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German Pages 80 [83] Year 2019
Impressum Herausgeber: Renovabis, Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, Pfarrer Dr. Christian Hartl, Hauptgeschäftsführer, Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, D-85354 Freising, Tel.: 08161 / 5309-0, Fax: 08161 / 5309-11 [email protected] . www.renovabis.de und Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), Dr. Stefan Vesper, Generalsekretär, Hochkreuzallee 246, D-53175 Bonn, Tel.: 0228 / 38297-0, Fax: 0228 / 38297-44 [email protected] . www.zdk.de Redaktion: Prof. Dr. Michael Albus, Mainz (verantwortlich) . Prof. Dr. Thomas Bremer, Münster . Dr. Markus Ingenlath, Freising . Dr. Matthias Kneip, Regensburg . Dr. Christof Dahm, Freising (Redakteur vom Dienst). Anschrift: Redaktion „OST-WEST. Europäische Perspektiven“, Renovabis, Domberg 27, D-85354 Freising Tel.: 08161 / 5309-70, Fax: 08161 / 5309-44 [email protected] . www.owep.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung bzw. die Ansicht der Autorin/des Autors wieder und stimmen nicht unbedingt oder in jedem Fall mit der Meinung der Redaktion überein. Erscheinungsweise: 4 x im Jahr, jeweils Mitte Februar, Mai, August und November. Bezugspreis: Einzelheft 6,50 ‡ Jahresabonnement 19,80 ‡ (jeweils zzgl. Versandkosten). Bezugsbedingungen: Bestellungen sind an den Verlag zu richten; die Kündigung eines Abonnements ist bis sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums (nur schriftlich) möglich, ansonsten verlängert sich dieses um ein weiteres Jahr. Verlag und Anzeigenverwaltung: Verlag Friedrich Pustet Gutenbergstraße 8, D-93051 Regensburg Tel. 0941 / 92022-0 . Fax 0941/92022-330 [email protected] . [email protected] . www.verlag-pustet.de ISSN 1439-2089 ISBN 978-3-7917-3066-0
Inhaltsverzeichnis Schlagbaum und Warnhinweise auf dem Umschlag deuten auf die Zeit vor 1989 – heute sind die Wege offen. Tabea Roschka hat diese Collage erstellt; die Bildvorlagen entstammen dem Renovabis-Archiv. – Gesamtgestaltung: Martin Veicht.
Karl Schlögel Das mittlere und östliche Europa – 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs . . . . . . . . . . . . . . 162 Bilanz ohne Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Bilanz ohne Illusion: Übersicht der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Christof Dahm Blick zurück und Blick nach vorn: Anmerkungen zur „Bilanz ohne Illusion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Interview „Wir sollten uns besser verstehen lernen.“ Ein Gespräch mit Dr. Bernhard Vogel . . . . . . . . . . 231
Editorial Im November 2019 jährt sich die Öffnung der Berliner Mauer, wohl das markanteste Ereignis im wahrlich schicksalhaften Jahr 1989, zum dreißigsten Mal. Damit ist seither mehr als eine Generation vergangen, eigentlich kein langer Zeitraum, aber doch auch wieder lang genug, um im Gedächtnis Europas allmählich zu verblassen. Es ist müßig daran zu erinnern, was seither alles geschehen ist – man denke nur an den 11. September 2001 und dessen Folgen weltweit, aber auch an die vielen Krisen, die Europa als Ganzes, also nicht nur die Europäische Union, erfasst haben. Die weitere politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents ist, man kann es wohl so vorsichtig umschreiben, von Unsicherheit und Zukunftsängsten geprägt. Welche Rolle spielen angesichts dieses Befundes die Ereignisse des Jahres 1989 und die vorhergehenden Prozesse, die den Wandel und die (nicht überall) friedlichen Revolutionen überhaupt erst möglich gemacht haben, für die Gegenwart? Die vorliegende Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven wird nicht den Anspruch erheben, einen analytisch ausgereiften Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu liefern. Das Heft enthält einen Essay, der die damaligen Ereignisse kritisch würdigt, und ein Interview mit einem deutschen Politiker, der in den achtziger und neunziger Jahren an verantwortlicher Stelle eine wichtige Position einnahm. Vor allem aber enthält das Heft 22 Kurzbeiträge von Zeitzeugen wie von Nachgeborenen, in denen Vieles von dem, was damals und bis heute die Menschen bewegt hat, zu Wort kommt. Mehrfach ist in dieser Ausgabe von „Bilanz“ die Rede. Wir würden uns freuen, wenn sich die Leserinnen und Leser im Anschluss an die Texte ihre eigenen Gedanken über das Jahr 1989 und seine Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft machen. Die Bilanz wird sicher gemischt ausfallen, aber lohnen wird sie sich auf jeden Fall. Die Redaktion
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Das mittlere und östliche Europa – 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Prof. Dr. Karl Schlögel war von 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Kultur Osteuropas, besonders die Länder der ehemaligen Sowjetunion; Stadtentwicklung in Mittel- und Osteuropa.
Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Ende der 1980er Jahre trafen trotz mancher Vorzeichen die Menschen unerwartet und haben Europas Gestalt unwiderruflich verändert. Rückblickend ist aber festzuhalten, dass sich viele Hoffnungen nicht erfüllt haben, vielmehr die Schatten der Vergangenheit weit ins 21. Jahrhundert hineinragen und Europas Zukunft bedrohen. Angesichts dieses krisenhaften Befundes warnt der Autor vor Hysterie und rät zu Besonnenheit und Geistesgegenwart.
I. Jubiläen und Jahrestage haben etwas Merkwürdiges, Irritierendes an sich – ob es sich um 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Novemberrevolution oder den Versailler Vertrag handelt, um nur Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zu zitieren. Runde Daten erklären gar nichts. Sie sind im schlimmsten Fall Anlässe, um den Kulturbetrieb in Gang zu halten – Festtage, Gedenktage, Buchproduktion, Konferenzen –, im besten Falle Anlässe innezuhalten, Augenblicke der Nachdenklichkeit, der Reflexion. So ist es auch mit dem 30. Jahrestag des Falls der Mauer in diesem Jahr oder mit dem 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes samt Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aber was wäre zu 30 Jahren Mauerfall zu sagen, was nicht schon gesagt worden ist! In dem Augenblick, als die Mauer fiel – oder etwas weiter gestreckt: der Eiserne Vorhang zerfiel –, wussten alle, dass etwas Ungeheuerliches geschah. Die Vokabel des Augenblicks lautete: Wahnsinn. Niemand 162
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konnte glauben, was doch geschehen war: dass in einem Augenblick die gesamte politische Landkarte sich verändert hatte, dass man freien Fußes eine Grenze überschreiten konnte, die bis gestern noch nur unter Todesgefahr überwunden werden konnte. Das Undenkbare war über Nacht geschehen. Und alle, die den „historischen Augenblick“ miterlebt hatten, wussten: Nichts würde mehr so sein, wie es einmal gewesen ist. Auch dies ein Satz, der die Runde machte, ein Gemeinplatz, der keines weiteren Beweises bedurfte. Ja, alle wussten, dass „nichts bleibt, wie es gewesen war“. Und obwohl alle es wussten, waDas Undenkbare war über Nacht ren doch die meisten überrascht, als geschehen: Nichts würde mehr so sein, der alte Zustand abgewickelt und der wie es einmal gewesen ist. neue Zustand eingetreten war. Selbst jene, die den „historischen Augenblick“ herbeigesehnt hatten – ja, solche gab es nach einer jahrzehntelangen Teilung des Landes und des Kontinents –, waren überrumpelt, als es so weit war. Viele hatten sich schon auf ein „Ende der Geschichte“, wie ein populärer Buchtitel von Francis Fukuyama in den späten 1980er Jahren hieß 1, eingerichtet, nun wurden sie hineingerissen in eine Geschichte, die sich rasend in Bewegung setzte. Die Wiedervereinigung Deutschlands, die Wiedervereinigung des geteilten Kontinents, das Ende der ost-westlichen Teilung der Welt – mit einem Mal war all das Wirklichkeit geworden. Es ging eigentlich nur noch um die Modalitäten, um die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, kaum aber um eine Rückkehr zum status quo ante: Die Nachkriegszeit war zu Ende, ja das „Jahrhundert der Extreme“ war beendet. II. 30 Jahre danach sind wir schlauer. An Besserwissern, die schon im Augenblick der Wende alles hatten kommen sehen, was dann kam, fehlt es nicht. In der Euphorie des Gelingens gab es keinen Raum für die dunklen Seiten des Endes der Nachkriegsordnung. Die Auflösung der Ordnung: der politischen Ordnung, der sozialen Ordnung, der moralischen und kulturellen Orientierungen. Das Verschwinden der Großen Grenze ging einher mit neuen Grenzziehungen. An die Stelle der Supermacht-Impe-
1 Erstveröffentlichung 1992 unter dem Titel „The End of History and the Last Man“.
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rien traten (wieder) die Nationalstaaten. Das Ende des „ideologischen Zeitalters“ endete oft in der Wiedergeburt alt-neuer Ideologien und Mythen. Was zuvor hochgehalten worden war, wurde jetzt nieder gemacht – ganz gleich, ob es sich um Textbücher oder Denkmäler handelte. Eine große „Umwertung der Werte“ ging über den östlichen Teil des Kontinents hinweg. Alte Hierarchien zerfielen, neue bauten sich auf – ein Autoritarismus neuen Typs. Es geschah etwas, was es in Europa mehr als ein halbes Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte: Krieg. Der Krieg war zurückgekehrt nach Europa: als vielerorts aufflammender Bürgerkrieg an Es geschah etwas, was es in Europa mehr als ein halbes Jahrhundert nicht mehr der Peripherie des Sowjetimperiums, gegeben hatte: Krieg. als ethnischer Krieg in Jugoslawien, in dem ein Dutzend Nationen ein halbes Jahrhundert mehr recht als schlecht miteinander ausgekommen waren. Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung, Kriegsgräuel – darauf war Europa nicht gefasst. Was „theoretisch klar“ war – dass nichts bleiben würde, wie es war – war in der Lebenswirklichkeit nur schwer zu verkraften, denn es ging um Existenzen und Schicksale: um den Verlust des sozialen Status, um das Ende von Lebensplanungen und Sicherheit, um einen zweiten Anfang, der alle erdenkliche Kraft erforderte, um den Verlust von Gewissheiten und die Anstrengung, sich noch einmal „ganz neu aufzustellen“. Keine Sphäre des Alltagslebens blieb davon verschont: nicht die Berufswelt, nicht die Bücher, die man in der Schule zu lesen bekam, nicht die Fernsehprogramme. Jahre, Jahrzehnte der Turbulenzen, in denen das Neue und das Alte, die neue Bewegungsfreiheit und die Sehnsucht nach dem Alt-Vertrauten Hand in Hand und ein tiefer Riss mitten durch Familien und Freundschaften gingen – Verlierer und Gewinner in nächster Nachbarschaft. Daher ist es auch nicht möglich, einen idealen Durchschnitt heraus zu präparieren. Das gilt schon für die verschiedenen Staaten und Gesellschaften: Die Polen hatten andere Erfahrungen als die Tschechen, die Ungarn andere als die Rumänen, die DDR-Deutschen andere als die Sowjetbürger usf. Man kommt heute mit einem „allgemeinen Überblick“ nicht mehr weit. Der Eintritt in eine Zeit des Tumults und der Wirren war angesichts der tektonischen Verwerfungen und Verschiebungen das nächst Liegende, auch wenn es schwer fiel, sich dies einzugestehen. Dies gilt vor allem für das westliche Europa, in dem man – eine Weile wenigstens – in der Illusion weiterleben konnte, dass alles beim Alten bliebe. Während man 164
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dem Osten riet, alles Mögliche nachzuholen – die Modernisierung, den Liberalismus, die Demokratie, die life-style Revolution – ging das Leben in der westlichen Komfortzone weiter. Es dauerte eine Weile, bis die in der gesicherten Nachkriegswelt aufgewachsene und friedensverwöhnte Generation merkte, dass die Änderungen nicht an der alten Grenze Halt machten. Unbehagen löste die happy end-Stimmung ab. Die ganze Welt war im Umbruch begriffen. Aus der bipolaren Welt von Ost-West war die polyzentrische Welt der global players geworden, in der die Verteilung von Einflusszonen neu ausgehandelt wurde. Was einmal Weltmacht oder Supermacht war, und sei sie noch so mächtig, musste sich anschicken, sich „neu aufzustellen“ – ob es sich um die Sowjetunion, die Supermacht von einst, um das mächtige Amerika, um die Europäische Union oder China im Aufstieg handelte. Es gab nicht überall „Helden des Rückzugs“, die so dringend gebraucht wurden. Verschiebungen der Kraftzentren im beginnenden 21. Jahrhundert gingen nicht ohne Infragestellung der bis dahin geltenden Orientierungen und Koordinaten ab. Nichts und niemand war ausgenommen von einer Neubegründung der je geltenden und verfochtenen Ansprüche und Werte. Die Weltunordnung wurde der angemessene Ausdruck einer Welt im Übergang, und die einzige Frage war und ist, in welcher Form sich dieser (unvermeidliche) Übergang vollzieht: kriegerisch oder zivil und diplomatisch moderiert, tentativ und defensiv in Kompromissen oder unter Einsatz von Druckmitteln bis hin zum militärischen Ernstfall. III. Das mittlere und östliche Europa ist von diesen Verwerfungen und Verschiebungen nicht unberührt, mehr noch: Es hatte sich für ein halbes Jahrhundert im Schnittpunkt der Interessen der rivalisierenden Supermächte befunden, nur war es plötzlich wieder in die Zwischenzone, in die Unsicherheit einer Peripherie gerutscht – die „shatterzone“2 aus der Zeit zwischen den Kriegen mit allem, was dazugehörte: den neuen Freiheiten, aber auch den Unberechenbarkeiten und Risiken. Alte Konfliktlinien, die in der Zeit des Kalten Krieges überdeckt oder stillgelegt waren, brachen wieder auf, Pfadabhängigkeiten wurden wieder virulent, die longue durée meldete sich zurück, Rivalitäten, die als erledigt angesehen
2 „Schotterzone, Trümmerfeld“ (im Sinne von gefährdeter Region).
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waren, wurden reaktiviert – mutatis mutandis: Denn jetzt gab es etwas Neues, das nach dem Krieg gebaute Europa, ein wesentlich westliches Europa, dem anzuschließen man entschlossen war. Doch auch dieser Fixpunkt – die EU – geriet in Turbulenzen, die sich nach einer so langen Erfolgsgeschichte kaum jemand hatte vorstellen können und die den für selbstverständlich angenommenen Prozess fortschreitender Integration infrage stellten: Wirtschaftskrise, Eurokrise, Anprall der großen Wanderungsbewegung, militärische Bedrohung durch ein neoimperial ausgreifendes Russland, das seine innere Stabilität in der Flucht nach vorn, in der Aggression gegen Nachbarländer – Georgien, die Ukraine – zu gewinnen sucht. In dieser Situation, in der die Europäer mehr als je zuvor auf sich selbst gestellt sind, ist alles möglich: die Vertiefung der Spaltung, aber auch die Neuaushandlung eines modus vivendi für die neuen Verhältnisse, Panik und Hysterie, aber auch eine Entdramatisierung und Gewöhnung an Krisenbewältigung als das Alltagsgeschäft von Gemeinwesen und Staaten, wenn ein Goldenes Zeitalter vorüber ist. Die Devise für diese Situation ist eher Muddling through, ein „sich irgendwie Durchwurschteln“, und nicht das Entweder/Oder der Utopie – einer immer perfekteren EU – oder der Apokalpyse – Untergang des Abendlandes. Das Ende des Euro wäre nicht das Ende Europas, die Rückgewinnung der Kontrolle über die Binnengrenzen beschneidet zwar ein wenig den Luxus, an den wir uns in Schengen-Europa gewöhnt haben, aber auch das ist nicht das Ende Europas. Es braucht eine neue Elastizität und weniger Beschwörungsrhetorik, mehr Gelassenheit und weniger Hysterie, vor allem aber brauchen wir Aufklärung und Auskünfte, woran wir In den gegenwärtigen Krisen sind eine sind, wenn die alten Koordinaten, mit neue Elastizität und weniger Beschwörungsrhetorik angebracht, mehr Gedenen wir groß geworden sind, nicht lassenheit und weniger Hysterie. mehr taugen. Es gibt keinen Automatismus und kein Patentrezept. Was not tut, ist Hellwachheit, Geistesgegenwart, um zur Kenntnis nehmen, was der Fall ist, sich Einstellen auf den Ernstfall, und – so banal das klingt: die Nerven behalten und anständig bleiben in Zeiten, in denen man verführt ist, durchzudrehen und die Schuld für alles und jedes beim anderen zu suchen.
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Bilanz ohne Illusion Einführung Alle Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa haben Erinnerungen an die Umbrüche in ihrer Heimat, die mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegen. Die folgenden 22 Beiträge lassen sowohl Zeitzeugen als auch Nachgeborene zu Wort kommen. Repräsentativ will und kann die Umfrage nicht sein – vielmehr bietet sie ein Kaleidoskop von Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Unsicherheiten und Ängsten. Ein Hinweis zur Anordnung: Die Texte wurden in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen aneinandergereiht. Die Autorinnen und Autoren werden zu Beginn kurz vorgestellt; einige haben auch Bilder zur Verfügung gestellt. Inhaltlich waren Leitfragen vorgegeben, die in einigen Beiträgen noch direkt enthalten sind; dies ist dann jeweils vermerkt. Die meisten Mitwirkenden haben ihre Gedanken offen formuliert. An die Beiträge schließt sich eine kurze Analyse der „Bilanz ohne Illusion“ an (vgl. S. 228-230). Ein Anspruch auf letztgültige Deutung wird darin nicht erhoben, wesentlich sind vielmehr die Texte in ihrer ganz unterschiedlichen formalen und sprachlichen Gestalt. Christof Dahm *** *** *** Susanne Albani
Reflexionen zu meiner Herkunft aus der ehemaligen DDR Susanne Albani (geb. 1986) studierte Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas in Frankfurt (Oder) und Warschau. Als Jugendbildungsreferentin arbeitet sie derzeit im Bereich historischpolitische Bildung in der Heimbildungsstätte Villa Fohrde in Brandenburg. Das Bewusstsein über die Wende ist schleichend in mein Leben getreten. Ich kann mich heute nicht mehr an den einen Moment erinnern, an dem OST-WEST 3/2019
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mir bewusst geworden wäre, dass ich mit meiner Familie aus einem Land komme, das es heute nicht mehr gibt. Meine Großfamilie kommt aus Sachsen,1986 wurde ich in der Nähe von Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, geboren, wo ich fortan aufwuchs. Entgegen der Großfamilie meines Vaters, deren Mitglieder alle in der DDR lebten, wohnten die vier Schwestern meiner Großmutter mütterlicherseits in der Bundesrepublik. Der Kontakt zu wenigstens einer dieser Großtanten war sehr eng und so kamen nicht nur Westpakete, sondern ab und an auch Besuche der Verwandtschaft aus dem Westen zu uns. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war Pfarrer. Aus diesem Grund wurde er teilweise von der Stasi überwacht und seine sechs Kinder erlebten Schikanen, wie beispielsweise die Verweigerung des Zugangs zu Abitur und Studium. Auch meine Großeltern väterlicherseits waren als Leitung kirchlicher Heime für Menschen mit Behinderungen der Kirche eng verbunden. Die dadurch resultierende kritische Einstellung meiner Familie gegenüber der ideologischen und politischen Ausrichtung der DDR durch die SED-Parteiführung prägte somit letztlich auch meine Sicht auf die DDR: Während so mancher Unterhaltung zwischen meinen Eltern und meinen älteren Geschwistern (Jahrgang 1980 und 1982) geisterten bereits Anfang der Neunziger Jahre Begriffe wie „Perestrojka“, „Glasnost“ und „Treuhand“ in meinem Kopf herum, bevor ich deren Bedeutung richtig verstehen konnte. Die Erzählungen meiner Eltern umgab etwas Faszinierendes und gleichermaßen Beklemmendes. Neben den bereits erwähnten Schikanen in Bezug auf Bildungs- und Berufschancen ging es dabei oft um Entbehrungen wie die Einschränkung der Reise- und Meinungsfreiheit. Neben Märchenfilmen und Büchern war es vor allem Musik, die aus der Zeit der DDR auch in mein Leben trat. Und auch die Erzählungen meiner Großeltern füllten mein Bild von der DDR, wie sie trotz vieler Entbehrungen ihr Leben gemeistert hatten, durch Erfindungsreichtum, gegenseitige Hilfe und abenteuerlich anmutende Aktionen zur Beschaffung rarer Produkte wie Baumaterialien. All diese Geschichten vermischten sich zu einem Gefühl der Bewunderung darüber, wie meine Familie ihr Leben in diesem Land gemeistert hatte, das so anders schien als das Leben nach der Wende. Zu den Erzählungen aus der Familie gesellte sich durch Schule, Spielund Dokumentarfilme, Ausstellungen und Bücher in meiner Jugend nach und nach immer mehr Wissen um den Alltag, aber auch die Verfolgungen und Grausamkeiten in der DDR. 168
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Nicht unerheblich für mein Bild von der DDR waren auch die Besuche im ehemaligen Westen Anfang und Mitte der Neunziger Jahre und der Kontakt mit den Dingen, denen ich dort begegnete: Einfamilienhäusersiedlungen mit glatt geteerten Straßen, Minnie Mouse-T Shirt und Pumarucksack. Die Reaktionen der Menschen im ehemaligen Westen, die teils Unverständnis und Ratlosigkeit über unsere Herkunft ausdrückten, vermittelten mir ein gewisses Gefühl von Unterschiedlichkeit und, ja, auch Rückständigkeit. Als ich älter wurde, empfand ich teils ein diffuses Gefühl der Scham und auch den Wunsch, nicht mit den Bildern der Medien in Verbindung gebracht werden zu wollen, in denen eine Herkunft aus Ostdeutschland mit etwas Rückständigem assoziiert wurde. Tatsächlich war die Wende ein großer Segen für mich und meine Familie. Meine Eltern profitierten nach Jahrzehnten der Bevormundung, der Entbehrungen und des „Eingesperrtseins“ von den neu gewonnenen Freiheiten: Sie schickten uns Kinder auf eine 1991 neu gegründete reformpädagogische Schule, fuhren jährlich im Sommer mit uns ins Ausland, unterstützten euphorisch unsere längeren Auslandsaufenthalte und beteiligten sich an jeder parlamentarischen Wahl. Die Errungenschaften eines mehr freiheitlich-demokratischen Staates – ideell wie materiell – wurden stets als etwas Besonderes betrachtet, dem man mit Dankbarkeit begegnet. Gleichzeitig wurden mit Rückblick auf das Erlebte die vielschichtigen Erfahrungen in der DDR als etwas Wertvolles bewahrt und auch die Ansicht, dass es positive Dinge gab wie etwa die gemeinsame Grundschule bis zur 8. Klasse, die geringere Ausrichtung auf materielle Dinge, der Zusammenhalt innerhalb der Kirche und intellektueller Kreise, die in Opposition zum Staat standen. Der Blick auf meine Herkunft aus der DDR entwickelte sich für mich seit dem Abitur stetig zu etwas positivem. Dazu trug das zunehmend ehrliche Interesse von Freunden aus dem „Westen“ an meiner Herkunft bei sowie meine Tätigkeit als studentische Hilfskraft in der Berliner Ausstellung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit und die dort gestellten Fragen durch Besucher aus aller Welt. Hierdurch wandelte sich mein Gefühl, aus einem rückständigen Teil Deutschlands zu stammen: Aus dem früheren Bedürfnis, sich rechtfertigen und die eigene Herkunft erklären zu müssen, entwickelte sich das Bewusstsein, mit der eigenen Familiengeschichte Teil eines besonderen Abschnitts europäischer Geschichte zu sein.
