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German Pages 242 Year 2019
Adam Czirak (Hg.) Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs
Cultural Studies | Band 52
Die Reihe wird herausgegeben von Rainer Winter.
Adam Czirak (Dr. phil.), geb. 1981, ist Theaterwissenschaftler und Dramaturg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Visual Culture, zeitgenössischer Dramaturgie sowie Performancekunst in Osteuropa.
Adam Czirak (Hg.)
Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs Künstlerische Kritik in Zeiten politischer Repression
Der Druck des vorliegenden Sammelbandes wurde gefördert durch einen Druckkostenzuschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ľubomír Ďurček: ROH | ECKE | CORNER (9. Mai 1987). Die Großbuchstaben im slowakischen Titel spielen auf die Initialen der 1987 gegründeten Revolutionären Gewerkschaftsbewegung (Revolučné odborové hnutie) an. Abdruck mit der freundlichen Genehmigung des Künstlers. Satz: Franciso Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4878-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4878-6 https://doi.org/10.14361/9783839448786 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Formen künstlerischer Kritik jenseits des Eisernen Vorhangs Eine Einleitung Adam Czirak � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7
1 Selbstzurücknahme als kritische Praxis Haft contra Selbsteinschließung Zur künstlerischen Praxis der (Selbst-)Restriktion Barbara Gronau � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 21
Sichtbarkeit als Kritik Subversive Körperbilder bei Gabriele Stötzer und Cornelia Schleime Astrid Hackel � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 41
Schlafen Eine künstlerische Praxis der Kritik in der osteuropäischen Performancekunst Adam Czirak � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 65
2 Kritik durch die Unterbrechung öffentlicher Normstrukturen »Bitte drehen Sie mich in die richtige Richtung!« Zur Kunst der Kontestation in den inoffiziellen performativen Praktiken in der Slowakei der 1970er Jahre Andrea Bátorová � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 93
Figurationen der Kritik in wechselnden Dispositiven zwischen Archiv und Gericht Tomislav Gotovacs Aktion Zagreb, ich liebe Dich! Andrej Mirčev � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 119
3 Eine sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaften in der Performance Soz-Art, oder vom Versuch, Strategien der Avantgarde in der polnischen Kunst der 1970er Jahre wiederzubeleben Łukasz Ronduda � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 141
Black or White? Angela Davis, Bobby Seale und Black Power in den Akten der Staatssicherheit in den 1970er Jahren Kata Krasznahorkai � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 157
Die Kritik der Kamera Performative Fotografie im Ungarn der Siebzigerjahre Katalin Cseh-Varga � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 183
Eine Frage der Entscheidung Politische Performancekunst im sozialistischen Jugoslawien Jasmina Tumbas � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 203
Autorinnen und Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 235
Formen künstlerischer Kritik jenseits des Eisernen Vorhangs Eine Einleitung Adam Czirak
»Künstler, die seit den 1960er Jahren weltweit am häufigsten verfolgt und inhaftiert worden sind, waren Vertreter der Performancekunst«1 – konstatiert die Kunsthistorikerin Kristine Stiles, die diesem Kunstgenre wirkungsvolle Dimensionen des Widerstands gegen jegliche Formen der Dominanz zuspricht. Ihre Feststellung mag darin begründet sein, dass Performancekünstler_innen ihre Körper zum ästhetischen Gegenstand erhoben haben und weniger ein Werk, vielmehr aber ihre körperliche Existenz selbst in die Gefahr von Kritik, Zensur oder Verbot gelangen ließen. Nimmt man die Geschichte der Performance- und Aktionskunst im ehemaligen europäischen ›Ostblock‹, d.h. in den so genannten realsozialistischen Gesellschaften Europas vor 1989 in Augenschein, so lag ein Moment des Protesthaften und des Politischen in der allenthalben zu den stark überwachten oder sogar verbotenen Kunstgattungen gezählten Performancekunst zweifellos darin, dass sie die Imperative des (sozialistischen) Realismus bzw. des ästhetischen Konformismus ignoriert und stattdessen künstlerische Gesten der Transgression, des Entzugs oder der Unentscheidbarkeit favorisiert hat. Stand den Zensor_innen ein breit gefächertes Filtersystem für die Begutachtung von literarischen Werken zur Verfügung, fehlte es im Bereich der neoavantgardistischen bildenden Kunst bzw. der Performancekunst an repräsentationspolitischen Richtlinien, die für die Genehmigung, Duldung
1 Kristine Stiles: States of Mind: Dan & Lia Perjovschi, Durham 2007, S. 51.
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oder Prohibition ausschlaggebend gewesen wären.2 Zwischen den verunsicherten Schiedsrichter_innen im Kunstbereich und den Avantgardist_innen entfachte sich somit ein spannungsvolles Ringen um Anerkennung und Geltung, das man auch als einen dialektischen Kampf um Ein- und Ausschließung subalterner Positionen bezeichnen könnte. Es überrascht daher nicht, dass die Vertreter_innen autonomer Kunst in den osteuropäischen Ländern vornehmlich außerhalb einer offiziellen Öffentlichkeit agiert haben. In privaten Apartments, Ateliers oder verlassenen Naturlandschaften eröffneten sich Szenen einer so genannten ›zweiten Öffentlichkeit‹, die sich von den dominanten Kunstdoktrinen distanziert haben. Geprägt von experimentellen oder subversiven Ansprüchen standen die Performancekünstler_innen nicht nur den tradierten Kunstgattungen kritisch gegenüber, sie problematisierten auch dezidiert gesellschaftliche Automatismen, parteipolitisch idealisierte Menschenbilder oder die modernistischen Ideologien eines global verbreiteten, kompetitiven Fortschrittsglaubens. Das Spektrum ihrer kritischen Praxis war breit gefächert, reichten ihre widerständigen Artikulationen doch von der Theatralisierung ihrer Selbstzurücknahme über spontane Interventionen im öffentlichen Raum bis hin zu konstruktiven Reformvorschlägen für einen besseren Sozialismus. Doch wie und mit welchem Effekt konstituierten sich die kritischen Positionen gegenüber der Gesellschaft und der vorherrschenden Kunstprogrammatik in bzw. mit den Aktionskünsten des ehemaligen Ostblocks? Inwiefern lässt sich die kritische Praxis der Performancekünstler_innen auf Begriffe bringen, sortieren und kontextualisieren? Der vorliegende Sammelband widmet sich Episoden aus der Aktionsund Performancekunst jenseits des Eisernen Vorhangs. Das Attribut ›jenseits‹ bezieht sich in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur auf eine konkrete geopolitische Region und eine Epoche der europäischen Kunst zur Zeit des Kalten Krieges, sondern es impliziert gleichzeitig ein programmatisches Vorhaben, das die Masternarrative der Performancegeschichte infrage stellt. Denn die Bezeichnung ›jenseits des Eisernen Vorhangs‹ verabschiedet die Unterstellung einer strikten Zweiteilung Europas vor 1989 und die damit einhergehende Festschreibung von ost- und westspezifischen Ideologien 2 Vgl. Edit Sasvári: »A balatonboglári kápolnatárlatok kultúrpolitikai háttere«, in: Júlia Klaniczay; Edit Sasvári (Hg.): Törvénytelen avantgárd. Galántai György balatonboglári kápolnaműterme 1970-1973, Budapest 2003, S. 9-38, insbesondere: S. 13-15.
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oder künstlerischen Praktiken. Wie aus den anschließenden Fallstudien ersichtlich wird, verliefen – trotz der ideologischen und geografischen Spaltung Europas vor 1989 – quer durch Kontinente und Landesgrenzen kartografische Linien in der Tradition der Aktionskünste, die uns zurückblickend ähnliche ästhetische und politische Anliegen zu erkennen helfen. Die Studien dieses Buches verbindet der Anspruch, die Kunstszenen des ›Ostblocks‹ nie isoliert zu betrachten, sondern diese in die globale (Kunst-)Geschichte des Kalten Krieges einzubetten, und sie sind darum bemüht, den Widerhall ähnlicher repräsentationspolitischer Anliegen – sei es in der Kritik von starren ästhetischen Normen oder in der Problematisierung von gesellschaftlichen Themen wie das Wettrüsten oder der Kampf für Frauenrechte – aufzuzeigen. Im Folgenden soll also immer auch die Frage in den Blick genommen werden, wie künstlerische Interessen bzw. politische Solidarität über die konkurrierenden Blöcke hinweg miteinander verlinkt werden können, um eine allzu starre Grenzziehung zwischen ›Ost‹ und ›West‹ in der Kunstgeschichtsschreibung der Neoavantgarde zu verabschieden. Die einzelnen Beiträge umkreisen kritische Stellungnahmen ost- und südosteuropäischer Provenienz und perspektivieren diese in ihrer jeweiligen politischer Programmatik. Trotz der Diversität ästhetischer und gesellschaftskritischer Praktiken in Polen, Ungarn, Jugoslawien, der ehemaligen Tschechoslowakei und der DDR lassen sich motivische und strukturelle Analogien in der Art und Weise der Artikulation von Kritik feststellen, die in – mindestens – drei unterschiedlichen Strategien manifest geworden sind: Versucht man diese Strategien zu kartographieren und miteinander in Verbindung zu bringen, so fällt eine hohe Anzahl an (1) Inszenierungen der Selbstzurücknahme, (2) Interventionen im öffentlichen Raum und (3) einer dezidiert sozialistischen Kritik der bestehenden Gesellschaften ins Auge. Den ersten beiden Taktiken der Renitenz eignet vor allem eine Unterbrechung konsolidierter Ordnungen der Sichtbarkeit und der Funktionalität. Die dritte Strategie erhebt hingegen den Anspruch, eine Wandlung und Erneuerung des Kritisierten in die Wege zu leiten.
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1 Selbstzurücknahme als kritische Praxis Der symbolische Akt der Selbstzurücknahme gilt als prominentes Motiv bei vielen Performancekünstler_innen im Realsozialismus: Die Auslieferung des Körpers an eine physische Ohnmacht, das Spiel mit Momenten der Blendung und Betäubung, die Theatralisierung des Schweigens oder Schlafens und die explizite Selbst-Einsperrung sind Beispiele für die öffentliche Exponierung eines dissoziierten Selbst. Diese Performances artikulieren einen Rückzugsversuch aus konventionellen Referenzbedingungen bzw. das Ressentiment gegenüber sprachlichen wie normativ-gesetzlichen Bezugssystemen. Manifest ist in solcherart Szenen der schwindenden Souveränität die kritische Ambition, außerhalb der diskursiven Raster propagandistischer Ideologien zu kommunizieren und jenseits der staatlich vorgegebenen ästhetischen Prämissen zu arbeiten. Ohne die Grenzen der kulturpolitischen Zensur auf eine offensive Art auszutesten, bedienten sich zahlreiche Performancekünstler_innen einer paradoxalen Darstellungslogik: Sie führten Praktiken der Selbstdisziplinierung und des Rückzugs spannungsvoll mit Momenten der Überschreitung und eines theatralen Sich-Zeigens zusammen. Inwieweit diese Gesten einer Selbstartikulation durch Selbstzurücknahme als Verfahren der politischen Reibung an den reglementierenden Normen totalitärer Systeme begriffen werden können, steht im Fokus der Beiträge von Barbara Gronau, Astrid Hackel und Adam Czirak. In ihrem Vergleich zwischen west- und ostdeutschen Traditionslinien der performativen Künste führt Barbara Gronau das Argument ins Feld, dass Aktionskünstler_innen – entgegen ihrem aktivistischen Selbstverständnis – eine Vielzahl von Techniken der Zurückhaltung entwickelt haben. Nicht nur bei Joseph Beuys, sondern auch bei den Dresdner Autoperforationsartisten lassen sich Formen des Rückzugs erkennen, die eine Politik des Unterlassens oder eine ästhetische Reduktion der Darstellungsmittel ebenso zum Ausdruck bringen wie den Wunsch, die psychische Selbstzurücknahme des Körpers in einer Aufführungssituation, d.h. vor einem Kollektiv, in Szene zu setzen. Gronau weist darauf hin, dass die komparatistische Analyse zwar Analogien zu zeichnen erlaubt, insofern es Beuys und den Dresdner Studierenden ebenfalls um die kritische Ref lexion von Zurückhaltung, Verwundbarkeit und Isolation als Insignien des Kalten Krieges ging. Dennoch waren diese ästhetischen Absichten – vor dem Hintergrund der jeweiligen
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gesellschaftlichen Milieus in Ost- und Westdeutschland – in anderen politischen Referenzrahmen zu verorten. In ihrer Parallellektüre geht Barbara Gronau in diesem Sinne den historischen Inkommensurabilitäten nach, die ›hinter‹ den ästhetischen Analogien stehen. Wie Astrid Hackel feststellt, tauchten mentale und körperliche Ohnmachtsgefühle u.a. in Gabriele Stötzers literarischem und bildnerischem Werk als zentrale Themen auf. Dass die kritische Wendung der Selbstzurücknahme bei der Erfurter Künstlerin als eine bewusst gewählte Strategie zu betrachten ist, verdeutlich auch ihr Plädoyer für eine »Revolution im Stillen«3: »Nach dem Knast hatte sich für mich der Sozialismus oder […] die Verbesserung des Sozialismus erledigt. Ich wusste, dass ich ein eigenes System, mein System auf bauen müsste.«4 Stötzers Verweigerung, in der Logik der offiziellen Diskurse zu agieren, konkretisierte sich in Taktiken der Selbstzurücknahme aus den Regimen »des sozialistischen Zusammenlebens«5 und denen der Sichtbarkeit. Mittels Bandagierung oder Einschnürung des Körpers kommt bei Gabriele Stötzer wie auch bei Cornelia Schleime eine Kritik zum Tragen, die Hackel durch komparatistische Analysen aufspürt. Die Betonung der Repression, der eingeschränkten Mobilität und Kommunikation gehe weit über die metaphorische Wiederholung von patriarchalen oder realsozialistischen Unterdrückungsmechanismen hinaus, bezeugt doch die sukzessive Aneinanderreihung solcher Standbilder einen selbstbewussten Einsatz des Körpers, gespenstische Choreografien also, die die Ordnungen der Unterwerfung mit einer unheimlichen Vitalität heimsuchen. Der Anspruch auf Selbstzurücknahme spitzt sich in ›Schlafaktionen‹ zu, deren weite Verbreitung im ›Ostblock‹ von Adam Czirak kartografiert wird. Um das Faulenzen und den Schlaf vor dem Hintergrund der kapitalistischen oder sozialistischen Ideologien der Produktion zu nobilitieren, stellten sich Performancekünstler_innen zur Aufgabe, willentlich in den Schlaf zu fallen, und führten diese Experimente vor der Kamera oder sogar in der Öffentlichkeit auf. Sie werteten dabei nicht nur die schöpferische Dimension des Nichtstuns bzw. der Ruhepause auf, sondern erhofften auch vom Schlaf den Rückzug aus dem Regime der Arbeitseuphorie bzw. aus der als 3 Gabriele Stötzer zitiert nach Yvonne Fiedler: Kunst im Korridor. Private Galerien in der DDR zwischen Autonomie und Illegalität, Berlin 2013, S. 116. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 51.
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repressiv empfundenen gesellschaftlichen Realität. Was die einzelnen Aktionen jedoch auch zeigten, war die Einsicht, dass die Abkapselung durch den Schlaf, die Schutz verspricht, willentlich nicht herbeizuführen ist. Der Schlaf ist kein intentionaler Akt, er markiert die Grenze menschlicher Planung und individueller Bestimmbarkeit. Vor diesem Hintergrund verbindet Performer_innen, die Schlafen gehen, die Erkenntnis, dass dem Zustand der Insomnia eine politische Dimension eignet, insofern man in ihr die Forcierung und gleichzeitig die Unmöglichkeit gesellschaftlichen Rückzugs kommunizieren kann.
2 Kritik durch die Unterbrechung öffentlicher Normstrukturen Erfolgte die künstlerische Kritik sozialistischer Gesellschaften in Form eines öffentlichen Auftritts, wie dies sich beispielsweise in Tomislav Gotovacs nacktem Spaziergang in Zagreb exemplarisch konkretisierte, so war der polizeiliche Eingriff sowie der Abbruch einer Aktion genauso vorprogrammiert wie die anschließenden Retorsionen. Was in diesen automatischen Gegenmaßnahmen von öffentlich aufgeführten Performances zutage tritt, ist zum einen die Omnipräsenz der antrainierten und eingespielten Normen, die den sozialistischen Alltag in eine ›Sphäre des Nicht-auffallen-Dürfens‹ transformiert haben, und zum anderen die Macht der polizeilichen Kontrolle und der Überwachung des urbanen Raums. Auffällige Abweichungen von den konsolidierten Verhaltensnormen haben Passant_innen in der Regel als Störung und die Ordnungsinstanzen als nichts anderes als ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹ betrachtet. Die Attraktivität spontaner Interventionen bestand offensichtlich darin, dass sie nicht von vorn herein zensiert werden konnten. Ein Buch, ein Film oder eine Theaterinszenierung war ohne Weiteres zu verbieten, wohingegen eine künstlerische Aktion, die 1 bis 2 Stunden vor ihrer Durchführung angekündigt wurde, kaum verhindert, höchstens unterbrochen und nachträglich sanktioniert werden konnte. Einer der wichtigsten Vertreter_innen friedlicher Straßenperformances war der Fluxuskünstler Milan Knížák, der Kunst und Alltagsleben miteinander zu kollidieren suchte. Knížák, der über 300 Male verhaftet wurde und teils für einige Stunden, teils für mehrere Monate ins Gefängnis kam, ging es um die Realisierung offener und egalitärer Kommunikationsstrukturen im öffentlichen Raum, wenn man so will, um
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eine kommunistische Utopie des Teilens und der Freiheit. Doch insofern seine Versuche mit den parteipolitischen Vorstellungen des Kommunismus als unvereinbar galten, war er mit der permanenten Kriminalisierung seiner Persona konfrontiert. Für sein Ziel, eine kommunistische Revolution im Alltag zu bewerkstelligen, zeigte sich Knížák sogar bereit, tagtägliche Attacken auf seine Freiheit in Kauf zu nehmen. In die Tradition von Knížáks Straßenaktionen lässt sich auch die von Andrea Bátorová untersuchte Intervention Jan Budajs während der Woche des Straßentheaters einordnen. Mit einem kleinen Kreis von Eingeweihten legte sich Budaj auf die Treppen einer engen, aber frequentierten Gasse Bratislavas. Das Herumliegen, das den Gehweg verbarrikadierte, wurde von den Autoritäten nicht nur als offensive Provokation, sondern vor allem sofort als systemkritische Haltung interpretiert. Andrea Bátorová zeigt an dieser und einer Reihe weiterer slowakischer Performances, dass sie keine konkreten inhaltlichen Stellungnahmen aufwiesen, die man als explizit systemkritisch hätte etikettieren können. Vielmehr war es Budaj, aber auch L’ubomír Ďurček, darum zu tun, durch performative Störungen des Alltags die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben zu verwischen und alle Anwesenden an einer kritischen Praxis teilhaben zu lassen, die vornehmlich in der Erkundung abweichender, noch-nicht-erprobter Bewegungsmuster und Sichtweisen bestand. Das wohl bekannteste Beispiel für die Attacke der Konformität im sozialistischen Alltag stellt sicherlich Tomislav Gotovacs Aktion Zagreb, ich liebe Dich! dar. Wie diese Performance jenseits des nackten Auftritts Gotovacs auf der Straße auch in Gerichtssälen, Polizei- und Psychiatrieberichten fortgesetzt wurde, legt Andrej Mirčev in seinem facettenreichen diskursanalytischen Beitrag dar. Betrachtet man das lange Nachleben der Performance, so wird Mirčev zufolge offensichtlich, dass hier der Anspruch der Autoritäten in einer Abrechnung mit der Autonomie der Kunst bestand, um den nackten Spaziergang als ästhetische Intervention kurzerhand in politische, pathologische und rechtliche Rahmungen zu verschieben und dadurch zu eliminieren. Den nackten Körper interpretiert Mirčev somit als ein Bild der Rebellion und als eine Figur der Kritik, die gegen die Allianz von Polizei, Moral und Bürgertum gerichtet ist. Dass solcherart diskurspolitische Verschiebungen, die eine ›Neuaufteilung des Sinnlichen‹ (Rancière) zu erwirken suchen, nicht nur in sozialistischen Ländern, sondern auch auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs stattgefunden haben, erlaubt – im abschließenden Teil
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des Beitrags – eine transnationale Perspektivierung der Kritik an der Unantastbarkeit urbaner Verhaltensnormen.
3 Eine sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaften in der Performance Waren die politischen Eliten staatssozialistischer Regime bestens gewappnet gegenüber rechtskonservativen, reaktionären und kapitalistischen Argumenten, gerieten sie schnell in Erklärungsnot, wenn Volksaufstände (Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968), Streiks und Boykotts (Polen 1970, 1980), aber auch neoavantgardistische Kunstprojekte von einer linken und demokratischen Warte aus Forderungen und Reformvorschläge vorbrachten. In der kurzen Geschichte realsozialistischer Gesellschaftsexperimente während des Kalten Krieges trat die »sozialistische Kritik der osteuropäischen Gesellschaften«6 immer wieder auch im künstlerischen Feld hervor und kam aus einer konsequent linken – sei es marxistischen, leninistischen oder maoistischen – Perspektive zum Tragen. Kritisch waren diese Positionen nicht nur, weil die staatliche Realisierung des Sozialismus sich immer weiter von dessen basalsten Ideen der Egalität, Demokratie und Solidarität entfernt hatte, sondern auch aufgrund des Umstands, dass die führende Elite ausgerechnet in ihren linken Kritiker_innen die Störenfriede des realsozialistischen Masterplans erkannt hat. Einen differenzierteren Blick wirft Łukasz Ronduda auf die vorherrschende These, dass künstlerische Interventionen im ehemaligen osteuropäischen Untergrund vor allem widerständig und protesthaft waren. Er rekonstruiert schlecht überlieferte Performances des polnischen Künstler_ innenkollektivs ProAgit, das zum Teil im Ministerium für Kunst und Kultur in der Anwesenheit einf lussreicher Politiker_innen Aktionen ausgeführt hat, um Reformvorschläge für einen gerechteren Sozialismus zu unterbreiten. In ihrer Multimedia-Performance regten die Mitglieder des Kollektivs eine
6 Ferenc Fehér: »Diktatur über die Bedürfnisse«, in: Ferenc Fehér; Agnes Heller: Diktatur über die Bedürfnisse, Hamburg 1979, S. 25-41, hier: S. 25. Kursivierung im Original. Vgl. auch Judit Bodor; Adam Czirak; Astrid Hackel; Beata Hock; Andrej Mircev; Angelika Richter (Hg.): Left Performance Histories. Recollecting Artistic Practices of (South-)East Europe, Berlin: neue Gesellschaft für bildende Kunst 2018.
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Diskussion der staatlich verordneten Werte an und richteten direkte und unbequeme Fragen an die ›sozialistischen Autoritäten‹. Ronduda zeigt, wie sehr diese Art der politischen Mitbestimmung, die eine konstruktive Kritik in Gang zu setzen suchte, an der Gründung einer neuen, in den ›Idealen des Sozialismus‹ verankerten Avantgarde interessiert war. Nicht zuletzt war ProAgit imstande, eine sozial engagierte Kunst anzuregen, die sich von den Formeln des sozialistischen Realismus distanzierte. Aus globaler Sicht können wir von einer Kontinente übergreifenden Landschaft linker Bewegungen sprechen, die von den jeweiligen Regierungen als ›anarchisch‹, ›chaotisch‹ und gefährlich gebrandmarkt wurden, unabhängig davon, ob sie in Warschau, Paris, Belgrad, Rom, Tokyo, Mexiko City oder Chicago aktiv waren. Die globalen Erneuerungsversuche eines ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, die Bündnisse über den Eisernen Vorhang hinweg etablierten, einte die Opposition gegen Rassismus, gesellschaftliche Privilegien, Nationalismus und Imperialismus. Wie sensibel Performances seit den 1960er Jahren sichtlich auf die internationalen Herausforderungen der Zeit reagierten und etwa die Blockstaatenbildung, das Wettrüsten, die Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen, die Formierung und die Niederlage der Neuen Linken kritisch hinterfragt haben, wird aus dem Beitrag von Kata Krasznahorkai deutlich. Sie zeigt die kritische Doppelbödigkeit von Tamás Szentjóbys Budapester Performance Freiheit für Angela Davis! (1971), die insofern als eine raffinierte Solidaritätsaktion zu betrachten ist, dass der Künstler sowohl gegen US-amerikanische wie auch gegen osteuropäische Repressalien protestierte. Als wie brisant diese Aktion galt, spürt Krasznahorkai aus zahlreichen Akten der Geheimpolizei auf. Auch Katalin Cseh-Vargas zentrales Beispiel – László Lakners Fotoperformance Károly – lässt sich nicht einfach als eine kritische Bildinszenierung werten, die gegen den Sozialismus gerichtet war. Der mit linken Positionen, vor allem mit dem Maoismus, sympathisierende Lakner griff in seiner Bildserie sozialistische Sujets und Motive auf und engagierte für seine Performance das seinerzeit meist beschäftigte Modell sozialistisch-realistischer Künstler_innen. Lakner war darum bemüht, die Spannung zwischen heroisierenden, ideologisch aufgeladenen Arbeiter_innen-Inszenierungen und deren realitätsfremder Verfasstheit ins Bild zu setzen. Die Subtilität dieses Beispiels zeugt von einem Engagement für den Klassenkampf des Sozialismus ebenso wie von der Kritik an der ›visuellen Kultur‹ der Staatspropaganda. Möglich wird diese Kritik erst, so Cseh-Varga, im Medium der Fotoper-
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formance, einem Genre, das jenseits der Ebene der figuralen Darstellung vor allem die Produktionsbedingungen und Inszenierungsstrategien politischer Bildgenerierung sichtbar zu machen vermag. Abschließend geben Jasmina Tumbas’ Analysen Aufschluss darüber, dass sich Künstler_innen wie Neša Paripović, Vlasta Delimar oder Sven Stilinović unter realsozialistischen Bedingungen keineswegs existenziell unterdrückt gefühlt und ihre Kunst spielerischen Experimenten, etwa mit der Transgression von Geschlechtergrenzen, gewidmet haben. Gegen die pauschale Annahme, politische Kunst in (Süd)Osteuropa hätte ihre Aussagekraft aus einer gegen das sozialistische Projekt gerichteten Logik bezogen bzw. neoavantgardistische Künstler_innen hätten deswegen im Zeichen permanenter Verfolgung gestanden, führt Tumbas Performancebeispiele aus dem verhältnismäßig liberalen Klima Jugoslawiens ins Feld. Dass viele Performances vor dem Hintergrund linker philosophischer Positionen als kritische Aktionen interpretierbar werden, sieht Tumbas darin begründet, dass zahlreiche Künstler_innen das Private, ja den eigenen politisierten und nicht-ganz-angepassten Körper, plötzlich in den Rahmen staatsideologischer Diskurse und somit in einen patriarchalen Wertezusammenhang rückten, um dort einen ambivalent-kritischen Diskurs zu entfalten. Tumbas unterstreicht dabei die mutige und prekäre Entscheidung dieser Künstler_innen, mithilfe der Performancekunst den eigenen – unter repressiven Bedingungen staatlich überwachten – Körper in abweichenden, repräsentationskritischen Figurationen zu exponieren. Der vorliegende Sammelband geht aus einer dreijährigen Zusammenarbeit im Rahmen des DFG-Netzwerkprojekts Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs hervor, einer Kooperation von Theater-, Kunst- und Kulturwissenschaftler_innen, namentlich Katalin Cseh-Varga, Adam Czirak, Andrea Bátorová, Barbara Gronau, Astrid Hackel, Beáta Hock, Andrej Mirčev, Angelika Richter und Berenika Szymanski-Düll. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, die Performancegeschichte in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion archivarisch zu erforschen und diskursiv aufzuarbeiten. Ein Großteil der hier versammelten Beiträge wurde auf dem 13. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Gießen und Frankfurt präsentiert, andere liegen als Ergebnisse der dreijährigen Feldforschung hier zum ersten Mal vor. Unser Dank gilt in erster Linie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung unserer Archiv- und Workshopreisen. Herz-
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lich danken wir auch allen, die uns bei den Recherchen Zugang zu Performancedokumenten und Informationen geboten haben bzw. zu Gesprächen bereit waren. Für ihre gewissenhafte und professionelle Korrektur der Texte gilt unser herzlicher Dank Sara Ehrentraut und Astrid Hackel.
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1 Selbstzurücknahme als kritische Praxis
Haft contra Selbsteinschließung Zur künstlerischen Praxis der (Selbst-)Restriktion Barbara Gronau
Im Verhältnis zu den anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zeichnete sich die DDR durch eine geopolitische Schizophrenie aus: Sie war eine von den sowjetischen Alliierten verwaltete Zone des ehemaligen ›Deutschen Reiches‹, die durch eine physische Grenze vom westlichen Teil getrennt, aber zugleich durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur mit ihm verbunden war. Als westlichster Außenposten des sogenannten Ostblocks gehörte die DDR – vor allem an der deutsch-deutschen Grenze – zu den am stärksten bewachten Zonen Mitteleuropas. Ihr totalitärer Charakter äußerte sich nicht nur in der permanenten Kontrolle des öffentlichen Lebens durch politische, militärische und polizeiliche Gewalten, sondern ebenso in der Durchdringung sämtlicher Bereiche des Sozialen mit einem zur Ideologie verkümmerten Staatssozialismus marxistischer Prägung. Für die Künstler_innen der DDR bedeutete das, in einem überwachten Raum zu arbeiten, in dem Direktkontakte zu Kolleg_innen aus westeuropäischen Ländern, aber auch zu vielen alternativen Künstler_innen aus anderen osteuropäischen Nationen kaum möglich waren. Es bedeutete auch, immer wieder um Autonomie ringen zu müssen, waren doch Ausbildung, Verbreitung und Evaluation künstlerischer Praxis in der DDR fest mit den offiziellen Doktrinen staatlicher Kulturpolitik verbunden. Die Durchsetzung des Öffentlichen und Privaten mit Staatssicherheit, die Gefahr der Inhaftierung oder der Ausweisung aus dem Land kennzeichneten in der sich selbst ›demokratisch‹ nennenden Republik auch das Verhältnis von Kunst und Politik. Bei aller Repression galt jedoch auch hier die von Michel Foucault im Anschluss an Hannah Arendt formulierte Erkenntnis: »Macht ist niemals
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voll und ganz auf einer Seite.«1 Sie entfaltet sich vielmehr immer zwischen Individuen oder Kollektiven entlang bestimmter Instrumente, Differenzierungen, Normen und Institutionen und »existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt«2. Im Unterschied zur Gewalt, die Dinge und Subjekte bricht, zwingt, beugt und zerstört, zielt Macht auf den Erhalt der Welt und ihrer Subjekte mit dem Ziel, auf deren Handlungen einzuwirken. Die politische Realität der DDR war nicht allein durch Gewaltverhältnisse bestimmt. In ihr wirkten vielmehr komplexe Machtverhältnisse, die sich durch das Gefüge von »Macht – Ohnmacht – Gegenmacht«3 auszeichneten. Davon zeugten zum Einen die politischen Aufstände des sogenannten Ostblocks (wie der Juni 1953 in Berlin, der ungarische Volksaufstand 1956, der Prager Frühling 1968, die polnische Solidarność-Bewegung 1980 uvm.), die trotz ihrer Niederschlagung von der Instabilität der Staatsmacht und dem Willen der Bevölkerung nach Emanzipation erzählten. Davon zeugten auch die Aktionen von Mitgliedern der Kirchen-, Umwelt- und Friedensbewegungen, in der sich Kritik am technokratischen, militärischen und unterdrückenden Charakter des Staatssozialismus formulierte. Und nicht zuletzt zeugten davon die verschiedenen Ausdrucksformen künstlerischer »Gegenstimmen«4, in denen herrschende Normen analysiert, kritisiert oder ironisch umgedeutet wurden. Dabei ist bis heute strittig, ob es sich um eine echte Form der ›Gegenkultur‹ – d.h. um eine sichtbar gelebte Opposition gegen grundlegende Normen der Gesellschaft – handelte oder vielmehr um eine ›Ergänzungskultur‹, die als Bohème andere Subjektivitäts- und Kollektivitätsformen zu leben versuchte.5 1 Michel Foucault: Mikrophysik der Macht, Berlin 1976, S. 115; vgl. auch Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München; Zürich [1958] 1996, S. 252-253. 2 Michel Foucault: »Wie wird Macht ausgeübt?«, in ders.: Botschaften der Macht. Reader Diskurs Medien, Stuttgart 1999, S. 187-201, hier: S. 191. 3 Vgl. Ehrhart Neubert; Bernd Eisenfeld (Hg): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, Bremen 2001. 4 Vgl. Eugen Blume; Christoph Tannert (Hg.): Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976-1989, Katalog zur Ausstellung im Martin Gropius Bau, Berlin 2016. 5 Zum Begriff der Gegenkultur bzw. der counterculture vgl. J. Milton Yinger: Countercultures. The Promise and Perile of the World Turned Upside Down, New York 1982; Thomas Tripold: Die Kontinuität romantischer Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte, Bielefeld 2012. Von der DDR Bohème als Ergänzungskultur spricht Paul Kaiser in:
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Tatsache ist, dass Künstler_innen, Aktivist_innen und Oppositionelle in der Lage waren, eine »zweite Öffentlichkeit«6 durch Samisdat, Konzerte, Aktionen oder Happenings herzustellen, die Formen von Protest und Dissens Raum bot. Dass diese »Spielplätze der Verweigerung«7 von der Staatsmacht beobachtet, kontrolliert und als innere Feinde zur Selbstlegitimation missbraucht wurden, zeigt umso mehr die enge Verbindung von Macht und Gegenmacht. »Das System« – so der Dichter Durs Grünbein – »brauchte seine Feinde im Inneren ebenso wie den Gegner im Ausland zum Überleben. Konfrontation war die einzige Sprache, die es verstand, die jede Paranoia und alle Kontrolle begründete. Woran es zugrunde ging, war die Verweigerung.«8 Einer besonderen Form der Verweigerung aus dem Spektrum der alternativen Kunstszene der DDR kurz vor deren Ende widmet sich der folgende Aufsatz. Es handelt sich um die 1988 in der privaten Leipziger Galerie Eigen+Art durchgeführte Aktion Allez! Arrest! der Dresdner Künstlergruppe Autoperforationsartisten. Daran lassen sich zwei Dinge zeigen: zum einen, wie durch Performancekunst in der DDR kritische Positionen zur Gesellschaft und Kunstprogrammatik der Zeit ausformuliert werden konnten, und zum anderen, welche Analogien und Differenzen den künstlerischen Verfahren im Osten und Westen zugrunde lagen. Letzteres rekurriert nicht nur auf die notorischen Abgrenzungsversuche von ›Westkunst‹ vs ›Ostkunst‹9 – sondern auch auf die Tatsache, dass sich die Aktion der Dresdner Künstler_innen als Antwort auf einen der namhaftesten Künstler der Bundesrepublik Deutschland verstand, nämlich Joseph Beuys.
Paul Kaiser; Claudia Petzold: Bohème und Diktatur in der DDR. Gruppen, Quartiere, Konflikte 1970-1989, zugleich Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum, Berlin 1997. 6 Vgl. Katalin Cseh-Varga und Adam Czirak (Hg.): Performing Arts in the Second Public Sphere. Event-based Art in Late Socialist Europe, New York; London 2018. 7 Vgl. Christine Gölz, Alfrun Kliems: Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956, Wien 2014. 8 Durs Grünbein zitiert nach Kaiser et al.: Bohème und Diktatur in der DDR, a.a.O., S. 17. 9 Vgl. Laszlo Glozer: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981 und Boris Groys; Thomas Strauss: Ostkunst, Leipzig 1994.
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1 Relikte: Joseph Beuys in der DDR Im Frühjahr 1988 kam es zu einem denkwürdigen Ereignis der kulturellen Annäherung zwischen West- und Ostdeutschland, nämlich der ersten Ausstellung mit Werken von Joseph Beuys im Ost-Berliner Marstall und der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst.10 Bis zu diesem Zeitpunkt galt der Künstler, Medienstar und Mitbegründer der Partei Die Grünen den Kunsthistorikern und Kulturfunktionären der DDR als Beispiel kapitalistischer Dekadenz – ein rhetorisches Vorgehen, mit dem die eigene kleinliche Kunstideologie als progressiv zementiert werden sollte.11 Beuys war jedoch besonders in der inoffiziellen Kunstszene der DDR eine wichtige – wenn auch nicht tiefgreifend bekannte – Referenz, verband er doch seine künstlerische Praxis mit einem dezidiert gesellschaftskritischen Anspruch.12 Vor allem in den 1980er Jahren hatte die Beschäftigung mit dem Künstler dazu beigetragen, sich verstärkt Formen wie Aktion und Performance zuzuwenden. Der Grund lag nicht nur in der zunehmenden Radikalisierung künstlerischer Formate in jener Zeit, sondern auch im ephemeren Charakter von Performances, die f lüchtig, theatral, nicht objekt- und warenförmig waren und sich als Bestandteile von kollektiven Ereignissen wie Festen oder Konzerten tarnen ließen. Es ist bemerkenswert, mit welcher Vehemenz die DDR-Funktionäre nicht nur Beuys’ Kunstverständnis, sondern jede aktionskünstlerische Form zu verbannen suchten. Während man hier mit Beschlüssen und wissenschaftlichen Publikationen gegen die vermeintliche »Scharlatanerie«13 vorging, wurden Performances 10 Vgl. die Ausstellung Beuys vor Beuys in Bonn, Ministerium für Bundesangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen, 27. November – 31. Dezember 1987 und der Akademie der Künste der DDR, Berlin, Akademie-Galerie im Marstall, 15. Januar – 6. März 1988, danach Leipzig, Hamburg, Frankfurt a.M.. Ausstellungskatalog Beuys vor Beuys – frühe Arbeiten aus der Sammlung van der Grinten, Köln 1987. 11 Vgl. Eugen Blume: »Joseph Beuys und die DDR. Der Einzelne als Politikum«, in: Gabriele Muschter; Rüdiger Thomas (Hg.): Jenseits der Staatskultur. Traditionen autonomer Kunst in der DDR, München; Wien 1992, S. 137-154, insbesondere: S. 141. 12 Dazu gehören v.a. die Mail-Art-Werke von Robert Rehfeld, die Aktionen Sender-Empfänger von Erhard Monden und Eugen Blume am 02.04.1983 auf den Dresdner Elbwiesen, aber auch die Vorträge und Multiples von Klaus Werner in seiner Galerie Arkade. Vgl. dazu Blume: »Joseph Beuys und die DDR«, a.a.O., S. 145-149. 13 Hermann Raum zitiert nach Karl Siegbert Rehberg: »Verkörperungs-Konkurrenzen. Aktionskunst in der DDR zwischen Revolte und Kristallisation«, in: Christian Janecke: Perfor-
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in anderen Ländern des Warschauer Paktes nicht nur geduldet, sondern z.T. sogar staatlich gefördert. In der 1988 lancierten Ausstellung wurden nun vor allem Beuys’ Frühwerk aus der niederrheinischen Sammlung van der Grinten präsentiert, also eine Schaffensphase, in der seine politischen Aktionsformen noch wenig sichtbar entwickelt waren. Die Ausstellung, die deshalb im Westen unter dem Titel Beuys vor Beuys14 tourte – schien somit einen »entschärfte[n], um Fett und Filz reduzierte[n] Beuys«15 vorzustellen, dem sein ›erweiterter Kunstbegriff‹ kaum anzumerken sei. Dem lässt sich aus kunstwissenschaftlicher Sicht Beuys’ »Einheit des Werkes«16 entgegenhalten, also die Tatsache, dass seine theoretischen und gestalterischen Grundlagen in jeder Phase des Künstlers gleichermaßen ausgeprägt waren. Alle Beuys’schen Werke – ob nun sein zeichnerisches Frühwerk, seine spektakulären Aktionen oder seine großformatigen Installationen – bilden eine strukturelle Einheit, die sich aus wiederkehrenden Formen, Materialien, Gestaltungsprinzipien und Diskurselementen zusammensetzt. Das Politische ist bei Joseph Beuys keineswegs bloß an Begriffe wie ›Revolution‹ oder ›soziale Plastik‹ gebunden, die dafür oft ref lexartig ins Feld geführt werden. Es äußert sich vielmehr in jenen Grenzüberschreitungen, die der Künstler durch die Verknüpfung von Plastik und Aktion, von Objekt und Prozess oder von Schweigen und Sprechen vollzog. Ein Blick auf das Publikum zeigt auch, dass die Ausstellung hochgradig irritierend wirkte. Reaktionen wie »Wenn das Kunst ist, bin ich Lenin…!«17 zeugten von der provokativen Kraft eines Œuvres, dem man angesichts von wirbelnder Strichführung, dem Einsatz von ›Braunkreuz‹ oder dem Ausstellen eines blutverkrusteten Pf lasters mit einem am sozialistischen Realismus geschulten Kunstverständnis gar nicht beikommen konnte. Darüber hinaus mance und Bild – Performance als Bild, Berlin 2004, S. 115-159, hier: S. 142. Eine finanzielle Förderung von Aktionskunst fand sich v.a. in Jugoslawien, aber auch in Polen. Die Erkenntnis dieser starken Differenzen ist auch ein Ergebnis unseres DFG-Netzwerkes Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs. 14 Vgl. Joseph Beuys (Hg.): Beuys vor Beuys, Werke aus der Sammlung van der Grinten, Bonn; Ost-Berlin; Leipzig; Brüssel; Frankfurt a.M.; Hamburg 1987-1988. 15 Petra Kipphoff: »Der Gast aus der Fremde«, in: Die Zeit, 04 (1988), S. 44. 16 Vgl. Theodora Vischer: Joseph Beuys. Die Einheit des Werkes, Köln 1991. 17 Aus dem Besucherbuch der Ausstellung in Leipzig, zitiert nach Uta Grundmann; Klaus Michael; Susanna Seufert (Hg.): Revolution im geschlossenen Raum. Die andere Kultur in Leipzig 1970-1990, Leipzig 2002, S. 95.
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waren die Beuys’schen Grundmotive der Wunde, des Leidens und des Todes in den Werken so präsent, dass sie die Zuschauer_innen mit existentieller Wucht treffen konnten.18 Beuys selbst war zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnungen bereits zwei Jahre tot. Er hätte sicher das telegene Händeschütteln von Johannes Rau und Erich Honnecker bei der Eröffnung ironisch zu stören gewusst, bei dem ganz vergessen schien, dass der Eine für Beuys’ Entlassung aus der Düsseldorfer Kunsthochschule 1972 und der Andere für Beuys’ Einreiseverbot 1984 verantwortlich war (Abb. 1-2). So blieb es vor allem den alternativen Künstler_innen in der DDR vorbehalten, einer Vereinnahmung der Figur Beuys durch Staatsakte etwas entgegen zu setzen: Beuys, der zu Lebzeiten die DDR nicht mal bereisen durfte, wird jetzt totgeboren, zum Götzen gemacht und der Öffentlichkeit wehrlos vorgeführt […]. Die Betroffenheit darüber, dass man das Lebenswerk Beuys’ dermaßen beschneidet und entfremdet, war Anlass, nach Möglichkeiten zu suchen, unsere konträre Haltung zum Ausdruck zu bringen. Gegen die tote Ausstellung in den Museen unsere gelebten Projekte! Wir verstehen uns daher nicht als Beuys-Jünger, sondern als Überlebende nach Beuys.19
Abb. 1-2: Eröf fnung der Ausstellung Beuys vor Beuys im Ost-Berliner Marstall 1988.
18 Ich habe diese eigene Erfahrung geschildert in: Barbara Gronau: »Die prekäre Grenze. Dimensionen des Performativen im Werk von Joseph Beuys«, in: Eugen Blume; Catherine Nichols (Hg.): Beuys. Die Revolution sind wir, Berlin; Göttingen 2008, S. 336-337. 19 Judy Lybke im Gespräch mit Karim Saab, zitiert nach: Grundmann et al. (Hg.): Revolution im geschlossenen Raum, a.a.O., S. 95.
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Diesem Aufruf des Galeristen Judy Lybke folgten verschiedene Künstler_innen und Gruppen und versammelten sich im März und April 1988 zum Werkstattzyklus Nach Beuys im Hinterhofgebäude der Leipziger Galerie Eigen+Art. Ziel war es, die zeitgenössische Relevanz des Beuys’schen Œuvres auch für den Kontext der DDR und für eine nachfolgende Künstlergeneration zu markieren. Drei von ihnen, die ehemaligen Studierenden Micha Brendel, Rainer Görß und Else Gabriel mit ihrer Laborratte ELKE – die bereits kurz nach ihrem Eintritt in die Dresdner Kunsthochschule durch Aufsehen erregende, körperzentrierte Performances bekannt geworden waren20 – starteten die Aktion Allez! Arrest!, indem sie sich am 27. März für die Dauer von zehn Tagen in die Räume der Galerie einschließen ließen.
2 Ein- und Ausschlüsse: Allez! Arrest! Wie in vielen Performances begann auch dieses Ereignis mit einem Rückzug bzw. mit einer Geste der Passivität: Am Tag ihrer ›Einlieferung‹ betäubten
Abb. 3: Allez Arrest! Eingangssituation mit betäubten Körpern 20 Gabriel und Brendel haben bereits 1987 ihr Studium mit Diplom beendet, Görß und Lewandowsky 1989. Görß war zum Zeitpunkt der Aktion noch Student. Via Lewandowsky gehörte ebenfalls zur Gruppe, war an der Leipziger Aktion jedoch nicht beteiligt.
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sich die drei mit dem starken Tranquilizer Diazepam, legten sich im Raumzentrum auf Matratzen und waren für die abendlich anrückenden Besucher trotz physischer Anwesenheit nicht ansprechbar (Abb. 3). Den Verlauf der kommenden Tage haben die Autoperforationsartisten im Rückblick folgendermaßen zusammengefasst: Autoperforationsartistik in Reinkultur. Aus freien Stücken zu viert zehn Tage in einem verriegelten Raum, ohne Proviant Tag und Nacht leben, arbeiten, tauschen. Kunst gegen Nahrung. Kunst als Lebensmittel. Tägliche Sprechstunde von 18:00-20:00 Uhr. Geboten wurde: ein lebensechtes Künstlerbiotop (ständig erweiterte Ausstellung), gepflegtes Brauchtum (Ostern live), verfeuerte Plastik (Wärme ist Kunst: Rainer Görß), Reinkarnationszauber (Kohlezeichnung und Aschkuchen: Rainer Görß), Eingriffe ins Logbuch (LOCKbuch, Fotos in unorthodoxer Benutzung als Ego-Präsent: Micha Brendel), Diktat und Funkstille (authentische Berichte aus angeeigneten Biografien und Wiederaufbereitung, Ätherreise), Rasserattenschau (ELKE), Bilder und bleibende Erinnerungen, semiprofessionelle Musikdarbietung (Gründung der STRAFE als eine Art musikalisches Unternehmen…). Zum Tausch wurden künstlerische Erzeugnisse aus der laufenden Produktion angeboten. Entgegengenommen wurden im Direkttausch oder auf postalischem Wege: Nahrungs- und Genussmittel (Wegzehrung), Protektion (hohe Kante) sowie Dienstleistungen auf kommunikativem Sektor (Trost). Beginn der Schweißtuch-Variationen bei Micha Brendel (erstes fotografisches Selbstportrait auf Herrenschneuztuch).21 Im freiwilligen Arrest arbeiteten die drei Künstler_innen gemeinsam und doch in durchaus verschiedener Weise: So baute sich Rainer Görß einen Raum im Raum und modellierte aus dem Verbrennen von Abfall eine Ascheplastik (Wärme ist Kunst!). Er kratzte eine täglich anwachsende Holzschnittserie in den Dielenboden des Galerieraumes, deren Abzüge das Publikum abends gegen Nahrungsmittel erwerben konnte. Michael Brendel schaffte mit Farben und Fetten ein täglich anwachsendes und an die Seefahrt erinnerndes Locklogbuch, belegte den Fußboden mit kreidegezeichneten Augen21 Anonym: »Ereignisgeschichte«, in: Christoph Tannert (Hg.): Autoperforationsartistik, Katalog zur Ausstellung Bemerke den Unterschied vom 11.4.-5.5.1991 in der Kunsthalle Nürnberg, Nürnberg 1991, S. 10.
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Abb. 4-6: Rainer Görß, Else Gabriel, Micha Brendel in den Räumen der Galerie Eigen+Art während der Aktion Allez! Arrest! (1988) paaren (die die Besucher betreten aber auch mitnehmen konnten) und kreierte durch die Übermalung von Fotoportraits der drei Künstler_innen mit Fetten und Honig ein Triptychon. Schließlich richtete sich Else Gabriel mit der ehemaligen Laborratte ELKE einen Arbeitsplatz zum Verfassen eines Tagebuchs ein, in dem der Prozess der Performance und die psychischen Dynamiken im geschlossenen Raum aufgezeichnet wurden (Abb. 4-6).22 Jeden Abend wurde das Publikum für die Dauer von zwei Stunden in die Galerie hineingelassen. Es konnte die Räume betrachten, sich mit den Künstler_innen austauschen und den wilden Konzerten zuhören – die die drei Eingeschlossenen unter dem Bandnamen DIE STRAFE allabendlich gaben. Diese temporäre Öffnung, die im Laufe der Woche immer mehr Publikum anzog, diente aber auch dem Eintauschen von mitgebrachten Nahrungsmitteln (Brot, Wurst, Wein, Zwiebeln) gegen die tagsüber entstandenen Kunstwerke. Ohne die Hilfe der Zuschauer_innen wären die Autoperforationsartisten im selbstgewählten Arrest verhungert oder hätten ihren Aufenthalt abbrechen müssen. »Der Organismus«, so Judy Lybke, bewegte sich zum Ende hin in einer Geschwindigkeit, der sie nur durch ständiges Zufüttern gerecht werden konnten. […] Sein Gutes hatte es auch, denn eine Selektion war nicht möglich, so dass Halbprodukte zu den allabendlichen Eröffnungen aufgetischt, Einblicke in den Prozess gaben. Das Sichausliefern in den notwendigen Austausch von Kunst gegen Nahrung […] ist vom 22 Vgl. Judy (Gerd Harald) Lybke: »Allez! Arrest! Aktion der Autoperforationsartisten Michael Brendel, Else Gabriel, Rainer Görß in der Werkstatt Galerie Eigen+Art«, in: Wolfgang Dreßen; Eckhardt Gillen; Siegfried Radlach (Hg.): Niemandsland, Zeitschrift zwischen den Kulturen, Jg. 3; Heft 8/9 (1989), S. 116-121, hier: S. 118, 121.
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Publikum der Ausnahmesituation halber beneidet worden. Die Inszenierung war perfekt. Die Bühne ausgestattet und die Rollen auf den Leib geschrieben. Für zwei Stunden ging der Vorhang auf zur Erprobung des Alphabets der Verständigung.23 In welcher Weise wurde hier auf Joseph Beuys geantwortet? Und inwiefern lässt sich der Aktion ein kritisches Potential zusprechen? Allez! Arrest! ist eine zur »Legende«24 gewordene Kunstaktion in der DDR. Dass sie nicht nur ein Aufsehen erregendes Ereignis, sondern auch in der Lage war, herrschende Machtverhältnisse zu kritisieren, möchte ich im Folgenden entlang von drei Argumenten entfalten. Das Œuvre von Joseph Beuys – so sei vorausgeschickt – erfüllt in diesem Kontext nicht die Funktion eines Vorbildes, denn die in der DDR geborenen Künstler_innen suchten keine Annäherung als ›Jünger‹, sondern als ›Überlebende‹. Ihr Bezug auf die Beuys’sche Kunst lässt sich vielmehr mit der Figur des »Nachlebens«25deuten. Erst die Übersetzung und Aneignung des Œuvres durch die nachfolgende Generation lässt dieses im wahrsten Sinne des Wortes »fort- und weiterleben«26.
3 Aufführung von Devianz als antinormative Praxis Als der Westdeutsche Rundfunk am 6. Februar 1970 die Sendung Kunst und Antikunst zum Thema »Provokation – Lebensstoff der Gesellschaft« ausstrahlte, konnten die Fernsehzuschauer erleben, wie der Anthropologe Arnold Gehlen, der Kybernetiker Max Bense, der Architekt Max Bill und der Künstler Joseph Beuys zunehmend verschwitzt um einen zeitgenössischen Kunstbegriff rangen. Das dicht gedrängte Publikum begleitete diesen Schlagabtausch mit aufgekratzten Zwischenrufen und handgeschriebenen Diskussionsbeiträgen. Die erregte Atmosphäre des Abends zeugte von den intellektuellen und emotionalen Widerständen, die die Kunst in West23 Lybke: »Allez! Arrest!«, a.a.O., S. 121. 24 Ebd. 25 Vgl. Daniel Weidner: »Fort-, Über-, Nachleben. Zu einer Denkfigur bei Benjamin«, in: ders.; Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin Studien 2, Paderborn 2011, S. 161-178. 26 Ebd., S. 161.
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deutschland nach 1945 nicht nur bei Talk-Show-Besucher_innen, sondern auch bei avancierten Philosophen hervorrief. Die Provokation bildete darin ein zentrales Mittel, das Joseph Beuys jedoch ausgezeichnet beherrschte. Das Provozieren gehörte bekanntlich seit den publikumswirksamen Auftritten der Futuristen und Dadaisten zum ästhetischen Programm der Avantgarden, bildete doch die Herausforderung der Zuschauer_innen die Möglichkeit, über tradierte Bewusstseinsformen hinweg zu kommen. Was bleibt, ist ihre [der Fluxusbewegung] provokative Aussage, und die ist nicht zu unterschätzen, denn sie spricht alle möglichen Kräfte im Beschauer an, die über die irritierende Frage »was soll’s?« hinausführen könnten […]. Die Menschen müssen allmählich ja einmal provoziert werden. Wenn das alles schon so verhärtet ist, dann muss man das mal wirklich generell anstoßen, dass das alles mal hochkommt. Dann fangen sie auch an zu schimpfen. Von mir aus können sie auch schlagen, das macht nichts […]. Provozieren heißt hervorrufen. Das ist an sich schon ein Auferstehungsprozess, wenn etwas hervorgerufen wird.27 Zu den wiederkehrenden Provokationen gehörten in Beuys’ Fall nicht nur der Einsatz kunstfremder Materialien wie Filz, Fett oder Schwefel, sondern auch das Spiel mit langen Dauern, der auszehrende Einsatz des eigenen Körpers in Performances, die Arbeit an der Grenze von Laut und Schrei und nicht zuletzt seine komplexe Kunsttheorie. Provokation bezog sich demgemäß sowohl auf die künstlerische Praxis, als auch auf die Werke und die Künstlerperson selbst. Der bis in seine letzten Lebensjahre anhaltende Widerstand gegen den Künstler verdankte sich nicht zuletzt einem grundlegenden Hiatus zwischen Kunst und (bürgerlicher) Gesellschaft. In Beuys’ Persona – markiert durch Hut und Anglerweste – zeigte sich auf insistierende Weise jene Logik der Abweichung, die im 20. Jahrhundert zur zentralen Regel moderner Ästhetik avanciert war. Denn »Abweichung, Devianz, Digression, Perversion, Anomalie, Ausnahme, Widernatürlichkeit, Widrigkeit, Verletzung«28 bildeten die Marksteine eines Begriffsfeldes, mit dem sich 27 Joseph Beuys zitiert nach Volker Harlan; Rainer Rappmann, Peter Schata: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1984, S. 55-56. 28 Sergej Taskenov: »Die Normen der Abweichung«, in: ders. (Hg.): Außerhalb der Norm. Zur Produktivität der Abweichung, Paderborn 2016, S. 10-16, hier: S. 10.
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künstlerische Subjektivität als Kritik an Macht und Ordnung verstand. »Die Kennzeichnung des Künstlers als deviant – im Sinne der psychiatrischen Genie- und Wahnsinn-Debatte oder auch im Sinne des antibürgerlichen Selbstverständnisses«29 wurden, so die Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm, ab 1900 zum eigenständigen ästhetischen Wert und Merkmal von Künstler und Werk. Es griffe zu kurz, die Devianz nur als lebensweltlich-habituelle Abkehr von etablierten Lebensformen zu beschreiben; sie umfasst ebenso die Abweichung von den Traditionen der Kunst selbst. Die von den Avantgarden und Neoavantgarden praktizierte Neubestimmung von Formen, Funktionen und Produktionsregeln der Kunst bildete die Grundlage jener Autonomie, mit der sich in der Moderne das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft neu ausrichtete. Diesem grundsätzlichen Bruch, der das Künstlerische als kritisches und wiederständisches Potential bestimmte, hatten die sozialistischen Kunstdoktrinen mit den Formalismusdebatten bereits in den frühen 1950er Jahren eine Absage erteilt. Der antimoderne Gestus ostdeutscher Kunstideologie fand in der Verpf lichtung auf »Parteilichkeit«30 sein wirksamstes Zwangsinstrument. Wie viele dissidente Künstler_innen der DDR haben auch die Autoperforationsartisten gegen diese Zurichtung opponiert. Bedingt durch Gefühle »der Stagnation und Resignation, der Enttäuschung und der Hoffnungslosigkeit«31 – die sich in der politischen Endzeitstimmung der 1980er Jahre verschärften – suchte insbesondere die Künstler_innengeneration der Nachkriegsgeborenen nach radikalen Ausdrucksformen. Für sie war die DDR »eine Leiche, so tot, dass man sich nur noch lustig machen konnte«32 und die Auf lehnung gegen künstlerische Traditionen, Gebote und Normen geriet zur existentiellen Notwendigkeit. Bei den Autoperforationsartisten lag der Anschluss an die Radikalität von Beuys’ Œuvre nur auf den ersten Blick in motivischen und materiellen Bezügen. Sicher, auch die Dresdner Künstler_innen verwendeten organi29 Jutta Müller-Tamm: »Typologie und Abweichung in der Ästhetik um 1900«, in: Taskenov: Außerhalb der Norm, a.a.O., S. 155-167, hier: S. 155. 30 Vgl. Eugen Blume: »In freier Luft. Die Künstlergruppe Clara Mosch und ihre Pleinairs«, in: Günter Feist (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990, Köln 1996, S. 728-741. 31 Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977-1990, Göttingen 2018, S. 2184. 32 Else Gabriel im Gespräch mit Eckhart Gillen, zitiert nach Eckhart Gillen: Feindliche Brüder. Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990, Bonn 2009, S. 441.
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sche Materialien – wie Butter und andere Fette – sowie physische Reste wie Erbrochenes. Auch lassen sich in Görßʼ Ascheplastiken Analogien zu Beuys’ Gestaltungsprinzipien des durch Wärmezufuhr verursachten Einschmelzens und Verklebens finden und in Brendels Schweißtuch oder dem Osterkalender auf dem Dielenboden deuten sich Elemente christlicher Liturgie an. Nicht zuletzt ist Else Gabriels Einbeziehung von ELKE – der geretteten Laborratte – Zeugnis für eine Kunst, die mit (lebenden) Tieren als künstlerischen Aktionspartnern nach einem anderen Tier-Mensch-Verständnis strebt – eine Haltung, die vor allem durch Beuys’ Performances in der Kunst der Nachkriegszeit Verbreitung fand. Vor allem aber formuliert Allez! Arrest! Kritik an einem objektzentrierten Kunstbegriff und setzt an die Stelle von Werken einen mehrtägigen, zum Teil intimen Prozess. Prozessuale und aktionistische Formen jenseits der institutionalisierten Kunst galten in der DDR als brisant und kritisch, weil ihr intermedialer Charakter, die unklare Zuordnung zu einer künstlerischen Gattung und ihr hoher Anteil an abstrakten Formelementen gegen die staatlichen Vorgaben zur mimetischen Wiedergabe der Welt verstießen.33 Das Arbeiten mit nichtkünstlerischen Materialien, die Übermalung und Entstellung der eigenen Foto-Portraits oder die lauten überschrieenen Noise-Konzerte der drei Künstler_innen zeigten nur allzu deutlich, dass die Autoperforationsartisten den Weg des klassischen Bühnenbildstudiums ausgeschlagen hatten. Ihre Kritik ließe sich deshalb am sinnvollsten als Aufführung von Devianz beschreiben, d.h. als öffentliche Sichtbarmachung einer emanzipierten Gesellschaft, wie Adorno sie in der Minima Moralia beschrieben hat: »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, […] sollte […] den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.«34
33 Vgl. Rehberg: »Verkörperungs-Konkurrenzen«, a.a.O. 34 »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte stattdessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« Theodor W. Adorno: Minima Moralia, §66 »Melange«, Frankfurt a.M. 1987, S. 130-131.
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4 Vulnerabilität als antihegemoniale Geste Als aktionistische Kunstform kann Allez! Arrest! auch als kongeniale Antwort auf Beuys’ Idee der sozialen Plastik gelesen werden. Unter dem Begriff Plastik hatte der Künstler bekanntlich universales, sowohl in Kultur- als auch in Naturprozessen wirkendes Prinzip der Generierung und Transformation verstanden. Als dynamischer und zugleich reversibler Prozess der Gestaltgenese, der die Ebenen Energie, Bewegung und Form umfasst, erstreckte sich das Plastische bei Beuys sowohl auf wahrnehmbare als auch auf nicht wahrnehmbare Bereiche und schloss materielle Formen ebenso ein wie prozessuale Aktionen. Jede noch so schwere oder große Plastik wäre demnach eine »statische Aktion« – sie wird zu »eine[r] Art Kraftwerk«35, das auf die Betrachter_innen wirkt und selbst von Kräften durchzogen ist. Im Umkehrschluss bestimmte der Künstler: Handlungsvollzüge haben plastischen Charakter. Denn jede Aktion ist zugleich eine bewegte Skulptur oder eine soziale Plastik, in der die Gestaltungsprozesse als öffentliche kollektive Ereignisse aufgeführt werden. Das Kochen einer Suppe, das Unterrichten von Studierenden oder die Bepf lanzung Kassels mit 7000 Eichen unterlag deshalb keiner Kunst/Nichtkunst Differenz, sondern stellte »Parallelprozesse« in einem sich teleologisch entwickelnden Universum dar.36 Aus der Perspektive von Beuys’ Theorie lässt sich die Aktion Allez! Arrest! als ein plastischer Prozess deuten, bei dem künstlerisches Gestalten unter asketischen Bedingungen gemeinsam mit dem Publikum ausgelotet wurde. Der Verlauf und das Ziel dieses Prozesses wurden täglich neu bestimmt und unterlagen augenscheinlich einer sich steigernden Dynamik: Während die Künstler_innen mit den jeweiligen Ergebnissen ihrer Tagesproduktion Einblicke in den Arbeitsprozess gaben, stieß allabendlich immer mehr Publikum hinzu, um Teil an deren selbstgewähltem Insel-Dasein zu haben. Als besonders aufschlussreich scheint hier die Tatsache, dass Brendel, Gabriel und Görß an die Stelle inszenierter Totalautonomie den materiellen und kommunikativen Austausch mit den Besucher_innen setzten. Mit der allabendlichen Öffnung für das Publikum entstand ein unbestimmbarer und offener Raum des Miteinanders, der durch eine alternative Ökonomie gekennzeich35 Beuys zitiert nach Vischer: Joseph Beuys, a.a.O., S. 170. 36 Zu Kontext und Theorie von Beuys’ Plastikbegriff vgl. Barbara Gronau: Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München 2010, S. 46-58.
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net war. Hier setzten sich die Eingeschlossenen nicht nur dem ästhetischen Urteil der Anderen aus, sondern unterstellten sich in gewissem Maße deren Fürsorge. Das Publikum sorgte mit Zwiebeln und anderen Esswaren für das Überleben der Künstlerinnen und damit für den Fortbestand des Selbstexperiments. Nicht umsonst stand bereits vier Jahre zuvor auf den Einladungen zum ersten kollektiven Treffen der alternativen Prenzlauer Berg Autor_innen: »ERSCHEINEN SIE ALLEIN MIT IHREN DICHTUNGEN UND PROVIANT«.37 Dieses alternative Tauschprinzip, das an die Stelle von Geldwerten eine Form des caring setzte, unterstrich die Sehnsucht nach Eigenständigkeit von Kunstschaffenden jenseits staatlicher Kontrolle. Mit der Öffnung für einen Prozess der Unbestimmbarkeit, der durch gegenseitige Wahrnehmung und Solidarität geprägt war, zeigten sich die Autoperforationsartisten als verwundbar. Das vielleicht stärkste Bild dieser Verwundbarkeit war die Selbstbetäubung der Künstler_innen am ersten Performancetag, durch die das Publikum bei seinem Eintritt auf drei schlafend wehrlose Körper traf. Gegen die Überbietungslogik hegemonialer Herrschaft – und in durchaus anderer Weise als in ihren selbstzugeführten Körperverletzungen – lässt sich diese Vulnerabilität mit Lévinas als ein »Sein-für den-Anderen«38 begreifen. Erst in der Begegnung, Anerkennung und Verantwortung für den/die Anderen zeigt sich die Interdependenz jeder Subjektkonstitution, nämlich kein ›Ich‹ unverletzlich oder autonom denken zu können. Beuys’ Appell Zeige deine Wunde mag hier als künstlerischer Resonanzraum gewirkt haben.
5 Selbst-Restriktion als Subversion Der Dichter Durs Grünbein hat zurecht darauf hingewiesen, dass das Herstellen einer »Zwangslage«39 in Allez! Arrest! vom amerikanischen Happening ebenso weit entfernt war wie vom konventionellen Schauspiel. Mit dem Gestus der freiwilligen Selbsteinschließung standen die Autoperforationsartisten dennoch in einer langen Geschichte der Performancekunst in Ost 37 Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, a.a.O., S. 2132. 38 Vgl. Carla Schriever: Der Andere als Herausforderung. Konzeptionen einer neuen Verantwortungsethik bei Lévinas und Butler, Bielefeld 2018. 39 Durs Grünbein: »Protestantische Rituale. Zur Arbeit der Autoperforationsartisten«, in: Eckhart Gillen; Eckhardt Hamann (Hg.): Kunst in der DDR, Köln 1990, S. 309-318, hier: S. 309.
