbst-leiden[...]“441 überschreitet: „Durch [...] heroischerhabene[...] Charaktere soll verhindert werden, daß der Affekt des Mitleids den Zuschauer überwältigt. Wenn [...] auf der Bühne dargestellt wird, wie der Tragödienheld sein Leiden aus geistiger Selbstständigkeit beherrscht, dann wird auch der Zuschauer nicht durch das erregte Mitleiden mit dem Helden beherrscht werden, er wird vielmehr durch die objektive Darstellung der erhabenen Freiheit des Helden dazu herausgefordert werden, sich seine eigene subjektive Gemütsfreiheit spontan bewußt zu machen.“
442
(Hervorh. i.O.)
440 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 166 441 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 166 442 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 167
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Ein zu hohes Maß an Leiden würde den Zuschauer handlungsunfähig machen und so dient der tragische Held zur Verkörperung der Idee, dass eine Bewältigung des Leidens möglich ist. Für 9/11 ist die Darstellung der Bewältigung der Krise als politische Botschaft von zentraler Bedeutung und auch hier wird die Figur des Helden in der Uniform der New Yorker Feuerwehr zum Ausdruck der Beherrschung der Katastrophe. Zwar wird der Feuerwehrmann mit der Tragik des Ereignisses assoziiert und zu einem Referenzpunkt des Mitgefühls, doch wirkt er durch seinen unermüdlichen Rettungseinsatz als Vorbild motivierend auf eine verunsicherte Bevölkerung. Susan Sontag betrachtet das Mitgefühl, das der Betrachter beim Anblick von Schreckensbildern empfindet, als eine „instabile Gefühlsregung“, die ihre Kraft einbüßt, wenn sie nicht in konkretes Handeln umgesetzt wird.443 Im Falle der Bilder, die den Feuerwehrmann in eine politische Botschaft einbinden, fügen sich die Aspekte des Mitgefühls und des Handelns zusammen, denn es geht darum, durch Mitgefühl und Identifikation, Akzeptanz und Rückhalt für die Politik zu erzeugen. Der Held wird zum politischen Sinnbild der Handlungsfähigkeit einer Regierung und einer Nation. So ist die Bildikone vom 14. September 2001 auch als visuelle Manifestation der Rhetorik der US-Regierung zu betrachten. Die Inszenierung gemeinsamer Auftritte muss kritisch betrachtet werden, denn anders als bei Schiller, dem es stets um die Inszenierung des Künstlichen geht, wird mit Hilfe der Massenmedien ein Stück Realität inszeniert. Bei 9/11 handelt es sich um eine reale Katastrophe und um reale Menschen, derer man sich nun bedient, um politische Botschaften möglichst medienwirksam zu inszenieren. So wird der heroische Mensch letztlich zu einem (Bild-) Objekt. Die „Willenshandlung“444, die essenziell für Schiller ist, muss im Hinblick auf das (Medien-) Bild differenziert betrachtet werden: denn bedeutet die „Willenshandlung“, die damit verknüpft ist, sich bei einem Rettungseinsatz einer Gefahr auszusetzen und sein eigenes Leben zu opfern, auch die Zustimmung dazu, sich medial als Held inszenieren zu lassen? Ist also auch die mediale Inszenierung letztlich eine „Willenshandlung“ oder wird das Individuum als Held zu einem Objekt und verliert einen Teil seiner Selbstbestimmung?
443 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 118 444 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 70
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Die Darstellung des Helden als Leitfigur, die die Idee der Erhebung einer gesamten Nation in sich trägt und als politische Botschaft kommuniziert wird, verweist auf traditionelle Konzepte des Sublimen, deren Fokus letztlich auf der Stärkung des Subjekts liegt. Das katastrophische Ereignis tendiert dabei zu einer Kulisse zu geraten, vor der ein Held in Szene gesetzt werden kann. Dies ist im Rahmen realer Katastrophen jedoch als äußerst problematisch zu betrachten, da es die Gefahr der Verharmlosung des Ereignisses birgt. 3.5.2.4 „Hunks“, Pin-ups und Superhelden: FDNY Calendar of Heroes 2003 (Themengruppe 4)
„What is it like to be referred to as a pinup boy when you do such serious work protecting the rest of us here?“
445
Paula Zahn, CNN Nachrichtensprecherin
Eine Variante der Heldendarstellung findet sich im FDNY Calendar of Heroes 2003. Es handelt es sich um einen Kalender, der seit 1996 jährlich vom Fire Department New York veröffentlicht wird und dessen Erlös dem Fire Safety Education Fund zugutekommt. Ehemals unter dem Titel Firehouse Hunks446 herausgegeben, wurde der Kalender, für den Feuerwehrmänner mit freien Oberkörpern vor dem Stadtbild New Yorks als Models posieren, für die 2003-Auflage in Calendar of Heroes umbenannt.447 Die Publikation für 2002 war ausgesetzt worden wegen der Anschläge vom 11. September, bei denen auch drei der posierenden Feuerwehrmänner ums
445 Zitiert nach Transkript („rush transcript“): CNN American Morning with Paula Zahn: Firefighters Who Posed for Calendar Discuss More Serious Tone. Gesendet am 01.07. 2002, 08:17 Uhr EST. Quelle: http://transcripts.cnn.com/ TRANSCRIPTS/0207/01/ltm.10.html. Aufgerufen am 21.09.2010. 446 Der Begriff „hunk“ wird im amerikanischen Englisch als umgangssprachlicher Ausdruck für einen attraktiven Mann verwendet. 447 Vgl.: NY1 News: Firefighter Calendar, Including Three Killed In WTC, Goes On Sale. Fernsehbericht von Rebecca Spitz vom 30.06.2002. Quelle: http:// www.ny1.com/?SecID=1000&ArID=22710. Aufgerufen am 23.08.2010.
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Leben gekommen waren. Nachdem jedoch deren Familien die Veröffentlichung der Bilder befürwortet hatten, wurde der Kalender inklusive der Aufnahmen der drei verstorbenen Männer Robert Cordice, Thomas Foley und Angel Juarbe schließlich für das Jahr 2003 publiziert. Jedes dieser drei Bilder wurde mit einer schwarzen Trauerschleife und einer Widmung der Mütter versehen, die „alle [...] mit der Erklärung [endeten; A. B.], dass es für ihn ‘aufregend‘ war, für diesen Kalender ausgewählt worden zu sein.“448 Die Untersuchung der Kalenderaufnahmen offenbart einen artifiziellen Prozess, der das Individuum in einen Überhelden, den sprichwörtlichen Superhelden, transformiert und durch die visuelle Fokussierung auf Vitalität und Stärke dazu tendiert, das tragische Schicksal zu negieren. In einem CNN-Interview anlässlich des Verkaufsstarts des Kalenders sagte Ed McNulty, „Mr. Februar 2003“, über die Veröffentlichung der Bilder seiner drei toten Kollegen: „We all knew them and just don't want them to be forgotten. And it just feels good that they'll be always in this calendar and the families will know that […][.; A. B.] I mean they were at their prime. They look great. They were 449
great guys. And that's the way they'll be remembered [...]“.
(Hervorh. A.
B.)
Die Kalenderbilder sind vor allem eines: idealisierte Darstellungen von Helden. „Die Menschen“, so Susan Sontag, „wollen das idealisierte Bild: ein Foto, das sie von ihrer ‚besten Seite‘ zeigt.“450 Sontag bezieht dies zunächst nur auf die fotografierte Person, doch lässt sich ihre Feststellung im Hinblick auf den Calendar of Heroes 2003 erweitern: zum einen sind es die Kalendermodels, die sich von ihrer besten Seite zeigen wollen und ihre äußere Erscheinung für die Aufnahmen (künstlich) formen. So erzählte beispielsweise Patricia Foley, die Mutter des verstorbenen Thomas Foley, bei
448 Tom Foley (ohne Verfasser). In Der Spiegel 32/2002. Quelle: Spiegel Online vom 05.08.2002, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-23740266.html. Aufgerufen am 21.09.2010. 449 Zitiert nach Transkript („rush transcript“): CNN American Morning with Paula Zahn: Firefighters Who Posed for Calendar Discuss More Serious Tone. Aufgerufen am 21.09.2010. 450 Sontag: Der Heroismus des Sehens, in: Sontag: Über Fotografie, S. 84
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der Veröffentlichung des Kalenders, wie ihr Sohn sich auf das Fotoshooting vorbereitet hatte: „‘He was very excited about the calendar coming out’ […]. ‘He worked very hard for three months eating chicken and rice to get himself ready and build that body.’“
451
(Hervorh. A. B.)
Zum anderen sind es aber auch die Familien und Kollegen der drei Männer sowie die Käufer des Kalenders, die einen Teil der „Volksphantasie“452 ausmachen und danach streben, die Verstorbenen in idealisierter Form zu erinnern. Als Grundlage dient der „Volksphantasie“453 für ihre Erinnerungsarbeit hier ein konstruiertes und idealisiertes Image der Fotografierten, weniger das authentische Abbild der realen Person. Die Bildoberfläche zeigt Schönheit bzw. ein männliches Schönheitsideal: junge, vitale Männer, die lächelnd für die Kamera posieren und deren Bilder – davon kann vor dem Hintergrund einer heutzutage üblichen Praxis der Bildbearbeitung ausgegangen werden – in der Nachbearbeitung der Fotografien nochmals perfektioniert wurden. So sind es die überperfektionierten und idealisierten Abbilder, die als öffentliche Masken der Verstorbenen fungieren und nun im Kalender als Memorabilia dienen. Die Darstellung erinnert an die von Heiligen in der traditionellen Ikone, denn sie lassen trotz des tragischen Ereignisses keinen Anschein von Angst oder Schmerz erkennen. Doch unter der Oberfläche der Maske von Schönheit und Perfektion offenbart sich ein Abgrund, da diesen Bildern auch eine Gewalt inhärent ist, die die Fotografierten entmenschlicht und in Objekte verwandelt.
451 Zitiert nach: McQuillan: 9-11 firemen in hunks calendar. Aufgerufen am 21.09.2010. Siehe auch das am 01.07.2002 in einer CNN-Morgensendung ausgestrahlte
Interview,
das
Paula
Zahn
mit
den
beiden
Model-
Feuerwehrmännern Ed McNulty und Tom Caruso führte: Transkript („rush transcript“): CNN American Morning with Paula Zahn: Firefighters Who Posed for Calendar Discuss More Serious Tone. Aufgerufen am 21.09.2010. 452 Linares: Der Held, S. 21 453 Linares: Der Held, S. 21
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Die Aufnahmen für den Kalender entstanden vor dem 11. September, der „Grund-Begebenheit“454 für den Heroisierungsprozess, zu einem Zeitpunkt, als die Feuerwehrmänner noch nicht zu 9/11-Helden geworden waren. Dies bedeutet einen Bruch mit dem traditionellen Heroisierungsprozess und auch mit Schillers Auffassung des Helden. Denn, und dies verbildlicht Laokoon, erst im Moment physischer Bedrängnis kann sich die moralische Natur des Menschen bewähren.455 Leiden und Todeskampf können in den Fotos der drei Männer noch nicht existent sein und so fixieren die Bilder die zukünftigen „heroes“ als „hunks“ und ausschließlich im Hinblick auf ihre „starke Vitalität“456. Durch den 11. September und ihren Tod haben sie posthum in der öffentlichen Wahrnehmung die Wandlung vom „hunk“ zum „hero“ durchlaufen; deutlich wird dies auch durch die Umbenennung des Kalenders von Firehouse Hunks in Calendar of Heroes. Trotz des grundlegend veränderten narrativen und kommunikativen Kontexts sind die Kalenderbilder an sich unverändert geblieben. Auch wenn Trauerschleifen und Widmungen der Mütter den Abbildungen hinzugefügt wurden, wird die Erinnerung der Verstorbenen vor allem durch Vitalität, Lebendigkeit und physischen Perfektion geprägt. Zwar dient die Trauerschleife als Symbol für den Tod, doch in den Figuren der Fotografierten selbst finden sich keine Spuren der Katastrophe. In diesen Bildern, die sich an der Oberfläche gefällig zeigen, offenbart sich ein Paradox der Heldenkonstruktion: als „hunks“ aufgenommen, dann aber als „heroes“ inszeniert, obwohl die Aufnahmen die Personen in prä-heroischem Zustand zeigen. Die Fotografien, die als authentisches Abbild der Realität rezipiert werden, fixieren die Toten als ewig schöne, lebendige Ideale; sie bauen die nicht-realistische Fassade eines medialen (Helden-) Images auf, die keinerlei Anzeichen auf das tragische Schicksal dieser Männer enthält. So ist ihnen ein unauflösbarer Widerspruch inhärent, in dessen Zentrum sich die Frage nach Realität und Fiktion, nach Wirklichkeit und Schein befindet. Eine Wechselwirkung entsteht zwischen der fotografierten Person, dem fotografischen Artefakt und dem Betrachter, der das Bild in einen spezifischen Deutungskontext – in diesem Fall den des 11. September 2001 – einordnet. Dabei ist die Leistung des Betrachters, der das Gesehene auflädt
454 Linares: Der Held, S. 15 455 Vgl.: Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“, S. 137 456 Linares: Der Held, S. 13
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und interpretiert, im Laufe der Zeit immer bedeutender geworden: wo die herkömmliche Vorstellung der Wirksamkeit eines Bildes noch davon ausgeht, dass sich die Eigenschaften der realen Gegenstände dem Bild einschreiben, da tendiert der zeitgenössische Betrachter zunehmend dazu, die Qualitäten des Bildes auf die realen Gegenstände zu projizieren.457 Für die Ikonodulen des Mittelalters übernahm die Ikone die Funktion der heutigen Fotografie, die aufgrund reflektierter Lichtwellen stets „eine materielle Spur ihres Gegenstands [ist; A. B.] wie es ein Gemälde niemals sein kann.“458 In den Kalenderbildern der Verstorbenen, unabhängig von der Frage nach der Authentizität der Darstellung, sind ihre materiellen Spuren eingeschrieben – das Urbild selbst ist im Abbild gegenwärtig. So halten diese Bilder einerseits immer Spuren des Lebendigen fest, andererseits fungieren sie als memento mori und repräsentieren gleichermaßen das Diesseitige wie das Jenseitige. Für Susan Sontag ist die Fotografie seit je her mit dem Aspekt des Todes verknüpft. Sie begreift das von der Kamera produzierte Bild als die Spur dessen, das sich vor dem Objektiv befunden hat, weshalb sie der Fotografie beim Erinnern der Vergangenheit oder verstorbener Personen einen weitaus höheren Stellenwert einräumt als dem gemalten Bild.459 Impliziert wird hier die Verklärung der Erinnerung an Verstorbene, die man in möglichst ‚guter Erinnerung‘ behalten möchte, was vor allem mit Merkmalen wie Lebendigkeit, Schönheit, Stärke etc. gleichgesetzt zu werden scheint. Der Prozess einer ästhetisierten und idealisierten Erinnerung an die toten FDNY-Helden spiegelt mit fortschreitender zeitlicher Distanz zur Katastrophe einen Trend wider, den Stephanie Bunk im Hinblick auf das visuelle Gedenken des Ereignisses allgemein diagnostiziert. Sie stellt fest, dass bereits am zweiten Jahrestag des 9/11 „kaum noch Fotografien gezeigt [werden; A. B.], die über einige wenige sehr repräsentative Motive hinausgehen. Man sieht vor allem Bilder des Wiederaufbaus, der Helfer, jedoch keine Toten und keine Gewalt [...].“460 In diesem Kontext ist die Veröffentlichung der überästhetisierten Heldenbilder im Calendar of Heroes 2003 als
457 Vgl.: Sontag: Die Bilderwelt, in: Sontag: Über Fotografie, S. 151 458 Sontag: Die Bilderwelt, in: Sontag: Über Fotografie, S. 147 459 Vgl.: Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 31 460 Bunk: Eine Demokratie der Fotografien, in: Lorenz (Hrsg.): Narrative des Entsetzens, S. 52
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konsequent zu erachten, denn auch hier wird Leiden zugunsten der Darstellung von Vitalität ausgeblendet. Für das moderne Denken ist charakteristisch, dass menschliches Leiden mit Fehlerhaftigkeit assoziiert wird: „[e]twas, das repariert, in Ordnung gebracht werden muß. Etwas Abzulehnendes. Etwas, das uns die eigene Ohnmacht spüren läßt.“461 Im Gegensatz zu Schillers Held, der menschliches Leiden dem Betrachter vermitteln und es ihn – wenn auch in Maßen – selbst spüren lassen soll, lässt die Ausblendung von Schmerz und Tod, wie sie den Kalenderbildern zugrunde liegt, auf eine Verweigerung schließen. Statt Leiden wird dem Betrachter ein ästhetisierter Konsumartikel dargeboten, der in Form gefälliger Dekoration die Konfrontation mit unangenehmen Anblicken vermeidet. Ohne den „Fehler“462 des Leidens, bedienen die Aufnahmen den Voyeurismus der Käufer, die das traumatische Ereignis und seine Helden fortan in hyperästhetisierter und verklärter Form erinnern können. Das Bild wird hier nicht zum Mittel der Generierung von Erfahrung menschlichen Leidens sondern vielmehr zum Schutzschild davor. Durch die Veröffentlichung des Calendar of Heroes 2003 werden die Kalenderbilder dem öffentlichen Erinnerungsprozess zugeführt, in dem die drei Verstorbenen in ihrer idealisierten Erscheinung fortan wie Superhelden oder Medienstars463 erscheinen und unterscheiden sich vom leidenden Helden Schillers. In seiner Definition des traditionellen Heros beschreibt Linares den Prozess der Entmenschlichung des Helden durch die „Volksphan-
461 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 115 462 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 115 463 In diesem Kontext ist auch relevant, dass beispielsweise Thomas Foley und Angel Juarbe schon zu Lebzeiten Medienpräsenz aufwiesen: so brachten Rettungsaktionen Thomas Foley im Rahmen seiner Berufstätigkeit ins Fernsehen; darüber hinaus traten er und Angel Juarbe in TV-Reality Shows bzw. als TVSerienhelden auf. Diese mediale Präsenz wird auch in ihrem Andenken stark betont. Siehe dazu z.B.: Westchester Community College Foundation (Hrsg.): Remembering those we lost on 9/11 (ohne Verfasser). In: Alumnews 12/2007, Valhalla,
New
York.
Quelle:
http://www.sunywcc.edu/alumni/alum
news08.pdf. Aufgerufen am 10.07.2011 und Melissa Worden: ‚Small Town X‘ winner among the missing in NYC. Veröffentlicht am 20.09.2001 auf USATODAY.com. Quelle: http://www.usatoday.com/life/2001-09-20-angeljuarbe.htm. Aufgerufen am 10.07.2011.
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tasie“464, die ihn im Laufe der Zeit durch Vergöttlichung seiner Menschheit beraubt und ihn somit außerhalb der menschlichen Gesellschaft projiziert. Die ‚Vergöttlichung‘ bzw. Entmenschlichung der drei verstorbenen Feuerwehrmänner ist auch den Kalenderbildern inhärent, denn sie werden hierin zu Kult-Objekten: in der Perfektion der visuellen Hochglanzpräsentation und der Darstellung ihrer physischen Makellosigkeit werden sie zu Objekten der Verehrung, gleichzeitig aber auch zu Konsumartikeln und so dem Strom konsumierbarer Massenwaren zugeführt. Wo die Vitalität des sich im Todeskampf windenden Laokoon suggeriert wird durch den muskulösen Körperbau, der im tragischen Kampf gegen das unabwendbare Schicksal hervortritt,465 und das Leiden in der Darstellung eine Ästhetisierung erfährt, da wird der 9/11-Held hier auf seine Vitalität reduziert, die zum Merkmal des „hero“ per se wird. Die Ästhetisierung menschlichen Leidens bewirkt die Ausblendung und Negation des Todes, was den Anschein der Überwindung des Leidens suggeriert – die spezifische Repräsentation erzeugt so den Eindruck der Erhebung über die Katastrophe. Die massenmediale visuelle Konstruktion des 9/11 und seiner Helden verkehrt Linares Aussage, dass es keine lebenden Heroen gibt, in ihr Gegenteil: in den Bildern gibt es keine toten (oder mit dem Tod ringenden) Helden. Das heroische Individuum wird als „hunk“ bzw. Pin-up dargestellt und sein tragisches Schicksal dient letztlich der Steigerung von Verkaufszahlen: der leidende Held wird zur gefälligen, medienkompatiblen und der eigentlichen Tragik beraubten ‚Konsumware Held‘466 – das Leiden
464 Linares: Der Held, S. 21 465 „Die Regung dieser Muskeln ist am Laokoon über die Wahrheit bis zur Möglichkeit getrieben, und sie liegen wie Hügel, welche sich ineinander schließen, um die höchste Anstrengung der Kräfte im Leiden und Widerstreben auszudrücken.“ Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Hrsgeg. von Ludwig Goldscheider (vollständige Ausgabe), Wien: Phaidon 1934, S. 162 466 Schon vor der Veröffentlichung des Kalenders schien man die verkaufsfördernde Wirkung der Bilder der drei verstorbenen Männer zu erahnen: „While past calendars have sold about 10,000, there are hopes the latest edition will sell 500,000.“ (McQuillan: 9-11 firemen in hunks calendar. Aufgerufen am 21.09.2010.) Tatsächlich ist der Calendar of Heroes 2003 die bislang beliebteste Ausgabe der Kalenderserie. (Vgl.: Cary Hazlegrove: Smoking hot fire-
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ist hier nicht Lehrstück sondern dient vielmehr als verkaufsförderndes Argument. In der antiken Laokoongruppe erfährt das Menschliche eine Übersteigerung bis an die Grenzen des Göttlichen,467 doch wird hier noch das Leiden in Form des Todeskampfes selber thematisiert. In den Kalenderbildern hingegen ist das Leiden absent, lediglich die nachträglich aufgedruckten Trauerschleifen entlarven die augenscheinliche Vitalität an der glänzenden Oberfläche als Täuschung. Trauerschleifen und Widmungen der Mütter der drei Verstorbenen tragen darüber hinaus zur Emotionalisierung der Bilder bei, durch die dem Rezipienten/ Käufer eine bestimmte Gefühlslage und ein vordefinierter Interpretationsrahmen der Fotografien vorgegeben werden. Ein nationales Trauma und emotionales Ereignis in der Geschichte der USA, bei dem die Medien eine tragende Rolle spielten, stellt auch die Ermordung John F. Kennedys dar. Die mediale Berichterstattung dieses Ereignisses hat der Pop Art-Künstler Andy Warhol kritisiert, mit folgenden Worten, die sich auch in Bezug zum Calendar of Heroes 2003 setzen lassen: „What bothered me was the way the television and radio were programming everybody to feel so sad.“
468
(Hervorh. A. B.)
fighters calendar (ohne Datum). Veröffentlicht in der Onlineausgabe der ABC News. Quelle: http://abcnews.go.com/GMA/popup?id=2257685. Aufgerufen am 20.07.2011.) Über die Plattform Amazon können gebrauchte Exemplare der 2003-Ausgabe des Kalenders, die ursprünglich $14,99 kostete (vgl. http://www.ny1.com/content/top_stories/22710/firefighter-calendar--including -three-killed-in-wtc--goes-on-sale-) derzeit zu Preisen zwischen $50 und $155,06 erworben werden. Vgl.: http://www.amazon.com/gp/offer-listing/ 0933477082/ref=dp_olp_used?ie=UTF8&condition=used.