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Die Gewissheit, in zwei deutschen Staaten gelebt zu haben, empfinde ich heute als Bereicherung. Meine Bewunderung und mein Respekt gelten dem Mut und der Energie derjenigen, die bis zur Wende friedlich für Freiheit und Demokratie gekämpft haben. Und das Wissen darum, dass ich einer Familie entstamme, die erlebt hat, was es heißt, nicht in materieller und politischer Sorglosigkeit aufgewachsen zu sein, besitzt gerade vor dem Hintergrund heutiger Herausforderungen der Bewahrung freiheitlich-demokratischer Werte einen besonderen Stellenwert für mich. *** *** *** Karina Beigelzimer
Ein Leben nach der Wende Karina Beigelzimer (geb. 1975) arbeitet als Lehrerin, Journalistin und Reiseleiterin in Odessa (Ukraine). Als die Ukraine im Sommer 1991 ihre Souveränität erklärte, war ich gerade 16 Jahre alt. Jung, hoffnungsvoll und optimistisch eingestellt. Zwar konnte ich wegen meines Alters damals nicht an den ersten freien Präsidentenwahlen teilnehmen, aber mit Begeisterung verfolgte ich den Wahlkampf, vor allem im Fernsehen. Damals gewann der Ex-Kommunist Leonid Krawtschuk. Etwas später fand das Unabhängigkeitsreferendum statt. Mein Vater sagte, das sei der glücklichste Tag in seinem Leben. Er war ein großer Gegner der Sowjetunion und des Kommunismus. Politische Gewalt und Repressionen gehörten während der Sowjetzeit zur Erfahrung seiner Familie. Deshalb feierten wir am 31. Dezember 1991 zweimal – zuerst Silvester und dann das Ende der Sowjetunion. Auch wenn damals 92 Prozent der Abstimmungsberechtigten für die Unabhängigkeit gestimmt hatten, blieb die Frage offen, wohin der Weg des neuen Landes führen wird. Die sieben Jahrzehnte der kommunistischen Epoche prägten noch sehr stark den Großteil des Landes. Einige lebten in jener Vergangenheit, die der andere Teil der Bevölkerung bekämpfte. 170
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Als junge Studentin und später Journalistin und Deutschlehrerin konnte ich ins Ausland reisen und hoffte auf ein schnelles Wirtschaftswunder. Mein Land stürzte aber in eine tiefe Krise. Während die Armut rasant stieg, sank die Lebenserwartung der Menschen. Trotzdem bedeuteten die 1990er Jahre neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten – das Staatsmonopol zerfiel, neue Medien und Diskussionsforen entstanden. In Odessa, meiner Heimatstadt, sah man immer mehr Cafés, Museen und Klubs. Das Kunstgeschehen erlebte eine neue Blütezeit. Im Vergleich zu den wilden 1990er Jahren galten die 2000er als eher ruhige Zeit. Und dann kam das Jahr 2004. Ich arbeitete damals als Leiterin des Nachrichtenbüros der ukrainischen Medienholding in Odessa, das Thema „Orangene Revolution“ beherrschte die Titelseiten unserer Zeitungen und Zeitschriften. Auslöser für die heftigen Proteste waren die Präsidentschaftswahlen 2004, bei denen zahlreiche Wahlfälschungen zugunsten des offen von Russland unterstützten Kandidaten Viktor Janukowitsch auftauchten. Tausende Leute gingen damals für freie demokratische Wahlen auf die Straße. Sie erreichten, dass man die erste Stichwahl für ungültig befand. Die Bewegung der „Orangenen Revolution“ und die Opposition feierten ihren ersten gemeinsamen Sieg. Diese Massenproteste in der Ukraine waren deutliche Zeichen dafür, dass der Untertanengeist, den wir aus der kommunistischen Sowjetunion geerbt hatten, besiegt werden konnte. Bei der Wiederholung der Wahlen im Dezember 2004 erhielt der ehemalige Ministerpräsident und Chef der Nationalbank, Viktor Juschtschenko, die meisten Stimmen. Er versprach umfassende Reformen, Bekämpfung der Korruption und eine westliche Orientierung der Ukraine. Die Erwartungen der Menschen waren sehr hoch, das Gleiche konnte ich auch von mir sagen. Ich fuhr sogar mit Vorträgen über dieses Ereignis nach Bulgarien und Polen. Es gab tatsächlich einige Verbesserungen im Land – man erhöhte Löhne und Renten, fast 18.000 Beamte wurden entlassen. Die Presse- und Meinungsfreiheit war die größte Errungenschaft der Orangenen Revolution. Im Endeffekt kam aber sehr viel ganz anders, als sich das Volk erhofft hatte, und bald herrschte wieder politisches Chaos. Erneut brach der gesellschaftspolitische Zwiespalt zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine auf, außerdem nahm die Korruption zu und die Wirtschaft lahmte. Das alles hat bei den nächsten Präsidentenwahlenim Jahre 2010 Janukowitsch geholfen, an die Macht zu kommen. Er weigerte sich dann drei Jahre später, das umfangreich verhandelte und nunmehr unterschriftsOST-WEST 3/2019
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reife Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Ehrlich gesagt: Ich war darüber regelrecht schockiert. Der Kurs der Ukraine in Richtung EU gehörte viele Jahre zu meinen innersten Wünschen. Es reichte mir und Millionen anderer Ukrainer nicht mehr, dass wir zwar geografisch zur europäischen Familie gehörten, aber nicht politisch. Die ganze Welt hielt den Atem an: Mitten in Kyjiw begannen friedliche Proteste gegen die Politik der Regierung, aber der Konflikt eskalierte, nachdem die Sicherheitskräfte mit Gewalt gegen die Protestierenden vorgegangen waren. Das waren kalte, düstere Februartage 2014 – durch Kugeln der Sicherheitskräfte ließen ca. 100 Demonstranten ihr Leben und Tausende wurden verletzt. Die Revolution brachte der Ukraine mehr Freiheit, aber nahm ihr den Frieden. Das Land hat seit fünf Jahren einen Dauerkonflikt mit dem Nachbarland Russland, welches die Krim annektierte und im Osten, im Donbass, Krieg führt. Ein wichtiger Traum von mir ging 2017 dann doch in Erfüllung – die Ukraine erhielt Visafreiheit mit der Europäischen Union. Endlich müssen wir nicht mehr ins Konsulat fahren und entwürdigende Prozeduren und Gebühren auf uns nehmen. Viel wichtiger ist es aber, dass immer mehr Menschen sich selber ein Bild von Leben, Freiheit und Demokratie in den Ländern Europas machen können. Wahrscheinlich wird irgendwann mein anderer Traum auch wahr – unser Land wird die kommunistische Vergangenheit völlig loswerden und der EU beitreten. *** *** *** Ina Gorges-Diehl
Erfüllte Hoffnungen – aber noch nicht für die mittlere und ältere Generation Ina Gorges-Diehl (geb. 1970) stammt aus Nordhausen, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie lebt in Niederwiesa (Sachsen) und ist als Prüfingenieurin tätig. – Die Fragen stellte Michael Albus.
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Wie haben Sie den Umbruch, die „Wende“, erlebt? Ich habe die Wende als Studentin in Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt, erlebt. Die Demonstrationen im Herbst 1989 erzeugten das Gefühl, dass gewaltige Veränderungen bevorstehen, aber auch Unsicherheit durch die Präsenz der Polizei. Einige Zeit war der Wunsch da, die DDR zu reformieren, anstatt der BRD beizutreten. Die Grenzöffnung habe ich daher erst mit Skepsis, später mit großer Euphorie begrüßt. Die Visionen von „blühenden Landschaften“ im Osten haben dann überwogen. Die Reisefreiheit und das neue Warenangebot waren überwältigend. Aber erst die Währungsunion ermöglichte das Nutzen der neuen Möglichkeiten. Traurig war der Weggang vieler Bekannter. Der Zusammenbruch der Wirtschaft bedeutete für meine Eltern Arbeitslosigkeit und für mich Umorientierung nach dem Studium, da Absolventen in kaum noch vorhandenen Maschinenbau-Unternehmen nicht mehr gebraucht wurden. Für mich als jungen Menschen war das einfacher als für die ältere Generation. Für mich persönlich kam die Wende zur rechten Zeit: eine geborgene glückliche Kindheit in der DDR und die vielfältigen beruflichen und persönlichen Möglichkeiten der Entfaltung als junger erwachsener Mensch. Ich konnte ein Praktikum in einem westdeutschen Unternehmen machen und mein Bruder hat im Ausland studiert. In meiner Lebensphase überwogen die Vorteile der Wende klar die Schwierigkeiten und Nachteile. Wurden ihre Hoffnungen und Erwartungen erfüllt? Meine Hoffnungen an einen Umbruch gingen eher in Richtung Reformen in der DDR statt einer neuen Gesellschaftsordnung; Normalität, Leben in vernünftigen Verhältnissen statt Abwärtstrend. Ich wünschte mir, dass eine freie Meinungsäußerung möglich ist, dass Schulen und weitere Bildungseinrichtungen nicht so voller Propaganda sind, sondern eine freie Entwicklung der Persönlichkeit erlauben würden. Ich hoffte auf Reisefreiheit, Verbesserung der Wirtschaft, Sanierung der Häuser und der Infrastruktur. All das wurde schließlich mit der Wiedervereinigung wahr. Ich lebe nun in einem wirtschaftlich starken Land, habe demokratische und persönliche Rechte, kann reisen, frei wählen, habe aber auch die Mühen der Freiheit (Überfülle an Angeboten) und die Schwierigkeiten der Marktwirtschaft (z. B. Konkurrenzdenken, Insolvenz des ArbeitgeOST-WEST 3/2019
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bers) zu tragen. Somit erfüllten sich meine Hoffnungen und Erwartungen, aber neue Anforderungen und Herausforderungen kamen hinzu. Was muss sich in unserem Land 30 Jahre danach noch ändern? Die Unterschiede in West- und Ost nehmen ab, jedoch muss die Angleichung der Lebensverhältnisse weiter Ziel bleiben. Ostdeutschland muss so weiterentwickelt werden, dass die Menschen gern hier leben und sich nicht benachteiligt fühlen. Durch Ansiedlung großer Behörden oder tarifgebundener Unternehmen könnten Gehaltsunterschiede verringert werden. Zusätzlich muss zunehmend auf strukturschwache Gebiete in ganz Deutschland geachtet werden. Die mittlere und ältere Generation hat die Errungenschaften der Wende oft nicht so nutzen können wie die jüngeren. Sie dürfen wir nicht vergessen. In 30 Jahren hat sich nicht nur Deutschland, sondern auch die Welt drumherum verändert. Unsere innerdeutschen Unterschiede der Lebensverhältnisse fallen jedoch gering aus, wenn man die Annährung der Lebensverhältnisse zwischen west- und osteuropäischen Ländern im Blick hat. Die wirkliche Einheit Deutschlands und eine europäische Gemeinschaft können erst nachfolgende Generationen erreichen. Darum ist es jetzt wichtig, unsere jungen Menschen zu befähigen, neue Aufgaben anzunehmen, und dabei das Geleistete ihrer Eltern- und GroßelternGenerationen nicht zu vergessen. Ich lebe gern in diesem neuen Deutschland. Ich bin stolz darauf, dass die wesentlichen Impulse für Veränderung vom ostdeutschen Volk ausgingen, und ich bin froh, dass alles friedlich blieb. Ich bin dankbar für das Erreichte. *** *** *** Ru° žena Kavková
Wie ich das Jahr 1989 und die folgende Zeit erlebt habe Růžena Kavková (geb. 1953) stammt aus einer sudetendeutschen Familie, die nach 1945 unter vielen Einschränkungen in der Tschechoslowakei verblei-
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ben durfte. Nach der politischen Wende war sie maßgeblich beim Aufbau der Caritas der Diözese Litoměřice (Tschechien) beteiligt und ist heute deren Direktorin. Vor dem 17. November 1989 gab es bereits Signale, dass sich etwas bewegt – Hunderte von ostdeutschen Bürgern strömten zur westdeutschen Botschaft in Prag mit dem Wunsch, nach Westdeutschland auszureisen, ähnlich war es in Budapest und anderswo im „Ostblock“. Nach den Studentendemonstrationen, die am 17. November 1989 in Prag begannen, gab es auch große Versammlungen auf dem Marktplatz der Stadt Litoměřice, wo ich damals im Reisebüro gearbeitet habe. Am Anfang sind die Menschen sehr vorsichtig gewesen und hatten Angst, weil sie nicht gewusst haben, wie sich die ganze politische Situation entwickelt. Natürlich haben alle das Geschehen in Prag im Fernseher und im Rundfunk verfolgt. Wir in Litoměřice hatten das Glück, dass der evangelische Pastor Zdeněk Bárta, ehemaliger Dissident und Mitarbeiter von Václav Havel, sehr aktiv war und die Versammlungen organisiert hat, die meistens in der Mittagpause stattgefunden haben. Ich habe sehr oft teilgenommen. Es wurden Gäste aus Prag eingeladen, darunter viele Studenten, die uns über die Ereignisse in Prag informierten und uns Mut zusprachen. Am Ende der Meetings haben alle die Nationalhymne und Volkslieder gesungen. Es gab viele positive Emotionen und Hoffnungen. Das Volk war sich einig, untereinander waren die Menschen sehr rücksichtsvoll. Natürlich waren die Kommunisten mit dem Geschehen nicht einverstanden, aber sie hatten keine Kraft mehr, die Entwicklung aufzuhalten. Es war eine sehr schöne und hoffnungsvolle Zeit – die Menschen konnten aufatmen. Viele Diskussionen fanden statt, die vorher gar nicht möglich gewesen wären. Über die Wende habe ich mich mit der ganzen Familie sehr gefreut. Natürlich wusste ich, dass der Weg zur Demokratie lang sein würde, bevor wir das Lebensniveau des Westens erreichen. Aber für viele ist es eine Enttäuschung gewesen, dass man sich nun persönlich für Demokratie einsetzen und jeder Verantwortung übernehmen musste, – sie waren der Ansicht, das alles sollte jemand anderes machen; viele haben nur dauernd kritisiert. Mit der Freiheit kamen sehr schnell negative Elemente aus dem Westen in die Tschechische Republik, wie zum Beispiel Drogen, Spielautomaten, Prostitution auf den Straßen usw. Was die echten Werte der DeOST-WEST 3/2019
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mokratie betrifft, blieben sie fast immer im Hintergrund. Nach einiger Zeit tauchten in den politischen Strukturen die alten Kommunisten wieder auf, auch bei der Privatisierung haben sie viele Betriebe übernommen. Die ehemaligen Dissidenten, die sich für die politische Wende geopfert hatten, haben sich leider zurückgezogen. Nach den Worten des ehemaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Václav Klaus sollte der Markt den Prozess zur Demokratie regeln. Alles drehte sich um die Finanzen, bald herrschte ein Materialismus ohne moralische Regeln. Wer Geld hatte, konnte sich alles kaufen, auch Macht und Gerechtigkeit. In dieser Richtung sehe ich zurzeit zwar teilweise Verbesserung, aber noch immer befindet sich der Rechtsstaat in Tschechien in großer Gefahr. Auf der anderen Seite gibt es viele positive Dinge in der Entwicklung, die man zwar sehen kann, aber über die nicht so viel gesprochen wird wie über das Negative – dafür sind auch die Medien und Politiker verantwortlich. Überall sieht man, dass Städte, Dörfer und Straßen durch die Unterstützung der Europäischen Union schöner geworden sind. Den Menschen ist es in der Tschechischen Republik noch nie so gut gegangen wie heute – trotzdem sind viele immer noch oder wieder unzufrieden. Ich persönlich kann mir die Tschechische Republik nicht ohne ihre Mitgliedschafft in der EU und NATO vorstellen. Die gegenwärtigen politischen Trends bei uns sind leider gefährlich. Das Programm der politischen Parteien ist der Populismus, den Wählern wird nicht die Wahrheit präsentiert, sondern das, was sie hören wollen, damit die Politiker die nächsten Wahlen gewinnen. Die Entwicklung zum Populismus ist allerdings nicht nur in Tschechien zu beobachten. Natürlich hängt vieles auch von der Mentalität der Tschechen ab, sie geben nur ungern eigene Fehler zu, sondern suchen den Schuldigen irgendwo anders. Man muss ganz offen sagen: Es gibt nationalistische Tendenzen, viele Fremde fühlen sich in Tschechien nicht wohl. *** *** ***
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András Koncz
András Koncz
Wandern nach der Gefangenschaft András Koncz (geb. 1968) ist ein ausgebildeter Kirchenmusiker und war von 2002 bis 2012 Mitarbeiter der ungarischen katholischen Laienorganisation „HÁLÓ“ (Netz katholischer Gemeinschaften). Heute arbeitet er als Organisationsentwickler und Berater bei einem Team, das für kirchliche Gemeinschaften und Institutionen tätig ist. In den ersten Tagen des Jahres 1988 habe ich in einem kleinen Dorf weit entfernt von Budapest meinen Wehrdienst geleistet. Wir haben damals untereinander über die zu uns kommenden verblüffenden Nachrichten diskutiert: Im Fernsehkabarett am Silvesterabend hat man über Mehrparteiensystem und demokratische Wahlen gescherzt. Obwohl ein unbestimmtes Vorzeichen der Veränderungen tatsächlich zu spüren war, schien uns dieses Thema so unglaublich, dass wir kaum begreifen konnten, wie es ins Kabarett hineingeraten konnte. Als ich nach einem guten halben Jahr im August 1988 aus der Armee entlassen wurde, habe ich die frische Luft im Land schlagartig wahrgenommen. Wir waren zuversichtlich und euphorisch. Am meisten habe ich auf drei Tendenzen gehofft: auf einen Demokratisierungsprozess, auf die Geburt der Einheit und – mehr als alles andere – auf die Verbreitung einer ehrlichen, offenen Stimme. • Rückblickend kann ich im Zusammenhang mit dem ersten Thema behaupten, dass große Fortschritte gemacht wurden, obwohl ich noch heute kaum fassen kann, wieso antidemokratische Richtungen 30 Jahre nach der Wende überhaupt noch im öffentlichen Leben auftauchen können. • Sehr schnell hat es sich aber herausgestellt, dass eine neue Polarisierung an die Stelle von Einheit und Partnerschaft getreten ist. Bis heute betrachte ich es als eines der wichtigsten und leider auch traurigsten soziologischen Merkmale der ungarischen Gesellschaft, dass unüberbrückbare Gräben entlang der politischen Überzeugung Familien, Freundschaften und Gemeinschaften voneinander
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trennen. Diese Schluchten machen offene, perspektivische und zukunftsgerichtete Gespräche unter Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen unmöglich. • Bis heute vermisse ich am meisten Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit im öffentlichen Leben. Nicht nur die Akten des Sicherheitsdienstes sind bis heute geheim geblieben, sondern wir wurden aus der „lustigsten Baracke des Ostblocks“ zu einem Land ohne Eigenschaften, in dem eine bizarre Zersplitterung zwischen Überzeugung und Verhalten vorherrscht. Ich glaube, damals – noch sehr jung – hat mich die Frage am wenigsten beschäftigt, auf welchem Niveau wir leben werden. Eigentlich bin ich bis heute überrascht, wie gut und leicht ich leben kann. Spätestens seit dem Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus wissen wir auch Bescheid darüber, von welcher Wichtigkeit die Grundnachricht des Christentums, nämlich die Zuwendung zu den Armen, Bedürftigen, den „Menschen am Rande“, ist. Um die Wende herum war auch diese Stimme zu hören, es tauchten Organisationen, Menschen auf, die sich ernsthaft mit der Armut befasst haben. Dann ist diese Stimme wieder sehr schnell im öffentlichen Leben verhallt. Vielleicht beginnt gerade jetzt in unseren Tagen ihr Wiedererwachen. Meine Mutter hat in der Zeit der Wende bei den ungarischen Streitkräften als Buchhalterin gearbeitet. Jeden Monat einmal hat in ihrer Einheit ein Offizier während der Personalversammlung einen Vortrag über die Bedeutung und den Aufbau des Sozialismus gehalten. Nach der Wende hat plötzlich der gleiche Offizier in einer Versammlung einen Vortrag über die Grundprinzipien des Christentums gehalten. Als gläubiger Christ bin ich der Meinung, dass mit uns nichts Schlechteres hätte passieren können, als dass das Christentum gewissermaßen zur Staatsreligion erhoben wurde, was grundsätzlich bis heute gilt. Die gleichen Prozesse, die ich oben als gesellschaftliches Phänomen beschrieben habe, gehen bzw. gingen ungefähr gleichermaßen in der Kirche vor. Die Wende hat eine plötzliche und kraftvolle Öffnung bewirkt, vor allem in quantitativer Hinsicht: Viele untergetauchte Christen haben einen Schritt hin zur Kirche gewagt. Seitdem haben wir aber erlebt, dass sich nur wenige Aspekte wirklich verändert haben. Ein quasi feudaler Ton und die Trennlinie zwischen den Laien und den Geweihten in der Kirche sind geblieben. Für viele von uns ist es unbegreiflich, dass Ungarn in dieser Hinsicht eines der konservativsten Länder ist. Dabei hat sich auch ein bestimmter Rückblick in die Vergangenheit erhalten, der ver178
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hindert, dass wir vorwärts blicken, uns mit der Zukunft beschäftigen und Pläne schmieden. Das auserwählte Volk musste nach der ägyptischen Gefangenschaft 40 Jahre lang wandern, bis es das Land der Verheißung betreten durfte, und es gab darunter Menschen, die es nicht erreicht haben. Vielleicht braucht die ungarische Kirche auch eine vierzigjährige Wanderschaft. Und vielleicht bedarf auch die ungarische Gesellschaft einer neuen Generation, die das alte Regime nicht gekannt hat und es daher nicht als Bezugspunkt braucht. Ich bin froh, dass ich heute leben kann, in einer viel schöneren Welt als die, in der ich geboren worden bin. Ich wandere gern und hoffe aufrichtig, dass wir uns dem Land der Verheißung nähern. *** *** *** Petr Kµižek
Zehn Tage, die „meine“ Welt erschütterten Dr. Petr Křížek (geb. 1971) ist Theologe und führt ein Reisebüro in Prag mit dem Schwerpunkt „Christliche Bildungsreisen“. Szene 1 Auf dem Kalender steht 8. November 1989. Es ist ein Mittwoch, 14.21 Uhr. Ort: Hauptbahnhof München, Bahnsteig Nr. 23. Ich stehe am Fenster eines aus Prag kommenden Zuges. Aus dem Fenster sehe ich einem Mädchen entgegen, welches auf dem Bahnsteig dem Zug entgegen schreitet. Ich weiß in dem Augenblick nicht warum, aber ich weiß, das Mädchen muss eine Tschechin sein. Mit mir im Zug sind noch etwa 20 weitere Jugendliche aus meiner Prager Heimatpfarrei von Lhotka. Auf Einladung der Ackermann-Gemeinde, eines katholischen Vereins der aus der Tschechoslowakei nach dem Krieg vertriebenen Sudetendeutschen, dürfen wir nach Rom weiterfahren und dort an der Heiligsprechung der seligen Agnes von Böhmen teilnehmen. Ein großer Wunsch geht in Erfüllung. Der Papst darf nicht in die Tschechoslowakei kommen – dafür dürfen zum ersten Mal 10.000 Tschechen und
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Slowaken in die freie Welt zu der Heiligsprechung nach Rom ausreisen. Ich, damals 18 Jahre alt und gerade sieben Wochen als Student an der Technischen Hochschule in Prag eingeschrieben, war einer von diesen 10.000. Nach dem Ausstieg aus dem Zug erfahre ich, dass eine andere Jugendgruppe – ebenfalls aus Prag, aber aus einer anderen Pfarrei – mit einem früheren Zug nach München kam und sich uns anschließt. Das Mädchen von dem Bahnsteig gehörte zu dieser Gruppe, sie hieß Terezka und war in der Tat eine Tschechin. Szene 2 Es ist 10. November 1989, ein Freitagmorgen. Ich sitze in einem Bus vor der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom. Der Bus ist voll von unseren sudetendeutschen Mitpilgern. Auf einmal, ganz unerwartet, fangen sie an, sich zu umarmen, zu weinen und zu jubeln. Die Nachricht über den Fall der Berliner Mauer hat uns erreicht. Ich verstehe damals nicht, was los ist und was es für sie, aber auch für mich und für die ganze Welt bedeutet. Aber diesen Augenblick vergesse ich nie im Leben. Szene 3 Es ist Sonntagvormittag, der 12. November 1989. Ich nehme am Gottesdienst im Petersdom teil, in dessen Verlauf Prinzessin Agnes aus dem Haus der Přemysliden – eine Zeitgenossin des hl. Franz von Assisi – heiliggesprochen wird. Eine alte böhmische Legende erzählt: Wenn die Gebeine von Agnes gefunden werden, wird der Friede in das Land zurückkehren. Damals weiß ich noch nicht, dass früher die Existenz von Gebeinen die Voraussetzung für die Heiligsprechung einer Person darstellte. Apropos: Neben mir in der Kirche steht die Terezka. Szene 4 Es ist wieder ein Mittwoch, der 15. November 1989, gerade eine Woche haben wir auf der Reise nach Rom verbracht. Nun sitzen wir im Coupé des Zuges nach Prag. In Polen ist die erste freie Wahl mit einer totalen Niederlage der Kommunisten ausgegangen, in Berlin ist die Mauer gefallen, in Sopron bereits im August das Paneuropäische Picknick abgehalten worden. Nur bei uns zu Hause – in der Tschechoslowakei – scheint sich nichts ändern zu wollen. Ich weiß, dass mein älterer Bruder, der mit mir im Coupé sitzt, zwei Eintrittskarten für die Vorstellung der Oper „Verkaufte Braut“ im Prager Nationaltheater für den kommenden Sonntag, den 19. November, um 14.00 Uhr von meinen Eltern geschenkt bekommen hat. Sie meinten, er sei schon genügend alt, um eine ernste