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und West. Von den Wiener Aktionisten und ihrer viertägigen Malaktion im Wiener Perinetkeller (Wien 1962) über Chris Burdens Five Day Locker Piece (Los Angeles 1971) bis zu Tehching Hsiehs Cage Piece (New York City 1978-79) reichen die bekannten Beispiele westlicher Performancekunst, die wir etwa mit Marina Abramovićs 12-tägigem House with the Ocean View (Sean Kelly Gallery NYC 2002) mühelos bis ins 21. Jahrhundert verfolgen können. Doch auch in Osteuropa findet sich das Motiv, etwa in der Aktion »Zoo – Homo Sapiens« von Rimma Gerlovina und Valeriy Gerlovin (Venedig 1977) oder bei View of the Valley des tschechischen Künstlers Jan Mlčoch (Prag 1976). Als Referenz an Joseph Beuys ließe sich im Falle der Autoperforationsartisten vor allem die bekannte Aktion I like America and America likes me (1974) erinnern, bei der Beuys sich bekanntlich fünf Tage mit einem Coyoten in der René Block Galerie in Manhattan einschloss und täglich vom Publikum hinter Draht beobachtet werden konnte. Die Aktionskunst ist, entgegen ihrem aktivistischen Selbstverständnis, durch eine Vielzahl von Techniken der Zurückhaltung geprägt. Dabei beschränkt sich die Zurückhaltung nicht nur auf die künstlerische Entscheidung, etwas zu unterlassen, sie erschöpft sich auch nicht in einer Reduktion der Darstellungsmittel, wie dies für die Minimal Art oder die Arte Povera kennzeichnend ist, sondern die Zurückhaltung wird als physischer Akt ausgestellt, d.h. am und mit dem eigenen Körper vor einem Kollektiv in Szene gesetzt. Dabei lassen sich verschiedene Techniken unterscheiden, die von der Integration traditioneller Kulturtechniken der Askese (wie Nahrungsentzug, meditative Versenkung und das sich einer widrigen Umwelt Aussetzen) über den Einsatz von Instrumenten und technischen Hilfsmitteln zur Behinderung oder Arretierung des Körpers bis zur Erstarrung der Darsteller_innen zum Bild oder Objekt in tableaux vivant und living sculpture reichen. Obwohl es sich also bei der Selbsteinschließung um ein historisch und kulturell übergreifendes Darstellungsprinzip handelt, zeigt der Vergleich, dass sein semantischer Gehalt vollkommen differiert. Denn die bei Beuys als Übergangsritual, bei den Wiener Aktionisten als Laborsituation und bei Chris Burden als Körpererfahrung lesbaren Performances assoziieren nicht nur völlig andere räumliche Konstellationen, sondern formulieren auch völlig unterschiedliche Ansätze von Kritik. Während beispielsweise Beuys mit dem Coyoten explizit auf den Umgang der weißen Kolonisatoren mit den amerikanischen Ureinwohnern kritisch hinwies, verstand das Ehepaar Gerlovin seine Performance als »symbol of the encage-
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ment of Russian culture by the Soviet regime«40. Beide nutzten jedoch den Zoologischen Garten als szenische Form. Für die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Ost- und Westkunst (aber auch von den verschiedenen Künsten innerhalb des Ostblocks) heißt das: Misstraue der Analogie! Versteht man die Performance der Autoperforationsartisten als kritischen Beitrag zu Kunst und Leben, so muss man ihre anderen Bedingungen, Gegenstände und semantischen Regeln offenlegen. Zwei Aspekte scheinen hier bedeutsam: das Prinzip der ›subversiven Affirmation‹41, bei der durch Wiederholungen und Zitate offizieller politischer Doktrinen deren Semantik negiert wurde, und das Prinzip der Restriktion als Adressierung der politischen und sozialen Bedingungen künstlerischer Praxis. Gemeinsam ist den verschiedenen künstlerischen Selbsteinschließungen das Moment der Prüfung, d.h. die Dimension der ›Endurance‹42. Im Aushalten von räumlicher Isolation, in der Einschränkung von Bewegung, Nahrung oder Kommunikation, im Eingesperrtsein mit lebenden oder toten Tieren oder in der Selbstexponierung vor Publikum werden Praktiken der Restriktion eingesetzt, die in einer langen Tradition asketischer Ichüberwindung stehen.43 In der politischen Situation des Eingeschlossenseins der DDR – die durch Reiseverbot, Kommunikationsbeschränkung und Zensur gekennzeichnet war – gewannen Selbsteinschließungen ihre politische Brisanz durch den impliziten Verweis auf eben diese staatlich verfügten Beschränkungen. Der Kunstraum in Allez! Arrest! doppelte den Zustand des täglichen Lebens und rührte damit an das stärkste Tabu der DDR, nämlich den sogenannten ›antifaschistischen Schutzwall‹ als System der Abriegelung, in dem es auszuhalten galt. Weil eben diese Mauer – ebenso wie jedes Gefängnis – offiziell mit Darstellungsverboten belegt war und weder Fotos, Filme noch 40 Rimma Gerlovina; Valeriy Gerlovin: Zoo – Homo Sapiens, in: www.reactfeminism.org/en try.php?l=lb&id=57&e=a (letzter Zugriff: 01.01.2019). 41 Zum Begriff vgl. Inke Arns; Sylvia Sasse: »Subversive Affirmation. On Mimesis as Strategy of Resistance«, in: IRWIN (Hg.): East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe, London 2006, S. 444-455. 42 Vgl. Anonym: »Endurance Art«, in: Performing Arts Journal 18:3 (1996), S. 66-70. 43 Vgl. Barbara Gronau: »Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis«, in: Barbara Gronau; Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld 2010, S. 129-146.
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grafische Bilder erlaubt waren, war schon der Titelbegriff »Arrest!« eine Provokation. Beim Arrest handelt es sich nämlich um eine Strafe innerhalb einer Disziplinierungseinrichtung wie dem Militär, dem Gefängnis oder einer Jugendvollzugsanstalt, d.h. um eine Situation von Gefängnis im Gefängnis. Die kleinste Zeiteinheit eines solchen Freiheitsentzuges war – nach §3 des Strafgesetzbuches der DDR 1962 – die Dauer von zehn Tagen. Sie konnte sowohl über Individuen als auch über Gruppen verhängt werden und war an die Restriktion von Nahrung und Kommunikation gekoppelt.44 Mit dem freiwilligen »Arrest« nahmen die Autoperforationsartisten also ironisch vorweg, was der Staat als höchste Strafe über sie verhängen konnte: ihre Inhaftierung. Diese künstlerische Taktik der subversiven Affirmation, gewährte den Künstler_innen mithin eine Freiheit genau da, wo sie als Vorführen von Unfreiheit auftrat: in der Selbstaneignung der Geste staatlicher Souveränität.
6 Zusammenfassung Die spannungsgeladene deutsch-deutsche Situation des Kalten Krieges ist in den Künsten beider Staaten während der Nachkriegszeit spürbar. Für die in der DDR lebenden Künstler_innen verlief die sozialistische Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse in einem vielfach abgeschlossenen Raum, in dem Bestrebungen nach Autonomie und Emanzipation zumeist in Repressionen endeten. Trotz dieser Verhältnisse gelang es immer wieder, das Verhältnis von Macht und Ohnmacht um Formen von Gegenmacht zu ergänzen, in der andere Wirklichkeiten sichtbar gemacht wurden. Die Künste bildeten ein solches Feld der Verweigerung und des Dissens. Das Œuvre der Dresdner Künstlerverbindung Autoperforationsartisten zeugt von der Radikalität und Vielfalt dissidenter Künstlerpositionen in der DDR kurz vor ihrem Ende. Ihre Performances gaben »dem Zustand quälenden Schweigens einen Körper, erzeug[t]en fortwährend neue Unklarheiten, Fakes, Farcen und Verwir-
44 Vgl. Rüdiger Wenzke: Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzuges, Reihe: Forschungen zur DDR Gesellschaft, Berlin 2011, S. 183-184. Wichtig erscheint der Hinweis, dass der Arrest vor allem eine in der DDR verhängte Strafe war, in anderen Staaten des Warschauer Paktes wurde zumeist schwere körperliche Arbeit in sog. Sonderbataillonen verhängt.
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rung«45 – wie Eckhart Gillen zu Recht bemerkt hat. In der Wahl von Aktionen und Performances als bevorzugter Darstellungsform provozierten die Künstler_innen nicht nur durch die Überschreitung von inhaltlichen, gattungstheoretischen und formalen Vorgaben der damaligen Kunstideologie. Sie suchten zugleich den Anschluss an die von der herrschenden Kunstgeschichtsschreibung verdrängten oder tabuisierten ästhetischen Prinzipien der Moderne. Für die Frage: Wie können die Künste in kritischer Weise Machtverhältnisse ref lektieren? lässt der vergleichende Blick auf das Œuvre von Joseph Beuys und dessen ›Nachleben‹ in den Aktionen der Autoperforationsartisten interessante Schlüsse zu. Ebenso wie Beuys verstanden es auch die in der DDR geborenen Künstler_innen, ihre Auftritte als provozierende Aufführungen von Devianz in Szene zu setzen, die den staatlichen Normierungsvorgaben zuwiderliefen. Ebenso wie Beuys suchten auch die Dresdner Studierenden nach Zuständen der Verwundbarkeit, Offenheit und Solidarität als Gegenbilder zu den politischen Verkrustungen beider deutscher Staaten im ausgehenden 20. Jahrhundert. Und nicht zuletzt standen die von ihnen gesuchten Formen der Selbstbeschränkung in einer Tradition der Zurückhaltung und Askese, die als Gegenmodelle moderner Aktions- und Schaffensutopien gelten können. Trotz zahlreicher formaler Analogien zeigt jedoch gerade dieser Bezug, wie stark der politische Rahmen für eine Analyse von ›Ostkunst‹ und ›Westkunst‹ einzubeziehen ist. Während die Selbstbeschränkung bei Beuys letztlich einem spirituell gedachten Heilungsprozess galt, führten die Autoperforationsartisten »protestantische Rituale«46 dezidiert ohne einen Erlösungsanspruch auf. Für sie wurde die Selbstrestriktion zur affirmativen Subversion, also zur Umkehrung herrschender Droh- und Machtgebärden durch ihre (ironische) Selbstanwendung.
45 Gillen: Feindliche Brüder, a.a.O., S. 441. 46 Vgl. Grünbein: »Protestantische Rituale. Zur Arbeit der Autoperforationsartisten«, a.a.O.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1-2. Eröffnung der Ausstellung Beuys vor Beuys im Ost-Berliner Marstall 1988. © bpk/Bundestsiftung Aufarbeitung. Fotografie: Klaus Mehner. Abb. 3-6. Rainer Görß, Else Gabriel, Micha Brendel: Allez! Arrest! (1988). © VG Bild-Kunst Bonn. Fotografie: Uwe Frauendorf. Quelle: Judy Lybke: »Allez! Arrest! Aktion der Autoperforationsartisten Michael Brendel, Else Gabriel und Rainer Görss in der Werkstatt-Galerie Eigen+Art«, in: Niemandsland. Zeitschrif t zwischen den Kulturen, Jg. 3, Heft 8/9 (1989) S. 116-123.
Sichtbarkeit als Kritik Subversive Körperbilder bei Gabriele Stötzer und Cornelia Schleime Astrid Hackel
Abb. 1: Gabriele Stötzer: Abwicklung Eine unbekleidete Frau steht mit selbstbewusstem Blick vor einer mit Papier bespannten Wand. Die Vorderseite ihres Körpers ist mit einer undefinierbaren Substanz bestrichen, deren Konsistenz und Opazität verdünnter Far-
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be ähneln.1 Weitere Aufnahmen suggerieren, dass sie ihren Körper an der Wand entlang abrollt, wo die aufgetragene Farbe ein schemenhaftes Bild hinterlässt. Die Aneinanderreihung der Aufnahmen erweckt den Anschein einer Sequenzialität, einer fotografisch dokumentierten Abfolge eines inszenierten und in Einzelbilder zerlegten zeitlichen Vorgangs (Abb. 1).2 Bei der Serie handelt es sich um die Arbeit Abwicklung der Künstlerin Gabriele Stötzer, die hier als ihr eigener ›lebendiger Pinsel‹ fungiert. Sie entstand 1983 in Kooperation mit der Fotografin Heike Stephan in Stötzers Atelier in der Erfurter Altstadt. Die Diversität von Stötzers künstlerischer Arbeit hat spätestens die 2013/14 in Weimar gezeigte Werkschau Schwingungskurve Leben vor Augen geführt.3 Es gibt wohl kaum ein Genre, mit dem sich Stötzer seit ihren Anfängen in den späten 1970er Jahren nicht auseinandergesetzt hat. Zunächst noch unter dem Namen Kachold schuf sie Grafiken, Tafelbilder und Collagen, stellte Textilien und Keramiken her, filmte und fotografierte, schrieb experimentelle Gedichte und Prosa und war bis in die 1990er Jahre hinein in kollektive Kunstaktionen involviert, die ihrem Interesse für die Ereignishaftigkeit und Körperlichkeit sowie für das Verhältnis von Weiblichkeit und Kunst Rechnung trugen. Ihre gerade in diesen Kunstaktionen und in literarischen Experimenten zutage tretende Verweigerung gegenüber dem offiziellen Gattungsdenken zeigt sich auch in dieser Fotoarbeit, die zwischen dem Eindruck einer dokumentierten Performance (vor Publikum) und einer Fotoperformance (exklusiv für die Kamera) changiert und so oder so gegen die Erfüllung der nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 aus der DDR wieder verengten Kunstdoktrin verstieß.4 1 Es handelt sich um Ketchup, aber dies ist auf den Fotos weder erkennbar noch von Bedeutung für die hier verhandelte Fragestellung. 2 Zum Zusammenspiel von ›Zeitbild‹ und ›Standbild‹ in Performances vgl. Verena Kuni: »Vom Standbild zum Starschnitt. Überlegungen zur Performanz eines Mediensprungs«, in: Christian Janecke (Hg.): Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin 2004, S. 209-246. 3 Zur Ausstellung, die vom 29.11.2013 bis 05.01.2014 im Schiller-Museum in Weimar stattfand, ist ein umfassender Katalog erschienen: Ulrike Bestgen; Wolfgang Holler (Hg.): Gabriele Stötzer. Schwingungskurve Leben, Weimar 2013. 4 Ein Verstoß, insofern es im Verband Bildender Künstler (VBK), dem anzugehören für Kunstschaffende in der DDR von großer Bedeutung war, keine ereignis- und prozessorientierten Kunstformen gegenüber aufgeschlossene Sektion gab. Zur begrifflichen Unterscheidung von Performance und Fotoperformance vgl. Philip Auslander: »On the Performativety of
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Im Folgenden soll es ausgehend von Abwicklung und weiteren Arbeiten Stötzers sowie der Anfang der 1980er Jahre ebenfalls in der DDR aktiven Künstlerin Cornelia Schleime um die Frage gehen, inwiefern der jenseits von Body Art auch für andere künstlerische Artikulationen charakteristische Einsatz des Körpers als Material und Werkzeug bis hin zur (inszenierten) Entsagung als Kritik und Überwindung der Reglementierung künstlerischer Praxis gelesen werden kann. Der Fokus richtet sich vor allem auf prekäre Blickkonstellationen und Formen des Sehverlusts als Sujets, die Konzepte und Strategien einer auf Anerkennung zielenden Sichtbarkeit ref lektieren und verändern.5 Bemerkenswert sind vor allem mit Blick auf die von Stötzer aufgerufenen Wahrnehmungsbilder die Interferenzen zwischen ihrem künstlerischen und ihrem bis heute kaum aufgearbeiteten literarischen Schaffen. In der Gegenüberstellung lässt sich eine Wendung vom in den Texten verhandelten Gefühl der Erniedrigung zu einer in den bildbasierten Arbeiten zum Ausdruck gebrachten subversiven Praxis nachzeichnen, weshalb es sich lohnt, literarische Beispiele in die Überlegungen einzubeziehen. In Anbetracht der machtvollen epistemologischen Verbindung zwischen einer verstärkt visuell erfahrbaren Umwelt und kulturgeschichtlich daraus abgeleiteten visuell kodierten Erkenntnisprozessen sind Blick- und Blindheitsmetaphern bei den beiden genreübergreifend arbeitenden Künstlerinnen über das persönliche Erleben hinaus als Teil der politischen und ästhePerformance Documentation«, in: Barbara Clausen (Hg.): After the Act. The (Re)Presentation of Performance Art, Wien 2007, S. 21-34. Basierend auf einem Symposium zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 04.11. bis 04.12.2005 im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien stattfand. Was das kulturelle Klima in den 1970er Jahren betrifft, so gab es nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 eine Phase der relativen Liberalisierung in Kunst und Kultur. Honecker hatte bei seiner Rede auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED den oft zitierten Satz geäußert, dass es »auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben« könne, »[w]enn man von der festen Position des Sozialismus« ausginge (als Digitalisat online unter www.argus.bstu.bundesarchiv.de/dy30bho/ index.htm?kid=d5ceedf0-6b4b-482f-83ac-4192751495e7 (letzter Zugriff: 09.10.2017). Das einschneidende Ereignis der Biermann-Ausbürgerung brachte die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zum Ausdruck. Zum kulturellen Klima nach der Biermann-Ausbürgerung vgl. Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise, Berlin 2016. 5 Zum Motiv der Verschnürung und Vermummung bei Künstlerinnen aus der DDR vgl. auch: Angelika Richter: »In Eigenregie. Künstlerinnen aus der DDR und die Expansion ihrer Kunst in Performance und Aktion«, in: dies.; Beatrice E. Stammer; Bettina Knaup (Hg.): und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR, Nürnberg 2009, S. 19-32.
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tischen Aushandlung von kollektiven Erfahrungen der Entmündigung, der Einengung und der Überwachung bis hin zur offenen Repression in der DDR zu befragen. Ihr Rückgriff auf Motive und Metaphern aus dem kulturgeschichtlichen Fundus einer als gefährdet empfundenen Wahrnehmung ist, wie zu zeigen sein wird, in besonderer Weise mit den Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR der späten 1970er und 1980er Jahre verbunden – ohne freilich darin aufzugehen. Anstelle einer kausalen Verknüpfung wird vielmehr ein Wirkungszusammenhang angenommen, in dem sich Gefühle der Unterdrückung und die Auf lehnung dagegen wechselseitig verstärken. Die wechselseitige Wirkung ist ein entscheidendes Moment für die Äußerung und Identifikation von Kritik, ob diese nun explizit gemeint oder aus heutiger Perspektive auf künstlerische Artikulationen projiziert wird, die vor allem formalästhetisch vom ›Realismus-Diktat‹ abwichen. Vielen Kunstschaffenden und Intellektuellen ging es vor dem Hintergrund eines an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Fragen von demokratischer Partizipation weitgehend desinteressierten Systems weniger darum, Kritik an partikularen Gegebenheiten zu üben als schlicht um die Auslotung der (engen) Grenzen künstlerischen und zivilen Handelns in Form einer kritischen Praxis.6 Die hier auf ihren subversiven Gehalt befragten Arbeiten sind vor diesem Hintergrund zu sehen.
6 Gabriele Stötzer konnte nicht öffentlich ausstellen, weil sie nicht im VBK organisiert war; Cornelia Schleime führt zu ihrem faktischen Ausstellungsverbot ab 1981 aus: »Wir haben schon während des Studiums illegale, also nicht angemeldete Ausstellungen gemacht. […] Aber es war ja nicht so, dass jemand an die Tür geklopft und gesagt hätte: ›Frau Schleime, Sie haben jetzt Ausstellungsverbot.‹ Das merkte man über einen anderen Weg, zum Beispiel an geplanten Ausstellungen, die dann plötzlich abgesagt wurden.« Zit. nach: Kim Mildebrath: »Biografie«, in: Thomas Köhler; Stefanie Heckmann (Hg.): Cornelia Schleime. Ein Wimpernschlag. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 25.11.2016 bis 24.04.2017 in der Berlinischen Galerie, Berlin 2016, S. 135-137, hier: S. 135. Vgl. außerdem Schleimes Stellungnahme zur Zensur ihres Beitrags zur sogenannten Türenausstellung, der Gruppenausstellung Dezennien I 1979 im Leonhardi-Museum in Dresden: »Immer wenn das Leben so intensiv wurde, griff ich zum Film. Cornelia Schleime im Gespräch mit Karin Fritzsche«, in: dies.; Claus Löser (Hg.): Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976 – 1989, Berlin 1996, S. 66-74, hier: S. 68.
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1 Kritik am männlichen Blick
Abb. 2: Gabriele Stötzer: Abwicklung Wie in anderen Fotoarbeiten Gabriele Stötzers betont Abwicklung die ausgeprägte Bindung des Körperlichen an die Präsenz des Weiblichen und an eine Lenkung des Blicks, die die voyeuristische Motivation männlich kodierter Rezeption unterläuft.7 Das zeigt sich vor allem im Vergleich mit den gut zwanzig Jahre früher entstandenen Anthropometrien von Yves Klein, bei denen der Künstler unbekleidete Modelle als ›lebendige Pinsel‹ einsetzte, deren mit blauer Farbe bemalte Körper sich auf einer Leinwand abdrückten. Auch diese Arbeiten wurden filmisch und fotografisch dokumentiert. Der performative Charakter ihrer Entstehung, die zum Teil in Galerien und vor Publikum stattfanden, sollte zur Auratisierung der Bilder beitragen. Im Unterschied dazu lässt Stötzers Fotoserie weder auf ein Publikum schließen noch auf eine_n Regisseur_in, die Farbe auf fremde und als solche zum Werkzeug reduzierte Körper aufträgt, wodurch die selbstbewusst in 7 Vgl. etwa die seriellen Fotoarbeiten Heilerde, Spiegelreflexion oder Das Loch, Körperlinien, Verknüpfung, Abbildungen dazu in: Ulrike Bestgen; Wolfgang Holler (Hg.): Gabriele Stötzer. Schwingungskurve Leben, Weimar 2013, S. 89-91, 94-95, 100.
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die Kamera blickende Protagonistin in ihrer autonomen Position akzentuiert wird. Es ist nicht der Blick auf den Körper, sondern der (Gegen-)Blick eines ›souveränen‹ Subjekts, der hier in Szene gesetzt wird. Er hält einem privilegiert männlichen Betrachterblick stand und verweigert sich seiner Exklusivität auch durch einen bewussten Entzug, denn er rekurriert auf das nahende Verschwinden, das durch die in stills übersetzten, fotografisch dokumentierten Posen des nackten, unregelmäßig mit Farbe versehenen Körpers inszeniert wird. In physischem Kontakt mit der Wand kommt das Modell ihr näher, presst sich an sie und weicht wieder von ihr zurück. Während die Bildfigur auf dem drittletzten Foto ihren vor der gestalteten Wand hingestreckten Körper der Betrachter_in darbietet, zeigt die vorletzte Aufnahme sie auf dem Rücken liegend, den Blick steil nach oben gerichtet, die Arme entspannt zur Seite (Abb. 2); sie wirkt erschöpft oder zufrieden nach Vollendung des vom Leib gezeichneten Bildes, das schließlich im Zentrum der letzten Fotografie steht. Dieses letzte Foto offenbart vor allem eines: die am Ende der Folge umso präsenter wirkende Abwesenheit des bildgebenden und blicklenkenden Körpers – eine Leere, die nun, da die wie an Händen sich haltenden, vervielfachten Torsi das Bild dominieren, das Gespenstische dieser Serie freigibt: den von Schmierspuren und Rinnsalen gebildeten, erweiterten schemenhaften Abdruck einer Person, die nur noch als ›Nachbild‹ existiert, während das ganze Setting auf sie, die Abwesende, hindeutet. Vom selbstbewussten (Gegen-)Blick über die sichtbare Spuren erzeugende Arbeit an einer aufragenden, widerständigen Fläche bis hin zum Verschwinden wirkt Abwicklung wie ein kritischer Kommentar zu den Anthropometrien. An die Stelle der spektakulären Zurschaustellung tritt hier nicht nur die selbstbewusste Reklamation des Körpers, sondern auch das Unheimliche, das dem Vorgang einer bürokratischen Abwicklung eignet. Ungleich vielschichtiger, wird die formale Nähe zu Kleins Anthropometrien, die Stötzer nach eigener Aussage ebenso wenig bekannt waren wie die Body-Art-Arbeiten der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta,8 durch die ästhetisch-diskursive Verwandtschaft zu letzterer noch übertroffen. Mendieta hatte in ihren zwischen 1973 und 1981 entstandenen Siluetas-Serien Abdrücke ihres Körpers auf Laken, in Schnee und Schlamm fotografisch dokumentiert. Die Fotografien halten die sichtbare Abwesenheit des Körpers in Form von Vertiefungen oder Erhöhungen, als Schatten, Abdruck oder Negativ fest 8 Vgl. Gabriele Stötzer im Gespräch mit der Autorin im März 2015.
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und verstärken damit die Sehnsucht nach einer (weiblichen) Präsenz, wie sie Kleins Modelle niemals hätten behaupten können.
2 Repression Stötzers Kritik am männlichen Blick erhielt durch ihre Erfahrungen mit einem autoritären Staatsapparat, mit Demonstrationen von Macht und Willkür, ihre Kontur und Schärfe, weshalb im Folgenden Zusammenhänge zwischen diesen Repressionserfahrungen und ihrer künstlerischen Bearbeitung skizziert werden. Auffällig ist, dass Stötzer im Medium der Literatur Gewalterfahrung an sich thematisiert, während ihre Fotoserien ein in dieser Erfahrung liegendes emanzipatorisches Potenzial herausstellen. Gabriele Stötzer, 1953 in Thüringen geboren, studierte an der Pädagogischen Hochschule Erfurt die Fächer Deutsch und Kunst und musste die Hochschule verlassen, weil sie gegen die vorangegangene Exmatrikulation eines Kommilitonen protestiert hatte. Noch im selben Jahr unterstützte sie die in einem offenen Brief vorgebrachte Bitte prominenter Berliner Literaturund Kunstschaffender, darunter Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun und Stefan Heym, die Ausbürgerung des linken, aber eben DDR-kritischen Liedermachers Wolf Biermann durch die Regierung zurückzunehmen. Im Zusammenhang mit dieser Aktion wurde sie vom Staatssicherheitsdienst festgenommen, verhört und aufgrund ihrer Vorgeschichte, also der Exmatrikulation, als ›rückfällig‹ eingestuft. Im Unterschied zu zwei ebenfalls an der Aktion beteiligten und verhörten Freunden der Künstlerin erhielt Gabriele Stötzer eine einjährige Haftstrafe wegen »Staatsverleumdung«9. Ihr wurde die »öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung«10 vorgeworfen. Ein Vernehmungsprotokoll aus dieser Zeit hält fest, dass sie sich »über den möglicherweise vorhandenen Unterschied zwischen Kritik und Verächtlichmachung keine Gedanken gemacht habe«11, was die Schwierig9 Vgl. die auf Unterlagen der Staatssicherheit basierende Dokumentation »Eingeschränkte Freiheit.« Der Fall Gabriele Stötzer, hg. v. Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Roland Jahn, Berlin 2014, online unter: www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Publikationen/Publikationen/E_ bstu_eingeschraenkte-freiheit.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff: 30.08.2017). 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd., S. 31.
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keit, das Sag- und Machbare entlang der schwer voraussehbaren staatlichen Reaktionen auszuloten, zum Ausdruck bringt. Die einjährige Haft in Erfurt und im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck ist ein zentrales Thema in Stötzers Werk und wird von ihr selbst als Anstoß und Antrieb ihres Schaffens bezeichnet.12 Nach der Haft, also Ende der 1970er Jahre, konzentriert sich Stötzer zunächst auf das Verfassen literarischer Texte und experimentiert mit verschiedenen Kurzformen: Aphorismen, verschlüsselten Gedichten, tagebuchartigen Notizen, Prosaminiaturen. Wichtige Mentoren findet sie im Schriftstellerpaar Christa und Gerhart Wolf. Doch wie viele Literaturschaffende ihrer Generation erhält Stötzer in der DDR keine offizielle Publikationsmöglichkeit.13 Neben unveröffentlichten Manuskripten sind Beiträge in inoffiziellen Zeitschriften wie und, Mikado und Koma-Kino sowie eine Reihe selbst gefertigter Künstlerbücher überliefert: großformatige Hefte mit originalen Fotografien, Zeichnungen und Texten, meist Unikate. Während Vertreterinnen einer feministisch orientierten Kunstgeschichte Gabriele Stötzer längst in den Rang einer bedeutenden Künstlerin erhoben haben, ist ihr Status als Autorin bis heute umstritten. Birgit Dahlke kommt das Verdienst zu, bereits Anfang der 1990er Jahre viele ihrer Texte im Hinblick auf die besondere Schreibsituation von Autorinnen in der DDR befragt und ihre formalästhetischen Besonderheiten analysiert zu haben.14 Doch schon Dahlke benennt in ihrer Studie Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inof fiziell publiziert die vorrangig autobiografische Grundierung von Stötzers Texten bei Abwesenheit einer darüber hinausreichenden ref lexiven Ebene als Problem. So verkündet das literarische Subjekt in der Prosaminiatur »stierkampf meinerseits« auf programmatische Weise: »Es wird noch viele Geschichten geben und die heißen alle ich und ich.«15 Neben der Sperrigkeit ihrer Texte und ihrer spürbaren Aversion gegen jede Form der nachträglichen Bearbeitung dürften die stilisierte Selbstbespiegelung und der damit verbundene Bekenntnischarakter der Hauptgrund für die Stötzer bis heute vorenthaltene Aufmerksamkeit seitens der 12 Vgl. Gabriele Stötzer im Gespräch mit der Autorin im März 2015 13 Vgl. dazu Roland Berbig et al. (Hg.): Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der DDR nach 1990. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2001. 14 Vgl. Birgit Dahlke: Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert, Würzburg 1997. 15 Ebd., S. 285.
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Literaturwissenschaft sein. Anlass zum Schreiben ist für die Autorin zuerst das Bedürfnis, die Erlebnisse ihrer Haft, aber auch die Schwierigkeiten ihrer Rückkehr in die Gesellschaft literarisch zu verarbeiten. Sie entscheidet sich bewusst gegen ein geregeltes Dasein mit beruf licher und sozialer Absicherung, um als ›freie‹ Künstlerin und Autorin zu leben – wenn auch unter prekären Bedingungen.16 Ein weiteres Thema neben ihrer Haft ist Stötzers Unzufriedenheit darüber, dass sie in den nonkonformen Künstlerkreisen – für sie die einzige Alternative zur vorenthaltenen Öffentlichkeit – auf die gleichen patriarchalen Muster trifft, die sie an der realsozialistischen Gesellschaft stören. Ihre Texte thematisieren die Marginalisierung als Frau in einer patriarchalen Kultur, deren Auswirkungen bis in die subkulturellen Zusammenhänge hineinreichen, die von charismatischen Männern wie Sascha Anderson und Bert Papenfuß-Gorek dominiert werden. Falschheit und Verrat, mangelnde Solidarität und Empathie unter den DDR-kritischen Intellektuellen und Künstlern, sind allgegenwärtige Themen in Stötzers Lyrik und Prosa. Zu den bekanntesten Texten zählt ihr Prosagedicht Das Gesetz der Szene – eine Abrechnung mit den im Feuilleton der Nachwende bis zur Aufdeckung der Stasi-Tätigkeit von Anderson und anderen bewunderten Künstlern.17 Markant ist Stötzers Verhandlung existenzieller Konf likte im Modus des Körperlichen: der Fragmentierung und Verstümmelung von Organen und Extremitäten, was Dahlke dazu veranlasste, ausdrücklich von »Körpertexte[n]«18 zu sprechen.
3 Blindheit als Entmachtung Teil dieser ausgeprägten Körperlichkeit sind rhetorische Figuren der Blindheit. Sowohl Stötzers literarische als auch ihre fotografischen Arbeiten aus den frühen 1980er Jahren spielen auf gewaltsame Formen des Seh- und Gesichtsverlusts an – jedoch auf ganz unterschiedliche Weise. Während die
16 Anerkannt waren nur im VBK organisierte Kunstschaffende; die Voraussetzung für die Aufnahme war ein abgeschlossenes künstlerisches Studium. 17 Das Gesetz der Szene wurde am 05.03.1989 in der informellen Zeitschrift KONTEXT veröffentlicht. Online unter: www.kontextverlag.de/jansen.kachold.html (letzter Zugriff: 30.08.2017). 18 Dahlke: Papierboot, a.a.O., S. 141.
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Texte eher auf eine Entmachtung der Figur zielen, geht es in den Fotoarbeiten um eine subversive Aneignung dieses kulturgeschichtlichen Deutungsmusters, das Blindheit als eine Form der Strafe interpretiert.19 Im zweiseitigen Prosatext »Das Haus ist mein Bauch« (1983) erinnert ein weiblich kodiertes Subjekt in pathetischem Gestus an die sukzessive Enteignung seines häuslichen Eigentums und seines Körpers. Gleich am Anfang des Textes heißt es: Das Haus ist mein Bauch, ich habe euch den Schlüssel gegeben, damit ihr die Tür öffnen könnt. […] Was ihr mir zu beschützen gabt, habt ihr mir entrissen. Ich hatte nur das Blut, den Zucker, den Saft, die Tränen. Sie fließen aus mir heraus, in mich hinein, sie fließen durch mich hindurch und löschen alles Feuer, das ihr in mir entfacht hattet, und es wird Asche und Erde. In meinem Bauch, dem geschändeten Leib, wächst euer letztes Licht. Ich bewege mich in Dunkelheit, taste mich voran, ich begegne euch nicht. Wenn ihr mich seht, werdet ihr mich blenden, wenn ihr mich hört, reißt ihr mir die Zunge heraus, und in den Bauch stoßt ihr mir euer tanzendes Schwert. Euer Lachen gilt meiner Hässlichkeit, der zu schnell gealterten Haut, dem krumm gebogenen Rücken, dem ausgebleichten Blick. Ihr bekommt Angst, wenn ich euch erscheine, und ihr werft mit Steinen […].20 Stötzer entscheidet sich hier für eine Sprache, die in Begriff lichkeit, Wortstellung und Rhythmus an einen antiken Tragödienmonolog erinnert. Die rhetorische Ansprache an die Peiniger lädt das Selbstgespräch des literarischen Subjekts mit Pathos auf. Unabwendbar scheint der Absturz ins Unglück entlang einer Klimax symbolischer Grausamkeiten. Mit der Blendung aktualisiert die Autorin eine besonders drastische Form der Strafe, die vor allem mit der griechischen Mythologie und dem Alten Testament, mit Figuren wie dem sich selbst blendenden Ödipus oder dem gewaltsam geblendeten Samson assoziiert wird. Da Stötzer ihren Text weder zeitlich noch räumlich verortet und zudem keine Gründe für die besonders brutale Form der angekündigten Strafe anführt, kennzeichnet sie das literarische Subjekt als Opfer per se. Weiblich kodiert ist dieses prädestinierte Opfer aufgrund der moti19 Vgl. dazu Astrid Hackel: Paradox Blindheit. Inszenierungen des Sehverlusts in Literatur, Theater und bildender Kunst der Gegenwart, Berlin 2017, S. 10-17. 20 Gabriele Stötzer: »Das Haus ist mein Bauch«, in: dies.: Ich bin die Frau von gestern, Frankfurt a.M.; Wien; Zürich 2005, S. 100-101, hier: S. 100.
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vischen Verkettung von Vergewaltigung, Empfängnis und Schwangerschaft. Auffällig ist, dass Stötzer einen körperlichen Bezug zwischen der bloßen Sichtbarkeit der literarischen Figur und ihrer Blendung stiftet. Allein sich zu zeigen, impliziert hier schon eine Gefährdung der Existenz. Ähnliches gilt für das gewaltsame Unterbinden des Sprechens, das unabhängig seines Inhalts bereits als Gefährdung eines nicht näher benannten Diskurses der Herrschenden gewertet wird. Auch in anderen Texten der Autorin fungiert Blindheit als Mittel der Verstärkung eines durchscheinenden Opfernarrativs. So etwa in »nachtwache«, einem unveröffentlichten Text von 1989, in dem das literarische Subjekt an den Ort seiner Haft zurückkehrt: »vergessen die klappe zum essenentgegennehmen/händelos ich händelos kopf los augenlos menschenlos/im schweinskoben der zeit«21 oder in einem anderen Text von 1984, worin es heißt: […] deine unerfüllten gedanken hausen unter meiner haut und treiben das blut hervor […], überall drückt es gegen meinen körper, am schlimmsten […] gegen die augen, daß ich denke, sie sind schon ganz davongequollen und machen mich zum fisch lurch karpfen – vieh das ganz blind ist und bunt und die augen hängen in der luft und sind mit ihrem körper durch den langen glitschigen stil ihrer herkunft verbunden, die augen rennen davon […].22 Diese Beispiele zeigen, dass Blindheit kein prominentes Einzelthema in Stötzers literarischen Texten ist. Vielmehr forciert sie in Form eines strategisch eingesetzten Motivs einen thematischen Dualismus zwischen meist männlichen Tätern und einem weiblichen Opfer. In »Das Haus ist mein Bauch« muss dieses Opfer nach dem Verlust seines Eigentums und seiner körperlichen Integrität auch um seine sinnliche und geistige Unversehrtheit, den Verlust seines Ich bangen. Blendung als Strafe steht hier im Dienst der Viktimisierung und unterstreicht die umfassende Hilf losigkeit einer Figur, die sich all ihrer Hoffnungen und – bezeichnenderweise – ihrer Vision beraubt sieht. Ohne jede Hoffnung auf Zukunft, ist diese Figur förmlich zur steten Vergegenwärtigung der traumatischen Erinnerungen verdammt.23 21 Gabriele Stötzer: »nachtwache«, 1989, Privatarchiv Gabriele Stötzer. 22 Gabriele Kachold: »ich will nicht dieses es«, in: dies.: zügel los, Frankfurt a.M. 1990, S. 30. 23 In einem fürs Radio entstandenen Feature über das Frauengefängnis Hoheneck fragt sich Stötzer in ihrer doppelten Funktion als Autorin und Betroffene: »Warum ich? War-
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4 Ausweitung allegorischer Blindheit
Abb. 3-4: Gabriele Stötzer: Serie aus dem Künstlerbuch Die Blinden dirigieren das Chaos Das 1984 entstandene Künstlerbuch Die Blinden dirigieren das Chaos, eine Sammlung aus Schwarz-Weiß-Fotografien, Zeichnungen und handgeschriebenen Texten, lotet Möglichkeiten der Aneignung und Umdeutung einer allegorisch auf den Irrtum verweisenden Blindheit aus, die infolge dessen zu einer durchaus lustvollen Herausforderung ausgeweitet wird. Wie Schnappschüsse inszenierte Fotografien geben Einblicke in die Erfurter Punk- und Künstlerszene Anfang der 1980er Jahre, Mode und Lifestyle, Partys und die Lust an spielerischen Selbstinszenierungen (Abb. 3-4). Mehr noch als hier lassen sich diese künstlerischen Serien ein Jahr später in Stötzers Mackenbuch als sozialgeschichtlich kritisches Dokument beum jetzt? Warum dieses Thema immer wieder: Hoheneck, die Mörderburg, das berüchtigtste Frauengefängnis in der DDR? Warum holt mich das immer wieder ein?« Gabriele Stötzer: Das Frauenzuchthaus Hoheneck. Demütigung, Willkür, Verrat. Regie: Stefan Kanis, Redaktion: Kathrin Aehnlich. Ursendung bei MDR Figaro am 28.09.2011.
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Abb. 5: Gabriele Stötzer: Serie aus dem Künstlerbuch Mackenbuch fragen. Am Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald mit der zynischen Aufschrift »Jedem das Seine« inszeniert sich hier ein junger Mann als Gehängter, an anderer Stelle auf dem Gelände als ein Erschossener am Stacheldrahtzaun (Abb. 5). Aus der Wahl des Konzentrationslagers Buchenwald als Bühne ergibt sich ein Kontrast, wie er größer kaum sein könnte. Auf der einen Seite das zum Golgatha der ritualisierten DDR-Erinnerungskultur gewordene Konzentrationslager, auf der anderen die als bedrohlich angesehene, vom Westen eingesickerte nihilistische Punkbewegung. Die Verständnislosigkeit des die Inszenierung sofort unterbindenden Aufsichtspersonals ist nachvollziehbar. Direkter hätte die als Entweihung empfundene Attacke auf die moralische Legitimation des autoritären Staates nicht sein können, zumal die Inbesitznahme des öffentlichen Raumes spontan erfolgte und solche Spontaneität das System überforderte. Die Blinden – das sind in dem Zusammenhang Akteur_innen, die die zu Worthülsen erstarrten Wertvorstellungen spielerisch-kritisch infrage stellen und neue, das heißt vor allem private Räume jenseits öffentlicher Sphären erschließen und gestalten. Sie sind Protagonist_innen eines subkulturellen Milieus, die sich vom ›Vater Staat‹ emanzipieren und deren Le-
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Abb. 6: Gabriele Stötzer: Cover des Künstlerbuchs Die Blinden dirigieren das Chaos bensentwürfe im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Normen stehen. Die Erfurter Punks fungieren dabei weniger als Inbegriff denn als Stellvertreter für verschiedene subkulturelle, unabhängige oder klandestine Strukturen in der DDR. Als humorvoller Kommentar auf die Ausgrenzung unangepasster und selbstbestimmter Lebensentwürfe bis hin zu ihrer Kriminalisierung verweist Stötzers Künstlerbuch auf die selbstbewusste Aneignung von Räumen, Aktions- und Kommunikationsformen jenseits der Öffentlichkeit. Das Cover von Die Blinden dirigieren das Chaos zeigt Porträts und Ganzkörperaufnahmen einer Person im schwarzen Kleid (Abb. 6). Ob es sich dabei um eine Frau handelt, ist unklar, da ihr Kopf bandagiert ist.24 Ähnlich wie in 24 Es handelt sich um Verena Kyselka, wie weitere Aufnahmen aus dieser Zusammenarbeit zeigen. Vgl. Abb. 106 »eingewickelt« (Verena), in: Bestgen; Holler (Hg.): Gabriele Stötzer, a.a.O., S. 105.
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»Das Haus ist mein Bauch« geht es nicht nur um die Inszenierung eines Seh, sondern auch eines Selbstverlusts – um die kritische Sichtbarmachung einer radikalen Form der Entmündigung und Isolation. Auffällig ist jedoch, dass die porträtierte Person keine Opferhaltung, sondern im Gegenteil eine aufrechte und selbstbewusste Position einnimmt. Die obere Reihe zeigt sie im Halbprofil. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Hand, die im dritten Bild zur Ausgangsposition zurückkehrt. Während der Kopf unbewegt bleibt, lässt sich das gestische Repertoire als eine konstruktive Reaktion auf die Einschränkung basaler Kommunikation lesen – als eine neue Art der Kommunikation, die erst aufgrund jener Einschränkungen möglich ist. Der Titel Die Blinden dirigieren das Chaos kann als eine ironische Identifikation mit der topischen, von der DDR-Führung unterstellten Unfähigkeit interpretiert werden, den von ihr eingeschlagenen Weg als den einzig richtigen zu erkennen. Und nicht nur das: Umgekehrt lässt sich auch die Regierung allegorisch als eine Gruppe Blinder identifizieren, die außerstande die Realität wahrzunehmen, scheinbar nur noch das Chaos verwalten kann. Sofern dieses Bild als subversive Aneignung ebenso wie als Entlarvung der Herrschenden funktioniert, entwickelt Stötzer hier eine diskursive, durchaus ironisch-distanzierte und komplexe Perspektive, die über die ostentative Zurschaustellung eines schwachen Subjekts in ihren literarischen Texten hinausgeht. Bandagen und Verschleierungen des Gesichts fungieren in der Kunst der DDR wiederholt als Bild für einen intellektuellen und physischen Leidensdruck, so etwa bei Micha Brendel, Mitglied der Künstlergruppe Autoperforationsartisten, der bei einer Aufführung seine starre Gesichtsmaske aufschneidet. Auch von Cornelia Schleime existiert eine teils bunt übermalte Serie von Fotografien, die die Künstlerin mit umwickeltem Kopf zeigt. Und schließlich tritt auf einer Selbstaufnahme von Heike Stephan das nach oben geneigte Gesicht der Fotografin durch ein nasses Seidentuch hervor; der Mund ein wenig geöffnet, die Lider geschlossen – eine ähnliche Schwarz-Weiß-Aufnahme existiert von Cornelia Schleime.25 Verletzbarkeit und drohendes Ersticken suggerieren diese Selbstinszenierungen ebenso wie ein unentschiedenes Verharren zwischen dem Wunsch, sich zu verbergen und zu zeigen. Und diese ambivalente Bedeutungsdimension eignet 25 Zwei Abbildungen dieser Serie, in der sich die Künstlerin mit einer transparenten Plastiktüte inszeniert, reproduziert zum Beispiel der Ausstellungskatalog Köhler; Heckmann (Hg.): Cornelia Schleime, a.a.O., S. 106.
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auch den Frontaufnahmen auf Stötzers Künstlerbuch, welche die Funktion der Porträtfotografie mit ihrem Anspruch auf Sichtbarmachung individueller Identität und sozialen Status konterkarieren. Terry Landau erinnert daran, dass gerade das Gesicht als »machtvoll, zweckmäßig, persönlich« – »als hochspezialisierter Teil des Körpers und [als überzeugendster] Nachweis der Identität eines Individuums«26 gilt. Insbesondere die frühe Porträtfotografie versinnbildlicht als mediale Errungenschaft die Möglichkeit der Selbstrepräsentation par excellence und schließt damit an den Repräsentationsanspruch der Porträtmalerei als einem symbolischen Akt an, »durch den Individuen der aufsteigenden gesellschaftlichen Klassen ihren Aufstieg sich selbst und anderen gegenüber sichtbar machten […]«27. Aufnahmen wie die von Stötzer oder Heike Stephan entsagen der konventionellen Repräsentationslogik – auch und besonders der der sozialistischen Gesellschaft mit ihren funktionalisierten Rollenmustern, in der versucht wurde, Kunst im Sinne der Produktion und Reproduktion dieser Rollenmuster (die Frau als Werktätige im Dienst des Auf baus, später der Gestaltung des Sozialismus) von staatlicher Seite aus zu ideologisieren.
5 Ausblendung und Zurschaustellung Auf der anderen Seite stellen Gesichtsverhüllungen ein wirksames Mittel dar, um als Urheber_in oder Modell unerkannt zu bleiben – oder um auf die faktische Unsichtbarkeit als Künstler_in hinzuweisen. Was sich am behördlichen Umgang mit Akteur_innen wie Schleime oder Stötzer zeigen lässt, ist die Gleichzeitigkeit von kulturpolitischer bzw. gesellschaftlicher Abwehr bzw. Ausblendung und übertriebener Zurschaustellung; schließlich standen sie trotz ihrer marginalen, ja marginalisierten Bedeutung als systemkritische Unruhestifter im Visier der Behörden, insbesondere der Staatssicherheit.28 26 Terry Landau: Von Angesicht zu Angesicht. Was Gesichter verraten, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 9. 27 John Tagg, zit.n. Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008, S. 122. 28 Vgl. die Dokumentation »Eingeschränkte Freiheit.« Der Fall Gabriele Stötzer, a.a.O. oder die auf 14 Fotografien basierende biografische Inszenierung Bis auf weitere gute Zusammenarbeit von Cornelia Schleime aus dem Jahr 1993, die die Künstlerin mit dem ironischen Zusatz verband: »Diese Arbeit konnte nur mit Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit
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Blick- und Blindheitsmetaphern korrespondieren bei Schleime besonders deutlich mit der ambivalenten Sichtbarkeit nonkonformer Künstlerinnen in der DDR. Darüber hinaus zeigt sich hier, dass Sichtbarkeit als ein Topos, in dem sich ästhetische, politische und epistemologische Dimensionen treffen, nicht von vornherein gegeben, sondern durch verschiedene Faktoren bedingt und in dieser mehrdimensionalen Wechselseitigkeit auch veränderbar, das heißt aktiv gestaltbar ist.29 Schleime hatte von 1975 bis 1980 an der Dresdner Kunsthochschule Malerei und Grafik studiert, unter anderem bei A.R. Penck, der wie wenige Kunstschaffende im DDR-Hochschulbetrieb auf der Autonomie der Kunst beharrte und die künstlerische Eigenständigkeit seiner Schüler_innen förderte. Wie Stötzer beschäftigte sich auch Schleime mit verschiedensten künstlerischen Artikulationsformen: Sie schrieb Gedichte, baute Installationen, stellte Bücher und Keramiken her, machte Musik und begann Anfang der 1980er Jahre – angeregt durch den befreundeten Künstler Gino Hahnemann – Filme mit einer Super-Acht-Kamera zu drehen.30 In der Sanduhr (1982) ist ihr erster überlieferter Kurzfilm aus dem Jahr 1982; der kurz zuvor entstandene Film Die Spiegelfalle gilt als verschollen.31 Wie die meisten experimentellen Filme, die seit den späten 1970er Jahren in der DDR entstanden, liegt Schleimes etwa zehnminütigem Film In der Sanduhr keine Narration zugrunde; vielmehr handelt es sich um eine stark verschlüsselte und surreale Bilderfolge. Mit dieser Ausrichtung bezog die Künstlerin eine klare Gegenposition zur staatlichen Kunstauffassung und zum Massengeschmack, die auf einer nachvollziehbaren Aussage bestanden. Einige Motive tauchen immer wieder auf: die abgefilmten, von Cornelia Schleime übermalten Postkarten von Samarkand, zwei sich gegenübersitzende, teils verhüllte Kartenspielerinnen – eine davon übrigens Gabriele der DDR und dessen zahlreichen Helfern realisiert werden, die in mühevoller Kleinarbeit zu den Texten beitrugen. Denen gilt mein Dank.« Online unter: www.art-site.de/cornelia. schleime-kap/index.html (letzter Zugriff: 31.08.2017). 29 Vgl. dazu Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, a.a.O., insbesondere S. 11-20. 30 Zu Schleimes filmischen Arbeiten siehe Claus Löser: Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR, Berlin 2011, insbesondere S. 181-192. 31 Vgl. exemplarisch Claus Löser: »Drang nach Bewegung und Beweglichkeit. Zu den Super8-Filmen von Cornelia Schleime«, in: Köhler; Heckmann (Hg.): Cornelia Schleime, a.a.O., S. 27-32, hier: S. 29.
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Stötzer –, eine ebenfalls mal verhüllte, mal unverhüllte Person, die eine zusammengerollte Plane auf der Schulter trägt, vier Personen, die um ein auf dem Boden liegendes Bild laufen, einer von ihnen führt eine schwarz-weiße Kreuzfahne mit sich. Wie bei ihren darauffolgenden Filmen Das Nierenbett (1983) und Unter weißen Tüchern (1983) spielt Cornelia Schleime eine zentrale Rolle im Film. Sie ist diejenige, die teils mit verhülltem Kopf und einer zusammengerollten Plane auf der Schulter wiederholt die Haustür zum Hinterhof passiert und ein sich wie von selbst leerendes Weinglas in der Hand hält. Man kann die Verhüllungs- und damit einhergehende Blickmetaphorik des Films mit Schleimes Situation Anfang der 1980er Jahre zusammendenken, mit ihrer hier sichtbar werdenden, von zahlreichen Hürden und Hemmnissen behinderten Positionierung als ›selbstbestimmte‹ Künstlerin. Die vorherrschende Atmosphäre dieses »Kinos der Langsamkeit«32 ist von Zähigkeit und der Wiederholung sinnlos wirkender Akte, dem Gefühl eines zielentleerten Wartens, geprägt. Die Kartenspielerinnen schlagen buchstäblich die Zeit tot, wenn sie eine Patience (wörtlich: Geduld) legen; dann wiederum spielen sie ein absurdes Spiel ohne Möglichkeit, sich selbst und der anderen in die Karten zu schauen. Die Figur mit der gerollten Plane auf der Schulter dreht sich ziellos im Kreis oder passiert die Grenze zwischen Drinnen und Draußen – mal vollends sichtbar, mal mit verhülltem Kopf. Die deutlich ausgeprägte Verhüllungsmetapher dient in Schleimes Film indes nicht der Stilisierung oder gar Politisierung ihrer basalen Rechte beraubter Opfer: Vielmehr scheint hier verstärkt durch die goldenen und silbernen Ketten eine modische Strategie, ein künstlerischer Manierismus zu greifen. Die Verhüllung übt im Rahmen der filmischen Ereignisse weder Einf luss auf die selbstbewusste Haltung der Figur mit der Plane noch auf die Kartenspielerinnen aus, die ihr Spiel unbeeindruckt fortsetzen, mit oder ohne Verhüllung, so als handle es sich ähnlich Schleimes Postkartenübermalungen um eine nachträgliche Überblendungstechnik. Die Figur mit der Plane ist ständig unterwegs, ohne anzukommen, dreht sich um sich selbst und fällt in einen Rückwärtsgang; sie sieht nichts und ist infolge der exaltierten Verhüllung umso sichtbarer. Aufgrund der filmischen Qualität leider kaum zu erkennen, wurden auf die Plane, die Schleime im Film auf der Schulter trägt, mit schwarzer Farbe stilisierte Augen gemalt. Mit der Thematisierung der förmlich auf die helle Leinwand gebannten Bli32 Löser: Strategien der Verweigerung, a.a.O., insbesondere S. 191.
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cke, die das eigentliche Sujet ersetzen, der Bildfindung also vorausgehen und demnach schon da sind, bevor überhaupt etwas entstehen kann – findet der Film ein wirkungsvolles Bild für die Zensur von Schleimes Arbeiten und den damit einhergehenden Ausschluss aus dem Kulturbetrieb. Nachdem 1979 und 1982 zwei Ausstellungen noch vor der Eröffnung abgesagt worden waren, sah sie sich faktisch mit einem Ausstellungsverbot konfrontiert.33 Einer Flucht in den Westen standen vor allem ihre großformatigen Bilder entgegen, die sie auf keinen Fall im Ungewissen zurücklassen wollte und die wir in dieser gerollten Leinwand symbolisiert sehen. Mit ihr schließt Schleime an ein Plei nair an, das im selben Jahr in künstlerischer Zusammenarbeit mit Stötzer im thüringischen Hüpstedt stattgefunden hatte. Bei dieser Körpermal-Aktion, die wiederum ohne Publikum stattfand, bemalte Schleime ihren Körper mit stilisierten Augen, bevor sie sich komplett mit Farbe einrieb und mit Draht umwickelte (Abb. 7-8). Die Rückbesinnung auf den eigenen Körper als Leinwand bezeichnet Schleime als Reaktion auf das vorausgegangene Ausstellungsverbot: »[A]so nehme ich jetzt meinen Körper, fange damit etwas an. Das ist meine Tür nach Außen«34. Wie Stötzer in Abwicklung benutzte sie ihren eignen Körper als Leinwand oder Malträger, was als eine weitere kritische Reaktion auf ihre Einschränkungen als ›klassische‹ Malerin zu betrachten ist. Einschränkungen und Verbote werden in diesem Sinne nicht einfach hingenommen und akzeptiert, sondern als Herausforderungen begriffen, die sich letztlich auch auf ihre inspirierende Funktion hin befragen lassen. Der von Augen übersäte Körper wird zum Medium und zum Werkzeug; er wird darüber hinaus zu einem umfassenden Sinnesorgan stilisiert. Gleichzeitig aktualisieren die Augen auf dem Körper der Künstlerin eine Kritik an der männlichen Dominanz von Kunstbetrieb und kanonischer Kunstgeschichte. Die entkleidete Frau steht hier einmal mehr für das Lustobjekt potenziell unendlicher Blicke – wohlgemerkt unter dem Ausschluss männlicher Zuschauer. Und schließlich wird auch die überalterte DDR-Führung durch eine Riege von Männern repräsentiert, die ihre Augen förmlich überall haben, ohne selbst sichtbar zu sein – indem sie Künstlerinnen wie Stötzer oder Schleime durch inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit überwachen lassen. Das in der zusammengerollten Leinwand symbolisierte 33 Vgl. exemplarisch Stefanie Heckmann: »Der Ort in mir. Zu den Gemälden von Cornelia Schleime«, in: Köhler; Heckmann (Hg.): Cornelia Schleime, a.a.O., S. 15-20, hier: S. 15. 34 Ebd., S. 15.
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Abb. 7-8: Cornelia Schleime: Körpermalaktion in Hüpstedt Schaffen Schleimes, persönlicher Schatz und permanente Bürde, zwingt zur sprichwörtlichen Quadratur des Kreises: dem gedanklich immer wieder zu vollziehenden, so notwendigen wie unmöglichen Grenzübertritt. Wie sehr der Zustand der umfassenden, körperlichen wie geistigen Lähmung an Bilder des Stillstands und der Sichteinschränkung bis hin zur Sichtnahme oder Blindheit geknüpft ist, verdichtet sich auch in der Bildsprache von Schleimes Film Unter weißen Tüchern. Personen sind mit starken weißen Binden an die Wände eines leeren Zimmers fixiert; lediglich ihre Unterarme bewegen sich mechanisch; ihre Köpfe und demnach auch ihre Blicke bleiben unbeweglich. Der paradoxe Zustand, an einen Ort ohne Perspektive gebunden zu sein, prägt die Stimmung vieler Arbeiten Schleimes aus dieser Zeit. In das luf tholen dazwischen, einem 1986 in der informellen Zeitschrift Schaden veröffentlichten, schon zwei Jahre zuvor entstandenen Gedicht charakterisiert sie den Hades, das von den Schatten bevölkerte Totenreich, als finsteren Ort des Stillstands und als einen, den man nicht verlassen kann: was ist der Hades ein Stehenbleiben ein nicht Herauskommen aus den Schleusentoren ein nicht Türöffnen können
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ein Stein in der Dunkelheit dass das andere Fremde nicht erreicht werden kann wir können die Strecken dehnen außerhalb des Auges in elliptischen Bahnen denken doch immer wird es eine Existenz geben die Dunkel ist eine Angst oder eine Erlösung von der Angst35 Die Analogie zur abgeschotteten DDR und die Verbindung zu den persönlichen Erfahrungen der Künstlerin sind unübersehbar. Schleimes Ausreisewunsch wird im Text als kollektives Begehren gekennzeichnet, denn die Pforten Richtung Westen sind hier »Schleusentore«. Weil man aber aus ihnen nicht »herauskommen« kann, ist selbst das Denken, das nur »außerhalb des Auges«, also jenseits des beschränkten Blicks möglich ist und dessen »gedehnte Strecken« und »elliptische Bahnen« das Bedürfnis nach uneingeschränkter Weite, nach kosmischen Dimensionen versinnbildlichen, kein Trost mehr. Diese pessimistische Sicht schließt Zweifel am Sinn künstlerischer Arbeit ein, obwohl die spezifischen Arbeitsbedingungen, wie vielleicht erst im Rückblick deutlich wird, durchaus auch ein Motor der unabhängigen Kunstproduktion waren.
6 Ausblick Darstellungen körperlicher und visueller Einschränkungen kennzeichnen die Kunst der 1980er Jahre in der DDR, darunter auch Arbeiten von Stötzer und Schleime. In einer Ausweitung des jahrhundertealten Motivs der Augenbinde verweist die künstlerische Auseinandersetzung mit Gesichtsbandagen auf Zustände der Bevormundung, Isolation und Lähmung. Die Entwicklung eines subjektiven Blicks und einer eigenen künstlerischen Praxis überlagern sich dabei mit kollektiven Erfahrungen der Desillusionierung und Denunziation. Neu daran sind nicht die für existenzielle Konf likte gefundenen Bilder, die an Aktionen Rudolf Schwarzkoglers erinnern oder an 35 Cornelia Schleime: »das luftholen dazwischen«, in: Schaden, 10 (1986), o. S.
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Inszenierungen der feministischen Avantgarde, an einprägsame Bilder von Françoise Janicot, Renate Eisenegger oder Annegret Soltau, die damit vor allem auf ihre isolierte Existenz als Frau und Künstlerin aufmerksam machten.36 Zwar bleibt der bandagierte Kopf oder Körper ein Topos, der die Anmaßung und die Ausmaße der staatlichen Einmischung in die Belange von Künstlerinnen und Künstlern als eine kollektive Erfahrung vergegenwärtigt. Entscheidend ist jedoch, dass die Bilder der Isolation in der Spätphase der DDR nicht einfach wiederholt, sondern im Sinne einer Unterbrechung der repressiven Zustände kritisch gewendet werden. Diese zeitspezifische Unterbrechung erfolgt im Modus der ironischen Umdeutung, der subversiven Aneignung, der Verweigerung und der manieristischen Überhöhung. Der umwickelte Kopf etwa (wie im Film In der Sanduhr) kann die Ambivalenz von verstärkter Sichtbarkeit (im Sinne des kontrollierenden Zugriffs) bei eingeschränkter Sicht und verwehrten Artikulationsmöglichkeiten ebenso zum Ausdruck bringen wie die Ausbildung einer subkulturell-kritischen Haltung, die sich gegen propagierte Rollenbilder, gegen staatliche Vorgaben und gegen den Massengeschmack richtet – und die ihrerseits zum Anlass und zur Rechtfertigung repressiver Maßnahmen wird. Die in diesem kreativen subkulturellen Milieu entstehenden Arbeiten sind, weil sie die Maßgaben der DDR-Kunstpolitik und die Erwartungen der Gesellschaft konterkarieren, durch sich selbst schon eine Form der Kritik, die ihre explizite politische Zuspitzung vor allem durch staatliche Reaktionen erfährt. Dem Ringen der Künstler_innen um Sichtbarkeit steht der Versuch des Staates entgegen, ihre durch den selbstgewählten ›Avantgardismus‹ ihres Schaffens ohnehin begrenzte Wahrnehmbarkeit einzuschränken.
36 Dabei handelt es sich um einen Aspekt, der in den Arbeiten von Stötzer und Schleime durchaus enthalten ist. Zur Thematisierung von Geschlechterfragen in der Kunst in der DDR vgl. Angelika Richter: Das Gesetz der Szene. Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, Bielefeld 2019.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1-2. Gabriele Stötzer: Abwicklung, 1983. Fotografien: Heike Stephan. Abb. 3-4. Gabriele Stötzer: Serie aus dem Künstlerbuch Die Blinden dirigieren das Chaos, 1984. Fotografien: Gabriele Stötzer. Abb. 5. Gabriele Stötzer: Serie aus dem Künstlerbuch Mackenbuch, 1985. Fotografie: Gabriele Stötzer. Abb. 6. Gabriele Stötzer: Cover des Künstlerbuchs Die Blinden dirigieren das Chaos, 1984. Fotografien: Gabriele Stötzer. Abb. 7-8. Cornelia Schleime: Körpermalaktion in Hüpstedt, 1981. Fotografien: Gabriele Stötzer.
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Schlafen Eine künstlerische Praxis der Kritik in der osteuropäischen Performancekunst Adam Czirak Ungeachtet der Unterschiede kapitalistisch und sozialistisch organisierter Gesellschaften einte die Politik ›Washingtons‹ und ›Moskaus‹ die Ansicht, dass Arbeit und Produktion die Schlüssel für Fortschritt und die Bekämpfung sozialer und ökonomischer Probleme gewesen sein werden.1 Im ›Westen‹ kam dem freien Markt samt seiner Konkurrenzverhältnisse die Rolle zu, die Produktion anzutreiben und Arbeitseffizienz als Horizont des Wohlstands und der gesellschaftlichen Anerkennung zu installieren. In den sozialistischen Staaten gab es hingegen keine freien Märkte, es herrschte stattdessen eine Planwirtschaft, die keine Arbeitslosigkeit duldete und für jeden arbeitsfähigen Mitglied des Staates eine bestimmte Funktion vorsah, um einen kollektiven Reichtum in Sicht zu stellen. Für die Verteilung von Arbeit und Gütern sollte möglichst f lächendeckend die Marx’sche Devise ausschlaggebend sein, die ›jeden nach seinen Fähigkeiten‹ tätig werden und ›jedem nach seinen Bedürfnissen‹ an der gesellschaftlichen Prosperität teilhaben ließ. In dieser Idee der Arbeitsteilung sah man die Garantie auf einen gesamt-gesellschaftlichen Wohlstand. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Produktion in Ostund Südosteuropa zum Hauptthema sozialistisch-realistischer Kunst avancierte: ›Arbeit‹ als Leitmotiv der propagandistischen Ästhetik und Arbeiter_ innen als Held_innen der Bildenden Kunst hielten allerdings weniger einen Spiegel den Rezipient_innenen vor, sie adressierten diese vielmehr und forderten sie zur Anpassung an das idealisierte Menschenbild auf. Mit Blick auf die realsozialistische Arbeitseuphorie ist es jedoch bemerkenswert, wie viele 1 Vgl. Péter György: Kádár köpönyege, Budapest 2005.
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Performancekünstler_innen sich dem Faulenzen oder dem Schlafen als vermeintlichem Ausdruck einer Ineffizienz zuwandten und sich in ihren Aktionen dafür entschieden haben, in den Schlaf fallen zu wollen. Entweder als Kritik an der Produktionsekstase oder als Zeichen einer Kapitulation, ja der Flucht aus der gesellschaftlichen Realität, stellten sie sich in ohnmächtigen Posen zur Schau, kamen aber nicht umhin zu konstatieren, dass die Abkapselung durch den Schlaf, die Schutz verspricht, willentlich nicht herbeizuführen ist.