Aufgerufen
am
10.07.2011. 467 Die Überhöhung menschlicher Züge, die sich in der Darstellung des Heroen dem Göttlichen annähern, kommt bei Winckelmann expliziter als bei Schiller zum Ausdruck. Vgl. dazu: Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, S. 161 468 Andy Warhol, Pat Hackett: POPism: The Warhol ‘60s. New York; London: Harcourt Brace Janovich 1980, S. 60
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Auch die FDNY-Kalenderfotografien sind Objekte artifizieller Emotionalisierung durch die Medien (wobei der Kalender selbst als Medium begriffen wird), die eine Gefühlslage beim Rezipienten ‚programmieren‘. Dieser Prozess in sich ist jedoch zutiefst widersprüchlich: denn ein real tragisches menschliches Schicksal (d.h. ein Schicksal, das ohne zusätzliche Emotionalisierung an sich schon tragisch ist) wird künstlich emotionalisiert; gleichzeitig ist die eigentliche Tragik durch die Überlagerung mit Vitalität und Perfektion im Bild ausgeblendet. Letztlich dient das Pseudo-Pathetische hier zur Konstruktion eines medienkompatiblen Heldenimages. Im Informationszeitalter ist es nicht mehr allein die primäre Gewalt des tragischen Ereignisses, die der Held durchleiden muss, sondern zusätzlich die sekundäre Gewalt durch das Bild und die Medienindustrie, der er sich nicht erwehren kann. Der Aspekt der Gewalt und der dadurch ausgeübten Macht über das Individuum steht im Zentrum des Schrecklich-Erhabenen und wird epochenübergreifend in unterschiedlichen Interpretationen des Sublimen thematisiert, wobei die Quelle der Gewalt Veränderungen unterworfen ist. In der Aufklärung ist es die Naturgewalt, die als das Andere von außen auf den Menschen einwirkt, während die Postmoderne den Menschen selber sowie dessen technologische Errungenschaften in Frage stellt. Bei der Gewalt, die dem fotografierten Subjekt durch die Fixierung im Bild angetan wird, handelt es sich um eine Gewalt, die aus dem Inneren der Gesellschaft selbst entsteht: durch die Medien und durch das, was Linares als „Volksphantasie“469 bezeichnet. Vor allem Susan Sontag verbindet den Akt des Fotografierens mit Gewalttätigkeit gegenüber fotografisch festgehaltenen Personen: „Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst nie erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.“
470
Zwar wurde die Entscheidung, für den Kalender zu posieren, bewusst von den Feuerwehrmännern gefällt und sie wussten, dass ihre Bilder im Kalender publiziert werden würden. Aber, als der Kalender schließlich veröffent-
469 Linares: Der Held, S. 21 470 Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 20
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licht wird, stehen ihre Aufnahmen in einem vollkommen veränderten Zusammenhang, bedingt durch die Anschläge des 11. September.471 Zu dem Zeitpunkt, als sie sich fotografieren ließen, sahen sie ihre Aufnahmen im Kontext des „hunk“ – bei der Veröffentlichung, die sie selber nicht erlebten, werden sie als „heroes“ vermarktet. Die Frage, ob sie selber der Veröffentlichung ihrer Aufnahmen auch nach 9/11 weiterhin zugestimmt hätten, bleibt letztlich ungeklärt. Nach dem primären Gewaltakt der Terroranschläge erfahren die Männer zusätzlich eine sekundäre Gewalt durch das Bild. Der Veröffentlichung und Instrumentalisierung ihrer Aufnahmen gegenüber sind sie wehrlos, denn es sind Andere, die nun den Kontext bestimmen, in dem die Fotografierten betrachtet werden und die die Aufnahmen einem Strom an Bildern zuführen, dessen Quelle ein stark über Bilder und Informationsmedien geführter Krieg ist. Nicht der Held per se muss in diesen Darstellungen hinterfragt werden, denn dass die ums Leben gekommenen Rettungskräfte als tapfer und heldenhaft zu bezeichnen sind, wird nicht in Frage gestellt. Vielmehr muss das Phänomen der „Volksphantasie“472, das im Informationszeitalter an die Massenmedien und somit unweigerlich an das Bild sowie Bildinszenierung geknüpft ist, einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Denn es sind vor allem die Bilder des „sichtbaren, aktiven Anteil des [Bild- ; A. B.] Archivs“473, die verstärkt im öffentlichen Raum reproduziert die Erinnerung an Ereignisse sowie Menschen maßgeblich generieren, formen, steuern und aufrechterhalten.
471 „Da jede Fotografie nur ein Fragment ist, hängt ihr moralisches und emotionales Gewicht von der Umgebung ab, in die sie gestellt ist. Eine Fotografie verändert sich mit dem Zusammenhang, in dem sie gesehen wird.“ (Hervorh. A. B.) Sontag: Der Heroismus des Sehens, in: Sontag: Über Fotografie, S. 104 472 Linares: Der Held, S. 21 473 Bunk: Eine Demokratie der Fotografien, in: Lorenz (Hrsg.): Narrative des Entsetzens, S. 39
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3.5.3 Fazit zu den Heldendarstellungen: Der Held im Informationszeitalter Im Gegensatz zu den künstlerischen bzw. künstlichen Darstellungen von Helden – unabhängig davon, ob sie wie die Laokoonplastik Ausdruck des Pathetischerhabenen sind oder ob sie, wie in Dix Der Krieg den Mythos des siegreichen Kriegshelden hinterfragen – sind die Heldenbilder des Nine Eleven durch eine fragmentarische Struktur geprägt. Der Teil des Bildarchivs, der sich mit den als Heroen wahrgenommenen Personen beschäftigt, offenbart ein Spannungsfeld – Heldentum hat hier viele und sehr gegensätzliche Gesichter. Einerseits gibt es die Aufnahmen, die sich der Thematik des Dix’schen Kriegstriptychons annähern und den Mythos des triumphierenden Helden in Frage stellen, den Helden in die Nähe des Opfers rücken sowie Ausdruck der Ohnmacht und Hilflosigkeit der Rettungskräfte im Angesicht der Katastrophe sind. Andererseits existieren Aufnahmen, die ein traditionelles Bild des triumphierenden Helden reproduzieren, das in der aktuellen Krisensituation wiederbelebt wird. Vor allem diese Darstellungen erscheinen verstärkt im öffentlichen Raum und werden teils mit einer politischen Intention verknüpft. Am Beispiel der Figur des Herakles beschreibt Nikolas Immer die Umdeutung bzw. Aktualisierung von Heldenmythen, die stets aus einer Kombination von gleichbleibenden und variablen Merkmalen bestehen. Während die feststehenden Charakteristika über die Zeit konstant bleiben, ermöglichen die variablen Zuschreibungen eine Aktualisierung des Heldenbildes im jeweiligen zeitgenössischen Kontext. So ergeben sich in der historischen Umdeutung z.B. des Herakles Spannungsfelder innerhalb derer dieser Charakter interpretiert und umgedeutet wird.474 Aufgrund der Schnelligkeit und Verfügbarkeit moderner Bild- und Informationstechnologien ergeben sich Spannungsfelder und unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten des Heldenmythos FDNY nicht erst im Laufe der Zeit sondern schon mit dessen Entstehen. In der Bilderflut die während der 9/11-Krisenbewältigung generiert wird, erscheint ein in der visuellen Darstellung seiner „Exzeptionalität entkleidet[e]“475 Held (Themengruppen 1 und 2) neben vorbildhaften Leitfiguren (Themengruppe 3) und (aufgrund der späteren
474 Vgl: Immer: Der inszenierte Held, S. 11-12 475 Immer: Der inszenierte Held, S. 12
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Publizierung etwas zeitversetzt) neben übermenschlich wirkenden Superhelden (Themengruppe 4). Vor allem im Hinblick auf ein Bildereignis, das die Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion anhand des (Medien-) Bildes zu neuem Bewusstsein gebracht hat, erweist sich Schillers Begriff des Pathos bzw. die Interpretation des Pathetischen als „feierlich[es]“ 476 oder künstliches Leiden als äußerst problematisch und nicht mehr zeitgemäß. Dies liegt maßgeblich daran, dass der Dichter das Leiden letztlich verklärt. Doch liegt seiner Theorie des Erhabenen stets das auf der Theaterbühne künstlich inszenierte Leiden zugrunde. D.h. hier ist die Darstellung von Leiden bzw. dem leidenden Helden in einen fiktionalen (für den Betrachter eindeutig als solches zu identifizieren) Kontext eingebunden. Die Produkte der Informationsmedien werden dagegen als Abbilder der Realität rezipiert. In diesem Zusammenhang ist auch die Heldeninszenierung kritisch zu betrachten, denn das Ereignis 9/11 ist eine reale Katastrophe, mit der reale Menschen konfrontiert werden. Wenn daraus auch Heldenmythen entstehen, so verdeutlichen die untersuchten Themengruppen, dass es sich beim Heldentum um ein Konstrukt handelt, das geschaffen wird von einer nach Orientierung suchenden Öffentlichkeit sowie von einer Regierung, die Handlungsfähigkeit demonstrieren muss. Die Aufnahmen, die die Grenze zwischen Held und Opfer verschwimmen lassen sowie diejenigen, die das enorme Ausmaß des Trümmerfeldes mit der im Vergleich physischen Kleinheit der Rettungskräfte kontrastieren, entlarven die Idee des triumphierenden Heroen vor allem durch die Absenz des Pathetischen im Bild selbst als künstliche Konstruktion der „Volksphantasie“477. Eine gezielte Inszenierung, die das traditionelle Konzept des siegreichen Helden bedient, findet sich in den Aufnahmen, die ihn zur politischen Leitfigur oder zum hyperperfektionierten Superhelden stilisieren. Gerade die Inszenierung auf der medialen Bühne mithilfe des Pseudo-Pathetischen zeigt hier letztlich auch, dass Heldentum ein konstruiertes Image ist. Im Unterschied zu der bildhauerischen Fassung des Laokoon oder der künstlerischen Darstellung in der Tragödie, bilden die Massenmedien das
476 Richard von Kienle: Fremdwörterlexikon. München: Lizenzausgabe mit Genehmigung der Keyserschen Verlagsbuchhandlung für Bertelsmann, o.J. (Vorwort 1964), S. 322 (siehe „pathetisch“) 477 Linares: Der Held, S. 21
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ab, was von den Rezipienten gemeinhin als ‚Realität‘478 aufgefasst wird. Gerade der 11. September hat ein für das breite Publikum kaum erträgliches Maß an Realität erzeugt – ein „Mehr an Realem, verbunden mit einem Mehr an Fiktion“479, wie Baudrillard es nennt. Ein Publikum, das Visualisierungen mit vergleichbarer Bildsprache im normalen Medienbetrieb in Form fiktionaler Katastrophenfilme rezipiert, ohne davon übermannt bzw. überfordert zu werden, sieht sich nun mit einer Realität konfrontiert, die eine Bildsprache fiktionaler Katastrophenszenarien aufweist und die Menschen durch diese Verschmelzung zutiefst erschüttert. So muss auch Schillers Annahme hinterfragt werden, dass künstliches Unglück das Publikum auf reales Unglück vorbereiten kann. Durch die routinemäßige Konfrontation des Rezipienten mit Szenarien von Katastrophen und menschlichem Leid durch Filme wie z.B. Independence Day (USA 1995, Regie: Roland Emmerich) oder The Towering Inferno (USA 1974, Regie: John Guillermin, Irwin Allen (Actionszenen)), ist vielmehr ein Zustand der Abstumpfung eingetreten und das künstliche Unglück hat durch die massenmediale Forcierung seine erzieherische Wirkung eingebüßt. In Filmen wie Independence Day gibt es stets den heroischen Charakter, der sich tapfer gegen die Katastrophe stellt, den Schrecken bekämpft – und am Ende als Triumphator von seinen Mitmenschen gefeiert wird. Gerade das Überleben des Helden wird dabei zum Ausdruck des Sieges über den Schrecken. Die mediale Konstruktion und Inszenierung des ‚Heldenmythos FDNY‘, wie er sich beispielsweise in Themengruppe 3 und 4 zeigt, lassen durchaus an Mechanismen von Hollywoods Katastrophenfilmen denken. Der Aspekt der zeitlichen Distanz ist in einer auf Unterhaltung und Spannung ausgelegten Spielfilmproduktion nicht realisierbar und so muss der Held unmittelbar als solcher identifiziert werden können (sowohl von den anderen Charakteren im Film als auch von den Zuschauern). Heldenkandidat und Held gehen unmittelbar ineinander über und sind im
478 Der Begriff ‚Realität‘ ist im Kontext der Massenmedien zwiespältig und muss differenziert betrachtet werden: die Medien werden gemeinhin als Kommunikatoren objektiver Realität angesehen und doch liegt jeder Kameraeinstellung und jeder sprachlichen Fassung einer Nachricht immer schon eine (mehr oder weniger) subjektive Interpretation zugrunde. Realität wird nicht nur abgebildet sondern auch konstruiert. 479 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 70
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Grunde genommen identisch. Der Filmheld dient als Referenzpunkt, strukturiert die Handlung und hilft dem Zuschauer sich im Geschehen zu orientieren. Auch die FDNY-Feuerwehrleute werden unmittelbar als Heroen dargestellt, worin sich ein Rückgriff auf bekannte filmische Muster zur Bewältigung der realen Krisensituation zeigt. Wo die Darstellung des künstlichen Unglücks es nicht vermocht hat, das Subjekt auf das Reale vorzubereiten, da bietet das bekannte Künstliche zumindest eine Möglichkeit, den realen Schrecken für eine verstörte Weltbevölkerung fassbarer zu machen und Orientierung zu stiften. Die Figur des heroischen Individuums dient als Ankerpunkt sowohl für die Bevölkerung als auch für die USRegierung. Gerade die Inszenierung des triumphierenden Helden ist hier problematisch, denn die Überführung des Realen in das domestizierende Fiktive tendiert dazu, das Ereignis und dessen Schrecken zu verharmlosen. Im Zusammenhang mit der Bildproduktion, die den Terroranschlägen vom 11. September folgt, spricht Slavoj Žižek auch von einer ‚Entrealisierung‘ des Schreckens: „[...] And the same ‘derealization’ of the horror went on after the WTC collapse: while the number of victims [...] is repeated all the time, it is surprising, how little of the actual carnage we see – no dismembered bodies, no blood no desperate faces of dying people … in clear contrast to reporting on Third World catastrophes [...].[...] the distance which separates Us from Them, from 480
their reality, is maintained: the real horror happens there, not here? [...]“ (Hervorh. i.O.)
Die Verharmlosung des Schreckens bewirkt auch eine Aushöhlung des Helden selbst, der durch die mediale Inszenierung in ein medienkompatibles Objekt verwandelt wird, das zur Übermittlung spezifischer Botschaften eingesetzt werden kann. Durch die Inszenierung der Feuerwehrleute im medialen und politischen Kontext werden ihr (reales) Leiden, ihre Strapazen und ihr Mut zum öffentlichen Spektakel; man kann sich ihrer zur medienwirksamen Vermittlung politischer Botschaften bedienen oder ihre Pinup-Bilder in Form eines Dekorationsartikels käuflich erwerben – die Fotografierten selbst können sich des Medienspektakels und der damit verbun-
480 Žižek: Passions of the real, passions of semblance, in: Žižek: Welcome to the desert of the real!, S. 13
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denen Heroisierung kaum oder gar nicht erwehren. Nikolas Immer verweist auf die Anfälligkeit des Helden für ideologische Vereinnahmung und Instrumentalisierung, die daraus resultiert, dass dieser Charakter sich stets innerhalb extremer Spannungsfelder bewegt.481 „[E]xtreme[...] Steigerungs[...]prozesse[...]“482 liegen auch den Bildinszenierungen zugrunde in denen Rettungskräfte als politische Leitfiguren oder Superhelden erscheinen und in der visuellen Kommunikation gezielt eingesetzt werden. Die Beeinflussung realen Handelns durch Inszenierung liegt Schillers Pathetischerhabenem und der Tragödie zugrunde, doch gehen in der medialen Präsentation der Figur des Feuerwehrmannes Realität und Inszenierung ineinander über und es entsteht eine Wechselwirkung zwischen dem Realen und dem Inszenierten, die Guy Debord schon lange vor 9/11 diagnostiziert hat: „Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt. [...] [D]ie 483
Wirklichkeit bricht im Spektakel durch und das Spektakel ist wirklich.“
Problematisch ist vor allem der Umstand, dass es Menschen sind, die im Medienspektakel zu ‚Figuren‘ werden. Ihnen wird von anderen eine bestimmte Rolle zugewiesen und sie werden entsprechend auf der medialen Bühne inszeniert. Die Gewalt, die dem Subjekt durch das Bild angetan wird, geht sogar noch über den Aspekt der Fremdinszenierung hinaus, denn das Leiden, das der Preis für den Heldenstatus ist, wird ein käuflich zu erwerbender und vermarktbarer Konsumartikel. Dies gilt nicht allein im Hinblick auf die Pin-up-Bilder des Calendar of Heroes 2003 sondern auf das
481 Vgl.: Immer: Der inszenierte Held, S. 12. Immer begründet die Anfälligkeit für Instrumentalisierung mit dem Spannungsfeld, das sich aus „extremen Steigerungs- oder Abwertungsprozessen“ (ebd., S. 12) konstituiert. Ein Abwertungsprozess des FDNY-Helden lässt sich im Kontext der Bilder des 9/11 nicht erkennen – das Spannungsfeld entsteht hier aus den Polaritäten einerseits der Bilder die den Helden in seiner Menschlichkeit bzw. an der Grenze zum Opfer darstellen (siehe Themengruppen 1 und 2) und andererseits der Bilder, die ihn zum Superhelden übersteigern. 482 Immer: Der inszenierte Held, S. 12 483 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Deutsche Erstveröffentlichung, Berlin: Edition TIAMAT 1996, S. 16
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massenmedial reproduzierte Bild allgemein. Denn schließlich konnte man Abzüge der in der Ausstellung Here is New York gezeigten Fotografien, wie die der bei den Rettungsarbeiten aufgenommenen Feuerwehrmänner, auch käuflich erwerben. Ebenso werden ihre Bilder, Namen und Symbole dem Warenzyklus der Popkultur als Kühlschrankmagneten, Armreifen und Postkarten zugeführt,484 um nur einige Beispiele zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, den Susan Sontag mit „Vermarktung von Erfahrung“485 bezeichnet. Auch wenn dies im strengen Sinne auch auf Carolina Salgueros Bilder der Rettungsarbeiten auf Ground Zero zutrifft, so äußert sie sich selbst kritisch über die Heroisierung der Feuerwehrleute und entlarvt dieses von Öffentlichkeit und Politik projizierte Bild als artifizielles Konstrukt, das der eigenen Sichtweise vieler Rettungskräfte auf das Ereignis und ihre Rolle darin widerspricht: „Many firemen see 9/11 as a failure, not as a heroic success. For this reason, and because they always emphasize team effort, the firemen themselves do not like the ‘hero’ label. They did not ask for it, and it gave them extra burdens beyond their own grief.“
486
Bezeichnend ist auch, dass die drei bei der Flaggenhissung von Franklin fotografierten und auf der Sondermarke als Helden verewigten Feuerwehrmänner George Johnson, Dan McWilliams und Billy Eisengrein Medienberichten zufolge jeglichen Medienkontakt verweigern.487
484 Artikel dieser Art sind beispielsweise im Shop des Tribute WTC Visitor Center käuflich zu erwerben. Im Internet unter http://www.tributewtcstore.org/. Zu Gedenkarmreifen siehe z.B. http://www.braceletsforamerica.com/911. shtml. Beide Webseiten aufgerufen am 13.06.2011. 485 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 141 486 http://www.carolinasalguero.com/CSmenu.html. Aufgerufen am 28.09.2010. 487 Siehe dazu: Iconic figures from Sept. 11: Where are they now?, veröffentlicht auf msnbc.com. Aufgerufen am 19.04.2011.
4. Verschwindende Bilder und Bilder des Verschwindens
Den Diskussionsschwerpunkt des vorangegangenen Kapitels bildeten diejenigen Bilder bzw. thematischen Bildgruppen, deren Fokus auf dem Aspekt der Überwindung der Katastrophe und der Selbststärkung des Subjekts bzw. der US-Nation liegt. Doch 9/11 hat auch Bilder sowie bildhafte Reaktionen hervorgebracht, die als eine Art ‚Störfaktoren‘ zu betrachten sind und, so die Vermutung, deshalb gar nicht oder zumindest weniger häufig im öffentlichen und politischen Diskurs des Ereignisses auftauchen: sie verweigern sich der Vermittlung einer aufrichtenden Botschaft zur Krisenbewältigung oder unterlaufen die gängige Vorstellung des (Reportage-) Bildes. Die Aufnahmen der Menschen, die aus den brennenden Türmen des World Trade Centers in die Tiefe und in den sicheren Tod stürzen, stellen einen absoluten Tabubruch dar und rufen in der Bevölkerung heftige Kontroversen sowie Ablehnung hervor. Dies führt dazu, dass Medienschaffende schließlich vor dem Sturm der öffentlichen Empörung kapitulieren und die Bilder regelrecht aus den Medien verbannen. Zu den visuellen Reaktionen auf den 11. September gehören u.a. eine Reihe fotografischer Dokumente, die sich einer objekthaften Darstellung verweigern. Als ‚abstrakte Fotografien‘ repräsentieren sie ein Paradox, das die Frage nach der Möglichkeit von Darstellung thematisiert, um die die Diskussionen des Sublimen kreisen. Hier wird das Medium der Fotografie, das repräsentativ für die Aufnahme der sinnlichen Welt steht, eingesetzt, um dem Betrachter die Anschauung der Objektwelt zu verweigern. Wegen
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ihrer ungewohnten Bildsprache und ihrer geringeren Reproduktion sind diese Aufnahmen als visuelle Randerscheinungen zu bezeichnen. Zwar sind die Ausdrucksformen innerhalb der Gruppe der ‚verschwindenden Bilder‘ sehr unterschiedlich, doch besteht die Gemeinsamkeit darin, dass sie sich der Möglichkeit der Sinnkonstruktion und Überführung des Ereignisses in eine Narrative von Ursache und Wirkung entziehen. Ihre Bildsprache bricht mit den Codes und Symbolen, die sich für eine narrative Erfassung des Dargestellten oder der Deutung im Sinne einer aufrichtenden Botschaft eignen würden. Somit entziehen sie sich auch der Möglichkeit einer Instrumentalisierung im politischen Kontext, die darauf ausgerichtet ist, Stärke in der Krisensituation zu demonstrieren. Die Wirkung dieser Bilder ist neben dem Bruch mit dem traditionellen Verständnis des (Medien-) Bildes in ihrer Nähe zur Thematik des Todes zu vermuten. Scorzin spricht von „eine[r] Art inoffizielle[m] kulturelle[n] Produktionskodex der Medien, z.B. das Phänomen der Nicht-Darstellung von Tod.“1 Trotz der hohen Anzahl an Toten, die prägend für 9/11 ist, wird diese Thematik zugunsten der Fokussierung auf das Überleben ausgeblendet. Dies demonstrieren vor allem die Bilder mit stärkerer öffentlicher Reproduktion. In den bildhaften ‚Störfaktoren’ hingegen, ist der Tod explizit thematisiert als eine unausweichliche, unumkehrbare Tatsache.