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Bekanntschaft zu haben. Ich weiß aber auch, dass er keinen Bedarf für diese zwei Eintrittskarten hat. „Martin, würdest du mir die zwei Karten überlassen?“ „Ja,“ lautete die Antwort. „Terezka, dürfte ich dich am Sonntag ins Theater einladen?“ „Ja,“ lautete die Antwort. Szene 5 Seit zwei Tagen bin ich wieder zurück in Prag. Es ist der 17. November 1989, 16.00 Uhr, und ich stehe im Prager Univiertel auf einer offiziell zugelassenen Demonstration zum 50. Jahrestag der Schließung der tschechischen Hochschulen durch das NS-Regime. Ich erfuhr davon morgens auf der Uni – es soll eine Demonstration auch gegen das Regime sein –, zum ersten Mal gemeinsam von den unabhängigen Studenten und dem sozialistischen Jugendverband organisiert. Ich kann meinen Augen und meinen Ohren nicht glauben. Um mich herum stehen Tausende, die Redner sprechen absolut frei, der Ruf nach der Freiheit ist sehr laut. Bin ich wirklich in Prag? Gegen 17.00 Uhr ist das offizielle Ende der Demonstration auf dem Vyšehrad. Dort leben meine Großeltern; ich setze mich ab, um ihnen über die Romreise zu berichten, und ahne nicht, dass die Demonstranten sich später weiter ins Zentrum auf den Weg machen und kurz vor dem Wenzelsplatz brutal von der Polizei auseinandergetrieben werden. Szene 6 Samstag, 18. November 1989. Per Telefon erfahre ich von meinem besten Freund, der auf der Demonstration geblieben ist, was am Abend alles geschah. Er spricht über Brutalität, Blut und ist deutlich erschüttert. Beim abendlichen Hören des westlichen Rundfunks erfahren wir zu Hause, dass am Vortag angeblich ein Student zu Tode geprügelt worden ist. Die Nachricht, die sich später als Falschmeldung erweisen sollte, bedeutet den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte ... Szene 7 Sonntag, 19. November, 10.00 Uhr. Vom Ambo meiner Heimatpfarrei spricht der sonst in politischen Fragen eher zurückhaltende Pfarrer Vladimir Rudolf: „Ein System, das seine jungen Menschen zu Tode prügelt, hat kein Recht auf Existenz.“ Auch dieses hat sich in mein Gedächtnis intensiv eingeschrieben. Wie geht es wohl weiter ...? Szene 8 Der gleiche Tag, 13.30 Uhr. „Wo ist denn die Terezka?“ Seit zehn Minuten warte ich unten am Wenzelsplatz, in 30 Minuten soll die TheatervorOST-WEST 3/2019
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stellung anfangen. Da kommt sie schon, schnell laufen wir die paar hundert Meter zum Nationaltheater, setzen uns auf die Polsterstühle, sprechen über das Geschehene und warten den Anfang der Vorstellung ab. Allerdings – anstelle der Ouvertüre kommen alle Schauspieler auf die Bühne, teilen den Theaterbesuchern mit, dass sie alle ab sofort aus Protest gegen die brutale Niederschlagung der Freitagsdemonstration in den Streik treten, und laden alle dazu ein, aufzustehen und die Nationalhymne gemeinsam zu singen. Das kann man nicht vergessen: Das volle Nationaltheater, ein Symbolgebäude für jeden Tschechen, singt vereint und einstimmig die Nationalhymne. Die Wende ist da ... Wir verlassen das Gebäude, Terezka legt die Rose, die ich ihr vorher geschenkt habe, auf die Stelle, wo der Student zu Tode geprügelt worden sein soll und wo inzwischen Hunderte von Kerzen brennen. Wir gehen weiter zum Wenzelsplatz und sind Zeugen einer ersten Demonstration. Der Ruf nach Freiheit ist nicht zu überhören. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zur für 16.00 Uhr auf dem Wenzelsplatz geplanten Demonstration. Szene 9 Die nächsten Tage verbringen wir gemeinsam jeden Tag bei den großen Demonstrationen – bis das Regime fällt und die Freiheit ihren Sieg feiert. Szene 10 (Nachtrag) Es ist Sonntag, 30. Juni 2019, 21.40 Uhr. Ich sitze in meinem Prager Büro. Schon vor einem Monat sollte ich diesen Beitrag abgeben. Heute klappt es nun endlich. Zu Hause warten auf mich Terezka, seit 25 Jahren meine geliebte Frau, und unsere drei „Kinder“ – 22, 20 und 17 Jahre alt. Sie sind heute ganz natürlich – Europäer. Aber dafür bräuchte ich weitere „4.000 Zeichen“. Es bleibt mir daher nur ein Einziges – ein Dank, der etwa so lauten könnte: „Großer und liebender Gott, ich danke dir für die Gabe der Freiheit, die Du uns durch den Einsatz vieler Menschen im Osten und im Westen geschenkt hast. Es ist eine Gabe, die wir nie genügend schätzen können. Sicher, die Freiheit bringt auch neue und nicht wenige Probleme mit sich. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass du uns Europäer auch heute mit diesen neuen Problemen nicht im Stich lässt – so wie du das auch 1989 nicht getan hast. Amen!“ *** *** ***
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Anna Kulke
Anna Kulke
Aufbruch und Ernüchterung Anna Kulke (geb. 1988) hat in Kyjiw Tourismus und Kunstgeschichte studiert. Seit 2016 studiert sie Katholische Theologie in Münster. Ich wurde 1988 in einer mittelgroßen Stadt im äußersten Osten der historischen Region Wolhynien, im Nordwesten der Ukraine, geboren. Um präzise zu sein, sollte ich sagen, dass ich in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik das Licht der Welt erblickte. Obwohl ich also in der Sowjetunion geboren wurde, ist für mich mein Geburts- und Heimatland immer die Ukraine gewesen. Die sowjetische Ukraine habe ich nie bewusst kennengelernt, obwohl ihre Spuren auch heutzutage im Land immer noch präsent sind. So schnell konnte das, was für die längste Zeit des 20. Jahrhunderts existiert hatte, nicht verschwinden. Es bleibt lebendig, nicht nur im Stadtbild und in den Erzählungen, sondern gerade auch in der Mentalität der älteren Generationen, die in der Sowjetunion geboren und sozialisiert wurden und die einen Großteil ihres Lebens als Erwachsene in ihr verbracht haben. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich für viele Ukrainer ein Fenster zum Westen geöffnet, das dann alsbald zu einer Tür wurde: Während Anfang der 1990er Jahre noch 52 Millionen Menschen in der Ukraine lebten, sind es heute wohl nur noch 42 Millionen, vielleicht auch noch weniger. Die meisten Ukrainer, die heute außerhalb der Ukraine leben, sind ausgewandert, da sie nach Arbeit und besseren wirtschaftlichen Lebensbedingungen gesucht haben, die ihnen ihr Heimatland nicht mehr bieten kann. Aber nicht nur wirtschaftliche Not bringt Ukrainer dazu, ihr Heimatland zu verlassen: Die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gewonnene Bewegungsfreiheit und der damit ermöglichte internationale Austausch haben zu neuen Kontakten und Möglichkeiten geführt, die zur Zeit der Sowjetunion undenkbar gewesen wären. Auch auf mein Leben hatte dies direkte Auswirkungen: Ich bin mit einem Deutschen verheiratet und lebe heute im Westen Deutschlands. Wir haben uns während des Studiums bei einem deutsch-ukrainischen theologischen Seminar kennengelernt. Unsere Beziehung wäre zu Zeiten der Sowjetunion nur mit größten Schwierigkeiten möglich gewesen, wenn OST-WEST 3/2019
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überhaupt. In dieser Hinsicht haben die Veränderungen der späten 1980er und der frühen 1990er Jahre, die in Deutschland mit der Chiffre „1989“ verbunden werden, direkte positive Auswirkungen auf mein heutiges Leben. Das Positive in diesen Veränderungen wird allerdings nicht von allen Ukrainern und in allen Generationen gleichermaßen gesehen. Gerade die Generation meiner Großeltern trauert oftmals der oberflächlichen Stabilität des sowjetischen Systems nach, in dem jeder Arbeit und ein gesichertes soziales Standing hatte. Viele aus der Generation meiner Eltern sind in den 1990er und 2000er Jahren angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage auf der Suche nach Arbeit ausgewandert, worunter besonders die zurückgebliebenen älteren Familienmitglieder leiden. In ihren Augen würden sie dann manchmal die sowjetische Stabilität dem Umstand vorziehen, dass ihre Familien heute zwischen mehreren Ländern zerrissen sind und man sich nur selten sieht. Entsprechend kritisch fällt ihr Blick auf die heutige Ukraine: Diese hätte ihnen nichts gebracht, die Unsicherheiten seien unerträglich groß geworden und gerade die traumatischen Erfahrungen der 1990er Jahre, in denen viele ihr Gehalt nicht regelmäßig erhielten und ein Großteil der Bevölkerung in handfester materieller Not lebte, haben tiefe Narben hinterlassen. Während sich früher der Staat um alles sorgte, müsse heute jeder selbst schauen, wo er bleibt. Die staatliche Mindestrente reicht ohne familiäre Unterstützung nur für ein Leben in großer Armut, und heute gehört es überall in der Ukraine zum Stadtbild, dass Menschen im Rentenalter am Straßenrand und an U-Bahn-Ausgängen sitzen und Obst und Gemüse aus ihren Gärten verkaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Unwilligkeit und Unfähigkeit der Politiker seit der Unabhängigkeit der Ukraine, an diesem Umstand etwas zu ändern, haben viele Menschen frustriert. Allzu oft gingen und gehen Menschen in der Ukraine nicht in die Politik, um sich uneigennützig für die Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung einzusetzen, sondern bloß, um persönlichen Nutzen aus den erlangten politischen Ämtern zu erzielen. Die wirtschaftliche Macht im Land ist in den Händen weniger Oligarchen konzentriert, die zugleich einen dominanten Einfluss auf die Politik ausüben. Bereits zweimal hat sich in der jüngeren Geschichte der Ukraine im Abstand von genau zehn Jahren zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen diese Situation formiert: 2003/2004 in der „Orangenen Revolution“ und 2013/2014 im Euromajdan bzw. in der „Revolution der Würde“. Den Euromajdan habe ich selbst vor Ort in Kyjiw miterlebt, und wie so viele Ukrainer 184
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hatte ich damals die Hoffnung, dass sich nun nachhaltige Veränderungen einstellen würden. Diese Erwartungen sind leider in der Folgezeit nur unvollständig eingelöst worden. Was die Ukraine in meinen Augen braucht, sind engagierte Menschen und Politiker, die sich wirklich um die Verbesserung der Lage der breiten Bevölkerung bemühen. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation wird meiner Ansicht nach nur durch eine entschlossene und rücksichtslose Korruptionsbekämpfung erreicht werden können. Wenn der Großteil der Bevölkerung in der Lage ist, durch ehrliche Arbeit ein gutes Auskommen in der Ukraine zu haben, wird sich, so denke ich, auch die Haltung vieler Ukrainer zum eigenen Staat und zur eigenen Politik ändern. Eine verklärte Sicht auf die Sowjetunion, wie sie in manchen Bevölkerungsteilen weiterhin vorhanden ist, wird dann endlich zu einem Ende kommen. *** *** *** Dejan Mihailović
Das Mauerparadox Dejan Mihailović (geb. 1951), Redakteur beim größten serbischen Verlag „Laguna“, publiziert Kurzgeschichten und Romane sowie Übersetzungen aus dem Russischen und Englischen. Aus Bremen, wo ich 1988 einen Freund besuchte, reiste ich für eine Woche nach West-Berlin. Die alte deutsche Hauptstadt, so schien es mir, war voller Busse, an denen Reklameschilder für „Wodka Gorbatschow“ angebracht waren, obwohl der russische Emigrant Lew Leontjewitsch Gorbatschow schon 1921 angefangen hatte, diese deutsche Marke des russischen Getränks in Berlin herzustellen. Aber ein anderer Gorbatschow, Michail Sergejewitsch, zog damals die Aufmerksamkeit der Deutschen und der ganzen Welt auf sich. Deutschland war noch nicht wiedervereint, die Berliner Mauer verlief als Symbol für die Aufteilung der Welt über den Potsdamer Platz, und Jugoslawien, woher ich kam, war noch nicht blutig zerfallen. Ich sah das Brandenburger Tor über die Mauer, und ich wohnte in einem Hotel am Kurfürstendamm, an dessen Ende sich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit der restaurierten Ruine ihres alten Turms wie ein Mahnmal erhob. Vor dem berühmten OST-WEST 3/2019
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Kaufhaus KaDeWe am Wittenbergplatz, vor dem U-Bahn-Eingang, erstaunte mich die Botschaft an einer Gedächtnistafel, die die neuen Deutschen errichtet hatten „Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen“, und darunter folgen die berüchtigten Namen: Auschwitz, Stutthof, Majdanek, Treblinka, Theresienstadt, Buchenwald, Dachau ... Nach einigen Tagen fuhr ich mit einer organisierten Gruppe mit der Untergrundbahn nach Ost-Berlin. Zur Gruppe gehörten Touristen aus der ganzen Welt, sogar einige Indonesier waren dabei, die nicht einreisen durften und umkehren mussten, weil sie kein Visum hatten. Wir wollten alle unter dem Schutz der Reisegruppe in eine dunkle Ecke des östlichen kommunistischen Paradieses blicken. Der Reiseführer betonte gleich, dass wir zusammenbleiben sollten, dass wir uns nicht von der Gruppe entfernen oder in Nebenstraßen abbiegen sollten, dass wir nirgendwo alleine hingehen und nichts ohne sein Wissen unternehmen sollten. Als wir aus einer Unterführung an die Oberfläche tauchten, hatten wir vor uns den Blick auf den riesigen, leeren und mitten am Tag etwas grauen Alexanderplatz. Auf mich, der ich aus Jugoslawien kam, das damals mit dem Osten und mit dem Westen versöhnt war, aber noch kein KaDeWe und auch keinen Lidl hatte, weder glänzende Schaufenster noch beleuchtete Prachtstraßen, auf mich also wirkte Ost-Berlin keineswegs feindlich. Es war mir vielmehr nah und erinnerte mich an Belgrad, gerade wegen des Grautons und der Atmosphäre, die in allen Ländern des Ostblocks gleich war und die am besten Czesław Miłosz in „Verführtes Denken“ beschrieben hat. Zum Entsetzen des Reiseführers, der uns zum Brandenburger Tor geführt hat, mit dem Hauptziel, uns aus sicherer Entfernung die nahegelegene sowjetische Botschaft zu zeigen, sagte ich, dass ich gerne alleine durch die Stadt gehen würde, um zu einer bestimmten Zeit wieder an einem vereinbarten Ort zu sein. Ich ging zum Mittagessen in ein riesiges, leeres und preiswertes Restaurant, das unseren gesichtslosen sozialistischen Hochzeitspalästen ähnelte; die Speisekarte war bescheiden, aber der Kellner liebenswürdig und freundlich aufgelegt. Ich ging, oder besser: Ich lief durch die Alte Nationalgalerie, wo mir neben den ganzen Kunstschätzen nur eine strenge, ältere Wächterin im Gedächtnis blieb, die mehr an eine Parteikommissarin als an eine Bewacherin für Kunst erinnerte. Schließlich gelangte ich wieder, zufrieden mit meinem Abenteuer, zu meiner Gruppe, die sich schon um mein Schicksal gesorgt hatte. Was für Paradoxa herrschen über die Welt, frage ich mich heute, wie ich mich das auch damals gefragt habe. Welche Kriegskatastrophen und 186
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welche Psychopathen mussten am Werk gewesen sein, dass wir als Jugoslawen in ein geteiltes Deutschland kamen (sodass wir in Ostdeutschland Mangel und Grau sahen, hingegen im Westen die Kultur, das Licht und den Überfluss bewunderten)? Und welche Kriegskatastrophen und welche Psychopathen waren ein halbes Jahrhundert später am Werk, dass wir in die Länder des einst gemeinsamen Staates Jugoslawien heute als Ausländer reisen? Die Berliner Mauer ist gefallen, und die Folgen waren mehr als positiv: Das vereinte Europa wird immer größer, ganze Nationen haben Freiheit und Unabhängigkeit erlangt, die Welt ist ein globales Dorf geworden. Doch über diesem Dorf schwebt nicht mehr der kosmopolitische Geist oder die Energie des Aufstands von 1989, und Fernsehsender übertragen live aus Kriegsgebieten; die Menschen kennen sich immer weniger persönlich, sondern mehr über ihre Mobiltelefone. In den USA und mitten in der EU werden neue Mauern gebaut, diejenigen, die heute am meisten reisen, sind die Emigranten. Über Jugoslawien aber, von Diktaturen und der verderblichen Balkanmentalität verhärmt, ist nach dem Fall der Berliner Mauer für eine kurze Zeit die Hoffnung aufgeblitzt, dass das Land endlich in den Schutz der fortschrittlichen und vereinigten Welt gelangen könnte. Aber dann haben sich neue Kriegswirbel erhoben, und statt der großen haben kleine Diktatoren die Macht erlangt. In meinem jetzigen Land haben die Bürger bis heute die Grenzen nicht aus ihren Köpfen getilgt: Das Zeigen mit dem Finger auf die Verbrechen anderer treibt uns noch weiter in die Isolation. Solange nicht auf einem der wichtigen Plätze in Belgrad eine Gedenktafel steht mit der Aufschrift: „Wir werden nie vergessen: Sarajevo, Srebrenica, Ovčara, die Kühlwagen voller Leichen...“, werden wir von Mauern umgeben bleiben. Aus dem Serbischen übersetzt von Thomas Bremer. *** *** ***
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Pavel Mikluscák
Pavel Mikluscák
Unheilbarer Optimist, oder: Wie erlebte ich die politische Wende 1989 und was ist daraus geworden Prof. Dr. Pavel Mikluscák (geb. 1961) hat in Bratislava, Freiburg/Breisgau und Olomouc Katholische Theologie studiert (mit Promotion und Habilitation) und ist seit 2004 Professor für Katholische Dogmatik, Ökumenische Theologie und Interreligiöses Lernen an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems. Beginn des Wende-Jahres 1989: keine Gedanken an eine politische Wende im Land Ich war damals seit mehr als drei Jahren junger Kaplan in einer außergewöhnlich aktiven Kirchengemeinde in der Nordslowakei. Am Mittwoch gab es einen gut besuchten Gottesdienst für Jugendliche. Jeden Freitag kamen im Schnitt 300 Kinder zur Messe, die für sie und mit ihnen vorbereitet wurde. Vier Sonntagsgottesdienste waren überfüllt. Vor dem ersten (Herz-Jesu-)Freitag im Monat verbrachten mein Chef, der Dechant, und ich mehrere Stunden im Beichtstuhl. 20 Stunden Religionsunterricht wöchentlich gehörten dazu. Kirchliche Jugendarbeit wurde getragen durch Laien. Kirchliche Bewegungen, allen voran „Licht und Leben“, waren eher im Untergrund wirkende Kräfte. In einigen „Klosterzellen im Geheimen“ lebten Ordensschwestern in Zivil. Alles in allem bot sich ein Bild von buntem kirchlichen Leben an. Es lief zwar unter der Aufsicht der staatlichen Bezirksbehörde. Wir wussten, dass wir durch die örtliche Geheimpolizei beobachtet wurden. Aber Gemeindepriester und Laien hielten zusammen und hielten aus, auch wenn unser Engagement seitens des Regimes nur innerhalb der Kirchenmauern geduldet war. Sommer 1989: keine Ahnung über das Ende des kommunistischen Regimes Wir hörten von Perestrojka und Gorbatschow in der Sowjetunion. Für unser alltägliches Leben bedeutete das jedoch wenig. Die Besuche der Geheimpolizei beim Dechanten, den sie immer wieder unter Druck setzte, hörten nicht auf. Er hielt seinen Rücken hin, damit ich möglichst ungebremst meinen Einsatz in der Gemeinde wahrnehmen konnte. Es 188
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kamen aber die ersten Anzeichen eines Burnouts bei mir. Die steigende Unlust konnte ich wie durch ein Wunder überwinden. Ich entdeckte nämlich zufällig in meinem Bücherregal ein Heftchen mit einem Artikel von Walter Kasper „Kirche, wohin?“ Ich las ihn und sah wiederum Sinn der kräfteraubenden Arbeit. Daraufhin verfasste ich einen kurzen Dankbrief an den Dogmatikprofessor in Tübingen, nicht ahnend, dass er unlängst zum Bischof ernannt worden war. Zwei Wochen später kam die Antwort aus Rottenburg. Kasper bot mir ein Stipendium für das Doktoratsstudium in Deutschland an. Ich konnte nur traurig lächeln. Ich sehnte mich seit eh und je danach, im Westen studieren zu dürfen. Es war aber unter dem Druck der Kommunisten undenkbar. November 1989: kleine Hoffnung auf den Umbruch Ich saß am späten Abend in meinem Zimmer im Pfarrhaus und hatte Angst. Vor zwei Tagen kamen nämlich Bekannte aus der Stadt, die meinten, man müsse sich den Demonstrationen anschließen, die in Prag begonnen hatten und sich nun im Land verbreiteten. Man sollte auch im Namen der katholischen Kirche als gesellschaftliche Kraft auf dem Hauptplatz der Stadt eine Rede halten. Eigentlich ging es um mein erstes Auftreten in der Öffentlichkeit. Ich empfand mich nie als einen Helden, eher umgekehrt, und ich wusste, es ist ein risikoreiches Unternehmen: Wenn jetzt die Geheimpolizei definitiv eingreift? Als anschließend mitten in der Nacht jemand an der Tür des Pfarrhauses läutete, sah ich mich schon im Gefängnis. Es kam aber anders. Dezember 1989: langsam aus dem Ghetto in die Freiheit Äußerlich gesehen hat sich das kirchliche Gemeindeleben durch die politische Wende nicht sonderlich verändert. Tastend sind wir in die Öffentlichkeit gegangen. Was vorher im Untergrund stattfand, wurde nun zunehmend als Normalfall präsentiert und durchgeführt. Einige kirchliche Veranstaltungen wurden auf der Stadtebene angeboten. Der politische Umbruch wurde mir eigentlich erst dann wirklich bewusst, als ich zur österreichischen Pastoraltagung nach Wien fuhr. Es war wie im Traum, keinen Eisernen Vorhang erleben zu müssen und frei nach Westeuropa reisen zu dürfen. Dieses überwältigende Gefühl der Befreiung setzte sich bald fort, als das zugesagte Stipendium Realität wurde und ich mit der Dissertation an der Freiburger Universität begann. (Exkurs: Im August 1991 war ich während der Semesterferien aus Deutschland zu Besuch zu Hause, als es in Moskau zum Putschversuch kam. Die alte Zeit OST-WEST 3/2019
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der Kommunisten war plötzlich wieder spürbar. Ich packte meine Sachen und fuhr so schnell wie möglich weg. Erst beim Überschreiten der Grenze Richtung Wien hat sich die Angst gelegt.) Heute 2019: Freiheit ist Alltag Meiner Dissertation gab ich einen programmatischen Titel: „Einheit in Freiheit“. Er fasst nämlich zusammen: Ich darf als freier Bürger in der demokratischen Gesellschaft leben und als freier Christ in der freien Kirche meinen Glauben bekennen. Selbst angesichts der Mängel in der Gesellschaft gestehe ich, dass die mit der politischen Wende verbundenen Hoffnungen nicht enttäuscht wurden. Die freie Selbstbestimmung wird heute als selbstverständlich angesehen. Die Erwartungen an die Kirche nach dem Umbruch lassen einiges offen, besonders hinsichtlich ihrer hierarchischen Leitung. Die neue Generation der Christinnen und Christen zeigt aber ein klares Selbstbewusstsein, dass sie sich als Salz der Erde und als Trägerinnen und Träger von „Evangelii gaudium“ verstehen. Darin sehe ich die Zeichen der Zeit, die mich inspirieren, „unheilbarer Optimist“ zu sein. *** *** *** Beata D¼on Ozimek
Mein großes Glück: Leben in verschiedenen Systemen Beata Dżon Ozimek (geb. 1966) stammt aus Oberschlesien und arbeitet als Journalistin und Autorin von Drehbüchern und Filmdokumentationen. Außerdem ist sie als Übersetzerin tätig (u. a. beim 2012 für den Oscar nominierten Kinofilm von Agnieszka Holland „W ciemności“/„In der Finsternis“). In der Zeit des Sozialismus besuchte ich das hervorragende Lyzeum Nr. 2 in Kattowitz, das als „rot“ galt, aber eine Schmiede für weltoffene Köpfe war. Die Englisch-Klasse und das Abitur im Fach Englisch gaben mir ein Werkzeug für das gesamte Leben an die Hand; daneben habe ich noch ein weiteres, von vielen gehasstes Werkzeug erlernt: die russische Sprache. Im Jahr 1988 wurde mein Sohn geboren, es gab Stoffwindeln aus
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Beata D¼on Ozimek