1 Faulenzen als Kritik an der Produktionseuphorie Wie ein ästhetisches Kontrastprogramm fügt sich in die offizielle Darstellungspraxis der Arbeit eine Fotoserie vom Zagreber Performancekünstler Mladen Stilinović ein. Die Rede ist von acht Exponaten, die mit der polemischen Ellipse Artist at Work (Abb. 1, 1978) betitelt wurden und ihren provokativen Reiz daraus bezogen, dass sie – die Bildüberschrift unterlaufend – ausgerechnet die Faulheit in den Mittelpunkt rückten. Es handelt sich um Selbstportraits von dem im Bett liegenden, mit geöffneten oder geschlossenen Augen ruhenden Stilinović, der sich im Akt des Nachdenkens, bei der Hervorbringung immaterieller Arbeit ablichten ließ. Er warf die Frage nach dem Status der Muße und der Kontemplation zu einer Zeit auf, in der Arbeit ideologisiert und an zeitlicher Effizienz gemessen wurde, erhob er doch jene Arbeitsprozesse zum Thema, die nicht auf ein Endergebnis ausgerichtet waren, sondern vielmehr die melancholischen Facetten eines Arbeitsmarktes offen legten, auf dem die Produktion permanent in ihrer Funktionalität sichtbar werden musste. Stilinović begann seine künstlerische Lauf bahn in den 1970er Jahren vor allem mit linguistischen Experimenten, in denen er eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit gängigen politischen Parolen und Slogans der Zeit zum Ziel setzte, um die Sprache von tagespolitischen Inhalten abzulösen. Sein frühes Gemälde Ein Angrif f auf meine Kunst ist ein Angrif f auf den Sozialismus und auf Fortschritt (Napad na moju umjetnost napad je na socijalizam i napredak, 1977) gab auf einer rosaroten Leinwand den in roter Farbe aufgetragenen Bildtitel zu sehen, der als gemorphtes Zitat auf die Parteirhetorik Jugoslawiens rekurrierte, ihr aber eine ungewöhnliche, auf Stilinovićs eigene Kunstpraxis übertragene Referenz verlieh. Durch diese Aneignungsgeste
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Abb. 1: Mladen Stilinović: Artist at Work wurde die ideologische ›Färbung‹ der Sprache zur Disposition gestellt, die Stilinović mittels ihrer parodistischen Sinnentleerung ref lektierte.2 Nach einer ähnlichen Logik funktioniert auch seine Aktion Artist at work, die in einer Zeit entsteht, in der Parolen wie »Mehr Arbeit, weniger Diskussion!« oder das Imperativ »Ordnung, Arbeit und Verantwortung!« in aller Munde waren3 bzw. schon von Michail Sostschenko in seiner Kurzgeschichte »Schlaf schneller, Genosse!«4 satirisch gewendet wurden. Stellte zwar der 2 Vgl. Marina Gržinić Mauhler: »The Retro-Avant Garde Movement in the Ex-Yugoslav Territory or Mapping Post-Socialism«, in: www.ljudmila.org/nettime/zkp4/53.htm, S. 2 (letzter Zugriff: 24.07.2017). 3 Vgl. ebd. 4 Michail Sostschenko: »Schlaf schneller, Genosse!«, in: Grete Willinsky (Hg.): Schlaf schneller, Genosse! Sowjetrussische Satiren, Stuttgart; Berlin 1940, S. 7-12. Es ist wichtig in Erinnerung zu rufen, dass es im blockfreien Staat Jugoslawiens eine paradoxe ökonomische Situation herrschte: Die Entscheidung des Staatspräsidenten Josip Broz Tito für einen so genannten ›dritten Weg‹ schlug sich nicht nur in der Außenpolitik, ja in der Distanzierung von ›Ost‹ und ›West‹, sondern auch in der Liberalisierung der Wirtschaft nieder. Es handelte sich daher um eine Synthese von Planwirtschaft und Kapitalismus, d.h. um eine sozialistische Marktwirtschaft, in der kleine Familienbetriebe legalisiert waren und der Kampf um den kollektiven Wohl mit kapitalistischen Möglichkeiten Hand in Hand gehen durfte. Vgl. Saul Estrin: »Yugoslavia: The Case of Self-Managing Market Socialism«, in: Journal of Economic
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Titel der Aktion den Künstler explizit in einen Arbeitszusammenhang, der Bildinhalt irritierte jedoch den gängigen Interpretationshorizont, insofern Stilinović sich am helllichten Tage ins Bett zurückzog und seine Augen teils auf die Decke, teils in den Raum richtend Assoziationen an Langeweile und Unergiebigkeit weckte.5 Mit einem nach innen verlagerten Blick ließ er sich in den Stunden gewöhnlicher Arbeitszeit fotografieren und schien den TagNacht-Rhythmus somit auf provokative Weise zu unterwandern. Die Bilder entfalten zunächst einen kritischen Kommentar zu den prekären Arbeitsbedingungen jugoslawischer Avantgarde-Künstler_innen, die keine offiziellen Aufträge erhalten haben: Stilinović wies bekanntlich die Rolle eines vom Staat beauftragten Propagandakünstlers zurück und weigerte sich, seine Kunst in den Dienst der Verbreitung der Parteiideologie zu stellen. Er widersetzte sich aber auch der Integration in die fremdgesteuerte, alltägliche Arbeitspraxis und stellte somit den Schlaf als eine Option der allgemeinen Resistenz in Sicht. Artist at work kann man aber auch in einem umfassenden ökonomischen Kontext als Plädoyer für das Faulenzen lesen, das nicht allzu vorschnell als ineffiziente Nicht-Arbeit abgetan werden darf, sondern als eine andere Art der Produktion verstanden werden kann. Diese Deutung liegt auch nahe, weil Stilinović 1993 ein Manifest mit dem Titel Lob der Faulheit verfasst und sich dadurch auch implizit zu seiner Schlafaktion geäußert hat. In diesem programmatischen Text ruft er seine Leser_innen zur Faulheit auf, die als solche perfektioniert werden müsse: »Faulheit ist das Fehlen von Bewegung und Denken, nutzlose Zeit – totale Amnesie. Sie ist außerdem Gleichgültigkeit, Ins-Nichts-Starren, Inaktivität, Schwäche. Sie ist blanker Stumpfsinn, eine Zeit des Schmerzes, vergeblicher Konzentration. Diese Tugenden der Faulheit sind in der Kunst von großer Bedeutung.«6 Umrissen wird hier kein idyllischer Zustand des Nichttuns, sondern eine Disposition, die von Schmerzen und mit dem Unvermögen zur Konzentration verbunden sein kann. Mit dieser ambivalenten Wertung des Faulseins sind die semantischen Wandlungen aus der Diskursgeschichte Perspectives, 5:4 (1991), insbesondere: S. 187-194; Aleš Erjavec: »Introduction«, in: ders.: Postmodernism and the Poistsocialist Condition, Berkeley 2003, S. 1-54, insbesondere: S. 51, Fußnote 16. 5 Vgl. Ellen Blumenstein: »Sweet Idleness – on the Resistive Practice of Mladen Stilinović«, in: Branka Stipančić (Hg.): Mladen Stilinović: SING!, Budapest 2011, S. 40-45. 6 Mladen Stilinović zitiert nach Ruth Noack; Roger M. Buergel (Hg.): documenta 12 – Katalog, Köln 2007, S. 35.
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der Muße angesprochen, die wir bis zur griechischen Antike zurückfolgen können: In Athen und später auch in Rom spielte otium eine elementare Rolle im Leben aller Staatsbürger, insofern sie die Freizeit bezeichnete, in der man der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse wie Essen, Trinken oder Ruhe nachgehen konnte, die aber auch eine Phase des Studiums oder der Diskussion philosophischer und alltäglicher Themen eröffnete. Im Unterschied zum negotium, das einen Zeitraum für die Arbeitsaktivität im Sinne der Herstellung von Produkten bezeichnete und ein notwendiges Übel war, kam dem otium eine höhere Wertschätzung zu. Diejenigen, die sich keine Muße erlauben konnten, galten als Sklaven. Der bevorzugte Status antiker Denker führte schon in Athen zu Konf likten mit anderen Staatsbürgern, Konf likten allerdings, die im Mittelalter eskalierten und dazu führten, dass otium ein negatives Vorzeichen erhielt. Denn die Muße wurde im christlichen Zeitalter mit dem melancholischen Gefühl der Acedia, ja mit Müßiggang in Verbindung gebracht und für ›den Anfang aller Laster‹ erklärt. Diese Sachlage verschärfte sich im Zuge der Verbreitung der protestantischen Ethik als Arbeitsideal des Frühkapitalismus, insofern die Produktion zur menschlichen Pf licht ersten Ranges avancierte. Der Mensch der Moderne erlangte Gratifikation und Anerkennung vornehmlich durch die Hervorbringung vermarktbarer Güter, wohingegen Untätigkeit und Müßiggang in kapitalistischen Gesellschaften eine Abqualifizierung erfuhren. Nietzsche stellt plastisch dar, dass diejenigen, die geistigen Tätigkeiten nachgehen, als Sonderlinge, als ›Andere‹ wahrgenommen werden, sodass man »sich schon der Ruhe [schämen muss und] das lange Nachdenken […] beinahe Gewissensbisse [macht]«7. Hierin liegt die von Stilinović auf den Punkt gebrachte Ambivalenz der Muße, in der die ›Süße‹ des Nichtstuns aufgrund der Ethik der Moderne regelrecht verbittert wird. Nach einer ähnlichen Logik wie Nietzsche, der provokanter Weise ausgerechnet die Tätigen als faul bezeichnet, weil sie sich der Reproduktion verpf lichten und nicht in der Lage sind, »aus [dem] eigenen Brunnen zu schöpfen«8, löst Stilinović die Differenz zwischen Arbeit und Nichttun dahingehend auf, dass er Tätigkeiten jenseits der sichtbaren Materialisierung aufwertet. 7 Friedrich Nietzsche: »Muße und Müßiggang«, in: ders.: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1930, S. 69-70, hier: S. 69. Vgl. dazu Barbara Smitmans-Vajda: Melancholie, Eros, Muße. Das Frauenbild in Nietzsches Philosophie, Würzburg 1999, S. 152. 8 Friedrich Nietzsche zitiert nach Smitmans-Vajda, ebd., S. 159.
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Vorbereitet war Stilinovićs Plädoyer für die Faulheit durch Karl Marx’ Schwiegersohn, dem französischen Sozialisten Paul Lafargue, der im ausgehenden 19. Jahrhundert die Verweigerung der Arbeit als kritischen, mehr noch: als revolutionären Akt bezeichnet hat. In seinem Pamphlet Das Recht auf Faulheit weist er auf die Missstände der Produktionseuphorie in Frankreich, England und Deutschland hin, skizziert den enormen Ermüdungsgrad des Proletariats und die Absurdität, dass die Erhöhung der Arbeitsstunden ausgerechnet mit der Industrialisierung und dem Auf kommen der Maschinen in eins fällt. Anstatt dem Arbeiter mehr Freizeit zu gewähren, zwinge ihn das kapitalistische System zu einem Wettrennen mit der Technologie. Dem Plädoyer von Stilinović kommt Lafargue hinsichtlich seines Imperativs auf die Minimierung (und Egalisierung) der Arbeit nahe, denn nach Lafargues konkreter Berechnung müsste man »nicht mehr als sechs Arbeitsstunden am Tag«9 tätig sein. Etwa 110 Jahre nach Lafargues utopischer Vision griff Stilinović die Frage nach der Rolle der Faulheit künstlerisch auf und spitzte diese in einem Vergleich von westlichen und osteuropäischen Künstlern zu: Künstlerinnen im Westen sind nicht faul und deshalb keine Künstlerinnen, sondern vielmehr Produzentinnen von irgendetwas… Die Beschäftigung mit bedeutungslosen Dingen wie Produktion, Werbung, Galerien, Museen, Konkurrenzkampf (wer ist der Beste?), ihr Sichversenken in Objekte, alldas entfernt sie von der Faulheit, von der Kunst. […] Künstlerinnen im Osten waren faul und arm, weil dieses System unbedeutender Dinge dort nicht existierte. Daher hatten sie ausreichend Zeit, sich auf die Kunst und die Faulheit zu konzentrieren. Selbst wenn sie Kunst produzierten, wussten sie, dass es vergeblich war, dass es nichts war… So schließe ich faul mit der Feststellung: Ohne Faulheit gibt es keine Kunst.10 Stilinović deutet mit dieser Gegenüberstellung – deren argumentative Schärfe er aufgrund seiner konsequenten Entscheidung für die Faulheit im 9 Es handelt sich um den Rekurs auf die Marx’sche Forderung nach dem Achtstundentag und dem freien Wochenende, die im Ostblock und in Jugoslawien auch durchgesetzt wurde: ›Acht Stunden für die Arbeit, acht Stunden für den Schlaf und acht Stunden für die Erholung‹. 10 Mladen Stilinović: »Praise of Laziness« (Auszug), in: Georg Schöllhammer (Hg): Documenta Magazine. Köln 2007, S. 35.
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Schreiben (»so schließe ich faul«) nicht ausreichend erklärt – den historischen Umstand an, dass es im Realsozialismus keinen Kunstmarkt gab, während im Kapitalismus künstlerische Setzungen jenseits des Marktes kaum möglich waren. Mit dieser Unterscheidung weist Stilinović auf die bemerkenswerte Situation hin, dass in den neoavantgardistischen Künstlerkreisen Ostmitteleuropas die Möglichkeit alternativer künstlerischer Aktivitäten jenseits von Produktionsdrang aufschienen, weil eine Produktion für den Markt sowieso »vergeblich war«. In diesem Sinne hat auch der Maler Kasimir Malewitsch Recht behalten, als er die Konjunktur der Faulheit ausschließlich im sozialistischen System für realistisch hielt. In seinem Essay Laziness: the real truth of mankind (1921) schreibt er explizit über die Faulheit: »[W]hat cannot be achieved in the capitalist system can be achieved in the communist system«11. Mit einer Schlafperformance feierte Stilinović also jene Nischen abseits des künstlerischen Leistungsdrucks, die sich in den semioffiziellen Kunstsphären des Ostblocks wie autonome Kreativzonen auftaten. Man könnte spekulieren, dass sich die unterschiedlichen ökonomischen Rahmungen der Kunstproduktion in Ost und West auch in ästhetischer Hinsicht niederschlugen, wie etwa in der Differenz zu der kinetisch so intensiven Frühphase der westlichen Performance-Tradition, deren vermeintlicher Begründer, Jackson Pollock sich immer im ununterbrochenen Bewegungsf luss exponieren ließ, wohingegen Stilinović anhielt, sich zurückzog und sich in Bewegungslosigkeit und Passivität zeigte. Einen weiteren und entscheidenden Kontrast bildet die Fotoserie Artist at Work auch zu Sophie Calles Performance The Sleepers (1979)12 oder zu Andy Warhols Schwarzweiß-Stummfilm Sleep (1963), in dem der Schriftsteller John Giorno etwa sechseinhalb Stunden lang im Schlaf zu sehen ist. Calle und Warhol haben allerdings das Schlafen an Andere delegiert, um als Künstlerin und Künstler die ganze Nacht tätig zu bleiben und die statische Szenerie mit einem permanenten Wechsel der Ka11 Kazimir Malevich: »Laziness as the Truth of Mankind«, in: http://shifter-magazine.com/ wp-content/uploads/2015/05/malevich_laziness.pdf (letzter Zugriff: 05.03.2018). 12 Sophie Calle bat einige Bekannte und fremde Personen darum, einige Stunden in ihrem Bett zu schlafen, während sie deren Anwesenheit in Texten und Bildern protokollierte. »I asked people to give me a few hours of their sleep. To come and sleep in my bed. […] I took photographs every hour. I watched my guest sleep.« Sophie Calle: Did you see me? München; Berlin; London; New York 2003, S. 145. Die Haltung von Calle ist vergelichbar mit der von Andy Warhol, und zwar bleibt Call in der Position der Künstlerin, die sich Tätigkeiten vorschreibt, um die schalfenden Personen durch eine asymmetrische Kontaktaufnahme aus intimer Nähe beobachten zu können.
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meraeinstellungen zu dynamisieren. Während Calle und Warhol sich dem Motiv des Schlafens zugewandt haben, um ihre »manipulative, kontrollierende Autoritätsposition«13 als Künstler_innen zu stärken, haben Stilinović – wie auch weitere zu analysierende Schlafperformer – die Kameraführung an Fotografen abgegeben. Auf diese Weise widmeten sie sich selbst der Analyse jenes menschlichen Selbstentzugs, dessen gegenständliche Gerichtetheit in der Performance(fotografie) unsichtbar bleibt und als ästhetisches Geheimnis zutage tritt. Die Faulheit ist für Stilinović, so könnte man zusammenfassend sagen, im antiken Sinne zu verstehen, als eine Abwendung von zielgerichteten Tätigkeiten, deren materieller Gewinn nicht zu ermitteln ist. Wie nachhaltig Stilinovićs Gedanken sind, zeigt sich u.a. darin, dass die Gießener Theaterwissenschaftlerin Bojana Kunst den Titel ihrer jüngsten Monografie von Stilinović entlehnt, um die Rolle der Faulheit im aktuellen globalkapitalistischen Zusammenhang auf ihr kritisches Potenzial hin zu ermitteln: »After two decades have passed since the reaction of Stilinović’s text, we can say that artists from the ›East‹ are no longer lazy either but participate in the methods of western artistic production«14. Osteuropäische Performancekünstler sind Teil des Museumssystems und des Wettbewerbs geworden und sie können sich die Faulheit nur erlauben, wenn diese effektiv in messbare Kreativität umgesetzt wird. Dass Stilinović damals in eine Untergrundszene eingebunden war, die ihm ein kritisches Künstlerdasein erlaubt hat, ohne auf einem Markt sichtbar sein zu müssen, ist seit den 1990er Jahren utopisch geworden. Bojana Kunsts Schlussfolgerungen schöpfen aus dem Wissenshorizont osteuropäischer Avantgardekünstler_innen und münden in der Aufforderung, »do less, precisely when confronted with the demand to do more«15. Dieses Wissen erkundete auch der slowakische Künstler L’ubomír Ďurček in seiner Analytische Studie von Relationen. Mensch Raum Zeit. Markt (Analytická štúdia vzťahov. Človek miesto čas. Trhovisko, 1981), figurierte er in seiner Fotoperformance doch als Schläfer auf dem verlassenen Marktplatz von Kojetin 13 Boris Groys: »Poetics of Entropy: The Post-Suprematist Art of Mladen Stilinović«, in: Mladen Stilinović: 1+2≡, México, D.F. 2015, S. 70-78, hier: S. 77. 14 Bojana Kunst: Artist at Work, Proximity of Art and Capitalism, Winchester; Washington 2015, S. 184. 15 Ebd., S. 193.
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Abb. 2: L’ubomír Ďurček: Analytische Studie von Relationen. Mensch Raum Zeit. Markt (Abb. 2). Seine ohnmächtige Pose mutet aus dem Grund als widerständig an, weil er sich ausgerechnet im öffentlichen Areal der Tauschökonomie positionierte, um seine Zeit zu vergeuden, totzuschlagen, und seine Faulheit aufzuführen. Er nahm sich also die Zeit, um andere, nicht vermarktbare Relationen zu erkunden und rief die Frage wach, ob man ein Nichtstun überhaupt praktizieren (oder nur als Utopie formulieren) kann, d.h. inwieweit die körperliche Regungslosigkeit Aktivitäten wirklich ausschließt. Die analytische Studie, die der Titel verspricht, bringt keine sichtbare Objektbeziehung zum Ausdruck, vielmehr offenbart Ďurček in seinem Alleinsein den Versuch, ein Verhältnis zum Entzug, ja zum Schwinden von Bezüglichkeiten herzustellen und in der Schlafposition eine gegenstandslose Relationalität zu suchen, um die Zeit anders zu nutzen als dies um ihn herum von der Umwelt erwartet wird. Diesem Akt des Faulseins, des Nichttuns ist ein Rückzug ohne notwendige Einsamkeit und Passivität inhärent16, er kann als eine pf lichtbewusste politische Praxis dahingehend verstanden werden, dass sie Automatismen 16 Vgl. Lars Svendsen: A Philosophy of Boredom, London 2005, S. 22.
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unterbricht und die Ressentiments gegenüber einer historischen Konstellation oder der eigenen sozialen Existenz expressiv verdichtet. Wenn man so will verbindet Ďurček die Kritik an der Produktionseuphorie mit dem tiefergehenden Wunsch, die Alltagsrealität zu verlassen, um in einen Bereich der hierarchiefreien Verhältnisse zu gelangen. Denn was Schlafende miteinander verbindet, ist das Versprechen der Auf hebung sozialer Unterschiede, ja der Zugehörigkeit zu abweichenden Gesellschaftsschichten. Kurzum: Zumindest der Schlaf, ein Drittel der Lebenszeit, versprach für Ďurček den Eintritt in eine sozialistische Gesellschaft der Klassenlosigkeit zu gewähren. Die Kritik an Produktionsimperativen und die Loslösung von konsolidierten Relationen effizienten Arbeitens deklarierte auch der tschechische Maler und Performancekünstler Marian Palla zum zentralen Motiv seiner Kunst: Im Januar 1981 schloss er sich in sein Atelier ein und verweilte – sitzend bzw. liegend – achtundvierzig Stunden auf einer leeren Leinwand, die er auf dem Boden platzierte (Abb. 3). Die Langzeitperformance Ich existierte auf diesem Gemälde zwei Tage lang und aß 7.799 Reiskörner (Na tomto obraze jsem existoval dva dny a snĕdl 7799 zrnek rýže, 1981) kann als ein meditativer Akt des Rückzugs angesehen werden, denn ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen, ohne lesbare Zeichen zu setzen, bestand der hingebungsvolle Prozess der ›Bildfindung‹ in der körperlichen Kontaktaufnahme mit der weißen Fläche, in einem physisch-direkten Konnex allerdings, der keine bemerkbaren visuellen Abdrücke hinterließ. Während der Aktion entstand zwar ein Produkt, dieses wies aber keine Indizien für künstlerische Aktivitäten auf, handelte es sich doch um ein Bild, das verweist, ohne auf etwas zu verweisen, um eine Gabe, die – phänomenologisch betrachtet – nichts außer der weißen Fläche (zu sehen) gibt: Auf dieser weißen Leinwand wird die Aufschiebung von schöpferischen Potenzialitäten manifest, die sich einer teleologischen, auf die Herstellung eines Werks zielenden Übersetzung der künstlerischen Geste ausweichen. Womit sich das tagelange Verweilen verband, war vielmehr eine asketische Haltung: Palla behauptet, seine Ernährung unter strenger Kontrolle gehalten zu haben, lieβ er doch das Zählen von den verspeisten Reiskörnern an die Stelle der gängigen Enumeration von Zeitminuten treten; anstatt die Arbeitsstunden zu messen, berechnete er die minimalen Bedingungen seiner Vegetation, das Verschwinden dessen, was er für sein Nicht-Tun in Anspruch nehmen muss. Die Praxis des Malens wird in Pallas schweigsamer, asketischer Performance auf ihren Nullpunkt zurückgeführt und fasst man seine Bilder als
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Abb. 3: Marian Palla: Ich existierte auf diesem Gemälde zwei Tage lang und aß 7.799 Reiskörner eine unerschließbare Rhetorik des Zeigens auf, so ist es allzu offenkundig, wie unweit man mit Begriffen wie Aktivität und Passivität, Tun und Nichttun in diesen Aktionen kommt, werden diese hierarchischen Oppositionen im Sinne einer Benjamin’schen »Dialektik im Stillstand«17 aufgewühlt und in ihrer Semantik ebenso außer Kraft gesetzt, wie die ökonomischen Konventionen der Arbeit. »Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden«, schreibt Benjamin im Passagen-Werk, »[d]as Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist«18. Wenn Benjamin das Schwinden von Übergangsritualen in der Moderne beklagt, dann legt er die Hypothese nahe, dass der Fall in den Schlaf, der uns zu einer Stasis der Lebendigkeit führt, deswegen in so zahlreichen performativen Aktionen zum Gegenstand eines (repräsentations-)kritischen Interesses wurde, weil er die einzige ›Passage‹ geblieben ist, in der man die Welt und sich selbst temporär zu verlassen vermag.
17 Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.1, Frankfurt a.M. 1991, S. 79-654, hier: S. 577. 18 Ebd., S. 617.
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2 Schlaflose Wachsamkeit als melancholisches Signum Die Aktionen von Stilinović oder Ďurček, die den Fall in den Schlaf in Aussicht stellen, setzen sich nicht nur mit den Produktionsimperativen der kapitalistischen und/oder der sozialistischen Ideologien kritisch auseinander. Denn wie auch immer sie eine Lanze für das Faulenzen oder Schlafen brechen, zeigen sie – und darin liegt die Komplexität ihrer Performances –, dass das Abschweifen-Wollen oder der Rückzug in den Schlafzustand immer illusorische Unternehmungen sind und zu einer Konfrontation mit den Grenzen menschlichen Vermögens führen. Der Schlaf ist kein intentionaler Akt, er markiert vielmehr die Limitationen der Planbarkeit, individueller Bestimmbarkeit und Verfügungsgewalt. Wie Jean-Luc Nancy in seinem Buch Vom Schlaf treffend schreibt, können wir die Welt, und uns selbst, nicht ohne Weiteres verlassen: »Niemand schläfert sich selber ein: Der Schlaf kommt von anderswo. Er überkommt uns, überfällt uns, er lässt uns in ihn fallen. Man muss also eingeschläfert worden sein. Man muss eingeschläfert worden sein vom Schlaf selbst […].«19 Die Künstler, die den Rückzug in den Schlaf bzw. in die Ruhe suchen, verbindet eine gemeinsame Erkenntnis: Sie kommen nicht umhin zu konstatieren, dass die Abkapselung durch den Schlaf, die Schutz verspricht und ein Entkommen von fremdbestimmten Alltagsregeln in Aussicht stellt, willentlich nicht herbeizuführen ist. Vor diesem Hintergrund erweist sich in den Schlafaktionen als bemerkenswert, wie sie den melancholischen Zustand einer schlaf losen Wachsamkeit in Szene setzen und das Intervall zwischen Schlafen-Wollen und Noch-Wach-Sein, zwischen Entzugswille und Bei-Sich-Sein ästhetisch erkunden. In diesem Intervall ist man weder fremd- noch ganz selbstbestimmt, es ist ein Stadium, in dem man keine Anweisungen mehr erfüllt, aber in dem auch die eigene Intentionalität schwindet, wo der ersehnte Schlaf noch keine Oberhand über uns genommen hat. In diesem ›Zwischen‹ können wir uns noch nicht ganz von einer sozialen Verankerung loslösen, stehen aber kurz vor einer – wie Nancy es bezeichnet – »Selbstabwesenheit«20. Die Einsicht der Grenzen, die das Einschlafen jenseits menschlichen Willens verorten lässt, hat, wie die Geschichte der Muße, ebenfalls antike Wurzel. Der Künstler, der nach Inspiration sucht, erhofft die Ankunft der schöp19 Jean-Luc Nancy: Vom Schlaf, Zürich; Berlin 2013, S. 41. 20 Ebd., S. 19.
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ferischen Anregerin ›Muse‹ im Schlaf, muss aber erkennen, dass das Privileg des Eingeschläfertseins einer »unbezwingbare[n] göttliche[n] Macht«21 unterliegt; doch der Schlafgott Somnus sucht in der Regel die Glücklichen22 auf, wohingegen er die Nachdenklichen meidet. Der Rückzug aus der Welt gelingt zwar topisch, nicht aber physiologisch, denn der Weg zur Muse stellt sich als ein Übergang heraus, der durch eine melancholische Erfahrung hindurch führt. Wie schon Aristoteles darauf aufmerksam wurde, scheint die Melancholie die Bedingung eines schöpferischen Prozesses zu sein.23 Als er ›Schwarzgalligkeit‹ als gemeinsame Eigenschaft von genialen Menschen wie Philosophen oder Künstlern entdeckte, diagnostizierte er bei ihnen ein konsequentes Leiden an Schlaf losigkeit: »Schwermütige fahren deshalb aus ihren Träumen empor, weil infolge des Übermaßes an Wärme die Seele in ungewöhnlicher Erregung ist; diese Heftigkeit der Bewegung stört sie im Schlaf«24. Doch dieser Konnex von Melancholie und dem vergeblichen Versuch, einzuschlafen, zieht sich bis in die aktuellen Psychiatriediskurse hinein, in denen der Schlaf des Melancholikers, »wenn er überhaupt eintritt« als »oberf lächlich, kurz, unruhig«25 charakterisiert wird. Diese am Anfang des 20. Jahrhunderts datierte Feststellung des österreichischen Neurologen Otto Marburg hallt auch beim deutschen Psychiater und Depressionsforscher Rainer Tölle im angehenden 21. Jahrhundert wider: »Schlafstörung ist das häufigste und oft auch erste Symptom der Melancholie«26. Und nicht zuletzt zeugt auch die ikonographische Tradition der Schwermut, deren Epizentrum von Albrecht Dürers Kupferstich Melancholia I eingenommen wird, von der Verknüpfung der Melancholie mit einem nachdenklichen Nichttun, beherrscht doch eine einsame, weibliche Figur die Bildszenerie, deren Un-
21 Bettina Windau paraphrasiert Homer. Bettina Windau: Somnus. Neulateinische Dichtung an und über den Schlaf, Trier 1998, S. 11. 22 Vgl. ebd., S. 61. 23 Vgl. Ludwig Völker: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn, München 1978, S. 7. 24 Aristoteles: »Buch XXX. Über Besonnenheit, Vernunft und Weisheit«, in: ders.: Probleme, Paderborn 1961, S. 339-353, hier: S. 353. 25 Otto Marburg: Der Schlaf. Seine Störungen und Deren Behandlung, Wien; Berlin 1928, S. 27. 26 Rainer Tölle: Psychiatrie einschließlich Psychotherapie. Kinder- und jugendpsychiatrische Bearbeitung von Reinhart Lempp, Berlin 1996, S. 240.
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produktivität durch die nicht benutzten, um sie herum liegenden Requisiten von Wissenschaft und Kunst hervorgehoben wird.27 Ähnlich wie bei Marcel, dem Protagonisten von Prousts Recherche, der immer kurz vor dem Schlaf in die tiefsten Erinnerungen und Erkenntniszustände eintaucht und merkt, dass seine Zurückgezogenheit »die Forderungen nach einem Handeln wirksamer befriedigt als wirkliche Taten«28, so lässt sich die schlaf lose Wachsamkeit vor dem Schlaf als eine Aktivität fassen, deren Produktivität nach eigenen Maßstäben ermittelt werden muss. Es ist ein melancholischer Zustand des Nicht-Einschlafen-Könnens, in dem man zwar bereit ist, sich und die Welt loszulassen, aber all die Zweifel und Leiden einem doch im Wege des Entzugs, des Schlafens stehen und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Realität zwingen. Es handelt sich um eine Apostrophe an den Schlaf, oder gar eine Fluchtbewegung aus der gesellschaftlichen Realität, die zu anderen Weisen der Beschäftigung mit ihr führt und den Schlaf letztlich aufschiebt.
3 Schlafperformances im Zeichen einer melancholischen Kritik Die vergeblichen Versuche des ›In-den-Schlaf-Fallens‹ korrespondieren, wie es an weiteren Beispielen dieses leitmotivisch durch die Geschichte osteuropäischer Performancekunst hindurch ziehenden Themas gezeigt werden kann, mit der Utopie, den historischen Fluss der Zeit gewollt zu unterbrechen. Verstehen kann diese Arbeiten, so die kompromisslos für die Kontextualisierung argumentierende Performancetheoretikerin Kristine Stiles, »only who have lived under constant tyranny, secrecy, fear, and hyper-vigilance; who have suffered from the inability to sleep, from nervaus disorders, from paranoia«29. Vor diesem historischen Hintergrund verwundert es nicht, wenn zahlreiche Schlaf-Aktionen den vergeblichen Versuch des Welt- und Selbstentzugs dramatisieren, ja sogar als traumatische Erfahrung inszenieren. Im Falle des 27 Vgl. Hannah Hohl: Saturn Melancholie Genie, Stuttgart 1992, S. 21; Hartmut Böhme: Albrecht Dürer: Melancholia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt a.M. 1989, S. 13. 28 Paul de Man: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 31-51, hier: S. 49. 29 Kristine Stiles: »INSIDE/OUTSIDE. Balancing Between a Dusthole and Eternety«, in: Zdenka Badovinac (Hg.): Body and the East. From the 1960s to the Present, Ljubljana 1999, S. 19-30, hier: S. 23.
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Abb. 4: Jan Mlčoch: Der große Schlaf tschechischen Body-Art-Künstlers Jan Mlčoch, der sich mit zwei Assistenten und einem Fotografen in ein verlassenes, verstaubtes Dachgeschoss begab, finden wir geradezu eine alptraumhafte und an klassische Foltermethoden rekurrierende Figuration (Abb. 4). Einer seiner Helfer verband Mlčoch die Augen, der andere festigte ihm die Beine und Arme an vier Seilen. Anschließend verstopften sie dem ohnmächtig auf dem Boden liegenden Performer die Ohren mit Wachs und zogen ihn in die Höhe. Der große Schlaf (Velký spánek, 1974), so der Titel der Aktion, dauerte nur wenige Minuten, weil Mlčoch die Schmerzen in den Handgelenken nicht lange ertrug und um seine Entbindung bzw. die damit einhergehende Beendigung der Performance bat. Die Fotografie, die diese kurze Aktion einfriert, zeigt Mlčoch in einer räumlichen und körperlichen Konstellation der Übergänge: Die Verborgenheit der Dachetage bietet ihm eine Obhut vor der Öffentlichkeit, stellt sie doch einen Isolationsraum dar, der eine Nähe zum Himmel suggeriert. An der Spitze des Hauses angesiedelt ist das Dach ein Ort, der das Gebäude bedeckt aber niemandem gehört, ein geheimnisvolles Areal für heimliche Liasons oder
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Suizidversuche30, d.h. es ist ein Ort, der Zuf lucht bietet für verbotene Aktivitäten an der unsichtbaren Peripherie der Gesellschaft. Die räumliche Beziehungslosigkeit spiegelt sich auch in Mlčochs schwebender Pose wider, in der zwischen oben und unten, Erde und Himmel eingenommenen Stellung, die jenseits topologischer Fixierbarkeit steht und dem Gesetz der Schwerkraft trotzt. Das Körperarrangement weckt neben dem Eindruck der Schwerelosigkeit auch Assoziationen an Foltermethoden wie Fesselung oder Schlafentzug, die ihm am dead-lock eines schmerzvollen Sturzes halten und den Wunsch, willentlich in den Schlaf zu fallen, unerfüllt lassen. Es handelt sich um einen schmerzvollen Zustand des Dazwischen, das Mlčoch von einem psychisch-mentalen Schauplatz des melancholischen Rückzugs konkret auf eine räumliche Szenerie überträgt, in eine Pose des Dazwischen, in dem etwas im Wege des (Sich-)Loslassens steht, sei es die Unfähigkeit, die Außenwelt ganz zu verdrängen, das Leiden an der ausgespannten Köperposition oder nur der Umstand, dass die Beabsichtigung des Schlafens einen vom Schlaf stets zurückhält. Mlčoch stellt somit den unbestimmbaren Übergang zwischen Wachsein und Schlaf als einen Kampf gegen Sinnesempfindungen, die zu eliminieren gilt, aus. Denn ohne zu hören, zu sehen, sich bewegen zu können, und nicht zuletzt jenseits einer topologischen Bindung zu existieren scheint er den Schlaf im buchstäblichen Sinne herbeiführen zu wollen. Auf plastische Weise demonstriert somit Der große Schlaf eine radikale Selbstbegrenzung, die im Dienste eines Übertritts der Bewusstseinsgrenzen stehen soll, aber diese Grenzen nur zu dynamisieren und nicht zu übertreten erlaubt.31Besessen von dem Wunsch, einzuschlafen, hat Mlčoch seine Schlafperformance im Jahre 1980 in Amsterdam wieder aufgegriffen, doch diesmal in ein optimistisches Szenario transformiert: Er nahm den Auftrag der De Appel Galerie zum Anlass, den Ausstellungsraum in ein kostenloses Schlafquartier zu verwandeln, ihn also umzufunktionalisieren und dementsprechend die Kunst im Rahmen der Kunst zu verabschieden. Und tatsächlich markierte diese Intervention – unter dem englischen Titel Hostel – seine Kritik an und seinen Abschied von der Kunst, denn nach einer Reihe von 30 Vgl. Petr Rezek: »Encounters with Action Artists«, in: Tomas Pospiszyl; Laura Hoptman (Hg.): Primary Documents: A Sourcebook for Eastern and Central European Art Since the 1950s, Cambridge, Massachusetts; London 2002, S. 220-225, insbesondere: S. 111. 31 Darüber hinaus rückt der Titel Der große Schlaf – als Synonym des Todes – diese schmerzvolle Aktion in thanatologische Zusammenhänge, die Assoziationen an den Wunsch, in einen erholsamen Schlaf zu fallen, geradezu ausschließen.
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Selbstverletzungs- und Schmerzaktionen entschied sich Mlčoch mit Blick auf die zunehmende und für ihn »abscheuliche«32 Institutionalisierung und Kommerzialisierung der Performancekunst im Westen, künftige Auftritte zu verweigern und beendete sein künstlerisches Oeuvre mit der Freisetzung einer Kunstinstitution für die Öffentlichkeit. Sein Statement, dass »[s]uch a nice room in the middle of the city should be put to better use than for art«33 lief auf die emanzipatorische Entgrenzung der Kunst hinaus, d.h. auf die Eliminierung jenes normativen institutionellen Rahmens, die noch in den 1960er Jahren auf der Agenda westlicher Performancekünstler_innen stand, aber, so Mlčoch, stillschweigend aufgegeben wurde. Die Verwandlung der De Appel Galerie in ein Areal des kollektiven Schlafens überschritt aber nicht nur die konventionelle – räumliche wie zeitliche – Nutzungsordnung der Institution, sondern appellierte an ein transgressives Verlassen sowohl der ästhetischen Sphäre wie auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und zwar dadurch, dass Mlčoch Bürgerinnen und Bürger der Stadt zu einer geteilten – gemeinsamen und dennoch voneinander separierenden – Schlafperformance einlud. Mlčochs Zeitgenosse und Freund Petr Štembera wählte eine andere, in osteuropäischen Ländern verbreitete Art und Weise der Isolation von künstlerischen und gesellschaftlichen Rahmungen, und zwar die Flucht in die Natur, als er die melancholische Schlaf losigkeit in einer Reihe asketischer Aktionen zeitlich ausdehnte. Štembera hat schon während seines Besuchs in Paris Experimente der Enthaltsamkeit durchgeführt. Mangels einer festen Unterkunft und finanzieller Sicherheit bewegte er sich mehrere Tage lang auf den Straßen von Paris,34 ohne die basalen menschlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen zu befriedigen. Diese aus dem Not heraus entstandenen Aktionen der Selbstverausgabung dokumentierte er mit minutiöser Genauigkeit: »Vom 11.-14. Juni 1973: fünf Tage ohne zu essen/am ersten Tag ohne zu trinken; vom 1.-4. Januar 1974 und vom 10-13. März 1974: vier 32 Jindřich Chalupecký: Na hranicích umění, München 1987, S. 145. Zur englischen Übersetzung vgl. Pavlína Morganová: Czech Action Art. Happenings, Actions, Events, Land Art, Body Art and Performance Art Behind The Iron Curtain, Prag 2014, S. 181. 33 Jan Mlčoch zitiert nach Ludvík Hlaváček: »Vzpomínka na akční umĕní 70. let«, in: Výtvarné uměni 3 (1991), S. 73. 34 Zur ausführlichen Beschreibung der Protokolle seines asketischen Verhaltens vgl. Maya Fowkes: The Green Bloc. Neo-avant-garde Art and Ecology under Socialism, Budapest; New York 2015, S. 219-220.
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Abb. 5: Petr Štembera: Schlafen auf einem Baum Tage und drei Nächte ohne zu schlafen; 10.-23 August 1974: vierzehn Tage ohne zu essen.« Die Phasen der Askese könnte man auch als Übungen für seine bemerkenswerte Schlafperformance Schlafen auf einem Baum (Spaní na stomě, 1975) betrachten, verbrachte er doch nach drei schlaf losen Nächten die vierte Nacht zwischen Erde und Himmel auf dem Ast eines Baums (Abb. 5). Am Rande von Prag wachte er die ganze Nacht allein in der dunkel und konturlos werdenden Landschaft. In Wirklichkeit glich Štemberas Schlafposition einem Balanceakt, den einige, in den frühen Morgenstunden eintreffenden Freunde von ihm fotografisch festgehalten haben und den Künstler dazu zwang, über Nacht bei Bewusstsein zu bleiben und sich letztlich von dem Schlaf zurückzuhalten. Damit stand im Mittelpunkt der Aktion eine Sondierung des eigenen physischen Vermögens, der Ausdauerleistung und der Disziplin, um einen Zwischenbereich zwischen Aktivitäts- und Ruhezuständen zu erreichen, in dem der vom Zen-Buddhismus beeinf lusste Štembera eine Phase der Versenkung zu erreichen suchte. Mit dieser Figuration ruft die Performancefotografie ein ganzes Repertoire melancholischer Grenzerfahrungen wach, öffnet sie doch die Sicht auf eine einsame, abseits des Alltäglichen verweilende Bildfigur und jene kosmischen Dimensionen
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Abb. 6: Milan Pagáč: Wagemütig einer Himmellandschaft, die in Melancholiedarstellungen – von Albrecht Dürer bis Jeff Wall – regelrecht einen beträchtlichen Teil der Kompositionen einnehmen. Štemberas Position ist nach dieser Logik ebenfalls zwischen Sozialität und dem Äther angesiedelt, auf einem Baum allerdings, auf dem das Einschlafen faktisch nicht gelingen kann, ohne in einen unmittelbaren Absturz und den damit einhergehenden Wiederaufwachen zu münden. Auf diese Weise konkretisieren sowohl Mlčoch wie auch Štembera ein alternativloses, melancholisches Schweben zwischen der Realität und dem Reich des Schlafs, akzentuieren es aber als ein virtuoses Spiel mit insomnia in räumlichen und zeitlichen Schwellenzonen. Heranziehen lässt sich in diesem Zusammenhang auch Milan Pagáčs fünfstündiges Schlafritual im Wald eines kleinen slowakischen Dorfes namens L’ubietová. In einer ebenfalls eigenwilligen Schlafposition wurde der
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nackte Pagáč auf sieben unterschiedlich langen Gürteln liegend in die Höhe gezogen (Wagemütig [Daring], 1981, Abb. 6). Der Rauch eines unter ihm errichteten Lagerfeuers umhüllte den bewegungslosen Performer, der sein Körpergewicht auf sieben Stützstellen dauerhaft so zu verteilen hatte, dass er nicht herunterstürzt. Ins Auge fallen vor allem die unterschiedlichen Längen der einzelnen Bänder; die Abweichungen sind jedoch nicht beliebig, sondern bilden aufgrund exakt berechneter proportionaler Differenzen das sieben-stellige Datum der Performance (12.8.1981) ab. Es handelt sich erneut um eine Figuration der Stillstellung, in der aber enorme Kräfte der Konzentration und der Körperkontrolle am Werk sind, die den Eintritt eines ungestörten Ruhezustands verhindern. Die Logik einer melancholischen Disposition scheint auf, die den Performer in einem Zwischenbereich hält, da seine Anstrengungen ihn zwar von der Integration in die gesellschaftliche Realität ablenken, aber gleichsam vom Schlaf fernhalten. Auf diese Weise werden Pagáčs Körper und psychische Verfasstheit in einem langen Verausgabungsprozess an die Limitationen ihrer Verfügbarkeit geführt; an die Grenze der Ohnmacht getrieben kann der Schlafmoment lediglich um den Preis der gänzlichen Erschöpfung herbeigeführt werden, in einem Moment der Kapitulation, die seinerseits schon den Augenblick eines schmerzvollen Aufwachens in Aussicht stellt und hier mit der Gefahr des physischen Sturzes angedeutet wird. Ebenfalls außerhalb der gesellschaftlichen Sichtbarkeit und Publizität fand Vladimír Havlíks Schlafperformance statt, die den Rückzug in die Landschaft mit einer thanatologischen Motivik verband. Den Rasen aufzurollen und sich damit zu bedecken erweckte den Anschein, als würde sich Havlík in den Grab legen und eine Einswerdung mit der Natur zu anvisieren. Zwar äußerte sich Havlík nie zum Verlauf seiner Aktion, er ließ aber zwei von ihm ausgewählte Fotografien und nicht zuletzt ein eigenes Gedicht überliefern, in dem er den Titel der Performance Ein Versuch zu schlafen (Pokus o spánek, 1982) im Kontext des Abschieds von der Welt stellend das Einschlafen mit der Allegorie des Ablebens in Verbindung brachte: »As if buried, as if dead/Shrouded by a meadow […] /The weight of soil and the weight of the mind. The scent of grass it would seem: the most natural way of sleeping/ Yet – I didn’t fall asleep.«35 Die Einswerdung mit der Erde, die Einhüllung durch die Natur haben ihren Fluchtpunkt im Sterben, der aber in der vorzeitigen Selbstbestattung nicht eintritt, weil der Tod, launisch wie der Schlaf, 35 Vladimír Havlík zitiert nach Morganová: Czech Action Art, a.a.O., S. 132.
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zu unkalkulierbaren Zeit – oder wie Derrida schreibt – »immer zu früh oder zu spät, zur Unzeit«36 kommt. Der Fall in den Schlaf ebenso wie der Sturz in den Tod haben gemein, dass sie uns auf einen unbestimmbaren Zeitpunkt gefasst machen, in dem die vermeintliche Grenze zur Selbstabwesenheit zu einer Schwelle des Übergangs wird. Das Motiv des Schlafens tauchte in der osteuropäischen Aktionskunst nicht nur in Figurationen von horizontalen Posen auf. Es war die Szenografie der Nacht als solche, die als bevorzugte Obhut der Künstler stets wiederkehrte und durch ihre Stille und Dunkelheit eine statische, melancholisch gestimmte Landschaft jenseits der Topografien urbaner Kontrolle bat. Vertreter_innen der ›Neuen Slowakischen Welle‹, einer Gruppe von jungen, Anfang der 1980er Jahre an der Kunstakademie Prag (FAMU) zusammengekommenen Student_innen favorisierten die Nacht als ein Universum für ihre Gruppenarrangements oder Selbstportraits. In Jano Pavlíks Fotoperformance Ernest sagt und sieht nichts (Ernest nič nehovoriaci a nič nevidiaci, 1982-86) sind die menschlichen Sinne ausgeschaltet (Abb. 7): Vor dem nächtlichen Hintergrund wurden dem Modell die Augen und der Mund zugeklebt, um Schweigen und Blendung als Effekte der Isolation zu markieren, doch diese Isolation gelichzeitig zu ästhetisieren und zu fixieren. Lucia L. Fiserová weist genau auf diese doppelte Logik hin: »[…] the darkness of the picture is both the source and the means of heavy melancholy. The characters are picked out of the action, illuminated by a spotlight, and cast ›onto the stage‹, which is isolated from it’s surroundings, without us knowing the previous picture.«37Pavlíks Bilder sind Inszenierungen einer Ohnmacht, die ambivalent verfasst ist, insofern die Bildfigur in ein finsteres Szenario eingehüllt ist, aber durch das Blitzlicht der Kamera aus dem Versteck der Dunkelheit herausgeschnitten wird, um seinen Rückzug zugleich zu theatralisieren und zu vereiteln. In allen aufgegriffenen Schlaf-Aktionen offenbaren sich also Suchbewegungen nach bewusstlosen Seinszuständen, nach Dunkelheit, Einsamkeit oder nach der Stille der Nacht, Fluchtversuche also, die jedoch immer durch fotografische Dokumentation theatralisiert werden. Wenn man so 36 Jacques Derrida: Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein, München 1998, S. 125. 37 Lucia L. Fiserová: »Night – spacetime of the imagination. Melancholy of the city at night. Diary of a somnambulist«, in: dies.; Tomás Pospech: The Slovak New Wave, Prag 2014, S. 4445, hier: S. 45.
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Abb. 7: Jano Pavlík: Ernest sagt und sieht nichts will, verwandeln die bildlichen Fixierungen der Schlafaktionen das scheinbare Nichttun in Kunst. Den Performern ist es somit nicht nur darum zu tun, aus der Realität zu verschwinden, sie suchen gleichzeitig die Spuren ihres Rückzugs in einen ästhetischen Rahmen zu stellen, in dem die Herausforderungen, die mit der Praxis des Einschlafens verbunden sind, ref lektiert werden. Worauf die Schlafperformer in ihren Fotoaktionen anspielen ist daher jene Unbestimmbarkeit, die den Eintritt in die Ordnung des Schlafs ebenso kennzeichnet, wie den Moment des Wieder-Aufwachens. Bei den erwähnten Performern kristallisiert sich somit eine gemeinsame politische Strategie heraus, die das Widerständische und Kritische aus einem Spannungsverhältnis von An- und Abwesenheit zutage fördert: Sie setzen
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das Schlafen-Wollen, d.h. die willentliche Distanznahme von dem Regime gesellschaftlicher Funktionalität als eine melancholische Abwendung in Szene, die aber kein Verschwinden ist, hinterlässt doch ihr Rückzug in Form theatralisierter Fotografien zwangsläufig Spuren, um den Konsens der geregelten Arbeitszeit zu irritieren, Ökonomie und Effizienz kritisch zu unterwandern. Performer, die Schlafen gehen, verbindet damit die Erkenntnis, dass dem Zustand der Insomnia eine politische Dimension eignet, insofern man in ihr die Forcierung und gleichzeitig die Unmöglichkeit gesellschaftlichen Rückzugs kommunizieren kann. Als würden die in Illegalität gedrängten Performer und Aktionisten darauf beharren, dass ihre Selbstzurücknahme über ein dialektisches Potenzial verfügt, indem sie durch die Ästhetisierung und fotografische Theatralisierung des Verschwinden-Wollens eine private oder lediglich vor wenigen Zuschauenden ausgeführte ›Szene‹ mit Hilfe der Dokumentation in Schauplätze des Kritischen verwandeln. Denn als teleologisch verfasstes, in die Zukunft projizierbares Ziel ihrer Politik scheint immer nur der Schlaf und somit jenes Verschwinden auf, das stets in seiner Unverfügbarkeit bekräftigt wird und damit eine unzensierbare, indirekte Politik artikuliert. Jano Pavlík versuchte ein weiteres Mal das Exil aus der Realität spielerisch wie dramatisch zum Ausdruck zu bringen. Die Rede ist von seinem Hommage an den Märtyrer Marat (Ohne Titel [Selbstportrait Snina] [Beznázvu (autoportrét, Snir)], 1987), dessen – durch Jacques-Louis Davids Gemälde Der ermordete Marat (1793) im kollektiven Bildgedächtnis fest verankerte – Sterbeszene bei Pavlík an die Grenze des Profanen getrieben wird, um in der Figuration des sterbenden Revolutionären eine schwere wie süße Melancholie des Widerstands zu erkennen zu geben (Abb. 8). Dem Bild, das zwischen augenfälliger Konstruiertheit und Fiktionalisierung, alltäglicher Verankerung und historischer Referenzialität changiert, haften beinahe Spuren des Parodistischen an, handelt es sich doch um eine offensichtlich kunstvolle Nachstellung einer bekannten Komposition, die ein heroenhaftes Martyrium in eine gewöhnliche Szenerie transferiert. Worauf die Allusion an Marat und die gleichzeitige Distanznahme von ihm jedoch hinweist, ist das Moment der Verstellung, die willentliche Schließung der Augenlider nämlich, die Pavlík durch ein implizites Lächeln andeutet. Er konfrontiert uns mit einer darstellungstheoretischen Problematik, die die ästhetische Evokation von Schlafenden wie Toten miteinander verbindet, dem Umstand nämlich, dass der Schlaf, der ruhende Punkt des Lebendigen, auf einem theatralen Schau-
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Abb. 8: Jano Pavlík: Ohne Titel (Selbstportrait Snina) platz immer als Fake stattfinden muss. Und wenn auch Aktions- und Performancekünstler_innen von vorn herein für die programmatische Zurückweisung der Nachahmung einstanden und statt der Abbildung immer den Vollzug einer Handlung bevorzugten, stießen sie in Schlafperformances stets an die Grenzen des ›Authentischen‹. Künstler, die im Begriff sind, in den Ruhezustand zu sinken, müssen in das Paradigma der Nachahmung zurückfallen, um Szenen des Schlafens – aber auch des Sterbens – zeigen zu können.38 Was dadurch all die Schlafperformances eint, ist ihre jeweilige Theatralisierung, die nicht nur in der Spurensicherung und Ästhetisierung der Aktionen besteht, sondern auch 38 Auf weitere Schlafperformances, deren Analysen das vorliegende Kapitel gesprengt hätte, die aber das Motiv der schlaflosen Wachsamkeit allesamt aufgreifen, seien hier kurz genannt. Die Rede ist von Július Kollers Horizontaler Mann (Horizontalnik, 1981), Miklós Erdélys Schlafaktion mit der Gesamtausgabe von Milán Füsts Gedichten (1972), den auf dem Asphalt mit verborgenem Gesicht liegenden Figuren in Milan Knížáks Fluxusserie Environments auf der Straße (1962-64), Juray Bartusz’ Offizielle Bestätigung (Úradné potvrdenie, 1971) und Baranyay András’ Fotoperformance Schlafbild (1986).
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in den Strategien des Fingierens einer tatsächlichen ›Selbstabwesenheit‹. Štembera posiert mit dem Rücken zur Kamera, Mlčoch und dem Modell von Pavlík werden die Augen verbunden, aber auch – um an das Anfangsbeispiel zurückzukommen – Stilinovićs Augenlider bewegen sich zwischen den einzelnen Exponaten, werden geschlossen und immer wieder geöffnet, um auf die mimetische Herausforderung zu verweisen, die mit der Darstellung des Schlafs verbunden ist. In seiner Alltagskleidung und in frei modulierenden Posen bemüht sich zwar Stilinović, scheitert aber offensichtlich daran, wie auch seine Zeit-Genossen, einzuschlafen. Oder schlafen sie teilweise doch? Ihr ›Theater‹ scheint ein Theater der Unentscheidbarkeit zu sein, denn der Moment, in dem sie gut spielen, ist leicht zu verwechseln mit dem Moment, wo sie gar nicht zu spielen imstande sind, weil sie schlafen. Im Unterschied zu Warhols kinematographischer Repräsentation des schlafenden Freundes sind Stilinović und seine Weggefährten aus dem Ostblock nicht so sehr an der Annäherung an die Limits filmischer Repräsentation interessiert39, sie verwischen vielmehr die Grenze zwischen Spielen und Nicht-Spielen-Können, zeigen sie doch, dass die Unbestimmbarkeit des Schlafmoments sowohl den Schläfer herausfordert wie auch die Außenstehenden und dessen Verhalten verunsichert: ›Schlafen sie schon?‹ ›Sind sie schon abwesend?‹, oder: ›Sind sie wieder wach?‹ – Das sind Fragen, in denen die kritische Praxis der schlafenden Neoavantgardisten Osteuropas ihre Pointierung findet, insofern man nicht wusste, wann genau sie einschlafen oder wirklich ›aufwachen‹ würden.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Mladen Stilinović: Artist at Work (1978), aus: Mladen Stilinović, 1+2≡, México, D.F. 2015, S. 18. Abb. 2. L’ubomír Ďurček: Analytische Studie von Relationen. Mensch Raum Zeit. Markt, aus: Mira Keratová, L’ubomír Ďurček. Situational Models of Communication, Bratislava 2013, S. 101. Abb. 3. Marian Palla: Ich existierte auf diesem Gemälde zwei Tage lang und aß 7.799 Reiskörner (1980), aus: Pavlína Morganová, Czech Action Art. Happe-
39 Vgl. Christoph Hesse; Oliver Keutzer; Roman Mauer; Gregory Mohr: Filmstile, Wiesbaden 2016, S. 346.
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nings, Actions, Events, Land Art, Body Art and Performance Art Behind The Iron Curtain, Prag 2014, S. 208. Abb. 4. Jan Mlčoch: Der große Schlaf (1974), aus: Pavlína Morganová, Czech Action Art. Happenings, Actions, Events, Land Art, Body Art and Performance Art Behind The Iron Curtain, Prag 2014, S. 175. Abb. 5. Petr Štembera: Schlafen auf einem Baum (1975), aus: Pavlína Morganová, Czech Action Art. Happenings, Actions, Events, Land Art, Body Art and Performance Art Behind The Iron Curtain, Prag 2014, S. 166. Abb. 6. Milan Pagáč: Wagemütig (1981), aus: Zora Rusinová (Hg.), Umenie Akcie 1965-1989, Bratislava 2001, S. 1. Abb. 7. Jano Pavlík: Ernest sagt und sieht nichts (1982-86), aus: Lucia Fiserova u.a. (Hg.), The Slovak New Wave. The 80s, Bratislava 2014, S. 22. Abb. 8. Jano Pavlík: Ohne Titel (Selbstportrait Snina) (1987), aus: Lucia Fiserova u.a. (Hg.), The Slovak New Wave. The 80s, Bratislava 2014, S. 115.
2 Kritik durch die Unterbrechung öffentlicher Normstrukturen
»Bitte drehen Sie mich in die richtige Richtung!« Zur Kunst der Kontestation in den inoffiziellen performativen Praktiken in der Slowakei der 1970er Jahre Andrea Bátorová
»Ich habe nicht vor, diesen Text der Zensur vorzulegen, ebenfalls habe ich nicht genug Mut daran zu glauben, dass es in einer absehbaren Zeit erneut zu einer Zeit ohne Zensur kommen wird. Ich würde sagen, jetzt ist die beste Zeit zum Schreiben. Freiheit ist in der Tat ein sehr widersprüchlicher Begrif f!« 1 »Dieser Raum ist keine Galerie, dieser Raum ist kein Atelier, es ist ein Zwischenraum. Womit fängt es an und womit hört es auf? Die Zeit, die man in ihm verbringt, ist nicht deine, die Zeit, die man in ihm verbringt, ist nicht meine, sie ist ein Augenblick der Ewigkeit. (Maße: 390x495x330 cm)« – schrieb der slowakische Künstler Lʼubomír Ďurček im Jahre 1981 mit der Schreibmaschine auf einen Zettel und hing diesen an der Innenseite seiner Wohnungstür auf (Abb. 1).2 Da er sonst keine Möglichkeit sah, offiziell seine Arbeiten und Ideen der Öffentlichkeit zu präsentieren, errichtete er in der 1 Milan Šimečka: Obnovenie poriadku, Bratislava 1990, S. 12. Die erste Ausgabe wurde 1984 als Exilliteratur in tschechischer Sprache unter dem Titel Nastolení pořádku in London veröffentlicht. 2 Vgl. Zuzana Bartošová: Napriek totalite, Bratislava 2011, S. 214. Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Zettel 1991 abgehängt wurde, allerdings hing er erneut an der Tür, als die Autorin den Künstler im September 2017 besuchte.
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Abb. 1: Lʼubomír Ďurček: Zwischenraum Wohnung seiner Eltern, in der er zu der Zeit wohnte, einen alternativen Ausstellungs- und Begegnungsraum. Das Schlüsselthema dieses Sammelbandes stellt u.a. die Frage nach der offenen und gleichzeitig öffentlichen Kritik des »post-totalitären Systems«3 mittels performativer künstlerischer Strategien. In Auseinandersetzung mit dieser Frage wird im Folgenden die These vertreten, dass performative Aktivitäten slowakischer Künstler, welche in den 1970er und 1980er Jahren in die Sphäre der inoffiziellen Kunst fielen, schon allein durch die Tatsache als kritisch gelten können, dass sie das autokratische Regime durch subversive Strategien und Ereignisse unterminierten und die offiziell gültige und vermeintlich alternativlose, ja ›richtige‹ Doktrin des Sozialistischen Realismus hinterfragten. Diese Aktivitäten fungierten als Störfaktoren in einem nach
3 Den Begriff ›Post-Totalität‹ prägte Václav Havel, um zu markieren, dass das totalitäre System in der ehemaligen Tschechoslowakei der 1970er und 1980er Jahre einen anderen Charakter hatte als die totalitären Strukturen der 1950er und 1960er Jahre. Vgl. Václav Havel: Moc bezmocných, Prag 1990, S. 5-6.
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genauen Regeln funktionierenden staatlichen Apparat, denen die Bürger_ innen blind zu folgen hatten. Der Begriff ›Kunst der Kontestation‹ geht auf die Untersuchungen des slowakischen Kunstkritikers Tomáš Štraus zurück, der in seinem Text »Kunst der Kontestation und Kontestation der Kunst« unter anderem die Aktivitäten des Kollektivs ›Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens‹ (Dočasná spoločnosť intenzívneho prežívania, DSIP) analysiert hat. Štraus verwendete diesen Begriff, um die experimentellen künstlerischen Aktivitäten der jungen Künstlergeneration zu bezeichnen, welche sich kritisch mit der bestehenden Realität und der unmittelbaren Umgebung auseinandersetzte. Štraus zufolge ist die Kunst der Kontestation für das Kollektiv aus dem Grund charakteristisch, weil sie durch das »Abtasten« ihres Umfeldes die eigene Positionierung innerhalb diesem zu erfahren bzw. zu befragen versuchten. Nach Štraus ist die Priorität dieser öffentlich stattfindenden Konfrontationen nicht die Veröffentlichung künstlerischen Materials, das bereits produziert wurde, sondern das Ziel bestehe vielmehr in der Kreation einer neuen Qualität, d.h. in der »Aktion als Kreation oder sogar als Sinn der Kreation«4. Im Folgenden werden Projekte der ›Temporären Gesellschaft des intensiven Erlebens‹ sowie Interventionen von Lʼubomír Ďurček untersucht, die weniger eine zielgerichtete und intentionale, als vielmehr eine von Seiten der Autoritäten erst im Nachhinein in die Aktionen ›hineinprojizierte‹ kritische Dimension eröffnet haben. Václav Havels These folgend, die er in seinem Essay »Die Macht der Machtlosen« (»Moc bezmocných«) formulierte, galt im Post-Totalitarismus »jede freie Tat als politicum par excellence«5. In diesem Sinne rutschten die inoffiziellen künstlerischen Praktiken bereits dadurch in die Sphäre des Politischen, dass sie diese trotz ihrer ›Inoffizialität‹ im öffentlichen, sprich: offiziellen Raum stattfanden. Sie wurden zum politicum unabhängig von der Intention ihrer Autor_innen und Ausführenden. Folglich sind diese Aktionen nicht aufgrund ihrer ausgesprochen ideologiekritischen Inhalte, sondern angesichts der gesellschaftspolitischen Situation des Realsozialismus als subversiv zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund manifestieren die zu behandelnden Performances ein Paradox: Es ist erst das System, das in 4 Tomáš Štraus: Slovenský variant moderny, Bratislava 1992, S. 120. 5 Havel: Moc bezmocných, a.a.O., S. 25.
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diese Aktivitäten eine Art Kritik hineinprojiziert, wodurch das System durch die Einordnung der Aktionen als ›kritisch‹ allererst eine subversive Sicht auf sich eröffnet. Anders gesagt: Die Kritik wird nicht unbedingt von Seiten der Künstler_innen vorgebracht, sondern von Seiten der Autoritäten. In diesem Sinne werde ich auf Spannungen des Kritischen fokussieren, die in der Interaktion zweier Polaritäten – der offiziellen und der inoffiziellen Machtgefüge – entstanden sind und dadurch das öffentlich Zugelassene bzw. das Verbotene in ein konf liktreiches Wechselspiel gebracht haben. Im Kontext der gesellschaftspolitischen Situation der Tschechoslowakei trat folglich das Paradox zutage, dass die Aktivitäten von Performancekünstler_innen zum einen aus dem klassischen Kanon der Kunstgeschichte und zum anderen aus dem des Sozialistischen Realismus herausfielen und aus offizieller Sicht in einer Grauzone außerhalb der institutionellen Rahmen der Kunst zu verorten waren. Hat man künstlerische Aktivitäten nicht in den Kanon der Kunst eingebettet, so galten diese für die Kommunistische Partei und ihre Ideologie als ›Nichtkunst‹, d.h. sie wurden als entarteter Import oder als Nachahmung der westlichen ›dekadenten‹ Ästhetik wahrgenommen. Während die Doktrin des Sozialistischen Realismus in den 1950er Jahren einen strikt normativen Charakter hatte, der zweifellos zu befolgen war, änderte sich die Situation in den 1960er Jahren deutlich. Im Prozess der Liberalisierung der Kultur im Rahmen des sogenannten ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹, welcher von der Leitfigur des Hauptsekretärs der Kommunistischen Partei, Alexander Dubček, geleitet wurde, entstand nach der »Hexenjagd«6 der 1950er Jahre eine rege, relativ freie Kunstwelt, die man in den ›goldenen 1960er Jahren‹7 verorten kann. Nach diesem Prozess der Liberalisierung war die Rückkehr zur Doktrin des Sozialistischen Realismus nach dem Prager Frühling (1968) zwar politisch möglich, doch die Auf lockerung der 1960er Jahre konnte nicht mehr in Vergessenheit gedrängt werden.8 6 Den Begriff der ›Hexenjagd‹ benutzte der slowakische Künster Alex Mlynárčik, um die Künstler_innenverfolgung in den 1950er Jahren zu bezeichnen. 7 Zwar galt der sozialistische Realismus in den 1960er Jahren als offizielle ästhetische Doktrin, nach 1964 war die Kultursphäre jedoch relativ offen für neue, beispielsweise auch neo-avantgardistische Kunstströmungen. Diese liberale Entwicklung wurde unterbrochen durch die Invasion der Armeen des Warschauer Paktes am 21.8. 1968. 8 Als Beispiel kann hier die Aktion II. Permanente Manifestationen (II. Permanentné manifestácie, 1966) von Alex Mlynárčik angeführt werden. Nach der Realisierung wurde der Künstler
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Somit war jede Direktive von oben für die Künstler_innen ein fremdes Element, ein fremder Vorgang, ein Versuch, das ›Unmögliche‹ erneut zu implementieren. Der angebliche Erfolg und die Funktionstüchtigkeit des Sozialistischen Realismus in den 1970er und 1980er Jahren stellte im Anschluss an die progressiven Entwicklungen der 1960er Jahre einen Rückschritt bzw. eine desillusionierende Wendung der kommunistischen Propaganda dar und führte zwangsläufig zur Erschaffung von alternativen Kreativitäts- und Handlungsräumen, die man als inoffizielle Kunstszenen bezeichnete. Wie bereits erwähnt schuf der kulturpolitische Apparat durch die Exklusion abweichender künstlerischer Gesten geradezu einen fruchtbaren Boden für alternative Entwicklungen. Diese konnten – da sie nicht als Kunst anerkannt waren – inmitten der Öffentlichkeit erscheinen und sich artikulieren. Es entstand, so Tomáš Štraus, ein »Untergrund gegen den Willen der Autoren«9, eine Art Ästhetik, die aus ihren Zusammenhängen und institutionellen Kontexten herausgerissen war. Die ›Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens‹ und der slowakische Künstler Lʼubomír Ďurček traten demonstrativ innerhalb der urbanen Realität von Bratislava an die Mitbürger_innen appellierend heran und unternahmen den Versuch, einen direkten Einf luss auf alltägliche Handlungen zu nehmen.
von der Polizei verhört und die Presse startete bereits im selben Jahr einen Angriff auf die Aktion. Von einer fortschreitenden Liberalisierung zeugt jedoch die Tatsache, dass es später zu einer Polemik kam: Der slowakische Kritiker Lʼudo Petránsky und sein tschechischer Kollege Jindřich Chalupecký reagierten in der Presse auf diesen negativen Angriff und plädierten für die Autonomie der Kunst. Im wichtigsten Buch der fortschreitenden Normalisierung, das unter dem Titel Für die sozialistische Kunst erschien, wurde diese Aktion 1972 erneut verurteilt und als »typisches Beispiel für dekadente, bourgeoise Tendenzen ›aus dem Westen‹« bezeichnet. Vgl. Andrea Bátorová: »Ausstellungen als (un)politische Medien, II. Permanente Manifestationen und Danuvius 68 (Zur alternativen und inoffiziellen Kunst in den 1960er Jahren)«, in: Verena Krieger (Hg.): When Exhibitions Become Politics, Köln; Weimar; Wien 2017, S. 169-170. 9 Tomáš Štraus: Slovenský variant moderny, Bratislava 1992, S. 105.