1
Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 36
V ERSCHWINDENDE B ILDER
4.1 D AS V ERSCHWINDEN
DER
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S TÜRZENDEN
„September 11 2001 was a day of many incredible and shocking stories: stories of survivors, stories of heroes. But there was one story that people didn't want to face. The story of the people who began to jump from the World Trade Center […]. Their images were caught on videotape and in photographs, but soon they were never seen again, as if they had never existed.“
2
CBC, 9/11: The Falling Man
Im Gegensatz zu den Bildern, die in einer Endlosschleife über die Bildschirme liefen, die im Kontext des Gedenkens zum Jahrestag des 11. September wiederholt zitiert wurden und zu medialen Ikonen aufgestiegen sind, gibt es Aufnahmen, die trotz – oder gerade wegen – ihrer Intensität aus dem öffentlichen Raum, bzw. aus dem offiziellen Bilderkanon weitgehend ausgelöscht worden sind. Ihre Intensität lässt sich vor allem aus ihrer engen Beziehung zur Thematik des Todes bzw. der expliziten Thematisierung menschlichen Sterbens ableiten. Vor allem die Aufnahmen der Menschen, die aus den Fenstern des World Trade Centers in die Tiefe stürzen, zählen zu den Bildern des Ereignisses, die den tiefsten Eindruck hinterlassen haben, die so bezeichnend für den Schrecken dieses Tages stehen – und deren Auslöschung von der öffentlichen Bildfläche unmittelbar mit ihrer Entstehung beginnt. Schon kurz nach dem Einschlag des American-Airlines-Flug 11 um 08:46:26 Uhr (EST) in den Nordturm des World Trade Centers, fielen Menschen aus den über der Einschlagstelle liegenden Stockwerken in die Tiefe und bis zum Einsturz des Nordturmes um 10:28:31 Uhr (EST) stürzten Personen weiterhin aus den Türmen – allein, in Paaren oder in Gruppen. Berichten zufolge gab es darunter auch einige, die Tischdecken und ähnliche Materialien als Fallschirme benutzen, die ihnen jedoch durch die
2
9/11: The Falling Man (ohne Verfasser). Quelle: http://www.cbc.ca/passionate eyemonday/fallingman/index.html. Aufgerufen am 14.10.2010.
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Wucht des Sturzes aus den Händen gerissen wurden.3 Man geht davon aus, dass die Stürzenden während des circa zehn Sekunden dauernden freien Falls bei Bewusstsein waren, bevor sie am Boden aufprallten.4 Noch während die Menschen aus den Türmen sprangen oder fielen,5 setzte ein Verdrängungsprozess ein, der sich vor allem auf medialer Ebene in der Ausblendung dieser zutiefst schockierenden und verstörenden Bilder manifestierte. Gerade die US-amerikanischen Fernsehsender erlegten sich schon während der Live-Berichterstattung eine Selbstzensur auf. CNN z.B. zeigte die Bilder stürzender Menschen anfänglich, dann nur noch verfremdet, so dass die Personen nicht zu identifizieren waren, bis sie schließlich vollkommen aus der Live-Berichterstattung ausgeschlossen wurden, wie Tom Junod in seinem Artikel The Falling Man schildert.6 Im Kontext der Printmedien löste die Veröffentlichung der Fotos der Stürzenden vor allem innerhalb der Vereinigten Staaten heftige Proteste der Leser aus, so dass die Redaktionen von der weiteren Publizierung dieser Bilder absahen. Gerade in den USA herrschte schnell ein gesellschaftlicher Konsens darüber, diese
3
Vgl.: Tom Junod: The Falling Man. Veröffentlicht am 08.09.2009 in der Onlineausgabe des Esquire. Der Artikel erschien erstmals 2003 in der US-amerikanischen
Septemberausgabe
des
Esquire
Magazin.
www.esquire.com/features/ESQ0903-SEP_FALLINGMAN.
Quelle:
http://
Aufgerufen
am
14.10.2010. 4
Vgl.: Dennis Cauchon, Martha Moore: Desperation forced a horrific decision. Veröffentlicht in der Rubrik Nation der Onlineausgabe der USA TODAY (ohne Datum). Quelle: http://www.usatoday.com/news/sept11/2002-09-02-jumper_ x.htm. Aufgerufen am 14.10.2010.
5
Im Hinblick auf die stürzenden Personen lässt sich letztlich die Frage nicht beantworten, wie viele absichtlich in die Tiefe sprangen oder wie viele beispielsweise versehentlich abrutschten, als sie an den Fensteröffnungen standen. Darauf verweist auch Henry Singer im Zusammenhang mit Richard Drews Fotografie Falling Man, weshalb er bei Beschreibung des Fotos von einem Mann spricht, der aus den Türmen fiel oder sprang. Vgl.: Adam Harrison Levy: The falling man: an interview with Henry Singer (geführt am 04.09.2011). Veröffentlicht am 09.11.2011 in Design Observer (http://designobserver.com/). Quelle: http://observatory.designobserver.com/feature/the-falling-man-an-interviewwith-henry-singer/30048/. Aufgerufen am 24.09.2011.
6
Vgl.: Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire
V ERSCHWINDENDE B ILDER
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Aufnahmen von der Bildfläche der Medien und damit auch aus dem öffentlichen Gedenken des Ereignisses buchstäblich zu löschen. So baten unmittelbar vom 11. September betroffene Familien die Fernsehstationen beispielsweise vor dem ersten Jahrestag der Anschläge explizit darum, keine Bilder stürzender Personen in ihren Gedenksendungen zu zeigen.7 Auch in der filmischen Dokumentation 11. September (USA, Frankreich 2001, Regie: Jules Naudet, Gedeon Naudet, James Hanlon), in der die Kamera New Yorker Feuerwehrmänner sogar bis in den brennenden Nordturm begleitete und in der die Geschehnisse dieses Tages geradezu akribisch festgehalten wurden, werden die Stürzenden und Gestürzten visuell ausgeblendet. Deren Existenz bzw. Präsenz wird lediglich in Form dumpfer Geräusche beim Aufprall der Körper bzw. in sprachlicher Form thematisiert: [Anm. A. B.: Stimme des Erzählers aus dem Off:] „… it was people falling. [Anm. A. B.: Jules Naudet:] … you don’t see it but you know where it is … and you know that every time you hear that crashing sound it’s a life which is extinguished … it’s not something you could get used to … and the sound was so loud …“
8
Obwohl sie von der medialen Bildfläche verschwanden, blieb der Anblick der Stürzenden für viele Augenzeugen und Überlebende als die quälendste Erinnerung dieses Tages im Gedächtnis haften.9 Gerade vor dem Hintergrund, dass Bilder von Katastrophen und Tod im Medienalltag zur Routine gehören, was dazu geführt hat, dass ein Zustand der Abstumpfung bzw. Indifferenz beim Rezipienten eingetreten ist, erscheint es zunächst als Widerspruch, dass die Aufnahmen der in den Tod springenden oder fallenden Menschen explizit verdrängt werden.10 Würde
7
Vgl.: Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire
8
Transkription aus der Naudet-Dokumentation 11. September (DVD: Paramount
9
Vgl.: Cauchon, Moore: Desperation forced a horrific decision, in: Onlineaus-
Pictures 2009). gabe USA TODAY 10 Die Abstumpfung der Rezipienten aufgrund der medialen Flut von Bildern des Grauens, prangerte schon Andy Warhol in der frühen Phase der massenmedialen Gesellschaft an. Mittels Siebdruckverfahren brachte er u.a. Fotos von Unfällen und Selbstmorden auf großformatige Leinwände und polarisierte gerade des-
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man Schillers Theorie folgen, so hätten die Rezipienten durch die stete mediale Inszenierung künstlichen Unglücks für diese reale Situation gewappnet sein müssen. Doch sowohl die heftigen Proteste gegen die Veröffentlichung der Bilder als auch der gesellschaftliche Konsens darüber, sie gänzlich verschwinden zu lassen, sind Indikatoren für das Gegenteil: der Schock des Realen und die unfassbare Dimension menschlichen Leidens, die in diesen visuellen Dokumenten zum Ausdruck kommen, treffen den Betrachter vollkommen schutzlos. „Die fotografischen Bilder der Stürzenden wirken intensiv, direkter als Worte. Sie überfallen den Zuschauer mit körperlicher Wucht als würde man geschlagen“, schreibt Jeannot Simmen, „[s]chutzlos ist das Auge ‘angesichts’ der Bilder der aus den schmalen Fensterschlitzen des brennenden World Trade Centers sich Stürzenden.“11 Die Reaktionen auf die Aufnahmen, die den Sehreiz des Betrachters attackieren, gehen mit körperlichen Begleiterscheinungen einher, wobei die Reaktionen auf das unmittelbare Erleben der Geschehnisse vor Ort (in New York), auf die audiovisuellen Bilder der Live-Berichterstattung sowie auf die Veröffentlichung der fotografischen Aufnahmen in der Presse im Wesentlichen übereinstimmen. Die physiologische Reaktion auf den Schrecken ist bei Burke konstituierendes Element seiner Theorie des Erhabenen. „Keine Leidenschaft“, so Burke, „beraubt das Gemüt so durchgreifend aller seiner Kraft zu handeln und zu räsonieren wie die Furcht. Denn da Furcht Sorge vor Schmerz und Tod ist, so wirkt sie auf eine Art, die dem eigentlichen Schmerz ähnlich ist“12. Schmerz und Furcht resultieren „in einer unnatürlichen Nervenspannung“13 des Subjekts, das im Moment des Erschauerns förmlich gelähmt ist. „I was getting sick“14, „heaving at the image“15, „[p]eople on the ground
halb, weil er der Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Unter diesen Werken greifen einige das Thema der Stürzenden bzw. Gestürzten auf, wie Woman Suicide (1963), Suicide (Purple Jumping Man) (1963), Bellevue II (1963) und Suicide (Fallen Body) (1963). Alle Bilder in: Bastian (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive, S. 165-168. 11 Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online 12 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 91 13 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 171 14 Zeugenaussage der Feuerwehrfrau Maureen McArdle-Schulman. Zitiert nach: Associated Press (ohne Verfasser): ‘We saw the jumpers … choosing to die’.
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were gasping“16, „I felt like I was punched in the gut“17: so werden die Reaktionen der Betrachter sowohl auf den unmittelbaren Anblick als auch auf die medial vermittelten Bilder der Stürzenden beschrieben. Daraus wird deutlich, dass auch die Reportagebilder (und nicht allein die primäre Anschauung) physische Begleiterscheinungen hervorrufen, die sich durchaus mit Burkes Untersuchung der Wirkung des Sublimen im Moment des Erschauerns verbinden lassen. Ein Indikator für die gesellschaftliche Befangenheit mit der Thematik dieser Aufnahmen ist auch die Diskrepanz zwischen den Schätzungen der Anzahl der aus den Zwillingstürmen gesprungenen oder gefallenen Menschen. Hier ist vor allem auf die Zahlen zu verweisen, die von der New York Times und der USA TODAY veröffentlicht wurden. Die New York Times wertete ausschließlich Bildmaterial aus, zählte die dort dokumentierten in die Tiefe fallenden Personen und ermittelte somit eine Zahl von fünfzig Opfern, die durch den Sturz ums Leben kamen.18 Bei der USA TODAY hingegen beschränkte man sich nicht allein auf die Auswertung fotografischen und filmischen Materials, sondern befragte zusätzlich Augenzeugen. Zudem wurden der Zeitraum und die Gebäudestellen von denen aus Menschen gesprungen waren analysiert. Der Großteil der Aufnahmen Stürzender wurde vor der Nord- und Ostfassade des Nordturmes aufgenommen, doch Augenzeugen gaben zu Protokoll, dass sie auch Personen aus den anderen Seiten des Nordturmes hatten stürzen sehen, wie im USA TodayArtikel Desperation forced a horrific decision berichtet wird. So errechnete die USA TODAY eine Anzahl von zweihundert Opfern, die durch den Sturz starben. Anschließend befragte man Vertreter der Feuerwehr sowie das
Veröffentlicht am 13.08.2005 auf guardian.co.uk. Quelle: http://www.guardian. co.uk/world/2005/aug/13/september11.usa. Aufgerufen am 14.10.2010. 15 Barton Gellman: 'I Saw Bodies Falling Out -- Oh, God, Jumping, Falling'. Veröffentlicht am 12.09.2001 in der Onlineausgabe The Washington Post. Quelle: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2001/09/12/AR20050 33108356.html. Aufgerufen am 14.10.2010. 16 Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire 17 David Erdman, zitiert nach: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http://www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html. Aufgerufen am 14.10.2010. 18 Vgl.: Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire
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Medical Examiner's Office, die – obwohl beide Behörden selbst diesbezüglich keine eigenen Zahlen ermittelt hatten – die Einschätzung der USA TODAY für akkurat befanden.19 Die unterschiedlichen Arten, die Zahl der Stürzenden zu ermitteln, bzw. die Tatsache, dass die New York Times sich ausschließlich auf visuelle Beweise stützte, veranschaulicht auch die Bedeutung, die das Bild im Hinblick auf die Wahrnehmung von Realität und Welt hat. So lässt sich ein Zustand diagnostizieren, in dem Realität mit visueller Erfassung – dem Sehen – gleichgesetzt wird. Das Spannungsfeld zwischen der bildlichen Erfassung von ‚Realität‘ und der Existenz von Welt jenseits des Bildes steht im Zentrum der Kategorie des Erhabenen und wird durch die Aufnahmen der Stürzenden thematisiert. Ihre Wirkung entfaltet sich aufgrund verschiedener Spannungsfelder, die ihnen inhärent sind; eines ist die Dichotomie zwischen dem, was für das betrachtende Subjekt sichtbar wird und dem, was sich seinem Blick – und somit auch seiner Erfahrung – entzieht. Die Relevanz dieses Spannungsfeldes ergibt sich vor allem aus dem Kontext eines Geschehens, das als Paradigma eines Bildereignisses gilt und durch eine beinahe lückenlose mediale Berichterstattung sowie visuelle Erfassung charakterisiert ist. Das einzige, was sich den Kameras und somit den Blicken der zuschauenden Weltbevölkerung entzog, waren die über den Einschlagstellen liegenden Stockwerke der beiden Türme, die nach den Flugzeugeinschlägen buchstäblich vom Rest der Welt abgeschnitten waren. Die physische Abtrennung, die von den durchschlagenden Flugzeugen verursacht wurde, verstärkte sich in ihrer Außenwirkung durch die Abtrennung von der medialen Berichterstattung, d.h. der Erfassung in Reportagebildern.20 So sind die
19 Vgl.: Cauchon, Moore: Desperation forced a horrific decision, in: Onlineausgabe USA TODAY 20 (Mobil-) Telefone stellten nach den Flugzeugeinschlägen die einzige Verbindung zwischen den Eingeschlossenen in den oberen Stockwerken des WTC und der Außenwelt dar. Im März 2009 wurden Transkripte von Notrufen dieser Menschen aus den Türmen veröffentlicht; allerdings beinhaltete die Veröffentlichung nur die Stimmen der Mitarbeiter in den Notrufzentralen und Behörden, die die Anrufe entgegennahmen. Die Stimmen der Anrufer wurden herausgeschnitten, da man ihre Hilferufe als zu emotional und intensiv befand, um sie ohne Einwilligung der Familien zu veröffentlichen. Vgl.: CBS/AP (ohne Ver-
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Etagen über den Einschlagstellen die Black Box dieses Bildereignisses, die sich der visuellen Erfahrbarkeit größtenteils entzieht. Das, was in diesen Stockwerken geschah, ist visuell nicht fixiert; einzig die Bilder der von dort stürzenden Menschen können dem Betrachter als Verweis dienen auf ein sich im Inneren dieser Black Box abspielendes Schreckensszenario, das für ihn allein als Idee existieren kann, nicht jedoch als (Medien-) Bild. Die Darstellung der vollständigen Handlung ist z.B. innerhalb Schillers Dramentheorie Bedingung für die Vermittlung des Sublimen. Da die vollständige Handlung – d.h. die konkrete visuelle und sprachliche Fassung der Geschehnisse im Inneren der Türme – bei den Stürzenden fehlt, wird der Betrachter zur Reflexion über eine ungeheure Dimension des Schreckens gezwungen. Wie, muss der Rezipient sich fragen, kommt ein rationales Subjekt zu einer angesichts der Höhe der Gebäude zunächst irrational erscheinenden Handlung – oder ist diese scheinbar irrationale Handlung in einer Situation unvorstellbaren Leidens vielleicht sogar als eine rationale zu betrachten? Die Stürzenden sind „Ikonen des Grauens“21, in denen sich weniger das individuelle Schicksal manifestiert als die kollektive Tragik, das kollektive Trauma des Ereignisses. Als sinnliche Manifestation verweisen sie auf etwas, das sich der Vorstellungskraft des Betrachters entzieht, das undarstellbar, unbeschreibbar und unvermittelbar bleibt. Im 9/11-Roman Windows on the World22 des französischen Schriftstellers Frédéric Beigbeder, dessen fiktive Handlung in den Stockwerken über den Einschlagstellen im Restaurant Windows on the World spielt, heißt es aus der Sicht des fiktiven Erzählers, der sich letztlich selbst zum Sprung entscheidet:
fasser): 9/11 tapes evoke horror, heartbreak. Veröffentlicht am 10.09.2009 auf www.cbsnews.com. Quelle: http://www.cbsnews.com/stories/2006/08/16/ national/main1898593_page2.shtml?tag=contentMain;contentBody. Aufgerufen am 24.09.2011. 21 Stefan Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie. Veröffentlicht am 08.10.2009 auf www.3sat.de, Rubrik Kulturzeit. Quelle: http:// www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/tips/138458/index.html. Aufgerufen am 25.10.2012 22 Frédéric Beigbeder: Windows on the World. München: Ullstein 2004
242 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS „Die Rettungsmannschaften sind nicht bis zu uns vorgedrungen. Wir waren nicht im Fernsehen zu sehen. Von uns gibt es kein Foto. Wir waren die zerzausten Gestalten, die an der Fassade hingen, die Körper, die in die Tiefe stürzten, die Arme, die weiße Tücher wie Wolkenfetzen im Äther schwenkten. 23
Das Geräusch aufschlagender Leiber im Film der Brüder Naudet.“
(Her-
vorh. A. B.)