Baumwolle, man musste sich anstellen, um Säfte zu bekommen, aber ich hatte den Vorteil, dass ich stillte. Mein Mann arbeitete beim staatlichen Fernsehen und wir bekamen Vergünstigungen – es gab Fleisch zu kaufen, gute Spirituosen, wir hatten Bekanntschaften, auch Geld. Ohne die Hilfe der Tochter des kommunistischen Premierministers und der Ehefrau des Woiwoden hätte mein Sohn lebenswichtige Medikamente aus der Bundesrepublik nicht bekommen, er wäre nicht operiert worden und hätte vielleicht nicht überlebt. Meine Freundinnen, die nach Deutschland geflohen waren, schickten mir Babykleidung. Ich studierte Politikwissenschaften und las den polnischen Schriftsteller Ryszard Kapuściński. Im Jahr 1991 kam mein zweites Kind auf die Welt – im neuen Polen. Selbstverständlich war ich am 4. Juni 1989 wählen gewesen. Es gab bereits teure Säfte, Babynahrung, und wir eröffneten eine Firma. Die Leute glaubten, dass sie die Welt erobern könnten, und machten Geschäfte. Freiheit, Geld, mein Mann kündigte beim Fernsehen, aber weder er noch sein Teilhaber konnten mit Geld umgehen. Die Karrieren der jungen Geschäftsleute endeten schnell in Schulden, Flucht, Alkoholismus. Wir kauften ein gestohlenes Auto, wahrscheinlich aus Deutschland. Jemand kaufte die Wohnung, in der wir wohnten, und wir mussten ausziehen. Man konnte sich nirgends beschweren oder Hilfe suchen, der Markt war „frei“ und damit wild. Die deutsche Minderheit in Polen, insbesondere in Oberschlesien, erwachte zu neuem Leben, mein Mann bekam als Fachmann Arbeit beim Fernsehen, aber er war Pole. Zwischen polnischen Deutschen und Polen gab es kein Vertrauen. Sie lernten die deutsche Sprache und ihre Geschichte. Man fuhr übrigens ins Oppelner Schlesien, um Teppiche, Fernseher und Waschmaschinen zu kaufen – die dortigen Deutschen fuhren in die Bundesrepublik und verkauften die Sachen weiter. Langsam wurden die Städte schöner. Wir fuhren ins Ausland, zwar standen wir an der Grenze im Stau, aber wir besaßen Pässe und ich konnte mit meinem Kind einfach in die Alpen fahren! Aus der Miliz wurde die Polizei – wie stolz wir waren. Ich erinnere mich noch daran, wie wenig Respekt man vor der Miliz hatte, die Menschen verprügelte und einschüchterte; diese Leute begannen jetzt als Polizisten ebenfalls ein „neues Kapitel“. Ich kaufte einen alten Miliz-Kombi, in dem ich mit den Kindern und dem Hund herum reiste. Das erste Konzert im Ausland: Prag, Tschechoslowakei 1992, Guns n’ Roses. Zum ersten Mal sah ich damals berittene Polizisten, die ich OST-WEST 3/2019
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Beata D¼on Ozimek
sonst nur von Postkarten aus Kanada kannte. Meine beiden Kinder gingen in den Kindergarten, in die Schule, zur Kommunion, aber sie wollten nicht in den Religionsunterricht, als er eingeführt wurde. Ich überließ ihnen die Entscheidung. Ich fuhr mit meinem Mann zum Arbeiten nach Deutschland. Wir konnten nicht gut Gemüse auf dem Feld sammeln, aber die Besitzerin mochte uns und zahlte uns trotzdem etwas für unsere schlechte Arbeit. In Polen machten erste Second-Hand-Läden auf. Das war Wahnsinn – Markenklamotten, billig und besser als aus den Paketen, die die Verwandten aus Holland schickten. Neue Arbeit: Werbung. Dank meiner Freundin und mir wurde Schlesien mit Hunderten von Werbetafeln übersät, die Leute verdienten Geld damit, dass sie gut sichtbare Wände oder Felder besaßen. Wir schufen Wirklichkeit! MTV! Musikfernsehen, das war ein Erlebnis, Satellitenprogramme. Es sprossen Kirchen und Denkmäler für Johannes Paul II. aus dem Boden – für Bekannte aus dem Westen war es unverständlich, dass man einem lebenden Menschen eine solche Ehre erwies. Die Kirche breitete sich sehr stark aus und mischte sich ins persönliche Leben der Polen ein. Das dauert bis heute an. 2017 bin ich offiziell ausgetreten. Das war keine einfache Entscheidung. Wir fuhren ins Ausland. Mit den Autodieben, Putzfrauen und Altenpflegerinnen wollten wir nicht in einen Topf geworfen werden. Wir verbrachten unsere Urlaube auf den Kanarischen Inseln, in Afrika usw. statt in Bulgarien oder der DDR. Mein Vater träumte von den „Kanaren“ und einem Mercedes – ich brauchte nicht mehr träumen. Ich bereue es, dass wir uns dreißig Jahre nicht um die politische Elite gekümmert haben. Nichts bleibt für die Ewigkeit. Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek oder Władysław Bartoszewski kommen nicht wieder. Die Freiheit muss man pflegen. Unterschiede respektieren können. Die Polen haben noch viel zu lernen. Aus dem Polnischen übersetzt von Dorothea Traupe. *** *** ***
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Jacek Piłka
Jacek Piłka
Generation 1 nach der Wende Jacek Piłka (geb. 1989) wurde im Jahr des Mauerfalls im polnischen Sosnowiec geboren. Er gehört zur ersten Generation, die nach diesen Umbrüchen in Polen aufwuchs, und arbeitet heute als Berufssoldat. Mein Name ist „Piłka“, was auf Polnisch „Ball“ bedeutet. Meine Mutter heißt mit Nachnamen „Piłka-Lewandowska“, den Fans von Bayern München sagt der zweite Name sicher etwas, keine schlechte Kombination, oder? Ich kam in dem Jahr zur Welt, in dem es in Polen und ganz Ostmitteleuropa große Systemveränderungen gab. Im April 1989, als ich in Sosnowiec geboren wurde, hatten die Veränderungen zwar noch nicht begonnen, aber die Strukturen in „unserem Block“ lösten sich bereits langsam auf. Daran kann ich mich natürlich nicht erinnern, aber ich weiß, dass es für meine Eltern schwierig war. Sie arbeiteten in einer so genannten privaten Initiative, das heißt, sie besaßen mehrere Lebensmittelgeschäfte in Katowice, die ein gutes Einkommen brachten. Sie lebten gut davon und konnten mich und meine zwei Geschwister problemlos versorgen, wir fuhren sogar im eigenen Auto in den Urlaub. Für sie bedeutete das Jahr 1989 ein langsames, aber stetiges Abgleiten. Bisher waren ihre Lebensmittelläden konkurrenzlos gewesen, jetzt tauchten neue Geschäfte auf, dann molochartige Großmärkte wie Auchan und andere westliche Ketten. Hinzu kamen Diebstähle in den Geschäften – ein Einbruch war besonders bitter. Der Laden, den man von den Fenstern der Wohnung aus sah (im Plattenbau, Häuschen ergatterte man nicht), wurde professionell ausgeraubt: Die Einbrecher waren sehr gut vorbereitet. Sie entfernten die Gitter und trugen Alkohol und Zigarettenstangen heraus, das war das Wertvollste; aber selbst Fahrscheine für den öffentlichen Nahverkehr, die einen beträchtlichen Batzen „geschmolzenes“ Bargeld meiner Eltern ausmachten. Ich erinnere mich daran, dass ich damals zum ersten Mal Wodka trank und noch nicht verstand, was passiert war. Die Stimmung war sehr niedergeschlagen. Meine Eltern mussten sich damals sehr verschulden, um weiter zu machen. Ich habe jedoch nie etwas von der verschlechterten Situation gemerkt, weil sie sich darum bemüht haben, uns Kinder nichts davon spüren zu lassen.
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Jacek Piłka
Als Schüler erlebte ich die Schulreform und gehörte zum dritten Jahrgang im neuen System, in dem es sechs Jahre Grundschule, drei Jahre Gymnasium und drei Jahre Lyzeum gab – eine Umstellung, die die aktuelle polnische Regierung gerade rückgängig gemacht hat (jetzt gibt es wieder acht Jahre Grundschule und vier Jahre Mittelschule). Meine älteren Kumpels hatten damals auch nachmittags Unterricht, sogar bis 19 Uhr. Ich bin Berufssoldat. Früher war ich Sportler, ich habe ca. 50 Boxkämpfe ausgetragen und Bronzemedaillen von den polnischen Meisterschaften zu Hause. Ich erinnere mich, dass ich mit unserem Verein bei internationalen Wettkämpfen in Halle war, als Papst Johannes Paul II. starb, das war am 2. April 2005. In Polen wurden Spiele, Wettkämpfe und Konzerte unterbrochen – in Halle wurde die Information durchgesagt ... und wir kämpften weiter. Damals hatte ich keinen Pass, der Verein besorgte mir einen. Mit 21 bin ich dann das erste Mal alleine ins Ausland gefahren, zum Arbeiten nach Holland und England. In der Schule habe ich Englisch und Deutsch gelernt, in Englisch Abitur gemacht, die Sprache beherrsche ich sehr gut. Ich bin mit Cartoon Network aufgewachsen, damals gab es das nur über Satellit und nur auf Englisch, auch die ersten Computerspiele waren nur auf Englisch. Mein älterer Bruder führte mich in die Welt der Computer ein: Amiga, Commodore, PlayStation. Ich erinnere mich an den Beitritt Polens zu NATO und EU, ich freute mich über die offenen Grenzen, ich konnte reisen und Geld verdienen, zum Beispiel für ein Auto. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es früher anders war, ich weiß nicht, was ein Streik oder leere Regale in den Läden bedeuten, Dinge sind für mich keine Fetische, Träume, Ziele. Meine Eltern hängen sehr an bestimmten Sachen, die keinen großen finanziellen Wert haben, aber mit Sicherheit bedeuten sie für sie etwas völlig anderes als für mich oder meine Freundin. Früher haben sie sich sehr angestrengt, um die Sachen kaufen zu können, wahrscheinlich waren sie nicht so verfügbar wie heute, und ihre Wertschätzung für die Dinge ist eine andere. Mein Vater ist nicht verschwenderisch, aber andererseits verstehe ich, dass ihn früher sicherlich jeder verdiente Złoty sehr viel Arbeit, Anstrengung und Verzicht gekostet hat. Deshalb geht er heute wertschätzend mit dem Geld um. Meine Freundin Kasia ist 29 und sieht einen großen Unterschied im Laufe ihres Lebens: Bei Geschäften mit Kleidung und Kosmetik zum Beispiel – früher war das viel schwieriger, man hat das irgendwie „organisiert“. 194
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Maciej Polanowski
Politisch behält Lech Wałęsa für mich auf jeden Fall große Symbolkraft; allerdings der „alte“, bevor er sich seinem Konkurrenten Aleksander Kwaśniewski gegenüber so rüpelhaft verhielt. Heute finde ich seine Kommentare zur Tagespolitik oft überflüssig, manchmal macht er sich lächerlich. Es wäre besser, wenn er das große Symbol für die Solidarność und den polnischen Weg zur Freiheit bliebe, weil er damals wirklich etwas bewegt hat. Dafür gebührt ihm Respekt. Aus dem Polnischen übersetzt von Dorothea Traupe. *** *** *** Maciej Polanowski
30 Jahre zwischen Gewinn und Verlust Maciej Polanowski (geb. 1972) stammt aus Danzig und arbeitet als Journalist in Warschau. Ich bin 47 Jahre alt und lebe in Warschau, der Hauptstadt Polens. Hier arbeite ich als Journalist in einem großen Pressekonzern. Ich liebe meine Arbeit, bin verheiratet, habe zwei Katzen und bin mit meinem Leben voll und ganz zufrieden. Oder, präziser gesagt, war es noch bis vor Kurzem. Denn das, was heutzutage passiert, erinnert mich immer mehr daran, was wir, Leute über 40, aus der Vergangenheit sehr gut kennen: die peinliche Reglementierung der Freiheit. Vor genau 30 Jahren ist Polen unabhängig geworden. Der Kommunismus war aus und vorbei. Das Neue kam und wir jungen Leute waren voller Hoffnung und Erwartungen. Am 4. Juni 1989, dem Tag der ersten freien Parlamentswahlen, der heute als das Ende der Diktatur gefeiert wird, war ich 17 Jahre alt. Was mir gefiel, war die Tatsache, dass ich – der kleine Bücherwurm – plötzlich alle Bücher lesen konnte, die früher verboten waren. Zum Glück waren die meisten längst übersetzt, jetzt konnte man sie dazu noch legal kaufen! Auch im Theater waren einst verbotene Dramen endlich zu sehen, etwa die neuen Brutalisten um Sarah Kane aus England – sie brachten dem jungen Abiturienten, der im grauen
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Maciej Polanowski
Sozialismus aufgewachsen war, Spaß und Freude. So lernte ich die Welt des zerrütteten Westens kennen. Ja, die Kommunisten mochten diese Bezeichnung ... Der Westen war aber, wie ich feststellte, weder zerrüttet noch böse. Er offenbarte sich mir als humanitär und menschenfreundlich! Und ohne Vorurteile ... In Warschau öffnete man bunte Kneipen, viele davon waren für die so genannten LGBTQ-Leute (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) bestimmt oder ethnisch ausgerichtet und daher sehr attraktiv. Auch das jüdische Leben im alten jüdischen Bezirk Warschaus erblühte. Und die einst monotone Presselandschaft war reich an vielen neuen Zeitungen und Magazinen. Für mich war noch etwas von Bedeutung. Nach dem Abitur im Jahr 1992 eröffneten sich vor mir einst unvorstellbare Perspektiven – ich konnte studieren, wo ich nur wollte, und hatte plötzlich die Qual der Wahl! Zuerst studierte ich Jura in Frankfurt an der Oder, dann aber doch lieber Neuphilologie an der Warschauer Universität. Mein Traum war es, als Journalist arbeiten zu können – und er hat sich erfüllt! Und was für eine Freude war es, wählen zu dürfen! Die vielen Parteien, die vielen Programme, die vielen Zukunftsvisionen – das alles hat mich euphorisch gestimmt. Und dann noch diese abenteuerlichen Reisen ins Ausland. Das Ganze damals so exotische Europa war jetzt mein Zuhause. So optimistisch ich damals war, und so schön die ersten Jahre des Lebens im demokratischen Polen waren, eine Tatsache habe ich schon damals nicht vergessen dürfen. Ich war doch als Kind eines überzeugten Kommunisten geboren worden, und zwar in Danzig. Meine Eltern – mein Vater Journalist, Schriftsteller, Theaterspezialist, meine Mutter Schauspielerin – waren keine Katholiken. Sie haben mich nicht taufen lassen. Sie glaubten nicht an Gott, gaben mir deshalb bereits im frühen Alter die Freiheit, eines Tages selbst zu entscheiden, an was und ob ich überhaupt glauben möchte. Der Vater arbeitete nie mit dem UB (Geheimdienst) zusammen, war nie in etwas Unmenschliches verwickelt; als kleiner Junge war er Opfer des Zweiten Weltkrieges und sah kurz danach im Kommunismus den einzigen Weg für eine sichere Zukunft. Er hat mich Toleranz und Offenheit gelehrt, zeigte mir, dass kein Mensch besser oder schlimmer ist, dass jede Person gleiche Rechte hat und dass wir sie respektieren müssen, egal, ob die konkrete Person, die vor uns steht, so wie wir ist oder ganz anders. Nach der Wende blieb mein Vater seinen Überzeugungen treu und flüsterte mir an seinem Sterbebett ins Ohr: „Ich habe dich verloren.“ Ich antwortete ihm darauf: „Oh nein, Papa, du 196
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Maciej Polanowski
bist einfach deinem Kindheitstraum treu geblieben“, der auch ein Teil meines Fatums wurde. Heute, 30 Jahre nach der Wende, bin ich mir sicher, dass die neue Realität hierzulande nur deshalb für mich nicht so perfekt ist, weil ich – nach der Ansicht vieler Patrioten – kein echter Pole bin. Wissen Sie, was ich meine? Der „echte Pole“ hat keine Kommunisten in der Familie. Der „echte Pole“ glaubt an die katholische Kirche. Nein, nicht an Gott den Allmächtigen, denn an diesen glaube ich auch: an die Institution, an die Instanz da oben, die da predigt und allen sagt, was gut und was böse ist. Der „echte Pole“ glaubt an den Priester und an die Kirche. Und – der „echte Pole“ ist heteronormativ, für ihn ist nur Heterosexualität als soziale Norm denkbar. Schon im ersten Monat meiner Einstellung in einer der größten polnischen Tageszeitungen (1993) gab es Leute, die mit mir während meiner Arbeit in der Stadt nicht reden wollten. „Och, Sie sind doch der Sohn dieses gewissen Herrn XY, der, wie wir wissen, Kommunist war? Vielen Dank, dann habe ich Ihnen nichts zu sagen.“ Solche Situationen gab es viele und auf sehr unterschiedlichen Lebensgebieten: Arbeit, Universität, Arzt. Am Rande muss ich noch erwähnen, was ich sonst nicht oft und fast keinem erzähle: Ich bin Transgender, habe die Geschlechtskorrektur bereits im Sozialismus angefangen und 1994 finalisiert. In den ersten Jahren der Demokratie waren Ärzte und Krankenschwestern mir gegenüber sehr positiv eingestellt. Freundlich und hilfsbereit. Hatten immer Fragen gestellt, nie aber meine Privatzone betreten. Ich konnte kaum glauben, wie sehr uns die Freiheit verändert hatte! Wie nett und ohne Vorurteile jeder auf mich reagierte. Erst in den letzten Jahren ist es komisch geworden. So komisch, dass ich manchmal wirklich laut lachen muss. Der Arzt, der sich auf seine Glaubensklausel berief, hat Notizen über mich als Frau gemacht. Obwohl ich männliche Dokumente seit 1994 habe, einen männlichen Körper habe und keinesfalls wie eine Frau aussehe. Heute frage ich mich: Waren unsere Köpfe und Herzen nur so lange offen, bis die neue Diktatur der Konservativen kam? Ist Polen 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur immer noch dieses Land, das ich aus dem Jahre 1991, 1992, 1993 ..., 2004 ... kenne? Ich möchte keine Partei beim Namen nennen, denn es sind nicht Parteien schuld daran, was passiert, sondern Menschen. Und ihre Emotionen. Nicht Institutionen (ich habe auch viele gute Priester kennengelernt), sondern Leute, die davon profitieren. Nicht Polen, sondern der Prozess, der in der ganzen Welt zu sehen ist. Wir schreiten zurück. Aus Angst. Und dieses Polen so voller OST-WEST 3/2019
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Tabea Roschka
Angst und Vorurteile, das zum Glück immer noch kleiner ist als das Polen der klugen und offenen Menschen, ist der Grund, warum ich sage: Das Leben 30 Jahre nach der Wende könnte doch etwas besser sein. Ja, ich habe eine wunderbare Arbeit im Pressekonzern. Ich treffe fantastische Leute. Ich sehe einen Zusammenhang zwischen Pflicht und Spaß. Ich treffe jeden Tag beruflich und privat bewundernswerte Menschen. Ich bereue nichts. Mein Leben in den letzten 30 Jahren war so gut, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Doch einiges könnte anders und besser werden. Dies und das hätte nie passieren dürfen. Und die Zukunft ist wieder unsicher. *** *** *** Tabea Roschka
Eine „Generation dazwischen“ Tabea Roschka (geb. 1996) stammt aus Thüringen und studiert gegenwärtig im Masterstudiengang Osteuropastudien an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Geboren wurde ich nach den politischen Umbrüchen und der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, und dennoch hat mich die Teilung Europas nachhaltig geprägt. Denn ich stamme ursprünglich aus Thüringen; heute das grüne Herz Deutschlands, damals an der Grenze des Risses, der Europa entzweite. Meine Eltern sind in der DDR aufgewachsen und waren als Christen mit der ideologisierten, kirchenfeindlichen Haltung des Staates konfrontiert. Während dies an vielen Stellen Religiosität und gelebten Glauben ersticken ließ, führte eine solche Unterdrückung für manche zu einer Festigung im Glauben. Merken kann man dies bis heute an den Gemeinden in der Diaspora: Sie mögen zwar weniger Mitglieder zählen, doch geht damit oft auch ein engerer Zusammenhalt einher. Auch für meine Familie ist es weiterhin wichtig, unsere christliche Identität mutig, aber gleichzeitig kritisch zu leben. Trotz dieses sehr greifbaren Nachhalls der DDR gehöre ich zu einer „Generation dazwischen“: Obgleich die Erinnerungen an DDR-Zeiten durch Erzählungen wachgehalten werden, wurde ich in einem vereinten 198
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Tabea Roschka
Deutschland geboren. Mir werden Freiheiten zuteil, die der Generation meiner Eltern jahrzehntelang verwehrt geblieben waren. So konnte ich zum Beispiel während meiner Schulzeit ein Jahr in Ungarn verbringen und später mein Studium in Frankreich aufnehmen. Für mich viel mehr Normalität als Privileg – eine tatsächliche Vorstellung davon, wie es wäre, diese Möglichkeiten nicht zu haben, fehlt mir weitgehend. Oft fällt dabei unter den Tisch: Dies alles steht uns heute nur in dieser Form offen, weil nicht nur die innerdeutsche Teilung überwunden wurde, sondern weil die Europäische Union erweitert wurde und über die Jahre enger zusammengewachsen ist. Diejenigen, die nach mir geboren wurden, nehmen offene Grenzen und eine starke europäische Integration womöglich als selbstverständlicher wahr. Ich hingegen kann mich noch gut an Grenzkontrollen auf dem Weg in den Ungarnurlaub erinnern und verspüre eine starke Wertschätzung für den friedlichen Systemwechsel, den meine Eltern bis heute als eine Art Wunder beschreiben. Dass die Trennlinien zwischen Ost und West noch nicht überwunden sind oder sich heute auf andere Art und Weise ausdrücken, wurde nicht zuletzt durch die diesjährige Europawahl deutlich. Ich persönlich gerate in Erklärungsnot, wenn mich Menschen in meinem Umfeld befragen, warum die AfD in meinem Heimatort das stattliche Ergebnis von 20,0 Prozent, die NPD wiederum beachtliche 4,6 Prozent erzielte. Anstelle einer fundierten Antwort drängt sich mir ein Gefühl der Entfremdung von meiner eigenen Heimat auf. Natürlich wünsche ich mir nicht, die DDR miterlebt zu haben, aber vielleicht würde mir diese Erfahrung dabei helfen, nachvollziehen zu können, warum sich Menschen heute von den etablierten Parteien alleingelassen fühlen und sich populistischen und nationalistischen Parolen anschließen. Gewiss geht es vielen Gleichaltrigen in Ländern wie Ungarn oder Polen, wo sich einst für konsolidiert gehaltene Demokratien von demokratischen Grundprinzipien abwenden, ähnlich. Globalisierung allgemein und die europäische Integration im Spezifischen hat dazu geführt, dass ich – was Weltanschauung und Werte anbetrifft – mehr Gemeinsamkeiten mit jungen Studierenden aus Litauen, Schweden oder Frankreich verzeichne als mit einem erheblichen Teil der deutschen Bevölkerung. Im Hinblick auf die Zukunft Europas wünsche ich mir ein Bewusstsein für die neuen Herausforderungen, die sich vor uns auftun, und die Erkenntnis, dass nur ein gemeinsames europäisches Anpacken zu LöOST-WEST 3/2019
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Adrian Schiffbeck
sungen für diese Probleme führen kann. Flucht und Migration sowie Klimawandel sind wohl die zwei größten Themenfelder, welche nicht mit nationalen Strategien allein bewältigt werden können. Wie können wir dies erreichen? Was uns momentan fehlt, ist eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, das heißt ein Raum des Diskurses und Austausches über Grenzen hinweg. Zwar gibt es eine Vielzahl von europäischen Begegnungsprogrammen, doch wo werden europäische Angelegenheiten wirklich grenzübergreifend diskutiert – von den Institutionen der Europäischen Union mal abgesehen? Meine Generation, die „Generation dazwischen“, hat die Chance und Verantwortung, solche Räume zu schaffen und dadurch zu zeigen, dass uns die Einigkeit mit unseren Nachbarn nicht egal, sondern sehr präsent und teuer ist. Das Ende des Kalten Krieges mag 30 Jahre zurückliegen, aber die Dringlichkeit der Versöhnung bleibt. *** *** *** Adrian Schiffbeck
Das verbotene Wort „Freiheit“ Adrian Schiffbeck stammt aus Rumänien, hat Journalismus und Verwaltungswissenschaften studiert und arbeitet zurzeit an der Universität Passau an einer Dissertation zum Thema „Der Einfluss religiöser Motivationen auf zivilgesellschaftliches Engagement Jugendlicher“. Die politischen Änderungen in Richtung Demokratie wurden 1989 in Rumänien leider gewaltsam umgesetzt. Was in der Stadt Temeswar als Protest gegen die vorgesehene Verbannung eines reformierten Pfarrers angefangen hat, wurde zu einer heftigen Demonstration gegen das Regime und für das Recht, sich frei zu bewegen und auszudrücken und den Glauben öffentlich zu bezeugen. Ähnlich zu den anfänglichen Friedensgebeten in Leipzig – die zu Massenbewegungen für Einhaltung wesentlicher Menschenrechte in der damaligen DDR geführt haben – fanden die Leute in Temeswar mit der Verteidigung von Laszlo Tökes eine Gelegenheit zusammenzukommen. Die sich entwickelnde Revolution verbreitete sich in vielen anderen Orten, mit dem Höhepunkt in der Hauptstadt Bukarest.