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1 Aktivitäten »außerhalb des Saals« Was passiert, wenn auf einmal performative Artikulationen im öffentlichen Raum erscheinen, welche von der normativen ›Ordnung‹ abweichen oder diese sogar unmittelbar stören? Worin genau steckt das kritische Potenzial solcher Aktivitäten, Aktionen und Events? Und in welcher Form war dieses Potenzial überhaupt in den ausgeführten Handlungen angelegt? Die aus jungen Leuten bestehende Gruppe ›Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens‹ (DSIP) traf sich seit 1974 und organisierte regelmäßig gemeinsame Abende in privaten Wohnungen. Die zentrale Figur der Gruppe war Ján Budaj.10 Die DSIP ging aus der ›Degenerierten Gruppe‹ (Degenerovaná skupina, DG) – einem aus Poeten bestehenden Kollektiv – und aus dem Theater Labyrinth11, einem Amateur-Theater, hervor, das zum Teil auch Pantomime spielte. Ebenso gesellten sich zu der Gruppe gleichgesinnte Freunde und Bekannte, die an den Aktivitäten regelmäßig teilnahmen. Die DSIP organisierte 6 gemeinsame Abende und gab immer wieder aus diesen Veranstaltungen hervorgegangene ›Samizdats‹ – insgesamt 3 Sammlungen von Texten und Statements – heraus.12 Die Aktivitäten von DSIP folgten in den anfänglichen Treffen hauptsächlich dem Destruktionsprinzip, bestand doch ihr Ziel während der gemeinsamen Abende darin, »jegliche Produktion zu zersetzen«13: Während einer Filmprojektion verlas jemand gleichzeitig Texte, so dass die Teilnehmer_innen sich wegen des großen Lärms beschwerten oder zum Teil die Räume verließen. »Die Konzeption dieser Events lief darauf hinaus, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Gruppe zu der damaligen Zeit als adäquat empfand. Es ging vor Allem um den Effekt von Nichtauthentizität, Langeweile, Desinteresse und Stereotypisierung.«14 Die Gruppe setzte sich zum Ziel, eine »Stimmung (wieder)herzustellen, die das Recht auf eine alternative Betrachtung« ermöglicht. Die Auftritte sollten absichtlich als dilettantisch, trivial, unge10 Vgl. ebd., S. 198. Ján Budaj versuchte mit 21 Jahren zu emigrieren, wurde jedoch bei seinem ›Fluchtversuch‹ festgenommen und arbeitete bis 1989 als Heizer. 11 Das Theater Labyrinth war ein Studententheater, das im V-Klub, einem alternativen Studentenklub im Zentrum von Bratislava, zwischen 1975-1980 bestand. 12 Die Materialien befinden sich im Privatarchiv von Ján Budaj. 13 Brief von Ján Budaj an Tomáš Štraus vom 10.10.1978, abgedruckt in: Štraus: Slovenský variant moderny, a.a.O., S. 198. 14 Ebd., S. 198-199.
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Abb. 2 + 3: Temporäre Gesellschaf t des intensiven Erlebens: Fiktive Kultur lungen und unvollständig auf die Zuschauer_innen bzw. Teilnehmer_innen wirken und damit ein Gefühl von Peinlichkeit, Enttäuschung und Unerfülltheit vermitteln.15 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, vor allem in den Jahren 1978-79, erfolgte ein Wandel im Charakter der Aktivitäten der Gruppe. Das Destruktionsprinzip wurde aufgegeben und die Mitglieder konzentrierten sich auf Untersuchungen der sozialen Umgebung und auf Interventionen im öffentlichen Raum. In Zusammenarbeit mit dem Amateur-Pantomime-Theater Labyrinth entstanden mehrere Projekte, welche in die urbane Realität von Bratislava direkt eingriffen. Wie Tomáš Štraus konstatiert, fanden die jungen Leute keine Antwort auf die Frage, wer sie sind und was bzw. wie sie etwas bewirken könnten, sei es in der Schule oder in der Sphäre der institutionellen Kunst. Aus diesem Mangel heraus sahen sie sich »gezwungen«16, die herrschende Stille und Ignoranz um sich herum durch Kontestation zu durchbrechen.
15 Ebd. 16 Ebd., S. 120.
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Das Kunstprojekt Woche der Fiktiven Kultur (Týždeň fiktívnej kultúry) fand vom 22. Januar bis zum 3. Februar 1979 auf den Straßen von Bratislava statt. Die Gruppe hatte Plakate in der Stadtmitte mit der Ankündigung von fünf fiktiven Veranstaltungen installiert, welche in Wirklichkeit nie stattgefunden haben (Abb. 2-3). Das erste Plakat, das in einem Stadtpark installiert wurde, kündigte den Film Schmerz. Das Problem der Homosexualität in der modernen Gesellschaf t von Ingmar Bergman an. Das zweite Plakat warb für eine Ausstellung von Salvador Dalí in der Slowakischen Nationalgalerie, während das dritte Plakat zum Theaterstück Das Auge von Eugène Ionesco ins Nationaltheater einlud. Das vierte Plakat verhieß eine Ausstellung von René Magritte, welche im Primazialpalast stattfinden sollte und ein fünftes Textilbanner machte ein Konzert von Bob Dylan und ABBA im Kulturpark bekannt. Die Gruppe beobachtete dann, welche Reaktionen diese Ankündigungen erweckten. Die ›Lebensdauer‹ der Plakate war unterschiedlich, denn während das Poster für die Ausstellung von Salvador Dalí bereits nach einem Tag entfernt wurde, hing die Werbung für das Theaterstück von Eugène Ionesco zwei Wochen lang auf einem der Hauptplätze in der Altstadt von Bratislava, ohne dass es jemanden irritiert hätte. »Die Teilnehmer dieser Nichtrealität haben real an etwas teilgenommen«, schreibt Budaj, »sie haben eine Haltung zu den Ankündigungen eingenommen und beschäftigten sich wenigstens eine Weile mit den verkündeten kulturellen Ereignissen«17. Budaj berichtet sogar, dass es noch Wochen nach der Plakataktion Gerüchte darüber gab, dass diese Veranstaltungen tatsächlich stattfinden würden. Hauptsächlich das Konzert von Bob Dylan und ABBA erweckte großes Interesse. Wie von Budaj bemerkt, zeigte sich in der Woche der Fiktiven Kultur der leitende Anspruch der Gruppe, einen Dialog innerhalb des öffentlichen Raumes und der städtischen Publizität anzustoßen und die Menschen zu Reaktionen zu provozieren. Gleichzeitig macht sich hier der Ansatz bemerkbar, auf Mängel innerhalb des Kulturapparats, ja die Abwesenheit einer Polyphonie hinzuweisen und dadurch die Beschränktheit der offiziellen Kultur des realen Sozialismus zu enttarnen. Eine weitere öffentliche Aktion, Die Woche des Straßentheaters, wurde von DSIP in Zusammenarbeit mit mehreren Amateurgruppen und befreundeten Künstler_innen im Mai 1979 in Bratislava organisiert. Die Erlaubnis und die Zustimmung für die Durchführung erteilte ihnen das Städtische Haus für 17 Ebd., S. 202.
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Abb. 4-9: Temporäre Gesellschaf t des intensiven Erlebens: Karneval Kultur und Bildung (Mestský dom kultúry a osvety, MDKO).18 Im Rahmen der Woche des Straßentheaters wurde allerdings eine Strategie eingesetzt, die sich von den gängigen Interventionstaktiken der DSIP deutlich unterschied. Denn in den ersten öffentlichen Aktionen der Gruppe (1978) traten die Mitglieder mit weiß geschminkten Gesichtern – als Mimen – auf und waren dadurch offensichtlich in die Logik des pantomimischen Spiels einzubetten, auch wenn sie in der Altstadt von Bratislava agierten. Bereits 1978 ließen sie
18 Lʼubomír Ďurček erinnert sich daran, dass es hier eine Beamtin gab, die einen Sinn für alternative Kunstäußerungen hatte und eine Genehmigung für die Aktion erteilte. Der Künstler nahm an vielen Aktivitäten von DSIP teil, obwohl er nicht Mitglied der Gruppe war. – Aus dem persönlichen Gespräch der Autorin mit dem Künstler im September 2017.
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den Mimen ›Pepo‹19 dort auftreten, der den Mitbürger_innen als Valentín aus der bekannten Kindersendung Die Sonne auf dem Handschuh (Slniečko na rukavičke) bekannt war. Pepo ahmte auf einem Hauptplatz die Passanten, ihre Art zu gehen, ihre Gesten und Mimik nach. Auf den Fotodokumenten dieser Aktion sieht man, wie viel Aufmerksamkeit unter den Fußgängern Pepo zukam. Allerdings blieben diese Auftritte, die wie kleine Aufführungen im öffentlichen Raum anmuteten, ohne kritisches Potenzial. Dies war auch deshalb der Fall, weil durch die eindeutige Zuordnung der Spieler_innen als Mimen, die mittels Schminke zu bekannten Kindersendungsfiguren verwandelt wurden, einen harmlosen Charakter hatten. Ihr Agieren wurde daher als eine kleine Theateretüde wahrgenommen, die zwar auf der Straße stattgefunden hat, aber dennoch einer Kinder- bzw. Theaterwelt angehörte.20 Eine der ersten Aktionen während der Woche des Straßentheaters, das 1979 von DSIP organisierte Karneval (Karneval), entfaltete weit subversivere Wirkungen im öffentlichen Raum: Bei der alten Markthalle im Zentrum von Bratislava stellten die Mitglieder der Gruppe einen geschmückten Wagen mit Pferden auf. Ein Amateur-Schauspieler, der als ›Feind‹ bezeichnet wurde, trug seine Rollenbezeichnung als Inschrift auf seinem weißen T-Shirt auf dem Rücken. Der ›Feind‹ wurde gefesselt und am hinteren Ende eines Wagens angebunden (Abb. 4 und 6). Parallel dazu kümmerte sich ein anderer Mann – der so genannte ›Befugte‹, der eine polizei- oder militärähnliche Mütze mit der Aufschrift »Zriadenec« trug, – um die ›Ordnung‹ (Abb. 5). Der ›Feind‹ spielte die Rolle des Gefangenen, indem er auf den Boden fiel oder nach Hilfe schrie. Die Aktion rief zahlreiche Reaktionen bei den Beobachter_innen hervor: Eine Frau von der DSIP reichte ihm ein Glas Wasser, während die an19 Sein wirklicher Name war Jozef Tichý und er war Pharmaziestudent sowie Mitglied des Amateurtheaters Labyrint. 20 In einem Brief an Tomáš Štraus aus dem Jahr 1978 schreibt Ján Budaj, dass die Mitglieder der DSIP während dieser Auftritte von den Passanten gefragt wurden, ob ihre Aktion überhaupt Kunst sei bzw. ob sie für etwas Illegales gehalten werden soll. Die Antworten wurden auf ein Tonband aufgenommen. Während die Meinungen zu der ersten Frage unterschiedlich ausfielen, waren sich alle Befragten darüber einig, dass es sich um etwas Legales handelte. »Es scheint«, so Budaj weiter, »dass die Maske der etablierten Kunst (die Schminke) geholfen hat, die Aktion positiv aufzunehmen. Vermutlich hätte eine direkte Intervention ins Leben eventuell etwas aggressivere Reaktionen hervorgerufen.« Štraus: Slovenský variant moderny, a.a.O., S. 200.
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deren Mitglieder ihn beschimpften oder mit Wasser begossen. Der Karneval gestaltete sich wie ein Umzug auf der Promenade durch die Altstadt von Bratislava21 und wurde von zwei Puppen geführt, denen ein Pferd, der Wagen und die Menschenmasse folgten (Abb. 7). Die überdimensionalen Figuren zu Anfang des Umzugs – eine Frau und ein Mann – schauten durch die Fensterfront ins ›Národný výbor‹22 hinein, klopften an die Scheibe einer bekannten Milchbar und kommunizierten mit den dort sitzenden Menschen. Als Vorläufer des Umzugs haben zwei Teilnehmer ein Banner aus rotem Stoff, aber ohne Inschrift getragen, das auf die überall anwesenden Transparente mit kommunistischen Losungen anspielte (Abb. 8). Die monochrome rote Fläche des Banners erinnerte an jene sogenannten »äußeren Zeichen«23, die der tschechische Dissident Milan Šimečka als feste Bestandteile der kommunistischen Propaganda bezeichnet hat. Diese konnte das System zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung keineswegs entbehren. Erstens war das rote Banner provokant in seinem Erscheinungsbild, weil es keine kommunistische Losung aufwies und somit die Konventionen politischer Kommunikation unterlief. Zweitens war das leere Banner, das in die Luft gehalten wurde, frei verfügbar für jeden möglichen Satz. Es avancierte zu einer Projektionsf läche für die Inschrift begehrter Behauptungen. Doch gleichzeitig spielte die rote Fläche an auf die im Realsozialismus existierende Ignoranz von Signifikanten, die von der herrschenden kommunistischen Partei im öffentlichen Raum verwendet wurden. Die zivile Bevölkerung übersah mehr oder weniger ungewollt die politischen Losungen und Plakate, weil sie zu einem Teil des Alltags wurden. Mit dieser Aktion demonstrierten die Teilnehmer_innen des Karnevals, dass sie einmal ohne Parolen und unter eigenen Fahnen unterwegs sein konnten. Man könnte das rote Banner hier als ein Symbol der ›Freiheit‹ verstehen, dessen Verbot insofern eine Herausforderung für Zensor_innen gewesen wäre, als dass das Banner keine direkte semantische Botschaft, z.B. in Form einer Beschriftung, aufwies und – so hätten sich die Teilnehmer_innen im Falle einer zensorischen Intervention rechtfertigen können – nichts Anderes war als ein ›Stück roter Stoff‹. Doch tatsächlich förderte das Banner eine kritische Sicht auf die Propagandame21 Der Weg führte von der alten Markthalle (Platz des Nationalaufstandes) bis zum Hviezdoslavovo Platz. 22 Národný výbor beheimatet heute das Neue Rathaus. 23 Šimečka: Obnovenie poriadku, a.a.O., S. 17.
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chanismen des post-totalitären Apparates. Die leere Projektionsf läche, die man sogar als etwas Abstraktes betrachten könnte, war nicht nur in der bildenden Kunst sondern auch in der Öffentlichkeit ein unerwünschtes Phänomen, insofern es die Möglichkeit bereit hielt, autonom zu werden und unkontrollierte Bedeutungen zu generieren. Dies entsprach ganz und gar nicht den Regeln und Zielen des Sozialistischen Realismus und jenen der kompromisslosen Propaganda des Staatsapparates. Je trügerischer eine Ideologie ist und, vor allem, je weniger sie in die Wirklichkeit überführt wird, desto mehr tendieren autokratische Systeme dazu, ihren politischen Erfolg durch äußere Zeichen zu stilisieren. Im Jahre 1979 war in der ehemaligen Tschechoslowakei der Punkt erreicht, an dem die Gesellschaft langsam – aber unauf haltsam – auf einen Kollaps des sozialistischen Systems hinsteuerte. Es dauerte noch ungefähr sechs bis sieben Jahre, bis der Prozess der Perestroika ihre Auswirkungen in der Gesellschaft zeitigte und der Sturz der kommunistischen Macht schließlich 1989 zur sogenannten Samtenen Revolution und zum Systemwechsel führte. Doch zurück zum Karneval: Der Umzug endete auf dem Hviezdoslavovoplatz, wo eine kleine Theaterszene über ein Schiff auf offener See aufgeführt wurde: Ein Haufen Pf lastersteine unter einem Baum markierten die Wasseroberf läche. Zufällig ausgewählte Menschen wurden in Toilettenpapier wie Mumien eingewickelt und wieder befreit. Der ›Befugte‹ kommunizierte mit den Beobachtern durch einen Lautsprecher, las die Antworten der Befragten laut vor und versuchte ein ›öffentliches Gespräch‹ anzuregen. Der ›Feind‹ wurde abschließend mit Hilfe der Umstehenden und einiger spielender Kinder befreit. Parallel dazu fanden mehrere kleinere Events statt. Der Mime Valentín führte kleine Etüden vor, in denen die Geräusche des geschlagenen Gitters an der nahestehenden Kirche in die Komposition eingef lochten wurden (Abb. 9). Andere Mitglieder füllten ihren Mund mit Mehl und pusteten dieses schnellstmöglich wieder heraus, um eine weiße Wolke als temporäre Skulptur zu erschaffen. Budaj band einem Freiwilligen die Arme und die Füße hinter dem Rücken zusammen und ließ ihn auf dem Rasen mitten auf dem Rolandsplatz liegen. Das Motiv des Gefangenen und des Opfers kommt bei den erwähnten Aufführungen des Karnevals auffällig oft vor: Zunächst beim ›Gefangenen‹, den die Masse malträtierte, aber schließlich auch befreite, später beim anonymen, liegenden Gefangenen auf dem Hauptplatz, der dem Zufall ausgeliefert war, und schließlich auch in der Etüde des Mimen Pepo, in die die
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Geräusche der Szene des Gefangenseins an den Gittern des Geländers eingefügt wurden. Im Rahmen der Woche des Straßentheaters fand auch das Anbinden des Dichters Vladmimír Archleb – häufig Rachel genannt – an das Gitter des Verlags für politische Literatur statt. Die Rede ist hier von einer Aktion, die mit einem Polizeieinsatz beendet wurde und dazu führte, dass einige geplante Aktionen nicht mehr durchgeführt werden durften.24 Das Motiv des Gebundenseins erscheint hier mitten in der Menschenmenge als eine Beschränkung sowohl in der Bewegung wie auch im gesamten Dasein und eröffnet eine Ebene der Kritik am herrschenden politischen System. Die Konfrontation der Umstehenden mit einem ausdrucksvollen Bild der Freiheitsberaubung auf der Straße evozierte Assoziationen der eigenen Gefangenschaft des Beobachters in der post-totalitären Gesellschaft und rief ihn gleichzeitig dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. Durch die Artikulation der Unfreiheit in der Öffentlichkeit wurde den Bürger_innen ein Spiegel vorgehalten. Während der Mime Pepo noch im Rahmen einer Theateraufführung zu identifizieren war, muteten die ›Gefangenen‹ wie Passanten an, sie waren von den anderen Zuschauenden nicht zu unterscheiden. Das subversive Potenzial entfaltete sich hier aber auch aus der zufälligen Interaktion mit anderen. Denn die Handlungen, die die Gruppenmitglieder ausführten, schienen bei den Passanten auf Resonanz zu stoßen und Impulse zur kritischen Auseinandersetzung mit der Realität zu wecken. Die Mitglieder der DSIP richteten in ihren Aktionen ihre Aufmerksamkeit häufig auf diese Art von persönlichen Interaktionen im öffentlichen Raum. Das Ziel der Gruppe, einen direkten körperlichen Eingriff in die soziale Wirklichkeit der Stadt zu unternehmen, wurde in der Aktion Kleine Gasse (Ulička, 1981) auf die Spitze getrieben. Sie verhinderten in dieser Intervention den Durchgang der Passanten durch eine kleine Gasse der altstädtischen Fußgängerzone in Bratislava (Abb. 10). Die Teilnehmer_innen legten sich zum Teil auf den Boden oder setzten sich hin, so dass die Fußgänger_innen, die die Gasse durchqueren wollten, entweder ausweichen oder über die Liegenden steigen mussten. Der Durchgang wurde in der Mitte der Straße durch eine auf den Boden gelegte Leiter, welche mit Papier bezogen wurde, versperrt. Den Aufnahmen der Aktion kann man entnehmen, dass entlang der Leiter bzw. in ihrer Nähe links und rechts Personen auf dem Boden lagen,
24 Vgl. hierzu die Fußnote 39.
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Abb. 10: Temporäre Gesellschaf t des intensiven Erlebens: Kleine Gasse so dass die Passanten diese überspringen mussten.25 Ein weiteres Hindernis stellten gefüllte Wassergläser dar, die auf einer Papierrolle angeordnet waren. Die meisten Menschen blieben erstmal stehen und bildeten zwei kleine Ansammlungen an Beobachter_innen an beiden Enden der Gasse. Einige jedoch durchquerten die Gasse, indem sie auf die Menschen und auf die Leiter traten, was man am Ende an dem komplett zerrissenen Papier sehen konnte.26 Die lebendige Blockade, welche sich durch Passivität (Sitzen, Liegen, stilles Dasein) und durch ein Nicht-Agieren bzw. den Entzug von Interaktion mit den Mitmenschen auszeichnete, kann man als kritische Thematisierung der Apathie und Gleichgültigkeit der Fußgänger_innen als Teil der realsozialistischen Öffentlichkeit verstanden werden. Timothy Garton Ash erinnerte 25 Die Aktion wurde von einem nahgelegenen Haus aus durch Vladimír Havrilla gefilmt und unten auf der Straße aus unmittelbarer Nähe von Lʼubomír Ďurček fotografiert. 26 Eine Aktion auf der Straße, die einige Ähnlichkeiten mit der Kleinen Gasse aufweist, wurde im Jahre 1976 vom tschechischen Künstler Lumír Hladík unter dem Titel Unschuldiges Papier – Unschuldige Menschen (Nevinný papír – nevinní lidé) realisiert. Der Künstler rollte queer über den Gehsteig ein Stück Papier aus. Was mit der Rolle passieren sollte, wurde den Passanten überlassen, die ihr auswichen, sie betraten oder über sie sprangen. Vgl. Pavlína Morganová: Czech action art, Prag 2014, S. 193; Lumír Hladík; Pavlína Morganová (Hg.): Galerie SVIT, Prag 2011, S. 56.
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sich im Jahre 1983 an die Situation in der damaligen Tschechoslowakei und hob hervor, dass er noch nie ein Land erlebt hatte, in welchem dem öffentlichen Leben und der Politik mit dermaßen großem Desinteresse seitens der Bürger begegnet wurde.27 Pavlína Morganová konstatiert ebenfalls, dass das Hauptanliegen der Bürger_innen in der damaligen Tschechoslowakei darin bestand, »nicht involviert zu sein«28. Der Grund für diese Art von Passivität ist in der sozio-politischen Entwicklung in den ausgehenden 1960er und in den 1970er Jahren aufzuspüren. Als Konsequenz der Niederwerfung des Prager Frühlings 1968 hatte der Prozess der sogenannten Normalisierung angefangen, der von Milan Šimečka als »Wiederherstellung der Ordnung«29 bezeichnet wurde und im Bereich der Kunst sogar eine strikte Rückkehr zur Doktrin des Sozialistischen Realismus bedeutete. Diverse zensorische und Überwachungsmaßnahmen führten dazu, dass viele Kunstschaffende aus dem Verband der bildenden Künstler ausgeschlossen und dadurch mit einem Ausstellungsverbot bestraft wurden.30 Folglich bezeichneten die Autoritäten die liberalen Entwicklungen innerhalb der Kultursphäre der 1960er Jahre als ›Krisenjahre‹ und stuften jede vom Sozialistischen Realismus abweichende künstlerische Aktivität als ›dekadent‹ ein.31 Innerhalb der 1970er Jahre unterwarf sich die gesamte Gesellschaft einer Art Selbstzensur. Milan Šimecka verglich den Gesellschaftszustand mit einem Haus: »Im Hause des realen Sozialismus weiß jeder, welche Tür wohin führt, welcher Platz wem gehört, welcher Zeitplan hier gilt, wie man sich zu benehmen hat, damit man zum Abendessen ein größeres Stück Fleisch bekommt.«32 Diese Ordnung war rein formaler Natur, doch umso wichtiger erschien es, sie einzuhalten. Denn das größte Verbrechen gegen die politische Ordnung war der Versuch, sie in Zweifel zu ziehen – sei es auch im Namen einer noch ›besseren‹ Ordnung. In dieser formalen Ordnung herrschte eine Matrix von äußeren Zei-
27 Vgl. Timothy Garton Ash: Stredoevropan volbou, Prag 1992, S. 59. 28 Morganová: Czech action art, a.a.O., S. 193. 29 Šimečka: Obnovenie poriadku, a.a.O., S. 12. 30 Vgl. Zora Rusinová: »Problém koexistencie kultúr«, in: Aurel Hrabušický (Hg.): Slovenské vizuálne umenie 1970-1985, Bratislava 2002, S. 9-31. 31 Vgl. Anonym: Za socialistické umenie. Materiály zo zjazdov umeleckých zväzov (máj – november 1972), Bratislava: SPP 1974. 32 Šimečka: Obnovenie poriadku, a.a.O., S. 16.
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chen (eine Art Fassade) und es war die Nichtveränderbarkeit dieser Zeichen, in der sich die herrschende Ordnung ausdrückte.33 Šimečka bezeichnete den Prozess der ›Normalisierung‹ als Ausübung von »zivilisierter Gewalt«34, denn im Rahmen der Reformen verliefen die Persekutionen und Prozesse relativ ruhig und gewaltfrei. Bei Entlassungen haben Direktor_innen ihre Angestellten mit einem Handschütteln verabschiedet; sprach man etwas Tabuisiertes aus, dann tat man das mit einem Gesichtsausdruck der Selbstkritik; die meisten Polizeiprozesse verliefen ohne den Einsatz körperlicher Brutalität und selbst Verhöre fanden tagsüber und nicht morgens um 4 Uhr statt. Diese »zivilisierte Gewalt« führte dazu, dass man sich entweder mit dem Regime konfrontierte, oder dazu, dass die tschechoslowakische Intelligenz sich so benahm, wie es die Partei erwartete: »Zivilisierte Gewalt vernichtete den Mut zum Denken, die Lust an der Kritik und die Überzeugung hinter der Wahrheit zu stehen.«35 Im Gegensatz zu ihren ersten Aktionen im Jahre 1978 trugen die Mitglieder der Gruppe während dieser Intervention, die keinen offiziellen Namen trug, mittlerweile aber als Kleine Gasse bezeichnet wird, zivile Kleidung und keine Schminke auf den Gesichtern. Dadurch waren sie in ihrem Äußeren nicht von den restlichen Passanten zu unterscheiden, die räumlich und physisch durch das Eintreten in die Gasse und eventuell sogar durch den direkten Kontakt mit der Gruppe zu Teilnehmer_innen der Intervention avancierten. Die Gruppe ähnelte aufgrund ihres Erscheinens der Masse und unterschied sich von dieser allein durch ihre Handlungen – durch ein passives Agieren bzw. durch die Entscheidung, sich in eine regungslose Haltung, wie etwa in eine liegende Pose, zu begeben. Sie adressierten auf passive Weise die Passanten und riefen mit dem eigentlichen Nichts-Tun eine Reaktion hervor. Nach Tomáš Štraus steht in dieser Aktion sowohl die Erfahrung der Passanten wie auch die der Teilnehmer_innen selbst im Fokus, das Gefühl eines Menschen nämlich, der leblos auf der Straße liegt und somit »die Selbstopferung als Erkenntnis und als Selbsterkenntnis«36 artikuliert. Vor diesem Hintergrund befanden sich die Fußgänger_innen in einer Situation,
33 Vgl. ebd., S. 17. 34 Vgl. ebd., S. 78-85. 35 Milan Šimečka: Nastolení pořádku, London 1984, S. 39. 36 Štraus: Slovenský variant moderny, a.a.O., S. 123.
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die als eine Art »Falle«37 von der Gruppe gestellt wurde. Ob sie wollten oder nicht, die Passanten wurden zu aktiven Teilnehmer_innen der Aktion und die Reaktionen, die sie zeigten, wiesen allesamt aktiven Charakter – wie das Ausweichen in eine andere Straße und die Entscheidung, einen Umweg zu machen – auf.38 Die Überreste der Aktion Kleine Gasse blieben auch nach ihrem Ende sichtbar, insofern die Liegenden mit weißer Kreide umrandet wurden. Auf diese Weise sind ihre Umrisse zurückgeblieben und erinnerten als stille Spuren auf dem Asphalt an einen Tatort.
2 L'ubomír Ďurček Wie ich zu Anfang dieses Aufsatzes bereits beschrieben habe, stellte die Entscheidung von Lʼubomír Ďurček, einen Raum für künstlerische Artikulation in seiner privaten Wohnung zu deklarieren, eine Art Kritik der gesellschaftspolitischen Zustände in der ehemaligen Tschechoslowakei der 1970er Jahre dar. Seine Tat demonstrierte nämlich nicht nur eine offene Kritik an der Absenz von Institutionen, in denen alternative Kunst präsentiert werden konnte, sondern auch die Anwesenheit einer strikten Zensur. Der Rückzug in private Räume war dementsprechend in einer doppelten Hinsicht notwendig. Im Rahmen der Woche des Straßentheaters (1979) plante Lʼubomír Ďurček, die Aktion Bitte wenden Sie mich in die richtige Richtung (Prosím, obráťte ma správnym smerom) zu realisieren. Diese fand letztlich aus ›Sicherheitsgründen‹ nicht statt.39 Eine Skizze und ein Konzept geben jedoch Aufschluss über 37 Vgl. Mira Keratová: Ján Budaj a Dočasná spoločosť intenzívneho prežívania/pracovná pamäť, leaflet, Bratislava: in Tranzit 2015. 38 Im Rahmen von Kleine Gasse realisierte Robert Cyprich ein mit Ján Budaj nicht abgesprochenes und unangemeldetes Event. Cyprich stellte auf der Straße ein Schild mit der Inschrift »Reservé/pour/Róbert Cyprich – Antoni Miralda/et leurs amis« auf und platzierte seinen Cocker Spaniel daneben. 39 Am Tag vorher ließ sich Vladimír Archleb (genannt Rachel), ein Mitglied der DSIP, an die Gitter am Eingang des Verlags für politische Literatur als Gefangener mit Seil anbinden. Daraufhin rief jemand die Polizei. Da die Polizei auf die Aktivitäten in der Altstadt aufmerksam wurde, entschied sich der Künstler, seine Aktion am nächsten Tag nicht zu realisieren.
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Abb. 11: Lʼubomír Ďurček: Bitte drehen Sie mich in die richtige Richtung den Ablauf der Aktion (Abb. 11). Nach dem Plan des Künstlers sollten vier Akteure ungefähr 30 Minuten lang auf einem der Hauptplätze Bratislavas in ›Schachteln‹ (55 x 55 x 105 cm) herumlaufen. Diese Schachteln wären außen in Hautfarbe gestrichen und innen mit Zeitung beklebt gewesen. Ďurčeks Idee bestand darin, die Akteure auf diese Weise einerseits mitten im regen Straßengeschehen und andererseits doch in einem geschlossenem Raum isoliert in Erscheinung treten zu lassen. Die Aktion wäre stark von den zufälligen Bewegungen der Passanten abhängig gewesen, weil die Teilnehmer_ innen nicht hätten sehen können, wo sie hinlaufen (die Schachtel sollte von oben geschlossen und von unten, für die Beinbewegungen, offen sein). Die Orientierungslosigkeit paarte sich der Idee nach mit dem Angewiesensein der Akteur_innen auf die Entscheidung der Mitmenschen, die ihnen helfen oder sie verwirren konnten. Auf diese Weise brachte die räumliche Isolation einerseits Entfremdung, andererseits Nähe bzw. die Notwendigkeit zum Kommunizieren zum Ausdruck. Der Titel der Aktion Bitte wenden Sie mich in die richtige Richtung hatte aus dem Grund einen komplexen und politischen
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Abb. 12: Jozef Jankovič: Projekt des Konsolidierungsraumes Unterton, weil keine genauen Angaben darüber gemacht wurden, welche Richtung die ›richtige‹ sein soll. Das Konzept der Aktion basiert auf der Idee, Momente der anonymen Bezugsstiftung im öffentlichen Raum zu generieren. Der Ausführende – versteckt in einer Schachtel – ist für sein Gegenüber nicht zu erkennen und daher ›gesichtslos‹. Das Objekt – die Schachtel erfüllt hier eine ambivalente Rolle – versteckt zwar den Akteur, doch durch die Behinderung seines Sehvermögens ermöglicht es gleichzeitig, mit den Mitmenschen zu kommunizieren bzw. sie um ihre Hilfe zu bitten. Die Enge der Schachtel und die Suche nach der ›richtigen Richtung‹ lässt sich als ein Hinweis auf die herrschende Uniformität des Alltags, aber auch als Zeichen der Begrenztheit des Horizonts bzw. der Hindernisse in der Kommunikation deuten und damit durchaus als eine Artikulation der Kritik verstehen. Es ließe sich sogar, wie Ján Kralovič darauf hinweist, eine Parallele zu Jozef Jankovičs Grafik Projekt des Konsolidierungsraumes40 (Projekt konsolidačného priestoru, 1972, Abb. 12) zeichnen, die auf eine metaphorische Weise die Tatsache zum Ausdruck bringt, dass jede Ideologie eine Begrenzung nach sich zieht. Man sieht eine Einrichtung, einen Raum, ja einen Apparat für die De/Formation des Menschen, 40 Vgl. Ján Kralovič: Teritórium ulica, Bratislava 2014, S. 118.
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aufgeteilt in kleine enge Kojen, die keine Bewegungs- und damit keine Handlungsräume erlauben. Die einzige Aufgabe derjenigen, die in ›Schachtel-Räume‹ geraten sind, besteht darin, geschlossen zu bleiben, zuzuhören, passiv anwesend zu sein, ohne sich zu äußern. Ebenfalls von Lʼubomír Ďurček stammt das tatsächlich während der Woche des Straßentheaters verwirklichte Konzept Resonanzen (Rezonancie, 1979). Es handelt sich um einen Entwurf von 15 Modellen, welche unterschiedliche geometrische Figuren – räumliche Menschengruppierungen und -konstellationen – zeigen (Abb. 13).41 Diese Konstellationen, die Ďurček in statische und dynamische unterteilte, stellen psychologisch-soziale Situationen her, die abwechselnd in zwei Phasen verlaufen: In einem ersten Schritt sollen sich die Teilnehmer_innen von der Masse des öffentlichen Raums separieren und in einem zweiten Schritt sich mit ebendieser Masse identifizieren. Die Teilnehmer_innen sollen aber vor allem keine verbale Kommunikation führen und, wenn überhaupt, nur ein bisschen lächeln. Das Ziel von Ďurček 41 1. ›Aureola‹ ist dynamisch gedacht und die Form respektiert den Weg des Passanten, 2. ›Fackel‹ bezeichnet ebenfalls eine dynamische Formation, in der die Anordnung jedoch den Weg des Passanten nicht berücksichtigt, 3. ›Durchgang – Muschel‹ ist eine dynamische Komposition und besteht aus einer (a) ganz offenen Passage bzw. (b) einer Passage, die von einer Seite geschlossen ist, 4. ›Idol‹ ist eine dynamische Choreografie, deren Ablauf und Orientierung ein Passant unwissend bestimmen kann, 5. ›Knoten‹ ist eine dynamische Konstellation, die aus (a) einem freien Durchgang und (b) einem von beiden Seiten geschlossenen Durchgang besteht, 6. ›Monument‹ ist eine statische Formation, in der die Straße so blockiert ist, dass die Teilnehmenden – nach geraden und ungeraden Zahlen aufgeteilt – entweder lieb oder böse blicken, aber konsequent in die entgegengesetzte Richtung schauen, 7. ›Kontinent‹ ist eine statische Anordnung, die mehrere Passanten einkreist, 8. ›Dune‹ wird wiederum dynamisch gestaltet und sperrt den Weg des Passanten mehrfach, 9. ›Kessel/Tal‹ ist eine statische Formation, in der ein herumstehender Passant von Menschen umkreist wird, die mit der Stirn zu ihm stehen, 10. In ›Exil‹ kommt eine statische Menschenanordnung zustande, in der ein Passant von Menschen mit dem Rücken zu ihm umkreist wird, 11. ›Phantom‹ bezeichnet eine dynamische Choreografie, in der die Bemühung des Passanten, aus der um ihn herumlaufenden Masse rauszukommen, vergeblich ist, aber ohne Gewalt realisiert werden muss, 12. In ›Tempel‹ entsteht eine statische Konstellation, in der alle mit der Stirn zum Inneren des Kreises stehen und somit einen Raum abgrenzen, 13. ›Schneesturm‹ ist eine dynamische Anordnung, die mit steigender Geschwindigkeit rotiert, 14. ›Gartenhäuschen‹ gestaltet sich statisch und erzeugt eine Abgrenzung des Raumes dadurch, dass alle mit der Stirn zu den umgebenden Gebäuden stehen, aber den Eingang des Gebäudes frei lassen, und 15. ›Lawine‹ ist ein dynamisches Bewegungsformat, in dem die Teilnehmer_innen sich den Passanten spontan in den Weg stellen.
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Abb. 13-14: Lʼubomír Ďurček: Resonanzen
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war es, ein temporäres Kunstwerk aus der vorhandenen Realität zu formen, und zwar ohne jegliches zusätzliches Material.42 Von den insgesamt 15 Modellen wurden drei im Rahmen der Woche des Straßentheaters verwirklicht: ›Aureola‹, ›Monument‹ und ›Phantom‹. Ein Kollektiv von ungefähr 20 Teilnehmer_innen (DSIP) in alltäglicher Kleidung formte drei Situationen mitten im lebendigen Geschehen der Fußgängerzone.43 Bei ›Aureola‹ umkreisten sie einen ausgesuchten Passanten und bewegten sich mit ihm auf der Straße, ohne ihn in seinem Gang einzuschränken (Abb. 14). Auf dem Hauptplatz kreiste die Gruppe um einen Mann, der Eis aß, und lief ein längeres Stück mit ihm.44 Er versuchte zuerst, mit den Umkreisenden zu kommunizieren, aber nachdem er keine Antwort bekommen hatte, eilte er einfach weiter. An einer Kreuzung begegnete er nach Aussage des Künstlers einem seiner Kollegen, der ihm verwundert zuwinkte. Er lief dann solange in dem geformten Kreis herum, bis er sich entschied, seine Schritte zu beschleunigen. Er kam dadurch den umkreisenden Personen deutlich näher. Die Ausführenden hatten die Anweisung bekommen, die Formation aufzulösen, sobald der ›Eingeschlossene‹ die offizielle Privatsphäre von 50 cm überschreitet. Die Anweisung bei fast allen Resonanzen lautete so, dass man einen direkten Körperkontakt zu vermeiden hat, außer wenn dieser vom Passanten erzeugt wird. Der Eingekreiste sollte Respekt aber keine Angst vor der Formation haben und sich keineswegs bezwängt fühlen. Deswegen hat Ďurček schon bei der Besprechung zur Ausführung der Aktion deutlich gemacht, dass sich die Teilnehmer_innen bei ›Aureola‹ nicht an den Händen halten sollen, damit der Passant nicht das bedrückende Gefühl hat, eingeschlossen zu sein. Jegliche Gewalt oder Aggressivität wurde untersagt bzw. war vom Künstler unerwünscht. Sobald der umkreiste Mann sich der Grenze von 50 Zentimeter näherte, gab Ďurček das Signal für die Beteiligten, die Formation aufzulösen und sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Der Mann blieb dann verwundert stehen, drehte sich um und begab sich dann 42 Aus dem persönlichen Gespräch der Autorin mit dem Künstler im September 2017. 43 Nach Angaben des Künstlers wurden zwei Kurzfilme von den Aktionen gedreht. Eine farbige Dokumentation von Vladimír Havrilla, welche ungefähr 1,5 Minuten dauert. In diesen Aufnahmen sieht man ›Aureola‹ und ›Monument‹ in einer längeren Sequenz und ganz kurz auch die Konstellation ›Phantom‹. Der Film befindet sich im Besitz des Künstlers und im Archiv der Stredoslovenská Galéria Banská Bystrica. 44 Im ursprünglichen Konzept war vorgesehen, dass sich die Teilnehmer_innen nicht an den Händen halten. Dies taten sie eigenständig.
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in die entgegengesetzte Richtung. Die zweite Ausführung von ›Aureola‹ bestand darin, dass nicht eine sondern gleich drei Personen – ein Paar und eine allein laufende Frau – eingekreist wurden. Als Reaktion auf die plötzliche Formationsbildung, fingen diese drei Personen an, sich zu unterhalten. Der Kreis begleitete sie sogar zum Parkplatz, wo er sich dann bei den herumstehenden Autos auf löste. Bei der statischen Formation ›Monument‹ bestand Ďurčeks Instruktion darin, die Straße durch eine Reihe sich an den Händen haltender Personen zu blockieren, von denen jeder zweite eine fröhliche und die anderen eine böse Miene zeigen sollten. Die Gruppe sperrte eine der frequentiertesten Stellen mitten in der Altstadt ab, was bald dazu führte, dass viele Leute stehen bleiben mussten. Manche wählten einen Umweg, während Andere versuchten, durch die ›Wand‹ hindurchzukommen. Da es sich um eine statische Formation handelte, sollten die Teilnehmer_innen hierbei nicht reagieren, d.h. weder zur Seite weichen, noch den Durchgang verhindern. Sie sollten nur regungslos wie ein ›Monument‹ stehen bleiben. Nach der Aussage des Künstlers wurde die Stelle in der Fußgängerzone bewusst gewählt, denn nebenan befand sich die bereits erwähnte Milchbar, die zwei Eingänge hatte und einen Ausweg für diejenigen bereithielt, die sich gegen eine Konfrontation mit dem ›Monument‹ entschieden. Der Moment dieser anderen Durchgangsmöglichkeit war Ďurček aus dem Grund wichtig, weil es ihm sehr daran lag, Situationen zu erzeugen, mit denen die Mitbürger_innen spontan aber ohne Bedrohung konfrontiert wurden. Die dritte dynamische Situation hieß ›Phantom‹: Die Teilnehmer_innen suchten eine für sich allein stehende Frau an der S-Bahn-Haltestelle auf dem Hauptplatz aus und erzeugten ein reges Getümmel um sie herum. Die Filmaufnahmen zeigen, wie plötzlich ein Chaos entsteht und die Frau verwundert um sich herum blickt. Ein paar Sekunden danach verlaufen sich die Partizipierenden in verschiedene Richtungen. Alle zufällig ausgewählten Passanten, die an den Resonanzen teilnahmen, bekamen dann im Anschluss ein Kärtchen ausgehändigt mit der Notiz: »Sie haben an einer der Situationen der Woche der Aktivität auf der Straße teilgenommen«45.
45 Aus dem persönlichem Gespräch mit Lʼubomír Ďurček im September 2017.
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3 Zusammenfassung In der Gesamtschau der oben analysierten performativen Arbeiten im öffentlichen Raum wird deutlich, dass sich das System des realen Sozialismus durch die Exklusion bzw. fehlende Anerkennung der avantgardistischen Aktionen als Kunst selbst eine Falle stellte. Die Aktivitäten der Akteure, die somit außerhalb des institutionellen Rahmens, ja in der Wirklichkeit des Alltags, stattfanden, konnten letztlich eine weitaus gefährlichere Wirkung erzielen, als wenn jemand auf der Straße offen den Kommunismus kritisiert hätte. Denn dieser ›Störer‹ wäre klar identifizierbar und verurteilbar gewesen, die Polizei hätte ihn festgenommen, eingesperrt und somit ein Exempel ihrer Macht statuiert. Und ein solches Verhalten wäre auch in Augen der anwesenden Masse suspekt gewesen, weil es jeder Bürgerin und jedem Bürger klar gewesen wäre, dass der Betroffene verrückt sein muss. Wohlgemerkt, die Mitglieder der DSIP oder Lʼubomír Ďurček appellierten an die apathisch gewordenen Menschen im öffentlichen Raum, um diese in Bewegung zu versetzen, ihr Bewusstsein aufzurütteln und zu verändern, ja sie dazu zu animieren, einen anderen Blick auf die sie umgebende Realität zu werfen, eine neue Erfahrung zu machen, einen individuellen Zugang zur Realität zu erschaffen, eine eigene Kreativität zu entwickeln. Auf diese Weise entfaltete sich bei den Teilnehmenden eine kritische Perspektive auf die Gesellschaft. Denn aus den erwähnten Aktionen entstand genau das, was vom System am wenigsten erwünscht war, nämlich das Hinterfragen des Vorhandenen, d.h. ein kreativer Zugang der Bürger_innen zur Realität im realen Sozialismus.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Lʼubomír Ďurček: Zwischenraum (Medzipriestor), 1981-1990. Fotografie und Copyright: Lʼubomír Ďurček. Abb. 2. Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens: Fiktive Kultur (Týž deň fiktívnej kultúry) – Dalí-Plakat, 1978, aus: Zora Rusinová: Action Art 1965-1989, Bratislava 2001, S. 153.
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Abb. 3. Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens: Fiktive Kultur (Týž deň fiktívnej kultúry) – Bergman-Plakat, 1978, aus: Zora Rusinová: Action Art 1965-1989, Bratislava 2001, S. 153. Abb. 4-9. Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens: Karneval (Karneval), 1979. Fotografien und Copyright: Lʼubomír Ďurček. Abb. 10. Temporäre Gesellschaft des intensiven Erlebens: Kleine Gasse (Ulička), 1981. Fotografien und Copyright: Lʼubomír Ďurček und Stredoslovenská galéria Banská Bystrica. Abb. 11. Lʼubomír Ďurček: Bitte drehen Sie mich in die richtige Richtung (Prosím, obráťte ma správnym smerom), 1979. Copyright: Lʼubomír Ďurček. Abb. 12. Jozef Jankovič: Projekt des Konsolidierungsraumes (Projekt konsolidač ného priestoru), 1972. Copyright: Jozef Jankovič. Abb. 13-14. Lʼubomír Ďurček: Resonanzen (Rezonancie), 1973. Copyright: Lʼubo mír Ďurček.
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Figurationen der Kritik in wechselnden Dispositiven zwischen Archiv und Gericht Tomislav Gotovacs Aktion Zagreb, ich liebe Dich! Andrej Mirčev Ein nackter Mann spaziert durch die Stadt. Er geht mehrfach zu Boden, küsst ihn und ruft laut: »Zagreb, ich liebe dich!« Kurz zuvor hatte er sich in einer Passage in der Innenstadt von Zagreb entkleidet und lief danach langsam durch die Fußgängerzone in Richtung des zentralen Platzes der Republik. Der ganze Vorgang dauerte etwa 7 Minuten, bis ihn ein Polizist anhielt und von dem Platz unsanft entfernte. Wegen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung bzw. ›Verletzung öffentlicher Moral‹ und ›Erregung moralischer Gefühle der Bürger‹ wurde der Mann angeklagt und vor die Wahl gestellt: Er müsse eine Geldstrafe zahlen oder 20 Tage in Haft verbringen. Als er am Ende des Gerichtsprozesses nicht freigesprochen wurde, entschied sich der Künstler für die Strafzahlung. In wenigen Worten wäre das die Beschreibung der ikonischen Aktion Nackt auf dem Asphalt liegen, den Asphalt küssen. (Zagreb, ich liebe dich!), die der kroatische Künstler Tomislav Gotovac1 am 13.11.1981 um 12 Uhr in Zagreb (heute Kroatien, zu diesem Zeitpunkt Jugoslawien) ausführte.
1 Tomislav Gotovac (1937-2010) war ein kroatischer (bzw. jugoslawischer) Performance-, Film-, Konzept-Künstler und Schauspieler, dessen Arbeit sich im neoavantgardistischen experimentellen Kontext der jugoslawischen, sozialistischen Nachkriegszeit entfaltete. Am bekanntesten sind seine Performances und Aktionen 100 Whistling, Streaking, Hair cutting and shaving in public, Tomislav Gotovac, News vending of Studentski List, Do it yourself dog, Watch on Rhine, Cleaning Public Spaces, in denen der Künstler seinen eigenen, oft nackten Körper als Medium und Material einsetzte. Neben zahlreichen Performances und Aktionen hinterließ Gotovac eine Reihe experimenteller Filme, welche das kinematographische Sehen und das filmische Medium thematisieren.
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Davon ausgehend, dass es sich um eine künstlerisch-performative Intervention im öffentlichen Raum handelt, versucht dieser Text alle politischen und sozialen Implikationen der Aktion sichtbar zu machen und ihre kritischen Dimensionen zu hinterfragen. Wurde in sämtlichen Texten und Essays2 zu Gotovacs Performance der analytische Fokus bisher vorwiegend auf die fotografischen Spuren ausgerichtet, werden wir hier eine andere Art der Dokumentation in Betracht ziehen: die juristischen Akten zum Prozess, welche im Tomislav-Gotovac-Institut3 in Zagreb auf bewahrt sind. Neben dieser neuen Perspektive auf die Aktion (und die künstlerische Taktik von Gotovac) soll anhand der Akten auf die diskursive Spannung zwischen dem künstlerischen und juristischen Feld eingegangen werden, die auch weitgehende epistemische Konsequenzen für das Verständnis der politischen und sozialen Konstellation der (Performance- und Konzept-)Kunst im sozialistischen Jugoslawien hatte. Der epistemische Umgang mit den Prozessdokumenten soll, anderseits, die Machtordnung zur Schau stellen, die den öffentlichen Raum (mit-)konstituiert(e). Die analytische Auseinandersetzung mit juristischen Protokollen versteht sich als Versuch, das subversive Potenzial der Aktion nicht nur in der ausgeführten Handlung selbst zu verorten, sondern auch mit dem Verlauf des Gerichtsprozesses und mit der Argumentation der Verteidigung in Beziehung zu setzen, die der Künstler vor Gericht entwickelt hat. Was damit in den Vordergrund tritt, ist die Frage nach der Grenzziehung zwischen Kunst und (sozial-politischer) Wirklichkeit bzw. nach der Autonomie der Kunst in Relation zur Rechtsordnung im sozialistischen Jugoslawien. Der Blick in die juristischen Akten fördert den taktisch-subversiven Umgang des Künstlers mit nicht-künstlerischen Institutionen (dem Gericht und der Polizei) zutage, die genau zu jenen Arealen werden, in denen Gotovac sein avantgardistisches4 Programm entwickelt und testet. Insofern transformiert sich der Ge2 Vgl. die Publikationen von Marjanić Suzana, Vuković Vesna, Amy Bryzgel und Jerko Denegri. 3 Nach seinem Tod 2010 initiierte die Witwe Zora Cazi Gotovac die Gründung des Archivs/ Instituts in seiner Wohnung in Zagreb. Das Institut wird seitdem vom Kunsthistoriker Darko Šimičić kuratiert und das Anliegen des Instituts ist das Archivieren bzw. die Vermittlung von Wissen über Gotovacs Kunst sowie die Organisation und Präsentation seiner Arbeiten in Kroatien und im Ausland. 4 Wie der Kunsthistoriker Jerko Denegri argumentiert, lässt sich die Grenze zwischen Kunst und Leben bei Gotovac nur sehr schwer ziehen. Diese Tatsache wurzelt in der Tradition der
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richtsaal in eine Art Theater, in dem der Künstler seine Aktion mit anderen Mitteln und in einem anderen gesellschaftlichen Rahmen5 fortsetzt. In ihrem Buch über Theatralität, Performativität und Medialität des Gerichts identifiziert die Juristin und Medienwissenschaftlerin Cornelia Vismann das theatrale und agonale Dispositiv der Rechtsprechung und stellt fest: »Rechtsprechen findet statt, es hat eine Stätte und vollzieht sich nach einem geregelten und wiederholbaren Ablauf. Dieser wird von zwei Anordnungen grundlegend bestimmt, einer theatralen und einer agonalen. Die Genese des Gerichthaltens aus der Versammlung um ein Ding prägt dem Gerichthalten performative Züge auf.«6 Indem Gotovac die Aktion von der Straße in den Gerichtssaal transferiert, ereignet sich eine Verschiebung in einen institutionellen Kontext, so dass die Aktion eine diskursiv-konzeptuelle Rahmung bekommt, innerhalb derer man die komplexe Beziehung zwischen Aktionskunst und dem juristischen Dispositiv verorten könnte. Bevor wir uns der konkreten Analyse von Protokollen und Gerichtsdokumenten widmen, soll zuerst kurz noch einmal die Tätigkeit des Selbstarchivierens, der die Sichtbarkeit dieser Dokumente zu verdanken ist, erläutert werden.
Avantgarde: »Gotovac’s overall oeuvre, everything that he has in general achieved in art and life is an inseparable unit […].« Ješa Denegri: »The Individual Mythology of Tomislav Gotovac«, in: Aleksandar Battista Ilić; Diana Nenadić (Hg.): Tomislav Gotovac: When I Open My Eyes in the morning I See a Movie, Zagreb 2003, S. 268. 5 Aus einer medientheoretischen Perspektive wäre es zunächst wichtig, die Aktionen und Performances in ihrer Beziehung zum Medium des Films zu denken. Wie wir gleich in Hinblick auf die konkreten Dokumente zeigen werden, argumentierte Tomislav Gotovac, dass es sich bei der Aktion um eine stilistische Übung für den Film handelt. Im Fall der Aktion Zagreb, ich liebe dich! besteht auch ein Bezug zum Film Hatari! von Howard Hawks, welchen der Künstler als eine perfekte Metapher für das unfreie künstlerische Subjekt innerhalb eines sozialistischen Staats verstand. Diesbezüglich schrieb Suzana Marjanić: »A short reminder, Hawk’s film is about hunters who hunt down animals in Africa for zoos, which begins with a scene of an unsuccessful hunt on rhinoceros, which Gotovac used as a symbol for the artist on the run from the police state.« Suzana Marjanić: »Antonio G. Lauer or ›I am a lonely rhinoceros. HATARI!‹: A Collage of Actions, Actions-Objects and Performances«, in: Diana Nenadić (Hg.): Performance Tapes: Antonio G. Lauer aka. Tomislav Gotovac, Zagreb 2008, S. 33. 6 Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, Berlin 2010, S. 17.
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1 Strategien des (Selbst-)Archivierens Eine der ersten Fragen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, will man eine Theateraufführung bzw. Performance/Aktion analysieren, ist die nach dem Vorhandensein der Dokumentation und ihrer Zugänglichkeit. Insofern könnte man die These aufstellen, dass das konstitutive Wissen über eine Aufführung (die man selbst nicht miterlebt hat) nur in Bezug zu den zurückgebliebenen Spuren möglich wird, ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Fotodokumentation, Videoaufzeichnungen, Notationen, schriftliche Aussagen oder Zeitungsartikel handelt. Je sorgfältiger eine Aufführung dokumentiert wurde, desto besser und nuancierter kann man sie analysieren und einem kritischen Blick unterwerfen. Dies ist besonders der Fall, wenn man über Aufführungen schreiben will, von denen man keine eigene Erfahrung hat bzw. die sich in einer Zeit ereigneten, zu der man keinen unmittelbaren Zugang hat und die man nicht live miterlebte. Dementsprechend lässt sich mit Amelia Jones behaupten, dass die Live-Aufführung keineswegs die privilegierte epistemische Situation ausmacht, sondern dass sich der analytisch-diskursive Blick erst nachträglich konstruieren lässt, und zwar aufgrund der Spuren, die eine Aufführung hinterlassen hat. Diesbezüglich bemerkt Jones: »I will argue here that this specificity should not be privi leged over the specificity of knowledges that develops in relation to the documentary traces of such an event. While the live situation may enable the phenomenological relations of f lesh to f lesh engagement, the documentary exchange (viewer/reader – document) is equally intersubjective.«7 Im konkreten Fall der Aktion Zagreb, ich liebe dich! begegnet man zwei Arten dokumentarischer Spuren, welche das Wissen bzw. die Erfahrung bezüglich der Aktion vermitteln. Erstens sind es die Fotoserien und zweitens die juristischen Dokumente, die im Rahmen des Prozesses entstanden und heutzutage im Tomislav-Gotovac-Institut in Zagreb auf bewahrt sind. Obwohl die Performance nur sieben Minuten dauerte, wurde sie von Gotovac sorgfältig geplant und infolge dessen sehr gut archiviert. Der nackte Spaziergang wurde von drei Fotografen begleitet, die jeweils ihre Fotos aus drei Perspektiven aufnahmen. Ausgestattet mit schwarz-weißen Filmen bewegten sich zwei dieser Fotografen (Mio Vesović und Ivan Posavec) in großer Nähe zum Künst7 Amelia Jones: »›Presence‹ in Absentia: Experiencing Performance as Documentation«, in: Arts Journal 56:4 (1997), S. 12.
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Abb. 1: Tomislav Gotovac: Nackt auf dem Asphalt liegen, den Asphalt küssen. (Zagreb, ich liebe dich!) ler, wodurch Fotoserien entstanden sind, in denen der fotografische Blick frontal auf den Körper gerichtet ist. Der dritte Fotograf (Boris Turković), der seine Fotos aus einer größeren Distanz aufnahm, dokumentierte die Aktion mit einer Farb-Diafilmkamera und seine Fotoserie zeigt den Künstler in der Interaktion mit den Passanten und dem urbanen Raum (Abb. 1). Damit ließ Gotovac eine dreifache Aufsicht auf die sonst f lüchtige Aktion erzeugen, und im Gegensatz zu den häufigen Anmerkungen, dass die Performance- und Aktionskunst (besonders im Kontext Osteuropas) in vielen Fällen ziemlich schlecht dokumentiert wurde, begegnet man hier einem sehr reichen Bildmaterial. Bedauerlicherweise aber wurde der Vorgang nicht mit einer Filmoder Videokamera aufgezeichnet, so dass die eigentliche Geschwindigkeit des Spazierens nur schwer rekonstruierbar ist. Ein anderer Blick auf die Aktion lässt sich mithilfe der Dokumente generieren, die im Rahmen des Gerichtsprozesses entstanden sind. Die sechs Dokumente verweisen auf den Verlauf des Prozesses, in dem Tomislav Gotovac wegen »Verletzung moralischer Gefühle der Bürger« angeklagt und schließlich verurteilt wurde. Bis zur endgültigen Entscheidung und dem Urteil zog sich der Prozess ein Jahr lang hin, wobei der Künstler zweimal Einspruch gegen das Urteil zu erheben versuchte. Aus einer epistemisch-diskursiven
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Perspektive lässt sich anhand der Gerichtsakten ein zweifaches Wissen über die Aktion artikulieren: In erster Linie erfährt man den genauen Verlauf der Aktion und darüber hinaus ermöglichen sie eine präzisere Kenntnis der Intentionen des Künstlers. Dementsprechend könnte man mit dem Theaterwissenschaftler Toni Sant davon ausgehen, dass es sich hier um einen Aspekt der Dokumentierung8 handelt, in der die Dokumente einen Evidenzstatus einnehmen. Zwei Aspekte kommen dabei zum Vorschein: Zum einen der Beweis, dass sich die Aktion tatsächlich (im öffentlichem Raum der Stadt) ereignete, und zum anderen die Tatsache, dass sie einen Gerichtsprozess verursachte, der wiederum für die Aktion eine diskursive Rahmung bildete und zu einer neuen Reihe von Dokumenten (und einem neuen Wissen über die Aktion) führte.9 In Kontrast zu vielen Künstler_innen, die mit ihrem eigenen Körper bzw. im Medium der Performance und Aktionskunst gearbeitet haben und sich keine Gedanken über die Spurensicherung ihrer Werke gemacht haben, ist die Position von Tomislav Gotovac die eines Sammlers, der nicht nur seine Aktionen und sein künstlerisches Schaffen gewissenhaft erfasste (und deren Überreste systematisch auf bewahrte), sondern auch den täglichen Rhythmus seiner Existenz systematisch protokollierte. Allein die Tatsache, dass der Künstler seine Aktion Zagreb, ich liebe dich! mit drei Fotokameras aufzeichnen ließ, kann als Bestätigung der These über die bewusste und sorgfältig geplante Strategie der Bildgenerierung der Aktion dienen. Anderseits schlägt sich der Selbstarchivierungsimpuls in einer transmedialen Geste nieder, die sich als permanente kontextuelle und diskursive Verschiebung ereignet und zu verfolgen hilft, wie Fotos, Performances oder Collagen sich mit Film, Schauspiel oder Interventionen in öffentlichen Medien (Zeitungen, Fernsehen usw.) verschränken. Mit Blick nun auf die juristischen Akten, lässt sich die These aufstellen, dass der Künstler auch den Gerichtssaal als 8 Die Unterscheidung zwischen Dokumentation und Dokumentierung, die der britische Theaterwissenschaftler Toni Sant in seinem Text »Documenting Performance: An Introduction« trifft, versteht sich als Versuch, den Akzent in Richtung eines dynamischen und aktiven Verständnisses von Performance-Archiven und -Dokumentationen zu verschieben. Vgl. Toni Sant: »Documenting Performance: An Introduction«, in: ders. (Hg.): Documenting Performance: The Context and Process of Digital Curation and Archiving, London; New York 2017. 9 »[…] Documentation should not be viewed as being concerned with texts but with access to evidence.« Ebd., S. 3.
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einen Ort (und vielleicht auch als ein Medium) für seine (erweiterte) künstlerische Selbstinszenierung und Performance verstanden hat. In ihrem Text über die Formen innovativer Archivpraktiken südosteuropäischer Künstler_innen, die sie als explizit politische und kritische Kunstform analysiert, richtet die slowenische Kunsthistorikerin Nataša Petrešin-Bachelez ihr Augenmerk auf die Strategie der Selbsthistorisierung. Bezüglich der slowenischen Künstlergruppe IRWIN und des Projekts East Art Map bemerkt sie: »The main motto of Irwin in the 1990s was ›construction of one’s own context‹, where the group functioned at the same time both as the observer and the object of observation. This is the base from which we can think about the strategy of self-historicisation; an artistic strategy which can furthermore be seen as one of the characteristics of an Eastern European institutional critique.«10 Im Fall von Tomislav Gotovac bezieht sich das Archivieren (als eine Form radikaler Selbsthistorisierung) nicht nur auf einen akribischen Umgang mit Dokumentation, die im Rahmen seiner Kunstaktionen und Performances entstanden ist, sondern der Künstler sammelt auch viele, ephemere Gegenstände und Objekte aus dem Alltag. So findet man im Gotovac Institut einige Kisten, in denen Bierdeckel, Tennisbälle, das geschnittene Haar des Künstlers und Einkaufsbons auf bewahrt worden sind, und die oft als Kunstwerke bzw. Readymades in Ausstellungen präsentiert werden. Solch eine künstlerische Strategie, die man mit Natasa Petersin-Bachelez als Form »informeller Historisierung«11 bezeichnen könnte, resultiert in der Enthüllung der vernachlässigten, (ost)europäischen Kunstgeschichte. Als eigener Archivar (und Kurator) schafft der Künstler mit seiner performativ-sammlerischen Tätigkeit einen diskursiv-analytischen Rahmen, in dem die Rezeption seiner künstlerischen Praxis aufs Engste mit seiner (privaten) Persona verbunden wird, was wiederum zum Zerf ließen der Hierarchien zwischen Kunst und Nicht-Kunst beiträgt. Diese Tätigkeit verweist wiederum auf die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Modell der Gedächtnisarbeit und der Erinnerung. Würde man in diesem Lichte nach einer Figur suchen, in der sich die (neo)avantgardistische Tendenz zur Auf hebung der Trennung zwischen Kunst und das Leben epistemisch verdichtet, so könnte man sie genau in der 10 Nataša Peterešin-Bachelez: »The Archival Tendency. The Case of IRWIN«, in: Ivana Bago; Antonia Manjača (Hg.): Removed from the Crowd: Unexpected Encounters I, Zagreb 2015, S. 59. 11 Ebd., S. 63.
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Abb. 2: Institut Tomislav Gotovac, Zagreb, 2018 Figur des Künstlers als Sammler von Marginalien und Ephemera verorten (Abb. 2). In ihrem Aufsatz zur Figur des Künstlers als Archivar erhellt die Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Monika Rieger den Zusammenhang zwischen dem Archiv (als Institution der Ordnung und Ort des Wissens über die Vergangenheit) und zeitgenössischen künstlerischen Praktiken. Die Praxis des Archivierens und das Sammeln als Form- und Gestaltungsverfahren entwickelte sich, so Rieger, in »der Wiederentdeckung und Wiederaufnahme künstlerischer Strategien wie dem Collage-, Montage- und Assemblage-Prinzip, die in den 1920er und den 1930er Jahren im Umfeld der künstlerischen Avantgarde entwickelt wurden«12. Als sich in den 1960er Jahren die Institutionskritik »als ein wichtiger Aspekt künstlerischer Aktivität« etablierte, »hat die institutionelle Praxis von Museen und Archiven Künstler dazu inspiriert, diese zu einer künstlerischen Strategie 12 Monika Rieger: »Anarchie im Archiv. Von Künstler als Sammler«, in: Knut Ebeling; Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 256.