Auch wenn es sich bei Beigbeders Roman um Fiktion handelt, so spiegelt sich hier die Realität des gesellschaftlichen Umgangs mit den Stürzenden wider – die Menschen in den oberen Stockwerken werden zu abstrakten Symbolen des Undarstellbaren: sie haben kein individuelles Gesicht, sind unidentifizierbare „Gestalten“, „Körper“ und „das Geräusch“ in der Dokumentation der Naudet-Brüder, die das Ereignis minutiös audiovisuell beschreibt. In einem Ereignis, das durch das Paradox geprägt ist, Bilder des Verschwindens zu erzeugen – Bilder, die festhalten, wie Türme sprichwörtlich von der Bildfläche verschwinden und wie Menschen pulverisiert werden –, sind die Stürzenden ein expliziter Verweis auf die wenigen sichtbaren Todesopfer dieses Tages. Die Brisanz dieser Aufnahmen liegt jedoch nicht allein darin, dass sie Tod und Sterben thematisieren, denn es sind nicht die einzigen, die dies explizit aufgreifen.24 Doch – dies suggerieren
23 Beigbeder: Windows on the World, S. 301. In seinem Versuch, einen sprachlichen Ausdruck für das Unfassbare der Katastrophe und des menschlichen Leidens zu finden, zieht Beigbeder mehrfach Parallelen zur Shoah. Auch wenn die Shoah und der 11. September 2001 als Schreckensereignisse letztlich nicht vergleichbar sind, so sind doch beide vom Menschen verursachte Katastrophen und stellen beide eine historische Zäsur mit bewusstseinsverändernder Wirkung dar. In beiden Fällen übersteigt das Ausmaß an Schrecken und Gewalt das menschliche Fassungsvermögen. Die Shoah hat nicht nur Lyotards und Newmans Interpretationen des Erhabenen beeinflusst, sondern beispielsweise auch Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, die als eine implizite Theorie des Sublimen betrachtet werden kann. 24 Hier sei beispielsweise auf die mit einer modernen Pieta verglichene Fotografie der Bergung des Leichnams des New Yorker Feuerwehrkaplans Mychal F. Judge aus den Trümmern des World Trade Centers verwiesen. Die Aufnahme der Reuters-Fotografin Shannon Stapleton zeigt Rettungskräfte, die den Leichnam, notdürftig auf einen Stuhl gesetzt, der Kamera entgegen tragen. Der tote
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auch die heftigen Abwehrreaktionen der Rezipienten – es sind die wohl schockierendsten Bilder, die das Ereignis hervorgebracht hat. Ihr besonderes Konfliktpotential ist in zwei Phänomenen zu vermuten, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Zum einen bewegen sie sich auf einer Grenze, fixieren einen Übergang und halten die Schwelle zwischen zwei gegensätzlichen Zuständen, die sich gegenseitig konsequent ausschließen, offen. Denn genau genommen werden hier keine Toten gezeigt, sondern Grenzgänger: Menschen im Übergang vom Leben zum Tod, wobei der Betrachter Zeuge ihres Sterbens wird. Mit der Thematik des Sturzes hat Jeannot Simmen sich sowohl im Hinblick auf die Bilder des 11. September 2001, als auch im Hinblick auf die Tradition kunsthistorischer Darstellungen von Stürzenden und Gestürzten beschäftigt. In seiner Untersuchung legt er den Zwiespalt zwischen Faszination und Schrecken offen, den Sturzdarstellungen seit je her im betrachtenden Subjekt auslösen.25 Zum anderen berühren die Bilder der 9/11-Stürzenden über das Thema des Sterbens und des Todes hinaus eine weitere gesellschaftliche Tabuzone: die der freiwilligen Aufgabe des Lebens, des Freitodes. Das zwiespältige
Körper des Kaplans wird hier keineswegs verborgen; er ist für den Betrachter deutlich zu erkennen und zu identifizieren. Im Gegensatz zu den Bildern der stürzenden Menschen, wurde diese Aufnahme eines toten Opfers jedoch Teil des öffentlichen Bilderkanons. In diesem Kontext ist zudem von Bedeutung, dass Judge in offiziellen Quellen als Opfer 0001 des 11. September 2001 geführt wird, was eine Art der Ehrenbekundung darstellt. Auch wenn Stapletons Aufnahme in dieser Arbeit nicht weiter analysiert wird, so verweist doch schon die Bezeichnung „moderne Pieta“ darauf, dass hier ein Bildschema zugrunde liegt, das eine Überführung in einen christlich-heilsgeschichtlichen Kontext gestattet und den Schrecken des Ereignisses letztlich in eine aufrichtende Botschaft transformiert. Zum Vergleich von Stapletons Fotografie mit einer modernen Pieta siehe beispielsweise: Michael Kimmelman: 150th Anniversary: 1851-2001; The Assignment Is to Get the Story, but the Image Can Rise to Art. Veröffentlicht am 14.11.2001 in der Onlineausgabe The New York Times. Quelle: http:// www.nytimes.com/2001/11/14/news/150th-anniversary-1851-2001-assignmentget-story-but-image-can-rise-art.html. Aufgerufen am 20.04.2011. 25 Siehe dazu: Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online
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gesellschaftliche Verhältnis dazu greift Schiller im Pathetischerhabenen und in seiner Auseinandersetzung mit dem antiken Laokoon auf. „In dem terroristischen Ereignis von New York dreht sich alles um den Tod“26, stellt Jean Baudrillard fest und so kann 9/11 als Todesmetapher betrachtet werden. Der Tod stellt das Paradigma menschlicher Grenzerfahrung dar und bildet ein zentrales Thema innerhalb der Diskussion des Erhabenen: er ist das sinnlich Nicht-Fassbare, das Nicht-Darstellbare per se – erst im Moment des Sterbens und ausschließlich für das sterbende Subjekt selbst erfahrbar, entzieht er sich der möglichen Erfahrung der (Über-) Lebenden. Burke ordnet den Tod als Idee den Leidenschaften zu, die der Selbsterhaltung des Individuums dienen und somit in die Kategorie des Schrecklich-Erhabenen ein.27 Der Tod als physische Vernichtung des Menschen ist latent allgegenwärtig auch in Kants Modus des DynamischErhabenen. Für Schiller ist der Tod schließlich das Schreckgespenst, das den Menschen stets begleitet; er ist das einzige, das sich der Beherrschung durch das Subjekt entzieht, was es muss und nicht will und droht, den Menschen seinem Begriff nach aufzuheben.28 Der Tod bezeichnet das Zweckwidrige per se, das jenseits der Kontrolle und des Einflussbereichs des Subjekts liegt; er ist das Andere, das außerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Anerkannten residiert. Diese durch tiefen Zwiespalt gekennzeichnete Stellung, die die Thematik des Todes in den Erhabenheitsdiskussionen der Aufklärung innehat, manifestiert sich auch im Unbehagen mit den Bildern der 9/11-Stürzenden. „Der Tod“, schreibt Baudrillard 1976 in Der symbolische Tausch und der Tod, „ist für die moderne bürgerliche Rationalität ein Paradox. Den Tod als natürlich, profan und irreversibel zu begreifen, konstituiert zwar die ‚Aufklärung‘ und die Vernunft, aber es befindet sich in einem scharfen Widerspruch zu den Prinzipien bürgerlicher Rationalität – den individuellen Werten, dem unbegrenzten Fortschritt der Wissenschaft und der Naturbeherrschung in jeder Form.“29 Damit offenbart er den Tod auch in der modernen Gesellschaft als ein durch Tabus gekennzeichnetes
26 Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus, S. 56 27 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 28 Vgl.: Schiller: Über das Erhabene, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 83 29 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 253
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Thema, das der aufgeklärten, rationalisierten Gesellschaft als das Irrationale gegenübersteht.30 Am Beispiel der im FDNY Calendar of Heroes 2003 veröffentlichten Fotografien der den Anschlägen zum Opfer gefallenen Feuerwehrmänner wird deutlich, dass der Tod, der den eigentlichen Kern des katastrophischen Ereignisses bildet, in der Krisenbewältigung visuell ausgeblendet wird. Stattdessen wird der Fokus auf das Überleben sowie die Möglichkeit physischer und psychischer Bewältigung gerichtet. Die Relevanz des Überlebens resultiert jedoch gerade aus der Konfrontation mit dem Tod, und je stärker ersteres thematisiert wird, desto latent präsenter wird auch letzterer. „Für die meisten von uns verleiht das Risiko, die Nähe des Todes jedem Augenblick des Lebens eine größere Intensität und Tiefe“31, so Paul Virilio; darin klingt die Wechselwirkung von Tod und Überleben an, die das Subjekt in der Konfrontation mit der Thematik des Sterbens erlebt. 9/11 ist maßgeblich geprägt von dieser Dichotomie, die sich explizit und implizit auch in bildhaften Reaktionen manifestiert. Das zwiespältige gesellschaftliche Verhältnis zum Thema Sterben und zum toten menschlichen Körper ist nicht notwendigerweise an spezifische Ereignisse gebunden, die eine Ausnahmesituation darstellen, sondern wird vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch im alltäglichen Umgang deutlich. In Todesbilder: Kunst, Subkultur, Medien32 zeigt Birgit Richard einen Prozess des gesellschaftlichen Verschweigens und Verdrängens des Todes auf, der sich in besonderem Maße in den USA nachvollziehen lässt. Sie stellt fest, dass der Umgang mit dem toten Körper wie auch seine Präsenz auf Friedhöfen bei den Lebenden irrationale Ängste und Unbehagen auslösen. Der Umgang mit dem Tod ist zunehmend aus der sozialen (Klein-) Gruppe in spezielle Dienstleistungsbetriebe (z.B. Bestattungsun-
30 „Unsere ganze Kultur ist nichts anderes als eine immense Anstrengung, Leben und Tod voneinander zu trennen und die Ambivalenz des Todes zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert und der Zeit als allgemeinem Äquivalent zu bannen. Den Tod abschaffen, das ist unser sich in alle Richtungen verzweigendes Phantasma: Überleben und Ewigkeit in den Religionen, Wahrheit in der Wissenschaft, sowie Produktivität und Akkumulation in der Ökonomie.“ Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 232 31 Virilio: Ereignislandschaft, S. 91 32 Birgit Richard: Todesbilder: Kunst, Subkultur, Medien. München: Fink 1995
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ternehmen, professionelle Grabpfleger) ausgelagert worden, so dass der Einzelne sich durch diese Professionalisierung und Kommerzialisierung dem unmittelbaren Umgang mit dem Sterben entziehen kann. Der Umstand, dass Verstorbene als Teil des Bestattungsrituals geschminkt werden, dient als Indiz für die Verleugnung des körperlichen Verfalls. Selbst der tote Körper soll den Anschein des Lebendigen erhalten und so zeigt sich auch hier die Fokussierung auf das gesellschaftliche Ideal eines ewig jugendlichen Körpers.33 Trotz ihrer unmittelbaren Nähe zum Tod zeigen die Bilder der Stürzenden keine Verstorbenen sondern Totgeweihte, Grenzgänger: Menschen, die im Moment des Sturzes noch leben, deren Tod jedoch schon unausweichlich und unabänderliche Gewissheit ist. Die Stürzenden befinden sich in einem Übergangsstadium, in das sie mit dem Absprung oder Absturz eingetreten sind und in dem sie sich für die Dauer des Sturzes befinden, bevor sie am Boden aufprallen und in den Zustand des Todes übertreten. Dadurch, dass ihr Übergang im Bild festgehalten ist, sind ihre Aufnahmen Dokumente eines Grenzphänomens, das dem Betrachter unerbittlich vor Augen geführt wird: das Subjekt ist fixiert in einer Art ‚Niemandsland‘ zwischen zwei Zuständen, die diametral entgegengesetzt sind und sich gegenseitig bedingungslos ausschließen. Als „Ikonen des Grauens“34 werden diese Bilder zu sinnlichen Verweisen auf das, was sich jenseits der möglichen unmittelbaren Erfahrung des betrachtenden Subjekts befindet. Anders als die Aufnahmen der Flaggenhissung oder heldenhafter Feuerwehrmänner, die für die Übermittlung politischer Botschaften eingesetzt werden, sind die der Stürzenden Ausdruck vollkommener Hoffnungslosigkeit. Sie unterlaufen jegliche Aussicht auf das Überleben der fallenden Personen und die Rettung der Menschen in den Etagen über den Einschlagstellen. Im Gegensatz zu den Bildern der zusammenstürzenden Türme, die es dem Betrachter gestatten, den unmittelbaren Anblick leidender, sterbender und toter Personen zu umgehen, konfrontieren die der Stürzenden mit dem, was in einer Gesellschaft, die das Sterben institutionalisiert hat,35 schon unter alltäglichen Bedingungen mit größtem Unbehagen behaftet ist und machen den Rezipienten zum unfreiwilligen Zeugen des Todes.
33 Vgl.: Richard: Todesbilder: Kunst, Subkultur, Medien, S. 67-69 34 Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie 35 Vgl. dazu: Richard: Todesbilder: Kunst, Subkultur, Medien, S. 72
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„[...] [W]e saw the jumpers coming. We didn't know what it was at first, but then the first body hit and then we knew what it was. [...] I was getting sick. I felt like I was intruding on a sacrament. They were choosing to die and I was watching them and shouldn't have been. So me and another guy turned away and looked at a wall and we could still hear them hit.“
36
(Hervorh. A. B.)
Zwar bezieht sich diese Aussage einer Feuerwehrfrau auf den unmittelbaren (d.h. nicht medial vermittelten) Anblick stürzender Personen, jedoch ist die Wirkung der Medienbilder vergleichbar, da auch sie den Rezipienten zum Zeugen tabubehafteten menschlichen Sterbens machen. Die unfreiwillige Zeugenschaft löst im Betrachter, der einem als zutiefst intim empfundenen Moment beiwohnt, Unbehagen und Scham aus. Doch er wird nicht allein Zeuge des Sterbens, er wird auch Zeuge des selbstgewählten Freitodes,37 der innerhalb des Tabuthemas Tod eine gesonderte Stellung einnimmt. Abgesehen vom intimen Moment des Sterbens forcieren die Bilder die Zeugenschaft einer persönlichen Entscheidung mit irreversiblen Konsequenzen. Die Sonderstellung der Thematik des Suizids wird im Kontext von Schillers Dramentheorie deutlich. „Selbstmord wird allgemein als Frevel verabscheut“38, heißt es in Vom Pathetischen und Erhabenen und diese Perspektive auf den Suizid kommt auch in der Diskussion hinsichtlich der 9/11-Stürzenden bzw. in der Ausblendung dieses Themas zum Ausdruck. Allein der gebräuchliche Begriff jumper verweist darauf, dass der Freitod
36 Zeugenaussage der Feuerwehrfrau Maureen McArdle-Schulman. Zitiert nach: Associated Press: ‘We saw the jumpers … choosing to die’. Veröffentlicht auf guardian.co.uk 37 Auch wenn sich bei den Stürzenden individuell schwer feststellen lässt, ob der Sturz aus dem World Trade Center jeweils beabsichtigt oder unbeabsichtigt war, so verdeutlicht doch die Diskussion um diese Bilder, dass in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung herrscht, dass Personen beabsichtigt aus den Türmen sprangen und nicht nur unbeabsichtigt fielen. 38 Schiller: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 9
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als etwas Irrationales und Zweckwidriges39 betrachtet wird, das der menschlichen Rationalität zuwiderläuft: „They were called ‘jumpers’ or ‘the jumpers,’ as though they represented a 40
new lemminglike class.“
(Hervorh. A. B.)
Die Sprecherin des Medical Examiner’s Office, wo man den Begriff jumper zur Klassifizierung derer, die am 11. September ‚zu Tode fielen‘ ablehnt,41 versuchte einer aktiven Entscheidung zum Sprung und damit dem Freitod der 9/11-Opfer zu widersprechen: „‘A 'jumper' is somebody who goes to the office in the morning knowing that they will commit suicide [...]. These people were forced out by the smoke and flames or blown out.’“42
Anders als der Begriff jumping, der das Springen als aktive Handlung eines Subjekts impliziert, bezeichnet der Begriff falling vielmehr einen Zustand: ein eher passives, nicht auf einer konkreten Entscheidung oder Handlung basierendes ‚Zu-Tode-Fallen‘. Auch wenn der Tod den Menschen aufzuheben droht und Schiller die „Aufopferung des Lebens“43 zunächst als zweckwidrig beurteilt, so diskutiert er im Kontext des Pathetischerhabenen Umstände und Bedingungen, unter denen das Opfern des eigenen Lebens nicht im Sinne eines Frevel, sondern als „Willenshandlung“44 und Ausdruck moralischer Freiheit zu be-
39 „Jede Aufopferung des Lebens ist zweckwidrig [...].“ Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 22 40 Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire 41 Vgl.: Cauchon, Moore: Desperation forced a horrific decision, in: Onlineausgabe USA TODAY 42 Zitiert nach: Cauchon, Moore: Desperation forced a horrific decision, in: Onlineausgabe USA TODAY 43 Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 22 44 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 70
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trachten ist.45 Wie ein Freitod beurteilt wird, ist abhängig von einer Narrative, innerhalb derer Ursachen, spezifische Umstände und die Charaktereigenschaften des Individuums beleuchtet werden. Die Aufgabe des eigenen Lebens ist bei Schiller nur dann Ausdruck des Sublimen, wenn das Leiden bewusst und aus einem besonderen Pflichtgefühl in Kauf genommen wird (wobei das leidende Subjekt als „moralisch große Person“ gilt). Ist dies der Fall, dann ist die Wahl des Leidens bzw. die Aufgabe des Lebens das Resultat eines „moralischen Charakters“.46 Am Beispiel des Laokoon entwickelt Schiller ein Konzept, innerhalb dessen die Aufopferung des eigenen Lebens als Ausdruck der moralischen Freiheit zu betrachten ist und somit in den Kontext des Sublimen eingeordnet werden kann. Doch entwickelt er sein Konzept nicht allein auf der Basis der bildhauerischen Ausgestaltung, sondern auch gefiltert durch die korrespondierende Legende, die den narrativen Kontext der Plastik bildet und die es ihm ermöglicht, die Motivation des Priesters zu rekonstruieren und die Aufopferung in das Pathetischerhabene zu integrieren. Diskussionen hinsichtlich der individuellen Beweggründe der Menschen in den Zwillingstürmen, die hinter der Entscheidung zum Sprung stand, rufen auch die Bilder der Stürzenden hervor. Doch bleiben diese Diskussionen weitgehend Spekulationen, denn die Stockwerke oberhalb der Einschlagstellen sind den Kameras – und somit den Augen der Weltöffentlichkeit – ebenso wie den Rettungskräften verschlossen und diejenigen, die umfassende Augenzeugenberichte dessen, was sich hinter den Fassaden abspielte, hätten liefern können, sind durch den Sturz oder beim Einsturz der Türme ums Leben gekommen. Somit entzieht sich dem betrachtenden Subjekt die genaue Kenntnis der Geschehnisse, sie verschließen sich der Erfahrung der (Über-) Lebenden und der Überführung in einen narrativen Kausalzusammenhang. Ohne vorgegebenen Deutungskontext wird der Betrachter angesichts dieser Bilder selber zur Reflexion gezwungen und darin sowie auch in der Verweigerung einer eingehenden Reflexion offenbart sich das ganze Spannungsfeld der Thematik des selbstgewählten Todes: für die einen ist es ein Frevel, ein Verrat an den Angehörigen, die Anderen wiede-
45 Vgl.: Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 22 46 Vgl.: Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 72
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rum sehen in dem Sprung eine Willenshandlung als Akt letzter Selbstbestimmtheit, mit dem die Kontrolle über das Schicksal im Angesicht der Katastrophe (zumindest teilweise) zurückerlangt wurde. Besonders deutlich tritt dieser Zwiespalt hervor bei dem weitgehend erfolglos gebliebenen Versuch, die Identität eines von Richard Drew fotografierten stürzenden Mannes zu klären.47 Als Ausgangsbasis für die Suche dient dabei Drews Fotografie Falling Man (11. September 2001): „The Hernandezes looked at the decision to jump as a betrayal of love – as something Norberto was being accused of, the woman in Connecticut looks at the decision to jump as a loss of hope – as an absence that we, the living, now have to live with.“
48
(Hervorh. A. B.)
Der Ehemann einer Frau, deren Leiche auf der Straße außerhalb des World Trade Centers aufgefunden worden war, hingegen sieht im Sprung eine Willenshandlung: „‘Whether she jumped, I don’t know. I hoped that she had succumbed to the smoke but it doesn’t seem likely. In some ways it might just be the last element of control, that everything around you is happening and you can’t stop it, but this is something you can do. To be out of the smoke and the heat, to be out in the air … it must have felt like flying.’“
49
(Hervorh. A. B.)
Ohne die Möglichkeit, die Geschehnisse in den oberen Stockwerken sowie die individuellen Motivationen zum Sprung zu rekonstruieren und somit ohne die Möglichkeit den Sprung in eine „vollständige[...] Handlung“50 einzuordnen, ist die Beurteilung des Freitodes als Verrat, vollkommene
47 Zwar ermöglichten eingehende Recherchen hinsichtlich der Identität des Fotografierten, die Zahl möglicher Personen einzugrenzen, doch konnte die Identität letztlich nicht abschließend geklärt werden. 48 Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire 49 Jack Gentul, zitiert nach: Giles Hattersley: Falling Man: the many faces of a 9/11 riddle. Veröffentlicht am 05.03.2006 in der Onlineausgabe The Sunday Times. Quelle: http://www.timesonline.co.uk/tol/news/article737421.ece. Aufgerufen am 14.10.2010. 50 Schiller: Über die tragische Kunst, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 49
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Hoffnungslosigkeit oder als Willenshandlung letztlich eine Eigenleistung des betrachtenden Subjekts, das durch persönliche Reflexion zu eigenen Schlüssen kommen muss. Das Fehlen der individuellen Biografien der Stürzenden unterläuft so die Konstruktion einer gesamtgesellschaftlichen Narrative und der Einordnung in einen Kausalzusammenhang, der eine Domestizierung des Schreckens ermöglichen könnte. Aufgrund der Tatsache, dass weitgehend eine Auslöschung dieser Bilder von der öffentlichen Bildfläche stattfand, erweist sich der 11. September 2001 als eine Todesmetapher in doppelter Hinsicht: zum einen ist der tatsächliche physische Tod das zentrale Charakteristikum des Ereignisses, zum anderen werden die zu Tode stürzenden Menschen durch die Verbannung aus den Medien auch aus dem öffentlichen Diskurs und dem offiziellen Gedenken des Ereignisses verdrängt. So sterben die Stürzenden den physischen und den medialen Tod. Hier lässt sich Susan Sontags Begriff der Gewalt durch das Bild erweitern, denn die Gewalt besteht hier nicht allein darin, dass menschliches Schicksal in Bildobjekte transformiert wird, die andere besitzen und konsumieren können. Die Gewalt besteht auch darin, dass das Schicksal eines Menschen aus dem visuellen Gedächtnis einer Gesellschaft getilgt werden kann, wenn es sich als nicht-gefälliges Zweckwidriges erweist und dem fotografierten Subjekt seine Relevanz durch verstärkte Reproduktion oder Löschen von der medialen Bildfläche beliebig zu- oder abgesprochen werden kann.
4.1.1 Richard Drew: Falling Man (11.09.2001) Der Associated Press-Fotograf Richard Drew selbst hat es als ‚das berühmteste Bild, das niemand jemals gesehen hat‘ bezeichnet51 – und beschrieb damit die Aufnahme, die er am 11. September 2001 um 9:41:15 Uhr EST von einem Mann machte, der aus dem World Trade Center in die Tiefe fiel. Es ist weder die einzige Fotografie einer stürzenden Person allgemein, noch
51 Vgl.: Rich: Whatever Happened to the America of 9/12?, in: Onlineausgabe The New York Times
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Drews einzige dieses spezifischen Mannes,52 doch die als Falling Man bekannt gewordene Aufnahme ist die herausstechendste der aus den Türmen stürzenden Menschen und eines der prägnantesten Bilder des 11. September generell. Das Bild steht repräsentativ für das, was Augenzeugen als quälendste Erinnerung an diesen Tages bezeichnet haben, und es gehört zweifellos zu den Bildikonen des 9/11 – doch handelt es sich hier um eine Ikone, deren Ausschluss aus dem öffentlichen Bilderkanon unmittelbar nach ihrer Entstehung begann, obwohl sie so bezeichnend für den Schrecken dieses Ereignisses ist. Sie hebt sich aus der Masse der Bilder heraus, doch ist sie – anders als Thomas E. Franklins Fotografie der Flaggenhissung – nicht die Art von Bildikone, die eine aufrichtende Botschaft und die Hoffnung auf die Überwindung des Schreckens transportiert, sondern sie ist der Schrecken selber: eine „Ikone[...] des Grauens“53, die den Betrachter wie ein Faustschlag in den Magen trifft.54 Drews Farbfotografie (Abb. 13) zeigt einen einzelnen, bislang nicht identifizierten Mann in dunkler Hose und weißem Hemd, der aus dem Nordturm stürzend, vor den Fassaden der beiden Türme des World Trade Centers kopfüber in die Tiefe fällt. Die Figur des Mannes befindet sich knapp in der oberen Bildhälfte, vertikal im freien Fall, die Arme seitlich am Körper anliegend und ein Bein angewinkelt. Es ist eine beinahe tänzerisch anmutende Pose, die an das erinnert, was Jeannot Simmen in Bezug auf die Darstellung eines Gestürzten des New Yorker Künstlers Matthew Barney folgendermaßen beschrieben hat: „die Beine scheinen einen Pas de Deux zu
52 Vgl. dazu : Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire. Drew machte von dem bislang nicht identifizierten Mann während seines Sturzes insgesamt 10-15 Aufnahmen. Vgl.: ebd. 53 Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie 54 Michael Hirsch, Wirtschaftsredakteur der Lokalzeitung Morning Call (Allentown, Pennsylvania) erinnert sich an den Moment, als er Richard Drews Aufnahme des fallenden Mannes erstmals sah: „It felt like I was punched in the gut, it was hard to look at. I had the same reaction to Eddy Adams photo where the South Vietnamese police chief stepped up to the Vietcong prisoner and put the pistol to his head and shot him in the temple.“ (Hervorh. A. B.) Zitiert nach: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http:// www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html
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tanzen.“55 Ohne jegliche pathetische Gesten, ohne den Anschein des Todeskampfes erweckt der im Bild fixierte Augenblick den Eindruck surrealer Leichtigkeit. In der Vertikale befindet sich die Figur des Mannes auf der Mittelachse zwischen den beiden Türmen, die den gesamten Bildhintergrund einnehmen: die linke Bildhälfte wird ausgefüllt vom Nordturm, die rechte Bildhälfte vom Südturm,56 der wegen der weiteren Entfernung in seiner Farbgebung bzw. Schattierung blasser erscheint als ersterer. Die Türme sind nicht als Ganzes sichtbar sondern nur ihre Fassaden aus Glas und Stahl, deren geometrisches Muster den kompletten Bildhintergrund ausfüllt. Die Gesamtkomposition wird maßgeblich bestimmt durch eine vertikale Linearität, die aus der spezifischen Struktur der Fassadenkonstruktion resultiert.57 In der Vertikalen setzt sich die Linearität der Fassaden über den oberen und den unteren Bildrand hinaus fort; in der Horizontalen sind es die gleichmäßigen Reihen aus Stahl und Glas, die sich über den linken und rechten Bildrand hinaus ausdehnen. Der stürzende Mann ist das einzige Element in der Bildfläche, das die Regelmäßigkeit und Gleichartigkeit des Hintergrundes unterbricht; vor allem das stark angewinkelte Bein widersetzt sich der ansonsten konsequenten Linearität der Gesamtkomposition. Gleichsam fügt sich seine Figur dennoch durch die Vertikalität des Sturzes optisch in das Gesamtbild ein und so wiederholt sich in der Positionierung des Körpers (ebenso wie in seiner Farbgebung) die Fassadenstruktur. Obwohl es sich bei Drews Aufnahme um eine Farbfotografie handelt, ist die Farbigkeit des Bildes so minimalistisch, dass sie im Wesentlichen auf
55 Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online 56 Vgl. dazu : Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire 57 Die Vertikalität ist nicht allein im Hinblick auf die Fotografie Richard Drews eine zentrale Komponente sondern spiegelt sich im Ereignis 9/11 insgesamt wider. In der Vertikalität des Sturzes scheint der später folgenden Einsturz der Zwillingstürme, der dem Betrachter zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Fotos bereits bekannt ist, vorweggenommen. Das vertikale Zusammensacken der Türme erscheint im bzw. als Bild beinahe ‚diszipliniert‘ und ‚geordnet‘, was angesichts des Ausmaßes der Gebäude und der Katastrophe ebenfalls zur Irritation der Wahrnehmung des Betrachters führt.