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Leider hat der Umbruch einen Tribut von mehr als 1.100 Toten gefordert. Nach fast 30 Jahren kann ich sagen, dass das Opfer der meist jungen Leute bestimmt einen Sinn gehabt hat. Ein Teenager damals, konnte ich tausende Menschen in meiner Heimatstadt Karansebesch auf den Straßen sehen; auf dem Marktplatz verbrannten sie Bücher und Bilder – Zeichen des Kommunismus, ihre Angst überwindend: Das verbotene Wort „Freiheit“ konnte ich, aus allen Herzen kommend, laut und deutlich hören. Die Auswirkungen der damaligen Ereignisse auf das heutige Leben in Rumänien spiegeln sich in der Möglichkeit wider, dass man unbehindert sprechen und schreiben kann, dass man frei in Europa und überall reisen kann, dass man seinen Glauben und seine Meinung ohne Angst vor den Folgen in der Öffentlichkeit ausdrücken kann. Jemandem, der das Gegenteil nicht erlebt hat, kommen diese natürlichen Menschenrechte selbstverständlich vor – die anderen lernen sie zu schätzen. Ich kann mir vorstellen, dass die Generation vor mir das Thema anders sieht, eben weil Menschen in ihren heutigen Sechzigern oder Siebzigern viel länger im Kommunismus leben mussten und von daher Opfer einer spirituellen und materiellen Unterdrückung für Jahrzehnte gewesen sind. Für sie war es schwieriger, andere Kulturen unmittelbar zu erleben. Vergleiche der heutigen Lage im Land werden daher eher mit der geschichtlichen Zeit vor der Revolution in Rumänien angestellt als mit gegenwärtigen Lebensumständen in anderen Gesellschaften. Dann macht sich weniger Zufriedenheit, sondern vorwiegend Enttäuschung breit – dass sich so wenig geändert hat und dass sich die Regierenden nach wie vor von der Vergangenheit und deren Folgen bestimmen lassen, statt offen in die Zukunft zu schauen. Nun ist Rumänien seit 2004 NATO-Mitglied und seit 2007 in der Europäischen Union. Damals hat man die westliche Ausrichtung im Blick auf Demokratie, Freizügigkeit und Liberalismus übernommen. Auch wenn heute die Werte des Rechtsstaats oft infrage gestellt werden, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass das Land zu einer Autokratie zurückkehren wird. Ich glaube, dass Bildung dabei eine der wichtigsten Rollen spielt und spielen wird, und zwar im Sinne der Entwicklung einer gewissen Wahrnehmung: Dass man selber die Verantwortung für seine Worte und Taten trägt und daher vorsichtig damit umgehen muss; dass es Regeln gibt, um das Leben einfacher zu gestalten und es nicht zu verkomplizieren; dass Freiheit nicht endlose Selbstbestimmung heißt, sondern ihre Grenzen in der Verletzbarkeit des Anderen findet. OST-WEST 3/2019
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Die Rumänen müssten darüber zufrieden sein, dass sie in einem schönen Land mit freien und ungestört miteinander lebenden Menschen zusammen sein dürfen, und stolz darauf, dass das Land ein Teil Europas ist. Bis man ein Teil der angestrebten „Vereinigten Staaten von Europa“ sein kann, wird es allerdings dauern. Für diesen Anspruch müsste man sich als Nation individuell bemühen und viele Kompromisse eingehen. Wenn es um politische und wirtschaftliche Themen geht, kann die Europäische Union noch weiter zusammenwachsen als bisher. Bis man jedoch von einer wahrhaften europäischen Identität sprechen kann, werden kulturelle regionale und nationale Identitäten im Vordergrund stehen. Mit Gottes Willen ist aber die Verwirklichung dieser weitergehenden Vision in der Zukunft sicherlich möglich.
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Von der DDR über das vereinte Deutschland nach Europa Dieter Segert (geb. 1952), geboren und aufgewachsen in der DDR, war bis 2017 Professor der Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sein jüngstes Buch „Transformation und politische Linke – eine ostdeutsche Perspektive“ erschien 2019 im VSA-Verlag. – Die Fragen stellte Michael Albus. Wie haben Sie den Umbruch, die „Wende“, erlebt? Unter „Wende“ definiere ich den Zeitraum vom Herbst 1989 bis zur deutschen Einheit, also das „41. Jahr“ der DDR. Es war eine aufregende, emotional anstrengende Zeit. Ich verstand mich als Reformsozialist. Am Beginn der Periode wurde ich erstmals öffentlich aktiv, setzte mich für eine Reform der SED und der DDR ein. Ab dem Frühjahr konzentrierte ich mich wieder auf akademische Belange, beteiligte mich am demokratischen Umbau der Humboldt-Universität und versuchte, in der DDR die Politikwissenschaft als akademische Disziplin mitaufzubauen. Das „41. Jahr“ der DDR war eine Zeit der überraschenden Wendungen, es weitete meinen Horizont. Ich musste dann schnell und viel über die
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Geschichte des benachbarten deutschen Staates lernen, dessen Institutionen der DDR-Gesellschaft übergestülpt wurden. Westdeutsche Freunde halfen mir beim Hineinwachsen in diese teilweise fremde Kultur. Auch die eigene Geschichte begriff ich auf neue Weise. Wurden Ihre Hoffnungen und Erwartungen erfüllt? Obwohl meine zentrale Hoffnung auf eine erneuerte, wirklich demokratische DDR enttäuscht wurde, gewann ich durch die „Wende“ auch persönlich viel: produktive Arbeit in einer Disziplin, die ich nicht studiert hatte, die mich später aus Berlin nach Prag, danach ins Rheinland auf das Feld der politischen Bildung und schließlich nach Österreich führte. In meinen Publikationen analysierte und interpretierte ich die Geschichte des staatssozialistischen Osteuropa und dessen ambivalentes Erbe. Zu den Erfolgen gehört auch, dass ich mich selbst aus den früheren dogmatischen Fixierungen befreien konnte. Befreien nicht zuletzt von einem überheblichen Atheismus, durch den ich mich klüger dünkte als Menschen, die Gott brauchten. Ich lernte dadurch seither Menschen kennen und schätzen, die auf ihren Glauben gestützt gesellschaftlich aktiv und solidarisch mit anderen sind. Wir respektieren uns gegenseitig. Zu meinen frustrierenden Erfahrungen gehört der neoliberale Abweg der Sozialdemokratie. Dieser trug dazu bei, dass der europäische und deutsche Sozialstaat seine Versprechungen kaum mehr einlösen kann. Eine politische Gemeinschaft, die fast tatenlos zusieht, wie ein Drittel oder die Hälfte der jungen Menschen keine Chance auf eine bezahlte Beschäftigung hat, kann für sich nicht das Prädikat „sozial“ oder „solidarisch“ beanspruchen. Überrascht wurde ich von der geringen Bereitschaft der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft, sich zu verändern, zu lernen. Der Verzicht auf die Verfassungsdebatte nach der deutschen Einheit war ein klarer Beleg dafür. Jede Berufsgruppe verteidigte ihre althergebrachten Institutionen und ignorierte die teilweise besseren Lösungen der DDR im Bereich der Kinderbetreuung, des Bildungs- und des Gesundheitswesens. Durch falsche Entscheidungen der Treuhandgesellschaft wurden zukunftsfähige ostdeutsche Unternehmen beseitigt. Und eine kritische Debatte darüber steht noch immer aus. Auch eine stabile Friedensordnung entstand nicht. Russland blieb der Feind. Ein grundlegender Fehler ist die Überheblichkeit des „alten Westens“: Man meint, eine überlegene Werteordnung zu besitzen, an die sich OST-WEST 3/2019
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Russland anpassen müsse, um voranzukommen. Neugier auf andere Werte ist nicht unsere Stärke. Der „neue Westen“ (die osteuropäischen EU-Mitglieder) trug auch zur beschriebenen Situation bei, weil dessen politische Elite eine irrationale Feindschaft gegenüber der alten Hegemonialmacht entwickelt hat, welcher sie alle Übel der alten Ordnung in die Schuhe schoben, anstatt die eigene Geschichte ernsthaft aufzuarbeiten. Was muss sich in unserem Land 30 Jahre danach noch ändern? Was ist eigentlich mein Land? Ich lebe in Österreich, bin aber dort nicht Staatsbürger. Ich bin Deutscher, fühle mich besonders mit den ostdeutschen Bundesländern verbunden, und leide deshalb am dortigen Aufstieg einer rechtsnationalen Partei. Mein gesellschaftlicher Horizont wird durch die Europäische Union bestimmt, die sich aber in einer Krise befindet. Wie kann sich etwas in der richtigen Richtung ändern? Ohne Engagement der Vielen wird das nichts. Aber unsere Demokratie steckt in der Krise. Aus jener herauszukommen, wäre die wichtigste Aufgabe. Was ist dazu zu tun? Politisches Engagement benötigt soziale Sicherheit. Wer Zukunftsangst hat, wem das Wasser bis zum Hals steht, hat keine Kraft für eigenes politisches Tun. Soziale Sicherheit für die Vielen und ihr dadurch ermöglichtes politisches Engagement sind die beiden Voraussetzungen einer Bewältigung der Zukunftsaufgaben in meinem Land ebenso wie in Europa. *** *** *** Konstantin Sigow
Jenseits der Berliner Mauer: Menschenwürde? Konstantin Sigow (geb. 1962) ist seit 1992 Direktor des European Humanities Research Centre der „Kiev-Mohyla Academy“ (Ukraine) und dort auch Professor im Culture Studies Department. Was war bis 1989 die Logik in der UdSSR, wie wir sie in Erinnerung haben? Je weiter man sich östlich der Berliner Mauer befand, desto größer waren die Chancen auf Rechtlosigkeit und Erniedrigung des Menschen. Die Widerstandspunkte gegen den Trend des homo sovieticus 204
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Konstantin Sigow
erlaubten uns eine besondere Erfahrung: Wenn der Mensch irgendeine „Würde“ besitzt, dann ist es, dass sie niemand ihm wegnehmen kann; nur er allein kann sie abgeben, und er kann „nein“ sagen. Weswegen flohen – unter Lebensgefahr – Menschen auf die westliche Seite der Mauer? Es war ihr Suchen nach einem Raum menschlicher Würde. Die Motive konnte man als unterschiedlich bezeichnen, aber unter dem Strich suchten die Menschen Freiheit und ein Leben, das des Menschen würdig ist. Insbesondere wegen dieser Fluchtbewegungen aus der „Zone der Unwürde“ wurde die Mauer in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 errichtet. Einen grandiosen Festungsbau bildeten zwei Mauern mit einer Höhe von 3,6 Metern und einer Länge von 155 Kilometern, die durch ein Niemandsland voneinander getrennt waren und unter der Bewachung von 14.000 Soldaten mit Maschinengewehren standen. Die Mauer gegen den Westen bauten jene, die daran gewöhnt waren, einen jeden Feind des Sowjetsystems als „Faschisten“ zu bezeichnen und sich selbst – ohne falsche Bescheidenheit – als „Antifaschisten“. Die Mauer schnitt nicht nur Berlin in zwei voneinander isolierte Teile. Die Mauer war ein sinnbildlich verwirklichtes Monument für das von George Orwell beschriebene „Doppeldenken“. Vom Westen aus attackierte sie niemand und sie schützte auch niemanden vor den „Feinden“, gegen die sie gerichtet war. Die Mauer versperrte den „eigenen“ Menschen den Weg, jenen, die die Lüge der Sowjetführung nicht mehr hören noch aus- halten konnten, sie ließ nicht zu, das Lager zu verlassen, das von seiner eigenen Lüge belagert wurde. Drei Jahre vor dem Fall der Mauer in Berlin stürzte eine andere Lügenwand ein – mit ihr versuchte die Sowjetmacht, die Katastrophe von Tschernobyl zu verstecken. Die Explosion im Tschernobyler Atomkraftwerk am 26. April 1986 führte zur größten Emission von Radioaktivität in der Geschichte der Kernenergie. Fünf Tage lang versuchten westliche Radiostationen darüber zu informieren, sie wurden in der UdSSR unterdrückt, und mit munterer Lüge jagte man die Menschen in Kyjiw und in anderen Städten zu den 1. Mai-Demonstrationen auf die Straße. Aber am 2. Mai befiel die Ukraine und Weißrussland eine Panik, als die Menschen erfuhren, dass die sowjetische Nomenklatura ihre Familien evakuierte. Millionen von Menschen verloren auf Anweisung des Kremls das Recht auf Leben und auf die Wahrheit über die Lebensgefahr für ihre Nächsten. Viele Menschen verloren ihre Zukunft, und sie verloren ihre Würde, was in der UdSSR schon lange nichts Neues war. Neu war, dass Millionen von Menschen von diesem Betrug erfuhren, und OST-WEST 3/2019
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nicht nur einige hundert Dissidenten. So bewegte sich diese Nachricht auf der anschwellenden Welle der „Glasnost“, die letztendlich sowohl die Mauer als auch die UdSSR hinwegfegte. Aber die sowjetische Routine des Staatsmonopols auf die Lüge überlebte alle Metamorphosen der 1990er Jahre und alle westlichen Illusionen über eine Beendigung des „Kalten Krieges“ und der Konfrontation von Ost und West. Der russische Historiker Alexander Kojre beschrieb die totalitaristische Lüge der Stalinisten als eine Logik von Untergrundkämpfern, die die Staatsmacht übernommen hatten. Im engen Kreis der „eigenen“ Leute entscheidet man das Szenarium der Spezialoperationen und das Sortiment der Masken, die den außenstehenden Beobachtern gezeigt werden sollten, damit sie durch Loyalitätsgesten in die Irre geführt werden. Die Logik der Agenten der Geheimdienste, die von den neuesten Technologien noch verstärkt wird, übertrifft in nachsowjetischer Zeit frühere Maßstäbe der Propaganda. Im Westen will man nicht begreifen, dass für die Nachfolger der Bolschewiki beliebige Ideen Waffen sind, die zur Desorientierung des Feindes und nicht zum Ausdruck irgendwelcher Überzeugungen verwendet werden. Zum Beispiel verhält man sich im Kreml zu solchen Konstruktionen wie den „traditionellen Werten“ genauso, wie man sich über die Dauer von 28 Jahren gegenüber der Berliner Mauer verhalten hat. Welche Werterhetorik hinderte daran, den Regimekritiker Boris Nemzow 2015 direkt an der Kremlmauer zu ermorden und Jahr für Jahr die Blumen zu vernichten, die die Menschen an den Ort seines Todes bringen? Aber für die Erinnerung an die Menschenwürde gibt es auf den neosowjetischen Erinnerungs- und Kulturterritorien keinen Platz. Das schockiert die Gleichgesinnten Boris Nemzows oder die Mitbürger des in Russland inhaftierten Filmregisseurs Oleg Senzow schon lange nicht mehr. Ein Schock war die Weigerung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 24. Juni 2014, eine Diskussion über die Untersuchung der Katastrophe des Boeing-Flugs MH 17 durchzuführen. Das unbequeme Thema erwies sich für die Deputierten als Tabu. Das Thema des Todes von vier Deutschen, vier Belgiern, zehn Briten, 192 Holländern und vieler anderer? Was denken diese Deputierten über die Menschenrechte und über ihren Ursprung – die menschliche Würde? Was hat sie dazu gebracht, damit einverstanden zu sein, dass die Europäer ihr Recht auf Leben verlieren? Welches Verhältnis haben diese Menschen 206
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(und ihre Wähler) nicht zur Rhetorik des Jubiläums 1989-2019, sondern zur realhistorischen Zerstörung der Berliner Mauer und des zynischen Systems, das sie errichtete und fast 30 Jahre lang erhielt? Europa hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die tiefe Bedeutung des Erdbebens von 1989 noch nicht erkannt. Eigentlich sind wir heute aufgerufen, seinen Sinn wirklich zu erkennen. „Es brachte die Bewohner Westeuropas in eine neue Rolle, indem es ihnen die Verantwortung für den Zustand ihres ganzen Kontinents auferlegte“ (Luuk van Middelaar). Aber mit dem Bewusstsein dieser Verantwortlichkeit sind heute zu viele überfordert. Es wäre ein großer Fehler, sich von den Folgen der sowjetischen anthropologischen Katastrophe abzuwenden. Das führte bereits zu einer neostalinistischen Revanche, einem Krieg, zwei Flugstunden von Berlin entfernt, zur Annexion der Krim und einem offenen Bruch des internationalen Rechts und des Paradigmas der Menschenrechte. Nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Bürger benachbarter Länder zu verderben – das ist die neue Ambition des homo sovieticus. Das Erkennen des dornigen Weges vom homo sovieticus zum homo dignus und der scharfe Zickzackkurs auf diesem historischen Gebiet beginnt gerade erst. Anne-Marie Pelletier bemerkt dazu: „Der homo dignus ist dem entstellenden Blick unerreichbar, der die Welt auf der Grundlage der Feindseligkeit gegenüber dem anderen, der grenzenlosen Selbstbestätigung, des Zwangs zur Lüge wahrnimmt.“ Ein enorm wichtiger Impuls, zu dem der dreißigjährige Fall der Berliner Mauer unsere Gedanken lenken kann, könnte es sein, dass man damit beginnt, die Aufmerksamkeit unserer Zeitgenossen auf das Ethos der Menschenwürde als Leitmotiv unserer Zeit zu richten (ungeachtet der umgebenden Kakophonie, so paradox das auch klingen mag). Deutsch von Friedemann Kluge. *** *** ***
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Der Einfluss der Politik auf das Privatleben – von der Wende 1989 bis in die Gegenwart Aneta Skiba (geb. 1986) stammt aus Oberschlesien. Sie absolvierte ein Germanistikstudium arbeitet gegenwärtig als Deutschlehrerin an einer bilingualen Montessori-Grundschule in Schlesien. Genau an das Jahr 1989 kann ich mich leider nicht erinnern. Ich wurde in diesem Jahr erst drei und fand das Spielen mit Nachbarskindern viel wichtiger als die großen Veränderungen, die damals in der Welt geschahen – obwohl mir deren Auswirkungen im späteren Leben bewusst wurden. Wir lebten im kleinen Dorf Schierokau (ca. 2.500 Einwohner) in Oberschlesien. Ich wohnte mit meinen Eltern und Geschwistern sowie meinen Großeltern auf einem Bauernhof. Mein Vater arbeitete als Schreiner in Guttentag, mein Großvater war Metzger von Beruf. Meine Mutter und meine Großmutter kümmerten sich um das Haus und die Kinder. Ich liebte die sorgenlose Zeit. Mit ca. sechs Jahren, also bevor ich noch zur Schule ging, fing mein Opa an, mir die deutsche Sprache beizubringen, die bis 1989 in Oberschlesien zu lernen und zu benutzen nicht erlaubt war. Ich behielt noch in Erinnerung, dass wir auch nur einen Schwarz-Weiß-Fernseher in der Wohnung unserer Großeltern hatten, und irgendwie mit der Zeit kam es, dass wir auch Zugang zum bunten deutschen Fernsehen hatten. Aus der Sicht des Kindes fehlte es uns an nichts. Diese Zeit hatte aber auch andere Facetten. Mein Vater fing an, immer mehr zu arbeiten, und seine komplette Urlaubszeit verbrachte er in Deutschland. Er arbeitete im Saarland als Aushilfe bei einem Bekannten, der eine Gärtnerei betrieb. Als er wieder nach Hause kam, haben wir natürlich viele Geschenke bekommen. Doch neben den materiellen Dingen veränderte sich etwas in unserer Familie. Die Beziehung zu meinem Vater wandelte sich schleichend. Die nächste Nachricht, die unsere Familie annehmen musste, war die Entscheidung meiner beiden Onkel, nach Deutschland (Nordrhein-Westfalen) auszuwandern. Nur bei gro208
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ßen Familienfeierlichkeiten konnte ich sie später noch treffen. Nachdem mein Vater sah, wie meine beiden Onkel ihr Leben in Deutschland gestalteten, versuchte er, auch meine Mutter davon zu überzeugen, nach Deutschland auszuwandern. Doch meine Mutter wollte es nicht – sie wollte bei ihren Eltern bleiben. Als ich acht Jahre alt wurde, also 1994, kauften meine Eltern im gleichen Dorf ein Haus. Sie konnten es sich mittlerweile leisten. Mein Vater wollte auch nicht mehr auf einem Bauernhof arbeiten. Meine Großeltern konnten wiederum ihres Alters wegen alleine den Bauernhof nicht mehr weiter führen und mussten diese Tätigkeit aufgeben. Die Beziehung zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern wurde immer schwieriger. Es tat mir als Kind leid. Meine Mutter versuchte mit der Zeit, sich aus der finanziellen Dominanz meines Vaters zu lösen. Sie wollte auch finanziell unabhängig werden und probierte sich im beruflichen Leben aus. Das hat aber die Situation nur noch verschlimmert und führte letztendlich zum Scheitern der Ehe meiner Eltern und auf eine Art und Weise auch zum Scheitern der mir bekannten Werte. Ich kann mich ganz genau an meine erste Reise nach Deutschland erinnern. Ich war 14 und es waren Winterferien in der Schule. Ich wollte mir unbedingt für 14 Tage dieses Land ansehen, dessen Sprache ich bereits acht Jahre lernte und welches so viele Veränderungen in unsere privaten Leben brachte. Ich fuhr gegen den Willen meiner Mutter zu meinen Vater nach Saarbrücken, um dort in der Gärtnerei auszuhelfen. Vor Ort stellte ich fest, wie großartig es ist, die Möglichkeit zu haben, die Menschen dort zu verstehen. Mir fiel aber gleichzeitig auf, dass die Menschen doch recht kühl und distanziert reagierten, nachdem sie erfuhren, woher man kommt. Man spürte, dass sich das Wort „Vorurteil“ im Raum befand. Die zwei Wochen gingen schnell vorbei und ich kam mit gemischten Gefühlen wieder nach Hause. Doch nach fünf Jahren folgte der nächste Aufenthalt in Deutschland (jetzt in Ludwigshafen). Danach das Germanistikstudium, welches mit vielen Ausflügen nach Deutschland verbunden war, und letztendlich noch vier Jahre in Hannover und Köln. Diese Reisen gaben mir einen tieferen Einblick in die Menschen, deren Weltanschauung, Werte und Lebensgestaltung. Es war für mich eine Zeit, in dem mein Leben in zwei verschiedenen Wertsystemen floss. Ich fühlte mich zerrissen. Aus der Sicht meiner persönlichen Geschichte muss ich feststellen, dass der Einfluss der westlichen Werte nach der Wende eine Art IdentiOST-WEST 3/2019