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zu machen«13. Indem das Tomislav Gotovac Institut als ein Ort funktioniert, an dem man eine systematische Einsicht in die Dokumentation der Kunstaktionen/Performances bekommt und diese mit sämtlichen biografischen Spuren epistemisch relationieren kann, lässt sich das Institut bzw. Archiv von Tomislav Gotovac in Zagreb als Produkt einer bewussten künstlerischen Strategie verstehen, die durch eine aktive Geste des Dokumentierens und Speicherns definierbar ist. Insofern ist die Praxis des Selbstarchivierens eine institutionskritische Geste, die auf das Fehlen systematischer, offizieller Archivierung (und Musealisierung) ephemerer Kunstformen verweist und einen Kontext für eine andersartige Konstruktion der Kunst- und Performancegeschichte verschafft. Bevor wir unseren Blick den konkreten Gerichtsdokumenten der Aktion Zagreb, ich liebe dich! zuwenden, soll kurz noch das Verhältnis zwischen Tomislav Gotovac und der Figur des Archivars präzisiert werden. Der Unterscheidung zufolge, die Monika Rieger in ihrem Aufsatz trifft, könnte man Archivpraktiken als Arten eines künstlerischen Umgangs identifizieren. Einerseits sind es Künstler_innen, »die archivische Prinzipien und Verfahren als Formprinzip verwenden«, und zum anderen sind es Künstler_innen, »die sich mit dem Archiv als Thema im Zusammenhang mit Aspekten wie Gedächtnis und Erinnerung, Kanonbildung oder Geschichte beschäftigen«14. In der Art und Weise, wie Gotovac mit dem Konzept des Archivs umgeht bzw. wie er sein eigenes Archiv gestaltet hat, erscheint es plausibel, ihn eher mit der ersten Figur zu verknüpfen, da er aus thematischer Sicht kaum Arbeiten hat, in denen explizite15 Auseinandersetzungen mit Erinnerung oder Geschichtskonstruktionen vorkommen. Immerhin aber lässt sich rekurrierend auf die Gestaltung seines Archivs feststellen, dass es sich um eine Aktivität handelt, die zur Ref lexion über die Formen der Geschichtsschreibung und Umdeutung des künstlerischen Kanons beitragen kann und aus einer epistemisch-diskursiven Sicht damit einen wesentlichen und kritischen Beitrag für die künftige Forschung leistet. Die bloße Existenz eines solchen Archivs, 13 Ebd. 14 Ebd., S. 257. 15 Eine Ausnahme bildet die Fotoserie Nach Beška’s Tod aus dem Jahr 1988. Nach dem Tod seiner Mutter Beška dokumentierte der Künstler die pedantische Anordnung der Wohnung, in der sie lebte. Die Fotos vermitteln eine fast archivische Ordnung und sind für den Zusammenhang dieses Textes relevant, weil es sich um dieselbe Wohnung handelt, in der der Künstler sein Archiv beherbergte.
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in dem man diverse Spuren (und Schichten) des künstlerischen Schaffens wiederfindet und wo die Grenzen zwischen Alltag und Kunst verschoben sind, erweist sich als potenzieller Ort, an dem man anhand vernachlässigter, marginalisierter und verdrängter Spuren eine andere Geschichtsschreibung praktizieren und damit die Machthierarchien16 zwischen ›West‹ und ›Ost‹ dekonstruieren und anders denken kann. Davon ausgehend, dass die Frage nach dem Archiv keineswegs auf die Temporalität des Vergangenen reduziert werden kann bzw. keineswegs eine Frage der Vergangenheit, sondern – wie Jacques Derrida es dargelegt hat17 – eine der Zukunft ist, lässt sich in Hinblick auf das Archiv von Tomislav Gotovac die Frage stellen, was seine mittlerweile institutionalisierte Sammlung uns über die Zukunft (der Gotovac-Forschung, aber auch der Perspektivierung der Performancekunst Osteuropas) verraten kann. Die Antwort befindet sich vielleicht in den bisher unerforschten Spuren, die im Tomislav-Gotovac-Institut warten, um noch entdeckt zu werden.
2 Gerichtsverhandlung als performative und institutionskritische Geste Wie schon auf den vorangegangenen Seiten angedeutet, lässt sich der Gerichtsprozess gegen Tomislav Gotovac als Fortsetzung der Performance Zagreb, ich liebe dich! verstehen bzw. als eine Form künstlerischer Aufführung (und Intervention), die sich in einem anderen Medium ereignete und die fragilen Grenzen zwischen Leben und Kunst umso deutlicher verunsicherte. Die sechs Dokumente, die man im Institut einsehen kann, gewähren außerdem einen klaren Einblick in die Absicht des Künstlers, der 16 Ein prägnantes Beispiel, diese Machthierarchien zu unterwandern und eine kritische Geografie der Osteuropäischen Kunst der Avantgarde zu zeichnen, welche die bisher noch unbeleuchteten Aspekte der Kunst adressieren würde, stellt das Buch In the Shadow of Yalta des polnischen Kunsthistorikers Piotr Piotrowski dar. Piotrowski schreibt: »Traditional art geography is static; critical geography formulates dynamic interpretive models based not only on interrelations among different places on the world map, but also among directions of interests and vectors or trajectories of perception of the different places on that map.« Piotr Piotrowski: In the Shadow of Yalta. Art and the Avantgarde in Eastern Europe 1945-1989, London 2009, S. 25. 17 Vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997.
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Abb. 3: Auszug aus den Gerichtsdokumenten vor Gericht nicht nur sich selbst verteidigen wollte, sondern die Möglichkeit nutzte, seine künstlerischen Strategien zu verdeutlichen (Abb. 3). Der Prozess dauerte vom 30.04. bis zum 28.09.1982 und lässt sich wie folgt rekonstruieren: Am 30.04.1982 wurde Gotovac für schuldig erklärt; am 18.05.1982 reichte der Künstler eine Rechtsbeschwerde gegen das Urteil ein; eine zweite Gerichtsinstanz (das Landesgericht) lehnte die Rechtsbeschwerde ab und bekräftigte das Urteil (21.06.1982); im Sommer 1982 (am 14.07.) formulierte Tomislav Gotovac erneut seine Rechtsbeschwerde; der Bundesgerichtshof lehnte diese wiederum ab und bekräftigte das Urteil. Danach konnte der Künstler keine neuen Rechtsbeschwerden einreichen, womit der Prozess beendet war. Er musste 2000 Dinar zahlen. Der Zahlungsnachweis ist auch Teil der Dokumentation zur Aktion. Für den Zusammenhang unserer Analyse sind gerade die Aussagen und Argumente, die der Künstler in seiner Rechtsbeschwerde formuliert, von
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Belang, da er dort sein künstlerisches Programm enthüllt und einen rhetorisch-diskursiven Kontext eröffnet, in dessen Rahmen man einen anderen Blick auf die Aktion/Performance bekommt. In seiner Rechtsbeschwerde äußert sich der Künstler wie folgt: Als erstes war meine Aussage, dass es sich um eine künstlerisch orientierte Aktion handelt, die durch einen prozessualen Charakter gekennzeichnet ist und die sich im Rahmen einer Überlegung über die Ästhetik des Spielfilms ereignete. Ergänzend hab' ich mich bei der Anhörung über mein künstlerisches Leben geäußert, darüber, dass dieses Aktions-Objekt in der Reihe meiner anderen Aktionen steht, in denen ich als Drehbuchverfasser, Regisseur und Hauptdarsteller agiere. Ich hab auch davon erzählt, wie ich in früheren Jahren ähnliche solcher öffentlichen Aktionen-Objekte in den Straßen und Plätzen von Zagreb verfasst habe: »Fernsehschauen«, »Säubern von öffentlichen Räumen«, »Betteln«, »Rasieren und Haarschnitt im öffentlichem Raum«, »Zeitungsverkauf« usw.18 Was anhand der Aussagen präziser greif bar wird, ist die Relation der Aktion zu anderen Performances bzw. der explizite Verweis auf das Medium des Films. Nach dieser Auffassung ereignete sich Zagreb, ich liebe dich! im Modus eines kinematografischen Dispositivs, wobei aber der eigentliche Film abwesend bleibt und nur in Form von Fotografien (also einer Dokumentation) zirkuliert. Anderseits jedoch erscheint es Gotovac wichtig zu betonen, dass es sich hier um eine Aktion handelt, die keineswegs einen isolierten Fall seiner künstlerischen Praxis bildet, sondern im Licht anderer Kunstereignisse zu betrachten ist, die ebenso im öffentlichen Raum stattgefunden haben. Als Evidenz für seine Aussagen legte der Künstler die Zeitschrift Studentski list vor, in welcher sämtliche Aktionen zuvor dokumentiert waren. Ein zusätzliches Manöver, mit dem Gotovac das Urteil anzufechten versuchte, war der Hinweis auf den ästhetisch-künstlerischen Charakter des nackten Spaziergangs: »Aus dem oben Genannten geht hervor, dass mit der Aufführung des Aktions-Objekts Zagreb, ich liebe dich meine Absichten rein künstlerisch waren und dass ich mir nicht dessen bewusst war, dass ich damit einen Verstoß begehe, der die Verletzung moralischer Gefühle 18 TG_Zagreb volim te_dokumenti_002, Tomislav Gotovac Institut, Zagreb. Alle Übersetzungen aus dem Kroatischen sind vom Verfasser.
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der Bürger von Zagreb zur Folge hat.«19 Um den Kunstcharakter der Aktion nachzuweisen, war sein Vorschlag, drei Kuratoren aus Zagreb (Radoslav Putar, Božo Bek und Zelimir Koščević) einzuladen, deren Expertisen und Autoritäten Gotovacs Aussagen bekräftigen sollten. Strategisch gesehen sollte dieser Schritt dazu führen, das Gericht zu überzeugen, dass die Kunst anderen Gesetzen unterworfen ist und deshalb keinen Vorstoß gegen die Rechtsordnung des Staats bedeutet. Mit anderen Worten: Was hier zum Vorschein kommt, ist das implizite Beharren des Künstlers auf den autonomen20 Charakter der Kunst. In der ersten Gerichtsentscheidung vom 30.04.1982 liest man, dass der Künstler auch ein weiteres Argument für seine Verteidigung hervorgehoben hat: »Während der Ermittlung äußerte sich der Angeklagte, er wäre an jenem kritischen Tag tatsächlich nackt in Richtung Platz der Republik spaziert. Um sich zu verteidigen, erklärte er, er wollte damit wegen der Missverhältnisse protestieren; er hätte so vieles der Stadt Zagreb geschenkt und gegeben, die Stadt aber hätte ihm nichts zurückgegeben.«21 Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass Tomislav Gotovac im Rahmen des Verfahrens zwei Argumentationslinien entwickelt. Zum einen will er den performativen Spaziergang als ästhetisches Ereignis darstellen, welches durch die Mechanismen künstlerischer und filmischer Autonomie von der sozialen Wirklichkeit getrennt und differenziert werden soll. Zum anderen könnte man aber hinsichtlich der Äußerung, die Aktion wäre eine Form von Protest gegen die soziale Misshandlung (oder Marginalisierung) des Künstlers, annehmen, dass er die Grenze zwischen Kunst und sozialer Wirklichkeit absichtlich überschreiten bzw. seine Aktion als einen Akt verstanden wissen wollte, dessen Implikationen über die Grenzen des Ästhetischen hinausreichen und als Protest gegen die Regeln der Öffentlichkeit lesbar werden kön19 Ebd. 20 Die zeitgenössische Debatte über die Autonomie und Souveränität der Kunst kann hier nur angedeutet werden, da eine ausführlichere Thematisierung dieser Angelegenheit den Rahmen des Textes sprengen würde. Aus philosophisch-kritischer Perspektive kann jedoch auf das Buch Die Souveränität der Kunst – Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida von Christoph Menke verwiesen werden. Bezogen auf das Konzept der Negativen Dialektik von Adorno argumentiert Menke, dass Kunst nur dann engagiert ist, wenn sie Negationen und Wiedersprüche generiert. Vgl. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst – Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt 1991. 21 TG_Zagreb volim te_dokumenti_003, Tomislav Gotovac Institut, Zagreb. Kursivierung vom Autor.
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nen. Aufeinander bezogen bilden die zwei Äußerungen eine widersprüchliche Konstellation, in der die Kunst gleichzeitig als autonom und nicht-autonom behauptet wird. Wenn man dabei noch bedenkt, dass der ganze Vorgang sich im Kontext einer Verhandlung vor Gericht abspielte, lassen sich einige Fragen formulieren: Wie verhalten sich die Gesetze der Kunst und der sozialpolitischen Wirklichkeit zueinander? Was sagt der Akt des Urteilens (vor Gericht) über die Kunst aus? Wo sind die Grenzen zwischen Kunst (Theater und Performance) und der Institution des Gerichts zu ziehen? Eine Möglichkeit, die oben angedeutete Antinomie zwischen einem Begriff der autonomen Kunst und dem Begriff der engagierten Kunst zu adressieren, wäre, die Schnittstelle zwischen Theater und Gericht präziser zu artikulieren. Mit Cornelia Vismann könnte man davon ausgehen, dass bei der Gerichtsverhandlung der Gerichtsprozess »als Versprachlichungsprozess« stattfand und dass das Theater des Gerichts »die Wiederaufführung der Tat im symbolischen Raum«22 leistete. Wie aus den Dokumenten ersichtlich ist, wiederholte sich die Tat (die Aktion des nackten Spaziergangs) in schriftlicher Form, wodurch das performative Ereignis in ein diskursiv-textuelles Ereignis transformiert wurde. »Diese Übertragung eines Geschehens vom realen Ort […] auf die hochartifizielle Bühne des Gerichts«, so Vismann, »macht aus der Tat ein Ereignis in der Sprache. [D]ie Gerichtsbühne transformiert die unerhörte, unaussprechliche Tat in eine erzählbare Handlung«23. Aus juristischer Perspektive wird sichtbar, dass die Tat (in unserem Fall der nackte Spaziergang) aus der gesellschaftlich-symbolischen Ordnung herausfällt und deswegen als erzählbare Handlung wiederholt werden muss, um darstellbar und juristisch fassbar zu werden. Auf diese Weise lässt sich behaupten, dass die Gerichtsverhandlung eine Form des Nachspielens der Aktion Zagreb, ich liebe dich! darstellt und somit zur Proliferation von Dokumentationen führt, die als Spuren des Ereignisses verstanden werden können. Um genauer verstehen zu können, warum die Aktion eine ›Drohung‹ für die gesellschaftliche bzw. juristische Ordnung darstellte, müssen wir uns noch einmal den Dokumenten zuwenden, und zwar dem Text der Urteilsbegründung. Dort heißt es: »Er ist schuldig, weil er am 13.11.1981 um 12 Uhr nackt am Platz der Republik spazierte, so hat er die moralischen Gefühle 22 Vismann: Medien der Rechtsprechung, a.a.O., S. 31. 23 Ebd., S. 33.
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der Bürger verletzt«24. In der Ablehnung der Rechtsbeschwerde argumentiert der Richter dann wie folgt: »Die Verteidigung des Angeklagten wurde abgewiesen, weil sie unlogisch und nicht überzeugend ist. Um protestieren und seine Unzufriedenheit ausdrücken zu können, sind ausreichende, legale Möglichkeiten und Mittel vorhanden bzw. es ist unnötig sich so auszudrücken, wie es der Angeklagte getan hat, womit er die moralischen Gefühle der Bürger auf gröbste Weise verletzte.«25 Das Urteil, der nackte Spaziergang im Stadtraum würde die moralischen Gefühle der Bürger verletzen und sei als solcher als ein Vorstoß gegen die öffentliche Verordnung zu deuten, impliziert, dass der öffentliche Raum keine gegebene (moralische) Existenz hat, sondern erst durch Vorschriften, soziale Handlungen und Praktiken hervorgebracht wird. Als ein durch juristische und sittliche Regelungen bestimmter Ort legt er nun immer auch die Macht- und Genderhierarchien bzw. die politischen Strukturen, deren Legitimierung im Rechtssystem niedergeschrieben ist, offen. Wenn Tomislav Gotovac nackt durch die Stadt spaziert, dabei verhaftet wird und schließlich ein Gerichtsprozess gegen ihn geführt wird, so ist das ein klarer Anhaltspunkt dafür, dass der öffentliche Raum einer strengen Kontrolle unterworfen ist und dass jede Form eines Benehmens (und Vorkommens), welches der sozialen und juristischen Normierung widerspricht, dementsprechend sanktioniert wird. Ein Protokollbericht, der auch Teil der Dokumentation Zagreb, ich liebe dich! ist und der den biopolitischen Aspekt der Normierung ausstellt, ist der psychiatrische Bericht, der am gleichen Tag verfasst wurde, an dem die Aktion stattgefunden hat. Über Tomislav Gotovac wird dort Folgendes berichtet: Der Patient wurde in einem Krankenwagen und durch die Intervention der Polizei hierhergebracht, weil er sich nackt am Platz der Republik ausgezogen hat. […] Ich denke, dass es sich um eine psychopathische Person handelt, dessen Ideen und Gedanken inadäquat erscheinen und wahrscheinlich auch durch ein Zwangsverhalten bedingt sind. […] Elemente einer Psychose sind aber nicht nachweisbar und deswegen wird der Patient entlassen, aber er sollte sich in der Ambulanz melden.26 24 TG_Zagreb volim te_dokumenti_003, a.a.O. 25 Ebd. 26 TG_Zagreb volim te_dokumenti_004, Tomislav Gotovac Institut, Zagreb.
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Wie sich nun den Ablauf (nach der Inhaftierung) anhand des psychiatrischen Protokolls rekonstruieren lässt, wurde der Künstler als erstes in die Klinik für Neurologie und Psychiatrie eingeliefert, von wo er nach dem Erstellen des Protokolls entlassen wurde. Die Konstellation, die dabei in den Vordergrund tritt, ist die biopolitische Relation zwischen der Polizei und der Psychiatrie, die hier eindeutig über die Verhaltensnormen entscheidet und die gesellschaftliche Ordnung bzw. den öffentlichen Raum kontrolliert. Die Macht des Staates verortet sich also in diesem biopolitischen Zusammenhang, in dem das Subjekt dem Diskurs der klinischen (in diesem Fall der psychiatrischen) Medizin und der polizeilichen Gewalt unterworfen ist, die zusammen über Normverstöße urteilen. Jede Art und Form von Anderssein wird aus der Öffentlichkeit entfernt und ausgeschlossen. Ein weiteres Beispiel aus der Performance-Geschichte soll die These über die biopolitische Normierungstendenz bzw. die Ausschlussmechanismen des Staats noch etwas verdeutlichen. Es handelt sich um die am 05.07.1965 in Wien aufgeführte Performance Wiener Spaziergang von Günter Brus. In weiß gekleidet, mit mit weißer Farbe bemaltem Gesicht und mit einer schwarz gepinselten Linie, die den Körper von Kopf bis zum Fuß in zwei Hälften aufteilte, begab sich der Künstler auf einen Spaziergang, der ihn vom Heldenplatz bis zum Stephansdom führen sollte. Der Vorgang scheiterte jedoch ziemlich schnell, da er nach wenigen Schritten von einem Polizeibeamten an der Ecke Bräunerstraße/Stallburggasse aufgehalten wurde. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bekam er schließlich eine Ordnungsstrafe. Die Tatsache, dass in beiden Fällen (bei Gotovac wie auch bei Brus) die Performance/Aktion durch eine polizeiliche Intervention beendet wurde, könnte ein Ausdruck dessen sein, dass der öffentliche Raum (im Österreich der 60er Jahre und im Jugoslawien der 80er Jahre) durch Mechanismen der Exklusion27 definiert war und keineswegs eine Zone freier Bewegung und 27 In ihrer Einleitung zur englischen Übersetzung von Alexander Kluges und Oskar Negts Buch Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisation von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit unterstreicht die Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen genau diesen Aspekt der Organisation des öffentlichen Raums: »The bourgeois public’s claim to represent a general will functions as a powerful mechanism of exclusion: the exclusion of social groups, such as workers, women, servants, as well as vital social issues, such as material conditions of production and reproduction, including sexuality and childbearing – the exclusion of any difference that cannot be assimilated, rationalized and subsumed«. Miriam Hansen: »Foreword«, in: Alexander Kluge; Oskar Negt (Hg.): Public Sphere and Experience.
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freien Ausdrucks darstellte. Die selbstinszenierten Spaziergänge im öffentlichen Raum bedeuteten einen Verstoß gegen gesellschaftliche Verhaltensnormen und offenbarten die Rolle der Polizei als derjenigen Instanz, welche die Ordnung aufrechterhalten sollte und über die Verteilung der Macht entschied. In einem Exkurs über Politik und Polizei, der in seinem Buch Kritik der Rechte abgedruckt ist, adressiert der Philosoph Christoph Menke – mit Blick auf Jacques Rancière und Alain Badiou – die diskursive Konstellation zwischen Politik, Polizei und der Rechtsschreibung. Seiner Auffassung nach ist die Polizei »das im Allgemeinen unausgesprochene Gesetz«28, welches »als ausgesprochenes das Recht ist«29. In anderen Worten, die Polizei ist ein Synonym für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung, die Organisation der Mächte, der Disziplinierung und ein System der Legitimierung. Im Gegensatz zur Polizei (als Ordnung), kann Politik als ein Akt und Prozess der »Konfrontation der Ordnung mit der Gleichheit«30 identifiziert werden. Aus dieser Perspektive könnte man Folgendes behaupten: Wenn Brus und Gotovac (selbstbemalt/nackt) durch die Stadt spazieren, dadurch eine andere Auf teilung des Sinnlichen31 zustande bringen, die insofern politisch ist, als dass sie den gegebenen Ordnungsmustern eine implizite Behauptung der Gleichheit und ein Recht auf freie Selbstgestaltung gegenüberstellen. Konfrontiert mit dem uniformierten Organismus32 des Staates veranschaulicht Toward an Analysis of Bourgeois and Proletarian Public Sphere, Minneapolis; London 1993, S. XXII-XXIX, hier: S. XXVIII. 28 Jacques Rancière: »Das Unvernehmen. Politik und Philosophie« in: Christoph Menke: Kritik der Rechte, Frankfurt a.M. 2015, S. 389. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 390. 31 Als Verbindungsglied zwischen politischen und ästhetischen Praktiken definiert Jacques Rancière die Aufteilung des Sinnlichen wie folgt: »Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut und je nach Zeit und Raum in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht etc.« Jacques Rancière: Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Parodoxien, Berlin 2008, S. 26. 32 Wenn Jürgen Habermas in seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit versucht, den Grundriss der bürgerlichen Öffentlichkeit schematisch darzustellen, wird der Bereich der Polizei dem des Staats zugeordnet, der wiederum zur »Sphäre der öffentlichen Gewalt«
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das Bild des nackten (und bemalten) Künstlers genau jene Stelle, an der sich der normative Körper (die Polizei) und (der aus der Ordnung herausstoßende) Körper des Künstlers treffen und einander gegenüberstehen. Diese Stelle des Antagonismus und Widerspruchs ist die Geburtsstätte einer kritischen Intervention in die bestehenden sozialpolitischen Verhältnisse, deren Gleichheitsideal nur mehr ein fiktives und künstliches ist. Obwohl es sich bei Brus und Gotovac um zwei verschiedene ökonomisch-ideologische Systeme (Konservative Demokratie und Sozialismus) handelt, so muss bemerkt werden, dass man eine ähnliche Strukturierung des öffentlichen Raums erkennen kann. In einem Interview erklärte Tomislav Gotovac, dass der nackte Körper eine Blasphemie wäre, »eine Beleidigung der Klein-Bürger«33, gegen deren falsche Moral und Hypokrisie er auf diese Weise protestieren würde. An einer anderen Stelle äußert er sich über die Funktion, die der entkleidete Körper für seine Kunst hat: »All that out together confirmed my artistic belief that nudity is one of the pillars of art, that in reality a lot revolves around nudity. And now I’m even more convinced that the most important thing in art is nudity. This shows that nudity is something everybody has a certain relation to, be it positive or negative, be it Church or porno stars.«34 Indem das Gerichtsurteil35 das Ereignis des nackten Spazierens für ordnungswidrig erklärte und davon ausging, dass der Künstler auf diese Weise die moralischen Gefühle der Bürger beleidigen würde, wurde bestätigt, dass das Rechtssystem unter anderem auch eine Disziplinierung des Körpers bedeutet. Eine Frage bleibt dabei unbeantwortet: Wieso ist der nackte Körper im öffentlichen Raum ein Ort des Dissenses und wieso verweigert das Gesetz dem gehört. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 89. 33 Tomislav Gotovac zitiert nach: Denegri: »The Individual Mythology of Tomislav Gotovac«, a.a.O., S. 273. 34 Tomislav Gotovac: »Nudity«, in: Vlasta Delimar; Zvonimir Dobrović (Hg.): Absolute Artist: Antonio Gotovac Lauer, Zagreb 2012, S. 12. 35 Für Cornelia Vismann gilt das Urteil als Unterscheidungsmerkmal von Theater und Gericht: »Bei aller Gleichheit in der Form zwischen Gericht und Theater, insbesondere hinsichtlich der Performanzanforderungen, wird am Ende doch ein Unterschied sich aufdrängen. So mag das Gericht spätestens in der Ausprägung, die es in der Neuzeit erhalten hat, als Theater beschreibbar sein, doch endet es im Gegensatz mit einem Urteil.« Vismann: Medien der Rechtsprechung, a.a.O., S. 72.
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nackten Körper jede Teilhabe am Gemeinsamen? Davon ausgehend, dass die Polizei in der bürgerlichen Gesellschaft als die »sichernde Macht des Allgemeinen«36 figuriert, wäre es vielleicht plausibel darauf zu schließen, dass der nackte Körper (des Künstlers) diejenige Stelle kritisch offenbart, an der der Staat (Polizei) und das Bürgertum übereinstimmen und sich gegenseitig (durch das Rechtssystem) unterstützen und legitimieren. Der nackte Körper wird somit zum Bild der Rebellion und zu einer Figur der Kritik, die gegen die Allianz zwischen der Polizei, der Moral und dem Bürgertum gerichtet ist. Um beide Ausgangspunkte und Fragestellungen – die Figur des Künstlers als Selbstarchivar und das Verfahren vor Gericht – besser verknüpfen zu können, soll abschließend die spezifische politische Wirkung von Gotovacs Aktion Zagreb, ich liebe dich! auf den Punkt gebracht werden. Wie bereits argumentiert wurde, lassen sich hinsichtlich der Dokumentation zwei diskursive Linien verfolgen, die die potenziell kritische Resonanz der Aktion sichtbar machen. Der Umstand, dass Gotovac sämtliche Dokumente, die während des Gerichtsverfahrens entstanden sind, auf bewahrte, lässt darauf schließen, dass die Geste des Selbstarchivierens die juristisch-politischen Konsequenzen der Aktion zur Schau stellt. Auf Grundlage der Dokumentation ist deshalb eine analytische Vorgehensweise möglich, welche die biopolitischen Konstellationen hervorhebt und somit verdeutlich, dass der jugoslawische Sozialismus durch normative Praktiken und Machtanordnungen konstituiert war. In ihrem Buch über die Grundrisse einer agonistischen Umdeutung des Politischen richtet die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen agonistischer Politik und künstlerischen Praktiken im öffentlichen Raum. Davon ausgehend, dass jede Gesellschaft durch ein Konzept der Hegemonie fundiert ist, welches die »existierende Einheit«37 dieser Gesellschaftsformation ausmacht, plädiert Mouffe für die Etablierung solcher künstlerischeren Praktiken, die gegenhegemoniale Initiativen entwickeln und sich auf diese Weise gegen die homogene Ordnung des Politischen richten. Statt Konsens zu generieren, sollten künstlerische Praktiken, die sich vorwiegend im öffentlichen Raum ereignen, eine Kon stellation von Dissens fördern und herstellen. Mouffe schreibt: »According 36 G.W.F Hegel zitiert nach: Menke: Kritik der Rechte, a.a.O., S. 409. 37 Chantal Mouffe; Ernesto Laclau: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 38.
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to the accepted view, the public space is the terrain where one aims at creating consensus. For the agonistic approach, on the contrary, the public space is where conf licting points of view are confronted without any possibility of a final reconciliation.«38 Diesen Auffassungen folgend scheint es plausibel, die Aktion Zagreb, ich liebe dich! in diesem agonistischen Licht zu interpretieren. Die Rolle kritischer, künstlerischer Praktiken besteht somit in der Sichtbarmachung hegemonialer Mechanismen, welche die Totalität der Gesellschaft begründen und keine Heterogenität dulden. Wenn der Gerichtssaal zum Ort und zur Szene einer erweiterten künstlerischen Intervention erhoben wird, zeigt sich die kritische Dimension der Aktion von Gotovac als eine Geste der Darstellung dessen, was durch den dominanten Konsens im öffentlichen Raum unsichtbar und verborgen bleibt (der nackte Körper). Wenn nun darüber hinaus der Künstler auch als Sammler, Archivar und Kurator seines eigenen künstlerischen Schaffens hervortritt, so begegnet man wieder einer kritisch-politischen Geste, die in die Lücken und blinden Flecken der Geschichtsschreibung eingreift und einen neuen Diskurs eröffnet.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Tomislav Gotovac: Nackt auf dem Asphalt liegen, den Asphalt küssen. (Zagreb, ich liebe dich!), 1981. Fotografie: Boris Turković, Copyright: Sarah & Zora Gotovac, Tomislav Gotovac Institut. Abb. 2. Institut Tomislav Gotovac, Zagreb, 2018. Fotografie: Darko Šimičić, Copyright: Sarah & Zora Gotovac, Tomislav Gotovac Institut. Abb. 3. TG_Zagreb, Volim te_dokumenti_002. Copyright: Sarah & Zora Gotovac, Tomislav Gotovac Institut.
38 Chantal Mouffe: Agonistics. Thinking the World Politically, London 2013, S. 237.
3 Eine sozialistische Kritik osteuropäischer Gesellschaften in der Performance
Soz-Art, oder vom Versuch, Strategien der Avantgarde in der polnischen Kunst der 1970er Jahre wiederzubeleben Łukasz Ronduda 1970 war ein turbulentes Jahr. Kunst-, Kultur- und andere Institutionen befanden sich im Umbruch, die leitenden Kader waren nahezu orientierungslos – keiner wusste, welche Richtung die neue Kulturpolitik des sozialistischen Polens einschlagen würde. Nach dem Arbeiteraufstand in Posen 1956 war ein weiteres ›Jahr der Lockerung‹ angebrochen, ein weiteres Jahr der neuen Möglichkeiten für experimentelle Kunst. Durch den Wechsel an der Spitze der kommunistischen Partei und die seit 1968 anhaltenden sozialen und kulturellen Unruhen (die ihren Höhepunkt im Aufstand vom Dezember 1970, einem blutig niedergeschlagenen Streik der Werftarbeiter fanden) war eine ähnliche Situation wie im Jahr 1956 entstanden. Hatten Künstler_innen angesichts des Tauwetters der 1950er Jahre die moderne Poetik wiederbelebt, eröffnete das Jahr 1970 einigen Kunstschaffenden die Möglichkeit, Strategien der Avantgardekunst neu zu entdecken, um Kunst und sozialpolitische Realität zu verbinden.1 Die Kunstschaffenden Zofia Kulik, Przemysław Kwiek, Zygmunt Piotrowski, Anastazy B. Wiśniewski und Paweł Kwiek setzten sich kritisch mit den Institutionen, Ideen und Medien jener modernen Kunst auseinander, die sich zwischen der Zeit des Tauwetters und dem Jahr 1970 in Polen etabliert
1 In seiner Monografie Znaczenia modernizmu (Bedeutungen der Modernität) versuchte Piotr Piotrowski die polnische Nachkriegskunst durch das Prisma eines Gegensatzes zwischen Moderne und Avantgarde (wie ihn Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde eingeführt hatte) zu analysieren und stellte die These auf, dass im polnischen Kunstmilieu nach dem Tauwetter die Kategorien der ersteren vorherrschten, während letztere eigentlich nie zur Entfaltung gekommen sei. Vgl. Piotr Piotrowski: Znaczenia modernizmu, Poznań 1999.
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hatten.2 Durch ihr Bestreben nach Teilhabe an der Gestaltung der künftigen nationalen Strukturen und Institutionen (besonders im Bereich von Kunst und Ästhetik) nahmen sie aktiv an den Entwicklungen teil. Ihr Wunsch war die Begründung einer neuen avantgardistisch-politischen Kunst, die sich direkt mit der konkreten sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Situation auseinandersetzen sollte. Die Versuche, das Verhältnis von Kunst und Politik neu zu definieren, lässt eine weitreichende kritische Einstellung gegenüber dem kommunistischen Regime erkennen. Diese kritische Einstellung betraf auch die neue Parteiführung, namentlich Edward Gierek, dessen Verlautbarungen die Künstler_innen sehr ernst nahmen. Gierek versprach eine verbesserte Kommunikation mit der politischen Führung hinsichtlich der Bedürfnisse der Gesellschaft und eine neue Offenheit für Modernität und Innovation. Diesen Durchbruch wollten die Künstler_innen nutzen, um die Idee von Kommunismus und Sozialismus zu überdenken, die ideologische Einf lussnahme im Allgemeinen und die für einen öffentlichen Diskurs im sozialistischen Polen geeigneten Werte. In ihren Arbeiten regten sie eine Diskussion der staatlich verordneten Werte an. Sie richteten direkte und unbequeme Fragen an die ›sozialistischen Autoritäten‹: Auf welchen Werten gründete sich ihre Machtausübung? Inwiefern wurden die postulierten Werte auch wirklich in die Praxis umgesetzt – und erschöpften sich nicht in reiner Propaganda? Diese Art der politischen Mitbestimmung jedoch weckte in polnischen Künstlerkreisen negative Assoziationen mit dem Sozialistischen Realismus. Deshalb sahen sich die Künstler_innen mit der Aufgabe konfrontiert, eine sozial engagierte Kunst anzuregen, die sich zugleich von den Formeln des Sozialistischen Realismus distanzieren würde. In ihren avantgardistischen, politisch engagierten Arbeiten wollten sie diesen Anspruch durch die Verbindung ›neuer Ausdrucksformen der Kunst‹ mit Politik umsetzen. Zygmunt Piotrowski bezeichnete seine künstlerisch-politische Aktivität als
2 Es mag selbstverständlich anmuten, dass sich avantgardistische Strategien ausgerechnet in diesem spezifischen Moment in Polen zu entwickeln begannen. Bis 1970 hatte sich die polnische Kunst fünfzehn Jahre lang auf den Aufbau ihrer Autonomie konzentriert, auf eine »Kultur der Verteidigung«, die den traumatischen Erfahrungen des sozialistischen Realismus (»socrealism«) gefolgt war. Erst nachdem sie ihre volle Autonomie erreicht hatte, konnte Kunst wieder neu definiert werden. Vgl. Zygmunt Piotrowski: »Co nowego w sztuce?«, Literatura 08.01.1981.
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neosozialistischen Realismus, während KwieKulik die Begriffe Soz-Art oder ›neue rote Kunst‹ bevorzugten.
1 Die Gruppe Proagit: Kommunismus denken Kommunismus denken (Pomyśl komunizm) war eine multimediale Performance, die auf Elemente aus Theater, Film, Happening, Audiokunst, Dia- und Lichtshow sowie der soziologischen Umfrage zurückgriff. Zur Beschreibung ihrer Kunst, die aus einer Reihe kraftvoller symbolischer Bilder (oder Zusammenstößen von Bildern, wie sich zeigen sollte) resultierte, benutzten die Künstler_innen den Begriff ›politisches Raum-Zeit-Poster‹. Das ›Poster‹ wurde in einem sehr spezifischen Kontext entworfen und umgesetzt, nämlich im Rahmen des ersten Jahrestages der tragischen Ereignisse vom Dezember 1970, als in Gdańsk mehr als ein Dutzend Demonstrant_innen in den Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben gekommen waren. Die erste Aufführung von Kommunismus denken fand am 16. Dezember 1971 im Ministerium für Kunst und Kultur statt. Die Öffentlichkeit blieb von dieser ersten Performance ausgeschlossen. Die Künstler_innen betrachteten dieses Ereignis als eine neue Möglichkeit, aktuelle soziale und politische Probleme zu ›berichten‹ und hofften nach dem Passieren der Zensur mittels der Unterstützung der offiziellen Kulturpolitik des sozialistischen Staates eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Unmittelbar vor Aufführungsbeginn verteilten Performer_innen einen Fragebogen mit einer Reihe sehr persönlicher Fragen zur Einstellung der Zuschauenden zur Gesellschaft, zu ihrer Umwelt, gemeinschaftlichen Aktivitäten, zum Beruf, Erwartungen, Lebensplänen, der Fähigkeit zu selbstlosem oder egoistischem Handeln usw. Die Zuschauer_innen wurden auf diese Weise aufgefordert, ›auf ihr inneres Selbst zu hören‹, sich ihrer eigenen Grenzen und Möglichkeiten bewusst zu werden, aber auch ihre Einstellung gegenüber überindividuellen Werten zu ref lektieren. Die unmittelbar danach beginnende Aufführung diente als Anregung zum Nachdenken über die gestellten Fragen. Obwohl die gesamte Performance einer bis ins kleinste Detail durchdachten Partitur folgte, ließ sie den Akteur_innen doch Raum zur freien Improvisation. Auf der Bühne, auf der Kommunismus denken aufgeführt wurde, befanden sich mehrere Leinwände, auf denen Filme und Diashows in einer genau festgelegten Reihenfolge gezeigt wurden. Neben
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den Korrespondenzen zwischen den einzelnen Projektionen gab es auch Interaktionen seitens der Mitglieder von Proagit. Die von den Akteur_innen performten choreographischen Sequenzen basierten auf einer Reihe einfacher symbolischer Gegensätze: zwischen dem aktiven Zusammenwirken einer Gruppe von Individuen und dem passiven und gleichgültigen Einzelnen, Kollektivismus und Individualismus, ideologischem Engagement (dargestellt durch rote Schals) und fehlendem Engagement usw. Nach den choreographischen Eröffnungssequenzen setzten sich die Akteur_innen in offensichtlicher Anspielung auf eine Versammlung von Parteifunktionären an einen mit einem roten Tuch bedeckten Tisch. Auf der Leinwand hinter ihnen erschienen simultan zwei verschiedene Projektionen: Die eine zeigte das ruhige, ausdruckslose Gesicht eines jungen Mannes3 (aus dem Film Gesicht II [Twarz II]) – die andere im Gegensatz dazu Szenen eines blutigen Zusammenstoßes zwischen Polizeikräften und einer Menschenmenge (zusammengestellt aus alten Filmaufnahmen erinnerten diese Bilder an Eisensteins Oktober [Oktjabr] von 1927). Diese beiden Projektionen nahmen als Hintergrund einer von den Performer_innen evozierten ›Parteiversammlung‹ Bezug auf das Massaker an Arbeitern in Gdańsk, das sozusagen unter den Augen der Partei stattgefunden hatte. Die nächste Diashow zeigte Władysław Gomułka. Was diese Bilder so bemerkenswert machte, war der Umstand, dass Gomułka, zu dieser Zeit noch Generalsekretär der Partei, auf jedem Bild mit einer Brille zu sehen war. Die Künstler_innen spielten so ironisch auf den offiziellen Grund für Gomułkas Rücktritt an. Er hatte nicht etwa damit zu tun, dass Gomułka nach dem Dezembermassaker in Ungnade gefallen war, sondern war die Folge seines schlechten Gesundheitszustandes (angeblich litt er an einer ›Augenkrankheit‹). Nach Gomułka folgte die von Zofia Kulik und Przemysław Kwiek vorbereitete Präsentation von Rottöne (Odmiany czerwieni) auf drei Leinwänden. Sie bestand aus mehreren hundert Dias, die künstlerische Aktivitäten in verschiedenen Kontexten zeigten, welche auf eine oder andere Weise etwas Rotes enthielten – etwa ein Stück Stoff oder ein Symbol. Diese Projektion, die wieder hinter den Darsteller_innen auftauchte und das Publikum adressierte, erzeugte eine sehr genaue Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit der Ideologie, symbolisiert durch die Farbe Rot und ihre enge Verbindung zum wirklichen Leben bzw. 3 Der Film Gesicht II wurde von Paweł Kwiek produziert und von Piotrowski in Auftrag gegeben.
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den realen Existenzbedingungen. Genau zum Ende von Rottöne war ein lautes, alarmierendes Kreischen zu hören. Die Performer_innen sprangen vom Tisch auf und begannen das rote Tischtuch, das bis dahin als Dekoration für die ›Parteiversammlung‹ gedient hatte, in Stücke zu reißen. Die provokante Aktion gipfelte darin, dass die Akteur_innen die kleinen roten Fetzen an das Publikum verteilten. Daran schloss sich eine Vorführung von Zofia Kuliks und Przemysław Kwieks Der Weg Edward Giereks (Droga Edwarda Giereka) an. Die Präsentation bestand aus schwarz-weißen Fotos von Edward Gierek, die den Titelblättern der Zeitungen entnommen waren und den gerade erst neu gewählten Generalsekretär der Partei in seinen nahezu täglichen Treffen mit Vertretern der verschiedensten sozialen Schichten zeigten. Parallel zu dieser Vorführung lief ein Film von Zygmunt Piotrowski, der ein Paar Hände zeigte, die verschiedene symbolische Gesten nachahmten, vor allem und immer wieder das Prinzip, ›eine Hand wäscht die andere‹. Hier und in den Fotos von Gierek zeigte sich der Unwille der neuen Parteiführung, die früheren Parteiführer wegen des Massakers vom Dezember 1970 in Gdańsk zur Verantwortung zu ziehen. Beide Projektionen wurden durch den schrillen, klagenden Klang einer Hafensirene abrupt beendet – eine offensichtliche Anspielung auf die tragischen Ereignisse an der Ostseeküste. Begleitet vom endlosen Sirenengeheul banden sich die Darsteller_innen rote Bänder um den Kopf, begaben sich zu den Zuschauer_innen und f lüsterten ihnen die Worte »Brot«, »Frieden«, »Würde« und »Arbeit« ins Ohr. Sie verteilten auch Abzeichen und ermunterten das Publikum, sich die zuvor verteilten roten Fetzen ebenfalls um ihre Stirn zu binden. Kommunismus denken übte eindeutig Kritik an einem autoritären und vom Staat sanktionierten Sozialismus – einem Sozialismus, wie er in Polen ›real‹ existierte. Gefordert wurde eine Rückkehr zu den ursprünglichen Idealen des Sozialismus. Die ›rote Fahne‹ in Stücke zu reißen und ihre Fetzen um den Kopf zu wickeln sowie die Aufforderung an das Publikum, das Gleiche zu tun, kann als Versuch betrachtet werden, die Bedeutung überindividueller Symbole wie Sozialismus und Kommunismus, die in der öffentlichen Diskussion im Polen der 1970er Jahre überstrapaziert und als quasi ›objektiv‹ realexistierend behauptet wurden (konzeptueller Realismus), auf das konkrete Individuum hin und die durch diese Aktionen sowohl in individueller als auch sozialer Hinsicht vermittelten Werte zu verlagern. Piotrowski schrieb hierzu:
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Die Gesellschaft zu verbessern, heißt, die Art, in der die Menschen miteinander kommunizieren, zu verbessern, ihre Fähigkeit, mit anderen Gruppenmitgliedern zu kooperieren und zusammenzuleben. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens ist nur der Beginn eines Prozesses, neue zwischenmenschliche Beziehungen zu schaffen. Die Macht, sie zu gestalten, hat nicht der Staat, sondern die proletarische Solidarität. »Alle Macht den Räten« – Lenins Anweisung ist nichts anderes als eine Bestätigung der Bedeutung revolutionärer Prozesse in unserem Land.4 Aus Piotrowskis Sicht sollte die Bildung sozialer Strukturen von unten nach oben erfolgen, ausgehend von den Gemeinschaften bzw. Räten hin zu größeren Strukturen und nicht umgekehrt von staatlichen, auf abstrakter Ideologie basierenden Strukturen hin zum Volk, wobei letzteres immer auf die eine oder andere Weise Zwang gegenüber dem Individuum bedeutet. Dieser Situation könnten künstlerische Praktiken entgegenwirken, die sich nicht darauf konzentrierten, »Objekte zu produzieren, sondern Subjekte zu formen, für die die künstlerische Praxis eine Möglichkeit ist, sich selbst zu bilden und die Welt kennenzulernen«5.
2 Die Errungenschaften der Avantgarde und der politischen Kunst, oder: Proagit 2 Kwiek beschreibt die Ursprünge des ›politischen Spektakels‹ Proagit 2 6 wie folgt: »Die Galeria Współczesna7 in Warschau fragte bei Piotrowski, dem Leiter der ›Proagit-Gruppe‹, nach einer weiteren Aufführung seines 1971 für 4 Zygmunt Piotrowski: Zmiana Patradygmatu, unveröffentlicht, Dokumentensektion am Zentrum für Zeitgenössische Kunst im Schloss Ujazdowski (CCA) 1981, o.S. 5 Ebd. Genauer gesagt bestand das Ziel darin, Menschen mit Werkzeugen zur Selbstverwirklichung und erfolgreichen Zusammenarbeit mit anderen auszustatten und auf diese Weise Initiativen und Gemeinschaften von unten zu bilden. In den folgenden Jahren konzentrierte sich Piotrowski auf die Analyse menschlicher Kommunikationsprozesse und ging Fragen der Kooperation innerhalb von Gruppen in weiteren Projekten wie dem Studio für Kunst und Forschung nach. 6 Für eine detailliertere schriftliche Dokumentation des Spektakels durch Przemysław Kwiek vgl. Przemysław Kwiek: Notatnik Robotnika Sztuki, No. 2, Elbląg 1972. 7 Geleitet von Janusz und Maria Bogucki.
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die Zensoren im Ministerium für Kunst und Kultur konzipierten Raum-ZeitPosters an. Er verneinte, da es sich dabei um eine einmalige Performance handele.«8 Im Gegensatz dazu boten Zofia Kulik und Przemysław Kwiek – motiviert vom »Wunsch, solchen Formaten mehr Raum zu geben«9 – ein vollkommen neues Spektakel mit dem Namen Die Errungenschaf ten der Avantgarde und der politischen Kunst, oder: Proagit 2 (Osiągnięcia awangardy a sztuka polityczna oder* Proagit 2) an. Ihr Konzept sah vor, die Errungenschaften der von den Künstler_innen realisierten Aktionen und Interaktionen der Vorjahre als politisch-propagandistische Kunst in die Praxis umzusetzen. An diesen Interaktionen und Aktionen lässt sich der Übergang vom traditionellen Verständnis des Kunstwerks als Objekt zur prozessorientierten Kunst nachzeichnen, zu einer Kunst also, die als Effekt komplexer Kommunikationsakte zwischen den miteinander agierenden Akteur_innen aufgeführt wird. Aus diesem Anspruch ist auch die Idee des Kunstwerks als künstlerische Kommunikation ableitbar. Mittels Interaktionen erfährt das Moment des künstlerischen Subjektivismus und Individualismus eine Mäßigung. Auf diese Weise versuchten die Künstler_innen – oder besser ›Wissenschaftler_innen‹ auf dem Gebiet von Kunst und Ästhetik – ihre eigenen Handlungen zu ›objektivieren‹. Im Rahmen der Interaktionen und durch ihre ›Bewegungen‹ während der gemeinsamen Auftritte oder ›Spiele‹ suchten sie sich an die »intersubjektive« Sphäre der Kommunikation anzupassen. Eine gegenüber anderen Kunstschaffenden derartig ›offene‹ Herangehensweise ermöglichte nicht nur eine effektivere Kommunikation, sondern auch deren Analyse. Die von den Kunst/Wissenschaftler_innen erarbeiteten Techniken der Interaktion (und des visuellen Spiels) waren nicht nur als Subversion der Kunstwelt gedacht – sie sollten auch die Form der sozialen und politischen Realität aktiv beeinf lussen. So entwickelten die Künstler_innen etwa eine auf visuellen Spielen und Interaktionen auf bauende Fernsehshow, die sie mit Hilfe des polnischen Fernsehens produzieren wollten. Ein ähnli-
8 Kwiek: Notatnik Robotnika Sztuki, a.a.O., S. 1. 9 Ebd. Przemysław Kwiek und Zofia Kulik waren keine Mitglieder der kommunistischen Partei. Nichtsdestotrotz waren sie jedoch Kandidaten der Partei. Vgl. Kwiek: Notatnik Robotnika Sztuki, a.a.O., S. 1. Kulik gab ihren Kandidaten-Ausweis 1981 zurück.
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ches Ziel verfolgten sie beim Versuch, Interaktionstechniken für die Organisation ihrer »Raum-Zeit-Polit-Spektakel«10 nutzbar zu machen. Einen Tag vor der eigentlichen Aufführung beschlossen die Künstler_innen, die Generalprobe im so genannten Sigma Club abzuhalten. Zu einem Großteil basierten die Interaktionen auf einer Reihe vorbereiteter ›Anweisungen‹ oder ›Befehle‹: »Stecke deinen Kopf in einen mit Wasser gefüllten Behälter«, »Koche Tee«, »Stell den Wecker«, »Hebe das rote Tuch langsam hoch und spucke darauf«, »Trage mit feierlicher Haltung einen Laib Brot«, »Summe die Internationale«, »Lege eine Schallplatte mit Nationalhymnen und der Internationale auf«11. Diese spezifischen Handlungen sollten zu unbestimmter Zeit während der Vorstellung ausgeführt werden. Przemysław beschrieb den Ablauf wie folgt: Milos Kurtis hängt ein Becken auf und schlägt darauf. Ich lese einige Sätze aus einem Artikel über eine Versammlung des Politbüros vor, bei der es um den Anstieg der Lebensmittelpreise geht; er unterbricht mich mit einem lauten Schlag auf das Becken. Ich lese – Unterbrechung, ich lese – Unterbrechung. Die Musiker fangen an zu klimpern. Ich stelle einen elektrischen Ofen auf und hole Zucker aus dem Nebenraum. Einige Löffel, einen Teekessel. Ich packe ein von zu Hause mitgebrachtes Glas aus und gieße ein wenig Yunnan Tee ein. Ich setzte mich zu den Musikern, in der Nähe des Teekessels – ich bin für den Tee verantwortlich. Sie spielen weiter. […] Auf die Seiten eines Notizbuches schreibe ich: »Wenn du den Wecker klingeln hörst, leg dich hin.« Ich stelle den Wecker auf ungefähr acht Minuten. […] Das Verteilen der Zettel unterbricht Milos’ Spiel. Malicki hört auch auf und nimmt sich Tee. Plötzlich schreckt er auf und erinnert sich, dass er die Internationale spielen sollte und beeilt sich, den Plattenspieler anzuschließen. Jeder ist sprachlos angesichts der Internationale, es folgt, in voller Lautstärke, die chinesische Nationalhymne. Nach dieser Hymne hören wir noch einmal die Internationale. Dann ist Schluss. Wir können das Ticken des Weckers hören. Ich sage laut, dass er
10 Dieses Projekt glich dem Versuch einer Auskundschaftung. Es galt herauszufinden, ob ein ›Bündnis‹ mit den politischen Behörden möglich sei, um die Errungenschaften der Neoavantgarde einer größeren sozialen Gruppe zugänglich zu machen. 11 Kwiek: Notatnik Robotnika Sztuki, a.a.O., S. 1.
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in einer Minute klingeln wird. Wir hören das Geräusch der sich drehenden Platte. R-r-ring! Wir legen uns hin.12 Das ›propagandistische Spektakel‹ Proagit 2 fand am nächsten Tag, dem 25. Juni 1972, statt. Wie schon bei der Aufführung von Kommunismus denken war die Öffentlichkeit ausgeschlossen; die Teilnahme erfolgte nur auf Einladung. Der Grundgedanke war, Aktivisten, Verwaltungsbeamte und in geringerer Zahl auch Kunstschaffende einzuladen. Proagit 2 bestand aus zwei Teilen, einem theoretischen und einem praktischen. Im ersten Teil stellte Zygmunt Piotrowski seinen Brief »Anmerkungen zur Rolle der Partei in der Kulturpolitik« vor, Przemysław Kwiek hielt eine Rede, gefolgt von einer Vorlesung Jan S. Wojciechowskis über die Zusammenhänge zwischen den Künsten. Piotrowski erklärte: Von der Ära des Sozialistischen Realismus sind nur schlechte Erinnerungen übrig geblieben. Das Problem ist jedoch zu bedeutsam, um es der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Im Gegenteil: Wir müssen daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen, denn die Zukunft gehört dem Sozialistischen Realismus, da jeder Mensch ein Künstler und jeder Künstler ein Mensch sein wird… Künstlerische Freiheit ist Unsinn. Künstler schaffen für andere Menschen; ihre Mission besteht nicht darin, die Welt schöner zu machen, sondern, sie zu verstehen und zu erschaffen. Auf diese Weise machen sie die Welt schöner und das Leben des Menschen würdevoller. Und genau das ist Sozialistischer Realismus.13
12 Ebd., S. 3-4. 13 Piotrowski: Zmiana Patradygmatu, a.a.O., o.S. Piotrowski benutzte den Begriff Sozialistischer Realismus, von den Behörden fraglos verstanden und ihren Vorstellungen von Kunst entsprechend, auch wie ein Trojanisches Pferd, um moderne und kritische künstlerische Vorschläge einzuschmuggeln. KwieKulik dagegen bevorzugten entschieden den Begriff ›Soz-Art‹ oder ›neue rote Kunst‹. Die Verwendung dieses neuen Begriffs erleichterte das Verständnis für die Spezifität und Originalität der oben beschriebenen Aktionen. KwieKulik und die anderen Künstler_innen wollten eine zeitgenössische Formel für die Soz-Art entwickeln, die auf die Sprache der Neoavantgarde Bezug nahm. Einerseits waren sie sich des kläglichen Scheiterns und des Verrufs dieser Bewegung bewusst, die zum Synonym für Kitsch und Opportunismus geworden war. Andererseits verbanden sie diese Idee mit einer (sehr attraktiven) Utopie der engsten Beziehung von Kunst und soziopolitischer Praxis.
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Nach der Verlesung von Piotrowskis Brief folgte Przemysław Kwieks Vorstellung seiner eigenen ›Thesen‹ mit der Ankündigung, sie im zweiten, dem ›praktischen‹ Teil der Aufführung, zu beweisen – eine Reaktion auf die mangelnde Lebensmittelversorgung (dem Mangel an Fleisch) im sozialistischen Polen, die damals die Schlagzeilen der nationalen Presse beherrschte.14 Das Spektakel begann mit musikalischen Improvisationen seitens der Gruppenmitglieder. Przemysław Kwiek über den Beginn der Aufführung: Ich kniete, mit dem Rücken zum Publikum, und drehte an den tragbaren Scheinwerfern… ich packte das Fleisch. Nach einer Minute drehte ich mich schnell um, stand auf, das Fleisch auf einer Höhe mit den Glühbirnen, beide dicht an meinem Gesicht. Mit großen Schritten durchquerte ich das Publikum und erreichte die letzte Reihe. Ich lief zurück zu meinem Ausgangspunkt. Ich warf das Fleisch auf ein Brett. Ich schaltete das Licht aus und zündete ein am Fleisch klebendes Stück Papier an. Es brannte ungefähr vier Minuten.15 Während das Fleisch brannte, wurden auf zwei Leinwände in der Mitte der ›Bühne‹ Bilder projiziert. Auf der rechten Seite lief Rottöne (Odmiany czerwieni), auf der linken Der Weg Edward Giereks (Droga Edwarda Giereka). Die Gegenüberstellung zweier scheinbar völlig verschiedener Realitäten provozierte einen Vergleich zwischen der neuen Kunst und der neuen politischen Führung, die von den Künstler_innen mit Begriffen wie Kreativität, Dynamik, Vitalität usw. bedacht wurde. Das Nebeneinander der beiden Projektionen glich einem an die Parteiführung gerichteten Appell, den gleichen Werten Nachdruck zu verleihen, denen die Künstler_innen in ihren Experimenten so viel Bedeutung beigemessen hatten.
14 Nach diesem theoretischen Teil begann der eigentliche künstlerische, der auf Aktionen und »intuitiven Interaktionen« einer Gruppe von Künstlern aus verschiedenen Disziplinen basierte. Zofia Kulik nahm nicht persönlich an der Aufführung teil, da sie zu dieser Zeit ein Stipendium für Mailand hatte. Unter den Teilnehmenden an dieser »künstlerischen Aktivität« waren neben Przemysław Kwiek auch Krzysztof Zarębski und Mitglieder der Gruppe Milo Curtis (Jacek Malicki, Andrzej Kasprzyk). Die von Anastazy B. Wiśniewski und Leszek Przyjemski stammende Idee, die Internationale zu benutzen, wurde auch einbezogen. 15 Kwiek: Notatnik Robotnika Sztuki, a.a.O., S. 1.
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Nach den Vorführungen wurde die Handlung wieder aufgenommen. Kwiek machte sich daran, die Leinwände zu zerstören, auf die gerade noch die Bilder projiziert worden waren. Dazu Kwiek: Ich drehte die Projektorlampen in Richtung Publikum. Die Musiker hörten auf zu spielen. […] Ganz langsam, feierlich, aber auch unter Anspannung, ließen wir von oben ein rotes Bündel herab, das durch etwas beschwert war. Gleichzeitig bewegten wir uns vorwärts, bis wir die erste Reihe erreichten, wo wir das Bündel zu den Füßen der Zuschauenden legten. […] Der Rest des roten Stoffes wurde zu einem Weg ausgelegt, drei Meter lang und einen Meter breit, im rechten Winkel zu den Zuschauerreihen. […] Zarębski legte sich sofort auf den Boden und ich ging zu den Musikern, […] forderte sie auf, sich ebenfalls hinzulegen und aufzustehen, wenn der Wecker klingelte. Ich stellte den Wecker so, dass er zwei, höchstens drei Minuten später klingeln würde und legte mich auch hin. […] Der Wecker klingelte erst fünfzehn Minuten später! Obwohl wir uns fragten, ob etwas schiefgelaufen sei, war keiner der auf dem Boden Liegenden aufgestanden, bevor der Wecker geklingelt hatte, und keiner aus dem Publikum hatte den Raum verlassen. Nach dem langersehnten Alarmsignal erhoben wir uns langsam. Ich ging zum Plattenspieler und legte eine laute, triumphale Internationale auf – ich konnte das nun ehrfurchtsvoll erhobene, von der Melodie sichtlich bewegte Publikum sehen. […] Zarębski und ich packten den roten Stoff aus – Brot war zu sehen. Die Menschen um uns herum setzten sich hin; ich jagte umher. […] Neben das Brot ließ ich eine zwei Tage alte Ausgabe des Express fallen, mit einem Artikel über Lebensmittel. […] Ende.16 Die künstlerische Sprache ordnete sich in den diskutierten Beispielen nicht der Ideologie unter; vielmehr wurde die Ideologie der künstlerischen Sprache untergeordnet. Dies war möglich, weil die in Proagit 2 praktizierten Handlungen nur Ideen und Modelle eines nichtautoritären sozialen Systems propagieren konnten, das aus freien, verantwortlichen Personen bestand, die erfolgreiche, offene kommunikative Beziehungen auf der Grundlage von Gedanken- und Medienfreiheit sowie Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und Lebensstilen unterhielten. Diese Interaktionen waren schon von ihrer Struktur her nicht in der Lage, die zu dieser Zeit herrschende 16 Ebd.
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›einzig wahre‹ Ideologie zu propagieren. Der Versuch, mittels improvisierter Multimedia-Interaktionen ›propagandistische Spektakel‹ zu erschaffen, erwies sich als Rebellion gegen die im sozialistischen Polen vorherrschenden Propagandamodelle. Das ›Angebot‹ der Künstler_innen bezüglich eines Wechsels dieser Methoden brachte die strukturelle Unfähigkeit des autoritären Systems zum Ausdruck, seine Modelle der sozialen Kommunikation neu zu organisieren.
3 Anastazy B. Wiśniewski und die Galerie »Tak« (Ja-Galerie) Während Piotrowski, KwieKulik und Paweł Kwiek als utopische Idealist_innen an die Reformierbarkeit des sozialistischen Systems glaubten, in dem sie lebten und wirkten, nahm Wiśniewski die Position eines subversiven Systemkritikers ein. Als Funktionär (Parteimitglied und Direktor des Kulturhauses in Elbląg) und Künstler versuchte er, mit einem absurden, neodadaistischen Sinn für Humor seine künstlerische und seine politisch-bürokratische Tätigkeit auf unbefangene Weise in Einklang zu bringen. In seinen künstlerischen Projekten ging es Wiśniewski vor allem um die Nachahmung und Entlarvung der Absurdität der bürokratischen Prozeduren, mit denen er es tagtäglich zu tun hatte. Die Tätigkeit seiner »nicht-existierenden, ja-sagenden« Ja-Galerie (die er zusammen mit Leszek Przyjemski und Roksana Sokołowska leitete) manifestierte sich hauptsächlich in einer Bürokratie vermittelnden Vielfalt an Stempeln, Vordrucken, Aktennotizen, Berichten und Rundschreiben.17 So »erhielten einige Monate, nachdem Werftarbeiter zustimmend auf Giereks Frage ›Wollt ihr helfen?‹ reagiert hatten, mehrere hundert Leute folgende Einladung: ›Die Ja-Galerie sagt ja zu allen künstlerischen Aktivitäten. Die Ja-Galerie bittet höf lich um Mitteilung jeglicher künstlerischen Aktivität, damit sie befürwortet werden kann.‹«18 In einer Publikation mit dem subversiven und selbstdenunzierenden Titel Bekenntnisse eines Dissidenten (Zeznania kontestatora, 1971) veröffentlichte Wiśniewski eine Anzahl offiziell klingender Dokumente:
17 Wiśniewski glit als erster polnischer Künstler, der Mail Art praktizierte. 18 Zbigniew Libera: »Mistrzowie i Poztywy«, PDDiU Archiv, Lodz 2004, o. S.
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Die Ja-Galerie, Archiv. Aufgezeichnet an diesem und jenem Tag, Ereignisse betreffend, die im Herbst stattfanden. Ich berichte Folgendes: L. Przyjemski hatte Probleme auf der Arbeit und so gab man ihm nichts mehr zu tun. Doch er half weiterhin aus und erwies sich als kompetent. In Warschau fand ein Treffen von interessanten Leuten statt; sie sprachen über längst geklärte Angelegenheiten; ein Vorgefühl des Winters lag in der Luft. […] Die Ja-Galerie, Archiv, No. 60023/01; Genehmigung: Ich autorisiere hiermit Herrn Gerard Kwiatkowski, Ausweisnummer, Adresse […] mich mit dem Ziel zu vernehmen, etwas herauszufinden, Stempel, Unterschrift. […] Vermerk […] betrifft den Umstand, dass während einer Diskussion über die Mona Lisa die Kritiker 1, 2 und 3 erkannt wurden sowie ein Mädchen. […] Ich berichte Folgendes: Kritiker 1 ist Andrzej Kostołowski aus Poznań, Kritiker 2 ist Jerzy Ludwiński aus Wrocław, während Kritiker 3 Antoni Dzieduszycki ist.19 Abgesehen vom ironischen Umgang mit der polnischen Kunstwelt20 können die Dokumente von Anastazy B. Wiśniewski und der Ja-Galerie, die die Sprache des Geheimdienstes nachahmten und Bilder von Abhöraktionen, Anschuldigungen und Verhören herauf beschworen, als eine Referenz auf den riesigen Polizei- und Überwachungsapparat im sozialistischen Polen betrachtet werden. Andere öffentliche Präsentationen von Wiśniewski liefen ähnlich ab. Während einer Podiumsdiskussion schwieg er fünfzehn Minuten lang, was seiner Redezeit entsprach. Als jemand einwarf, dass er überhaupt nichts sage, erwiderte er: Wie er niemanden bei seiner Rede unterbreche, bitte er, auch ihm diesen Gefallen zu erweisen. Bei einer anderen Gelegenheit, »saß er nach der Ankündigung seines [Wiśniewskis, Ł. R.] Vortrags bei einem Workshop in Zgorzelec im Sommer 1971 auf dem Rednerplatz und weinte eine Stunde lang, ohne ein einziges Wort herauszubringen«21. 19 Alle Anmerkungen stammen aus Anastazy B. Wiśniewski: Zeznania Kontestora (Bekenntnisse eines Dissidenten), Elbląg 1971, o. S. 20 Vgl. Magdalena Hniedziewicz: »Boję się Anastazego«, in: Anastazy B. Wiśniewski: na tle epoki, Elbląg 1974. 21 Ebd. Die Arbeiten von Anastazy B. Wiśniewski wurden oft als »Zerrspiegel der polnischen Kunst« beschrieben. Zum Beispiel schreibt Magdalena Hniedziewicz: »Anastazy reagiert stets auf jedes in Umlauf gebrachte künstlerische Großereignis im Geiste der Avantgarde. Er diskutiert nicht mit anderen, erläutert nicht seine Gründe und Argumente, urteilt nicht, gibt nicht an und rügt nicht. Seine Formel ändert sich praktisch nie: ein Ereignis zu
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Eine ähnlich trotzige Haltung zeichnete Wiśniewskis Aktionen aus. So tauchte er bei verschiedenen Ausstellungseröffnungen in einem T-Shirt mit der Frage ›Wer bin ich?‹ auf. Gleichzeitig bemühte er sich, wie eine verwirrte Person zu wirken, die öffentliche Versammlungen in der Kunstwelt auffallend seltsam und exotisch finden musste. Er war sich bewusst, wie subversiv seine Strategie im Verhältnis zu anderen künstlerischen Phänomenen war und antwortete folglich auf eine Aktion von Gostomski mit dem Titel Alles beginnt in Wrocław (Zaczyna się we Wrocławiu) mit der Ankündigung seiner eigenen Aktion Alles endet in Wrocław (Kończy się we Wrocławiu); als er von Gostomskis Ausstellung Ulysses von Joyce (Ulisses wg Joyce’a) erfuhr, lud er einige Leute zeitgleich zu ebenjenem Ort zu Durch Wüste und Wildnis (W pustyni i w puszczy wg Sienkiewicza) von Henryk Sienkiewicz ein. Als Wiśniewski erfuhr, dass die Second Group im Zusammenhang mit dem Golden-Grape-Wettbewerb in Zielona Góra als Aktion plante, mehrere Tage lang nicht zu schlafen, beschloss er, mindestens ein Jahr lang friedlich zu schlafen und verbreitete folgende Ankündigung: »Die Ja-Galerie teilt mit, dass sich nichts geändert hat: Das Einschlafen geht weiter.« Die Ja-Galerie war eine Verhöhnung des offiziellen und zwanghaften Optimismus der Gierek-Ära und hob den Akt des Ja-Sagens und eine unref lektierte Befürwortung von allem und jedem hervor. Die Aushändigung von Bescheinigungen für alles Mögliche parodierte nicht nur die bürokratischen Abläufe in der Kulturpolitik des kommunistischen Polens, sondern nahm auch die neoavantgardistische Manie aufs Korn, alles zu dokumentieren – sprich: jede einzelne künstlerische Geste.