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Schwarz, Weiß und Grautöne reduziert ist und beinahe den Eindruck einer Schwarz-Weiß-Fotografie erweckt.58 Am Tag nach den Anschlägen wurde Drews Foto des Falling Man in US-amerikanischen und internationalen Zeitungen veröffentlicht und löste einen Sturm öffentlichen Protests aus. In der Redaktion des Morning Call, einer Lokalzeitung in Allentown, Pennsylvania, war man sich schon vor der Veröffentlichung in der Ausgabe vom 12. September 2001 bewusst, dass dieses Bild heftige Kontroversen hervorrufen würde, entschied sich aber dennoch zur Publizierung, da man es als bedeutendes Dokument des Ereignisses erachtete. Auf die Reproduktion der Aufnahme auf der Rückseite des ersten Buches, wo es größer als in jeder anderen US-amerikanischen Zeitung abgedruckt wurde, verzeichnete die Redaktion mehr Reaktionen einer entrüsteten Leserschaft als es jemals zuvor wegen eines Bildes gegeben hatte.59 Auch die Redaktion der New York Times, die den Falling Man auf Seite 7 abdruckte, sah sich heftigster Kritik einer Öffentlichkeit ausgesetzt, die befand, dass dieses Bild „der trauernden Stadt nicht zuzumuten sei.“60 In Richard Drews Aufnahme manifestiert sich die ganze Zwiespältigkeit des 9/11 und seiner Bewältigung: es fixiert die Essenz des Schreckens dieses Ereignisses und wird dennoch aus dem visuellen Gedächtnis der Gesellschaft entfernt; es besticht durch eine beinahe makellose Ästhetik und ist doch Ausdruck puren Grauens; es stößt den schockierten Betrachter ab und zieht ihn gleichzeitig unweigerlich an; es hält das im Bild fixierte Subjekt auf der Schwelle zwischen Leben und Tod fest; es thematisiert das Rationale sowie das Irrationale und legt die Tabus offen, mit denen die Themen Tod und Freitod in einer Gesellschaft behaftet sind, in der gleichzeitig Szenen des Todes und der Gewalt zum alltäglichen Medienkonsum gehören. Dieses eine Bild ist Ausdruck enormer Spannungsfelder und Dichotomien, innerhalb derer sich seit je her die Diskussionen um das Erhabene bewegen und die vor allem im 18. Jahrhundert mit dem Versuch verknüpft sind, eine Auflösung dieser Konflikte herbeizuführen. In all seiner Zwie-
58 Ohne starke Vergrößerung ist keine Farbigkeit (z.B. die Hautfarbe des Mannes) zu erkennen und der Eindruck einer gewissen Farblosigkeit wird zunächst nicht unterbrochen. 59 Vgl.: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http:// www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html 60 Saur: Suche nach Orientierung, in: Berliner Zeitung vom 17.09.2001, S. 17
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spältigkeit, die sich einer zweckmäßigen Betrachtung durch das Subjekt widersetzt, erfüllt dieses Foto zentrale Kriterien des Schrecklich-Erhabenen. Die Sogwirkung der Aufnahme geht maßgeblich von ihrer makellosen Ästhetik aus, die angesichts des Schreckens, der den Deutungshintergrund der Aufnahme bildet, geradezu surreal erscheint. Sowohl die Gesamtkomposition des Fotos als auch die Körperhaltung des Stürzenden unterlaufen jegliche Logik des Betrachters im Hinblick auf das katastrophische Ereignis und den menschlichen Todeskampf. Es ist vor allem die tänzerisch anmutende Pose des Mannes, die der Erwartung des Rezipienten widerspricht und eine Dissonanz der Erkenntniskräfte hervorruft: „Mit dem Kopf voran, mit angelegten Armen und einem angewinkelten Bein scheint der ‘Falling Man’ wie ein professioneller Turmspringer eine einstudierte Choreographie auszuführen. Der Sprung wirkt wie ein künstlerisches Statement, wie ein provokativer Kommentar zum tausendfachen Tod. Drews perfekt komponiertes Foto verdoppelt diesen verstörenden artistischen Cha61
rakter noch einmal [...].“
(Hervorh. A. B.)
Wo die antike Laokoonplastik in der pathetischen Ausgestaltung des Gesichtsausdrucks und dem schmerzvoll sich windenden Körper die Erwartungen des Betrachters an die Darstellung eines Todeskampfes erfüllt, da unterläuft der Falling Man das traditionelle Verständnis sowie traditionelle Darstellungsformen einer solchen (Ausnahme-) Situation. Die Körperhaltung des Fotografierten wirkt vollkommen entspannt und gelassen, so dass sein Sturz beinahe wie ein Schweben anmutet. Außer der Tatsache, dass er kopfüber senkrecht hinabstürzt, kann der Betrachter im Bild selbst kein Anzeichen einer lebensbedrohlichen Situation erkennen. Die augenscheinliche Leichtigkeit kontrastiert das katastrophische Ausmaß des Ereignisses, dem dieser Mann zum Opfer fällt und das auch Deutungskontext für den Betrachter ist. Darüber hinaus strahlt das Bild durch seine reduzierte Formensprache, die auf die Figur des Stürzenden und die geometrische Fassa-
61 Ein Stillleben mit Zwillingstürmen (ohne Verfasser). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.11.2007, Nr. 256 / Seite Z5. Hier nach folgender Quelle zitiert: FAZ.NET vom 03.11.2007 unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ rezensionen/belletristik/ein-stillleben-mit-zwillingstuermen-1493500.html. Aufgerufen am 08.10.2011.
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denstruktur beschränkt ist, eine enorme Stille aus, die einen Gegenpol zum Chaos des Ereignisses bildet. Die Ästhetik der Aufnahme steht dem Schrecken der Geschehnisse diametral entgegen und bringt die Erkenntniskräfte des Betrachters, der die Stille und Leichtigkeit des Bildes mit der Katastrophe nicht in Übereinstimmung zu bringen vermag, an Grenzen. Die oberflächliche Gefälligkeit der ästhetischen Makellosigkeit der Bildkomposition erweist sich als zutiefst zweckwidrig, denn darunter offenbart sich ein Abgrund des Schreckens und der Irrationalität. Da die Bildoberfläche keine erkennbaren Spuren des Schreckens aufweist, lässt sich die Schockwirkung des Falling Man mit der Eigenleistung des betrachtenden Subjekts erklären, das vor allem durch die Medienberichterstattung das Dargestellte mit der Tragik des 9/11 verknüpfen und die Bildoberfläche mit eigenen Assoziationen aufladen kann. Der Bruch zwischen dem, was im Bild unmittelbar angeschaut werden kann, und dem, was zwar im Foto selbst nicht zu sehen ist, jedoch den Kontext der Aufnahme bildet, ist Ausdruck des Unfassbaren und Unkommunizierbaren, die sich unter der oberflächlichen Leichtigkeit verbergen. Die Zweckwidrigkeit der objekthaften Darstellung verweist auf eine Dimension jenseits des Sinnlich-Fassbaren: auf das Übersinnliche, das sich der konkreten Formgebung entzieht. Neben der Figur des Stürzenden besteht das einzige andere Bildelement aus den Fassaden des World Trade Centers, die sich in der Gleichmäßigkeit der Linearität über den Bildrand hinaus ins Unendliche auszudehnen scheinen. „Die Ideen von Ewigkeit und Unendlichkeit gehören zu den eindrucksvollsten, die wir haben“62, stellt Burke in seiner Philosophischen Untersuchung fest und klassifiziert die Eigenschaften der Unendlichkeit sowie der Sukzession und Gleichartigkeit als Quellen des Sublimen. Dabei bezieht er den Aspekt der Unendlichkeit vor allem auf Naturobjekte, während Sukzession und Gleichartigkeit das „künstliche Unendliche“63 bezeichnen. Die Grenzen zwischen diesen unterschiedlichen Eigenschaften, die im Gefühl des Erhabenen resultieren können, sind allerdings fließend, denn auch unter ersterem versteht Burke keine reale Unendlichkeit, sondern eine scheinbare. Bei einem scheinbar unendlichen Objekt wird die Einbildungskraft über sich hinaus getrieben und setzt die Reihe beliebig fort, so dass die Idee des Unendlichen entsteht. Im Hinblick auf das künstliche Unendli-
62 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 96 63 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 111
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che bewirkt die Sukzession, dass die Einbildungskraft zur Idee der Fortsetzung der jeweiligen Impulse über die physischen Grenzen des Objekts hinaus angeregt wird. Die Gleichheit des Impulses ist von Bedeutung, da jegliche Abweichung vom bestehenden Muster die Einbildungskraft hemmen würde und die Idee der Unendlichkeit nicht zustande kommen könnte.64 Gleichartigkeit und Sukzession der Fassaden der Zwillingstürme tragen in Falling Man maßgeblich dazu bei, dass hier der Eindruck des Unendlichen entsteht, was sich auf Raum und Zeit bezieht, denn im Hinblick auf beide Dimensionen versagt die Aufnahme dem Betrachter einen Orientierungspunkt. Im Hinblick auf die Raumebene bewirkt die lineare Gleichförmigkeit, die sich über die gesamte Bildfläche erstreckt, eine Auflösung des Raumes. Denn auch wenn der Betrachter durch Eigenleistung bzw. durch die mediale Berichterstattung den narrativen Kontext des Fotos rekonstruieren und das Geschehen vor den räumlichen Hintergrund des World Trade Centers einordnen kann, so versagt das Bild spezifische Raumstrukturen als Orientierungspunkt, die erkennen lassen, vor welcher Fassade und in welcher Höhe sich der Stürzende zum Zeitpunkt der Aufnahme befindet. In der zeitlichen Dimension wird hier ein Augenblick im Leben bzw. Sterben eines Mannes durch die Fixierung im Bild zu einem ewigen Moment. Die Dichotomie zwischen dem vergänglichen Augenblick und der Belichtungszeit, die diesen auf ewig festhält, sorgt für eine Irritation der Wahrnehmung. Denn eigentlich zeigt die Aufnahme ein Bewegungsmoment (den Sturz), das aufgehoben wird durch die Stille und Leichtigkeit, die in der fotografischen Fixierung entsteht. Doch nicht nur der Stürzende bleibt für immer gefangen in diesem spezifischen Augenblick, sondern auch der Betrachter, gegen dessen Wahrnehmung das Einfrieren der Zeit verstößt: hier wird ein Augenblick zum absoluten Moment erhoben, der die Einbildungskraft aus der Fassung bringt. Allerdings ist das ikonische Einzelbild die einzige der insgesamt 10-15 von Drew angefertigten Aufnahmen dieses spezifischen Mannes, die ihn in einer tänzerisch anmutenden Pose zeigt und den Eindruck ungeheurer Leichtigkeit erweckt. Die übrigen Aufnahmen enthüllen, dass der Mann genauso stürzte, wie alle anderen die in die Tiefe sprangen oder fielen, und
64 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 110-112
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dass auch ihm der Todeskampf anzusehen war.65 So wird die angesichts des Ereignisses surreal anmutende Ästhetik letztlich als irreal entlarvt. Auch wenn Drews Aufnahme eine Fotografie im klassischen Sinne ist, die auf objekthafter, sinnlich-fassbarer Darstellung beruht, so sind ihre visuellen Chiffren doch derart, dass sie die Wahrnehmung des Betrachters irritieren und gewohnte Wahrnehmungs- und Erkenntnismuster außer Kraft setzen. Diese Wirkung des Reportagefotos erinnert an Heiner Bastians Beschreibung der Werke Andy Warhols, dem medial reproduzierte Standfotos als Grundlage für seine Arbeit dienten: „Der Augenblick, den die Bilder als das Unvorhersehbare aus der Wirklichkeit übertragen, ist auch das heterogene Fremde, das uns, den Betrachtern, aus der Wirklichkeit des Bildes entgegenschlägt.“
66
Dies lässt sich auf Falling Man übertragen, denn die Irritation der Wahrnehmung, die hier aus dem Kontrast zwischen makelloser Bildästhetik und katastrophischem Ereignis, zwischen Bewegungsmoment und Fixierung, zwischen der Vergänglichkeit des Augenblicks und der Darstellung als absolutem Moment resultiert, schlägt dem Betrachter als Fremdes, Zweckwidriges entgegen. Die Zweckwidrigkeit eines Objektes ist für Kant eine zentrale Bedingung für die Entstehung des Gefühls des Erhabenen: nur wenn das Objekt als fremd wahrgenommen wird und sich einer zweckmäßigen Betrachtung durch das Subjekt entzieht, qualifiziert es sich im Kontext des Sublimen.67 Wo im medialen Normalbetrieb Bilder von Katastrophen und menschlichem Schicksal dem Rezipienten als Konsumware dargeboten werden und zweckdienlich Sensationslust und Neugier befriedigen, da entzieht sich Falling Man einer solchen Betrachtungsweise. Der gesellschaftliche und mediale Umgang mit diesem Bild trägt die Züge des vor allem von Kant herausgearbeiteten Zwei-Phasen-Modells, das dem Gefühl des Erhabenen zugrunde liegt und beschreibt, wie das Subjekt
65 Vgl.: Junod: The Falling Man, in: Onlineausgabe Esquire und Giles Hattersley: Falling Man: the many faces of a 9/11 riddle, in: Onlineausgabe The Sunday Times vom 05.03.2006. 66 Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität, in: Bastian (Hrsg.): Andy Warhol Retrospektive, S. 29 67 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 175-176
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von Szenen des Schreckens gleichzeitig angezogen und abgestoßen wird, da sich Gefühle der Unlust und einer Art negativer Lust vermischen.68 Die Metapher des Sturzes ist in der christlich geprägten Kultur tief verankert und verweist auf apokalyptische Ängste sowie die Instabilität der menschlichen Existenz.69 Der Schrecken, der Sturz-Vorstellungen zugrunde liegt, ist jedoch gleichzeitig Auslöser der Faszination mit diesem Thema (beispielsweise im kunsthistorischen Kontext) und affiziert den Betrachter unweigerlich: „Alle Stürzenden berühren uns direkt und tief. Der Betrachter bleibt nicht un70
berührt [...]. Soghaft fühlen wir uns von Sturzfiguren fasziniert.“
(Hervorh.
A. B.)
Das Paradoxon des gleichzeitigen Abstoßens und Anziehens zeigt sich in der heftigen öffentlichen Ablehnung des Bildes einerseits und der Akzeptanz andererseits, die dem filmisch inszenierten Versuch der Identifizierung des fotografierten Mannes entgegengebracht wurde. Denn die Proteststürme richteten sich vor allem gegen die Veröffentlichung der Fotografie in Printmedien (auch wenn ebenfalls die bewegten Bilder springender Menschen vielfach aus der Live-Berichterstattung des Fernsehens verbannt wurden). Drews Reportagefoto bildete die Grundlage für die Dokumentation 9/11: The Falling Man (Großbritannien 2006, Regie: Henry Singer), im Rahmen derer man die Identität des fotografierten Mannes zu klären versuchte. In der Dokumentation, die z.B. der deutsche Fernsehsender RTL II in der Reihe Schicksalsreportage unter dem Titel 11. September 2001 – Sprung in den Tod ausstrahlte, wurde die Suche nach der Identität des Fotografierten in bewegten Bildern dargestellt und das Foto in eine narrative Struktur eingebettet. Anders als die Veröffentlichung von Drews Aufnahme selbst, stieß Henry Singers Dokumentation weitgehend auf öffentliche Akzeptanz.71
68 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 134-135 69 Vgl.: Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online 70 Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online 71 Als die deutsche Fassung der Dokumentation beispielsweise am 05.09.2006 (RTL II, 22:15 Uhr) ausgestrahlt wurde, schalteten 1,33 Millionen Fernsehzuschauer zu. Vgl.: Alexander Krei: Durchwachsenes Comeback für Bärbel Schä-
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Bei den Filmaufnahmen wurden Menschen, von denen man glaubte, sie könnten die Angehörigen des Stürzenden sein, mit der Fotografie konfrontiert. Der Fernsehzuschauer hingegen, kann sich durch den Fluss der bewegten Bilder sowie den Aufbau einer narrativen Struktur, der Konfrontation mit dem Foto selbst entziehen und aus sicherer Distanz die Faszination des Grauens spüren. Die Ablehnung von Drews Reportagefoto einerseits und die Akzeptanz von Singers filmischer Dokumentation andererseits, spiegeln nicht allein die Gleichzeitigkeit von Unlust und Lust, von Abstoßen und Anziehen wider sondern sie verweisen auch auf den Unterschied der Wirkweise von Standbildern und bewegten Bildern: „Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild. In einer Ära der Informationsüberflutung bietet das Foto eine Methode, 72
etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten.“
Gerade die statische Reportagefotografie Falling Man, ohne dass sie in den Ablauf bewegter Bilder einer ‚Story‘ integriert ist, konfrontiert den Betrachter direkt und gräbt sich unerbittlich und quälend in sein visuelles Gedächtnis ein. Die filmische Aufbereitung hingegen, die einen narrativen Zusammenhang herstellt, ermöglicht die Flucht vor der Intensität des Fotos. In einer Zeit, in der das Subjekt laut Virilio durch das Zu-Schnell und Zu-Viel der Bilder sowie Informationen überfordert und von unmittelbarer Erfahrung von Welt entfernt ist, bedeutet das Standbild bzw. Foto ein ‚Innehalten‘. Doch angesichts des Falling Man erweist sich das ‚Innehalten‘ nicht als Erlösung von der Bilderflut und als Orientierungshilfe sondern als unerbittliche Konfrontation mit dem, gegen das sich das Subjekt verweigert und das aus den Medien sowie aus dem Gedächtnis gelöscht werden soll. Das Foto fordert die unmittelbare Konfrontation mit dem Betrachter heraus: der alleine stürzende Mann, vor einem Hintergrund, dessen lineare Gleichmäßigkeit keine Ablenkung von seiner Figur gestattet, wird zur Projekti-
fer: Neue RTL II-Doku startet mittelmäßig. Veröffentlicht auf Quotenmeter.de am
06.09.2006.
Quelle:
http://www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=16348
&p3=. Aufgerufen am 11.07.2011. 72 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 29
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onsfläche für den Rezipienten, der nun zur Reflexion über die Frage gezwungen wird, ob der Sturz beabsichtigt oder unbeabsichtigt war und welche Dimension des Grauens zum Sturz oder zur Entscheidung zum Sturz geführt haben könnte. Die Irreversibilität und Endgültigkeit des Schicksals dieses Mannes sind im Bild dokumentiert, doch gleichzeitig hält es die Fragen für den individuellen Betrachter weiterhin offen. Angesichts der heftigen Proteste der Leserschaft als Reaktion auf die Veröffentlichung des Fotos, verwies David Erdman, Geschäftsführer des Morning Call, auf die Bedeutung des Falling Man als Projektionsfläche: „I really think it did cause anybody who looked at that photo to think about what would I do … what choice would I make and the absolute horror of mak73
ing that choice.“
(Hervorh. A. B.)