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tätsdilemma mit sich brachte. Die Zeit vor der Wende sowie kurz danach war in Bezug auf Werte, nach denen sich die Gesellschaft richtete, sehr fremdbestimmt. Nach der Wende kamen neue Werte zum Vorschein, mit denen sich die Gesellschaft erst auseinandersetzen musste. Die Bereiche des Gesellschaftslebens, in denen deutliche Werteänderungen vorkamen, beziehen sich auf Begriffe wie Arbeit, Geld, Familie, Bildung, Glaube. Der Wert der Arbeit ist im Gesellschaftsleben wichtig in Bezug auf seine Gemeinnützigkeit. Während vor der Wende das Thema der Arbeitslosigkeit kaum ein Thema war, stieg die Arbeitslosenrate nach 1989 sehr, was Massenmigrationen aus ökonomischen Gründen als Folge hatte. Zusätzlich trug auch das Streben der Menschen nach Wohlstand, was in meiner Familiengeschichte deutlich zu sehen ist, zu den Migrationen bei. Weiterhin änderte sich der Wert des Geldes, der sich auch in Bezug auf den steigenden Konsum der Gesellschaft nach 1989 in den Vordergrund schob. Obwohl ich nur von den Erzählungen meiner Mutter über lange Warteschlangen vor den Geschäften sowie leeren Regalen in den Läden berichten kann, ist der Zugang zu Waren verschiedener Preisklassen heutzutage gewährt. Es ist alles nur eine Frage des Preises und der finanziellen Möglichkeiten des Käufers. Ein Wandel, der aus Perspektive meiner Lebensgeschichte sich nicht so positiv entwickelt hatte, ist die Sicht auf den Wert der Familie. Die Zahl der Scheidungen, alleinerziehenden Mütter, elternlosen Kinder nahm in den letzten Jahren in Polen enorm zu. Immer mehr Frauen entschieden sich für eine finanzielle Unabhängigkeit (Beispiel: meine Mutter). Einerseits bin ich für die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen, andererseits jedoch muss man sich auch über den Preis dieser Lage bewusst sein. Man sollte den Wert der Familie nicht unterschätzen. Ein weiterer Aspekt, der vielseitigen Wechseln unterlag, war der Wert der Bildung. Der Zugang zur Bildung sowie die Vielfalt der Möglichkeiten verbreiteten sich nach der Wende wie nie zuvor. In der heutigen Zeit bieten die Schulen ein enormes Spektrum an Lernangeboten von Fremdsprachen inkl. Austauschseminaren im Ausland bis hin zum multimedialen Unterricht an Dorfschulen an. Vor 1989 war das undenkbar. Zum Schluss wollte ich mich noch kurz mit dem Wert des Glaubens und dessen Wandel befassen. Polen gilt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern als ein sehr katholisches Land. Ich erinnere mich auch an viele religiöse Sitten und Bräuche, die in unserer Familie gepflegt wur210
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den. Glaube ist ein Wert, der meines Erachtens nicht so gravierenden Änderungen unterlag wie bei den zuvor beschriebenen Werten. Natürlich gab es Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, doch die Wurzeln dieses Wertes sind so tief in unsere Gesellschaft hineingewachsen, dass der Einfluss der westlichen Werte in diesem Bereich weniger präsent war. Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass die größte Herausforderung, vor der die heutige Jugend steht und mit der sie sich auseinandersetzen muss, die Frage nach der Zusammensetzung des eigenen Wertesystems ist, auf dem man sein Leben aufbauen möchte. Die Werte geben uns eine Art Orientierung, helfen Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und letzten Endes das Leben zu gestalten. *** *** *** Viktor Attila Soós
Gedanken zur Überwindung der Spaltung Europas aus dem Evangelium Viktor Attila Soós (geb. 1979) studierte Geschichte und Katholische Theologie (2014 Promotion) und ist Leiter der Stiftung „Christliches Archiv der Gegenwart“ in Vác. – Die Fragen stellte Christof Dahm. Haben die damaligen Veränderungen in Ungarn Auswirkungen auf Ihr heutiges Leben? Zur Zeit der ungarischen Wende war ich zehn Jahre alt. Ich habe nicht viele, aber prägende Erinnerungen und Eindrücke von der kommunistischen Diktatur. Der große Wandel, die Freiheit, die Demokratie, das freie Wirken der Kirchen und die Möglichkeit, den christlichen Glauben uneingeschränkt zu praktizieren, haben unser Land grundlegend verändert. Da die Wende sich während meiner Jugend ereignete, also genau zu der Zeit meiner persönlichen weltanschaulichen Entwicklung und Orientierung, wäre ich ohne diesen Wandel sicherlich anders groß geworOST-WEST 3/2019
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den. Ich bin in Körmend geboren und habe dort gelebt, in einer kleinen Stadt mit zehntausend Einwohnern nahe der Grenze zu Österreich. Dadurch konnten wir zur Zeit der Wende vieles miterleben. Einerseits waren wir direkt am Eisernen Vorhang, wir sahen viele ostdeutsche Flüchtlinge, andererseits verspürten wir auch ein wenig die Versuchungen des Westens, da es in den achtziger Jahren schon möglich war, einmal im Jahr für ein paar Tage in den Westen zu fahren. Mit 17 Jahren lernte ich das Leben des 26-jährigen János Brenner kennen, der ein katholischer Priester war und 1957 brutal ermordet worden ist. Sein Martyrium geschah ein paar Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Sein Leben und die brutale Aktion der Kommunisten gegen die Kirchen haben mich sehr tief geprägt. Ich wollte alles über sein Leben und über die Kirchenverfolgung wissen, deswegen begann ich, mich mit der Kirchengeschichte zu beschäftigen. So kam ich zur Katholischen Péter-Pázmány-Universität. Später durfte ich als Geschichtsexperte am Seligsprechungsprozess von János Brenner mitwirken. Er war ein authentischer, fröhlicher, furchtloser und mutiger Seelsorger, der sich für die Eucharistie unter Einsatz seines eigenen Lebens einsetzte. Als Historiker befasste ich mich besonders mit der Kirchengeschichte, weil ich daran interessiert war, wie der Parteistaat funktionierte, wie die Kirchen verfolgt wurden, wie die Freiheit der Einzelperson eingeschränkt wurde und wie sich dies auf ihr Leben auswirkte. Ohne Angst zu leben entwickelte sich zu einem Auftrag, der mein ganzes Leben prägte. Wenn der Eiserne Vorhang nicht gefallen wäre, wenn die kommunistische Diktatur nicht aufgehört hätte, hätte ich weder meinen Beruf gefunden, noch könnte ich heute das Zeitalter der Diktatur erforschen. Der Leitsatz meiner Berufung stammt von Ödön Lénárd, der 18 Jahre lang im Gefängnis saß: „Was ist mit uns Christen passiert, wie haben wir die Verfolgung der Kirche erlebt und wie haben wir uns verhalten?“ Dies gilt es unter allen Umständen zu berücksichtigen. Derzeit bin ich Mitglied des vom Ungarischen Parlament gewählten Nationalen Gedenkkomitees, das für die Untersuchung der Tätigkeit der kommunistischen Diktatur zuständig ist. Können Sie sich vorstellen, dass die Generation vor Ihnen vieles anders sieht? Die Generation vor uns erlebte die Diktatur in ihrem eigenen Leben. Viele haben als Opfer unter dem System gelitten, aber in meinem Be212
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kanntenkreis gibt es auch Leute, die von der Diktatur profitiert haben. Es ist sicher, dass wir die Dinge in vielen Bereichen anders sehen als die älteren Generationen. Aber ich habe den größten Respekt und die größte Achtung vor denen, die diese Zeit mit starkem Glauben und einem lauteren Leben überstanden haben. Sicherlich gibt es Leute, die die Veränderungen der letzten Jahrzehnte so erleben, dass die erhofften Fortschritte nicht erreicht wurden, aber manchmal waren die Erwartungen zu groß. Leider war es nicht realistisch, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa schnell verschwinden würden, aber meiner Meinung nach ist dieses Phänomen tiefer verwurzelt. Die Spaltung Europas begann nicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die osteuropäische Diktatur hat viel dazu beigetragen. Wir glauben und vertrauen jedoch auf die Einheit Europas, die auf der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und dem Christentum beruht. Was muss sich in Ungarn noch ändern? Und wie sehen Sie die künftige Entwicklung Europas? Ich glaube, es wäre gut, wenn die sozialen Unterschiede abgebaut und ein Aufholprozess der schwächeren Gesellschaftsschichten stattfinden würde. Ihnen müsste geholfen werden, damit die aus welchen Gründen auch immer bestehenden Spaltungen verschwinden würden. Wenn wir diejenigen auch erreichen könnten, die an den Rändern der Gesellschaft leben, und ihnen so helfen könnten, dass ihr Leben sich wirklich verbessert. Es wäre gut, wenn unser Glaube echt lebendig wäre, wenn wir das Christentum in unserem Alltag leben könnten, und wenn wir feste und freie Bürger wären, denen die Heimatverbundenheit wichtig ist. Meiner Meinung nach befindet sich Europa derzeit in einer schweren Krise. Grundwerte, Bindungen und Beziehungen sind für viele nicht wichtig. Es wäre schön, zu den wichtigsten menschlichen Werten, zur Freiheit, zur Ehrlichkeit, zur Gewaltlosigkeit, zur Menschenliebe, zur Suche nach der Wahrheit, vor allem aber zum Leben nach dem Evangelium und zu seiner mutigen missionarischen Weitergabe zurückzukehren. *** *** ***
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Natasza Stelmaszyk
Natasza Stelmaszyk
Der Traum von „89“ Dr. Natasza Stelmaszyk (geb. 1968) wuchs in Poznań auf und lebt seit 1987 in Deutschland. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, Kultur(ver)mittlerin und Sprachtrainerin für Polnisch sowie in Integrations- und Alphabetisierungskursen. Mitte der achtziger Jahre häufen sich die Gespräche meiner Eltern über die Zukunft. Später habe ich erfahren, dass es vor allem um meine Zukunft ging, um die Fragen, in welchem Land oder, besser gesagt, in welcher politischen Lage ich später leben soll. Damals ging ich in ein Lyzeum in Poznań mit humanistischer Ausrichtung und war bei den Pfadfindern aktiv. Eigentlich habe ich in der Zeit des alles regelnden Kommunismus davon Abstand gehalten, einer Gruppe anzugehören. Aber die Pfadfindergruppe in meiner Schule hatte es mir angetan – ihre Mitglieder haben eine Art „Untergrundarbeit“ betrieben, haben sich der Partei nie gebeugt und einige Sachen gemacht, die offiziell verboten waren. In der Schule gab es so etwas wie eine Art Solidarnośćbewegung, die durch provokante Aktionen auf sich aufmerksam machte. Oftmals lagen Flugblätter auf den Fensterbänken, kurz vor der großen Pause ausgelegt. Eines davon habe ich bis heute. Eines Tages hat jemand ein Kreuz als Zeichen der Unbeugsamkeit gegen das kommunistische Regime im Foyer der Schule aufgehängt. Der Schuldirektor war alles andere als einverstanden und ließ es entfernen – kurze Zeit später hing es wieder da. Das Ganze wiederholte sich so lange, bis die Schüler sich entschieden haben, jede große Pause im Foyer zu verbringen und die gesamte Zeit rund um das im Eingangsbereich hängende Kreuz zu stehen – schweigend. Wir nannten es „schweigende Pausen“. Fast alle waren dabei, der Schuldirektor ratlos. Was später passiert ist, weiß ich nicht mehr. Die Mitglieder der schulischen Untergrundorganisation haben die Schule beendet, das Kreuz ist dann verschwunden. Aber wir hatten dennoch gewonnen. Die Sehnsucht nach der Freiheit hatte damals eben auch diesen Ausdruck. Ich war zu der damaligen Zeit noch nicht so weit, mich tatkräftig an einer Untergrundbewegung zu beteiligen. Die Schule, die bevorstehende Matura und das Pfadfinderdasein haben die Tage geordnet. Aber 214
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in der freien Zeit kamen immer wieder Träumereien in einer Art, die man eher Visualisierung nennen würde. In meinen gedanklichen Reisen habe ich mich mit Vorliebe in die „große Freiheit“ begeben. In vollem Ernst hatte ich in der Tagträumerei an ein offenes, freies Polen gedacht. Es war ein Land, das für sich steht und sein Dasein bewahrt und zugleich aber offen für die Welt ist, andere Menschen und Länder schätzt und selbst geschätzt wird. Vor allem aber waren in meinen Visionen die Grenzen in beide Richtungen offen, frei und quasi ausweislos begehbar, heute hier, morgen dort ... Es gab zum Glück von uns allen engagierte Menschen, die sich gegen die damaligen Verhältnisse so stark gewehrt haben, dass die Mauern und der Eiserne Vorhang dann tatsächlich gefallen sind. Das hätte jedoch Anfang oder auch noch Mitte der achtziger Jahre niemand vermutet, es war schlicht undenkbar. Wir waren sogar davon überzeugt, dass wenn es zu konkreten Freiheitsbewegungen kommen würde, dann niemals ohne Blutvergießen. Das am 13. Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht hat der Kriegsgeneration und ihren Kindern und Enkeln das Blut in den Adern gefrieren lassen, ungute Erinnerungen und Ängste kamen damals hoch. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, wie ich damals als Schulkind von meiner Mutter mit den Worten „Steh auf, wir haben Krieg“ geweckt worden bin – noch nie zuvor habe ich sie so erschrocken gesehen; mein Vater und ich brauchten lange, um sie zu beruhigen. Irgendwann im Jahr 1985 oder 1986, als die Lebensverhältnisse immer schwieriger wurden, reifte in meinen Eltern der Entschluss zur Ausreise. Diese wurde Schritt für Schritt vorbereitet, in größter Verschwiegenheit – keiner in der weiteren Familie durfte davon erfahren. Heute darf man machen, was mal will, verreisen oder auch ausreisen, wann und wohin man es sich wünscht, und es jedem, den man trifft, großzügig erzählen. Ein Land – zwei Welten ... Die Emigration unserer Familie fand 1986 (mein Vater verlässt unerlaubterweise ein Touristenschiff in Hamburg) und 1987 (ich reise mit meiner Mutter „nur zum Besuch“ nach) statt. Die Geschichte dieser Emigration war exemplarisch für abertausende Polen, die später, Anfang des 21. Jahrhunderts von der Wissenschaft als „Emigration der achtziger Jahre“ untersucht worden ist. Nach der Ankunft in Deutschland haben wir niemals gedacht, dass die Geschichte Polens so schnell eine solche Wende nehmen würde. 1989 sahen wir es dann im deutschen Fernsehen in den Nachrichten und Sondernachrichten, was uns verwundert, elektrisiert und förmlich an das TV-Gerät geklebt hat. Da tat sich etwas absolut Entscheidendes, aber OST-WEST 3/2019
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auch Unglaubliches in Polen, in Ungarn, in der DDR. Wir sahen, wie sich vom Geburtsort der Solidarność, von Gdańsk aus, und dann von ganz Polen die Flamme der Freiheit entzündete und auf andere Länder übersprang. Der Fall der Berliner Mauer, des Eisernen Vorhangs und (zum Teil) der Blockaden in den Köpfen der Menschen im Osten und Westen Europas ist vor unseren Augen geschehen. Die ersten fast freien („fast“ war in dieser Situation völlig egal) Wahlen in Polen waren etwas, was wir familiär in die Kategorie der Wunder von 1989 zugeordnet haben. Wir waren froh und glücklich, aber wir waren auch vorsichtig mit unserem Enthusiasmus. Der Glaube daran, dass alles weiterhin friedlich verlaufen würde, war eher verhalten. Für uns als Einwanderer in Deutschland hat sich von Amts wegen noch lange nichts geändert. Erst 2004, mit der Aufnahmen Polens in die EU und zugleich in den „Schengenraum“, sind alle Lasten von mir und meinen Eltern gefallen – wie ein schwerer Stein, der das Ausleben der Freiheit in vielen Facetten gebremst hat. Traum und Vision sind Wirklichkeit geworden. Von nun an wurden wir von den Behörden wie alle anderen Bürger behandelt und durften dorthin fahren, wohin wir wollten, und auch, so oft wir wollten, auch nach Polen. Hoffentlich bleibt es dabei, damit die Stimmen im Hinterkopf mit dem Stichwort „Polxit“ eine sich nie erfüllende „Vorahnung“ bleiben. Heute schaue ich aus nächster Nähe darauf, was in Polen passiert, spreche mit den in Polen verbliebenen Familienangehörigen, Freunden, alten Nachbarn, zufällig getroffenen jungen und älteren Polen über das Polen von heute (und, ja, auch von damals). Dank der freien Medien – zumindest ist ein Teil frei – kann ich auch fast täglich verfolgen, was dort Wichtiges passiert. Ob ich nun will oder nicht, bleibe ich politisch und auch stark kulturell in Polen verwurzelt (Kultur und besonders die geliebte Literatur lassen sich ja auch von der Politik nicht trennen) und staune und wundere mich immer noch: über die wunderbare, lichtfrohe, rasante Entwicklung Polens zum Land der Freiheit, ja zum Vorbild – aber auch über das graue, ge- oder verschlossene, intolerante und den Andersdenkenden die Freiheit verweigernde Polen. Ich fiebre manchmal, je nach Art der Forderung, mit Polen mit, wenn es wichtige Rechte bei der EU durchsetzen will. Ich nehme, wenn ich dort bin, an diversen Demonstrationen teil mit einer Lichtquelle, bilde mit tausenden anderen Bürgern von Poznań das O im Wort VETO, gehe mit einer weißen Rose auf den großen Platz und wundere mich, dass das (immer noch und schon wieder) in Polen und auch in vielen anderen 216
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Ländern Europas, in Deutschland, Ungarn usw., notwendig ist. Ich reagiere selbstbewusst auf Zeichen der Fremdenfeindlichkeit, der rechten und ungebildeten Dummheit (die immer mehr um sich greift) und auf herabsetzende Kommentare hier in Deutschland. Da, wo es nötig ist, ergreife ich das Wort, viel zu selten, aber immer wieder – weil ich weiß, wie es vor 1989 war und was „Freiheit“ heißt, und weil ich eine Europäerin und Polin bin, die gern in Deutschland lebt, die – wie ich es stets in den halbjährig fälligen Duldungsanträgen geschrieben habe – „in Deutschland einfach leben möchte“, in der Wahlheimat NordrheinWestfalen, und weil ich das Wort „Wolność“, „Freiheit“, mag. Als ich nach einigen Jahren in Deutschland an der Universität lehren durfte, äußerten sich meine Kolleginnen und Kollegen oft bewundernd und lobend über die Entwicklung Polens (auch wenn ich immer noch vieles erklären musste). Heute, im Sommersemester 2019, wo ein politisch interessierter Student bekräftigt, dass die Teilnehmer des Seminars Polens Lyrik präsentieren müssten, weil es seiner Meinung nach wichtig sei, auch die gute Seite eines der heute „problematischsten“ Länder Europas zu zeigen, spüre ich wieder ein starkes Unbehagen und fühle, dass (immer noch und schon wieder) so viel zu tun bleibt ... dass Verbesserungen nicht von selbst kommen, dass die Leistung der letzten 30 Jahre wegen einiger unglücklich (und dazu noch von einer rechnerischen Minderheit) gewählter Politiker und einiger anderer Ewiggestriger in Gefahr ist und man alles fast von vorn beginnen muss. Ganz wichtig ist aber auch, dass man sich in der EU, in Deutschland und anderswo die Mühe macht, differenzierter auf die Polen als Menschen und auf das gesamte Nachbarland mit seiner noch recht jungen demokratischen Entwicklung zu schauen. *** *** *** Reena Tolmik
Licht und Schatten des Wandels Reena Tolmik (geb. 1983) hat sich in der estnischen Politik engagiert und studiert gegenwärtig in Rom Soziale Kommunikation für eine künftige Tätigkeit innerhalb der katholischen Kirche. – Die Fragen stellte Christof Dahm.