4 Der Flirt mit der gescheiterten Revolution Während die kommunistischen Behörden die Aktionen der Soz-Art-Künstler_innen ignorierten, wurden die Künstler_innen selbst mit einer Reihe von Repressalien bedacht. Przemysław Kwiek und Zofia Kulik etwa mussten 1975 ihre Pässe abgeben. Die Geschichte ihres ›Flirts mit der Revolution‹ lässt sich parodieren, etwas ziemlich Ähnliches, zum gleichen Kanon Gehörendes zu präsentieren, aber in leicht abgeänderter Form, ein wenig weiter gehend, etwas radikaler werdend, das Ereignis, von dem er ausgegangen war, immer verzerrend.« Ebd.
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mit der konstruktivistischen Avantgarde im sozialistischen Russland der 1920er und 1930er Jahre vergleichen. Denn KwiekKulik sahen sich einer doppelten Repression ausgesetzt: Sie wurden seitens der politischen Behörden sowohl von jener Sphäre ausgeschlossen, in der Kunst und Politik aufeinandertrafen als auch von den bestehenden Kunstinstitutionen, die avantgardistischer Kunst mit Argwohn begegneten.22 All diese Künstler_innen waren gewissermaßen dazu verurteilt, eine subversive Stellung einzunehmen: Ihre Kritik am System artikulierten sie von einer Position aus, die in dieses System involviert und keineswegs außerhalb zu denken war. Auf eine für subversive Kunst typische Weise gründete sich die Position der Soz-Art-Künstler_innen darauf, »nachzuahmen, sich mit dem Gegenstand der Kritik geradezu zu identifizieren, um dann eine leichte Akzentverschiebung vorzunehmen […]. Hierbei handelt es sich um keine direkte, geradeheraus geäußerte Kritik, sondern um eine voller Doppeldeutigkeiten. Das ist auch der Grund, weshalb die Soz-Art-Künstler_innen den ›realen‹ Sozialismus in Polen als ineffektiv kritisierten und sich dabei auf Marx oder Lenin (Piotrowski) beriefen oder gar zu den fundamentalen sozialistischen Ideen (KwieKulik) zurückkehrten. Im kommunistischen Polen existierte nichts außerhalb der Ideologie, so wie heute nichts unabhängig der Gesetze des Marktes existiert. Deshalb erinnern die von Soz-Art-Künstler_innen wie Anastazy B. Wiśniewski angewandten Strategien auch so sehr an zeitgenössische Anti-corporate-Künstler wie Yes Man und RTMark. Was die Arbeiten von Piotrowski, Paweł Kwiek und KwieKulik betrifft, ihre Analysen des kollektiven Denkens, der Interaktion, der Kooperation zwischen Individuen – ihre auf künstlerische oder soziale und politische Ziele ausgerichteten Mobilisierungspraktiken, ihr Engagement für gesellschaftliche Fragen, das Recht des Einzelnen (und der Gemeinschaft) auf Selbstrepräsentation und Selbstverwirklichung, die Sorge um das Gemeinwohl und den gemeinsamen öffentlichen Raum: All diese Tropen tragen zu ihrer Abgrenzung von der hochaktuellen kritischen Gegenwartskunst in Gestalt von Superf lex, 22 Andrzej Kostołowski schreibt in seiner Analyse polnischer Konzeptkunst im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Politik, dass es in der Tat einige absurde Versuche in Richtung eines »sozialistischen Konzeptualismus gab, die jedoch kaum auf Interesse stießen«. Andrzej Kostolowski: »Polish Conceptual Inventions«, in: Paweł Polit; Piotr Woźniakiewicz (Hg.): Experience of Discourse: 1965-1975. Conceptual Reflection in Polish Art, Warschau 2000, S. 202. Infolgedessen beschrieb KwieKulik ihre eigene Position als ›Off Off‹.
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Marysia Lewandowska und Neil Cummings, Thomas Hirschhorn, Jeremy Deller u.a. bei. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass die Soz-Art-Künstler_innen sehr genau zwischen den von ihnen propagierten Werten und dem Staat mit seinem politischen System zu unterscheiden wussten. Im Polen der 1970er Jahre galt jeglicher Aktivismus, galt jegliches gesellschaftliche Engagement als ein Akt der Kritik. Eine ähnlich kritische Haltung liegt den gegenwärtigen Affirmationen dieser Werte zugrunde, gerade in Form ihrer Aneignung durch verschiedene kommerzielle Marketingstrategien. Aus dem Englischen von Astrid Hackel
Black or White? Angela Davis, Bobby Seale und Black Power in den Akten der Staatssicherheit in den 1970er Jahren1 Kata Krasznahorkai Sz2: Wir sind die Neger [sic!]3 der Gesellschaft. Balaskó: Das ist auch die Immoralität der Gesellschaft, dass diese uns verstoßen hat, und doch beschäftigen sie sich mit uns, und das heißt, es macht doch Sinn, was wir machen. Sz: Jede Gesellschaft ist immoralisch, die irgendjemanden aus ihren Reihen verstoßen kann, wir setzen uns auch deswegen nicht auf das Pferd der Produktion, weil diese Arbeit sowieso nicht anerkannt wird, bei uns zählt nur das Diplom, nicht das Können.
1 Dieser Artikel ist die überarbeitete und erweiterte Version von Vorträgen, die ich im Workshop des Forschungsnetzwerks Szenografien des Subjekts, 10.-11.04.2014 im Collegium Hungaricum Berlin, und am Schweizer Nachwuchsforum Bildforschung östliches Europa, 03.06.2016 an der Universität Basel, gehalten habe. Meine Forschungsergebnisse sind im Rahmen des Projektes Performance Art in Eastern Europe 1950-1990: History and Theory entstanden und wurden vom European Research Council (ERC) gefördert. 2 Der Name ist auf dem Originaldokument zwar anonymisiert, es kann aber nur von Tamás Szentjóby die Rede sein. 3 Die Verwendung des N-Wortes in den historischen Zitaten ist bewusst beibehalten worden, um entgegen einer nachträglichen Verharmlosung des in den 1970er Jahren immer noch weltweit verbreiteten rassistischen Begriffs die damit einhergehende kulturelle, politische und ethische Hierarchisierung und Diskriminierung deutlich zu machen. Aber mit Blick auf die politische Problematik, die die Wiederholung des diskriminierenden N-Wortes mit sich bringt, welches dadurch im Text mit einer dominierenden Präsenz exponiert wäre, sehen wir im Folgenden von der Ausschreibung des Begriffs ab und favorisieren die Abkürzung ›N[]‹ – die Autorin und der Herausgeber.
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Balaskó: … ja, auch da draußen machen die N[] deswegen nichts, beziehungsweise sind Musiker oder Politiker, Schriftsteller, Performer. Deswegen sind wir die N[] dieser Gesellschaft. Eigentlich hassen sie uns, aber sie brauchen uns, weil […] sie so den Massen beweisen können, dass es besser ist, was der durchschnittliche ›graue‹ Bürger macht. Deswegen brauchen sie uns, um ihr eigenes Recht zu beweisen.4 Dieser Dialog zwischen dem Künstler Tamás Szentjóby und dem Dichter Jenő Balaskó fand am 6. Januar 1972 in einer Kneipe in Budapest statt. Ein Informant der Staatssicherheit, der zum vertrauten Kreis dieser Künstlergesellschaft gehörte, hat das Gespräch in einem Bericht an seinen Führungsoffizier wiedergegeben, mit der Absicht, auf die von diesen Künstlern ausgehende Gefahr aufmerksam zu machen. Im Folgenden geht es darum aufzuzeigen, wie die schwarze Bürgerrechtsbewegung während des Kalten Krieges innerhalb des Ostblocks5 von den zwei äußersten Polen der Gesellschaft zeitgleich instrumentalisiert und vereinnahmt wurde; sowohl von radikalen Underground-Künstler_innen der ungarischen Happeningszene6, die sich am Rande der Illegalität als »N[] der Gesellschaft« sahen, als auch von Staatsoberhäuptern kommunistischer Länder, wie zum Beispiel Erich Honecker, der sich medienwirksam als Freiheitskämpfer gegen die kapitalistische, imperialistische Unterdrückung der schwarzen Minderheit einsetzte. Honecker wie Szentjóby bezogen sich auf Angela Davis, um die schwarzen Bürgerrechtler_innen aus unterschiedlichen Perspektiven als Projektionsf lächen zu vereinnahmen. Nicht zuletzt versuchten sie auf diese Weise, in einem internationalen Kontext wahrge-
4 Bericht von »Huszti«, M-39271/1, 11. Januar 1972, S. 93, Állambiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára (ÁBTL), Budapest [Historisches Archiv der Staatssicherheitlichen Dienste, Budapest], Übersetzungen aus dem Ungarischen stammen im Folgenden – wenn nicht anderes angegeben – von der Autorin. 5 Zu der Figur Angela Davis im Kontext der sozialistischen Kunst Ungarns siehe auch: Kristóf Nagy: »Angela Davis Goes East? White Skin and Black Masks in the Art of Socialist Hungary«, in: World Literature Studies 8:4 (2016), S. 77-94, online: www.wls.sav.sk/wp-content/ uploads/07-Nagy-compressed.pdf (letzter Zugriff: 12.12.2017). 6 »Happening« war aus der Sicht der Staatssicherheit ein Oberbegriff für jedwede Form von subversiven performativen Setzungen und umfasste Aktionen, Performances, Konzerte und Lesungen. Mit »Happeningszene« waren die Undergorund-Künstler_innen selbst gemeint.
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nommen zu werden bzw. der klaustrophobischen Isolation – sowohl eines Staates als auch eines Subjekts – entgegenzuwirken. Dieses Verhältnis zwischen der Kritik der Künstler_innen am repressiven Staat und der Kritik des Staates an den rebellierenden Neoavantgardist_innen spiegelt sich in seiner Absurdität und Tragik nirgendwo besser wider als in den Geheimpolizeiberichten über die Happeningszene. Deshalb geht es im Folgenden darum, anhand dieser historischen Dokumente aufzuzeigen, wie die Staatssicherheit sich mit den Künstler_innen auseinandersetzte, die sich auf staatlich unterstützte politische Figuren wie Angela Davis bezogen. Das Ziel dieser Untersuchung besteht u.a. darin, den subversiven und performativen Techniken der politisch-ideologischen Kritik im Untergrund auf die Spur zu kommen. Das kritische Potenzial war durch die Aneignung von Figuren schwarzer Bürgerrechtler_innen ohnehin zweischneidig, es wurde jedoch durch die künstlerische Form, die sich in Happenings manifestierte, noch zusätzlich verstärkt: Denn dieses Genre stand bereits seit dem ersten Happening in Ungarn (1966) im Visier der Staatssicherheit und wurde hier als eine aus den USA stammende Gattung rezipiert, die nicht innerhalb der gängigen Kunstgenres – wie der Malerei oder der Bildhauerei – kategorisiert werden konnte. Darüber hinaus brachten Happenings durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum ein großes Risiko des Unberechenbaren mit sich. Führende afroamerikanische politische Persönlichkeiten als Identifikationsf lächen für eine weiße Jugend im Osten Europas ideologisch zu instrumentalisieren, spielte jedoch mit einer Reihe von unkalkulierbaren Momenten und Unverhältnismäßigkeiten: »Color, for anyone who uses it, or is used by it, is a most complex, calculated and dangerous phenomenon«7 – wie James Baldwin 1962 schrieb. Schwarzsein war in der Ära der Bürgerrechtsbewegung in den USA eine Quelle des Widerstands, die die ständige Konfrontation mit dem Staat repräsentierte.8 Schwarzsein war jedoch auch eine Projektionsf läche der Gewalt, die bis zum Äußersten reichte und – so brutal es auch klingen mag – Christina Sharpe zufolge den Tod von schwarzen Bürger_innen als vorhersehbaren Aspekt bzw. als Teil der sogenannten
7 James Baldwin: »Color«, in: ders.: The Price of the Ticket: Collected Nonfiction, 1948-1985, New York 1985, S. 319-320; hier: S. 322. 8 Vgl. Dan Berger: Captive Nation: Black Prison Organizing in the Civil Rights Era, North Carolina 2014, S. 182.
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amerikanischen Demokratie verursachte.9 Wenn das ›Schwarzsein‹ von nicht-schwarzen Künstler_innen angeeignet wird, soll die Erfahrung der Gewalt, die sich auf die schwarze Hautfarbe bezieht, als eine Projektionsf läche jener gewaltsam Unterdrückten hervortreten, die diese Erfahrung teilen.10 Die Aneignung einer schwarzen Identität für die Betonung der sozialen Inakzeptanz weißer Künstler geht auf eine lange Tradition historischer Konstruktionen zurück. Wie Anita Gonzales schreibt, wurden in Nord-Amerika Mitte des 19. Jahrhunderts arme irische Einwanderer als »white Neg roes« bezeichnet, als »niggers [sic] turned inside out« und schwarze Bürger als »smoked Irish[s]«11 etikettiert. Gonzales zitiert Noel Ignatiev, der die Strategie der Iren nachzeichnet, sich mittels der Hautfarbe von der Randposition der Gesellschaft, die sie zusammen mit der schwarzen Bevölkerung einnahmen, zu distanzieren. Dabei wird Performance, insbesondere die performative Maskerade im Tanz, in Varietés und Musik-Wettbewerben, von Gonzales als ein strategischer Weg beschrieben, die öffentliche Demonstration der Unterschiede zweier Randgruppen zu verdeutlichen.12 Sie führt zwei Beispiele mit sehr unterschiedlichem geografischen Hintergrund an – Liverpool und Oaxaca –, wo nichtschwarze Performer_innen afrikanische Identitäten als »cultural collateral for social acceptance« nutzten, »that approximates whiteness«13. Performance war ein Instrument zum Austausch von Informationen unter den Gesetzlosen. In diesem Kontext des Informationsf lusses zwischen den Ausgegrenzten in den USA und in Ungarn können auch die Solidaritäts-Aktionen von Szentjóby verortet werden. Denn performative Reenactments von Protestaktionen sind – nach Rebecca Schneider – zwangsläufig Reenactments im Hier und Jetzt, in denen sich die historischen Schichten überlagern.14 Und es waren genau diese Überlagerungen
9 Vgl. Christina Sharpe: In the Wake. On Blackness and Being, Durham 2017, S. 7-9. 10 Zur Appropriation von Schwarzsein in Performance vgl. Patrick E. Johnson: Appropriating Blackness. Performance and the Politics of Authenticity, Durham; London 2003, S. 8-15. 11 Thomas DeFrantz; Anita Gonzales: Black Performance Theory, Durham; London 2014, S. 21. 12 Vgl. ebd. S. 22. 13 Ebd. S. 20. 14 Vgl. Rebecca Schneider: »In Our Hands: An Ethics of Gestural Response-Ability«, in: Performance Philosophy Journal 3:1 (2017), online: www.performancephilosophy.org/journal/ article/view/161/172 (letzter Zugriff: 02.08.2017).
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und Bezugnahmen, die die Informanten der ungarischen Staatssicherheit dringend interessierten. Die Identifikation mit einer verfolgten und unterdrückten Minderheit im eigenen Land und die ›Ausgrenzung‹ aus der Gesellschaft, über die Balaskó und Szentjóby sprechen, ist selbstverständlich im Fall weißer Männer in einer weitgehend homogenen Gesellschaft nicht vergleichbar mit der Ausgrenzung von afroamerikanischen Bürger_innen, die aus rassistischen Motiven Diskriminierung erfuhren. Auch die Ausmaße der staatlichen Reaktion sind nicht vergleichbar, denn die systematische, ja rassistische Gewaltanwendung gegenüber afroamerikanischen Bürger_innen steht in keinem Verhältnis zur staatlichen Überwachung oder zu jenen Verhören, in denen physische Gewalt gegen die Vertreter_innen der Happeningszene letztlich nie eingesetzt wurde und während derer die Apparate der Staatssicherheit damit beschäftigt waren, eine legale Grundlage für Repressionen zu finden – was ihnen aber nicht gelang. Im oben zitierten Bericht sprechen Balaskó und Szentjóby angeblich sogar selbst ironisch darüber, dass die ›Beschäftigung‹ des Staates mit ihnen ein Zeichen der Wertschätzung sei und die Bedeutung ihrer Aktivitäten verstärke. Dass sie sich in der sozialistischen Gesellschaft der Dominanz von ›Arbeit‹ und der ›Produktion‹ widersetzten, weil sie ihre Form der Arbeit nicht anerkannt sahen, ist eine spezielle Situation, aber keine gesamtgesellschaftliche Benachteiligung anhand rassistischer Kriterien. Dass der Staat diese Künstler für die Kommunikation seiner ideologischen Linie im Umkehrschluss brauchte, war zugleich eine paradoxe Legitimierung der künstlerischen Verfahrensweisen und Produktionsprozesse, die sich eben gegen diesen Staat richteten. Warum es sich dennoch lohnt, dieser Doppelidentifikation mit schwarzen Bürgerrechtler_innen in den Akten der Staatssicherheit nachzugehen, zeigt der Umstand, dass die Solidarität sowohl der Künstler_innen als auch der Staatsoberhäupter mit diesen Figuren öffentlichen Lebens in den USA ein neues Licht auf die Bipolarität der Ideologien im Kalten Krieg werfen kann.15 Hierbei machen sich alle drei beteiligten Seiten performative Strategien zu eigen: Sowohl in den Masseninszenierungen der DDR als auch in den Budapester Aktionen in halblegalen Klubs und letztlich auch in den per15 Dazu, wie die Ikonen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den sozialistischen Staaten Osteuropas rezipiert bzw. in der ungarischen Kunst aufgegriffen wurden, vgl. Nagy: »Angela Davis Goes East?«, a.a.O.
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formativen Techniken der Überwachung seitens der Staatssicherheit sind performative Strategien der Kritik (gegen den Staat oder gegen das »imperialistische« Amerika) zu erkennen. Die Solidaritätswelle für Angela Davis nach ihrer Verhaftung erfasste sowohl den Westen (in diversen Manifestationen von der New Left bis zur Black-Panther-Bewegung) als auch, nach einem Vorstoß aus Moskau, die osteuropäischen Länder. In der DDR, wo die staatlich verordnete Solidaritätskampagne über zwei Jahre anhielt und bewusst auf die Jugend setzte, wurde Davis »zum festen Bestandteil der politisch-ideologischen Ikonographie des SED-Regimes«16 und zur Heldin des Widerstands gegen den amerikanischen Imperialismus. Ihre Freilassung 1972 wurde als Erfolg der Massen-Solidaritätskampagne von den Verantwortlichen der Ostblock-Staaten gefeiert. Davis unterstützte diese Wahrnehmung, als sie nach ihrer Freilassung durch die kommunistischen Länder reiste, um sich für die beispiellose Solidaritätswelle, insbesondere aus der DDR, zu bedanken. Die strategisch geplanten staatlichen Aktionen, wie die Versendung von Millionen Postkarten mit vorgefertigten Rosenmotiven an Angela Davis, waren Teil der Massen-Performances, mithilfe derer die DDR und ihr kürzlich gewählter Parteivorsitzender Erich Honecker einen »sozialen Vertrag« mit der Jugend zu schließen versuchten. Die Loyalität der DDR-Bürger_innen gegenüber der Führung manifestierte sich, wie Kristina Kütt feststellt17, in der Partizipation an diesen Massen-Performances. Die körperliche Präsenz und die Teilnahme wurden für die Mobilisierung der Jugend für die Sozialistische Internationale performativ in Anspruch genommen und instrumentalisiert, doch sie gerieten teilweise außer Kontrolle. Denn bei der Ankunft von Angela Davis am Schönefelder Flughafen kamen anstatt der angekündigten zwei- bis dreitausend jungen Menschen fünfzigtausend, um sie zu begrüßen, und die sorgfältig geplante Ankunft wurde zu einem unkalkulierbaren Ereignis, zu einer hysterischen Massenbegrüßungsaktion eines Pop-Stars, was die Stasi 16 Sophie Lorenz: »Heldin des anderen Amerikas. Die DDR-Solidaritätsbewegung für Angela Davis, 1970-1973«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10:1 (2013), S. 38-60, online: www.zeithistorische-forschungen.de/1-2013/id=4590 (letzter Zugriff: 01.07.2016). Vgl. auch Kristina Kütt: »Victory over American Imperialism? The ›Heroine of Socialism‹ Angela Davis in East Berlin«, in: Jan Hansen; Christian Helm; Frank Reichherzer (Hg.): Making Sense of the Americas: How Protest Related to America in the 1980s and Beyond, Frankfurt a.M. 2015, S. 311-333. 17 Vgl. Kütt: »Victory over American Imperialism?«, a.a.O., S. 316.
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wiederum in Bedrängnis brachte.18 Davis wurde mit großer medialer Aufmerksamkeit bedacht und von Honecker und seinem Amtsvorgänger Walter Ulbricht betont herzlich empfangen, mit dem höchsten staatlichem Orden ausgezeichnet und zu den Sozialistischen Welt-Jugendspielen eingeladen.19 Etwa zur gleichen Zeit als sich Erich Honecker mit Angela Davis auf Militärtribünen inszenierte, hat Tamás Szentjóby eine Aktion sowie eine Aktions-Lesung mit dem gleichen Slogan veranstaltet, den auch Honecker ‒ im übertragenem Sinne ‒ von der Tribüne rief: Freiheit für Angela Davis! Die Gegensätzlichkeit der beiden Personen, die diese Figur als Projektionsf läche nutzten, könnte gravierender nicht sein. Eine staatliche Massenperformance steht hier im Gegensatz zu einer singulären Aktion von drei Künstler_innen in einem kleinen Klub in Budapest – und obwohl die Rezeption der staatlich inszenierten Solidaritätswelle teilweise außer Kontrolle geriet, weil Davis nicht auf die Rolle einer antifaschistischen Heldin des Kommunismus reduziert werden konnte, deuteten die in Budapest in die Wege geleiteten Maßnahmen der Staatssicherheit darauf hin, dass es ausgerechnet die singuläre künstlerische Aktion war, die mit einer verhältnismäßig höheren Gefahr assoziiert wurde. Herbert Marcuse, Angela Davis’ Doktorvater, äußerte sich trotz seiner generellen Unterstützung der Solidaritätskampagne kritisch zu Davis’ Bereitschaft, Staatschefs autoritärer Regime der Ostblock-Staaten zu umarmen20, während in den Gefängnissen zahlreiche politische Gefangene saßen und genauso wenig Chancen auf einen gerechten juristischen Prozess hatten wie ehedem Davis in Kalifornien. Osteuropäische Exilanten schrieben offene Briefe in westlichen Zeitungen, um Davis aufzufordern, ihr Schweigen zu diesem Thema zu brechen.21 In der Bewertung des Führungsoffiziers wurde der eingangs zitierte Dialog als Beweis für »die feindliche Gesinnung [der genannten Künstler] gegen die Gesellschaft«22 gewertet. Der Offizier ging in der Bewertung des 18 Vgl. ebd., S. 314-316. 19 Zum detaillierten Verlauf und zur Rezeption von Davis’ Berlin-Besuch vgl. ebd., S. 317-320. 20 Vgl. Herbert Marcuse: Die Studentenbewegung und ihre Folgen: Nachgelassene Schriften, Bd. 4, Lüneburg 2004. 21 Vgl. Jiri Pelikan: »Warum schweigen Sie, Angela Davis?«, in: Die Zeit, 04.08.1972, online: www.zeit.de/1972/31/warum-schweigen-sie-angela-davis/komplettansicht (letzter Zugriff: 07.07.2016). 22 Bericht von »Huszti«, ÁBTL, M-39271/1, a.a.O., S. 116.
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Informantenberichtes auf den »N[]«-Vergleich ein und griff das Argument der Künstler auf, denen zufolge sie angeblich wegen ihrer marginalen Position in der Gesellschaft »nichts machen«23. Der Offizier schrieb, dass die Künstler laut Selbstaussage nicht in den Westen gingen, weil es »dort von solchen Leuten – die sich mit Happenings beschäftigen – Tausende gibt, hier zu Hause jedoch bislang nur zwei bis drei, so dass sie ständig im ›Rampenlicht‹ stehen können«24. Der Offizier hielt in seiner Bewertung auch den ideologischen Hintergrund des Gesprächs im Bezug auf die »Immoralität jedweder Gesellschaft«25 fest: Die Aussage soll laut der Bewertung auf einen (namentlich nicht genannten) US-amerikanischen Philosophen zurückzuführen sein. In seinem Bericht stellt der Informant fest, dass es in dem Gespräch auch um die Szentjóby-Balaskó-Abende (diese Lesungen wurden im Kontext der ›Happenings‹ gesehen) ging: Der Dichter Jenő Balaskó bot dem Informanten, der als Redakteur bei einem Radiosender arbeitete, an, mit ihnen eine Radiosendung über die Happening-Kunst zu machen. Balaskó wies darauf hin, dass sie in Ungarn eigentlich die einzigen Akteure dieses Genres seien und in der Sendung gerne beschreiben würden, was ein Happening ist, wie es genutzt werden und wer sich dafür interessieren könnte. Ziel der Sendung wäre es, das Happening einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Der Führungsoffizier gab darauf hin dem Informanten die Anweisung, die Radiosendung tatsächlich aufzuzeichnen – allerdings nicht für eine öffentliche Ausstrahlung, sondern zur internen Verwendung der Staatssicherheit. Dies zeigt, dass die Staatssicherheit intensiv daran gearbeitet hat, ihr Wissen über das Happening zu erweitern26, um die ›gefährlichen Subjekte‹ und 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Im ÁBTL konnte diese Tonaufnahme bis dato nicht gefunden werden. Zu den Happenings, die durch die Staatssicherheit unterstützt wurden, vgl. Kata Krasznahorkai: »Heightened Alert: The Underground Art Scene in the Sights of the Secret Police – Surveillance Files as a Resource for Research into Artists’ Activities in the Underground of the 1960s and 1970s«, in: Jérôme Bazin; Pascal Dubourg Glatigny; Piotr Piotrowski (Hg.): Art Beyond Borders. Artistic Exchanges in Communist Europe 1945-1989, Budapest; New York 2015, S. 125139. Vgl. auch Kata Krasznahorkai: »Geheimdienst und Underground. Wie Spitzel unser Wissen über Kunst vermehren«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.2012, »Bilder und Zeiten«, S. 3.
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ihre Aktivitäten besser identifizieren zu können. Denn sobald die Offiziere der Geheimdienste wüssten, was ein Happening ist, könnten sie, so wurde angenommen, die daran beteiligten Künstler durch ›Zersetzung‹, ›Überwachung‹ oder ›Liquidierung‹, d.h. mit Instrumenten der Staatssicherheit, die gegen die Kritiker des Staates eingesetzt wurden, mundtot machen. Den Versuch, andere mundtot zu machen, hat Tamás Szentjóby in gleich zwei Aktionen thematisiert und sich dabei auf die Prozesse gegen führende schwarze Bürgerrechtler_innen bezogen: 1971 auf den gegen Angela Davis und 1972 auf den gegen Bobby Seale. Die Solidarisierung mit einer verhafteten und von der Todesstrafe bedrohten schwarzen Bürgerrechtlerin, Angela Davis27, manifestierte sich am 29. März 1971 in einer Aktion von Tamás Szentjóby, Jenő Balaskó und Miklós Erdély mit dem Titel Freiheit für Angela Davis28 im Eötvös Klub in Budapest, im Rahmen der Programmreihe »Dichterabende von jungen Dichtern«. Die Aktions-Lesung wurde in einer Tageszeitung als »Autorenabend« der Schriftsteller Jenő Balaskó und Tamás Szentjóby angekündigt29, war aber nur mit persönlicher Einladung zu besuchen. Das Interesse der Staatssicherheit galt insbesondere jenen Veranstaltungen, die in derart semiöffentlichen Räumen stattfanden. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung einer Gefahr, die von der Aktionskunst ausging, und das fehlende Wissen über dieses Genre waren an diesen Orten besonderes zu spüren. Die Anwesenheit eines beliebigen Informanten war für das Verständnis dieser Aktionen nicht ausreichend, es mussten in der Szene versierte Informanten ausgewählt werden, die auch über den Kontext und das ›versteckte Wissen‹ berichten konnten. Parallel wurden mehrere Ermittler auf das Reizthema ›Happening‹ angesetzt und die Berichte der jeweiligen Führungsoffiziere gegeneinander abgewogen. So war »Sárdi«, der detailliert über diesen Abend berichtet hatte, laut dem Schriftsteller István Eörsi,
27 Über den Prozess von Angela Davis vgl. Bettina Aptheker: The Morning Breaks: The Trial of Angela Davis, New York 1999. Freiheit für Angela Davis, unter Mitwirkung von Jenő Balaskó, Tamás Szentjóby, Miklós 28 Erdély. Auf dem Plakat des Happenings war auch Sándor Juhász angeführt, der im Programmheft des Eötvös-Klubs »Dichterabend junger Dichter« später von Tamás Szentjóby durchgestrichen wurde und an dem Happening selbst nicht teilnahm. Im Programmheft war für die Einleitung Imre Bata angegeben, dessen Name ebenfalls durchgestrichen und durch Miklós Erdély ersetzt wurde. 29 Anonym: Szerzői est az Eötvös Klubban, in: Esti Hírlap, 29.03.1971, o.S.
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der wiederum von »Sárdi« selbst bespitzelt wurde, »ein guter Beobachter«30, »klug«31 und präzise in der Formulierung. »Sárdi« war auch über die westlichen politischen Ereignisse gut informiert, nachdem er 1969 eine längere Reise nach Frankreich und Spanien unternommen hatte, die er in einem Reisebericht an seinen Haltungsoffizier detailliert dokumentiert hat. In Frankreich hatte er sich, neben der Begegnung einer Gruppe von Exil-Ungarn aus dem Umfeld der Zeitschrift Magyar Műhely (Ungarische Werkstatt), dreimal mit zwei Protagonisten der dortigen Black-Power-Bewegung getroffen. Mit Julia Wright Hervé32 und mit dem Dichter und Fotografen der afrikanischen und afroamerikanischen Jazz-Szene in Paris, Hart Leroy Bibbs33. Er fasste die Diskussionen und Gespräche, die er mit Hervé und Bibbs geführt hatte, wie folgt zusammen: Black Power ist keine Bewegung, sondern eine Ideologie und diese Ideologie hat die SNCC [Student Nonviolent Coordinating Committee] und die ›Schwarze Panther‹ genannte amerikanische N[]-Organisation angenommen. Sie nennen sich nicht N[] sondern »Afroamerikaner« und Ziel ihrer Bewegung ist es, in Amerika lebende Afrikaner zu sein. Und die ganze Bewegung gehört im Grunde zu der Einheitsbewegung in Schwarz-Afrika. Den europäischen Marxismus kann man bei ihnen nicht anwenden, denn die Umstände sind anders, als sie in Europa waren. Sie kämpfen gegen das weiße, rassistische, kapitalistische System und die Betonung ist auf allen drei Attributen, alle drei sind unentbehrlich. Es gibt keine N[]-Bourgeoise, denn in den 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Julia Wright Hervé (1942-) ist eine radikale pan-afrikanische Unterstützerin der amerikanischen und afrikanischen Befreiungskämpfe. Sie ist als Tochter des US-amerikanischen, kommunistischen Schriftstellers Richard Wright in Frankreich bilingual und bikulturell aufgewachsen und heiratete Henri Hervé, den Vorsitzenden des Paris Friends of the Student Non-Violent Coordinating Committee (SNCC). Die Hervés haben aktiv die Black Panthers unterstützt und standen im Zentrum der afroamerikanischen Befreiungsbewegung in Paris, die auch von Jean Paul Sartre unterstützt wurde. 33 Hart Leroy Bibbs (1930-2004) war ein Dichter, Musiker, Maler und Fotograf. Als junger Mann war er als Journalist tätig, doch später führte ihn der New Jazz in die kulturellen Revolten der 1940er und 1950er Jahre. Als Zufluchtsort vor dem US-amerikanischen Rassismus hat er sich ab den 1960er Jahren in Paris niedergelassen und war in der Pariser afroamerikanischen Jazz-Szene aktiv bzw. veröffentlichte Gedichte und Fotografien (Diet Book for Junkies (Camétude) 1969; Paris Jazz Seen 1980, Double Trouble: Poems, 1992.
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Vereinigten Staaten gibt es insgesamt 50 solche N[]-Personen, auf die die Bezeichnung Bourgeoise angewendet werden könnte. Dagegen gibt es eine N[]-›middle income‹-Schicht (eine Schicht mit mittlerem Einkommen), zu der Martin Luther King gehörte und die jetzt von Abernathy vertreten wird. Paul Robeson bezeichnen sie als Renegat. Die weißen Bürgerrechtskämpfer haben sie aus ihrer Organisation verwiesen, denn ihre Präsenz in der schwarzen Organisation führt nur dazu, dass die Rassisten sie umbringen. Die weißen Weggefährten sollen die Ziele der Black Power in unterschiedlichen weißen Organisationen vertreten. Der einzige wesentliche Punkt, in dem wir uns nicht einig werden konnten, war, dass es laut ihrer Meinung unmöglich und unwesentlich sei, die neue gesellschaftliche Ordnung nach dem Fall des Imperialismus zu planen. Das einzige Ziel, auf das man sich konzentrieren sollte, sei die Zerstörung der jetzigen Ordnung, dann werde sich das Gebäude der Zukunft ergeben. Laut ihrer Meinung verschlinge »das System« (Wortwahl von Marcuse) sofort alles, was ›konstruktiv‹ sei, also nur die Destruktion habe eine Daseinsberechtigung. Es ist bezeichnend, dass sogar die ›Black Power‹ bereits vom »System« assimiliert wird: Nixon hat schon die Slogans der ›Black Power‹ aufgegriffen, was er so interpretierte, dass Nixon die Mitglieder der N[]-›middle-income‹ (N[]-Bourgeoise) als N[]-Führungskräfte einsetzen will, natürlich nur, um sie in den Dienst der weißen rassistisch-kapitalistischen Macht zu stellen. Mein Standpunkt war, dass man bereits in der Periode des Kampfes, der das System umstürzen soll, sein Ziel kennen muss, d.h. ein neues gesellschaftliches System, wofür gekämpft wird. Ohne dieses Wissen wird der Kampf nur blind ausgefochten und die Chancen für den Sieg werden auf ein Minimum reduziert; längerfristig kann das mit unberechenbaren Konsequenzen einhergehen. In dem Punkt konnten wir uns nicht einig werden, aber sonst sind wir in größter Freundschaft und Liebe auseinandergegangen.34 Dass sich ein ungarischer Informant, der hauptsächlich auf den literarischen Underground angesetzt war, mit führenden Vertretern der europäischen Black-Power-Bewegung in herzlicher Atmosphäre in Paris trifft und durch die Vermittlung der kubanischen Botschaft Dokumente transferiert,
34 »Sárdi« in einem Bericht über seine Reise in den Westen, gegeben an Major Kiss, 10.02.1969, ÁBTL-M358971, a.a.O., S. 13.
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fügt sich in einen breiter gefassten Plan des sowjetischen KGB ein.35 In seiner ›Desinformations-Abteilung‹ hatte der KGB theoretische, finanzielle und personelle Kapazitäten dafür eingesetzt, bereits bestehende, soziale und gesellschaftliche Konf likte in den USA aufzuhetzen. Ziel des KGB war es, mit der Unterstützung von Kuba und dem internationalen Einsatz von Agenten und Informanten– u.a. auch in den besetzten osteuropäischen Staaten – die innere Sicherheit in den USA zu destabilisieren. 1960 hat der KGB ein neues Element der Koordination eingeführt und einzelne ›Desinformations-Abteilungen‹ in der DDR, der Tschechoslowakei und in Ungarn gegründet, die direkt mit dem KGB in Kontakt standen. 1970 wurde die Propaganda-Abteilung des KGB in ihrem internen Status aufgewertet und ihre Handlungsmacht ausgeweitet, und zwar mit dem Ziel, Operationen durchzuführen, die mit manipulierten Presseberichten, Desinformationen und kontrollierten Medien-Strategien die sowjetischen Propagandaziele unterstützen sollten; die Kampagne für Angela Davis war ein strategisches Element dieses Programms. Der Bericht eines ungarischen Spions – der selbst gute Kontakte zur französischen Black-Power-Bewegung hatte – über eine Aktion mit dem Titel Freiheit für Angela Davis fügt sich in die Strategie der internationalen Propaganda-Kampagne der KGB-Zentrale. Damit wird die Überwachung dieser neuen, als ›westlich‹ beschriebenen performativen Genres verknüpft mit der Kontrolle und Überprüfung der ideologischen Verbindungslinien zwischen subversiven Künstlern und den schwarzen Bürgerrechtler_innen. Der Informant ging in seinem Bericht über den Abend zuerst auf die Ankündigung in der Zeitung ein und bemerkte empört, dass dort Jenő Balaskó und Tamás Szentjóby als »Schriftsteller« bezeichnet werden, um gleich hinzuzufügen, dass noch keiner von den genannten Schriftstellern jemals ein Buch publiziert hätte und auch sonstige Veröffentlichungen nur sporadisch vorhanden seien.36 Und »zu all dem muss man hinzufügen, dass keiner von denen 35 Vgl. Frank Rafalko: MH/Chaos: The CIA’s Campaign Against the Radical New Left and the Black Panthers, Annapolis, Maryland 2011, S. 98-100. 36 Es ist wichtig zu betonen, dass Geheimpolizeiberichte nie ›Fakten‹ preisgeben können, höchstens ›fiktionalisierte Fakten‹, die den Erwartungen der Geheimpolizei entsprechen und ihre Sicht – und nur ihre – widerspiegeln. So sind die folgenden Informanten-Zitate über die Angela-Davis-Aktion von »Sárdi« oder die Aktion, die von »Huszti« später im Text geschildert wird, selbstverständlich keine authentischen ›Beschreibungen‹ des realen Geschehens, der künstlerischen Qualität, der Intention oder des Kontextes. Sie sind
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einen Arbeitsplatz hat«37 – womit er den immer wieder auftauchenden Vorwurf des ›Nichtstuns‹ als Gefahrenquelle in der Gesellschaft bestätigte. Er hielt fest, dass die Veranstaltung Eintritt kostete und es Einladungen gab. Außerdem kamen, so berichtete er, anstatt der üblichen 40 bis 50 an diesem Abend 150 bis 200 Menschen zusammen. Somit könne also von einem großen Andrang gesprochen werden. Laut Bericht waren in den Reihen des Publikums anders als sonst weniger Universitätsstudenten als die intellektuelle Elite des damaligen Budapest präsent, die vom Informanten als »der literarische Untergrund des Hungaria-Cafés«38 bezeichnet wurde. »Sárdi« nannte Namen von prominenten Schauspielern und Schriftstellern, »sonst Hippies in großer Anzahl«. Danach ging er zur Beschreibung der Aktion über: Zuerst berichtete er spöttisch über Miklós Erdélys Einführung mit dem Titel »Über das Böse in den Frauen«39 [sic!], ein Vortrag, den der Informant als »originalitätshaschendes Posieren«40 paraphrasierte. Erdély hätte dem Bericht zufolge »forcierte Aphorismen« und »Paradoxe« aneinandergereiht, und »vor den letzten Sätzen aufgeregt, langwierig seine Krawatte runtergerissen und plötzlich gerufen: ›Die Frauen sollen jetzt den Raum verlassen‹. In der überraschten Stille wartete er angeblich ein wenig und rief: ›Freiheit für Angela Davis‹.«41 Dann sei Erdély zwar von der Bühne gegangen, aber aus den Reihen des Publikums habe sich eine Frau nach vorne gedrängelt und Erdély laut zugerufen: »Miklós, ich habe etwas [geschrieben], ich bringe es mit, könnten Sie es lesen? – Er winkte mit einer zustimmenden Geste, aber die Frau entfernte sich in großer Aufregung.«42 »Es war Happening-Stimmung«43, bemerkte der Informant in seinem Bericht. An dieser Passage wird auch deutlich, wie die schwarzen Bürgerrechtler_innen als Minderheit adressiert und mit der Gender-Minorität der Frauen zusammengeschlossen vielmehr als Indikatoren zu betrachten, die darüber Aufschluss geben, wie die Staatssicherheit die Happenings sehen wollte, was die Informanten angenommen haben, worauf die Führungsoffiziere ›angesprungen sind‹. 37 »Sárdi«, ÁBTL M-35897/1, a.a.O., S. 181. 38 Ebd. 39 Miklós Erdély: A női gonoszságról, Einführung im Rahmen des Solidarität-Abends »Szabadságot Angela Davisnek!«, Eötvös Klub Budapest, 29.03.1971. 40 »Sárdi«, ÁBTL M-35897/1, a.a.O., S. 181. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 160. 43 Ebd.
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werden. Im Sinne von Deleuze und Guattaris Aufruf zum Minorität-Werden, d.h. »zum Frau-Werden, Schwarz-Werden, Tier-Werden«44, kann der Versuch, eine Frau zu werden, als Basis der totalen Kritik verstanden werden. Dieser Raum der Kritik ist ein Raum des Widerstands, den hier aber weiße Männer nutzten. Der Bericht über die Aktion gibt Aufschluss darüber, dass Szentjóby nach seinem Auftritt angeblich anfing, den offenen Brief von James Baldwin an Angela Davis vorzulesen.45 Er soll dem Wortlaut der Übersetzung des Briefes aus einer ungarischen Tageszeitung gefolgt haben. Während Szentjóby versuchte, den Brief vorzulesen, war Margit Rajczy46 bemüht, ihm den Text mit einem Besen aus den Händen zu schlagen. Doch Szentjóby las unbeeindruckt weiter, worauf hin Rajczy immer aggressivere und härtere Methoden einsetzte, um ihn zum Schweigen zu bringen: Sie verband seinen Mund mit einer Strumpf hose, kitzelte ihn an der Nase, presste einen Wattebausch zwischen seine Beine, fesselte einen seiner Unterschenkel an den oberen und kippte ihm Bier über den Kopf. Aber Szentjóby las trotzdem weiter und Rajczy brachte den auf einem Bein hinkenden Szentjóby mit dem Besen zu Fall. So las Szentjóby auf dem Boden liegend weiter, während sie einen Tisch über
44 Gabriel Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, Münster 2005. Zit. nach Franziska Schutzbach: »werdet Schwarze Frauen*! Plädoyer für ein minoritäres Bewusstsein«, in: Geschichte der Gegenwart 17.03.2017, online: http://geschichtedergegenwart.ch/werdet-schwarze-frauen-plaedoy er-fuer-ein-minoritaeres-bewusstsein (letzter Zugriff: 02.08.2017). 45 Vgl. James Baldwin: »Open Letter to My Sister, Miss Angela Davis«, in: The New York Review of Books, 07.01.1971, online: www.nybooks.com/articles/1971/01/07/an-open-letter-to-mysister-miss-angela-davis (letzter Zugriff: 17.07.2017). 46 Die Frau, die neben Szentjóby auf der Bühne die zweite Hauptakteurin war, wurde namentlich nicht erwähnt. Auf der Seite des Forschungsarchivs Artpool ist sie als Margit Rajczy angegeben. Vgl. www.artpool.hu/Erdely/mutargy/A_noi_gonoszsagrol.html (letzter Zugriff: 01.07.2016). István Eörsi nennt Sarolta Juhász als Mitwirkende. Vgl. István Eörsi: »A besúgójelentés mint kultúrtörténeti forrásmunka«, in: Élet és Irodalom 46:47 (2002), online: www.eorsilaszlo.hu/eorsilaszlo.hu/ei/eicikk/2474.doc (letzter Zugriff: 06.07.2016). Diese Angabe ist jedoch falsch, insofern Tamás Szentjóby, in einem Gespräch mit der Autorin vom 20. Juli 2016, Margit Rajczy als die zweite Protagonistin des Happenings verifiziert hat.
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ihn stellte. Immer noch unbeeindruckt las Szentjóby weiter und beendete die Verlesung des Briefes.47 Der Informantenbericht präsentiert eine eigenwillige Einschätzung der Reaktionen des Publikums: Das Publikum saß noch eine Weile und wartete darauf, dass es weitergeht. Dann sind alle aufgestanden und strömten aus dem Raum. […] Mehrere waren zunächst wütend: »Warum beschimpft er Amerika?« Sie hatten die Frau ermutigt: »Lass ihn verstummen.« Sie waren enttäuscht. Sie haben etwas anderes erwartet. Dann haben sie angefangen zu verstehen: Angela Davis war nur ein Aufhänger. [Es war Szentjóby, der sich nicht zum Schweigen bringen ließ].48 Die Frau mit dem Besen steht nicht für das amerikanische System. Sie steht für das System im Allgemeinen. Für die gesellschaftliche Ordnung, die zerstört werden muss, die diejenigen mit Gewalt unterdrückt, die dagegen rebellieren, wo auch immer diese gesellschaftliche Ordnung sein mag und was diese gesellschaftliche Ordnung auch sein mag. Das Happening fand hier und jetzt statt. So haben sich die anfänglichen Proteste nach und nach beruhigt.49 Nach der Beschreibung des Abends und seiner Einschätzung ging der Informant anschließend auf die Form der Aktion ein. In einem Abschnitt zu den Konsequenzen, die aus dem Abend gezogen werden könnten, schrieb er Folgendes: »Da weder Kunst noch Literatur an diesem Abend präsent waren, aber eine auffällig große Zahl an Zuschauern und zwar, wie man den paar genannten Namen entnehmen kann, ein spezielles Publikum, so kann man sagen, dass der Abend den Charakter einer Demonstration hatte.«50 Die Demonstration war laut der Einschätzung des Informanten eine offene Demonstration, weil Szentjóby nicht sein eigenes Werk vorgelesen und »weil er eine allegorische Szene inszeniert hatte, die geschmacklos Angela Davis’
47 Die Beschreibung des auf Szentjóby bezogenen Teils des Happenings stammt von István Eörsi, der aus dem Grund aus dem Bericht zitiert, weil die Akten von Tamás Szentjóby nicht zugänglich sind. Vgl. István Eörsi: »A besúgójelentés«, a.a.O., o.S. 48 In der Kopie des Berichtes ist dieser Teil geschwärzt und lässt sich anhand des Eörsi-Textes rekonstruieren. 49 »Sárdi«, ÁBTL, M-35897/1, a.a.O., S. 179. 50 Ebd.
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Namen und den Kampf der amerikanischen N[] für ihre Menschenrechte benutzt hat«51. Mit dieser Einschätzung verschärfte der Informant den Vorwurf und versuchte der Staatssicherheit Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verurteilung zu bieten; denn es war sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, den Abend nach politischen Anhaltspunkten eindeutig einzuordnen, was der Informant auf verquickte Weise trotzdem versuchte. Bereits in der Beschreibung wertete der Informant die Aktion als Kritik an Amerika: »Der Brief war ohne Zweifel ein negatives Urteil über die amerikanische Gesellschaft.«52 Doch es war das Anliegen des Informanten, klarzustellen, dass es sich hier um eine Kritik handelte, die gegen jede, also auch gegen die sozialistische Gesellschaft gerichtet war. Vonseiten der Künstler_innen bestand das Signal an die Staatssicherheit und das Publikum darin, dass Szentjóby nicht mundtot gemacht werden kann, auch nicht unter Einsatz von staatlicher, physischer Gewalt. Doch auch das Publikum war zuerst von der Aktion und von eben dieser scheinbaren Amerika-Kritik verstört, denn es kam mit einer klaren Erwartungshaltung gegenüber dem politischen Gehalt einer Aktion. Auch diese Haltung wurde von Szentjóby in seiner Solidarität mit Davis kritisch hinterfragt und zurückgewiesen. Er figurierte in seiner Inszenierung als ein von jedweder Erwartungshaltung unabhängiger Künstler und bezog sich auf eine weibliche schwarze Freiheits-Ikone, um zu verdeutlichen, dass er nicht mundtot gemacht werden, aber auch die Erwartungshaltung ›seines‹ Publikums nicht bedienen kann. Davis selbst war bei Weitem nicht unabhängig von Erwartungshaltungen. Als überzeugte Kommunistin und Repräsentantin eines ›anderen Amerika‹ wurde sie zur ›Staats-Ikone‹ zahlreicher kommunistischer Diktaturen. In der ungarischen Presse wurde Davis’ Tour durch Ostberlin genauso verfolgt, wie ihr zwei Jahre dauernder Prozess in den USA. In zahlreichen Jugendklubs Ungarns (KISZ) hing ihr ikonisches Porträt und sogar eine staatliche Baubrigade im damaligen Stalingrad (Dunaújváros) benannte sich nach ihr. Davis wurde als Referenzfigur auch in der Popmusik aufgegriffen, wie im Fall der sehr erfolgreichen Rockband Illés, die ihr Album mit dem Titel »Human Rights«53 – ursprünglich eine Hommage an die universellen Menschen51 Eörsi: »A besúgójelentés mint kultúrtörténeti forrásmunka«, a.a.O., o.S. 52 Ebd. 53 Illés: Human Rights (1971), Qualiton-Pepita (LPX17410), Budapest.
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rechte – auf staatliche Anordnung Angela Davis widmete. Péter Erdős, der während der gesamten Kádár-Ära für die Popmusik zuständige Jurist, hat auf diese Weise das Erscheinen der Platte überhaupt ermöglicht, denn das Thema Menschenrechte war im damaligen Ungarn – trotz des staatlichen Enthusiasmus für die Befreiung von Angela Davis – ein Tabu. Eine Schallplatte mit dem ursprünglichen Titel hätte nie erscheinen können. Erdős war jedoch der Meinung, dass es durchgehen würde, wenn man es der »linientreuen«54 Davis widmete. Da die Mitglieder der Band nicht wollten, dass die Widmung direkt auf der Platte erscheint, wurde sie in einem Appendix der Platte, zusammen mit einer Fotografie, die Angela Davis in Handschellen mit zwei Männern zeigt, veröffentlicht. So wurde die Figur Angela Davis sogar von leitenden Entscheidungsträgern in der Kultur als Camouf lage-Figur für die Überwindung der eigenen Zensur benutzt. Es war genau diese Doppelrolle, die sie für die progressive ungarische Kunstszene interessant machte, was sich auch aus dem Namen einer alternativen Theatergruppe, dem »Angela Davis Klub«, ablesen lässt: Wir mussten einen Namen wählen, und den, den wir am liebsten gewählt hätten, konnte man nicht wählen, denn Che Guevaras Name war ein Tabu. So haben wir den Klub nach Angela Davis benannt, jedoch war die Namenswahl trickreich, denn sie [Davis, K.K.] bezeichnete sich als kämpferische kommunistische Bürgerrechtlerin, also zählte sie [Davis, K.K.] bei uns offiziell als salonfähig, doch gleichzeitig sympathisierte sie mit der Black-Panther-Bewegung, so wurde sie auch von den Befürwortern der Ideologien der Neuen Linken akzeptiert.55 Ein anderer Protagonist dieses Theaters, István Malgot, fügt hinzu: »Die Dritte Welt hatte sowieso einen eigenen Mythos und metaphorischen Inhalt. Sie [Davis, K.K.] hat etwas symbolisiert, was für uns unerreichbar schien. Es haftete ihr etwas Romantisches, etwas naiv Rebellisches an, das unter Jugendlichen eine große Anziehungskraft hatte. Sie sahen darin eine Alter54 Jenő Bors: »A szó veszélyes fegyver«, Interview mit dem Direktor des Ungarischen Plattenverlags zwischen 1965-1990 am 08.05.1996, in: www.jbsz.hu/hosszabbak/ezredveg199799-/816-illes-szekeren-13-a-szo-veszelyes-fegyver.html (letzter Zugriff: 08.07.2016). 55 Tamás Fodor zit.n. Orsolya Ring: »A színjátszás harmadik útja és a hatalom. Az alternatív Orfeo Együttes kálváriája az 1970-es években«, in: Múltunk 3 (2008), S. 233-257, hier: S. 244.
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native des Ausbruchs.«56 Der Ausbruch aus der Enge der ungarischen Gesellschaft ist damit genauso gemeint wie die Enge der künstlerischen Verfahren und der damit einhergehenden Lebensentwürfe, die im Kontext von Theater, Happening oder Kunst im damaligen Ungarn präsent waren. Es ging auch um einen Anknüpfungsversuch an eine breiter aufgestellte, von der Staatsdoktrin unabhängige ideologische Richtung, die als Jugend-, Friedens- und Gleichstellungsbewegung 1968 als erste globale Jugendbewegung medial wahrnehmbar wurde. Diese Präsenz war auch von den Pressebildern der in Handschellen abgeführten schwarzen Personen, insbesondere von der Ungleichheit der Kräfteverhältnisse zwischen Staat und Individuum geprägt. Schwarze Haut in Ketten, die die Reminiszenz der Sklaverei evoziert57, manifestierte sich in zahlreichen Pressebildern, die Angela Davis in Handschellen zeigten. Auch Szentjóby bezog sich auf diese Bilder. Denn der Brief von James Baldwin, den er vorlas, referierte am Anfang auf das weit verbreitete Bild von Angela Davis auf dem Cover der Newsweek58, auf dem sie in Handschellen zu sehen war. One might have hoped that, by this hour, the very sight of chains on black flesh, or the very sight of chains, would be so intolerable a sight for the American people, and so unbearable a memory, that they would themselves spontaneously rise up and strike off the manacles. But, no, they appear to glory in their chains; now, more than ever, they appear to measure their safety in chains and corpses. And so, Newsweek, civilized defender of the indefensible, attempts to drown you in a sea of crocodile tears (»it remained to be seen what sort of personal liberation she had achieved«) and puts you on its cover, chained.59 Baldwins Brief steht als prägnantes Beispiel dafür, wie schwarze Gefängnis-Aktivist_innen die Massenverhaftungen prophezeiten.60 Denn sein Brief schließt mit einem Satz, der die Wahrnehmung von staatlicher Willkür und Gewalt in den USA benennt und die in den osteuropäischen Staaten ähn56 István Malgot zit.n. ebd. 57 Vgl. Berger: Captive Nation, a.a.O., S. 203-205. 58 Umschlagsseite des Newsweek Magazins vom 26.10.1970. 59 Baldwin: »An Open Letter to My Sister«, a.a.O. 60 Vgl. Berger: Captive Nation, a.a.O., S. 204.
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lich wahrgenommen wurde: »For, if they take you in the morning, they will be coming for us that night.«61 Schwarze Aktivist_innen, die im Gefängnis saßen, haben dies als einen »weißen Terrorismus gegen schwarze Körper«62 beschrieben. Der historische Vergleich mit der Sklaverei stellte die Terminologie bereit, um die Repression gegen die Bürgerrechtler_innen zu beschreiben. Die Anspielung auf die Sklaverei fand in den medial kursierenden Bildern von schwarzen, geknebelten, gefesselten oder in Ketten gelegten Bürger_innen eine weite Verbreitung, die auch Teil der internationalen Solidaritätskampagne wurde. Davis bezeichnete sich selbst und wurde auch von ihren Unterstützern als »Sklavin«63 beschrieben. Die Theorie des »Schwarzseins« lässt sich laut Fred Moten mit diversen Formen der Präsenz in Verbindung bringen: der »Theorie der surrealen Präsenz«64; dem Schwarzsein als der »situierten Präsenz«65 oder der »differenzierten Präsenz«66: Schwarzsein tritt insbesondere vor dem Hintergrund der Negation hervor, wenn Körper auf Fleisch reduziert und in den Status des »Kein-Körper«67 gedrängt werden, so dass andere einen Anspruch auf diese Körper erheben können. So wird die Theoretisierung des Schwarzseins zur »Theoretisierung der Dekonstruktion des Subjektes«68. Eine vergleichbare De(kon)struktion des Subjekts, ja eines Untergrund- Künstlers, war auch das erklärte Ziel der ungarischen Staatssicherheit, um Happenings und öffentliche performative Aktionen zu zersetzen, zu liquidieren und zu eliminieren. Die Lebendigkeit, die durch die körperliche Anwesenheit des sich zeigenden Körpers in Happenings oder in Aktionen evoziert wird, das Hier und Jetzt, das von dem berichtenden Informanten auch festgehalten wurde, kann im Kontext der Black Studies betrachtet und vor allem mit Fred Moten als »die Kompensation für die surreale Präsenz 61 Baldwin: »An Open Letter to My Sister«, a.a.O. 62 Berger: Captive Nation, a.a.O., S. 180. 63 Ebd. S. 181. 64 Fred Moten: »Blackness and Nonperformance«, Vortrag in der Reihe Afterlives: The Persistence of Performance, 25.09.2015, MOMA New York, online: https://www.youtube.com/ watch?v=G2leiFByIIg (letzter Zugriff: 13.07.2016). 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd.
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[des schwarzen Körpers]«69 gesehen werden. Die metaphysische Präsenz wird zur physischen Präsenz und auf diese Weise können Performance sowie Nonperformance70 zu inseparablen Konstituenten von »Schwarzer Präsenz«71 avancieren. Die Todesstrafe in Kalifornien, die Davis drohte, erschien im Horizont der medialen Bilder, die die schwarze Frau in Handschellen zeigten, standen diese Bilder doch stellvertretend für die Gewalt des Staates gegen die eigene Bevölkerung und wurden gleichzeitig durch den Davis-Aktionismus in der DDR und in den Ostblock-Staaten als ein potenzieller Genozid kontextualisiert und erhob die ideologische Aufrüstung im Kalten Krieg auf eine neue Ebene des antifaschistischen Kampfes: Mit Hilfe einer rebellischen Sympathieträgerin aus dem feindlichen Lager, die das ›andere Amerika‹ auch bildlich und körperlich durch die Hautfarbe repräsentieren sollte, wurde der Gerichtsprozess gezielt von der jungen Generation osteuropäischer Gesellschaften ins Visier genommen. Während des Angela-Davis-Prozesses und auch nach ihrer Freilassung haben sich führende politische Persönlichkeiten aus den Ostblockstaaten rhetorisch mit ihr als Blutsverwandte identifiziert und bezeichneten sie als ›eine von uns‹; im medialen Echo war immer von der ›Schwester‹ die Rede. Hierin zeigen sich die überraschenden Korrespondenzen der Rezeption, vor allem wenn man bedenkt, dass James Baldwin ebenfalls von Davis als ›Sister‹ sprach. Die politische Vereinnahmung im internationalen kommunistischen Lager wurde zur Blutsverwandtschaft stilisiert. Der Körper des Performers als Material des Protestes ist auch in seiner scheinbaren Passivität aktiv im Einsatz, d.h. selbst dann, wenn er Passivität, Resignation und Inaktivität zeigt. Denn Körperinszenierungen, die einen Entzug von Aktivität aufweisen, greifen mittels ihrer Stillstellung und ihrer demonstrativen Inaktivität ein unantastbares Signum sowohl des sozialistischen als auch des kapitalistischen Systems an: das Paradigma der Arbeit nämlich. Sie üben mit einer ›Performance des Nicht(s)-Tuns‹ – im Sinne einer doppelten Negation der englischen Bezeichnung von Performance als ›Leistung‹ und als ›Vorstellung‹ – auf radikale Weise Kritik. Die Diskrepanz zwischen der mangelnden Wertschätzung der Arbeit eines Happening69 Ebd. 70 Zum Begriff ›Nonperformance‹ vgl. ebd. 71 Ebd.
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Künstlers auf der einen Seite, der als solcher nicht wahrgenommen, ja als nichtsnutziges, faules, herumlungerndes, depressives, wahnsinniges oder überf lüssiges ›Element‹ der Gesellschaft mit fraglicher Daseinsberechtigung nicht anerkannt wurde, und der angeblich von diesem ausgehenden Gefahr auf der anderen Seite, war prekär. Die unheimliche, schwer definierbare, aber umso gefährlichere Kraft, die zur Destabilisierung der Gesellschaft führen kann, ist bereits geradezu ins Bild des inaktiven Körpers eingeschrieben. Allein auf Szentjóby wurden fast ein Jahrzehnt lang Dutzende Spione angesetzt, obwohl er laut vielen Geheimdienstunterlagen den ganzen Tag nur faulenzte und nichts tat. Der sichtbaren Arbeit in einer Gesellschaft mit scheinbarer Vollbeschäftigung steht somit die performative, unsichtbare Arbeit gegenüber, an der paradoxerweise hauptsächlich Künstler_innen, Intellektuelle, aber auch Spione beteiligt und die mit Blick auf ihre gegenseitige Legitimierung miteinander gezwungenermaßen verbunden waren. Doch wo hört die ›Verwandtschaft‹ der sowjetischen ideologischen Linie mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auf? Nimmt man das Verhältnis der osteuropäischen Staaten zu der Black-Panther-Bewegung in den Blick, so kann von einer vereinnahmenden Solidaritätsbekundung nicht mehr die Rede sein. Im Gegensatz zu Angela Davis blieb im Falle von Bobby Seale eine von den Satellitenstaaten der Sowjetunion unterstützte Solidaritätswelle weitgehend aus. Insbesondere die Aktionen im öffentlichen Raum – wie etwa die Sit-ins und die Demonstrationen der Black Panther –, die Massen mobilisiert und eine reproduzierbare Szenerie vorgegeben haben, erschienen den politischen Machthabern der Ostblock-Staaten suspekt. Wie paradox es auch klingen mag, die Black Panther Party (BPP) wurde als Gegenpol zu Angela Davis verstanden, obwohl sie selbst Teil der BPP war und sich offen mit deren Zielen solidarisierte. Im Westen bot die BPP jedoch nicht mehr nur eine Projektionsf läche für Solidaritätsbekundungen, sondern bestimmte auch die Identität der transnationalen Protestbewegungen neu, indem sie eine Vorlage für die Legitimierung des bewaffneten Kampfes schuf – wie auch Martin Klimke in seiner Monografie anhand der Verbindungen zwischen den bundesdeutschen und den amerikanischen Protestbewegungen aufzeigt.72
72 Vgl. Martin Klimke: The Other Alliance: Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties, Princeton 2011.
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1972, knapp ein Jahr nach der Angela-Davis-Aktion, hat Szentjóby ein Ein-Mann-Reenactment von den Sit-ins der Studenten in den USA realisiert sowie eine Hommage an einen der in den Medien meistdebattierten Prozesse der Nachkriegsgeschichte in den USA, dem Prozess gegen Bobby Seale und die Chicagoer Eight73, vor dem Budapester Hotel Intercontinental mit dem Titel Sit Out. Be Forbidden. Sitting on a Chair with Strapped Up Mouth for Twenty Minutes inszeniert. Mit verbundenem Mund, mit einer Lederjacke bekleidet und mit einem Ledergürtel an einen Stuhl gefesselt, saß er zwanzig Minuten vor dem Hotel, bis das Eintreffen der Polizei die Aktion beendete bzw. – wie es Tamás Szentjóby im Gespräch mit Katalin Cseh-Varga rekapitulierte – bis das verspätete Eintreffen der Polizei letztlich dazu führte, dass er die Aktion selbst abbrechen musste. Die Aktion, die von der polizeilichen Intervention nicht zu trennen ist, wurde von einem Fotografen dokumentiert. Mit der Fesselung und dem verbundenen Mund nahm Szentjóby Bezug auf die weitverbreiteten Gerichtszeichnungen des Prozesses gegen den Black-Panther-Party-Anführer Bobby Seale, die ihn gefesselt und geknebelt vor dem Richter sitzend zeigen. Seale hatte 1966 die »Black Panther Party for Self Defense« mitbegründet und saß ab dem 29. Oktober 1969 bei dem ›Chicago Conspiracy Trial‹ auf Anordnung eines Richters drei Tage lang mit verbundenem Mund an einen Stuhl gebunden im Gerichtssaal. Da Seale sich selbst verteidigen wollte, der Richter ihm aber das Eröffnungsplädoyer, das Verhör und jedweden Kontakt zu den Geschworenen verbat, fing Seale an, die Verhandlung mit verbalen Zwischenrufen zu stören. Nach mehrfachen Wortgefechten zwischen ihnen hatte Seale den Richter »a bigot, a racist, and a fascist«74 genannt. Schließlich ließ der Richter anordnen, Seale mit Ketten an einen Stuhl zu fesseln und zu knebeln. Am zweiten Tag wurden die lauten Ketten durch Seile ersetzt und sein Mund noch stärker verbunden, indem ihm der Kiefer durch ein Tuch um den Kopf fixiert wurde. In Abwesenheit seines Anwalts saß Seale in dieser demütigenden Pose tagelang vor dem weißen Richter sowie gegenüber den ebenfalls weißen Geschworenen aus der Mittelschicht. Als einziger der Chicagoer Eight wurde er wegen Beleidigung des Gerichts (und nicht auf Basis der ursprünglichen 73 Vgl. Nick Sharman: The Chicago Conspiracy Trial and the Press, Melbourne 2016. 74 Zur Beschreibung des Gerichtsverfahrens vgl. »BRIA Vol. 6, Nr. 4.: The Case of the Defendant who was Bound and Gagged«, in: www.crf-usa.org/bill-of-rights-in-action/bria-6-4the-case-of-the-defendant-who-was-bound-and-gagged (letzter Zugriff: 11.07.2016).