Im Gegensatz zu den Heldenbildern des 9/11 ist das betrachtende Subjekt hier mit Fragen nach der eigenen Verletzlichkeit und der Zweckwidrigkeit eines sich als unkontrollierbar erweisenden Schicksals konfrontiert. Dies erinnert an den von Burke beschriebenen Affekt des Schmerzes, der das Subjekt in den Zustand tiefer Nachdenklichkeit versetzt und dazu führt, dass es sich nach innen kehrt,74 also gewissermaßen auf sich selbst zurückgeworfen wird. Die Reflexion über das Foto und die eigene Person bedeutet auch die Konfrontation damit, dass es Phänomene gibt, die sich dem Fassungsvermögen und der Erfahrung des Betrachters verschließen. Denn wie kann das betrachtende Subjekt eine Entscheidung über Leben und Tod fällen, wenn es sich die Rahmenbedingungen dieser Entscheidung aufgrund fehlender sinnlicher Erfahrung – auch durch visuelle Dokumente wie Reportagebilder – im Kern nicht vorstellen kann? Der Anblick des Stürzenden zwingt den Betrachter also auch dazu, sich ein Übermaß an Schrecken vorzustellen, dass sich seiner Erfahrung entzieht und daher für ihn unvorstellbar ist. Die Bilder der einstürzenden Türme – auch wenn diese ebenfalls symbolisch für das Ereignis stehen und das unfassbare Ausmaß der Katastrophe verdeutlichen – lenken doch (zumindest visuell) davon ab, dass am 11. Sep-
73 Zitiert nach: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http://www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html 74 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 67
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tember 2001 nicht nur zwei Gebäude buchstäblich von der Bildfläche verschwanden, sondern auch fast 3.000 Menschen starben. Zwar fungieren die einstürzenden Gebäude als Chiffren des Todes, doch findet menschliches Sterben maßgeblich hinter den Fassaden statt, wo es den Blicken der Kameras weitgehend entzogen ist. Die Architektur als Chiffre wird für den Rezipienten auch zum Schutzschild, das den Blick auf die menschliche Tragödie im Inneren der Türme verdeckt; Tod und Sterben werden weitgehend hinter brennenden oder einstürzenden Fassaden sowie Staubwolken verborgen. Hinzu kommt, dass Architektur, auch wenn sie wie im Falle des World Trade Centers, einen signifikanten Bestandteil des Stadtbildes darstellte und ihr Fehlen eine sichtbare Lücke in der Skyline Manhattans hinterlassen hat, dem Betrachter doch wenig Projektionsfläche liefert. Anders hingegen Bilder, die Personen darstellen. In Drews „Ikone[...] des Grauens“75 ist es die Figur des einzelnen Menschen, als Einzelschicksal, die die individuelle Projektion eines jeden Betrachters herausfordert: „what would I do … what choice would I make [?; A. B.]“76 Anders als Raising the Flag at Ground Zero, das das individuelle Schicksal ausblendet zugunsten des Kollektiven sowie der Aktivierung nationaler und patriotischer Ideen, entwickelt Drews Bild seine Macht gerade durch die Fokussierung auf das Individuum. Hier wird die Selbsterhaltung des Subjekts angesprochen, die Burke dem Erhabenen zuordnet und die für ihn machtvoller ist als Ideen, die mit der Erhaltung der Gesellschaft verknüpft sind.77 Falling Man ist visuelles Dokument menschlichen Schicksals, das endgültig ist und den sicheren Tod zur Folge hat. Die Nüchternheit der Darstellung unterläuft die Idee des heroischen Gestus im Angesicht des Schreckens, denen sich eine schockierte und verunsicherte Bevölkerung sowie die politische Führung bevorzugt zuwenden, bei dem Versuch 9/11 zu verarbeiten. Das Fehlen eines heroischen Gestus, der innerhalb von Schillers Pathetischerhabenem notwendig ist, um die Grenze vom „Mit-leiden“78
75 Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie 76 Zitiert nach: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http://www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html 77 Vgl.: Burke: Philosophische Untersuchung, S. 72 78 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 167
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zum „Selbst-leiden[...]“79 nicht zu überschreiten, bewirkt, dass der Betrachter des Falling Man dieser Szene menschlichen Schicksals schutzlos ausgeliefert ist. Eine Projektion bzw. direkte Konfrontation zwischen Subjekt und Dargestelltem findet statt, in einer Situation, die insgesamt durch den Verlust des Gefühls von Sicherheit geprägt ist. Falling Man unterläuft den ‚Puffer‘ des Heroischen, es zwingt das betrachtende Subjekt die Grenze zwischen „Mit-leiden“80 und „Selbst-leiden[...]“81 zu überschreiten und führt dazu, dass der Betrachter, der durch Abwehrreaktionen versucht sich des Bildes zu entledigen, vom Affekt des Mitleides überwältigt wird. Zwar gewährt das Foto die sichere physische Distanz zum realen Geschehen, doch, dies bestätigen auch die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie, heben die Bilder des 11. September die schützende psychische Distanz auf und bewirken, dass der distanzierte Betrachter am Ereignis mit-leidet. Die Distanz, die in den Erhabenheitstheorien der Aufklärung eine Bedingung für das Entstehen des Gefühls des Sublimen ist, wird bei Drews Fotografie aufgehoben. Dadurch wird das Moment der Erhebung des Subjekts über den Schrecken und eine daraus resultierende Selbststärkung unmöglich gemacht; der Zustand des Schocks, der nun nicht mehr aufgelöst werden kann, wird zum bestimmenden Moment der Erfahrung. Die Suche nach der Identität des Mannes in der Dokumentation 9/11: The Falling Man, scheint letztlich auch eine Suche nach persönlichen Motiven für den Sprung zu sein – doch da die Identität bis heute nicht sicher geklärt werden konnte, bleibt auch das individuelle Motiv Spekulation. Verlor der Mann versehentlich den Halt am Fenster oder sprang er absichtlich? Trieben ihn die schiere Verzweiflung oder Atemnot zum Sprung, war das Motiv Resignation, Hoffnungslosigkeit oder ein Akt letzter Selbstbestimmtheit in einer ausweglosen Situation? Die ungeklärte Identität gestattet keine Rückschlüsse auf individuelle Motive oder persönliche Charaktereigenschaften. So kann der Rezipient das Bild nicht in den Kontext der individuellen Geschichte eines anderen einordnen und sich dadurch der Reflexion über das eigene Ich entziehen. Wie bei der Thematik der 9/11-Stürzenden allgemein, liefert auch Drews Reportagefoto keine Darstellung einer vollständigen Handlung, die
79 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 166 80 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 167 81 Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 166
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Schiller für das Pathetischerhabene fordert. Falling Man lässt den Betrachter vielmehr allein mit nur einem einzigen Augenblick der Handlung: mit der Tatsache, dass ein Mann am 11. September 2001 aus dem Nordturm des World Trade Centers kopfüber in die Tiefe stürzte. So wie diese „Ikone[...] des Grauens“82 in dem um 9:41:15 Uhr EST fixierten Moment verharrt, so bleibt auch der Betrachter in der Unerbittlichkeit des menschlichen Schicksals, das ihm hier vor Augen geführt wird, gefangen. Gerade darin, dass das Bild keine Flucht vor der Selbstreflexion erlaubt und den Betrachter im Moment größten Schreckens festhält, entfaltet es seine Macht. Die Forcierung der Selbstreflexion unterläuft auch die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Einigung auf eine bestimmte Interpretation im Sinne des Kantischen sensus communis. Wenn der Betrachter gezwungen ist, das eigene Ich zu reflektieren, kann er nur zu seiner persönlichen Interpretation und Wirkung des Bildes gelangen, die wenig oder gar nicht mit den Wahrnehmungen anderer übereinstimmen mögen. Zudem beschränkt das Versagen der Erkenntniskräfte die Möglichkeit, das eigene Empfinden sprachlich oder visuell auszudrücken, was die Basis dafür bietet, den Schrecken mit anderen zu teilen und gemeinschaftlich zu verarbeiten. Auch wenn es die Eigenleistung des Subjekts ist, das Bild mit Assoziationen aufzuladen und es Stimmen gibt, die den Sturz aus dem World Trade Center als einen Akt letzter Selbstbestimmtheit – also als eine Willenshandlung – betrachten, so zeigen die Proteste gegen die Veröffentlichung der Bilder Stürzender, dass es angesichts dieser Aufnahmen äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, zu einer positiven Auflösung des Dargestellten zu gelangen. Franklins Raising the Flag at Ground Zero bestätigt die Theorien des Erhabenen der Aufklärung weitgehend, da es das Moment der Überwindung des Schreckens und die Stärkung der US-Nation in den Vordergrund rückt; im Gegensatz dazu unterläuft Drews Falling Man dieses traditionelle Konstrukt des Schrecklich-Erhabenen. Zwar weist diese „Ikone[...] des Grauens“83 Elemente traditioneller Konzepte des Sublimen auf (z.B. die Thematik des Todes, der Fokus auf Selbsterhaltung des Subjekts, die Sukzession und Gleichartigkeit der Fassadenstruktur), doch in der Forcierung der Konfrontation mit dem Betrachter sowie darin, dass der Schritt zur Erhebung bzw. Selbststärkung des Subjekts verweigert wird, erweist sich die
82 Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie 83 Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie
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Nähe zu den postmodernen Analysen. Statt das Subjekt zu Stärke und Überlegenheit zu führen, wie es die Theorien der Aufklärung propagieren, werden ihm hier seine Grenzen aufgezeigt. Falling Man irritiert gewohnte Wahrnehmungsmuster, hält den Stürzenden sowie den Betrachter im Moment des Schreckens fest und die der Aufnahme inhärenten Dichotomien offen: den Übergang vom Leben zum Tod, das Vergängliche und das Ewige, den Augenblick und das Absolute, Resignation und Willenshandlung.
4.2 B ILDDOKUMENTE
DES
V ERSCHWINDENS
Die Thematik des Verschwindens kommt in den Bildern des 11. September auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Implikationen zum Vorschein: bei den Aufnahmen der Stürzenden bewirkt die Schockwirkung, dass sie von der medialen Bildfläche verschwinden. Darüber hinaus sind als bildhafte Reaktionen Aufnahmen entstanden, in denen das Verschwinden selbst zum Bildgegenstand erhoben wird. Exemplarisch für die visuellen Dokumente, die den Prozess des Verschwindens fixieren, werden in dieser Arbeit Fotografien diskutiert, die das Ereignis nicht in objekthafter Form sondern in abstrakten Ausdrucksformen zu fassen versuchen. Zwar wurden diese Bilder im Katalog der Ausstellung Here is New York veröffentlicht, doch sind sie nicht Teil eines offiziellen Bilderkanons, auf den beispielsweise an den Jahrestagen der Terroranschläge verstärkt zurückgegriffen wird. Sie gehören zu den visuellen Randerscheinungen, obwohl sie Ausdruck einer unabänderlichen Folge des 9/11 sind: das Sterben bzw. ‚Verschwinden‘ von Menschen, von denen oftmals nicht mehr übrig blieb als der weiße Staub, der sich nach dem Zusammensturz der Türme über Downtown Manhattan gelegt hatte. Falling Man verweist durch den physischen Übergang (wobei der Sturz als sinnlicher Code fungiert) auf die Schwelle zwischen Leben und Tod, die das Fassungsvermögen des Betrachters übersteigt und sich seiner Erfahrbarkeit entzieht. Die Thematik von Leben und Tod liegt auch den abfotografierten Steckbriefen sowie Bildern vermisster Personen bzw. Opfer zugrunde, die nach dem Einsturz der Türme zu tausenden an Ground Zero angebracht waren. Neben denjenigen Aufnahmen, die eine fotografische Reproduktion darstellen und in denen die Steckbriefe/ Fotos eindeutig zu erkennen sind, entstanden andere, bei denen der Betrachter nur erahnen kann,
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dass es sich hier um Abbildungen von Vermissten und Opfern handelt. Zu sehen sind nur noch die ausgebleichten und verwaschenen Spuren des Dargestellten, die sich den Fotografien eingeschrieben haben und dem Betrachter mangels sinnlicher, objekthafter Formen kaum Rückschlüsse auf das ermöglichen, was ursprünglich einmal gezeigt wurde. Die Kamera hat hier ein visuelles Dokument produziert, das die Erwartung des Betrachters hinsichtlich der Abbildung der Geschehnisse unterläuft. Ein Bild, das ein konkretes Bildnis verweigert erscheint in einer verbilderten Welt als paradox und lässt an Kants Idee der negativen Darstellung denken. Er sieht das Potential einer negativen Darstellung vor allem darin, dass die Einbildungskraft von den Schranken des Sinnlichen befreit wird und dadurch erst zur vollen Entfaltung kommt. So kann das Subjekt zu Ideen gelangen, die jenseits sinnlicher Darstellung liegen; deshalb repräsentiert die negative Darstellung für Kant eine Möglichkeit, durch die das Subjekt zum Gefühl des Sublimen gelangen kann.84 Da die Fotografien nahezu unkenntlich sind, kann eine Bildbeschreibung nur auf der Basis von Vermutungen erfolgen, was die ursprünglichen Bilder, die in verwittertem Zustand abfotografiert wurden, einmal gezeigt haben könnten. Zur Wirkung dieser visuellen Randerscheinungen gibt es kaum Quellen und so soll ihre vermutete Rezeption bzw. Wirkung u.a. mit dem Rückgriff auf die abstrakten Leinwände Barnett Newmans und deren Interpretation durch Lyotard untersucht werden. Im Falle der Schwarz-Weiß-Fotografie von Jacob Blickenstaff (Abb. 14) ist nur schemenhaft zu erkennen, dass es sich um die Spuren eines Porträts handelt. Angedeutet ist die Form eines menschlichen Gesichts: die Umrisse des Kopfes, die mit dem Bildhintergrund verschwimmen, das Kinn, schwach angedeutet das linke Ohr. Das Gesicht erscheint bis auf die Andeutung des linken Auges als leere Fläche und lässt keinerlei Schlüsse auf die Identität der abgebildeten Person zu. Das bis zur Unkenntlichkeit verwaschene Porträt nimmt den größten Teil der Bildfläche ein. Über die obere linke Ecke ragt der Teil eines kaum identifizierbaren Elements, eventuell eine an einen Maschendrahtzaun, der an der oberen Bildkante angedeutet ist, gebundene Schleife. Bei der Farbfotografie, die Phillip Buehler der Ausstellung Here is New York stiftete (Abb. 15), scheint es sich um das Abbild eines verwitterten
84 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 182-183
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Steckbriefs zu handeln, der nur noch durch die dafür typischen Bausteine (Foto und Beschreibung der Merkmale einer gesuchten Person) zu identifizieren ist. Der größte Teil des Bildes wird ausgefüllt von einer Fläche, die einmal das Porträt der/des Vermissten gezeigt haben könnte, deren einziger Inhalt nun aber ineinander verwaschene Schwarz-, Weiß- und Grünschattierungen sind. Darunter die Spuren vermutlich eines Textelements, das die Beschreibung der/ des Gesuchten gewesen sein könnte. Eine gewisse „ahnungsvolle Dunkelheit“85 kommt hier zum Vorschein und verstärkt die Wirkung der Bilder. Burke sieht in der Darstellung des Unkenntlichen auch im Bild ein Potential, den Betrachter zu affizieren. Dies parallelisiert Kants Idee der negativen Darstellung, bei der die visuelle Fassung und nicht die primäre Anschauung des Naturobjekts die Quelle des Sublimen ist: „Und doch trägt selbst in der Malerei eine ahnungsvolle Dunkelheit in manchen Fällen zur Wirkung eines Gemäldes bei: weil nämlich die gemalten Bilder denen in der Natur genau gleichen und weil auch in der Natur dunkle, verworrene, ungewisse Bilder eine größere Gewalt auf die Phantasie und damit auf die Erregung heftiger Leidenschaften ausüben, als dies die klareren und bestimmteren tun.“
86
(Hervorh. A. B.)
Dass es sich vermutlich um die verwitterten Spuren der Porträts und Steckbriefe vermisster Personen des 9/11 handelt, wird nicht aus diesen Fotografien selber deutlich, sondern ergibt sich erst aus dem Zusammenhang ihrer Publizierung und Archivierung. Erst der Kontext des spezifischen Bildarchivs Here is New York gestattet eine Einordnung des Dargestellten, die das Bild selbst aufgrund der Absenz des Objekthaften nicht zulässt. So fungiert das Bildarchiv hier als Orientierungs- und Interpretationshilfe. Die Aufnahmen in denen das Dargestellte unkenntlich ist, unterlaufen das traditionelle Verständnis der Fotografie, da sie zwar Abbild des Sinnlichen sind, sich durch die Zuwendung zum Formlosen dem Sinnlichen gleichzeitig jedoch verweigern. „[...] [E]s liegt in der Natur der Fotografie, daß sie – anders als die Malerei – ihren Gegenstand niemals transzendieren kann. Ebenso wenig kann ein Fotograf sich je über das Sichtbare erheben –
85 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 97 86 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 97-98
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was in gewissem Sinne das höchste Ziel moderner Malerei ist.“87 Die hier exemplarisch ausgewählten fotografischen Dokumente transzendieren den Gegenstand, der ihnen zugrunde liegt, letztlich nicht, denn sie bilden ein real existierendes Objekt ab – sind also Abbild einer realen Erscheinung – und versuchen die Geschehnisse doch auf ungewöhnliche Weise zu fixieren. Bildproduktion sowie Veröffentlichung basieren auf einem Entscheidungsprozess des Fotografen: zunächst ist der Moment der Aufnahme gekoppelt an die Auswahl des spezifischen Motivs. Hier fällt die (bewusste oder unbewusste) Entscheidung für die Hinwendung zum Formlosen, was impliziert, dass dies als möglicher Ausdruck für das Ereignis erachtet wird. In einem weiteren Schritt entscheidet sich der Bildproduzent dazu, die Aufnahme im Rahmen der Ausstellung Here is New York öffentlich zugänglich zu machen. Dies wiederum lässt darauf schließen, dass das Bild mit seiner Abkehr vom Objekthaften vom Fotografen als relevante bzw. aussagekräftige Visualisierung des 9/11 erachtet wird. Wo Fotos gemeinhin als Beweismittel rezipiert werden, da versagen sich die ‚abstrakten Fotografien‘ der Möglichkeit der Beweisführung, denn sie selbst bieten dem Betrachter kein Objekt, das als Orientierungspunkt dient und durch das er das Bild in einen bestimmten Kontext einordnen und darin interpretieren kann. So verliert das Foto seine Funktion als visuelles Beweismittel für die Existenz von Mensch und Ereignis und irritiert die Erwartung des Rezipienten. Statt zum Zeichen der Objektwelt werden die ‚abstrakten Fotografien‘ zu „Zeichen der Abwesenheit.“88 Der Betrachter ist angesichts der Absenz sinnlich-fassbarer Formen im Rahmen eines Mediums, von dem er die Darstellung der sinnlichen Welt erwartet, mit dem konfrontiert, was Jean-François Lyotard in Bezug auf die Leinwände Barnett Newmans als „plastische Nacktheit“ bezeichnet hat.89 Zwar basieren die Werke Newmans auf einem künstlerischen Reflexionsprozess, der sich von der Schnelligkeit der Belichtungszeit der Kamera unterscheidet, und doch liegt auch der Produktion jeder Fotografie eine Entscheidung für einen bestimmten Ausschnitt von Welt zugrunde. Die Entscheidung für ein solches abstraktes Motiv suggeriert die (bewusste oder
87 Sontag: Der Heroismus des Sehens, in: Sontag: Über Fotografie, S. 94 88 Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 22 89 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97
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unbewusste) Erkenntnis, dass die Erfassung des Ereignisses im Bild Grenzen unterliegt. So lassen sich diese Aufnahmen im Hinblick auf die Existenz eines Undarstellbaren betrachten, das einen wesentlichen Referenzpunkt für Lyotard bildet. Die Abkehr von traditionellen Bildstrukturen, die Ausdruck der bewusstseinsverändernden Wirkung des 9/11 ist, manifestiert sich nicht nur in den fotografischen Abstraktionen, sondern auch in künstlerischen Reaktionen auf das Ereignis. Dies verdeutlicht beispielsweise das Cover für die Sonderausgabe des Magazins The New Yorker vom 24. September 2001 (Abb. 16), das von dem Grafiker und Cartoonisten Art Spiegelman gestaltet wurde. Dazu schreibt der New Yorker Schriftsteller Paul Auster: „In the face of absolute horror, one’s inclination is to dispense with images altogether. Words often fail us at moments of extreme duress. The same is true of pictures. If I have not garbled the story Spiegelman told me during those days, I believe he originally resisted that iconoclastic impulse: to hand in a solid black cover to represent mourning, an absent image to stand as a mirror of the ineffable.“
90
In den fotografischen Abstraktionen des 11. September ist eine Abwendung von der Form als Reaktion auf die bewusstseinsverändernde historische Zäsur zu vermuten, die charakteristisch ist für die Werke des Abstrakten Expressionismus. So lässt sich auch in den ‚abstrakten Fotografien‘ ein bewusster Bruch mit der Narrativität herkömmlicher Darstellungen erkennen. Da sie die Welt nicht in gewohnten Formen abbilden und dem Subjekt die Erfassung ihres Inhalts verweigern, brechen sie mit dem traditionellen Kommunikationsmodell aus Sender, Empfänger und Referent, das der Fotografie zugrunde liegt. Im Normalbetrieb der Medien dient das Bild dazu, dem Subjekt Orientierung zu verschaffen, ihm Dinge zu erklären, Antworten zu geben und Erfahrung in sinnlich-fassbarer Form zu vermitteln; doch hier ist der Betrachter mit einer kommunikativen Leere und dem Fehlen einer Botschaft konfrontiert. Dieser Zustand lässt sich mit dem von Barnett Newman verwendeten Begriff void beschreiben, mit dem er die vollkom-
90 Paul Auster: The art of worry (S. 8-9). In: Art Spiegelman: Küsse aus New York. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2003, S. 9
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mene Leere bezeichnet, der das Subjekt hilflos gegenübersteht.91 Ohne konkrete objekthafte Bildschemata, die als Interpretationshilfen für die Ableitung einer Botschaft dienen und die förderlich für die Idee des sensus communis sind, ist der Betrachter gefordert, sich alleine und umso intensiver mit dem Bild auseinanderzusetzen: er muss das Gesehene mit eigenen Assoziationen aufladen und selber nach Bedeutung suchen. Das fotografische Abbild, das zwar das Ereignis dokumentiert, doch gleichzeitig seine traditionelle Reportagefunktion aufhebt, indem es genaugenommen ‚nichts‘ zeigt und keine ‚Story‘ liefert, erweist sich als irritierend und zweckwidrig: „Die aller Fotografie zugrundeliegende Annahme, daß jedes einzelne Foto ein Stück Welt ist, hat zur Folge, daß wir nicht wissen, wie wir auf eine Fotografie reagieren sollen (wenn das Bild für unsere Augen nicht eindeutig ist [...]), solange wir nicht wissen, welches Stück Welt es ist.“
92
(Hervorh. i.O.)