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Haben die Veränderungen in Estland Auswirkungen auf Ihr heutiges Leben? 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich Estland im Vergleich zur kommunistischen Zeit fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Für die jüngere Generation ist es unvorstellbar, wie das Land unter dem alten System aussah – von der Nichtverfügbarkeit von Grundgütern bis zum Fehlen von Presse- und Religionsfreiheit. Estlands Erfolg beruht auf einem innovativen Geist, der ständig nach Verbesserungen strebt, offen für mutige Ideen ist und keine Angst davor hat, Dinge anders zu machen. Aufgrund der schnellen und radikalen Reformen in den 1990er Jahren war Estland das erste ehemals kommunistische Land mit freier Wirtschaft und ist heute eines der freiesten der Welt (Platz 15 im Index zur Wirtschaftsfreiheit 2019). Die Ergebnisse der PISA-Studie der OECD belegen, dass das Land aufgrund seines Bildungsansatzes in Bezug auf die grundlegenden Bildungswerte europaweit auf dem ersten und weltweit auf dem dritten Platz liegt. Nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verfolgte die estnische Regierung einen digitalen Ansatz, der dazu führte, dass Estland die digital am weitesten entwickelte Gesellschaft der Welt und im Bereich des Unternehmertums das erfolgreichste Land in Europa geworden ist. Lange Schlangen in Supermärkten und rationierte Nahrungsmittel in der Ära des Kommunismus wurden durch staatliche Angebote ersetzt, die rund um die Uhr im Internet verfügbar sind. Steuererklärungen können online in weniger als fünf Minuten erledigt werden, Unternehmer können ihre Angebote in wenigen Minuten mithilfe des Internets registrieren, ohne zum Notar gehen zu müssen, und fast ein Drittel der Bürger stimmt bei Wahlen über das Internet ab. Zudem entsprechen digitale Signaturen mittlerweile physischen Unterschriften, und Bürger können über die Cloud auf die Einträge in ihren Gesundheitsakten zugreifen und mit dem Handy Parkgebühren oder Bustickets bezahlen. Somit hat sich die Lebensweise der Esten grundlegend verändert: Es besteht die Bereitschaft, Probleme bürgerfreundlich und unbürokratisch zu lösen; das Leben verläuft reibungsloser, der Verwaltungsbereich arbeitet kostengünstiger und wird als unkompliziert empfunden. Ein starker Fokus auf einfache Geschäftsabwicklung, transparente und unternehmensfreundliche Gesetze – einschließlich der so genannten eResidency (gewissermaßen eine „elektronische Staatsbürgerschaft“), die es ermöglichen, Unternehmen in Estland zu gründen, ohne dort zu leben – gepaart mit dem wettbewerbsfähigsten und investitionsfreund218
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lichsten Steuersystem Europas: All das hat Talente und Unternehmer aus der ganzen Welt angelockt. Bemühungen dieser Art haben eine Startup-Kultur gefördert; in Estland gibt es schätzungsweise 550 Start-ups. Somit hält Estland den Weltrekord in Bezug auf Start-ups pro Einwohner. Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes brachte jedoch auch einen Wertewandel mit sich. Die Modernisierung führte zu individualistischen und materialistischen Gesinnungen, wobei die wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit im Vordergrund standen, sowie zu einer verstärkten Säkularisierung und leider auch zu einer gewissen Intoleranz gegenüber Minderheiten. Können Sie sich vorstellen, dass die ältere Generation eine andere Sichtweise hat? Die Menschen hatten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hohe Erwartungen, weil sie glaubten, dass sich Demokratie und Wohlstand parallel entwickeln und Estland das westeuropäische Niveau schnell aufholen würde. Das Land hat bemerkenswerte wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Veränderungen durchgemacht, erlebte die Vorteile der Unabhängigkeit, aber auch die Desillusionierungen der Demokratisierung und die Unsicherheiten des Wirtschaftssystems. Die langersehnte Unabhängigkeit und Entwicklung des Landes ist der älteren Generation sehr wichtig. Sie ist gut in das Technologie- und Kommunikationszeitalter integriert. Unerfüllte Erwartungen sorgen jedoch für eine gewisse Ernüchterung, da die Globalisierung von Handel, Kapitalmarkt und technologischem Wandel zu zunehmenden Einkommensunterschieden beigetragen hat. Der Wohlstand hat zugenommen, das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist eines der niedrigsten im Vergleich aller mittel- und osteuropäischen Länder, die Langzeitarbeitslosenquote ist die niedrigste seit 20 Jahren, und dennoch sind die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft nach wie vor erheblich und im europäischen Vergleich sehr hoch. Das Problem des niedrigen Lebensstandards betrifft die meisten Rentner und schutzbedürftige Personen wie etwa Alleinerziehende. Besonders die älteren Generationen sind unzufrieden mit den niedrigen Renten, die kein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Diese Ungleichheiten haben zu zunehmenden politischen und sozialen Spannungen geführt. Gleichwohl erwarteten die Menschen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erhebliche Verbesserungen in Bezug auf ihren WohlOST-WEST 3/2019
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stand. Als optimistischste Nation innerhalb der EU glauben die Esten immer noch an eine glänzende Zukunft. Nur 4 Prozent von ihnen sind der Ansicht, dass es ihren Kindern schlechter gehen werde als ihnen selbst (der EU-Durchschnitt liegt bei 18 Prozent). Was muss in Estland noch geändert werden? Und wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung Europas? Die größten Herausforderungen, vor denen Estland derzeit steht, sind die Abhängigkeit von der Zuwanderung, die Anpassung an die Multinationalität und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Rate von Selbstmord- und Drogenkonsumtodesfällen in Estland sehr hoch ist. Die Abhängigkeit von der Zuwanderung ist auf dem Arbeitsmarkt stark zu spüren, da die Entwicklung vieler Unternehmen von der Zuwanderung und das Wohlergehen zu vieler Menschen von der Arbeit im Ausland abhängt, was mit der Abwanderung von Fachkräften ins Ausland zusammenhängt. Angesichts des Bevölkerungsrückgangs durch die niedrige Geburtenrate und die zunehmende Überalterung der estnischen Bevölkerung sind Reformen in der Familien- und Einwanderungspolitik notwendig. Die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland gewinnt für das Land zunehmend an Bedeutung, was ein Überdenken der bisherigen Integrationspolitik erforderlich macht. Europa ist heute gefordert, sein Gemeinschaftsgefühl wiederzuerlangen, das heißt insbesondere, zu seiner Identität zurückzukehren und den Wert seiner Vergangenheit wiederzuentdecken. Das Europa der neuen Generationen muss sich von dem in unserer Zeit weit verbreiteten Individualismus zu einer integrativen Einheit entwickeln, in der Platz ist für Solidarität und Dialog und in der Vielfalt geschätzt und als Quelle der Bereicherung und nicht als Belastung angesehen wird. Dies erfordert jedoch einen Beitrag zur menschlichen Entwicklung. Ein Europa, das sich eher auf seelenlose Gewinnspannen als auf die Würde des Menschen konzentriert, ist nicht nachhaltig. Das Individuum muss also die Leitlinie für das zukünftige Europa sein. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl. *** *** ***
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Lars Tschirschwitz
Lars Tschirschwitz
Wie ich die Wende erlebte ... Lars Tschirschwitz (geb. 1980) ist in Güstrow und Sternberg aufgewachsen und arbeitet nach dem Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Rostock heute im Bereich der politischen Bildung. Meine Eltern schauten immer Nachrichten. Meine ältere Schwester und ich häufig auch, aber meist nur, um vor dem Schlafen gehen noch möglichst lang ferngesehen zu haben. Ich bemerkte im Laufe des Jahres 1989, dass etwas sehr Grundsätzliches passierte. Es hatte im Sommer mit Berichten über Menschen begonnen, die ihre Autos an irgendeiner Grenze stehen ließen und hastig in eine Richtung liefen. Es ging weiter mit Bildern von Menschen, die sich in den Straßen bekannter Städte der DDR versammelten. Am Tag nach dem Mauerfall betrat ich unsere Schule. Im Foyer lief ein Junge an mir vorbei, riss die Arme in die Luft, rief: „Die Mauer ist weg!“ und verschwand in einem Gang zu meiner Rechten. Im Unterricht blieben einige Stühle leer. Manche Mitschüler und ihre Familien kehrten nach einer Woche zurück, manche nie wieder. Meinen Eltern schien in dieser Zeit jedenfalls nicht zum Jubeln zumute zu sein. Beide waren in der Partei, ihre Zukunft war, wie ich später verstand, höchst ungewiss. Eines Abends saß ich im Schneidersitz vor dem kleinen Tisch, von dem aus unser kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher über die aktuellsten Ereignisse Auskunft gab. Mittlerweile war ich ehrlich interessiert. Hinter mir auf der Couch saßen meine Eltern. Ein Mann namens Hans Modrow hatte inzwischen die Führungsrolle in der Regierung übernommen, gegen die sich der Protest der Demonstranten in immer mehr Städten richtete. Aber Modrow wurde als relevante Größe gehandelt, soviel bekam ich mit. Er verwendete das Wort „Wiedervereinigung“, offenbar als eine realistische Perspektive für die nähere Zukunft. Ich glaubte sofort zu verstehen, wendete mich aber sicherheitshalber zu meinen Eltern um und fragte vorsichtig euphorisch: „Heißt das, wir können uns bald all die Dinge kaufen, die wir immer in der Werbung sehen?” Wir fuhren erst im Frühjahr 1990 das erste Mal „rüber“. Mit dem Zug, denn ein Auto hatten wir nicht. Vielleicht war es Stolz, vielleicht mecklenburgische Sturheit, vielleicht Scham, dass meine Eltern so lange gezögert hatten. Sie waren sich einig, dass erst mal „die Anderen“ fahren OST-WEST 3/2019
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Lars Tschirschwitz
sollten, deren Verhalten ihnen würdelos erschien. Unser Ziel war Hamburg, die Stadt, aus der meine Großmutter stammte und in der nach wie vor ein Teil der Familie lebte. Empfangen wurden wir von Verwandten aus der Kriegsgeneration. Sie hatten eine helle Freude daran, mir in Unmengen alle möglichen Speisen, Getränke und Süßigkeiten aufzutischen. Orangen, verschiedene Säfte und Schokoladen, Eiscrème, Pizza, Kotelett, Joghurt und noch einiges andere hatte ich entweder noch nie oder wenigstens noch nie in dieser Fülle verzehrt. Ich aß und trank alles und mir wurde schlecht. Unter meinen Freunden gehörte zu den begehrtesten Produkten zeitweilig Coca-Cola. Wer etwas auf sich hielt, trank demonstrativ dieses Markenzeichen des American way of life, der uns damals unter diesem Label nicht bekannt war. Während der Währungsunion, als man mit DDR-Geld bezahlen konnte und sein Wechselgeld in D-Mark erhielt, war die braune Limo erstmals ganz offiziell zu erwerben. Die Preise waren in DDR-Währung ausgewiesen, 3,30 Mark für eine Dose zu entrichten. Noch wenige Monate zuvor hatten wir von unserem Taschengeld regelmäßig Streuselschnecken gekauft, die bei jedem Bäcker immer schon 10 Pfennige gekostet hatten – eine Währung, mit der wir kalkulieren konnten. Eine Dose Cola entsprach 33 Streuselschnecken! Meine Freunde und ich beschlossen, diesen astronomischen Betrag nicht zu bezahlen, sondern der Cola anders habhaft zu werden. Im Laden umkreisten wir die Beute und einer nach dem anderen verließ das Geschäft. Ich nahm all meinen Mut zusammen, passte einen günstigen Augenblick ab und ging dann ebenfalls wieder nach draußen. Wir posierten sichtlich stolz mit den gerade ergaunerten Trophäen und löschten unseren Durst. In der Schule gab es keinen Fahnenappell mehr und bald auch keine Noten mehr für „Betragen“. Zu Hause hatten die Eltern ganz andere Sorgen als ein nicht aufgeräumtes Kinderzimmer. In Gesprächen mit Altersgenossen blicke ich gelegentlich auf dieses anarchische Grundrauschen der frühen neunziger Jahre zurück. Viele erinnern sich gern an diese Zeit, in der wir zugleich die Schwelle zur Pubertät passierten. Wie gefährlich dies andererseits werden konnte, zeigte sich in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und weniger bekannten Orten. Als im Zuge des NSU-Prozesses vor einigen Jahren Bilder von Mundlos und Böhnhardt auf Demos Mitte der neunziger Jahre publik wurden, wirkten deren hassverzerrte Gesichter auf mich seltsam vertraut. Ich frage mich, was eigentlich aus den jungen Nazis aus unserer Stadt damals geworden ist und wie nah sie wohl Netzwerken der Terror222
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Inara Uzolina
bande standen. Die meisten führen heute ein bürgerliches Leben, einige sind in andere (kriminelle) Szenen diffundiert und mindestens einer hat kommunalpolitische „Karriere“ als Stadtvertreter der NPD gemacht. All das scheint heute weit weg. Debatten über vermeintliche oder tatsächliche Unterschiede von Ost und West, die gegenwärtig wieder geführt werden, erinnern aber daran, dass es erst eine Generation her ist. Als Historiker würde ich diese Phase gern in 100 Jahren untersuchen. *** *** *** Inara Uzolina
Träume werden wahr Inara Uzolina, verheiratet und Mutter einer elfjährigen Tochter, ist Deutschlehrerin und Übersetzerin; außerdem ist sie die Präsidentin des Lettischen Katholischen Frauenbundes. Ohne Zweifel ist das Leben aller Menschen, die den Fall des Eisernen Vorhangs erlebt haben, in vorher und nachher geteilt. Ich war Teenager in dieser Zeit und habe alles mit Neugier, Interesse, aber auch ohne tieferes Verstehen erlebt. Erst danach kam die Einsicht, dass ich Zeugin großer Veränderungen war, die auch mein Leben und meine Zukunft beeinflusst haben. Alles, was heute für mich so wichtig ist, wäre ohne dieses Geschehen nicht möglich: weltweit Reisen, Austausch und Engagement auf internationaler Ebene, offen und aktiv meinen Glauben leben und praktizieren, ohne Angst und Verfolgung meine Gedanken, Ideen und Einsichten aussprechen. Natürlich, auch materielle Vorteile haben und genießen wir – die Waren aus anderen Ländern. In meiner Kindheit war eine Banane etwas Großartiges und Exotisches! Wir konnten nur davon träumen, sie zu essen! Anderseits haben wir uns über kleine Sachen riesig gefreut! Eine grüne Banane, Kaugummi, eine Plastiktüte mit ausländischer Aufschrift oder duftende Seife, ein berühmter Roman in der Buchhandlung oder schwarze Nylonstrumpfhosen haben unbeschreibliche Freude gemacht! Wir waren öfter glücklich, weil wir Kleinigkeiten geschätzt haben.
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Inara Uzolina
Mit großen Veränderungen in unserem Land und nach wiedergewonnener Unabhängigkeit kamen auch Zweifel, Unwissen und Verwirrung auf uns zu. Menschen, die ihr ganzes Leben gehorsam Anweisungen von „oben“ gefolgt waren, weil eigene Entscheidungen zu treffen und Einsprüche zu erheben lebensgefährlich war, wurden plötzlich sich selbst überlassen. Die neunziger Jahre waren sehr hart, besonders für die Generationen vor mir. Diese Zeit war eine echte Überlebensschule: Viele Betriebe und Fabriken wurden geschlossen, es herrschte Chaos in der Wirtschaft und in der Privatisierung der ehemals sowjetischen Unternehmen. Die unternehmungslustigsten Personen, die „gute“ und „richtige“ Beziehungen hatten, haben für sehr kleines Geld großes Kapital gemacht. Geldreform und hohe Inflation waren weitere Prüfungen des Lebens, die alle Ersparnisse wertlos gemacht haben. In dieser schweren Lage haben viele wieder an die „guten alten Zeiten“ in der Sowjetunion sehnsüchtig gedacht – besonders die russischstämmigen Bewohner Lettlands, die nun von ihrer alten Heimat getrennt waren. Man musste sehr patriotisch sein und an die Geschichte Lettlands und der Balten denken, um in diesen schweren Übergangsjahren von der Besatzung zur Freiheit den Mut und die Lebensfreude nicht zu verlieren. Immer noch gibt es in Lettland alte Menschen, in der Regel keine ethnischen Letten, die überzeugt sind, dass es in der Sowjetunion, die als große Heimat galt, besser war. Im Jahr 1991 wurde Lettland zum zweiten Mal ein freier Staat, eine unabhängige Republik. Es wurden neue Gesetze geschrieben, ein neues System eingeführt. Es hat Jahre gedauert, bis das neue Leben im Land geregelt war. Aber das Denken der Menschen ändert sich nicht so schnell. Die Prägung der sowjetischen Zeit hat jeder, der diese Zeit erlebt hat, auch ich. Die Angst, die eigene Meinung, Bedürfnisse, Ansichten offen zu sagen, sitzt tief in uns. Der Gedanke „Was werden die anderen darüber sagen und denken“ läuft blitzartig jedes Mal durch das Gehirn, wenn man etwas aus der Reihe Tanzendes machen oder sagen möchte. Ich denke, dass das Wichtigste, was wir in Lettland noch ändern müssen, unser Denken ist. Kinder und junge Menschen, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden, verhalten sich schon ganz anders. In ihnen sehe ich die Zukunft unseres Landes. Europa ist für sie eine große Heimat. Mit innerer Freiheit, Mut, Begeisterung und Ambitionen finden sie leichter eine gemeinsame Sprache mit anderen und mit Andersdenkenden. 224
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Inara Uzolina
Ich bin keine Politikerin, aber ich habe den Eindruck, dass in der Europäischen Union jedes Land sehr viel an das eigene Wohl denkt und weniger das Wohlergehen der ganzen Union im Blick hat. Diese beiden Aspekte könnte man besser ausgleichen: „Einer für alle und alle für einen!“
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Bilanz ohne Illusion: Übersicht der Autorinnen und Autoren Susanne Albani (ehem. DDR) Reflexionen zu meiner Herkunft aus der ehemaligen DDR
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Karina Beigelzimer (Ukraine) Ein Leben nach der Wende
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Ina Gorges-Diehl (ehem. DDR) Erfüllte Hoffnungen – aber noch nicht für die mittlere und ältere Generation
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Růžena Kavková (Tschechien) Wie ich das Jahr 1989 und die folgende Zeit erlebt habe
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András Koncz (Ungarn) Wandern nach der Gefangenschaft
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Petr Křižek (Tschechien) Zehn Tage, die „meine“ Welt erschütterten
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Anna Kulke (Ukraine) Aufbruch und Ernüchterung
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Dejan Mihailović (Serbien) Das Mauerparadox
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Pavel Mikluscák (Slowakei) Unheilbarer Optimist, oder: Wie erlebte ich die politische Wende 1989 und was ist daraus geworden
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Beata Dżon Ozimek (Polen) Mein großes Glück: Leben in verschiedenen Systemen
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Jacek Piłka (Polen) Generation 1 nach der Wende
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Maciej Polanowski (Polen) 30 Jahre zwischen Gewinn und Verlust
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Tabea Roschka (ehem. DDR) Eine „Generation dazwischen“
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Bilanz ohne Illusion: Übersicht
Adrian Schiffbeck (Rumänien) Das verbotene Wort „Freiheit“
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Dieter Segert (ehem. DDR) Von der DDR über das vereinte Deutschland nach Europa
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Konstantin Sigow (Ukraine) Jenseits der Berliner Mauer: Menschenwürde?
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Aneta Skiba (Polen) Der Einfluss der Politik auf das Privatleben – von der Wende 1989 bis in die Gegenwart
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Viktor Attila Soós (Ungarn) Gedanken zur Überwindung der Spaltung Europas aus dem Evangelium
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Natasza Stelmaszyk (Polen) Der Traum von „89“
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Reena Tolmik (Estland) Licht und Schatten des Wandels
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Lars Tschirschwitz (ehem. DDR) Wie ich die Wende erlebte ...
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Inara Uzolina (Lettland) Träume werden wahr
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Christof Dahm
Blick zurück und Blick nach vorn: Anmerkungen zur „Bilanz ohne Illusion“ Dr. Christof Dahm ist der Redakteur vom Dienst der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven.
Aus den Zeugnissen lassen sich trotz aller Verschiedenheit einige gemeinsame Grundstrukturen herauslesen, so z. B. das Staunen darüber, dass die Veränderungen fast durchgehend gewaltlos erfolgten, oder die Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Entwicklung Europas. Die folgenden Anmerkungen beanspruchen keinerlei Deutungshoheit, sondern möchten lediglich Anstöße zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik geben.