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Anklage) zu vier Jahren Haft verurteilt. Als er nach der Urteilsverkündung den Raum verließ, riefen die Zuschauer_innen »Free Bobby«. Das Bild, wie er, ein schwarzer Mann, mit verbundenem Mund an einen Stuhl gefesselt vor dem weißen Richter sitzt, wurde zum Sinnbild für die Konfrontation zwischen Sklaverei und Bürgerrechtsbewegung. Die Gerichtszeichnungen der Demütigung, der unfairen und diskriminierenden Haltung einer angeblich unparteiischen Justiz, aber auch das Versagen der Justiz und ihre Übergriffshandlung gegenüber einem Bürgerrechtler, der sich vor Gericht selbst verteidigen wollte, avancierte zur universalen performativen Szenerie des Protestes gegen die Mundtotmachung von Minderheiten und der Benachteiligten einer Gesellschaft. Szentjóbys Aktion fügt sich als Solidaritäts-Reenactment in die Reihe von Aktionen ein, die sich mit jener Black-Power-Bewegung identifizierten, deren Forderungen mit dem verstörenden Bild des gefesselten Seale um die Welt gingen. Das Verbot der Meinungsfreiheit, die sogar von einem Richter gegen das geltende Gesetz durchgesetzt wurde, stand im Mittelpunkt dieser Proteste. »Be Forbidden« – das Konzept des Verbotenen – wurde wiederum zum zentralen Element in Szentjóbys Aktionen und Happenings: [D]ie Grundidee liegt darin, sich in einem ästhetischen System auf das zu beziehen, was vom Staat und von der Kirche als verboten definiert wird. Es gilt nicht, in der Ordnung der aktuellen, sozialistischen oder so genannten sozialistischen Staatsordnung bzw. ihrer Kirche zu agieren, sondern im weltweiten Maßstab. Für mich war es wichtig, dieses Gebiet zu benennen, das Gebiet des Verbotenen, bzw. vorzuschlagen, dass die Sache als verboten verstanden werden soll, denn für uns war die Kunst schon immer nachweisbar verboten.75 In den öffentlichen Räumen Osteuropas hat man Versammlungen jedweder Art als zentrale Gefahrenquellen für die Gesellschaft bewertet, es herrschte geradezu eine Paranoia vor ihnen. Nicht ohne Grund beschrieb der Informant »Sárdi« im anfangs zitierten Bericht das Happening als eine ›Demonstration‹. Vor diesem Hintergrund erwies sich also Szentjóbys einsame Sit-out-Aktion gleichzeitig als eine Referenz auf das Demonstrations- und 75 Interview mit Tamás St. Auby in: Vakáció I-II, Regie: Gyula Gulyás, 1998, online: www.art pool.hu/boglar/1973/730624_sze.html (letzter Zugriff: 11.07.2016).
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Versammlungsverbot. Er stellte sich mit seinem Protest daher in einen internationalen Kontext und öffnete die geschlossene, klaustrophobische Enge der ungarischen Gesellschaft. Die Perfomativität der Kritik konkretisierte sich hier in Form einer globalen Geste, namentlich in der geballten Faust, die auch in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung prominent zum Einsatz kam: als die geballte rote Faust, die von Mitgliedern und Sympathisanten der Black-Panther-Bewegung tausendfach auf Fahnen, Buttons und Plakaten gezeigt wurde. Das Motiv der geballten Faust stammt von der, nach seinem Grafiker benannten, »Cieciorka-Fahne« und wurde zum Symbol des US-amerikanischen Protestes als es 1968 in den USA in Form von Tausenden von Buttons auf Demonstrationen im Kontext der Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Vietnam-Kampagnen verteilt wurde. Dutzende von Organisationen setzten das Symbol für die unterschiedlichsten Szenarien und gesellschaftliche Anliegen ein. So wurde es nicht nur zur Ikone der New Left, auch in den Publikationen der Black-Panther-Bewegung kamen Versionen dieser Faust zum Tragen. Diese Geste der geballten Faust verknüpft auch Rebecca Schneider mit der Black-Lives-Matter-Bewegung.76 Die rote, geballte Faust taucht auch im ungarischen Happening-Untergrund auf, und zwar in einer Inszenierung, über die die Staatssicherheit ebenfalls informiert war: In einem Bericht, datiert auf den 17. Februar 197277, wird vom Informanten »Huszti« ein Abend beschrieben, an dem im Hotel Intercontinental Szentjóby angeblich über ein kurz davor stattgefundenes Happening im Eötvös Klub sprach. »Huszti« zitiert Szentjóby mit einem Dialog aus dem Happening: –– Was fällt Ihnen zu dieser Tasche ein? Sicher das, dass arabische Frauen damit ihre Plastikbomben tragen. –– Was fällt Ihnen zu dieser Hand ein? Sicher das, dass sie damit die Tasche tragen, in der die Plastikbombe ist. –– Jetzt ballen Sie ihre Hände zur Faust. Was ist das? Eine Faust. Und was ist in der Faust?
76 Vgl. Schneider: »In Our Hands«, a.a.O. 77 Vgl. den Bericht von »Huszti«, 17. Februar 1972, ÁBTL-M-39271/1, a.a.O., S. 176.
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–– Na, jetzt heben Sie Ihre Hände alle in die Höhe, na was ist da jetzt drin? Na… ? Nichts!78 Laut dem Informanten drehte sich Szentjóby in diesem Moment auf der Bühne um, zog an einer Schnur und ließ aus der Höhe ein ein bis zwei Meter breites Papierstück entrollen, auf dem eine riesige rote Faust zu sehen war. Nach der Erzählung des Informanten war das ein unglaublicher Erfolg. Es ist genau das Nichts in der geballten Faust, um das es zwischen der Staatssicherheit und den Künstlern ging: eine Bedrohung, eine kritische Geste, die aber keine explizite, tatsächliche Gefahr in sich barg. Eine terroristische Aktion wurde zwar evoziert, entpuppte sich aber als leer. Diese Leerstelle des Happenings ist zu einem umkämpften Gebiet der Kultur geworden, die stellvertretend für einen Protest stand, dessen kippbildartige Vorlagen aus den Aktionen und Prozessen gegen schwarze Bürgerrechtler_innen sowie ihrer medialen und politischen Vereinnahmungen im internationalen Kontext stammten. Die »Atombombe der Kultur«79, wie Tamás Szentjóby das Happening schon 1966 bezeichnet hatte, wurde in den Augen der Staatssicherheit schon längst entsichert. Dass sich bei dem Versuch der Zündung und sogleich der Verhinderung der Zündung beide Parteien – die staatliche Ideologie des Antiamerikanismus als Kapitalismuskritik und die Happeningszene als eine Projektionsf läche für Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz – auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung beriefen, zeigt die komplizierte Verstrickung zwischen dem sozialistischem Staat und ihren »N[]«, ja den Künstlern der osteuropäischen Happening- und Performanceszene, die gegen die Mundtotmachung und für Freiheit und Bürgerrechte kämpften.
78 Ebd. 79 Tamás St. Turba: FIKA. Fiatal Művészek Klubja. Interjú St. Auby Tamással, Budapest 2006, S. 27.
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Die Kritik der Kamera Performative Fotografie im Ungarn der Siebzigerjahre Katalin Cseh-Varga
1967 wurde eine Ausstellung von Csaba Koncz, einem Begründer und Vertreter der so genannten abstrakten organischen Fotografie in Ungarn1, mit einem auf den ersten Blick seltsamen Happening des radikalen Neoavantgardisten Tamás Szentjóby eröffnet. Aus Pappkartons nähte der Künstler einen riesigen, ihn umschließenden Würfel, schnitt darauf hin ein Loch in eine Kartonwand und steckte ein Einweckglas in die so entstandene Öffnung. Das Ergebnis dieser Aktion war eine Kamera menschlichen Ausmaßes.2 Mit diesem Ende der Sechzigerjahre vollzogenen Happening zollte Szentjóby, eine Ikone des ungarischen Aktionismus, der Fotografie als Kollaborateurin ereignisbasierter Kunst seine Anerkennung. Szentjóbys kurze, aber vielsagende Intervention im Rahmen der Ausstellungseröffnung zeugt von der Bedeutung der Fotografie nicht nur als dokumentarischem Medium von Aktionskunst und Body Art – oder als Substitut eines größeren Publikums; vielmehr war sie der »gemeinsame Nenner der Epoche«3, und zudem eine in zahlreiche Performances eingebundene Technik, Praxis und Strategie. Nach Aussage der Kunstkritikerin Zsuzsa Simon »[…] arbeiteten damals die meisten Avantgardekünstler_innen fotografisch. Im Grunde genommen war das [der Beginn der Siebzigerjahre, K. Cs.-V.] die Glanzzeit der experimentellen und kon-
1 Vgl. Sándor Szilágyi: Neoavantgárd tendenciák a magyar fotóművészetben 1965-1984, Budapest 2007, S. 27. 2 Vgl. ebd., S. 30. 3 József Készman: »Kéznéllévő avantgárd. Narratíva- és médiahasználat az Alföldigyűjtemény képzőművészeti fotóanyagában«, in: Kolozsváry Marianna (Hg.): A múlt szabadsága – Neoavantgárd fotóművészet Magyarországon az 1960-as évektől napjainkig, Budapest 2016, S. 22-25, hier: S. 22.
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zeptionellen Fotografie in der ungarischen Kunst.«4 Folglich argumentiere ich, dass die meisten der in den Siebzigerjahren veranstalteten Aktionen auf die Fotografie angewiesen waren. Die Kamera fing nicht nur die Schauplätze einer Handlung ein, sondern war als Teil dieser ephemeren Kunst selbst szenisch präsent. Es gibt noch einen weiteren Grund für die Fokussierung des vorliegenden Beitrags auf die performative Fotografie: nämlich die mit dem Prozess der Vergänglichkeit zutiefst verschränkte Ausprägung dieses Mediums. Performatives Fotografieren kann, nach meinem Verständnis, als eine Aktion angesehen werden, die einerseits die Produktion der Bilder mit ausstellt und ref lektiert, andererseits der Kamera sowie dem Bediener des Geräts eine gewisse Agency zuspricht. Es war gerade die performative Fotografie, die – nach den Worten des Malers Ákos Birkás – außerhalb »[…] the disgusting sewer system of manipulated communication«5 stand, das Kádárs kulturelle Agenda repräsentierte. Die performative Fotografie lässt sich als künstlerisches Instrument der Kritik betrachten, die den Schwerpunkt der vorliegenden Publikation bildet. Die Kritik der performativen Fotografie, die auf zwei Ebenen gleichzeitig operiert – auf der Ebene der Prozessualität und auf der des Mediums – soll hier in zweierlei Hinsicht untersucht werden: als Subversion einer verzerrt wahrgenommenen Ideologie mittels einer rekontextualisierten Ikonographie und als Zurückweisung einer »[…] language […] frowned upon by the representatives of official power […]«6, die sich als probates Mittel erwies, um den Finger auf die zentralen Fragen nach der Funktion von Kunst und Künstlerschaft zu legen. Zu meinen Hauptargumenten in diesem Text zählt, dass es nicht nur die Praktikabilität der Fotografie war, die die Verwendung der Kamera7 in den Augen der meisten ungarischen Neoavantgardist_innen so attraktiv machte, sondern auch die Vorstellung, »[t]he officials’ deep-seated prejudice against the self-ref lexive artwork […]«8 herauszufordern. Eine Kunst, die wie die Konzeptkunst ihren eigenen Sinn und Zweck auf mehr oder weniger explizi4 Zsuzsa Simon: »The Museum of Fine Arts as a Model of Art«, in: Ákos Birkás: Photo Works 1975-78, Budapest; Wien 2012, S. 25-32, hier: S. 25. 5 Ákos Birkás zit.n.: Edit Sasvári: »Meditative Contemplation. A Conversation with Ákos Birkás«, in: Birkás: Photo Works, a.a.O., S. 13-94, hier: S. 14. 6 Ebd. 7 Vgl. Edit Sasvári: »Ist es ein Gebäude oder ein Weg? Ein Gespräch mit Ákos Birkás«, in: Birkás: Photo Works, a.a.O., S. 121-137, hier: S. 121. 8 Simon: »The Museum of Fine Arts as a Model of Art«, a.a.O., S. 25.
Die Kritik der Kamera
te Weise infrage stellte, fürchteten die politischen Entscheidungsträger zutiefst. Die Fotografie beschränkte sich keineswegs darauf, geheime Aktivitäten einzufangen – sie war (in den meisten Fällen) ein Medium der indirekten Kritik an verdrängten ästhetischen Ausdrucksformen. Ein weiterer Grund für die Popularität der performativen Fotografie nistet im grundlegenden Wandel der bildenden Kunst hin zur Ephemeralität, der sich um die Mitte der Sechzigerjahre in Ungarn vollzog.9 Der zunehmende Rückgriff auf die Fotografie und die Einbindung sowohl des menschlichen Körpers als auch der Prozesshaftigkeit standen im Mittelpunkt dieser Entwicklung. Der besondere Reiz der performativen Fotografie lag für die Neoavantgardist_innen in der Intensivierung der doppelten Kritik – sowohl des Apparatus als auch des Ereignisses. Um nur zwei namhafte Beispiele zu nennen: Der vielseitig tätige Künstler Gábor Attalai und der Maler László Lakner kombinierten verschiedene Ausdrucksmittel und überschritten die traditionellen Genregrenzen hin zu einer ereignisbasierten Kunst, obwohl sie sich keineswegs als Performance- oder Aktionskünstler verstanden. Die Wirkung der fotografischen Body-Art-Arbeiten von Attalai10 und der Photo-Drawing-Aktionen von Lakner11 wurde durch die produktive Verbindung aus Fotografie, Performativität und Konzeptkunst gesteigert. Die Betonung lag hier – wie 9 Vgl. Katalin Cseh-Varga und Kristóf Nagy: »The Anti-Football of the Hungarian Neo-AvantGarde. Crossing Art into Immateriality«, Vortrag auf der CEAD-Konferenz, Museum der Modernen Kunst Olomouc, 05.04.2016. 10 Vgl. z.B. I can be foolish too I-II-III, auch bekannt als Idiotic Manner I-II-III (1973); No Air (1971) oder Cutting of a Wart on my Breast I-II-III (1971). All diese Arbeiten greifen auf fotografische Sequenzen aus Aktionsserien des Künstlers zurück, die er an und mit seinem Körper durchgeführt hat. Katalin Cseh-Varga: »Documentary Traces of Hungarian Event-Based Art«, in: Cristina Cuevas-Wolf; Isotta Poggi (Hg.): Promote, Tolerate, Ban: Culture in Cold War Hungary, Los Angeles 2018, S. 83-94. 11 Gemeint sind solche wie Ich nehme die Gestalt der Treppe an (Felveszem a lépcső formáját, 1971). Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Fotoserie, die Lakner mit dem Gesicht gen Boden auf einer öffentlichen Treppe liegend zeigt, sondern zugleich um eine aus dieser Fotoserie resultierende Zeichnung. Nachdem Lakner den Ort des Fotoshootings verlassen hatte, zeichnete er ein Bild seines nackten Oberkörpers, auf dem die Abdrücke der Treppe zu sehen waren. Bemerkenswert daran ist, dass die horizontalen Linien auf seinem Torso die Erinnerung an eine temporäre minimalistische Zeichnung auf einem dreidimensionalen lebenden Objekt wecken. Meiner Ansicht nach ist Ich nehme die Gestalt der Treppe an ein ausgezeichnetes Beispiel für die Anwendung trans- und intermedialer Praktiken in den progressiven bildenden Künsten, worin sich Konzeptkunst, Aktionskunst, Fotografie, Body Art und Zeichnung treffen.
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bei den Beispielen, mit denen ich mich im Folgenden auseinandersetze – auf einer Performativität, die die Funktion von Konzeptkunst erfüllte, und nicht auf einer anderen Art ereignisbasierter Kunst, die ihren Ursprung in der experimentellen Poesie12 oder einem post-Cage’anischen Musikverständnis hatte.13 Performative, durch Konzeptkunst motivierte Fotografie wird hier als eine Form der Kritik begriffen und an zwei Beispielen untersucht: einer Foto-Aktionsserie von László Lakner unter der Mitwirkung von György Gadányi mit dem Titel Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai (Károly. Egy magyar munkás ünnepnapja a szocializmusban: Május elseje, 1973)14 und einigen Fotoarbeiten von Ákos Birkás, die zwischen 1975 und 1979 entstanden sind. Anhand des ersten Beispiels werde ich zeigen, inwiefern Lakner eine subversive Form der Kritik an der gescheiterten Umsetzung kommunistischer Ideale zum Ausdruck brachte. Das zweite Beispiel stellt eine noch subtilere Kritik am aufgezwungenen visuellen Ausdruck dar, worin Birkás die institutionelle, diskursive wie auch persönliche Position der Kunst kritisch ref lektierte. Obwohl die beiden Beispiele performativer Fotografie kontextgebunden und aus ganz konkreten, noch darzulegenden politischen Umständen hervorgegangen sind, repräsentieren sie doch ein breites Spektrum kritischer Einstellungen der ungarischen Neoavantgarde, das von der Kritik an den großen Utopien bis zur Kritik an den in der künstlerischen Praxis herrschenden methodologischen Zwängen reicht. Die politisierte und kritische Haltung der nonkonformistischen Kunst in Ungarn war nicht immer so offensichtlich. Politisierung und Kritik lassen sich nur erklären, wenn man sich die Atmosphäre angesichts des spezifischen Sozialismus unter János Kádár vergegenwärtigt. Die Reformsozio-
12 Vgl. Emese Kürti: »A szabadság anti-esztétikája. Az első magyarországi happening«, in: exindex 24.08.2015, http://exindex.hu/index.php?l=hu&page=3&id=967 (letzter Zugriff: 30.08.2017). 13 Vgl. Emese Kürti: Screaming Hole. Poetry, Sound and Action as Intermedia Practice in the Work of Katalin Ladik, Budapest 2017, S. 38. 14 In einem Aufsatz vom Kunsthistoriker Dávid Fehér trägt dieses Konzeptwerk folgenden Titel: Károly: Episodes from the Life of a Worker. Dávid Fehér: »Consonants of Karl Marx. Left versus left in the Hungarian neo-avant-garde: the case of László Lakner«, in: Acta Historiae Artium, 56 (2015), S. 343-353, hier: S. 350.
Die Kritik der Kamera
log_innen der Budapester Schule15, namentlich Ferenc Fehér, Ágnes Heller und György Márkus, veröffentlichten 1983 ihre umfassende Analyse der Gesellschaften sowjetischen Typs unter dem Titel Diktatur über die Bedürfnisse. Eine Analyse sowjetischer Gesellschaf ten16, worin sie auch das Ausmaß der Politisierung in Ungarn umreißen. Die Autor_innen gehen davon aus, dass in einer totalitären Gesellschaft alle Lebensbereiche der Politik untergeordnet sind. Aus diesem Grund ist die Unterteilung der Kultur in einen politischen und einen nichtpolitischen Bereich anachronistisch. Jedes Produkt der Kultur wurde nach Meinung von Fehér, Heller und Márkus als solches hervorgebracht und existierte entweder zur Verteidigung oder Bekämpfung der Normen des herrschenden Regimes.17 Obwohl mit dem Kádárismus Anfang der Siebzigerjahre eine Zone der politischen Neutralität geschaffen wurde – ein zentrales Merkmal des spätsozialistischen Ungarns – einschließlich eines großzügigen Zugeständnisses an die Kulturschaffenden der Volksrepublik Ungarn, wurden Kultur- und Kunstprodukte nur toleriert, solange sie sich innerhalb dieser politischen Neutralitätszone bewegten.18 In der praktischen Umsetzung jedoch war die Entscheidung, ob Kunstwerke – insbesondere ereignisbasierte Arbeiten und solche der performativen Fotografie – den Anforderungen an die politische Neutralität genügten, eine beständige Herausforderung für die Behörden; das Konzept der Tolerierung erwies sich demnach als hochgradig instabil.19 Hinzu kam, dass die meisten Neoavantgardist_innen subtile Techniken und visuelle Codes anwandten, so dass ihre (System-)Kritik nicht auf den ersten Blick erkennbar war.
15 Zu dieser Schule gehörten die Schüler_innen des Philosophen György Lukács, namentlich Ferenc Fehér, Ágnes Heller, György Márkus und István Mészáros. Anfangs strebten sie alle nach der Selbstkritik des dogmatischen Marxismus, später zeichnete sie ein ethisch-anthropologisches Denken jenseits des Marxismus mit einer Tendenz zur Kritik am Weltkapitalismus aus. André Tosel: »Az idős Lukács és a Budapesti Iskola«, in: Eszmélet, 1 (2003), http://eszmelet.hu/andre_tosel-az-idos-lukacs-es-a-budapesti-iskola (letzter Zugriff: 31.08.2017). 16 Die englische war die erste Ausgabe unter dem Titel Dictatorship over Needs. An Analysis of Soviet Societies, erschienen 1983. Für diesen Aufsatz habe ich jedoch die ungarische Fassung Diktatúra a szükségletek felett (1991) herangezogen. 17 Vgl. Ferenc Fehér; Ágnes Heller; György Márkus: Diktatúra a szükségletek felett, Budapest 1991, S. 298. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. ebd.
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Fehér, Heller und Márkus zufolge forderte das machtvolle, in alle Bereiche des Lebens eingreifende totalitäre Regime die gesamte Gesellschaft dazu auf, ihre Zustimmung zum herrschenden System öffentlich und jederzeit zum Ausdruck zu bringen. Die Idee des real existierenden Sozialismus bestand in der Anerkennung der vorrangigen Stellung des politischen Staates gegenüber der ganzen Gesellschaft. Trotz aller Bemühungen, die sozialen und kulturellen Einf lussbereiche zu kontrollieren, traf die Absicht einer umfassenden Disziplinierung auf zahlreiche Hindernisse.20 Es waren die nicht zu kontrollierenden Nischen, in denen sich nonkonformistische Kunst und ihre Kritik frei entfalten konnten. Im Kontext der politisierten und politisch neutralisierten Zonen kultureller Produktion, wie von den Soziolog_innen der Budapester Schule umrissen, wurde die Neoavantgarde a priori als regimekritisch eingestuft, egal wie apolitisch ihr Gegenstand war.21 Der Medienkünstler Miklós Erhardt stuft sie im Vergleich zu den politischen Emanzipationspraktiken in Westeuropa als eher apolitisch ein; demnach sprachen sie sich gewissermaßen nie für oder gegen etwas aus.22 Diese Sicht unterstreicht meine bereits dargelegte These, dass die ungarischen Nonkonformist_innen Ausdrucksformen finden mussten, die einerseits ihrem Anspruch als Gegenwartskünstler_innen gerecht wurden, und andererseits die Restriktionen des Kulturbetriebs umgingen. Zugleich kritisierten sie beide Positionen, gelegentlich gar mit politischen Untertönen. Doch welche kulturellen und künstlerischen Parameter existierten in Kádárs Ungarn der Siebzigerjahre, die die oben erwähnten Künstler_innen nicht als ihre eigenen ansahen? Die Konsolidierung von Kádárs Diktatur fiel zeitlich mit dem Auf kommen von Abstraktion und Aktionismus zusammen, die um das Jahr 1966 auf der offiziellen Ebene für Verwirrung sorgten.23 Aufgrund dieser Verwirrung und dem Fehlen klarer Vorgaben für die Künste konnte eine Reihe halboffizieller Ausstellungen und Veranstaltungen umgesetzt werden, bis eine politisch motivierte, systematische ›Kriegsführung‹ diesen Aktivitäten um das Jahr 1973 schließlich ein Ende 20 Vgl. ebd., S. 300, 368. 21 Vgl. Miklós Erhardt: »The Role of Context in the Art of the Sixties and Seventies«, in: Birkás: Photo Works, a.a.O., S. 3-11, hier: S. 10. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. exemplarisch: Mónika Zombori: »Stúdió kiállítások a korabeli dokumentumok tükrében. 1. rész: A hatvanas évek«, in: artmagazin, 82 (2015), S. 32-37, hier: S. 37.
Die Kritik der Kamera
setzte.24 Das Abkühlen des eher liberalen Klimas hatte seine Ursache in politischen und sozialen Spannungen größeren Ausmaßes.25 Die in dieser Zeit eingeführten Beschränkungen wurden im Laufe der Siebzigerjahre Gegenstand eines kulturellen Tauwetters. Die 1978er Ausstellung des Studio der jungen bildenden Künstler (Fiatal Képzőművészek Stúdiója) zeigt, dass die Liberalisierungswelle ihren Höhepunkt erreicht hatte: Neben traditionellen Genres wurden einem größeren Publikum auch Arbeiten zugänglich gemacht, die in keine der existierenden offiziellen Kategorien passten, wie zum Beispiel Installationen, Konzept- und Aktionskunst.26 Gleichwohl die gerade skizzierte kontextbezogene Einführung die allgemeinen Grundzüge der Kulturpolitik in den Siebzigerjahren widerspiegelt, stellte sich die alltägliche Realität doch als weniger eindeutig heraus. Der Soziologe József Böröcz hat die innere Logik von Kádárs Regime meines Erachtens treffend als zwischen »Augenzwinkern und Unterdrückung«27 pendelnd umschrieben. Gegen jenes paradoxe System der Unvorhersehbarkeit rebellierten die Neoavantgardist_innen – und zwar jede/r mit den ihr/ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln. László Lakner reagierte auf die im real existierenden Sozialismus herrschenden Arbeitsbedingungen mehr oder weniger eindeutig und präsentierte die Realität des Systems in einprägsamen Bildern. Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai war weder das erste noch das einzige Kunstwerk, in dem Lakner sein Verhältnis zur linken Ideologie thematisierte und worin »[t]he artist face[d] the unfulfilled utopia of communism by appropriating its symbols in an ambiguous manner«28. Der 24 Mónika Zombori: »Stúdió kiállítások a korabeli dokumentumok tükrében. 2. Rész: A hetvenes évek«, in: artmagazin, 83 (2015), S. 60-65, hier: S. 60. 25 Zu den Folgen der Niederschlagung des Prager Frühlings wie den Demonstrationen gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei, illegalen Studentenprotesten, dem Aufstieg illegaler Kultur- und Musikgruppen, der Systemkritik der Reformsoziolog_innen usw. vgl. Edit Sasvári: »Miért éppen Pór? A kádári ›üzenési‹ mechanizmus természetéhez«, in: Országos Széchenyi Könyvtár. Intézet és Oral History Archívum. Évkönyv VIII, Budapest 2000, S. 124-129, www.rev.hu/ords/f?p=600:2:::::P2_PAGE_URI:kiadvanyok/szovege k_evk2000/sasvari (letzter Zugriff: 31.08.2017). 26 Vgl. ebd., S. 61, 63, 65. 27 József Böröcz: »A kádárizmustól a parlagi kapitalizmusig: a fejlett informalizmus építésének időszerű kérdései«, in: Mozgó Világ, 8 (1990), S. 61-67, hier: S. 62. 28 Fehér: »Consonants of Karl Marx«, a.a.O., S. 343.
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Kunsthistoriker Dávid Fehér sieht in der Vielzahl ›linker‹ Figuren und Motive in Lakners Arbeiten einen Indikator dafür, »that he was consequently looking for a system-critical, but leftist standpoint from the middle of the 1960s until his emigration in 1974«29. Diese Arbeiten hatten zumeist konzeptionellen Charakter und bestanden aus Fotografien, Fotomontagen, realistischer Malerei, Abstraktion und Zeichnungen. Schon früh war Lakner auf die Fotografie angewiesen, da sie in strategischer Hinsicht als Grundlage seines Œuvres als Maler diente. Das könnte auch der Grund gewesen sein, weshalb er mit dem aktionistischen Charakter der Fotografie in Berührung kam und dieses kreative Potential in verspielte Fotoaktionen wie seine Serie Károly einf ließen ließ. Obwohl die spontane Natur des Werkes von seinem Mitarbeiter, dem Fotografen György Gadányi, immer wieder betont wird30, war die der Arbeit innewohnende Kritik an der Ikonographie und dem propagandistischen und überwältigenden visuellen Spektrum des Kádár-Re gimes geplant und höchst wirkungsvoll. Die Zusammenarbeit von Lakner und Gadányi begann um 1970 und endete 1974: Sie bestand in einem unbeschwerten Umgang mit der Kamera von Seiten Gadányis unter der Leitung von Lakner und im Experimentieren im Rahmen zum Teil umgesetzter Projekte.31 So hatte Lakner etwa die Idee zu einem Fotoaktionsprojekt, das die heroischen Szenen der Gemälde des sozialistischen Realismus nachstellen sollte.32 Für dieses Vorhaben schwebte ihm eine ganz bestimmte Person als zentraler Protagonist dieser Aktion vor: Károly, seit den 1930er Jahren ein Modell der Akademie der Bildenden Künste (Képzőművészeti Akadémia) in Budapest.33 Er war ein typischer Arbeiterdarsteller, ein seit Jahrzehnten populäres Modell, an den sich Lakner noch aus seiner Zeit als Student an der Akademie erinnerte.34 Er lud Károly zur
29 Ebd., S. 345. 30 Gespräch der Autorin mit György Gadányi, Budapest, 16.04.2016. 31 Vgl. ebd. 32 Fehér: »Consonants of Karl Marx«, a.a.O., S. 350. Lakner meinte in einem Telefonat am 21. Januar 2018, dass er als Grundlage für seine Fotoaktion nicht die Gemälde heranzog, sondern die Posen vielmehr selbst erfunden habe. 33 Gespräch der Autorin mit György Gadányi, Budapest, 16.04.2016. Vgl. auch Ferenc Káplár: XX. Századunk. Műelemzés. Egy rendhagyó kisfilm terve, Balázs Béla Stúdió, Manuskript, 1975. 34 Exemplarisch verwiesen sei hier auf ein ikonisches Gemälde des sozialistischen Realismus, das 1951 entstandene Werk von György Kádár und György Konecsni mit dem Titel
Die Kritik der Kamera
Abb. 1: László Lakner: Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: 2. Die erste Zigarette Abb. 2: László Lakner: Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: 7. Károly übt das Tragen der roten Fahne für den Festzug Mitarbeit an einer Foto-Aktion ein, bei der sie verschiedene Szenen der sozialistisch-realistischen Gemälde nachstellen wollten.35 Lakner setzte Károly mit feiner Präzision in Szene.36 Gadányis Kamera hielt den gesamten Arbeitsprozess in insgesamt 166 Bildern fest. Eine Kombination aus Spontaneität37 und bewusst eingestellten Posen charakterisierte das fotografische Prozedere, dessen Endergebnis in einer aus neun Szenen bestehende konzeptuelle Arbeit von Lakner besteht. Der Künstler definierte folgende Episoden: Károly trinkt seinen obligatorischen Morgenkaffee, zündet seine erste Zigarette an (Abb. 1), trinkt den ersten Schnaps des Tages, spielt MundVor dem Sturm (Vihar előtt, 1951), auf dem circa dreißig Károly-Figuren zurück auf den Betrachter blicken. Vgl. Káplár: XX. Századunk, a.a.O. 35 Gespräch der Autorin mit György Gadányi, Budapest, 16.04.2016. 36 Telefonat der Autorin mit László Lakner, 11. 2017 und 01.2018. 37 Gespräch der Autorin mit György Gadányi, Budapest, 16.04.2016.
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Abb. 3: László Lakner: Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: 8. Károly schüttelt die Hände des Parteisekretärs bei der Überreichung einer Auszeichnung für »Helden der sozialistischen Arbeit« Abb. 4: László Lakner: Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: 9. László Lakner instruiert Károly wie man die Fahne zu tragen hat
Die Kritik der Kamera
harmonika, bereitet sich auf ein Schachspiel mit einem Kollegen vor, übt das Tragen der roten Fahne für den Festzug (Abb. 2), schüttelt die Hände des Parteisekretärs bei der Überreichung einer Auszeichnung für »Helden der sozialistischen Arbeit« (Abb. 3) und schließlich instruiert Lakner Károly wie man die Fahne zu tragen hat (Abb. 4).38 Károlys langsame und imitierende Bewegungen, seine Gesten, seine Mimik und seine kaum wahrnehmbaren Handlungen stehen im Mittelpunkt der Fotografien, gleichwohl sie von Lakner zum Zweck der optimalen Einstellung unterbrochen werden.39 Auf den ersten Blick scheinen die Inszenierungen Károlys die Beständigkeit und die ideologische Botschaft der sozialistisch-realistischen Ikonographie zu reproduzieren: heroische Darstellungen des idealen Arbeiters, des neuen sozialistischen Menschen, dessen Aufgabe darin besteht, die Utopie zur Realität werden zu lassen. Doch ein genauerer Blick könnte zu einer gegenteiligen Interpretation führen. Das gesamte fotografische Setting, Lakners Anwesenheit ›im Bild‹ als Károlys Partner, der ihm Anweisungen gibt sowie die Kommunikation der Protagonisten hinter der Kamera ironisieren und dekontextualisieren jegliches Motiv, Zeichen und Symbol der sozialistischen visuellen Kultur. Károly war nicht mehr als ein Instrument der sozialistisch-realistischen Ikonographie, die sich meist als ein leerer Rahmen erwies, der den ungarischen Nonkonformisten keinerlei Perspektive bot. Sie war die Fassade, der Schaukasten einer Welt, die nicht Realität wurde und Hindernisse anstelle von Möglichkeiten hervorbrachte. Lakner hatte sich für Károly als Modell entschieden, weil er den »[…] unfulfilled dream of communism«40 verkörperte. Die Foto-Aktionsserie Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai löst die semiotische Sprache des sozialistischen Realismus aus ihrem ursprünglichen Kontext, indem sie sie entfremdet und untergräbt: die spielerische Interaktion zwischen den Protagonisten sowie die Subversion von offiziellen Praxen der Kontrolle in einer Grauzone der Kunstproduktion. Obwohl größtenteils eine spielerische Version der performativen Fotografie, weist Károly jenseits der Anhäufung von Symbolen durchaus auf die Realität hin. Nach Lakner war die Wirklichkeit der frü38 Korrespondenz der Autorin mit László Lakner. Brief vom Künstler, 12.11.2017. 39 Lakner unterscheidet eindeutig zwischen den ›nebenbei‹ geknipsten Aufnahmen von Gadányi und seinen neun Episoden, welche ein kohärentes Konzeptwerk bilden. – Telefonat der Autorin mit László Lakner, 11.2017. 40 Fehér: »Consonants of Karl Marx«, a.a.O., S. 351.
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hen Siebzigerjahre weit entfernt von den Verheißungen eines ruhmreichen Klassenkampfes, dessen Ergebnis die Befreiung durch den Sozialismus sein sollte. In einer Fotoperformance, die propagandistische Inszenierungsmuster auf subtile Weise mit performativen Dynamiken der Bedeutungsverschiebung verband, drückte der Künstler seine Kritik am Kádár-Regime als Verrat an der sozialistischen Utopie aus. Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai kommentierte die Arbeits- und Lebensbedingungen in Ungarn – dass Lakner das Land verließ, war eine klare Antwort darauf.41 Zwei Jahre nach Lakners Foto-Aktion wandte sich der Maler Ákos Birkás ganz und gar der Fotografie zu. Zwischen 1975 und 1979 äußerte sich Birkás’ künstlerisches Schaffen in Momentaufnahmen und sorgfältig inszenierten fotografischen Settings, deren Sujets von Selbstporträts bis zur Rolle des Museums als Hochburg der Kunst reichten. Während seiner Suche nach einer (neuen) Identität als Künstler stieß er auf das Medium dieser Zeit und entschied sich bewusst für eine Neupositionierung außerhalb des politisierten Kontexts der klassischen Malerei: The problem was that painting was a language that belonged to the discourse of the official powers. Whatever you said in the language of painting somehow became a part of the ongoing dialogue between the political au thorities and the intelligentsia, simply because the cultural policy of the day accepted painting as a language. And I felt that everything turned false in the texture of this dialogue. […] I slowly realized that I would have to use a language other than painting […].42 Birkás ließ keinen Zweifel daran, dass er die politisierte Diskussion von Kultur und Kunst im Kádár-Regime verlassen wollte. Wie schon erwähnt, war nach Fehér, Heller und Márkus die Existenz einer Sphäre außerhalb der Politik in den sowjetischen Satellitenstaaten nur in einer Nische möglich, in der Verzicht, Kompromisse und strategische Entscheidungen ausgehandelt
41 Lakner wies explizit darauf hin, dass einer der Hauptgründe, weshalb er Ungarn verließ, die Unmöglichkeit der öffentlichen Präsentation seiner Arbeiten war. – Telefonat der Autorin mit László Lakner am 21.01.2018. 42 Sasvári: »Meditative Contemplation«, a.a.O., S. 14.
Die Kritik der Kamera
Abb. 5: Ákos Birkás: Selbstbildnismalen mit einer Kamera wurden. Birkás’ Fotoarbeiten sind in dieser Sphäre zu verorten. Seine performativen Fotografien blenden politische Inhalte vollkommen aus (anders als Lakner vermied er offensichtliche Symbole ideologischer Macht), doch seine Entscheidung für das Medium der Neo-Avantgarde schlechthin brachte ihm die Position eines Kritikers ein. Dies ist allerdings nur ein Aspekt von Birkás’ visueller und performativer Sprache der Kritik. In den Fotoarbeiten, die er im Ungarischen Museum der Bildenden Künste (Magyar Szépművészeti Múzeum) ansiedelte, und in seinen Selbstporträts, die die Malerei nachahmten, übernahm Birkás die Rolle eines Ermittlers, der die In-
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stitution Kunst43 (einschließlich der Kunstgeschichte44 und Kanonisierung) und die Stellung des Betrachters, in erster Linie aber die des Künstlers, innerhalb der offiziellen Rahmenbedingungen hinterfragte. Das Werk ungarischer Neoavantgardekünstler mit Kultstatus, wie Tamás Szentjóby oder Miklós Erdély, der Dichter und Performer Tibor Hajas oder der Bildhauer, Konzept- und Performancekünstler Gyula Pauer, war in kritischer Hinsicht viel suggestiver und ließ – zumindest auf den ersten Blick – Birkás’ Position vergleichsweise schwach aussehen: »Beside their radical directness, [Birkás’] approach was complicated and marginal«45. In diesem Text möchte ich vor allem auf zwei Fotoserien eingehen: Bild und Betrachter (Kép és néző, 1977-1978, 1978-1979) und Selbstbildnismalen mit einer Kamera (Önarcképfestés fényképezőgéppel, 1977-1978). Selbstbildnismalen mit einer Kamera ist eine sorgfältig inszenierte Serie von Porträts, die Birkás bei der Arbeit zeigen: Zu sehen ist der bewusste Blick in die Kamera, während er einen Pinsel und eine Farbpalette in seinen Händen hält (Abb. 5). Birkás’ Gesichtsausdruck variiert von Bild zu Bild. Die Kamera hält die Suche nach der richtigen Erscheinung fest – die Suche nach der perfekten Repräsentation der Persönlichkeit des Künstlers. Mit diesen Selbstporträts brachte Birkás die Frage der konstruierten Identität des Künstlers zum Ausdruck. Selbstbildnismalen mit einer Kamera wurde mit folgender Notiz versehen: »The painter of self-portrait glances in the mirror, then makes a brushstroke on the canvas, recording the image. A long series of glances in the mirror and acts of recording are layered in the painting. Today, when the painter uses the camera as a mirror, the glances and acts of recording turn into a series of images.«46 Miniaturhafte Akte wie Gesichtsausdruck, Gesten und winzige Veränderungen in der Haltung werden vor dem beobachtenden ›Auge‹ der Kamera ausgeführt. Die Einsamkeit des Studios – sei es die des Studios oder die des Künstlers – bietet Birkás die Möglichkeit zur Selbstkonfronta43 In einem Interview mit der Kunsthistorikerin Edit Sasvári hebt Birkás hervor, dass er mit der Fotoserie im Museum der Bildenden Künste keine primär institutionskritische Absicht verband: »[…] it wasn’t institutional critique that drove me, but rather a wish to meditate on this absurd affair of the museum. It is true, though, that the borderline be tween meditation and critique is rather blurry, especially in a world where meditation has almost become a critique in itself.« Sasvári: »Meditative Contemplation«, a.a.O., S. 41. 44 Vgl. ebd. 45 Ebd., S. 16. 46 Ebd., S. 74.
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Abb. 6: Ákos Birkás: Bild und Betrachter – Ibolya Kónya als Betrachterin tion, durchaus mit der leichten Ironie47 des selbstbewussten Malers verknüpft, der sich auf sein eigenes Talent, seine offenkundig künftige Meisterschaft verlässt. Birkás kritisiert in diesen Fotoperformanceserien den Kunstschaf47 Zur Rolle der Ironie in seinen Fotoarbeiten äußert Birkás: »I was looking for a theoretical foundation for a more independent position at the time in order to free myself from Marxist-Leninist indoctrination. It was not some anti-Marxist position or the far left critique of the realities of socialism that I needed, because these seemed too compatible with the status quo. Structuralism was something different, something quite alien to Marxism (or so I thought). It was also a little fashionable at the time, so you could even find texts in Hungarian; of course, there were plenty in foreign languages. I studied my way into it to a point, and it was inspiring and gave me really useful ideas, such as applying the basic patterns of Saussure’s theory of language to the museum. This grid only fit to a point, which resulted in shifts that occasionally generated (self-)irony. I am inclined to see this as the best part of my work -- assuming this humor is not too faint to appear to be what it is.« Ebd., S. 52.
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Abb. 7 + Abb. 8: Ákos Birkás: Bild und Betrachter – Vor Zurbarán fenden als Ikone. Diese Kritik ist höchst differenziert und die Kombination verschiedener Ausdrucksformen der Aktion, Malerei und Fotografie erzeugt eine spürbare Spannung. In der Serie Bild und Betrachter fotografierte Birkás zufällige Museumsbesucher_innen beim Betrachten der Bilder im Museum der Bildenden Künste, einmal ironisierte er sich gar selbst, indem er vor ein religiöses Bild sprang und dort niederkniete. Folgt man Zsuzsa Simon, dann waren die Siebzigerjahre die Zeit einer ernsthaften Museumskrise.48 Diese Krise bildet den eigentlichen Hintergrund für Birkás’ performative Fotografie, die sich mit der berühmten Budapester Institution auseinandersetzte. Birkás nahm jedoch eine analytische und persönliche Haltung gegenüber dem Museum der Bildenden Künste ein. Die Momentaufnahmen wurden nur scheinbar 48 »[…] the entire concept of European art museums – basically unchanged since the 19th century – founded on a traditional historical value system was now called into question. This was when the new disciplines emerging in other fields began to reach the theory and practice of museology. The non-historical approach to art in semiotics, the concept of creativity in modern art and pedagogy, the new trends of cultural sociology, and modern art itself with types of artwork defying definition with the old concepts – all of these were launching a siege against the traditional museum.« Simon: »The Museum of Fine Arts as a Model of Art«, a.a.O., S. 32.
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zufällig ausgewählt – ihnen zugrunde liegt ein klares Konzept: das Einfangen eines Ereignisses, eines in Echtzeit ablaufenden Prozesses, überführt in eine Komposition konzeptioneller Kunst. So zeigen etwa Bild und Betrachter 2-3 (Abb. 6) und Bild und Betrachter 4 jeweils einen Besucher, der ein Gemälde aus nächster Nähe betrachtet. Birkás’ Kameraposition lässt sie in die Meisterwerke eintauchen – es scheint, als würden sich die Betrachter in das Kunstwerk stürzen und mit ihm verschmelzen. Der dreidimensionale Akt des Verharrens in der Beobachtung wird komprimiert auf das Zweidimensionale des fotografischen Abbildes. Die Serie Bild und Betrachter stellt wohl die Frage, was ein Kunstwerk zu einem solchen macht und worin der Beitrag des Museumsbesuchers zu diesem Prozess der (kunsthistorischen, kanonisierenden) Transformation besteht. Zu den provokantesten Teilen der Serie zählen die, in denen Birkás selbst der Protagonist der Kunstbetrachtung ist. Einmal blickt der Künstler von einer aufrechten, springenden Position aus auf eine Heiligenfigur (Bild und Betrachter 5, Abb. 7), einmal von einer knienden, anbetenden Position aus (Bild und Betrachter 6, Abb. 8). Dieses Mal ist es nicht der Laie, der ein Kunstwerk betrachtet, sondern der Künstler selbst. Während die erste Fotografie auf eine verschwommene, sich schnell bewegende Figur in einer unklaren körperlichen Position hindeutet, in der man den identitätssuchenden Birkás erkennen könnte, deutet die zweite Fotografie auf die Ohnmacht eines gegenüber den Mächten der Kunstdiskurse, des Kanons und der Institutionen hilf losen Künstlers. Besonders Bild und Betrachter 6 stellt die ironisch ausgelieferte Position der Kunstschaffenden und das System aus, in das sie eingeschlossen sind. Mit der performativen Fotografie fand Birkás ein kreatives Instrument, um einen kritischen Kommentar zur ›großartigen‹ Kunstproduktion innerhalb, aber auch jenseits von Kádárs real existierendem Sozialismus zu hinterlassen. Birkás bestand auf der Feststellung, dass seine Kunst niemals Teil des Marxismus oder des existierenden Regimes sein sollte: Er wollte den Eindruck erwecken, dass die Fotoarbeiten aus einem freiheitlichen Kontext resultierten.49 Aber liefert nicht gerade diese abstreitende Haltung, dieser Gestus der Verweigerung einen Hinweis darauf, in welchem Rahmen Kritik hier überhaupt möglich war? Dieser Essay beschäftigte sich mit zwei Künstlern, die von der Malerei kommend ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Medium der Fotografie 49 Sasvári: »Ist es ein Gebäude oder ein Weg?«, a.a.O., S. 125.
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und deren performativen Einsatz lenkten, indem sie – jenseits der Ebene der Darstellung – ein Interesse an der Sichtbarmachung von Produktions- und Rezeptionskonventionen bekundet haben. Obwohl sie sich von der visuellen Kunst nie ganz losgelöst haben, fanden sie doch eine inspirierende Möglichkeit, sie herauszufordern, indem sie Fotografie, konzeptuelle und ereignisbasierte Kunst miteinander kombinierten und die Kamera gleichsam als Gefährtin und Protagonistin ihrer Kunst im Ungarn der Siebzigerjahre ansahen. Sowohl László Lakner als auch Ákos Birkás praktizierten performative Fotografie als eine Form der Kritik. Lakner rekontextualisierte und untergrub die Ikonographie einer kontrollierten visuellen Kultur, während Birkás sich selbst von der ästhetischen Sprache der Machthaber distanzierte, indem er entscheidende Fragen der Kunst untersuchte. Ihre bemerkenswerte Praxis der Kritik ist ein Beitrag zu einem differenzierteren Verständnis der prozessbedingten Tendenzen jenseits des Eisernen Vorhangs. Aus dem Englischen von Astrid Hackel
Abbildungsverzeichnis Abb. 1. László Lakner: 2. Die erste Zigarette, aus: László Lakner, Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai, 1973. Fotografie: György Gadányi. Abb. 2. László Lakner: 7. Károly übt das Tragen der roten Fahne für den Festzug, aus: László Lakner, Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai, 1973. Fotografie: György Gadányi. Abb. 3. László Lakner: 8. Károly schüttelt die Hände des Parteisekretärs bei der Überreichung einer Auszeichnung für »Helden der sozialistischen Arbeit«, aus: László Lakner, Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai, 1973. Fotografie: György Gadányi. Abb. 4. László Lakner: 9. László Lakner instruiert Károly wie man die Fahne zu tragen hat, aus: László Lakner, Károly. Feiertag eines ungarischen Arbeiters im Sozialismus: Der erste Mai, 1973. Fotografie: György Gadányi. Abb. 5. Ákos Birkás: Selbstbildnismalen mit einer Kamera, 1977-78, 1/01/7. Bildgröße: 417 x 296 mm. Abb. 6. Ákos Birkás: Bild und Betrachter – Ibolya Kónya als Betrachterin, 1978, 14/A, B/23. Bildgröße (A und B): 93 x 132 mm.
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Abb. 7. Ákos Birkás: Bild und Betrachter – Vor Zurbarán, 5/13, 1978-79. Bildgröße: 277 x 206 mm. Abb. 8. Ákos Birkás: Bild und Betrachter – Vor Zurbarán, 7/13, 1978-79. Bildgröße: 296 x 210 mm.
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Eine Frage der Entscheidung Politische Performancekunst im sozialistischen Jugoslawien Jasmina Tumbas
1 Einleitung Die sozialistische föderative Republik Jugoslawien (1945-1992) stellt in ihren politischen Widersprüchen eine der faszinierendsten Phasen des Sozialismus im 20. Jahrhundert dar. Unter allen sozialistischen Ländern war Jugoslawien das Land, das während des Kalten Krieges politisch am meisten dem Westen zugewandt war, und es wurde ein Ort, an dem unter der Vorherrschaft marxistischer Maximen neue Strömungen der Avantgarde-Kunst f lorierten. Performance- und Konzept-Künstler_innen sowie Kunstkollektive – Joseph Beuys, Ana Mendieta, Gina Pane, Carolee Schneemann und Art & Language eingeschlossen – fanden dort offene Räume für die Erkundung der Politiken und Ästhetiken ihrer Arbeiten. Marschall Josip Broz Tito, der von vielen Historikerinnen und Historikern nach wie vor als der wohlwollendste Diktator Osteuropas angesehen wird, unterstützte die Künste und eröffnete in den Republiken zahlreiche Studentische Kulturzentren, die Räume für Experimente und den internationalen Austausch zwischen Künstler_innen erlaubten. Tatsächlich waren es diese Räume, die den Beginn der internationalen Karrieren von Marina Abramović und Sanja Iveković förderten und die demnach auf tiefgreifende Weise die Geschichte von Performance, von konzeptueller und feministischer Kunst über die jeweiligen Republiken Serbien und Kroatien hinaus beeinf lussten – ja sogar weit über Jugoslawien selbst hinaus. Trotz der tragenden Bedeutung dieser Experimente, die durch die sehr spezifischen Bedingungen in Jugoslawien ermöglicht wurden, halten Kunstgeschichten dieser Zeit an einer Dichotomie von Ost und West fest, an dem
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gängigen Narrativ eines unterdrückten und militarisierten Osteuropas, dem ein offener und demokratischer Westen gegenüberstand. Wie können wir mittels der Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler aus dem ehemaligen Jugoslawien neu beurteilen, was ›Totalitarismus‹ damals bedeutete und was wir heute darunter verstehen? Dieser Essay richtet den Blick auf die Auseinandersetzung der Künstler_ innen mit tabuisierten Begehren und argumentiert dafür, dass der Fokus auf Sexualität sich auf eine besondere Politisierung gründete, die mit der einzigartigen Ausprägung des Sozialismus in Jugoslawien in Zusammenhang steht. Verwurzelt in den Lehren und den utopischen Potenzialen des jugoslawischen Staates, bedeutete diese Politisierung einen Appell für die Freiheit künstlerischen Ausdrucks, eine Forderung, die sowohl kritisch dem autoritären Staat gegenüber stand als auch mit den sozialistischen Idealen tief verbunden war. Jugoslawische Künstler_innen zeigten einerseits großen Respekt für Tito und seinem jugoslawischen Staat, andererseits rebellierten sie gegen diese. Das Leitargument dieses Essays ist, dass die Arbeiten dieser Künstler_innen dabei halfen, politische Widersprüche innerhalb des jugoslawischen sozialistischen Projekts zu vermitteln, im Besonderen in ihrem Nachdenken über den Begriff der ›Entscheidung‹, oder Wahl, der zentral war für die Konzeptionalisierung und Ausführung des Widerstands gegen den Staat. Die jugoslawischen Künstlerinnen und Künstler, die in diesem Essay diskutiert werden, waren auf vielfältige Weise künstlerisch tätig und entwickelten subtile Modalitäten ethischen Engagements unter den besonderen Umständen ihrer Zeit. Osteuropäische Kunst wird gewöhnlich mit dem Fokus auf die staatliche Repression analysiert und mein Text stellt dahingehend keine Ausnahme dar. Ich nähere mich jedoch der autoritären Herrschaft auch im Kontext der ästhetischen Determinationen der Künstler_innen und vertrete die These, dass der Schwerpunkt auf Genderpolitik und Sexualität in der Konzept- und Performancekunst als eine Form der Opposition verstanden werden muss. Wie ihre internationalen Kolleginnen und Kollegen wurden die Künstlerinnen und Künstler in Jugoslawien von der 68er-›Revolte‹ zu Protesten inspiriert, die die Philosophin und Literaturkritikerin Julia Kristeva beschrieben hat als ein »gewaltsames Begehren, die Normen zu erschüttern, die das Private wie das Öffentliche, das Intime ebenso wie das Soziale regieren; ein
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Begehren, neue, und immer von neuem anfechtbare Konfigurationen zu artikulieren«1. Solche ›anfechtbaren Konfigurationen‹ [contestable configurations] könnten in Jugoslawien als Repräsentationen einer zweiten Öffentlichkeit verstanden werden, die bestimmt wurden durch die privaten, wenngleich politischen Entscheidungen von in der Öffentlichkeit situierten Künstler_innen. Wie stellten die Performances und konzeptuellen Arbeiten dieser Künstler_innen die Spaltung zwischen dem Intimen und dem Sozialen in der Ausprägung des Sozialismus in Jugoslawien in Frage? Meine Argumentation wird die These verfolgen, dass die für diesen Essay gewählten Künstler_innen daran interessiert waren, die Sphäre des Intimen – in der Auseinandersetzung mit Normen des Geschlechts und der Sexualität – auf die Ebene des Sozialen und Politischen zu heben. Durch die Fokussierung der Fragen von Gender und Sexualität in meiner Analyse argumentiere ich dafür, dass das Experimentieren dieser Künstler_innen mit ihren eigenen Körpern wie auch denen der Anderen politische Akte darstellten, als ob sie sich feierlich den Worten Walter Benjamins versprochen hätten: »Wir haben aus dem Dasein unserer Eltern zu erwachen«2, oder vielleicht, ›wir müssen auf hören, in den Betten unserer Eltern zu schlafen‹. Michael Hardts und Antonio Negris Theoretisierung der Menge verhandelt die zeitgenössischen Möglichkeiten des Widerstandes sowie der Wiederkunft des Gemeinsamen, das sie als »die Fleischwerdung, die Produktion und die Befreiung der Menge«3 definieren. Die Frage nach dem Treffen von Entscheidungen bildet das Zentrum ihres Arguments für eine solche Möglichkeit. Sie begreifen das Treffen von Entscheidungen als einen »Akt der Liebe«, eine »Entscheidung […] eine neue Menschheit zu schaffen«4, eine Menschheit, die aus »dem ontologischen und sozialen Prozess produktiver 1 Julia Kristeva: »Revolt, She Said. An Interview by Philippe Petit«, in: Sylvère Lotringer (Hg.): Semiotext(e). Foreign Agents Series, Cambridge, Mass.; London 2002, S. 12. 2 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Rolf Tiedermann (Hg.): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften V.1, Frankfurt 1982, S. 1214. Susan Buck-Morss hat mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht. Vgl. Susan Buck-Morss: Dreamworld and Catastrophe. The Passing of Mass Utopia in East and West, Cambridge, Mass. 2002. 3 Michael Hardt und Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt; New York 2002, S. 314. 4 Michael Hardt und Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt; New York 2004, S. 391.
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Arbeit«5 emergieren könnte. Darüber hinaus behaupten sie, dass eine solche Entscheidung »eine institutionelle Form [ist], die einen gemeinsamen Inhalt entwickelt; sie ist die Einsetzung einer Kraft, die den historischen Fortschritt von Emanzipation und Befreiung verteidigt; kurz: sie ist ein Akt der Liebe«6. Michel Foucault, der einen solchen Standpunkt vorweggenommen hat, vermerkte bereits 1979 in »Nutzlos sich zu erheben« (»Inutile de se soulever«), dass auf dem Weg der Erhebung »Subjektivität […] in die Geschichte [gelangt] und […] ihr Leben [einhaucht]«7. Und des Weiteren beobachtete er in diesem Kommentar zur Frage der Positionierung zur Iranischen Revolution, dass die Erhebung »eine einfache Wahl« ist, »die aber mühsame Arbeit bedeutet«8. Ich werde erörtern, dass solche einfachen Entscheidungen die Öffnung einer semi-autonomen Sphäre nach sich gezogen haben, in der Kristevas »anfechtbare Konfigurationen« [»contestable configurations«] möglich und wahrscheinlich wurden. Einige mögen meine Überzeugung vom Treffen-von-Entscheidungenals-Kunst-im-Leben für zu idealistisch, nicht länger möglich, retrograd, oder gar naiv erachten – besonders im Licht postmoderner Theorien der Unentscheidbarkeit, des Todes des Autors und des damit einhergehenden Todes der Biographie, wie auch angesichts der Emphase des Marxismus nach dem Zweiten Weltkrieg auf Ideologie als einer Struktur, die jeden Aspekt des Lebens formt; oder angesichts des zeitgenössischen Zugriffs auf die positiven Aspekte des Sozialismus, eines Zugriffs, der mit der sich weiter durchsetzenden Ansicht in Verbindung steht, dass der staatliche Sozialismus ›alles in allem nicht so schlecht gewesen sei‹. Diese letztere, emotionale Beurteilung speist das Wiederauf leben des Marxismus im Kontext der gegenwärtigen Invasion des Privaten, der umfassenden Repression studentischer Revolten, der extremen Armut, der Korruption in Regierungen und Unternehmen, des Rassismus und der Gender-Ungleichheiten wie auch der Medienkontrolle, die von verschiedenen kapitalistischen Demokratien des 20. und 21. Jahrhunderts ausgeübt wird. Nichtsdestotrotz leben wir paradoxer Weise in einer Zeit, in der der Begriff ›Widerstand‹ in der zeitgenössischen 5 Ebd., S. 386. 6 Ebd. 7 Michel Foucault: »Nutzlos sich zu erheben«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III (1976-1979), Frankfurt a.M. 2003, S. 987-992, hier: S 991. 8 Ebd., S. 992.
Eine Frage der Entscheidung
Kunst vermehrt in Umlauf gekommen ist und in der der starke Zuwachs globaler Biennalen regelmäßig Ausschreibungen von Projekten einschließt, die soziale Verhältnisse lokal und international kritisieren. Demnach könnte die Frage danach, welche Funktion Kunst im Rahmen der Adressierung repressiver Politik innehaben kann, nicht akuter sein, und es ist besonders frappierend, dass viele Beispiele, die diesen Band durchziehen, aus den letzten drei bis fünf Dekaden und aus Ost- und Zentral-Europa stammen.
2 Gewaltsame Maskulinitäten in der Kunst und im Staat: Raša Todosijević Derjenige Künstler, dessen Arbeit vielleicht am besten die ›anfechtbaren Konfigurationen‹ Kristevas umgreift, war Raša Todosijević, der als eine Leitfigur der Gruppe der ›Sechs Autoren‹ im Studentischen Kulturzentrum (SKZ) Belgrads fungierte. Das SKZ in Belgrad erlangte fast unmittelbar nach seiner Gründung international Bekanntheit für die dort präsentierten konzeptuellen Installationen und Performanceaktionen. Tito gründete das SKZ im Jahre 1968. Als einer der ehemaligen Anführer der jugoslawischen Partisanen während des Zweiten Weltkrieges – einer Gruppe, die als Europas effektivste anti-nazistische Widerstandsbewegung angesehen wird –, führte Tito das Land von 1945 bis 1980. Er wurde der erste Präsident Jugoslawiens, ein Diktator, der weithin bekannt war als der wohlwollendste der osteuropäischen Autokraten. Die Gründung des SKZ fiel in die Zeit, die als seine »sanfte Diktatur« benannt wurde, und viele interpretierten seine Unterstützung für das SKZ als ein manipulatives Vorgehen, die frustrierte 1968-Gegenkultur zu zähmen – besonders deshalb, weil sich dieses neue Kulturzentrum in den ehemaligen Hauptquartieren der jugoslawischen Geheimpolizei befand, die ohne Zweifel noch zu Überwachungszwecken verkabelt waren.9 Nichtsdestotrotz wurde das SKZ, ebenso wie die studentischen Kulturzentren in Zagreb und Novi Sad, zu einem Zentrum für politisch aufgeladene und experimentelle Kunst in Jugoslawien, wo die indirekte und symbolische Kritik der Künstler_innen 9 Vgl. Roxana Marcoci: »Art in Transitional Times, Post-1945, 1968, and 2000 in the Former Yugoslavia«, in: dies. (Hg.): Sanja Iveković: Sweet Violence, New York 2012, S. 9-33, insbesondere: S. 19.
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am Staat »einige der [radikalsten]«10 Kunstwerke Osteuropas hervorbrachte. Die informelle Gruppe der ›Sechs Autoren‹ am SKZ bestand aus akademisch ausgebildeten Künstler_innen, die nach Formen des künstlerischen Ausdrucks strebten, die abwichen vom Sozialistischen Modernismus, wie er an der Universität in Belgrad gelehrt wurde. Der deutsche Filmemacher Lutz Becker fing in seinem Film Kino Beleške (Film-Notizen) die Innovation konzeptueller Kunst und Performancekunst ein, die den Körper als künstlerisches Medium im Zentrum der Kunst lokalisierte und eine radikale Atmosphäre experimentellen künstlerischen Schaffens in Belgrad kreierte.11 Zu den Bedingungen, unter denen der Film 1975 entstand, bemerkte Becker, dass »das Operieren in einem Bereich limitierter Toleranz und öffentlicher Indifferenz« eine gewisse »Energie und internalisierte Aggression«12 befeuerte, die für diese Aufwertung des Künstler_innenkörpers fundamental war. Die Frustrationen der Künstler_innen wegen der vorgeblichen Reisefreiheit, neben der gleichzeitigen Repression von Unabhängigkeit und kritischem Denken im Land, steigerte deren Aggression gegenüber dem System, das die Idee eines unabhängigen Sozialismus für das Volk propagierte, welches aktiv an der Bildung und der Langlebigkeit des sozialistischen Staates partizipieren sollte. Der Umstand, dass Tito mit dem ›roten Pass‹ die Grenzen lockerte – ein Pass, der es den Bürger_innen gestattete, in den Westen zu reisen, – schien mehr als vielversprechend und viele Künstler_innen profitierten von dieser Aussicht, die im Kontext des osteuropäischen Staatsso-
10 Ebd. 11 Lutz Becker hatte seinen Film Kunst und Revolution 1973 am SKZ gezeigt, der dort ein großes Publikum anzog und ein wichtiger Gegenstand der Diskussion wurde. Zwei Jahre später kehrte Becker zurück, um seinen Film über die Künstlerinnen und Künstler des SKZ zu machen. Siehe Lutz Becker (Produzent/Regisseur), Kino Beleške (Film Notes), 16mm s&w, 45 min. Mit: Zoran Popović (Assistent); Dragomir Zupanc and Dunja Blažević (Projektleitung), 1975. Folgende Personen partizipierten: Dunja Blažević, Dragomir Zupanc, Jasna Tijardović, Raša Todosijević, Biljana Tomić, Ješa Denegri, Goran Djordević, Marina Abramović, Slavko Timotijević, Bojana Pejić, Neša Paripović, Goran Trbuljak und Zoran Popović. Eine Kopie dieses Films kann im SKZ-Archiv in Belgrad gesichtet werden. 12 Lutz Becker: »Art for an Avant-Garde Society Belgrade in the 1970s«, in: IRWIN (Hg.): East Art Map: Contemporary At and Eastern Europe, Cambridge, Mass. 2006, S. 390-400, hier: S. 393.
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zialismus einzigartig und singulär war.13 Wie jedoch Slavko Timotijević, Kurator und Kunstkritiker am SKZ, ausführte, öffnete Tito die Grenzen, »um sich selbst vom schrecklichen sozialen [und internationalen] Druck zu befreien« und um einen einzigartig »aufgeklärten Kommunismus (d.h. sanften Totalitarismus)«14 im Ostblock zu kreieren. Diese Form des Sozialismus aber nutzte »verborgene Strategien und eine Methodologie der Macht und plante eine totale Kontrolle, die in die Decke von Arbeiterselbstverwaltung, Demokratie und scheinbarer Bürgerfreiheit gehüllt war«15. Rasa Todosijević, der sehr gut wusste, dass solch eine Bürgerfreiheit nichts als eine Farce war, produzierte Arbeiten, die sich unter seinem Grundsatz zusammenfassen ließen: »Unser alleiniger Schatz sind unsere Körper und unsere Ideen.«16 Todosijević sah den Körper und sein Subjekt, das Selbst, als den primären Initiator der Kunst und er war der Überzeugung, dass »die Weise, auf die ein Künstler eine Frage stellt, ein Kunstwerk ist«17. In der Performance Kunst und Erinnerung (Umetnost i Memorija), die am SKZ gezeigt wurde, verbrachte Todosijević vier Stunden damit, aus dem Gedächtnis alle ihm bekannte Namen von Künstler_innen zu rezitieren. Er begann mit denen aus Sumerien, Assyrien, Babylonien und Ägypten bis hin zum zwölften Jahrhundert und fügte sich selbst zu dieser chronologischen Liste hinzu. Todosijević erschien mit einem Schal, der seinen Mund bedeckte, und sah dadurch aus wie das ikonische Bild »[eines] Terroristen, der im Fernsehen seine Forderungen verkündet«18. An jenem Moment der Geschichte rief eine solche Darstellung Erinnerungen an linke Guerilla-Gruppen wie die italienische Rote Brigade und die deutsche Rote Armee Fraktion wach, die sich nur wenige Jahre zuvor formiert hatten. Sie wurden von der Neuen Linken nach den 1968er-Protesten sowohl mit Kritik bedacht als auch unterstützt, während diese Gruppen zur gleichen Zeit von Regierungen und Medien für ihre Gewalt verdammt wurden. Durch seine intendierte Erschei13 Vgl. Slavko Timotijević: »Shortcuts through Serbian Contemporary Art History«, in: Remek Dela Savremene Umetnosti U Srbiji od 1968. Do Danas/Masterpieces of Contemporary Art in Serbia from 1968 until Today, Novi Sad 2005, S. 5-15, insbesondere: S. 9. 14 Ebd., S. 9. 15 Ebd. 16 Todosijević zitiert nach Dejan Sretenović: Was ist Kunst? Art As Social Practice, Belgrade 2001, S. 27. 17 Ebd., S. 26. 18 Ebd., S. 32.