Die Verweigerung gewohnter Anschauung führt auch zur Verweigerung von Strukturen, die dem Betrachter bei der Bewältigung des Traumas helfen könnten. Ähnlich wie in Drews Falling Man erlaubt die Unmöglichkeit der Identifizierung der dargestellten Person keine Einbindung des Bildes in eine spezifische Biografie. Doch anders als in Drews Reportagefoto, in dem der Tod unabänderliche Gewissheit ist, wird die Frage nach (Über-) Leben
91 Vgl. dazu: Newman: The First Man Was An Artist, in: O’Neill: Barnett Newman, S. 158. Parallel dazu ist die sichtbare Leere für Art Spiegelman ein zentrales Element des 9/11, die er in seinem Cover für The New Yorker verarbeitet: „Ich begann nach einem Bild für die Katastrophe zu suchen. [...] Die Türme waren schwarz verhüllt wie von einem trauernden Christo. Vor einem stillen Magritte-Himmel schwebten sie über der niedrigen Stadtlandschaft von Manhattan. Aber die surrealistische Stimmung war dem Ereignis nicht angemessen, und die leuchtenden Farben schienen das Schwarz im Zentrum des Bildes auf geradezu obszöne Art zu verhöhnen. Ich scannte den Entwurf ein, reduzierte die Farbintensität des Himmels und der Stadtlandschaft und färbte beides immer dunkler, bis mein Bildschirm buchstäblich schwarz war. Erst als das Bild praktisch verschwunden war, spiegelte es die entsetzliche neue Leere, die mir und vielen anderen sichtbar gemacht werden mußte.“ (Hervorh. A. B.) Art Spiegelman: Küsse aus New York, S. 82 92 Sontag: Der Heroismus des Sehens, in: Sontag: Über Fotografie, S. 92
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und Tod in den Aufnahmen der verwitterten Steckbriefe offen gehalten. Im Unterschied zu Falling Man, das den Übergang vom Leben zum Tod durch den Sprung maßgeblich mittels einer physischen Komponente fixiert, wird dieser Übergang in den ‚abstrakten Fotografien‘ auf eine psychische Ebene verlagert. Das sichtbar gemachte Verschwinden von Menschen in diesen Bildern, die nichts Figuratives zeigen und deshalb eine starke Eigenleistung vom Betrachter fordern um das Dargestellte zu dechiffrieren, erzeugt Ideen: wo konkrete Anschauung verweigert wird, da können Tod, Sterben und Überleben als Ideen gedacht werden. Die Spuren menschlicher Physiognomie, die zu erahnen sind, rücken die Dichotomie von Präsenz und Absenz in den Mittelpunkt, die im Kontext 9/11 untrennbar mit der Thematik von (Über-) Leben und Tod verknüpft ist. „Die Botschaft ist die Präsentation, aber von nichts, das heißt von der Präsenz“93, bemerkt Lyotard zu den Werken Newmans. In den ‚abstrakten Fotografien‘ des 11. September manifestiert sich ebenfalls eine Präsenz: die Präsenz eines Menschen, die der Originalfotografie (die z.B. zur Herstellung des Steckbriefs verwendet wurde) eingeschrieben ist, zugleich zeigt sich jedoch der Prozess des Verschwindens der fotografierten Person. Präsenz und Absenz, Erscheinen und Verschwinden finden in diesen Visualisierungen gleichzeitig statt und sind untrennbar miteinander verbunden. Dies assoziiert auch das für Kants Konstrukt des Sublimen charakteristische „Zugleichsein“94, das das Versagen des Synthesevermögens der Einbildungskraft und dadurch das Gefühl der Unlust hervorruft. Der Ereignischarakter der Newmanschen Leinwände resultiert für Lyotard aus der Präsenz des quod, das ein Fragezeichen, ein unbestimmtes Etwas beschreibt und sich ereignet, bevor die Frage nach dem quid, dem eigentlichen Inhalt, gestellt werden kann. Ohne objekthafte Anschauung sind auch die ‚abstrakten Fotografien‘ nicht Ausdruck des quid, sondern thematisieren vielmehr das quod. Dies bezieht Lyotard vor allem auf eine zeitliche Komponente: den Moment, der ist, unabhängig von dem Davor und Danach dieses Augenblicks. Die fotografischen Abstraktionen, die das Verschwinden von Menschen versinnbildlichen, können im Hinblick auf eine zeitliche Komponente – die des Moments, der die Einbildungskraft überfordert und das Bewusstsein aus der Fassung bringt – betrachtet wer-
93 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 98 94 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 156
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den. Ohne die Möglichkeit der Rekonstruktion individueller Biografien erscheinen die sichtbaren Spuren der Personen wie ‚geschichtslos‘95; denn das Davor und das Danach entziehen sich der Kenntnis des Betrachters. Wenn sich hier auch Parallelen zu Lyotards Newman-Rezeption aufzeigen lassen, so handelt es sich bei den exemplarisch angeführten Abbildungen aus Here is New York nicht um Kunstwerke sondern um fotografische Dokumente eines realen Ereignisses, die sich nicht vollständig in Lyotards Auffassung des Sublimen eingliedern lassen. In seiner Interpretation im Hinblick auf künstlerische Darstellung verbindet Lyotard das Gefühl des Erhabenen mit dem Moment der Hoffnung. Den zip in den Werken Newmans deutet er als Ausdruck der Aussicht auf einen Neubeginn sowie das Durchbrechen des Chaos.96 Bei den ‚abstrakten Fotografien‘ des 9/11 hingegen fällt es schwer, das Dargestellte mit einem hoffnungsvollen Moment zu verknüpfen, denn das Verschwinden der fotografischen Abbilder versinnbildlicht angesichts von beinahe 3.000 Todesopfern in New York, die den Deutungskontext der Aufnahmen bilden, den Verlust und das Verschwinden der Hoffnung, es könne sich hier um Überlebende handeln. Die Steckbriefe, die nach den Terroranschlägen am Ground Zero angebracht wurden, waren Ausdruck der Hoffnung der Hinterbliebenen die Vermissten zu finden; in vielen Fällen wurde diese Hoffnung jedoch zerschlagen. „Ein Foto ist zugleich Pseudo-Präsenz und Zeichen der Abwesenheit“97, schreibt Susan Sontag und dies trifft auf die ‚abstrakten Fotografien‘ in besonderem Maße zu: hier findet die Abwesenheit der fotografierten Person eine Verdoppelung in der Abwesenheit des ursprünglichen fotografischen Abbildes. Anders als die Aufnahmen, die beispielsweise zur Herstellung der Steckbriefe benutzt wurden und denen sich die dargestellte Person (als lebende) eingeschrieben hat, ist den reproduzierten verwitterten Steckbriefen/ Aufnahmen nun auch das Verschwinden der Person eingeschrieben. Die Thematik von Absenz und Präsenz greift Jean Baudrillard im Hinblick auf die beiden Türme des World Trade Centers auf. Er stellt fest, dass
95 Den Begriff der „Geschichtslosigkeit“ verwendet Lyotard in seiner Auseinandersetzung mit Newmans Werk. Siehe dazu: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 99 96 Vgl.: Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 99 97 Sontag: In Platos Höhle, in: Sontag: Über Fotografie, S. 22
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sich gerade in ihrer Absenz die Präsenz manifestiert;98 das Verschwinden wird zum Symbol des Ereignisses. Dies trifft auch auf die verwitterten Abbilder vermisster Personen zu. Doch hier sind es nicht die spektakulären Bilder gewaltiger kollabierender Türme, die in Endlosschleifen über die Bildschirme liefen, sondern es sind Bilder, die aufgrund fehlender Objekthaftigkeit nicht dazu geeignet sind, spektakulär in einem massenmedialen oder politischen Kontext inszeniert zu werden und wirken zu können. Es sind beinahe ‚unspektakuläre‘99 Bilder, die sich einer ungewohnten Bildsprache bedienen, um das Unvorstellbare zum Ausdruck bringen, das den Kern des 11. September ausmacht: das plötzliche ‚Verschwinden‘ von beinahe 3.000 Menschen, das vor allem in den offiziellen Bildikonen des Ereignisses zur Randerscheinung wird. Die verwitterten Reste der Steckbriefe unterlaufen das Gefühl der Hoffnung, das in den auf offizieller und politischer Ebene häufiger reproduzierten Bildern in den Fokus gerückt wird: sie sind Ausdruck von Trauer, Verlust und Hoffnungslosigkeit. Hinzu kommt, dass sie sich durch das Fehlen einer identifizierbaren Physiognomie nicht zur nostalgischen Betrachtung eignen, die in Susan Sontags Ausführungen zur Bedeutung der Fotografie bei der „Erinnerung an [...] die lieben Verstorbenen“100 anklingt. Die Überwindung der Nostalgie zugunsten der Thematisierung von Brüchen, Grenzen, Fragmenten und Konflikten bildet einen wesentlichen Bestandteil des postmodernen Denkens, was vor allem in Lyotards Analysen deutlich wird. So lässt sich auch dadurch, dass die Möglichkeit einer nostalgischen Betrachtungsweise unterlaufen wird, die Nähe der fotografischen Abstraktionen des 9/11 zum postmodernen Denken erkennen. Der im Bild fixierte Zustand verweigert sich einer tröstenden, orientierungs- sowie sinnstiftenden Funktion, wodurch diese visuellen Dokumente in die Nähe der postmodernen Antiästhetik rücken, die sich der Form sowie dem Konsens des Geschmacks verweigert und durch neue Darstellungsmöglichkei-
98
Vgl.: Baudrillard: Die Gewalt des Globalen, in: Der Geist des Terrorismus,
99
Der Begriff ‚unspektakulär‘ bezieht sich hier darauf, dass sich diese Bilder ei-
S. 44 ner spektakulären massenmedienwirksamen Inszenierung verweigern. Er bezieht sich nicht auf die Qualität der Fotografien an sich. 100 Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 31
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ten die Sensibilität für die Existenz des Undarstellbaren zu schärfen versucht. Die ‚abstrakten Fotografien‘ thematisieren Fragen, die um die Möglichkeiten der Erfassung von Welt im Bild sowie der Erfahrung von Welt mittels des Bildes kreisen und die seit je her zentraler Bestandteil der Diskussionen um das Erhabene sind: wie kann das Subjekt zu Erfahrung und Erkenntnis gelangen, wenn seine Erkenntniskräfte überfordert werden und wie kann es durch das Sinnliche zur Idee des Übersinnlichen gelangen? Auch wenn das Bild, wie beispielsweise bei Kant, lange aus der Thematik des Sublimen ausgeschlossen worden ist, so geht es in den im Rahmen der Ästhetik geführten Diskussionen stets auch darum, Möglichkeiten und Grenzen bildlicher Darstellung zu hinterfragen. Dies ist auch den ‚abstrakten Fotografien‘ inhärent, die darauf verweisen, dass es inmitten der visuellen Reizüberflutung und „Zwangstransparenz“101 des Informationszeitalters Phänomene gibt, die sich sinnlich nicht fassen und sich nicht in einen medialen Konsumartikel umwandeln lassen; Phänomene, die nicht im Bild angeschaut, sondern nur im Subjekt fühlbar gemacht werden können. Denn das ‚Zurückgeworfen-Sein‘ auf eigene Assoziationen und Emotionen, als Resultat fehlender objekthafter Anschauung, stellt im medialen Normalbetrieb, in dem (Be-) Deutungskontext für Bilder stets mitgeliefert und Gefühle ‚programmiert‘ werden, eine ungewohnte Erfahrung dar. Das Fehlen des Sinnlichen befreit nach Kant die Einbildungskraft von ihren Schranken, so dass sie ihr Potential entfalten und das Gefühl des Erhabenen herbeiführen kann.102 Während die negative Darstellung bei Kant von den Schranken des Sinnlichen entledigt, ist die Wirkung der Abstraktion im Hinblick auf den 11. September komplexer. Denn durch die negative Darstellung werden zunächst vor allem die Grenzen des (Medien-) Bildes aufgezeigt und die Darstellbarkeit des medialen Bildereignisses hinterfragt. Der Bildkonsument des 21. Jahrhunderts wird hier auf die Grenzen der eigenen Erkenntniskräfte verwiesen. In einer verbilderten Welt repräsentieren die ‚abstrakten Fotografien‘ ein ungewohntes sinnliches Ereignis und stellen neue Anforderungen an den Betrachter. Anders als die zum Konsum dargebotenen Bilder im Medienalltag scheinen diese Fotografien das zu fordern, was an den Aspekt des ‚Sich-Berühren-Lassens‘ erinnert, der be-
101 Baudrillard: Die Gewalt der Bilder, in: Der Geist des Terrorismus, S. 69 102 Vgl.: Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 181-182
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deutend für Lyotards Konzept des Sublimen ist. Im Zeitalter permanenter visueller Reizüberflutung, zunehmender Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion im Bild sowie der Gleichsetzung von sinnlicher Anschauung und Erfahrung von Welt, bedeutet das ‚Sich-Berühren-Lassen‘ die Notwendigkeit einer neuen Sensibilität für das Bild, die das (Bild-) Ereignis 9/11 hervorgerufen hat: eine Differenzierung dessen was abgebildet, d.h. angeschaut werden kann einerseits, und dessen was sich der Anschauung entzieht und nur fühlbar gemacht werden kann andererseits. Die ‚abstrakten Fotografien‘ deuten implizit Fragen an, die das fotografisch fixierte Plakat der New Yorker Feuerwehrfrau103 explizit stellt: können Schrecken, Verlust, Trauer, Trauma und Unsicherheit, die die Terroranschläge des 11. September 2001 verursacht haben, im Bild erfasst werden? Kann man dem Schrecken durch die Fixierung im Bild(objekt) habhaft werden? Beschränkt das allumfassende Sichtbarmachen die Möglichkeiten von Kontemplation und Erkenntnis?
103 Vgl.: George (Hrsg.): Here is New York, S. 815
5. Schlussdiskussion und Ausblick
5.1 S CHLUSSDISKUSSION Obwohl die Geschehnisse des 11. September 2001 für einen Großteil der Weltbevölkerung weitab der physischen Bedrohung als medial vermitteltes Bildereignis erlebt wurden, führten die Bilder weltweit zu Schock und Erschütterung des Gefühls von Sicherheit. So hat 9/11 gezeigt, dass medial vermittelte Bilder unter gewissen Bedingungen eine der primären Erfahrung vergleichbare Wirkung besitzen und den Schrecken eines Ereignisses unmittelbar erfahrbar machen können. In der Analyse der Geschehnisse und ihrer Übertragung lassen sich zahlreiche Parallelen zum Typus des Schrecklich-Erhabenen aufzeigen – sowohl im Hinblick auf die Theorien der Aufklärung als auch auf postmoderne Interpretationen: Plötzlichkeit, ein apokalyptisch anmutendes Ausmaß der Zerstörung, Gewalt durch die Anschläge und durch das Bild, die Zweckwidrigkeit vertraut geglaubter Objekte, die Aktivierung einer „schaurige[n] Seh- und Angstlust“1 , das Durchbrechen narrativer Strukturen etc. Die Echtzeit-Bilder der Live-Übertragung irritieren die Wahrnehmung der Rezipienten, überfordern die Erkenntniskräfte und führen zu dem Zustand, den Burke Erschauern nennt. Dieser Schockzustand manifestiert sich auch im medialen Ausnahmezustand, in dem sämtliche Kanäle gleichgeschaltet sind und dem Medienbetrieb die Kontrolle über die Berichterstattung entglitten ist. Durch den Kontrollverlust der Medienschaffenden wird die „ri-
1
Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 20
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sikofreie[...] Nähe“2, die im Medienalltag charakteristische schützende Distanz zwischen Bild und Rezipient, unterlaufen. Die Aufnahmen der Anschläge in New York, die Bildern aus Katastrophenfilmen ähneln und dennoch Boten des realen Schreckens sind, übersteigen das Fassungsvermögen der Zuschauer. Die Untersuchung des Bildereignisses demonstriert auch, wie sich menschliche Wahrnehmung und Erfahrung durch Medien und digitale Bildtechnologien verändert haben. Beispielsweise ist der für das erhabene Gefühl konstitutive Moment des Erschauerns unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Aufgrund zunehmender Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion visueller Darstellungen sowie der Reizüberflutung mit Katastrophenszenarien im Medienalltag ist die Beurteilung einer Gefahrensituation von größerer Komplexität gekennzeichnet: das Subjekt muss, bevor es sich bedroht fühlen kann, zunächst realisieren, dass bzw. ob es sich um reales Geschehen handelt; erst wenn eine Situation als real erkannt wird, kann es zum Zustand des Erschauerns kommen. So hat der 11. September einen durch den regulären Medienbetrieb hervorgerufenen Verlust der natürlichen Sensibilität für realen Schrecken deutlich gemacht. Weil sich das Ereignis im Moment des Geschehens einer Einordnung in narrative Strukturen durch die Medien weitgehend verweigert, sind es vor allem die in Endlosschleifen reproduzierten Bilder, die den Erfahrungshorizont der Rezipienten bestimmen. Daher erscheint die stark ausgeprägte Tendenz, das Bild zur Krisenbewältigung zu nutzen, als ‚logischer‘ Schritt: das Produzieren eigener visueller Dokumente wird zum Instrument um Kontrolle über das Geschehen zu erlangen und zu einer Bewältigungsstrategie. Dies zeigt sowohl die Bildproduktion der Bevölkerung und der Medienschaffenden als auch die Hervorhebung bestimmter Bilder im öffentlichen Raum durch die politische Führung. Neben militärischen Reaktionen stellt auch das Bild eine Waffe in einem Krieg dar, in dem den Informationsmedien eine bedeutende Rolle zukommt. Bei den visuellen Reaktionen auf die Terroranschläge geht es um das Festhalten des Schreckens im Bildobjekt und darum, eine visuelle Ausdrucksform für das Erlebte zu finden. Die Untersuchung zeigt, dass unterschiedliche Arten der bildhaften Fixierung mit unterschiedlichen Folgen im
2
Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 129
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Hinblick auf das Ergebnis der Schreckenserfahrung aus der Bildproduktion hervorgehen. Die 9/11-Medienikone Raising the Flag at Ground Zero verdeutlicht in besonderem Maße, welche Rolle das Bild bei der Krisenbewältigung spielt und welche Macht ihm inhärent ist. Das Reportagefoto erweist sich mit seiner komplexen Symbolsprache als Mosaik aus historisch gewachsenen Bildzeichen: es zitiert das ikonische Foto der Flaggenhissung auf Iwo Jima, enthält im Bildschema codiert den christlichen Topos der Kreuzaufrichtung und verweist durch das Symbol der Flagge auf US-amerikanische Ideale und Mythen. Non-verbal werden Ideen des Triumphes über die Katastrophe kommuniziert. Im öffentlichen Raum und durch die politische Führung stark hervorgehoben, wird das Foto zum Sinnbild der Stärke der US-Nation im Angesicht der Zerstörung; es dient dazu eine erschütterte Bevölkerung zum Durchhalten zu motivieren, auf gemeinsame Ziele zu einen, aktiviert die Idee nationalen Zusammenhalts und signalisiert die politische sowie militärische Handlungsfähigkeit der USA. Die Medienikone verweist durch sinnliche Codes auf das Übersinnliche – auf positiv nicht darstellbare Ideen, die im Subjekt fühlbar gemacht werden können. Raising the Flag at Ground Zero dient als Beispiel um das politische Machtpotential des Bildes zu beleuchten, auf das Kant in seiner Analytik des Erhabenen hinweist. Hier macht die Analyse deutlich, dass das Ästhetische bzw. die Ästhetisierung des Schreckens konkrete politische Implikationen beinhalten kann. Thomas E. Franklins Aufnahme demonstriert die Aktualität eines Kernelements der Erhabenheitstheorien der Aufklärung: das Bestreben das katastrophische Ereignis zu transzendieren und in Selbststärkung – in diesem Falle die der US-Nation – umzuwandeln. Die Macht der Medienikone gründet sich dabei vor allem auf die intuitive Dechiffrierbarkeit der Botschaft. Doch zeigt die Untersuchung auch, dass die positive Auflösung des Schreckens, die aus der Umwandlung in Selbststärkung resultiert, im Kontext 9/11 als problematisch zu erachten ist. Denn es handelt sich weder um eine Naturkatastrophe, noch um ein fiktives Katastrophenszenario, sondern um eine reale, politische Krisensituation. Die Fokussierung auf einen bevorstehenden Triumph birgt letztlich die Gefahr der Verharmlosung des Ereignisses. Die Angehörigen des New York City Fire Department sind die Repräsentanten des 9/11-Heldentums; sie sind gleichermaßen Sinnbild für das Leiden am Ereignis sowie für dessen Bewältigung. Das Bestreben nach
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Transzendierung der Katastrophe und die damit verbundene Problematik der Verharmlosung lassen sich auch anhand der Bilder nachvollziehen, die den unmittelbar einsetzenden Heroisierungsprozess der Feuerwehrmänner dokumentieren. Insgesamt weist diese Bildgruppe ein breites Spektrum an unterschiedlichen Darstellungen auf und die Analyse ist geprägt durch Spannungsfelder, die symptomatisch sind sowohl für das Sublime als auch für das Bildarchiv 9/11 insgesamt: Opfer und Heldentum, totale Übermächtigung und Triumph, tragisches menschliches Schicksal und Konstruktion eines medienkompatiblen Superhelden-Images – all diese Extreme werden gleichzeitig aktiviert. Einige Aufnahmen lassen die Grenze zwischen Held und Opfer verschwimmen und nähern sich in ihrer Bildsprache der entmystifizierenden Darstellung von Kriegshelden an, wie sie sich z.B. in Otto Dix Triptychon Der Krieg findet. Die Parallele zum Kriegshelden ergibt sich auch deshalb, weil der Feuerwehrmann in der medialen Inszenierung die Grenze vom zivilen Helden hin zum Kriegshelden überschreitet. Denn in einem ‚Krieg der Bilder‘ wird er auch eingesetzt um politische Botschaften zu übermitteln. Dies macht vor allem die ikonische Aufnahme des Feuerwehrmannes Bob Beckwith mit George W. Bush vom 14. September 2001 anschaulich. Das heroische Individuum, das bei Burke und vor allem Schiller als Identifikationsfigur und Vorbild fungiert, dient in der aktuellen Krisensituation dazu, die Stärke der US-Nation sowie militärische Handlungsfähigkeit zu signalisieren. Man macht sich die Sympathie und die positiven Assoziationen, die FDNY-Helden in der Öffentlichkeit hervorrufen zunutze, um den Rückhalt für politisches Handeln zu sichern. Die Betrachtung des Heroen mit Schillers Pathetischerhabenem weist bedeutende Unterschiede und Problematiken auf: da Medienbilder gemeinhin als realistisches Abbild der Welt rezipiert werden, ist die massenmediale Inszenierung des Heldenmythos mit Skepsis zu betrachten. Denn während Schiller stets zwischen Realität und Fiktion differenziert, wird diese Grenze in der medialen Inszenierung aufgelöst. Die erzieherische Funktion, die der Dichter der Tragödie zuschreibt, muss hinterfragt werden; vielmehr setzen sich die Konstruktion des Heldenmythos sowie dessen Instrumentalisierung auf der öffentlichen Bildfläche dem Verdacht eines kalkulierten Medienkonzeptes und dadurch der Meinungsbeeinflussung aus. Die Analyse der Abbildungen den Anschlägen zum Opfer gefallener Feuerwehrmänner im Calendar of Heroes 2003 zeigt zudem, wie die Mas-
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senmedien das Konzept von Heldentum und damit verbundenen Leidensdarstellungen verändert haben. Es wird deutlich, dass Darstellungen von Tod und Leiden im öffentlichen Raum zunehmend ausgeblendet werden zugunsten der Fokussierung auf das Überleben und das Überwinden der Krise. Der Aspekt übermächtiger Gewalt, der im Zentrum des SchrecklichErhabenen angesiedelt ist, erweist sich auch als wesentliches Element bei der Inszenierung der „heroes“. Zu der Gewalt, die in Form der Terroranschläge auf das Subjekt einwirkt, kommt die Gewalt des Bildes und der medialen Reproduktion hinzu. Hier verdeutlicht die Untersuchung auch einen Bruch mit dem traditionellen Heroisierungsprozess: denn die Kalenderfotos halten die Männer als „hunks“ fest, werden dann jedoch in einem durch die Anschläge veränderten narrativen Kontext unter der Bezeichnung „heroes“ publiziert. Obwohl es erst das tragische Schicksal der Rettungskräfte ist, das sie zu Helden macht, wird gerade dies visuell weitgehend ausgeblendet. Durch die Aneignung der fotografierten Person im Bild wird sie zum Objekt, das sich durch Dritte beliebig inszenieren lässt. Über die unterschiedlichen Themengruppen hinweg deckt die Analyse der Heldendarstellungen die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung der Feuerwehrleute und der Selbstwahrnehmung der Rettungskräfte auf, denen das „‘hero’ label“3 vor allem von einer nach Orientierung suchenden Öffentlichkeit auferlegt wird. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass triumphalistisches Heldentum ein von außen projiziertes und konstruiertes Image ist, das der Tragik und dem Leiden des heroischen Individuums nicht gerecht wird. Die ‚verschwindenden Bilder‘ stellen einen Gegenpol zum ‚öffentlichen Bilderkanon‘ dar und lassen eine andere Interpretation des Sublimen erkennen. Hier erfährt der Schrecken der Katastrophe in der Visualisierung keine positive Auflösung. Die Aufnahmen unterlaufen die Möglichkeit einer Transzendierung des Schocks und führen dem Betrachter vor Augen, dass es in einer verbilderten und rationalisierten Welt Phänomene gibt, die sich der sinnlich-fassbaren Fixierung entziehen. Im Zentrum dieser Aufnahmen befindet sich die Thematik des Todes, die „in einem scharfen Widerspruch zu den Prinzipien bürgerlicher Rationalität [steht; A. B.]“4 und aus der sich
3
http://www.carolinasalguero.com/CSmenu.html (Rubrik WTC: FDNY). Aufgerufen am 28.09.2010.