Wenn man die vorhergehenden Texte Revue passieren lässt, fällt es nicht leicht, Schwerpunkte zu finden. Dennoch lassen sich einige Gemeinsamkeiten trotz aller Unterschiede herausziehen. Grundsätzlich ähneln sich die Beiträge in der Bewertung der Veränderungen, die seit 1989 und zum Teil auch schon vorher eingetreten sind. Umbruch und Wandel brachten auf jeden Fall sehr viel Neues, Gutes und Positives, hinter das man nicht mehr zurückgehen möchte (z. B. Albani, Roschka, Tolmik). Genannt werden Demokratisierung, Pressefreiheit und Reisefreiheit und überhaupt die neuen Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit. Zugleich klingt an, dass die Veränderungen auch negative Entwicklungen nach sich zogen: Zum einen geht es um die Folgen eines ungezügelten Kapitalismus („Marktwirtschaft ohne Attribute“), aber auch Prostitution und Korruption werden genannt (Kavková). Schwerwiegender sind jedoch die Hinweise auf den Verfall der auf christlichen Traditionen aufbauenden Werte in vielen Gesellschaften (Koncz, Skiba). Damit verbunden ist der grundsätzliche Vorwurf, der Westen ignoriere bis heute das, was im Osten auch an Positivem vorhanden war, etwa die größere Solidarität unter den Menschen oder der bewusstere Umgang mit knappen Ressourcen (Segert). Deutlich wird, wenn man die Zuordnung der Beiträge nach Ländern betrachtet, dass sich die Situation in der Ukraine (Beigelzimer, Kulke, 228
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Blick zurück und Blick nach vorne
Sigow) und in Serbien – stellvertretend für das auseinandergebrochene Jugoslawien – von den anderen Beispielen erheblich unterscheidet. Die ukrainischen Texte lassen den Stolz auf das seit der Unabhängigkeit Erreichte erkennen, auch die Genugtuung über die Erfolge in der „Orangenen Revolution“ und der „Revolution der Würde“. Ebenso klingt aber auch der Unmut darüber an, dass man sich angesichts des Kriegs im Donbass und der schon fast verdrängten Okkupation der Krim durch Russland vom Westen im Stich gelassen fühlt. Verhehlen lässt sich auch nicht eine gewisse Resignation im Blick auf die innenpolitische Entwicklung des Landes. Der Beitrag aus Serbien erinnert an die paradoxe Situation, dass 1989 in Berlin und anderswo Mauern und Zäune gefallen sind, zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawien hingegen neue Mauern und Grenzen entstanden sind, sowohl physisch als auch in den Köpfen der Menschen (Mihailović). Mit dem Stichwort „neue Mauern“ (oder Blockaden) lassen sich einige Bemerkungen zusammenfassen, die sich besonders auf die Entwicklungen der letzten Jahre beziehen. Die Euphorie der Wendezeit ist verflogen, die Staaten des ehemaligen Ostblocks sind in der Realität des 21. Jahrhunderts angekommen. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat, wie vielfach anklingt, zwar materiellen Fortschritt gebracht, konnte und kann jedoch – was eigentlich selbstverständlich ist – nicht alle Probleme lösen. Die Texte aus Polen und Ungarn stehen stellvertretend für ein verbreitetes Unbehagen, das sich auch in Veränderungen innerhalb der Gesellschaft niederschlägt und die Politik gerade dieser Länder prägt: Einerseits ist eine Rückkehr zu vermeintlichen oder tatsächlichen traditionellen Werten zu beobachten mit der Folge der Ausgrenzung derer, die nicht dazu gehören (Ozimek, Polanowski), andererseits sehen viele Menschen angesichts der immer stärker werdenden Säkularisierungstendenzen in ganz Europa gerade in der Besinnung auf die christliche Tradition einen oder sogar den einzigen Weg für eine gedeihliche Zukunft Europas (Koncz, Schiffbeck, Skiba, Soós). Damit eng verbunden ist ein weiterer Aspekt: Nicht nur zwischen den Ländern, die den Umbruch erfahren haben, und dem „alten Europa“ vertiefen sich die Gräben in den letzten Jahren, vielmehr gilt dies auch innerhalb dieser Länder. Wieder sind es besonders die Beiträge aus Ungarn und Polen, aber auch aus dem Bereich der ehemaligen DDR, in denen von „Spaltung bis in die Familien hinein“ die Rede ist. Angesichts hoher Zustimmungswerte für populistische Strömungen auf der einen Seite und teilweiser Verklärung der „guten alten Zeit“ auf der anderen OST-WEST 3/2019
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Seite macht sich Ratlosigkeit breit, die in Formulierungen wie „Generation dazwischen“ (Roschka) oder „wirkliche Einheit erst in der nachfolgenden Generation“ (Gorges-Diehl) ihren Niederschlag findet. Ähnlich pessimistisch – oder besser: realistisch – sind Aussagen, in denen auf die Zeit hingewiesen wird, bis dass der Ostteil Europas die Folgen der kommunistischen Regime überwunden haben wird: 40 Jahre (Koncz) oder noch länger, vielleicht 70, also die Zeit der Existenz der Sowjetunion. Entsprechend lange muss man warten, bis der „homo sovieticus“ verschwunden ist (Sigow). Dennoch bleibt festzuhalten: Bei einer Gesamtbilanz der letzten 30 Jahre überwiegt unter dem Strich nicht der Verlust, sondern der Gewinn. Immer wieder klingt an, wie wichtig es ist, sich an die Ereignisse der Umbruchszeit zu erinnern und den damaligen fast grenzenlosen Optimismus wieder aufleben zu lassen. Man sollte sich viel öfter daran erinnern, was in der „Wendezeit“ trotz aller Risiken möglich war (Kavková, Stelmaszyk) – und dass es im Nachhinein immer noch wie ein Wunder erscheint, dass Mauern und Grenzen fast über Nacht verschwunden sind und das sowjetische System wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist. All das beinhaltet auch eine klare Botschaft an das „alte Europa“, diese Leistung nicht klein zu reden, sondern sie auch und gerade heute angemessen zu würdigen. Es ist durchaus legitim, hier an das Wirken des Heiligen Geistes für Europa, auf das Papst Johannes Paul II. bereits 1979 in Warschau eindringlich hingewiesen hat, zu erinnern – auch er hat Anteil daran, dass der „Traum von 1989“ (Křižek, Mikluscák, Uzolina) wahr geworden ist. An dieser Stelle sei eine persönliche Bemerkung des Verfassers gestattet, der 1985 fast drei Monate in Polen verbracht hat: Der „Geist des Wandels“ war, obwohl das Land unter Kriegsrecht stand, schon damals zu spüren, man hoffte auf eine Zukunft Polens durch eine „Rückkehr nach Europa“. Mit diesem Appell enden auch viele Beiträge – Zukunft hat allein das „Friedensprojekt Europa“, aber daran muss weiter hart gearbeitet werden.
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„Wir sollten uns besser verstehen lernen.“ Ein Gespräch mit Dr. Bernhard Vogel
Dr. Bernhard Vogel (geb. 1932) war Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1976-1988) und Thüringen (1992-2003); das Copyright für das Bild liegt bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. – Die Fragen stellte Michael Albus. Wie haben Sie den Umbruch bzw. die Veränderungen erlebt? Am Nachmittag des 9. November 1989, einem Donnerstag, flog Helmut Kohl zu seinem ersten schwierigen und problembeladenen Staatsbesuch nach Polen. Er lud mich ein, ihn zu begleiten. Und ich – derzeit Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung – wollte die Gelegenheit nutzen, am nächsten Tag in Warschau die erste Außenstelle der Stiftung in einem Land des Warschauer Paktes zu eröffnen. Am Abend waren wir Gäste des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Während des Abendessens traf die Nachricht ein: Das Brandenburger Tor sei offen, die Menschen strömten zu Tausenden über die Grenze, in Bonn hätten sich die Abgeordneten im Bundestag erhoben und die Nationalhymne gesungen. Wir konnten es nicht fassen. Und wir in Warschau! OST-WEST 3/2019
Die Ereignisse überstürzten sich. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Am 3. Oktober 1990 traten die wiederentstandenen fünf jungen Länder über den „Königsweg“ des Artikels 23 des Grundgesetzes in seiner damals geltenden Fassung der Bundesrepublik Deutschland bei. 1 So hatte es die Volkskammer ausdrücklich beschlossen. Ich war dankbar dafür, dass ich diesen Tag erleben durfte, und ich war stolz darauf, dass meine Partei den Glauben an die Einheit unseres Vaterlandes nie aufgegeben hatte. Über
1 Artikel 23 des Grundgesetzes in der Fassung von 1992 schuf dann die rechtliche Grundlage zur Ratifikation des Vertrags von Maastricht durch die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit (alte und neue Bundesländer). Der Text findet sich z. B. unter https://dejure.org/ gesetze/GG/23.html. (Anm. d. Redaktion)
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Interview
Jahrzehnte hatte ich an die Wiedervereinigung geglaubt und auf sie gehofft, doch dass ich sie selbst noch erleben würde, schien mir eher unwahrscheinlich. So, wie sie sich jetzt vollzog, hatte ich sie mir nicht vorstellen können. Sie kam buchstäblich über Nacht. Niemand hatte einen vorbereiteten Plan. Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen – ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten gab es nicht. Es brannte an allen Ecken und Enden und bald sollte auf die Freude über den Fall der Mauer und die erreichte Wiedervereinigung der Schatten heraufziehender Wolken fallen. Eine lange, steinige, trockene Ebene musste durchschritten werden. Die bei weitem schwierigste Aufgabe war der Umbau der sozialistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft. Wie man aus Kapitalismus Sozialismus machte, wussten wir, darüber gab es Erfahrung und reiche Literatur. Aber wie sollte jetzt der Umbau zu einer freien, wettbewerbsfähigen Wirtschaft erfolgen? Es bleibt das Verdienst der vielgescholtenen Treuhand – die sicher auch vieles falsch gemacht hat –, zugepackt und entschlossen gehandelt zu haben. Die volkseigenen Betriebe mussten privatisiert und national wie international wettbewerbsfähig gemacht oder aufgelöst werden. Zukunftsträchtige Unternehmen mussten gefördert, aussichtsreiche Investitionen mussten ermöglicht, Ostdeutschland musste vor der Deindustrialisierung bewahrt werden. Sonst drohten den jungen Ländern italienische Verhältnisse: ein weltweit wettbewerbsfähiger Nor232
den, ein verarmter Süden. Es ging nicht um Umbruch oder Veränderung, es galt, einen Unrechtsstaat abzulösen, es galt, ihn aufzulösen. Wurden Ihre Hoffnungen erfüllt bzw. was ist aus Ihren damaligen Erwartungen geworden? Heute, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, darf man mit Fug und Recht sagen: Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist uns alles in allem gelungen und wir haben allen Grund, stolz auf das zu sein, was wir erreicht haben. Joachim Gauck hat Recht, wir haben Anlass zur wechselseitigen Dankbarkeit. Wir Westdeutschen haben den Ostdeutschen dafür zu danken, dass sie ohne Gewalt, nur mit Angst im Herzen, mit Kerzen in den Händen und mit Gebeten auf den Lippen ein totalitäres Regime zum Einsturz gebracht haben. Dass ihnen eine friedliche Revolution gelungen ist, nicht nur eine Wende, wie sie Egon Krenz verniedlichend zu nennen versucht hat. Die Ostdeutschen haben Grund zur Dankbarkeit für personelle und finanzielle Hilfe, wie sie nur selten ein Teil eines Volkes für einen anderen Teil erbracht hat. Weite Landstriche sind nicht wiederzuerkennen. Es gibt Landschaften, die blühen, oft später als erhofft und längst nicht überall. Aber Dresden und Jena, Erfurt und Potsdam brauchen den Vergleich mit westdeutschen Städten nicht mehr zu fürchten. Die Qualität von Luft und Wasser ist völlig anders geworden, die Werra gehört nicht mehr zu den am meisten verseuchten Flüssen Europas,
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„Wir sollten uns besser verstehen lernen“
die Lebenserwartung im Osten ist gestiegen, in Thüringen ist die Arbeitslosigkeit geringer als in NordrheinWestfalen. Die Abwanderung in den Westen geht – endlich – zurück. Die Zuwanderung in die jungen Länder steigt. Und doch bleibt noch viel zu tun: Wir sollten uns besser zu verstehen lernen. 1990 trafen zwei Welten aufeinander. Der Osten wollte die Einheit, wollte Freiheit und Wohlstand; im Osten haben die Menschen den Glauben an die Wiedervereinigung nie aufgeben. Im Westen dagegen war bei vielen der Zweifel gewachsen, bei manchem sogar der Wille geschwunden, die Wiedervereinigung anzustreben: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen“, meinte Egon Bahr Anfang November 1989. Und Günter Grass meinte, wenn die Wiedervereinigung komme, werde sie scheitern. Es war richtig, den kurzen Weg zur Wiedervereinigung nach Artikel 23 und nicht den langen unsicheren Weg nach Artikel 146 zu gehen. 2 Es war keine Zeit zu verlieren, 2 Der Text des Artikels 146 lautete ursprünglich: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Am 29. September 1990 wurde er wie folgt verändert: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
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denn die historische Chance durfte nicht verpasst werden. Das Grundgesetz ist den Ostdeutschen nicht übergestülpt und die DDR ist der Bundesrepublik nicht zugeschlagen worden. Aber bis heute empfinden sich manche Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse, als bevormundet, als fremd im eigenen Haus. Im Westen dagegen meinen viele, die Wiedervereinigung habe die Bundesrepublik nicht verändert, nur vergrößert. Der Osten muss vom Westen lernen, und er hat oft unter Schmerzen viel gelernt. Aber manche im Westen haben bis heute nicht begriffen, dass auch sie vom Osten zu lernen haben. Im Osten musste sich vieles ändern, aber im Westen konnte nicht alles so bleiben, wie es war. Das Provisorium Bonn musste aufgegeben werden – und Berlin ist nicht Bonn! Auch nach 30 Jahren bestehen deutliche Unterschiede. Mit der Wiedervereinigung kamen zwei Teile unseres Vaterlandes zusammen, deren Bevölkerung über viele Jahrzehnte sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht haben – politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Die Bedeutung dieser nachwirkenden Erfahrungen darf auch heute noch nicht unterschätzt werden. Noch immer sind die Renten nicht voll angeglichen. Das Privatvermögen im Osten lässt sich nicht mit den in Jahrzehnten angesammelten und vererbten Vermögenswerten im Westen vergleichen. Nach wie vor fehlt es im Osten an Bundesbehörden, die Spitzenpositionen der Verwaltung, der Gerichte, der öffentlich-rechtlichen Medien sind fast ausschließlich von Westdeut233
Interview
schen besetzt. Kein Rektor oder Präsident einer deutschen Universität kommt aus Ostdeutschland. Nur ein Dax-Unternehmen hat seinen Sitz in den jungen Ländern. Auch die Unterschiede in der Akzeptanz der politischen Parteien dürfen nicht übersehen werden. Bis heute findet die CDU im Westen mehr Zustimmung als im Osten. Der SPD im Osten ist es bis heute nicht gelungen, die Folgen ihrer Zwangsvereinigung mit der KPD zu überwinden – nur ca. 12 Prozent der Wähler neigen zu ihr. Grüne und FDP finden im Osten weit weniger Vertrauen als im Westen. Die Linken und die AfD finden weit stärkeren Rückhalt im Osten. Beide gelten nicht als „Westparteien“. Die Linke ist an Regierungen beteiligt, stellt in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten. Wer Protest anmelden will, wer Denkzettel verteilen will, wendet sich der AfD zu. Wir wollen vergleichbare Lebensverhältnisse, aber wir wollen kein Einheitsdeutschland. Den Westen oder den Osten gibt es nicht. Bayern ist anders als Schleswig-Holstein und inzwischen unterscheidet sich auch Thüringen wieder von MecklenburgVorpommern. In Ostfriesland liegt der Lebensstandard weit unter dem von Stuttgart, Erfurt ist nicht Görlitz und Dresden nicht Frankfurt an der Oder. Es ist an der Zeit, die Rede von den „Mauern in den Köpfen“ hinter uns zu lassen. Inzwischen sind mehr Bayern in Thüringen zu Gast gewesen als Baden-Württemberger in Schleswig-Holstein.
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Wir neigen dazu, die Vergangenheit in freundlicherem Licht zu sehen und manchem nachzutrauern, was wir früher hatten, die Herausforderungen der Gegenwart aber zu überschätzen. Dafür gibt es keinen Grund. Auf die Zeit vor der Wiedervereinigung, auf die letzten oft mühsamen 30 Jahre zurückzublicken, heißt Mut zu schöpfen. Warum sollte die heute verantwortliche Generation nicht genauso mit den heutigen Problemen fertig werden, wie wir das zu unserer Zeit versucht haben? Wir sollten ins Gelingen verliebt sein und nicht ins Scheitern! Wie sehen Sie angesichts der gegenwärtigen Probleme Europas die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses? Wenn der europäische Integrationsprozess gelingen soll, müssen die aktuellen Probleme, die gegenwärtig die EU von allen Seiten bedrängen, gelöst werden. Der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU schadet nicht nur dem Königreich, sondern schwächt auch die Europäische Gemeinschaft und stellt insbesondere Deutschland vor große Probleme. Wir verlieren einen erfolgreichen, demokratisch gefestigten, wirtschaftlich starken Partner. Mehrere ost- und mitteleuropäische EU-Mitglieder – Polen, Ungarn, Rumänien z. B. – nehmen zwar die Hilfe der Europäischen Gemeinschaft dankbar in Anspruch, stellen aber insbesondere durch ihre Justiz- und Medienpolitik ihre eingegangenen Ver-
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„Wir sollten uns besser verstehen lernen“
pflichtungen ernsthaft infrage. Italien verstößt brachial gegen die Stabilität des Euro. Auf den großen Bruder, dem Europa den Sieg über HitlerDeutschland verdankt und der seit Jahrzehnten das Rückgrat der NATO bildet, ist nicht mehr uneingeschränkt Verlass. Der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten stellt seine besondere Verantwortung für die Weltfriedensordnung zunehmend infrage. Diesen Herausforderungen muss Europa, muss Deutschland sich stellen. Wir müssen uns auf unsere wachsende Verantwortung besinnen. Nur gemeinsam können wir den Frieden sichern und unseren Wohlstand erhalten. Anfang des 20. Jahrhunderts stellte Europa 25 Prozent der Weltbevölkerung. Heute sind es noch knapp 7 Prozent. Kein europäisches Land kann allein unseren Wohlstand sichern. Die EU darf nicht zum Staatenbund werden. Ein Staatenbund verzichtet nicht auf Grenzen und hat keine gemeinsame Währung. Aber die
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EU wird in den nächsten Jahrzehnten auch nicht zu einem Bundesstaat werden. Die meisten Mitgliedsstaaten werden auf ihre eigene Souveränität nicht verzichten. Zu Recht hat Helmut Kohl immer darauf hingewiesen, dass gerade Deutschland auf ihre Eigenständigkeit achten muss. Etwas Neues, etwas Drittes muss unser Ziel sein: ein Staatenverbund, der in den Fragen der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam handelt, aber das Subsidiaritätsprinzip achtet und das heißt, in Berlin, Madrid oder Den Haag entscheidet, was dort bürgernäher entschieden werden kann. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft seit 1957 war begleitet von Rückschlägen und Krisen und sie ist trotzdem eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Auch für die Zukunft muss gelten: An Schwierigkeiten darf Europa nicht scheitern. Es muss sie lösen. Europa wird gebraucht, notwendiger denn je!
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Die Neuerscheinung: Polen in poetischen Miniaturen
MATTHIAS KNEIP
Polen in Augenblicken Poetische Miniaturen 128 S., durchg. farbig bebildert Hardcover ISBN 978-3-7917-3094-3
Die Bilder und kurzen Texte inspirieren und laden ein, sich selbst auf den Weg zu machen!
»Polen in Augenblicken« ist eine poetische Hommage an unser Nachbarland, in der Matthias Kneip ebenso einfühlsam wie hintergründig unterschiedlichen Facetten nachspürt. Der Autor zählt zu den bekanntesten Vermittlern polnischer Kultur in Deutschland. In diesem Buch reflektiert er in Bildern und kurzen, kunstvollen Texten Orte, Begebenheiten und Momentaufnahmen. So reist er mit dem Riesenrad durch die Geschichte Danzigs, hinterfragt das Grün im Stadtbild polnischer Großstädte und nimmt Platz auf dem Krakauer Marktplatz, um den Augenblick in Worten zu fixieren. In den insgesamt 52 Texten, denen jeweils ein Farbbild zugeordnet ist, lernen wir Polen, seine Menschen, Landschaften und seine Geschichte auf ganz eigene Art kennen. Ein tiefsinniges Buch, das die Realität und den poetischen Charme des Landes auf ungewöhnliche Weise miteinder verbindet.
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Diversitätsdiskurse, Diversität in Kirchen, Bildungswesen und Schule, aber auch Konflikte in Politik und im Identitätsverständnis werden anhand historischer Analysen zu Ungarn, der Slowakei und Rumänien im 19. und 20. Jahrhundert dargestellt. Es geht dabei um die Untersuchung einer Vielfalt an kollektiven und individuellen Merkmalen sowie um Hierarchien in unterschiedlichen Bereichen. Solche Hierarchisierungen von Merkmalen der Diversität finden sich in jeder Gesellschaft, da diese aufgrund ihrer Wertorientierung die Merkmale sortiert, die Hierarchisierungen begründen und legitimieren. Wie kann Diversität Konflikte auslösen oder auch zur Lösung von Konflikten beitragen?
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In den kommunistischen Regimen Zentral- und Südosteuropas ließen sich trotz repressiver Maßnahmen von Seiten der Staatsführung gewisse Freiräume schaffen. Auf unterschiedliche Art und Weise ist es Menschen gelungen, der staatlichen Zensur zu entgehen, um sich im (kleinen) Kollektiv oder individuell »eigen-sinnig« zu äußern. Die wissenschaftlichen Beiträge behandeln u. a. die Kurzprosa rumäniendeutscher Autorinnen und Autoren, transnationale kirchliche Kontakte, Familienbesuche in Ungarn über den Eisernen Vorhang hinweg und die Pflege einer positiven Erinnerungskultur an Kaiser Franz Joseph. Der Literaturteil umfasst Prosatexte von Felicitas Hoppe, Cornelius Scherg, Frieder Schuller und Hellmut Seiler sowie Lyrik von Franz Hodjak, Nora Iuga, Hellmut Seiler und Richard Wagner. Illustrationen von Astrid Hodjak begleiten die Texte.
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Grenzräume in Ost- und Südosteuropa Grenzen im Fluss
Magazin des 13. Jahrgangs des Elitestudiengangs Osteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg Flüsse verbinden, Flüsse trennen, Flüsse überdauern Epochen. Die Beiträge des Magazins erzählen Geschichten von jahrhundertealten »Lebensadern« und alten »Grenzströmen«, von dem Alltag der Menschen, die entlang der Flüsse in Südosteuropa lebten und leben, von Trennendem und den Gemeinsamkeiten. 68 S., durchg. farbig bebildert, kart. ISBN 978-3-7917-2940-4
MARKUS WINKLER (HG.)
Media beyond frontiers
Transnationales Medienprojekt im ukrainisch-moldauischen Grenzraum 19 Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten aus Deutschland, der Ukraine und der Republik Moldau treffen in Tscherniwzi und Bălţi mit Medienexpertinnen und -experten zusammen, diskutieren über den Medienwandel in ihren Ländern und erkunden in trinationalen Rechercheteams die ukrainisch-moldauische Grenzregion sowie die separatistische Republik Transnistrien. 104 S., durchg. farbig bebildert, kart. ISBN 978-3-7917-3061-5
Verlag Friedrich Pustet Unser komplettes Programm unter:
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Ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa! Bernd Posselt erzählt Europa
Geschichte und Personen – Bauplan und Visionen 240 S., kart., ISBN 978-3-7917-3042-4
Bernd Posselt, erfahrener Europapolitiker und Publizist, beschreibt die Entwicklung Europas – historisch, kulturell, religiös, menschlich und politisch. Kritisch sieht er, dass das europäische Einigungswerk in vielem stecken geblieben ist und von Nationalisten, Populisten sowie Renationalisierungstendenzen in den Einzelstaaten bedroht wird. Tief taucht er in die Geschichte Europas ein, erzählt von prägenden Persönlichkeiten der europäischen Einigung, befasst sich mit den Grundlagen der Demokratie sowie dem europäischen Lebensmodell und legt Entwürfe für die Zukunft der EU vor. »In diesem Buch versuche ich, von jahrzehntelangen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen ausgehend, dem vielzitierten und viel vermissten Narrativ nachzuspüren. Es geht aber auch darum, Ideen zu entwickeln, wie wir Europäer unsere Zersplitterung überwinden und eine Gemeinschaft errichten können, die den Erfordernissen unserer Zeit gerecht wird« – so der Autor.
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ost-west.
Europäische Perspektiven Die Zeitschrift OST-WEST. E u r o p ä i s c h e P e r s p e k t i v e n bietet ein offenes Forum für den Dialog zwischen dem Osten und dem Westen Europas. Damit begleitet sie den Prozess des Zusammenwachsens des neuen Europa und der Entstehung einer neuen gemeinsamen Identität auf konstruktive und sachlich kontroverse Weise. Jede Ausgabe behandelt ein Schwerpunktthema aus verschiedenen Blickwinkeln. Einzelhefte können zum Preis von € (D) 6,50 / € (A) 6,70 (zzgl. Porto) beim Verlag bestellt werden.
Bildung in Mittel- und Osteuropa – Stand und Perspektiven, Heft 2/2019 Christliche Akzente w Entwicklungen in den postsowjetischen Gesellschaften w Von der Vorschule bis zur Weiterbildung: Beispiele
Kost enl Prob oses ehef t un o ter
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Meere im Osten und Südosten Europas, Heft 1/2019 Das Meer als Erfahrung der Urgewalt w Forschungs– fahrten und Handelsrouten w Von der Adria bis zum Kaspischen Meer: sieben Beispiele
Montenegro, Heft 4/2018 Geographie und Politik w Konfessionelle Vielfalt w Auf dem Weg in die Europäische Union
Europa und der Islam, Heft 3/2018 Historischer Überblick w Islam: Einheit und Vielfalt w Dialog der Religionen w Gegenwart und Alltag der Muslime in Europa
Das Länderheft 4/2019 erscheint Mitte November zum Thema »Ukraine. Eine Bilanz seit den Umbrüchen«.
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