4
Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 253
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keine motivierenden Botschaften der Hoffnung und des Triumphes ableiten lassen. Besondere Kontroversen haben die Bilder der 9/11-Stürzenden hervorgerufen. Die Untersuchung legt offen, dass die von Virilio diagnostizierte Routinisierung von Schocks5 durch die Medienindustrie die Rezipienten letztlich nicht gegen das Erlebnis realen Grauens wappnen konnte. Die Bilder Stürzender sind für viele Menschen die quälendste Erinnerung an die Geschehnisse6, evozieren bei Zuschauern schmerzhafte physische Begleiterscheinungen und erweisen sich als derart schockierend, dass sie aus den Medien weitgehend verbannt werden. In einem Ereignis, das durch beinahe lückenlose audiovisuelle Dokumentation charakterisiert ist, verweisen die Stürzenden auf das, was sich den Kameras und den Blicken der Rezipienten entzieht: die Geschehnisse in den Stockwerken über den Einschlagstellen, die hinter den Fassaden verborgen bleiben. Die physische Abtrennung der oberen Stockwerke erfährt eine Verdoppelung in der Abtrennung von der Medienberichterstattung. Ohne medial vermittelte Vorstellung des Geschehens hinter den Fassaden fordern die Bilder stürzender Personen den Rezipienten heraus, sich ein Ausmaß an Grauen und Leid vorzustellen, das seine Vorstellungskräfte übersteigt. Letztlich sterben die 9/11-Stürzenden einen zweifachen Tod: den physischen und den medialen durch die Verbannung ihrer Aufnahmen von der öffentlichen Bildfläche. Richard Drews Falling Man fördert den gesellschaftlichen Verdrängungsprozess zutage, der als Reaktion auf die verstörend wirkenden Bilder einsetzt. Vor allem weil Drews „Ikone[...] des Grauens“7 ein Grenzphänomen – den Übergang vom Leben zum Tod – fixiert, ist sie Ausdruck des Schocks, des Undarstellbaren sowie Unkommunizierbaren und bezeichnend für eine Erfahrung sinnlich nicht-fassbaren Schreckens. Der Sturz als sinnliches Element verweist auf das, was sich der Anschauung entzieht und nicht in einer harmonischen Synthese der Erkenntniskräfte dargestellt werden kann: die Grenze zwischen Leben und Tod, der Tod als unausweichliches Schicksal, ein unvorstellbares Maß menschlichen Leidens. All dies
5 6
Vgl.: Kloock, Spahr: Medientheorien, 3., aktualisierte Auflage, S. 144 Vgl.: Cauchon, Moore: Desperation forced a horrific decision, in: Onlineausgabe USA TODAY
7
Zucker: Im Bann des Bösen. Macht und Gewalt in der Fotografie
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amalgamiert sich unter der Oberfläche einer ästhetisch makellosen Bildkomposition, die die Wahrnehmung irritiert. Die Fotografie fordert die Projektion des Betrachters heraus und konfrontiert ihn mit einem Ausmaß des Schreckens, das die Erkenntniskräfte schier versagen lässt. Ohne in eine narrative Struktur integriert zu sein, ohne die Möglichkeit, die individuelle Geschichte des Stürzenden rekonstruieren zu können, unterläuft das Bild die schützende Distanz und zwingt Rezipienten die Grenze vom „Mitleiden“8 zum „Selbst-leiden[...]“9 zu überschreiten. Die psychische Distanzlosigkeit unterläuft die Möglichkeit der Selbststärkung, da der Betrachter gezwungen wird, sich etwas vorzustellen, das sich seiner Erfahrung entzieht: 10
„[...] how bad is it up there that the better option is to jump?“
„[...] what would I do … what choice would I make[?; A. B.]“
11
Im Zusammenhang mit Drews Reportagefoto zeigt sich auch die für das Gefühl des Sublimen charakteristische Unlust-Lust-Dialektik. Denn trotz der Proteststürme, die sich gegen die Veröffentlichung des Fotos in Printmedien richteten, stieß die auf dem Einzelbild basierende filmische Dokumentation 9/11: The Falling Man weitgehend auf öffentliche Akzeptanz. Neben der Anziehungskraft von Sturzfiguren12 zeigt sich hier auch der Unterschied in Rezeptionsweise und Wirkung von Standbildern bzw. Fotos und bewegten Bildern.13 Die besondere Brisanz dieser Aufnahme – und dies trifft auf die Bilder der 9/11-Stürzenden generell zu – resultiert auch aus dem gesellschaftlichen Tabubruch, den die freiwillige Aufgabe des Lebens beinhaltet. Die Schwierigkeiten, individuelle Biografien zu rekonstruieren sowie festzustellen, ob es sich um einen ‚Sprung‘ oder ein ‚Fallen‘ handelt, ob das Motiv für den selbst gewählten Tod Resignation oder eine
8
Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 167
9
Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 166
10 Transkription der
Aussage eines
Feuerwehrmannes
aus
der
Naudet-
Dokumentation 11. September (DVD: Paramount Pictures 2009). 11 Zitiert nach: 9/11: The Falling Man. The Photograph (ohne Verfasser). Quelle: http://www.cbc.ca/passionateeyemonday/fallingman/photo.html 12 Vgl.: Simmen: Stürzende nach dem Fall – 9/11, veröffentlicht auf Heise Online 13 Vgl.: Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 29
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„Willenshandlung“14 war, erschweren das Eingliedern dieser Bilder in eine gesamtgesellschaftliche Narrative. Zu den als Gegenpol zum ‚öffentlichen Bilderkanon‘ diskutierten visuellen Dokumenten zählen des Weiteren die ‚abstrakten Fotografien‘, die ein ungewohntes sinnliches Ereignis darstellen. Ihre visuelle Sprache unterläuft die Erwartungen des Betrachters an ein fotografisches Abbild, sie eignen sich nicht zur medienwirksamen Inszenierung und sind als visuelle Randerscheinungen zu betrachten. Der Bruch mit dem traditionellen Verständnis einer Fotografie scheint auch die Suche nach neuen Ausdrucksformen als Reaktion auf die bewusstseinsverändernde Wirkung der historischen Zäsur zu implizieren. Die Aufnahmen bis zur Unkenntlichkeit verwitterter Steckbriefe assoziieren Burkes „ahnungsvolle Dunkelheit“15, Kants Ausführungen in Bezug auf die negative Darstellung sowie Lyotards Interpretation der abstrakten Leinwände Barnett Newmans. Erst die Archivierung ermöglicht eine Einordnung der Fotografien, die nichts Objekthaftes zeigen, in den Kontext des 11. September 2001. Der Betrachter kann nur erahnen, dass es sich um die Spuren von Opfern der Anschläge handelt, deren Verschwinden sich dem Bildobjekt eingeschrieben hat. So steht auch hier die Thematik des Todes im Mittelpunkt. Den Aufnahmen liegt eine „plastische Nacktheit“16 zugrunde, die das traditionelle Kommunikationsmodell des Bildes aufhebt und den Betrachter mit einer kommunikativen Leere konfrontiert. Die Bildfläche muss mit eigenen Assoziationen und Emotionen aufgeladen werden. Individuelle Reflexion unterläuft jedoch die Idee des sensus communis: ohne einen vom Bild selbst oder von den Medien vorgegebenen (Be-) Deutungsrahmen ist der Betrachter hier alleine gelassen. Die Absenz einer identifizierbaren Physiognomie und das Fehlen konkreter inhaltlicher Direktiven erinnern an Lyotards quod, den Moment, der die Einbildungskraft überfordert. Denn auch diese Aufnahmen sind Ausdruck von Grenzphänomenen: Präsenz und Absenz, Erscheinen und Verschwinden, Tod und (Über-) Leben. Die Nähe der visuellen Dokumente zu postmodernen Interpretationen des Erhabenen erweist sich darin, dass diese Extreme offen gehalten werden und die Möglichkeit der Synthese unterlaufen wird.
14 Schiller: Über das Pathetische, in: Vom Pathetischen und Erhabenen, S. 70 15 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 97 16 Lyotard: Der Augenblick, Newman, in: Das Inhumane, S. 97
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Die Untersuchung des Bildereignisses 9/11 und exemplarischer Bilder bringt enorme Spannungsfelder zum Vorschein, die auch hier nicht synthetisiert werden können. Vielmehr wird deutlich, dass die visuellen Darstellungen und Mechanismen der bildhaften Bewältigung der Katastrophe durch Heterogenität geprägt sind. Ein Fazit dieser Arbeit lautet, dass der 11. September die Notwendigkeit einer (neuen) Sensibilität für das Bild und dessen mediale Reproduktion bzw. für visuelle Kommunikation hervorgerufen hat. Das Ereignis hat Fragen aufgeworfen im Hinblick auf das Verhältnis zum Bild, das die Wahrnehmung von Welt maßgeblich generiert: was das Subjekt sieht, wie es Welt wahrnimmt, was visuell erfasst werden kann, was im Bild fixiert und wie damit verfahren wird, d.h. welche Bilder im öffentlichen Raum hervorgehoben werden und welche verschwinden – dies gilt es zu hinterfragen und kritisch zu betrachten. Daran geknüpft sind auch die politischen und meinungsbildenden Implikationen des (Medien-) Bildes bzw. die politische Dimension der Ästhetik. So ist auch der Kategorie des Erhabenen, die oft im Hinblick auf ästhetische Fragestellungen diskutiert wird, eine politische Dimension inhärent. Dabei schließen sich die ästhetische und die politische Dimension nicht gegenseitig aus; vielmehr verweist die Untersuchung darauf, dass Ästhetik auch eine politische und meinungsbildende Dimension beinhaltet – vor allem in einer Zeit, in der Erfahrung maßgeblich über (Medien-) Bilder stattfindet.
5.2 AUSBLICK Für die vorliegende Dissertation war es notwendig, eine Auswahl von Bildern und Bildtypen zu treffen, die markante Ansatzpunkte für eine Untersuchung unter dem Aspekt der Kategorie des Erhabenen und relevante Bezüge zum speziellen Typus des Schrecklich-Erhabenen bieten. Aufgrund der Fokussierung auf spezifische Themenbereiche konnten mögliche weitere Gesichtspunkte nicht betrachtet werden und sind daher offen geblieben oder nur am Rande angedeutet worden. Abschließend soll auf einige Themen und Motive hingewiesen werden, die interessante Ansätze für fortführende Untersuchungen der Bilder des 9/11 vor dem Hintergrund der Kategorie des (Schrecklich-) Erhabenen und im Kontext visueller Kommunikation liefern können.
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Das World Trade Center als Ikone Die Zwillingstürme können als die Chiffren des 9/11 bezeichnet werden. Sie bzw. ihre Absenz werden zu Repräsentanten des Ereignisses. Auch in visuellen Reaktionen bzw. in der Krisenbewältigung wird auf Bilder der Türme sowie deren schemenhafter Abstraktionen zurückgegriffen. Die objekthaften und abstrakten Darstellungen des World Trade Centers sind Ausdruck der Dichotomien von Präsenz und Absenz, von Verschwinden und Erscheinen. Auch hier bieten sich die Theorien des 18. Jahrhunderts und postmoderne Interpretationen zur Thematik des Sublimen als Diskussionshintergrund an.
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Apokalypseszenarien Die Bilder der Feuerbälle, die beim Einschlag der Flugzeuge aus den Zwillingstürmen schossen oder Aufnahmen der Trümmerlandschaft Ground Zero rufen Assoziationen an apokalyptische Szenarien und Darstellungen hervor. Die Apokalypse impliziert die Idee einer historischen Zäsur und lässt sich mit dem Ereignisbegriff verbinden, über den auch in der vorliegenden Dissertation eine Verknüpfung zwischen dem Bildereignis 9/11 und dem Schrecklich-Erhabenen geschaffen wird. Beispielsweise lässt sich historisch in Zeiten der Unsicherheit ein Rückgriff auf die Apokalypse des Johannes beobachten: „[i]n Zeiten, in denen man aufgrund von politischen oder religiösen Wirren [...] den Weltuntergang erwartete, waren die Visionen des Johannes besonders aktuell und fanden vermehrt bildliche Darstellung.“17 Die Vorstellung der Apokalypse ist zunächst durch ihre biblische Schilderung geprägt; davon ausgehend ist diese Thematik im Verlauf der Kunstgeschichte immer wieder Bildgegenstand. Hier bieten sich Untersuchungen historisch gewachsener Bild- und Deutungsschemata an, ähnlich wie sie in dieser Arbeit am Beispiel des Reportagefotos Raising the Flag at Ground Zero diskutiert werden.
•
Ruinendarstellungen Zu den einprägsamen Bildern des 9/11 gehören die Ruinen des in sich zusammengestürzten World Trade Centers. Ruinendarstellungen fällt auch im Kontext der Kategorie des Erhabenen eine besondere Rolle zu.
17 Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole, S. 27-28
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Hier wären Vergleiche u.a. mit den Werken Caspar David Friedrichs denkbar. Beispielsweise weist dessen Gemälde Abtei im Eichwald eine visuelle Nähe zu manchen Fotografien der Ruinen am Ground Zero auf. In ihrer Auseinandersetzung mit Franklins Fotografie der Flaggenhissung verweist Scorzin auf die „‚ästhetischen‘ Bilder der Ruine des World Trade Centers“18, die den Aufnahmen grauenhafter Anblicke vorgezogen werden. Hier bieten sich Ansätze für eine Analyse der Mechanismen an, die dazu dienen, den Schrecken des Ereignisses zu ästhetisieren sowie eine Untersuchung der sozialen sowie politischen Implikationen, die mit der Ästhetisierung verknüpft sind. •
Die Verarbeitung des 9/11 in der bildenden Kunst An einigen Stellen dieser Arbeit wird auf das Cover verwiesen, das Art Spiegelman für die Sonderausgabe des Magazins The New Yorker anlässlich der Terroranschläge gestaltete. Anders als dem durch Geschwindigkeit gekennzeichneten Prozess des Fotografierens liegt dem Kunstwerk ein künstlerischer Reflexionsprozess über die Katastrophe, ihre Folgen und ihre visuelle Darstellbarkeit zugrunde. Eine Untersuchung könnte aufzeigen, wie das Schreckensereignis 9/11 in Kunstwerken verarbeitet wird und welche visuellen Ausdrucksformen gewählt werden. Die Analyse der Ergebnisse künstlerischer Reflexionsprozesse wäre auch deshalb interessant, da Künstler oft ein seismographisches Gespür für politische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse besitzen.
Die hier umrissartig skizzierten Vorschläge schöpfen weitere mögliche Ansätze für die Betrachtung des 9/11 unter dem Aspekt des (Schrecklich-) Erhabenen und dessen Relevanz im Kontext visueller Kommunikation nicht aus. Doch sie zeigen auf, dass diese Kategorie – wohl auch deshalb, weil sie keiner statischen Begriffsdefinition unterliegt – im Hinblick auf die Bilder des 11. September 2001 vielfältige und facettenreiche Untersuchungsmöglichkeiten bietet.
18 Scorzin: Die US-Flaggenhissung als Engramm und Bildzeichen, in: Franke, Früchtl (Hrsg.): Kunst und Demokratie, S. 36
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http://www.nyc.gov/html/fdny/media/tribute/tribute.html. Aufgerufen am 24.08.2010. http://www.nyc.gov/html/fdny/html/wtc_other/ground_zero/1831_21.shtml. Aufgerufen am 10.04.2011. http://www.tributewtc.org/exhibits/gallery2.php. Aufgerufen am 13.07.2010. http://www.tributewtcstore.org/. Aufgerufen am 13.06.2011. http://www.braceletsforamerica.com/911.shtml. Aufgerufen am 13.06.2011. http://www.amazon.com/gp/offer-listing/0933477082/ref=dp_olp_used?ie= UTF8&condition=used. Aufgerufen am 10.07.2011. Filme, Dokumentationen Independence Day (USA 1995, Regie: Roland Emmerich) ƍƍ11ƍ09ƍƍ01 (Frankreich 2002, Regie: Alejandro González Inárritu) World Trade Center (USA 2006, Regie: Oliver Stone, DVD: Paramount Pictures) 11. September (USA, Frankreich 2001, Regie: Jules Naudet, Gedeon Naudet, James Hanlon; DVD: Paramount Pictures 2009) The Towering Inferno (USA 1974, Regie: John Guillermin, Irwin Allen (Actionszenen)) 9/11: The Falling Man (Großbritannien 2006, Regie: Henry Singer) RTL II Schicksalsreportage: 11. September 2001 – Sprung in den Tod, gesendet am 05.09.2006, 22:15 Uhr Paul Virilio: Denker der Geschwindigkeit (Frankreich 2007, Regie: Stéphane Paoli) Vortrag (nicht publiziert) Peters, Olaf (Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg). Titel des Vortrags: Otto Dix: Der Krieg (1929-32). Genese, Kontext und Erzählstruktur des Triptychons in der Weimarer Republik. Gehalten am 16.11.2009 an der Universität Hamburg. Magisterabschlussarbeit (unveröffentlichtes Manuskript) Becker, Anne: Das Erhabene in der amerikanischen Kunst im Zeitalter der Massenmedien. Unveröffentlichte Magisterabschlussarbeit am Fachbe-
B IBLIOGRAPHIE
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reich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin 2003
Abbildungen
Abb. 1: Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis (1950-51) Öl auf Leinwand, 242,2 x 514,7 cm, New York: The Museum of Modern Art
Quelle: Kynaston McShine, Anne Umland (Hrsg.): To be looked at. Painting and sculpture from The Museum of Modern Art, New York. New York: The Museum of Modern Art 2002 (Ausst.-Kat.), S. 75
310 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS
Abb. 2: Fotograf Thomas E. Franklin, Raising the Flag at Ground Zero, 11.09.2001, (c) 2001 The Record, (Bergen County, NJ)
Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/39038466/ns/us_news-9_11_nine_years_ later/t/iconic-figures-sept-where-are-they-now/. Aufgerufen am 17.07.2011.
Abb. 3: Heroes of 2001-Sondermarke, Gestaltung: Derry Noyes
Quelle: http://www.gao.gov/new.items/d05953.pdf, S. 9. Aufgerufen am 17.07.2011.
A BBILDUNGEN
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Abb. 4: Fotograf Joe Rosenthal (Associated Press), The Raising of the Flag on Iwo Jima, 23.02.1945
Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/14446355/ns/us_news-life/t/iwo-jima-flagraising-photographer-dies/. Aufgerufen am 17.07.2011.
Abb. 5: Fotograf Louis R. Lowery, The First Flag Raising on Mt. Suribachi, 23.02.1945
Quelle: http://www.loc.gov/shop/index.php?action=cCatalog.showItemImage&cid =48&scid=390&iid=3583&PHPSESSID=f6578ab1e1a3ec132. Aufgerufen am 17.07.2011.
312 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS
Abb. 6: Laokoongruppe
Quelle: Horst Althaus: Laokoon. Stoff und Form. 2., erweiterte Auflage, Tübingen, Basel: Francke 2000 (Umschlag; Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Abbildung aus „Filippo Maggi, ‚Il Ripristino del Laocoonte‘, Memorie Volume IX, XLIV Il Laocoonte ripristinato, Tipografia Poliglotta Vaticana 1960“)
A BBILDUNGEN
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Abb. 7: Otto Dix, Der Krieg (1929-32) Triptychon Mittelteil: 204 x 204 cm, Seitenteile je 204 x 102 cm, Predella 60 x 204 cm. Galerie Neuer Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Quelle: Marion Ackermann (Hrsg.): Drei. Das Triptychon in der Moderne. Stuttgart: Kunstmuseum Stuttgart, Hatje Cantz 2009 (Ausst.-Kat.), S. 90-91
314 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS
Abb. 8: Fotograf Peter Foley, Fotografie eines Feuerwehrmannes aus der Ausstellung Here is New York.
Quelle: Alice Rose George (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 355
A BBILDUNGEN
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Abb. 9: Fotografie sich ausruhender Rettungskräfte aus der Ausstellung Here is New York, Name des Fotografen im Katalog nicht ausgewiesen.
Quelle: George (Hrsg.): Here is New York, S. 360
316 | 9/11 ALS BILDEREIGNIS
Abb. 10: Fotografin Ruth Fremson (New York Times), Fotografie vom Ground Zero.
Quelle: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen. Der 11. September und seine Folgen. München: Collection Rolf Heyne 2002, S. 64-65
A BBILDUNGEN
Abb. 11: Fotograf Michael Rieger, Löscharbeiten auf Ground Zero, Aufnahme aus der Ausstellung Here is New York.
Quelle: George (Hrsg.): Here is New York, S. 375
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Abb. 12: Fotograf Stan Honda (AFP - Getty Images file), Präsident George W. Bush mit Bob Beckwith während seiner Ansprache an die Rettungskräfte auf Ground Zero (14.09.2001).
Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/39038466/ns/us_news-9_11_nine_years_ later/t/iconic-figures-sept-where-are-they-now/. Aufgerufen am 22.07.2011.
A BBILDUNGEN
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Abb. 13: Fotograf Richard Drew, Falling Man (11.09.2001), Associated Press Foto
Quelle: http://www.esquire.com/features/ESQ0903-SEP_FALLINGMAN. Aufgerufen am 17.07.2011.
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Abb. 14: Fotograf Jacob Blickenstaff, Aufnahme aus der Ausstellung Here is New York.
Quelle: George (Hrsg.): Here is New York, S. 126
Abb. 15: Fotograf Phillip Buehler, Aufnahme aus der Ausstellung Here is New York.
Quelle: George (Hrsg.): Here is New York, S. 800
A BBILDUNGEN
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Abb. 16: Grafiker Art Spiegelman, Cover des Magazins The New Yorker vom 24.09.2001.
Quelle: Art Spiegelman: Küsse aus New York. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2003, S. 83
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis (1950-51) Aus: McShine, Kynaston/ Umland, Anne (Hrsg.): To be looked at. Painting and sculpture from The Museum of Modern Art, New York. New York: The Museum of Modern Art 2002 (Ausst.-Kat.), S. 75 Abb. 2: Thomas E. Franklin, Raising the Flag at Ground Zero, 11.09.2001, (c) 2001 The Record, (Bergen County, NJ). Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/39038466/ns/us_news-9_11_ nine_years_later/t/iconic-figures-sept-where-are-they-now/. Aufgerufen am 17.07.2011. Abb. 3: Heroes of 2001-Sondermarke, Gestaltung: Derry Noyes Quelle: http://www.gao.gov/new.items/d05953.pdf, S. 9. Aufgerufen am 17.07.2011. Abb. 4: Joe Rosenthal, The Raising of the Flag on Iwo Jima, 23.02.1945 (Associated Press) Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/14446355/ns/us_news-life/t/ iwo-jima-flag-raising-photographer-dies/. Aufgerufen am 17.07.2011. Abb. 5: Louis R. Lowery, The First Flag Raising on Mt. Suribachi, 23.02.1945 Quelle: http://www.loc.gov/shop/index.php?action=cCatalog.showItem Image&cid=48&scid=390&iid=3583&PHPSESSID=f6578ab1e1a3 ec132. Aufgerufen am 17.07.2011. Abb. 6: Laokoongruppe Aus: Althaus, Horst: Laokoon. Stoff und Form. 2., erweiterte Auflage, Tübingen, Basel: Francke 2000 (Umschlag; Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Abbildung aus „Filippo Maggi, ‚Il Ripristino del Laocoonte‘, Memorie Volume IX, XLIV Il Laocoonte ripristinato, Tipografia Poliglotta Vaticana 1960“)
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Abb. 7: Otto Dix, Der Krieg (1929-32) Aus: Ackermann, Marion (Hrsg.): Drei. Das Triptychon in der Moderne. Stuttgart: Kunstmuseum Stuttgart, Hatje Cantz 2009 (Ausst.-Kat.), S. 90-91 Abb. 8: Peter Foley, Fotografie ohne Titel aus der Ausstellung Here is New York. A democracy of photographs. Aus: George, Alice Rose (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 355 Abb. 9: Name des Fotografen im Katalog nicht ausgewiesen, Fotografie ohne Titel aus der Ausstellung Here is New York. A democracy of photographs. Aus: George, Alice Rose (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 360 Abb. 10: Ruth Fremson (New York Times), Fotografie ohne Titel Aus: The New York Times (Hrsg.): Ins Herz getroffen. Der 11. September und seine Folgen. München: Collection Rolf Heyne 2002, S. 64-65 Abb. 11: Michael Rieger, Fotografie ohne Titel aus der Ausstellung Here is New York. A democracy of photographs. Aus: George, Alice Rose (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 375 Abb. 12: Stan Honda (AFP - Getty Images file), Präsident George W. Bush mit Bob Beckwith auf Ground Zero Quelle: http://www.msnbc.msn.com/id/39038466/ns/us_news-9_11_ nine_years_later/t/iconic-figures-sept-where-are-they-now/. Aufgerufen am 22.07.2011. Abb. 13: Richard Drew, Falling Man (11.09.2001), Associated Press Foto Quelle: http://www.esquire.com/features/ESQ0903-SEP_FALLING MAN. Aufgerufen am 17.07.2011. Abb. 14: Jacob Blickenstaff, Fotografie ohne Titel aus der Ausstellung Here is New York. A democracy of photographs. Aus: George, Alice Rose (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 126
A BBILDUNGSNACHWEISE
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Abb. 15: Phillip Buehler, Fotografie ohne Titel aus der Ausstellung Here is New York. A democracy of photographs. Aus: George, Alice Rose (Hrsg.): Here is New York. A democracy of photographs. 2. Auflage, Zürich, Berlin, New York: Scalo 2002 (Ausst.-Kat.), S. 800 Abb. 16: Cover des Magazins The New Yorker vom 24.09.2001, Gestaltung: Art Spiegelman Quelle: Spiegelman, Art: Küsse aus New York. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2003, S. 83
Image Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen (Hg.) Interieur und Bildtapete Narrative des Wohnens um 1800 März 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2418-2
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Silke Feldhoff Partizipative Kunst Genese, Typologie und Kritik einer Kunstform zwischen Spiel und Politik
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Juni 2013, 286 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2264-5
Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11
Katrin Ströbel Wortreiche Bilder Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst
April 2013, 502 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
August 2013, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2438-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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