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nung als vorgeblicher revolutionärer Terrorist stellte Todosijević sich selbst hinter den Ausgestoßenen, der nach der Einforderung von Veränderung revoltiert. Abgesehen von der Situierung seiner Kunst innerhalb der Kontinuität des Revolutionärs durch die Geschichte hindurch, führten die Performance und das Foto von Todosijevićs Rezitation dazu, dass seine Kunst sich als ein Bild in der Kunstgeschichte validierte. Indem er so auf die Konstruktion von Kunstgeschichte durch Kanonisierung hindeutete, hob Todosijević auch hervor, wie diese Geschichte innerhalb gegebener politischer Kontexte ausgelöscht und verhindert wird, in seinem Falle durch die sozialistische Rahmung Jugoslawiens: eine Rahmung, die im Gegensatz zum Rest des Ostblocks den sozialistischen Modernismus vor den sozialistischen Realismus stellte. In seiner Performance Edinbugh Statement: Wer profitiert von der Kunst und wer verdient ehrlich da ran? (Edinburška Izjava. Ko profitira od umetnosti, a ko pošteno zarađuje?, 1975) zählte Todosijević – wiederum bedeckte ein Schal seinen Mund – akribisch alle Menschen und Institutionen auf, die »vom Guten und Schlechten in der Kunst profitieren«, die »Betriebe, die die für die Künstler notwendigen Materialien produzieren«, »Firmen, die die Materialien verkaufen«, gemeinsam mit »ihren Arbeitern, Angestellten, ihrem Verkaufspersonal«, »Galeristen«, »Feuer-Inspekteure« und »Pförtner«. Die Liste setzt sich über mehrere Seiten hin fort und endet damit, dass der Künstler »minderwertige Politiker« adressiert, »die […] durch Verwandte, Freunde und Verbindungen […] Künstler einer Gehirnwäsche unterziehen [während] sie genug Geld für zwei Lebensspannen machen«19. Text und Handlung Todosijevićs nahmen das vorweg, was später als Institutionskritik bekannt werden sollte und heute noch von Relevanz ist. Seine Performance fand anlässlich der Ausstellung ASPEKTE 75ʼ Zeitgenössische Jugoslawische Kunst in Edinburgh statt, die vom Impresario Richard Demarco organisiert wurde – einer wegweisenden Person, die osteuropäische experimentelle Kunst in einen internationalen Kunstkontext gesetzt hat. Todosijević adressierte sowohl den Osten als auch den Westen und bezog ebenso seine eigene Komplizenschaft mit der Kunstindustrie ein wie auch die anderer Künstler_innen. Eine solche Institutionskritik war für die Performance- wie auch die Konzeptkunst dieser Zeit zentral und der 19 Raša Todosijević: »Edinburgh statement: Who is making profit on art and who is earning honestly«, in: Tom Marioni: Vision, Eastern Europe, Nr. 2, Oakland 1976, S. 32-34.
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Abb. 1: Raša Todosijević: Wasser trinken Konzept-und Performance-Künstler Tom Marioni aus San Francisco veröffentlichte Todosijevićs Text 1976 in einer Sonderausgabe seiner Zeitschrift VISION, die von der renommierten Crown Point Press in Oakland verlegt wurde. Diese grundlegende Veröffentlichung zu Osteuropa beschäftigte sich mit den aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und Jugoslawien stammenden Künstler_innen, die in den Bereichen der konzeptuellen Kunst, Performance und der Land-Art arbeiteten. Sie spielte eine bedeutende Rolle dabei, eine ganze Generation von Künstler_innen wie Wissenschaftler_innen über die osteuropäische experimentelle Kunst zu informieren – und nichts Vergleichbares wurde je in New York publiziert.20 Nichtsdestotrotz darf nicht vergessen werden, dass für osteuropäische Künstler_innen kein Markt bestand (weder im Osten noch im Westen), besonders für Konzept- und Performancekünstler_innen wie Todosijević, 20 Vgl. ebd.
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deren Ablehnung durch ein verzerrtes Programm der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien noch befeuert wurde. Als der Künstler 1974 an den berühmten ›April-Meetings für Erweiterte Medien‹ teilnahm, die Dunja Blažević am SKZ in Belgrad organisierte, zeigte Todosijević Wasser trinken (Pijene Vode, Abb. 1), eine der kraftvollsten Erkundungen von Genderpolitik in der damaligen jugoslawischen alternativen Szene. Diese Arbeit wurde auch von international so bekannten Künstlern wie Joseph Beuys gesehen, der an diesem ›April-Meeting‹ teilnahm und der bereits bei Richard Demarcos Edinburgh Festival 1973 Künstler des SKZ getroffen und deren Performances verfolgt hatte. Todosijević präsentierte dort schneidende Angriffe auf sein eigenes Geschlecht, indem er übertriebene autoritäre Männlichkeiten exponierte und diese mit der Weiblichkeit eines anderen Körpers, desjenigen seiner Ehefrau Marinela Koželj, kollidieren ließ. Bärtig und mit freiem Oberkörper ergriff Todosijević einen Karpfen, der »1 Kilo und 200 g« wog und »warf ihn vor das Publikum«. Ein großes weißes Brett, das mit in schwarzen Großbuchstaben geschriebenen Worten und Sätzen wie »PRESUMPTION ABOUT ART« und »DECISION AS ART« versehen war, diente als Hintergrund für diese Aktion. Über einen Zeitraum von 35 Minuten trank Todosijević 26 Gläser Wasser und versuchte, »den Rhythmus des Schluckens mit dem Rhythmus des sterbenden, auf dem Boden atmenden Fisches zu harmonisieren«21. Während der Fisch, der zum Atmen Wasser braucht, um sein Leben schnappte, trank Todosijević Wasser und ließ das Tempo seiner Anstrengungen zu schlucken dem Tempo der Versuche des Tiers zu atmen folgen. Dies führte alsbald dazu, dass Todosijević Wasser erbrach und nach Sauerstoff schnappte. Im Vorfeld der Performance hatte Todosijević puderförmigen violetten Farbstoff auf der Tischdecke verstreut, die den Tisch bedeckte, an dem er sitzend das Wasser zu sich nahm. Der Farbstoff verfärbte die weiße Decke, als er mit Wasser und Erbrochenem gesättigt wurde.22 Todosijević setzte seine Aktion fort, bis beinahe die ganze Tischdecke bef leckt vom violetten Farbstoff war und der Fisch starb.23 Marinela Koželj saß während der Aktion mit stoischem Ausdruck neben ihm.
21 Todosijević zitiert nach Sretenović: Was ist Kunst?, a.a.O., S. 59. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd.
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Zwei wesentliche Themen der komplexen Kunst Todosijevićs sind entscheidend, um diese Aktion zu verstehen: die Frage der Religion und ihrer Beziehung zu Kunst und Politik sowie die klassische Position des männlichen Künstlers als Täter. Friedrich Nietzsches Ausspruch »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!«24 hallt nach in Todosijevićs Tötung des Fisches, der als Christussymbol verstanden werden kann. Nietzsche zufolge hat Gott keinen Platz in der modernen Gesellschaft und diese Gesellschaft hat seine Vernichtung verursacht. Im Anschluss fragt Nietzsche: »Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?«25 Diesen Kontext vorausgesetzt frage ich, ob man Todosijevićs Performance als einen Kommentar des Verlassenwerdens von Gott und seines darauffolgenden Schweigens in der sozialistischen und, weiter gefasst, modernen Gesellschaft verstehen kann.26 Hinzu kommt, dass Todosijevićs Entscheidung, den Fisch als Kunst zu töten, als Neuinszenierung von Nietzsches Idee verstanden werden könnte, dass der Künstler der Wahrheit des Lebens am nächsten kommt, und indem er dem Fisch das Leben nimmt, Gottes Platz einnimmt – oder Gott imitiert. Todosijević unterstrich diesen religiös-philosophischen Kontext durch den Gebrauch der Farbe Violett, die eine der sechs originalen liturgischen, in der östlichen Orthodoxen Kirche gebrauchten Farben ist (die anderen sind Weiß, Grün, Rot, Blau und Gold), gefolgt von schwarzer Kleidung und an einigen Orten auch Rot-Orange oder Rost. Unter dem staatlichen Sozialismus verwandelten solche Konstruktionen das Studio oder einen alternativen Kunstraum (wie das SKZ) in einen Kultusraum, eine Sphäre der zweiten Öffentlichkeit, in der der Künstler mit der Aura eines Priesters ausgestattet war und gar als Heiler fungierte.27 Zudem mythologisierte der Totalitarismus den osteuropäischen männlichen 24 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a.M.; Leipzig 1982, S. 138. 25 Ebd. 26 Die fünf griechischen Buchstaben, die das berühmte ›Ichthys‹ bilden, stehen für ›Iesous Christos Theou Yios Soter‹, was ›Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser‹ bedeutet. Diese Definition ist der »Catholic Encyclopedia« entnommen, in New Advent, verfügbar über www. newadvent.org/cathen/06083a.htm (letzter Zugriff: 29.06.2017). 27 Loránd Hegyi diskutierte dieses Phänomen im zentraleuropäischen Kontext und bemerkte: »Die Undurchführbarkeit des Ausdrucks radikaler Avantgarde-Strategien im öffentlichen Raum führten zu dem Mythos der Avantgarde als Opfer, verbunden mit dem Kult, der einer geheimen und geächteten mysteriösen Religion folgte, die nur im Untergrund überleben konnte.« Loránd Hegyi: »Central Europe as a Hypothesis and a Way of
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Künstler als Genius, wie die serbische Kuratorin und Kunstkritikerin Jelena Vesić in ihrer Einleitung zu PRELOMs Ausstellung SKZ in ŠKUC: Der Fall des Studentischen Kulturzentrums in den 1970ern feststellte. Sie schrieb, dass »›kritische Kunst‹, die innerhalb des sozialistischen Staates geschaffen wird, nur die Repräsentation eines individuellen Rebells in einer totalitären Gesellschaft sein kann, der stereotypisch durch den mageren Körper des [männlichen] Performers im dunklen alternativen (Kunst-)Raum repräsentiert wird«28. Todosijević verkörperte jeden Aspekt dieses Mythos, einschließlich der Positionierung einer Frau, Marinela Koželj, in der passiven Rolle von Beobachterin und Beobachteter. In Wasser trinken platzierte Todosijević auch strategisch die fügsame Koželj vor dem rechten, mit Sätzen und Namen versehenen Brett: DECISION AS ART, R. MUTT – 1917; DISINFECTION 1974; MARINELA; JOSEPHINE BEUYS; T.D. RASA. Akkurat gekleidet und ruhig bot Koželj eine visuelle Manifestation von Balance und Vernunft dar, in starkem Kontrast zu dem sich erbrechenden gottgleichen Künstler und dem sterbenden Fisch. Zuschauer_ innen konnten Trost finden in Koželjs Personifizierung der Norm (sitzend, ruhig, bekleidet), aber sich auch einfühlen in ihre schmerzhafte Position als Zeugin, deren Intervention verhindert ist. Sie war die konkrete Manifestation der »Stabilität« in Todosijevićs Kampf und dessen »Desinfektion«. Unter eben diesen Kategorien begriff Todosijević nämlich das Werk Marcel Duchamps; darunter fällt, dass dieser 1913 das Konzept des Readymade mit dem Fahrrad-Rad initiierte oder 1917 ein Urinal mit ›R. Mutt‹ signierte. In der Tat wurde Todosijevićs Verpf lichtetsein gegenüber Duchamp – und vielleicht sogar gegenüber dessen weiblichem Double, Rrose Sélavy – bereits zwei Jahre zuvor evident, als er Marinela in Drangularium ausstellte, der ersten Ausstellung des SKZ (die 1972 ebenfalls von Blažević kuratiert wurde). Der Künstler war inspiriert vom Schwerpunkt der Arte Povera auf objets trouvés, Marinela repräsentierte genau solch ein Objekt und sie wurde ein fester Bestandteil der meisten frühen Aktionen Todosijevićs, Wasser trinken eingeschlossen. Todosijević setzte sie dazu ein, die Absenz von KünstLife«, in: ders. et al. (Hg): Aspects/Positions: 50 Years of Art in Central Europe. Vienna 1999, S. 9-42, hier: S. 32. 28 Jelena Vesić: »›New Artistic Practice‹ in Former Yugoslavia: From Leftist Critique of Socialist Bureaucracy to the Post-Communist Artifact in Neo-Liberal Institution Art«, in: Prelom kolektiv and ŠKUC Gallery (Hg.): SKC in ŠKUC: The Case of Students’ Cultural Centre in 1970s: SKC and Political Practices of Art, Ljubljana 2008, S. 4-5, hier: S. 4.
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lerinnen im SKZ-Ausstellungsraum und, weiter gefasst, deren Absenz in der Kunstgeschichte auszufüllen, während er sie zugleich objektivierte. In dieser Hinsicht fordert Todosijevićs Kampf mit dem Wasser zu einer feministischen Revision heraus. In ihrem Buch Marine Lover of Friedrich Nietzsche begann die französische feministische Philosophin Luce Irigaray damit, zu untersuchen, wie Wasser als eine unkontrollierbare und unmessbare Substanz – dem Schweigen Gottes ähnlich – stets durch die phallische Emphase der Solidarität und der Eingrenzung verstanden worden ist, getrieben von einer Angst vor Fluidität, d.h. der Angst vor Frauen. »Aber ich wünsche nicht länger, in dich zurückzukehren«, schrieb Irigaray an Nietzsche in Marine Lover. »Sobald ich im Innern bin, erbrichst du mich wieder.«29 Die Einsichten Irigarays helfen dabei hervorzuheben, dass Todosijević in seiner Kunstaktion durch den Konsum und die Selbstausspülung mit Wasser die patriarchale Unmöglichkeit signifiziert, die Erfahrungen von Frauen zu verstehen. Seine Entscheidung, dem Tod als Kunst zu begegnen und gottgleich zu werden, korrespondiert mit Irigarays Anruf an Nietzsche: »Und was für ein Kampf, den die unmögliche Wahl in dir führt. Nur einer zu sein oder nicht zu sein, ist das nicht immer noch dein Dilemma? Und du hast keine andere Grammatik erfunden als diejenige, die die Götter hervorbringt – das macht dich zum Gott.«30 Todosijević verkörperte diese »unmögliche Wahl«, indem er das Weibliche als Zeuge aufrief, dessen Sensitivität seine Gewalt schlichtet, Annahmen über Kunst desinfiziert und den männlichen Künstler dazu inspiriert, sich selbst zu feminisieren in den multiplen Formen von dem, was Todosijević in seinem Wandtext als ›Josephine Beuys‹ (die anima Joseph Beuys’)31, Marcel Duchamp (gedoubelt in Rrose Sélavy) und Todosijevićs eigenem Spiegelbild, Marinela beschrieb. Wundert es da, dass exakt zur gleichen Zeit, als Irigaray Marine Lover schrieb, Todosijević seine berüchtigtste Performance-Serie ins Werk setzte, in der der Künstler keine Antwort auf seine Frage (und den Titel einer langen Reihe von Aktionen) erhalten würde: Was ist Kunst? (19771978). In dieser kraftvollen Serie f lüsterte, schrie, bettelte, weinte und arti29 Luce Irigaray: Marine Lover of Friedrich Nietzsche, New York 1991, S. 12. 30 Ebd., S. 66. 31 Joseph Beuys schickte Todosijević einen Brief, den er mit ›Josephine Beuys‹ unterzeichnete. Auch verteilte Todosijević 1973 auf dem Edinburgh Festival Pamphlete, auf denen ›Josephine Beuys‹ geschrieben stand, vermutlich als Protest gegen den Ruhm Beuys’.
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kulierte der Künstler ununterbrochen die Frage »Was ist Kunst?«, während er die teilnahmslose Marinela ansah (sein/e Partnerin/Double und Repräsentanz der Frauen). Trotz seines Bittens um Antwort ignorierte Marinela die Schreie Todosijevićs und blieb stumm. Es bräuchte eine andere Frau, die antwortend schrie. Irigaray würde Nietzsches Schweigen, seine offensichtliche Unfähigkeit zu hören und zu antworten kritisieren, indem sie fragte: »Wartest du, dass ich in Qual so laut schreie, dass die Mauer deiner Taubheit niedergerissen wird? Dass ich nach dir rufe weiter als in den weitesten Winkeln, die du aufsuchst? Aus deinem Zirkel heraus? […] Endlos kehrst du zurück zu dieser enigmatischen Frage, aber du schreitest niemals voran, du lässt es immer noch im Dunkeln: Wer ist sie? Wer bin ich? Wie wird diese Differenz markiert?«32 Ein solcher Text illustriert Todosijevićs Kampf sowohl mit dem Wasser als auch mit der Frage nach der Identität der Kunst. Dieser Kampf war ebenso sehr ein Kampf des Künstlers mit sich selbst wie auch eine Begegnung mit den ethischen und ästhetischen Dilemmata der Kunst und deren Rolle in der Gesellschaft. Und alles dies wurde ausgetragen innerhalb der öffentlichen Sphäre des SKZ. Todosijević entscheidet stets – in der Kunst –, der Patriarch, der Verbrecher, der Provokateur zu bleiben, als ob er Nietzsches Dekret folgte: »Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen!«33 Todosijević ging genau solche Risiken ein, ohne sich die Schuld zuzuziehen, bezüglich derer Nietzsche darauf beharrt, dass sie den Weg des kreativen Genius durchkreuzt.34 Das SKZ diente als genau der Raum, in dem eine derartige Provokation ohne Schuld möglich war, als eine zweite Öffentlichkeit, in der ein Künstler wie Todosijević die Gewalt, das Scheitern und die Auseinandersetzungen mit seiner Männlichkeit darstellen konnte, und in diesem Zuge seinen Körper dazu gebrauchte, die intime Relation mit seiner Partnerin und seiner Kunst in die Wirklichkeit der Öffentlichkeit zu heben.
32 Irigaray: Marine Lover of Friedrich Nietzsche, a.a.O., S. 12, 67. 33 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, a.a.O., S. 124. 34 Vgl. ebd.
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3 Feministische Interventionen: Sanja Iveković und Vlasta Delimar Ein besseres Beispiel für und eine Auseinandersetzung mit der Frage Irigarays, wie gerade die Differenz zwischen Mann und Frau markiert wird, stellt die Arbeit von Sanja Iveković dar: einer Künstlerin, die sicherlich die wirkmächtigste feministische Künstlerin dieser Zeit ist und die aus Zagreb stammt, einer Stadt mit einer längeren und berühmten Avantgarde-Tradition. Iveković leistete vehement Widerstand gegen die patriarchale Herrschaft, unterlief diese systematisch und legte Misogynie in der Politik, der Werbung, der Geschichte, der Kunst und der visuellen Kultur offen. Und sie stellte auch die Spannung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum in den Vordergrund. Zagreb war wie Belgrad ein wichtiges Zentrum für experimentelle Kunst in Jugoslawien und Iveković war eine leitende Künstlerin in einer Szene, die primär von Männern dominiert war. In Übung macht den Meister 1982 trug die Künstlerin ein kleines schwarzes Businessoder Cocktailkleid, Highheels und eine weiße Plastiktüte über ihrem Kopf. Sie kollabierte wiederholt und erhob sich wieder, während einer von Marilyn Monroes Songs aus dem Film Bus Stop gespielt und mit »dem misstönenden Geschrei von Waffen und anderen Maschinen aus Videospielen, die die Künstlerin im vorangegangenen Jahr in New York aufgenommen hat«35 kombiniert wurde. Wie Tom Holert bemerkte, wurde Iveković ein »performender Körper – gesichtslos, enthauptet«36, aber ein Körper, der »spricht, obwohl er seiner Stimme beraubt ist [, die] das Geheimnis von einem irgendwie […] obszönen Wissen um eine gegen Frauen gerichtete Gewalt verkörpert«37. Als jemand ohne Gesichtsidentität und trotz ihrer Bemühung, die Kontrolle über sich selbst zu gewinnen, performte Iveković als jemand, der unfähig zu kommunizieren ist, eine zum Schweigen gebrachte Frau, die darum kämpft zu stehen. Im Kampf mit den aufreibenden Mechanismen der Unterwerfung und in der Verkörperung dieser könnte Iveković als diejenige gelten, die ein Prin35 Sanja Iveković: »Übung macht den Meister (Practice Makes a Master, 1982)«, in: Nataša Ilić; Kathrin Rhomberg (Hg.): Sanja Iveković. Selected Works, Barcelona 2008, S. 134; vgl. auch Sanja Iveković: Practice Makes a Master [Event information], 2009, Available at www. moma.org/visit/calendar/events/13792 (letzter Zugriff: 29.05.2017). 36 Tom Holert: »Face-Shifting. Violence and Expression in the Work of Sanja Iveković«, in: Ilić et al. (Hg.): Sanja Iveković, a.a.O., S. 26-33. 37 Iveković: »Practice Makes a Master,« a.a.O., S. 134.
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zip aufzeigte, das später von Judith Butler artikuliert wurde. Diese merkte an, dass »[g]enau in dem Moment, da die Wahl unmöglich ist, […] sich das Subjekt an die Unterordnung als Existenzversprechen [hält]«38. Ein derartiges »Streben ist nicht Wahl, aber es ist auch nicht Notwendigkeit«, fährt Butler fort, da »Subjektivation […] das Begehren nach Existenz dort [ausbeutet], wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzbarkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist.«39 Im kontinuierlichen Aufstehen und Fallen exponiert Iveković die Anfälligkeit einer jeden Person für die heimtückischen Kräfte der Gewalt. Indem sie diese Bedingungen in-und-als-Kunst inszenierte, durchbrach Iveković die Beschränkungen von Butlers »unmöglicher Wahl«, bezeugte sie doch die Unterwerfung und die erzwungene Konformität von Frauen ebenso wie die Selbstverneinung, die derartige psychische und körperliche Ereignisse vom Innern her aufzwingen. Drei Jahre zuvor performte sie ihre heute berühmte Arbeit Dreieck (Trokut). Während eines Besuches von Präsident Tito in Zagreb saß sie auf dem Balkon ihres Apartments und provozierte vorsätzlich die Aufmerksamkeit des Sicherheitspersonals, das sich auf den ihr Apartment umgebenden Dächern befand: Beamte, von denen sie annahm, dass sie sie mit Ferngläsern beobachteten und wegen eventueller inakzeptabler Verhaltensweisen auf ihrem Balkon die Polizei alarmieren würden. Sie las ein Buch, trank – ein amerikanisches T-Shirt tragend – in kleinen Schlucken Whiskey, machte Handbewegungen, als ob sie masturbierte, und stachelte so die Polizei dazu an, sie zum Verlassen des Balkons und zur Unterlassung ihres schändlichen Benehmens zu zwingen. Dieser intentionale »Akt des Ungehorsams«40, wie Branka Stipančić es genannt hat, legte die Sicherheitsmaßnahmen der Jugoslawischen Regierung offen, die den Bürger_innen verboten, den Präsidenten von Fenstern oder Balkonen aus zu sehen: Aber Iveković invertierte den Blick und konfrontierte die Wachhunde des Staates mit deren eigenen kalkulierten Mitteln der Überwachung, um ihre Angst vor einer Frau offenzulegen. Einer Frau, die ihre Kontrolle bedroht, da sie den Präsidenten igno38 Judith Butler: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 25. 39 Ebd. 40 Branka Stipančić: »Body Language in Croatian Art«, in: Zdenka Badovinac (Hg.): The Body and the East: From the 1960s to the Present, Cambridge, Mass.; London 1998, S. 58-61, hier: S. 59.
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riert – indem sie ein Buch über den Marxismus liest, bei hellem Tageslicht Whiskey trinkt und sich selbst Vergnügen bereitet.41 Es dauerte weniger als 18 Minuten, bis die Polizei intervenierte und ihre private Handlung in einem öffentlichen, hochgradig politisierten und überwachten Raum stoppte. In ihrer 60-minütigen Multimediaperformance Zwischen uns (Inter nos, 1978) thematisierte sie ebenfalls, wie der öffentliche Raum das Privatleben invadiert.42 Iveković situierte sich selbst in einem vom Publikum getrennten Raum, in dem sie einem TV-Bildschirm zugewandt war und ihre Handlungen von einer Videokamera aufzeichnen ließ, die auf sie und den Fernseher ausgerichtet war. Die Besucher_innen konnten einzeln und nacheinander einen anderen Raum betreten, in dem ein Fernseher die Bilder übertrug, die die Kamera von den Handlungen Ivekovićs aufnahm. Dadurch war es jedem Besucher erlaubt, Ivekovićs Interaktion mit ihren eigenen Gesichtsausdrücken und Körperbewegungen zu sehen. Sie liebkoste und küsste die auf dem Bildschirm übertragenen Gesichter, während die Partizipierenden zeitgleich mit ihrem Video-Bild interagierten. Ähnlich der intimen Mechanik eines Tanzes mit einem Fremdem, fanden die Künstlerin und die Teilnehmenden sich selbst in einer Situation, in der sie sich gegenseitig in eine intime, quasi-romantische und erotische Interaktion leiteten, passend begleitet von einer Aufnahme von Debussys Clair de lune – einer Komposition, die auf dem gleichnamigen Gedicht Paul Verlaines von 1869 basiert. Die physische Separation Ivekovićs von den Besucher_innen »spricht von der Isolation, vom Eingeschlossensein und zeigt ein Bestreben, »auszubrechen«, so Stipančić. Dies hängt auch von der Mediatisierung durch das Video ab, das »zugleich als eine Behinderung und als Kommunikationskanal«43 41 Vgl. dazu den britischen marxistischen Soziologen Bottomore; Tom Bottomore: Elites and Society, London 1964. 42 Produziert vom Multimedia-Zentrum (MultiMedia Center), Zagreb, 23. Dezember 1978. Ivekovićs Beschreibung: »Die Installation besteht aus zwei Räumen, die durch zwei geschlossene Fernsehanlagen ohne Audio Link verbunden sind, und einem Eingangsraum, in dem eine direkte Übertragung für das Publikum stattfindet. Während der gesamten Aktion ist die Künstlerin im ersten Raum eingeschlossen, nicht sichtbar für das Publikum. Die Besucher betreten den Raum einer nach dem anderen. Es entwickelt sich ein privater Dialog zwischen dem Besucher und der Künstlerin, da die Künstlerin mit dem Bildschirm-Bild des Besuchers interagiert und dessen Reaktion provoziert. Zugleich empfängt das Publikum nur das Bild des Partizipierenden.« Ilić et al. (Hg.): Sanja Iveković, a.a.O., S. 100. 43 Stipančić: »Body Language in Croatian Art«, a.a.O., S. 59.
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diente. Die Performance gibt zu verstehen, wie die Grenzen der Kommunikation auf den Strukturen von Performance beruhen, die abhängig sind von »einem in körperlichen Gesten, Systemen und Beziehungen etablierten und übermittelten Zwischenspiel von Subjektivitäten«44, das durch Objekte vermittelt wird. In anderen Worten, die Performance wurde heimgesucht von der Abwesenheit einer tatsächlichen Intimität und ließ die geographische und psychische Distanz zwischen zwei Menschen greif bar werden, insofern das medial vermittelte Gefühl der Nähe eigentlich jede wirkliche Intimität annullierte. Ivekovićs Performance rief auf nachdrückliche Weise Beziehungen auf, die hetero-normative Anziehung und Intimität überschritten. Denn während der Performance küsste, berührte und umarmte sie eine andere Frau, die willentlich an diesem intimen Austausch von nahegelegter Körperlichkeit partizipierte. Vermittelt über den Bildschirm und abhängig von der imaginierten haptischen Begegnung entfaltete Zwischen uns seine Wirkung in einem begrenzten und gleichzeitig gesicherten, geschlossenen Raum, der vor öffentlichem Eingreifen sicher war. Zugleich war es ein Raum, der öffentlich war, dadurch dass es sich um ein Kunst-Ereignis handelte: Die Öffentlichkeit hatte Zugang zu einem solchen Austausch von Intimität und diese Erfahrungen wurden dann in die Sphäre von Kunst und Kultur gehoben. Für Ivekovićs Aktion kann geltend gemacht werden, dass sie Momente initiierte, in denen – wie Jill Dolan vorschlägt – »ein Publikum sich als Teil eines Ganzen« und der Öffentlichkeit »erf[ä]hr[t]«45. Zudem erinnern Ivekovićs Aktionen an José Esteban Muñoz’ Verständnis einer queeren Zukunft, in der alternative politische und soziale Beziehungen utopische Möglichkeiten für Gesellschaft und Kunst aufwerfen können.46 Auf diese Weise unterbrachen die Bildschirme, mit denen die Künstlerin ihre Kommunikation auf multimediale Weise gestaltete, den Privatraum der Berührung, die soziale und politische Grenzen verwischt, selbst wenn sie von interpersonalen und öffentlichen Beziehungen so maßgeblich diszipliniert wird.
44 Kristine Stiles: »Survival Ethos and Destruction Art«, in: Discourse: Theoretical Studies in Media and Culture 14:2 (1992), S. 74-102, hier: S. 96. 45 Jill Dolan: »Die Utopie der Aufführung«, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 227-241, hier: S. 231. 46 Vgl. José Esteban Muñoz: Cruising Utopia: The Politics and Performance of Queer Futurity, New York 2009.
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Die kroatische Performance-Künstlerin Vlasta Delimar hat explizit die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen durchbrochen, indem sie das verbotene Begehren von Frauen verkörperte und performte sowie die Paradigmen normativer Sexualität infrage stellte, während sie paradoxerweise die Allianz mit dem Feminismus zurückwies. Wie auch der Performancekünstler Tomislav Gotovac ist Delimar in Kroatien bekannt, wird international jedoch ignoriert. Marina Grižinićs Identifizierung Osteuropas als »zweite Welt«47 zitierend möchte ich behaupten, dass Delimar – anders als Marina Abramović und Sanja Iveković – der am wenigsten begehrte Export der »zweiten Welt« in den Westen ist. Ihre Arbeit wurde in den meisten Ausstellungen zu Performance und anderen Kunstformen Osteuropas und besonders des Balkans ausgespart, mit der Ausnahme von Bojana Pejićs Ausstellung Gender Check (2009). Auch im Buch East Art Map48 der Kunstgruppe IRWIN wurde Delimar übergangen und Piotrowski nimmt in The Shadow of Yalta 49 nicht auf sie Bezug. Sie erscheint nicht in anderen wichtigen Studien zu dieser Region. Warum? Ich vermute, dass Delimar, ähnlich wie im Falle der Rezeption Carolee Schneemanns, bezichtigt wurde, ihre Arbeit sei pornographisch, narzisstisch, exhibitionistisch und sexuell zu explizit. Anders als Schneemann hat sich Delimar nie als Feministin bezeichnet. Tatsächlich ist sie sogar eine ›Miso-Feministin‹ genannt worden, besonders da ihre Kunst offen ein Begehren und eine Liebe für Männer proklamiert und aufgrund dessen häufig als misogyn interpretiert wurde. Derartige negative Bezeichnungen ignorieren oder lehnen absichtsvoll die unvorhergesehen Weisen ab, mit denen sich Delimar nicht nur in Kroatien sondern auch in der gesamten Region mit weiblicher Sexualität auseinandersetzte. Ljiljana Kolešnik charakterisiert die Arbeit Delimars als »intuitiven Feminismus« mit »einer spezifischen und offen sexuellen Kolorierung […], als ein einzigartiges Phänomen in unserem Land, zu dem es auch damals keine Parallele gab und es auch heute keine gibt«50. Allerdings ist die Reduktion 47 Marina Gržinić: »Linking Theory, Politics, and Art«, in: Zoya Kocur (Hg.): Global Visual Cul tures: An Anthology, Malden, MA 2011, S. 27-34, hier: S. 27. 48 Vgl. IRWIN (Hg.): East Art Map: Contemporary At and Eastern Europe, Cambridge, MA; London 2006. 49 Vgl. Piotr Piotrowski: In the Shadow of Yalta: Art and the Avant-garde in Eastern Europe, 19451989, London 2009. 50 Ljiljana Kolešnik: »Intuitivni feminizam Vlaste Delimar«, in: Quorum, časopis za književnost, 13:4 (1997), S. 197-201, hier: 197.
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von Delimars künstlerischem Ansatz auf eine ›Kolorierung‹ ironischerweise typisch dafür, dass ihre rigorose Kritik der Sexualität häufig nicht ernst genommen wird. Delimar hatte keine Angst vor der Zirkulation ihrer Bilder und vor der angenehm erregenden Möglichkeit, dass sie mittels der Metonymie ihrer Fotografien berührt und zum Gegenstand des Spiels werden könnte. Im Titel einer ihrer Arbeiten verkündete sie sogar Ich liebe den Schwanz (Volim Kurac, 1982). Delimar fotografierte sich zum Beispiel mit nackten Männern, die ihre Penisse in den Händen hielten, und sie stellte häufig sexuell explizite Handlungen sowohl in Performances als auch in zweidimensionalen Arbeiten dar. Ihre kompromisslose Proklamation der Liebe zum Penis, zum Sex und zur Lust lief einigen feministischen theoretischen und politischen Interventionen zuwider, die eine solche Bildlichkeit als der Objektivierung von Frauen zugehörend auffassten. Im Anschluss an viel frühere Arbeiten Schneemanns, die Frauen in der ganzen Welt die ästhetische Tür öffneten, nicht nur das Bild zu sein, sondern es zu machen – wie in Schneemanns bahnbrechendem fotografischen Essay Eye Body (1963), ihrem Happening Meat Joy (1964) und ihrem Film Fuses (1964-1967) –, zeigte auch Delimar der Welt frei ihr heterosexuelles Begehren und ihre Lust: Bilder also, die Faszination, Vorwürfe der Unangebrachtheit, Gelächter in der Kunstwelt und den Ausschluss aus den Geschichten der Kunst zur Folge hatten.51 Viele dieser Lachenden übersahen, auf welche Weise sie totalitäre, nationalistische und religiöse Fundamente angriff. Während Feministinnen wie die Politikwissenschaftlerin Sabrina Petra Ramet 1995 schreiben konnte, dass man »in Jugoslawien nicht davon sprach, den Sozialismus zu Fall zu bringen«, sondern stattdessen »die Notwendigkeit [hervorhob], dass der Umsturz des Patriarchats und das Scheitern des Sozialismus, dieses tun«, hatte Delimar bereits 1981 in Fickt Mich (Jebite Me, Abb. 2) eine vehemente Kritik am Patriarchat und am Staat hervorgebracht, eine Arbeit, bei der die Künstlerin jede(n) dazu einlud, sie zu penetrieren: Männer, Frauen, den Staat, Religion, Sozialismus, Feministinnen, Antifeministinnen etc. Das Verb ›jebite‹ zeigt nicht ohne Grund den Plural von ›ficken‹ an, denn zwischen ihren Brüsten war das goldene Kruzifix der katholischen Kirche abgebildet und die strategisch platzierte Miniatur eines Kirchenfensters, das 51 Dies trifft sowohl auf Delimar als auch auf Schneemann zu. Es dauerte Jahrzehnte bis Schneemann anerkannt wurde, und ihr ist immer noch keine Retrospektive zuteil geworden.
Eine Frage der Entscheidung
Abb. 2: Vlasta Delimar: Fickt Mich sich als ein rotes phallisches Architekturobjekt auf ihrer Vagina aufrichtete, wies auf das geheime Einverständnis zwischen Staat und Kirche in Bezug auf die Kontrolle von Frauenkörpern hin. Für Miško Šuvaković bedeutete Delimars Arbeit einen »Durchbruch in der Repräsentation der katholischen ›Sünde‹, ihren sonst unsichtbaren ideologischen Bruchstellen, Versprechen und Verboten«52 Eine derartige Kirchenkritik fand im Kontext von Titos sogenanntem vereinigten Jugoslawien statt, einem Staat, in dem es den Bürger_innen nicht erlaubt war, ihr eigenes nationales Erbe offen zu zelebrieren; dies zu tun, hatte bereits in den 1970ern zu Verhaftungen geführt, am berühmtesten ist die von Franjo Tuđman, der später der Anführer des kroatischen 52 Miško Šuvaković: »You Can’t Find a Woman, Can You? An Essay on Performers’ Theme- Questioning of Politics, Body and Sex in Vlasta Delimar’s Deed«, in: ders. et al. (Hg.): Vlasta Delimar: Monografija Performans. Zagreb 2003, S. 67-72, hier: S. 68.
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Nationalismus und 1992 der erste Präsident eines neuen unabhängigen Kroatien wurde. Die nationale Identität in den Republiken des ehemaligen Jugoslawiens war tief verbunden mit religiösen Überzeugungen und konstruierten »Narrativen des Leidens«53, wie Ivan Vejvoda diese beschrieben hat. Dies traf im Besonderen auf die auf Titos Tod 1980 folgende Zeit zu, als Aufstände in all diesen Republiken eine Rückkehr zu religiösen und ethnischen Trennungen anzeigten. In der Tat hob 1981 in den jugoslawischen Medien eine massive Kontroverse um Vergewaltigung an, als ›albanische Männer‹ angeblich damit begannen, aus Rache serbische Frauen zu vergewaltigen, und die Medien die Diskussion um diese Vergewaltigungen eher als ›interethnisch‹ etikettierten, während Sabrina Petra Ramet von »intersexuellen«54 Ereignissen spricht.55 In ihrer politischen und psychisch-ästhetischen Intervention rief Delimar das versteckte Patriarchat der totalitären, nationalistischen, sozialistischen und religiösen Institutionen gleichermaßen dazu auf, sich selbst zu verantworten. Durch das Verdecken ihrer Augen in Fickt Mich wies sie die Wege auf, auf denen der Staat und die Kirche die Frauen für die von ihnen verübten gewaltsamen körperlichen Missbräuche blind mach(t)en. Wie Rebecca Schneider in Bezug auf feministische Performances darlegte: »Etwas wirklich Anderes geschieht, wenn eine künstlerische Arbeit ein Subjekt sozialer Degradierung nicht symbolisch darstellt, sondern genau diese Degradierung ist und in diesem Zuge die unantastbare Teilung zwischen dem Symbolischen und dem Literalen terrorisiert.«56 Eine solche Perspektive fordert die Überlegung ein, ob Delimar die »soziale Degradierung« verkörperte oder nicht. Zieht man in Betracht, dass der Ausdruck ›fuck me‹ auch die Bedeutung einschließt, jemanden zu betrügen, zu hintergehen oder zu schikanieren, so lässt sich dieser Imperativ auch als eine Einladung, »verarscht zu werden« verstehen, d.h. betrogen und unterdrückt zu werden, und auf diesem Wege als eine Aufforderung an die Täter, sich offen zur Schau 53 Ivan Vejvoda: »Yugoslavia 1945-91 – From Decentralisation without Democracy to Dissolution«, in: David A. Dyker; Ivan Vejvoda (Hg.): Yugoslavia and After: A Study in Fragmentation, Despair and Rebirth, London 1995, S. 9-27, hier: S. 20. 54 Sabrina P. Ramet: Social Currents in Eastern Europe: The Sources and Consequences of the Great Transformation, Durham 1995, S. 229. 55 Im Jahr 1987 wurde in Serbien ein Gesetz verabschiedet, das das Strafmaß für Nicht-Serben, die serbische Frauen vergewaltigt hatten, von 5 auf 10 Jahre anhob. 56 Rebecca Schneider: The Explicit Body in Performance, London; New York 1997, S. 28.
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zu stellen. Außerdem rufen die häufigen Referenzen der Künstlerin auf Schwänze, ficken, gefickt werden, riechende Genitalien und auf aus Vaginas hervorquellendes Blut die Erfahrung von Millionen von Frauen auf, die den psychischen Tod der Vergewaltigung erduldet haben, und von den Tausenden, die aus Gründen ihres religiösen und ethnischen Hintergrunds solchen traumatischen Ereignissen während der Balkan-Kriege in den 90er Jahren ausgesetzt sein würden. Demnach bildet Delimar Subjekte sozialer Degradierung eher auf symbolische Weise ab, als dass sie tatsächlich sich selbst erniedrigt. Stattdessen ist sie Autorin eines metaphorischen Bildes der Schändung – eines, das öffentlich resoniert, jedoch metonymisch durch ihren privaten Körper vermittelt wird.
4 Das Queering von Männlichkeiten: Sven Stilinović Homoerotik und die Rekonfiguration von Männlichkeit als Kritik am politischen System traten am deutlichsten bei dem Künstler Sven Stilinović hervor, der eine alternierende Maskulinität als Modus der Rebellion verkörperte. Sein Künstlerkollege und Freund, Vlado Martek, beschrieb Stilinović als »[einen] soliden Anarchisten (seine gut bekannte Maxime lautete ›Alles oder nichts‹)«, den »Freund vieler Mädchen« und »[eine] besonders coole Person«57. Die Sven Stilinović zugesprochene Lauf bahn als Anarchist gründete sich in nicht geringem Ausmaß auf die von ihm ausgestellten Fotografien seiner selbst, die von Texten solcher Figuren begleitet wurden wie denen des libertären Sozialisten und selbsternannten Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon, ebenso wie von Texten des Marquis de Sade, Karl Marx und Anderen. Seine Arbeit Ohne Titel (Gebundene Figur) (Bez naziva [Zavezani lik], Abb. 3) von 1980 zeigt Stilinović mit freiem Oberkörper auf einem Stuhl sitzend. Seine Beine, Hände und sein Hals sind durch ein Seil gebunden und sein Mund ist mit Klebeband verschlossen, er starrt jedoch geradeaus in die Kamera. Bei der Überschrift der Fotografie handelt es sich um ein Zitat von Marx: »Wie er seine eigne Produktion zu seiner Entwirklichung, zu seiner Strafe, wie er sein eignes Produkt zu dem Verlust, zu einem ihm nicht gehörigen Produkt, so erzeugt er die Herrschaft dessen, der nicht produziert, auf die Produktion 57 Vlado Martek: »Rococo Biographies«, in: Janka Vukmir (Hg.): Grupa Šestorice Autora, Zagreb 1998, S. 10-11, hier: S. 10.
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Abb. 3: Sven Stilinović: Ohne Titel (Gebundene Figur) und auf das Produkt. Wie er seine eigne Tätigkeit sich entfremdet, so eignet er dem Fremden die ihm nicht eigne Tätigkeit an.«58 Der Künstler präsentiert sich selbst in Ohne Titel (Gebundene Figur) als die Verkörperung von Marx’ Text, er stellt sich selbst als bestraft und zum Schweigen gebracht aus, doch ebenso als im Prozess der Produktion seiner eigenen Arbeit befindlich, von der er gleichzeitig entfremdet ist. Seine ästhetische Arbeit gehört ihm nicht und in einer ironischen Wendung hat er sie sich von Marx angeeignet, der selbst vom sozialistischen Staat appropriiert wurde, der seine Bürger_innen bestraft und zum Schweigen bringt. Es handelt sich dabei um den sprichwörtlichen Ouroboros – die Schlange, die
58 Tihomir Milovac (Hg.): The Misfits: Conceptualist Strategies in Croatian Contemporary Art, Zagreb 2002, S. 88. Das Kunstwerk ist samt Zitat an der angegebenen Stelle abgebildet. Das Zitat stammt im Original aus einer unbekannten Übersetzung von Karl Marx: »Entfremdete Arbeit«, in: Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Kommentar von Michael Quante, Frankfurt 2009, S. 200.
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sich selbst in den Schwanz beißt, – als eine Metapher für Selbstref lexivität und ewige Wiederkehr. Doch in diesem Falle ist die Wiederkehr die endlose Unterwerfung unter Marx’ Analyse der Arbeit, des Eigentums, des Fremden als der Staat, der sich den Künstler aneignet. Wenn Stilinović in die Kamera blickt, ist sein Lächeln undurchschaubar. Aber sein Lächeln zeigt an, dass die visuelle Exegese des Künstlers sich nicht nur Marx zu eigen gemacht hat, um dessen Theorie als etwas zu enthüllen, was durch den autoritären Sozialismus appropriiert und missbraucht, bestraft und zum Schweigen gebracht wurde. Stilinović triumphiert sogar über diese Aneignung durch die Durchdringung und Objektivierung dieses Prozesses. Während also die künstlerische Arbeit gezwungen ist, sich der Theorie zu unterwerfen, wird sie gleichzeitig – durch Stilinovićs Kontrolle über seine eigene ästhetische Arbeit – in eine Vision von Stolz und Selbstregulation transformiert. In ihrer Diskussion der Arbeit vermutet Stipančić Folgendes: »Der Akzent liegt sowohl auf der individuellen Autonomie als eine dem Staat entgegengesetzte wie auch auf dem Widerstand gegen alle Kräfte in einer Person, die sie ihres Rechts berauben, ihr Leben ihren eigenen Bedürfnissen gemäß zu strukturieren.« Und Stipančić fügt hinzu, dass Stilinović »die Rebellion als eine natürliche kreative Negation hervorhebt, die jede Entfremdung auf hebt und die natürliche Würde des Menschen betont bzw. deren Wunsch, sich selbst im Handeln vollständig zu behaupten«59. Die Gleichsetzung solcher Darstellungen der Selbstkasteiung eines männlichen Künstlers mit der Verteidigung der Menschenwürde weist darauf hin, wie Entscheidung als Kunst [decision as art] die Entfremdung mancher Künstler_innen intensiv unterlief, und macht auf den individuellen Widerstand ihrer Körper gegen die Aneignung durch den Staat aufmerksam. Das Augenmerk auf Körperlichkeit dieser wenigen Künstler_innen in Zagreb führte sie dahin, sozial unterdrückte Aspekte von sex und gender zu untersuchen. Künstler wie Sven Stilinović verknüpften ihre Arbeit sogar mit einem Begehren, das sich in einem Spektrum verbotener Sexualitäten manifestierte. Stilinovićs anhaltende Aufmerksamkeit für und Fokus auf die wechselseitigen Verbindungen von Sex und Gewalt bzw. deren Verschuppung in jener sozialistischen Hegemonie, die auch die ideologischen Grundlagen der Sexualität im Osten determinierte, weist auf die Antizipation queerer 59 Branka Stipančić: »This is Not My World«, in: Vukmir (Hg.): Grupa Šestorice Autora, a.a.O., S. 96-104, hier: S. 103, 104.
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Politik im visuellen Diskurs hin: Dieser westliche Begriff, der in den 1980er Jahren geprägt wurde, um eine Politik der Sexualität zu beschreiben, die hetero-normative Konzeptionen von sowohl männlicher als auch weiblicher Sexualität infrage stellte. In Svenpistole (Svenpištolj, 1984-1986) liegt Stilinović nackt, eine schöne weiße Rose in den Händen auf dem Bett. Der große schlaffe Penis des Künstlers liegt auf seinem Bein – dieses phallische Bild wird aber noch zusätzlich durch die disproportional groß collagierte und ins Bild geklebte Fotografie einer Pistole verstärkt, die nicht auf den Künstler, sondern auf die über ihm an der Wand angebrachten Fotografien zeigt. Indem Stilinović sich selbst als verletzlich, allein, kraftlos und (Olympia oder Odalisque gleich) feminisiert mit einer Rose darstellte, jedoch gleichzeitig als von einer großen phallischen, über seinem liegende Körper hängende Waffe dominiert inszenierte, die auf die Kunst (wahrscheinlich seine eigene) gerichtet ist, und er sich so der sexuellen Imagination von Männern und Frauen auslieferte, störte und bedrohte er das naturalisierte Bild des heroischen, eigenständigen, unverletzbaren Mannes aus dem Balkan. Auf diese Weise untergruben Ohne Titel (Gebundene Figur) und Svenpis tole die Hypermaskulinität, wie sie mit der Balkanregion identifiziert wurde. Georg Schöllhammer brachte solche männlichen Figuren mit Fiktionen eines »eigenen Männlichkeitsideal« in Verbindung, die »[d]e[m] unbekannte[n], imaginäre[n] ›Westen‹« entliehen war, der als ein idealer »Antityp« diente, bestehend aus »Dandytum, soziale[r] Renitenz und halbstarke[n] Gesten«60. Den Westen »unbekannt« zu nennen, ist eine Übertreibung, da Künstler_innen in Osteuropa die Arbeit und die Personae solcher Künstler wie Andy Warhol zugänglich und auch vertraut waren. Und Stilinovićs Selbstdarstellung war sicherlich von solchen künstlerischen Diskursen informiert. Darüber hinaus ruft Schöllhammers Hervorhebung des Ungehorsams das starke Interesse in Erinnerung, das bei linken Künstler_innen aus dem Westen wie dem Osten für die erotisierten Figuren solcher Gruppen wie der Baader-Meinhof-Gruppe (Rote Armee Fraktion) in Deutschland bestand, deren sexuelle Offenheit und radikale Politik zum Ruhm und zur öffentlichen Faszination beitrugen. Dieser Reiz besteht bis heute, wie sich an Uli Edels Blockbuster Der Baader-Meinhof-Komplex (2008) und Bruce LaBruces Rasperry Reich (2004), einer pornographischen und queeren Parodie auf die RAF, 60 Georg Schöllhammer: »›Was ist Kunst, Marinela Koželj?‹ (1976)«, in: Bojana Pejić (Hg.): Gender Check. Rollenbilder in der Kunst Osteuropas, Wien 2009, S. 74-79, hier: S. 77.
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Abb. 4: Cover der Zeitschrif t Studentski List, 1981 zeigen lässt. Die Anfangsszene von LaBruces Rasperry Reich zum Beispiel zeigt einen männlichen Charakter vor einem riesigen Che-Guevara-Poster, wie er eine lange phallische Pistole streichelt und leckt. Sven Stilinovićs Ohne Titel (Gebundene Figur) von 1980 und auch Svenpistole von 1984-1986 nahmen solche Bildtypen, wie sie in LaBruces Film begegnen, um zwei Dekaden vorweg. Diese Arbeiten entstanden parallel zum Aufstieg der Homosexuellenrechtsbewegung in Slowenien zu dieser Zeit, so wie die Gründung der NGO für Rechte von Homosexuellen ›Magnus‹ im Jahr 1984 oder auch alternative Kunst- und Musikgruppen wie Laibach und Borghesia, die die Lederkultur und andere Formen von nicht-normativen oder so begriffenen ›abweichenden‹ sexuellen Begehren zelebrierten und die sich in der zweiten Öffentlichkeit entfalten konnten. Während genau dieser Periode in den frühen bis mittleren 80er Jahren erschien Stilinović nackt auf dem Cover der Zagreber Zeitung Studentische Liste (Studentski List, Abb. 4). Was diese Fotografie so brisant macht, ist, dass
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er dort gemeinsam mit dem Künstler Radomir Radovanović61 sitzend zu sehen ist und seine Hand auf Radovanovićs Oberschenkel ruht. Im Gegenzug berührt Radovanović sanft Stilinovićs Schulter. Ein rotes Dreieck bedeckt strategisch den Penis Stilinovićs, aber die semiotischen Implikationen der Farbe sind nur allzu klar: Sie signalisieren die patriarchale, schlechthin homophobe Autorität des Staatssozialismus, die – weit gefährlicher für den Künstler – in dessen Kunst außer Kraft gesetzt wird. Denn der »Freund vieler Mädchen« hält seine Augen geschlossen und ist entspannt, während die aufgerichtete Triangel auf einen anderen Mann zeigt und eine homosexuelle Beziehung zwischen ihnen andeutet.62 Zum Teil ist diese Fotografie zwecks der Bewerbung der Ausstellung Kollektive Handlung (Kolektivni Akt) entworfen worden, die von Davor Matičević organisiert wurde, einem offen homosexuellen Kurator des Museums für zeitgenössische Kunst in Zagreb, der auf dem Cover der Studentski List ankündigte: Man lehrt uns die Geschichten und die Vermächtnisse der altertümlichen Steine, die einen Kult des Körpers nährten. Wegen dieser Tradition belagern Touristen heute Griechenland. In der heutigen Zeit jedoch scheint nichts dieser Art dem Publikum interessant hinsichtlich der Beziehung eines (männlichen) Künstlers – als (Nackt-)Modell – zum Werk. Und zweitausend Jahre später sind wir immer noch mit der Entdeckung von etwas beschäftigt, das einst ›normal‹ war.63 Diese Ausstellung untergrub den Mangel an Darstellungen nackter männlicher Körper mit exponierten Genitalien in der sozialistischen Kunst ebenso wie das veritable Tabu der Repräsentation von Homosexualität.64 Im sozia61 Obwohl dies angesichts der Körperposition schwer zu entziffern ist, bestätigte Janka Vukmir, dass es sich bei dem anderen Künstler auf dem Cover um Radomir Radovanović handelt. Gespräch mit der Autorin am 15.06.2013. 62 Ivana Bago bestätigte, dass Sven Stilinović zu dieser Zeit für seine Attraktivität für sowohl Frauen als auch Männer bekannt war und dass viel über seine sexuelle Orientierung spekuliert wurde. Bago im Gespräch mit der Autorin am 14.06.2013. 63 Cover der Studentski List, 1981. Übersetzung von der Autorin. 64 Klaus Theweleits bahnbrechende Untersuchung von männlicher Sexualität und von deren homosexueller Implikationen im Faschismus Männerphantasien (1977) wurde 1987 ins Englische übertragen und von der University of Minnesota Press veröffentlicht.
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listischen Kontext wurden Männer charakteristischerweise als Partisanenkämpfer, sozialistische Beamte oder stilisierte rigide Karikaturen nackter männlicher Figuren graeco-romanischer Kunst porträtiert. Die Präsentation eines Bildes der erotisierten Interaktion zweier Männer auf dem Zeitschriftencover kam einem Plädoyer für einen feminisierten, homoerotischen, offenen osteuropäischen männlichen Archetypus gleich, der seine Ursprünge in der antiken Kunst Griechenlands hatte.
5 Konklusion Die Arbeiten Todosijevićs, Ivekovićs, Delimars und Stilinovićs, die hier untersucht wurden, explizieren das politische Engagement der Künstlerinnen und Künstler für eine Lokalisierung des Privaten innerhalb der politischen Realität der Öffentlichkeit und für eine Überführung des Intimen in das Soziale auf dem Wege Entscheidung-als-Kunst innerhalb der ›zweiten‹ Öffentlichkeit. Was also bedeutet Entscheidung-als-Kunst für das ehemalige Jugoslawien? Und in welchem Verhältnis steht dies zur Performancekunst? Ich möchte zu Drakulićs Beobachtung zurückkehren, dass der Totalitarismus zu einer »Politisierung der Bürger_innen«65 im sozialistischen Jugoslawien führte. Wie meine Analyse gezeigt hat, war dieser Prozess zwar gewaltsam und oppressiv, brachte aber auch Generationen von Künstler_innen hervor, die verstanden, dass Kunst zu machen eine politische Entscheidung bedeutet, die zu Konsequenzen im wirklichen Leben führt und die viele Aspekte der Institutionskritik in der zeitgenössischen Kunst vorwegnahm – sowohl im Osten als auch im Westen. Der Titel meines Beitrages »Eine Frage der Entscheidung. Politische Performance Kunst im sozialistischen Jugoslawien« bezieht sich auf das Leitmotiv der Aktionen Raša Todosijevićs während der 70er Jahre. Die Performancekunst zeigte hier eine besondere Affinität zu mannigfaltigen Formen des politischen Widerstandes in Osteuropa; der Einbezug des Körpers als Kunst stellte die »Transformation figurativer Repräsentation in verkörperte Präsentation«66 dar. Eine solche Verkörperung war eine politische Entscheidung für die Künstler_innen, die unter der beständigen Präsenz des Gespenstes des Staates informierte und mutige 65 Vgl. Slavenka Drakulić: How We Survived Communism and Even Laughed, New York 1993, S. 17. 66 Stiles: »Survival Ethos and Destruction Art«, a.a.O., S. 91.
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Entscheidungen trafen, um zu befragen und zu dekonstruieren, was Kunst sein kann und sollte, und was wir als Menschen tun können, um uns den normativen Parametern sozialer Beziehungen, zivilen Engagements und politischen Bewusstseins zu widersetzen. Ich habe dafür argumentiert, dass aus solchen Entscheidungen als Kunst Formen der Kritik an totalitären Ideologien resultieren – seien dies sozialistische, demokratische oder religiöse, die alle auf patriarchalen Seinskonstruktionen auf bauen und für diese emblematisch sind. Während Todosijevićs Kampf mit dem Wasser den Kampf des osteuropäischen männlichen Künstlers unter dem Totalitarismus verkörperte, warf seine Performance auch die Frage nach einem anderen Gespenst auf: dem der osteuropäischen Frau, die zum Schweigen gebracht wurde und ausdruckslos ist. Demgegenüber kämpfte Iveković mit und gegen politische(n) und künstlerische(n) Formen des Patriarchats. Neben Künstlerinnen wie Vlasta Delimar legte auch sie die operativen Mechanismen der Relationalität und der sexuellen Sitten unter dem Sozialismus offen und drängte unter Einsatz des eigenen Körpers und der eigenen Handlungen hin zu alternativen Modellen des Engagements und der Sozialität. In seiner implizierten Queerness unterlief Stilinović in seiner Arbeit das Patriarchat, indem er mit sozialen Tabus der Maskulinität in den Balkanländern brach – eine Entscheidung, die nicht nur durch die anarchistische Kritik normativer Sexualität und deren Verbindung zu staatlicher Oppression informiert, sondern auch von der staatlichen Aneignung marxistischer Theorien und künstlerischer Arbeit geprägt war. Vielleicht ist es so, dass die Entscheidungen dieser Künstler_innen, Kunst zu machen, die Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen, ihre privaten Körper als Formen der Intervention und des Widerstands gegen die disziplinierenden Maßnahmen von Nationen und Staaten zu offerieren, und nicht zuletzt die Entscheidung selbst als eine Kunst zu begreifen, die einen alternativen Raum für den entschiedenen politischen Kampf hervorbringen konnte, allesamt Foucaults Ausspruch von 1979 bestätigen: »Denn man muss ein wenig unterhalb der Geschichte suchen, was sie zerreißt und bewegt, und zugleich ein wenig hinter der Politik auf das achten, was ihr bedingungslose Grenzen setzt. Das ist nun mal meine Arbeit, und ich bin weder der Erste noch der Letzte, der sie auf sich nimmt. Aber ich habe mich dafür entschieden.«67 Ich hoffe, mich mit diesem Beitrag solchen Denkern an die Seite gestellt zu ha67 Foucault: »Nutzlos sich zu erheben«, a.a.O., S. 992.
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ben, in dieser ›Arbeit‹, im Schauen ›hinter die Politik‹ nach dem, was ihr in der Tat Grenzen setzte: Entscheidung als Kunst. Aus dem Englischen von Sara Ehrentraut
Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Raša Todosijević: Wasser trinken (Pijene Vode, 1974), aus: Raša Todosije vić: Was ist Kunst?, Belgrade 2001, S. 58. Abb. 2. Vlasta Delimar: Fickt Mich (Jebite Me, 1981), aus: Bojana Pejić (Hg.): Gender Check, Wien 2009, S. 171. Abb 3. Sven Stilinović: Ohne Titel (Gebundene Figur) (Bez naziva [Zavezani lik], 1980), aus: Sven Stilinović: I Won’t, Zagreb 2017, S. 102. Abb. 4. Cover der Zeitschrift Studentski List, 1981. Photo: Mijo Vesović, aus: Katalin Cseh-Varga und Adam Czirak (Hg.): Performance Art in the Second Public Sphere. Event-based Art in Late Socialist Europe, London; New York 2018, S. 197.
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Autorinnen und Autoren
Andrea Bátorová arbeitet seit 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften an der Comenius Universität in Bratis lava, Slowakei. Sie promovierte an der Universität Regensburg mit einer Arbeit zur Aktionskunst in der Slowakei in den 1960er Jahren. Zwischen 2007 und 2009 arbeitete sie als wissenschaftliche Volontärin in der Staatsgalerie Stuttgart, wo sie mehrere Ausstellungen kuratierte bzw. mit kuratierte. Von 2011–2017 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungszentrum an der Akademie der bildenden Künste und Design in Bratislava tätig. Sie war Mitglied am DFG-Netzwerk Aktionskunst jenseits des eisernen Vorhangs (2015-2018). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der alternativen und inoffiziellen Kunst der 1960er, 1970er und 1980er Jahre in Mittel- und Osteuropa zur Zeit des realen Sozialismus, insbesondere in der ehemaligen Tschechoslowakei. Zuletzt erschienen: »Outside by Being Inside: Unofficial Artistic Strategies in the Former Czechoslovakia in the 1970s and 1980s«, in: K. Cseh-Varga; A. Czirak (Hg.): Performance Art in the Second Public Sphere (2018); The Art of Contestation. Performative Practices in the 1960s and 1970s in Slovakia (2019). Katalin Cseh-Varga ist promovierte Historikerin und Theoretikerin der visuellen, intermedialen und Performancekunst im sozialistischen Zentraleuropa. Seit April 2019 arbeitet sie als Hertha Firnberg Fellow am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. Ihr dort angesiedeltes Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Denken über Kunst im staatssozialistischen Zentral und Osteuropa. Ihre Monographie mit dem Titel The Hungarian Avant-Garde in Late Socialism: Art of the Second Public Sphere soll 2019 beim Verlag I.B.Tauris erscheinen. Sie lehrt regelmäßig am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Ihre Promotion hat sie 2016 an
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Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs
der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München abgeschlossen. Während ihres Doktoratsstudiums verbrachte sie ein Auslandssemester am University of California Berkeley. Ihre Publikationen befassen sich mit Kunsttheorie und -methodologie im nachstalinistischen Ost-Zentral-Europa, mit der Geistesgeschichte während des Staatssozialismus, Öffentlichkeitstheorie im posttotalitären Zustand, Performance- und Intermedia-Kunst, Archival Studies. Adam Czirak lehrt seit 2011 am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Budapest und Berlin. Von 2007-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«. Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit zu intersubjektiven Blickrelationen in Theater und Performance der Gegenwart. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen in Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Konzepte der Partizipation, Geschichte und Ästhetik der Performancekunst in den staatssozialistischen Ländern Europas. Zwischen 2015 und 2018 leitete er das DFG-Netzwerk Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs. Zuletzt erschienen: Dramaturgien des Anfangens (2015, Mithrsg.); Performance Art in the Second Public Sphere. Event-based Art in Late Socialist Europe (2018, Mithrsg.); Lef t Performance Histories (2018, Mithrsg.); Performance zwischen den Zeiten. Preenactments und Reenactments in Kunst und Wissenschaf t (2019, Mithrsg.) Barbara Gronau ist Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs »Das Wissen der Künste«. 2006 promovierte sie mit einer Arbeit über die Interferenzen von Bildender Kunst und Theater (Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski, Kabakov), die mit dem Joseph Beuys Preis für Forschung ausgezeichnet wurde. Nach Tätigkeiten an der Freien Universität Berlin, der Universität Mainz und der Universität Bern, war sie von 2012-2013 Juniorprofessorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Schnittstellen von Bildender Kunst und Theater, Theorien der Agency und Performanz sowie Epistemologien des Ästhetischen. Zuletzt erschienen: Künste des Anhaltens. Ästhetische Verfahren des Stillstellens (2019 Hrsg.); HOW TO FRAME. On the Threshold of Performance and Visual Arts (2016 Mithrsg.); Szenarien der Energie. Ästhetik
Autorinnen und Autoren
und Wissenschaf t des Immateriellen (2013 Hrsg.). Darüber hinaus war Barbara Gronau als Dramaturgin verschiedener Theaterproduktionen und Kuratorin internationaler Theaterfestivals tätig. Astrid Hackel ist Kulturwissenschaftlerin und Lektorin. Sie studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft sowie Museumskommunikation und -management in Berlin und Toulouse. Promoviert wurde sie an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Inszenierungen des Sehverlusts in Literatur, Theater und bildender Kunst der Gegenwart. Von 2015 bis 2018 war sie Mitglied des DFG-Netzwerks Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs, 2017/18 Lehrbeauftragte für Kunstwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Ästhetik von Performancekunst in den staatssozialistischen Ländern Europas und die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Naoko Tanaka. SchattenTrilogie (2017, Hrsg.); Lef t Performance Histories (2018, Mithrsg.); Gegen die Wand. Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen (2019, Mithrsg.). Kata Krasznahorkai ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich in dem ERC-Projekt »Performance Art in Eastern Europe. History and Theory 1950-1990«. Studium der Kunstgeschichte in Budapest, Berlin, Wien und Hamburg. Promotion an der Universität Hamburg über Walter De Marias Lightning Field zwischen Kunst- und Technikgeschichte (Die Spitze der Blitze, München 2018). Seit 2002 arbeitet sie auch als Kuratorin, u.a. am Ludwig Museum Budapest, Collegium Hungaricum Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in Wissenschaftsgeschichte, Archive der Staatssicherheit als Kunstarchive, Land Art, Performance Art und außermuseale Formen der Kunst. Zuletzt erschienen: »Heightened Alert: The Underground Art Scene in the Sights of the Secret Police – Surveillance Files as a Resource for Research into Artists’ Activities in the Underground of the 1960s and 1970s« (2015); »Kein Land in Sicht. Der Klimawandel, der BND und das Ende der Land Art« (2016); »Tamás St.Auby’s Strike« (2017); »Surveilling the Public Sphere. The First Hungarian Happening in Secret Agents Reports« (2018); Spitze der Blitze. Das Lightning Field zwischen Bild- und Technikgeschichte (2018); Das Happening vor Gericht (2019).
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Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs
Andrej Mirčev studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Belgrad, Rijeka und Zagreb. Er promovierte im Fach Theaterwissenschaft (Internationales Graduiertenkolleg Interart, FU Berlin) mit einer Arbeit über intermediale Raumkonzepte bzw. Wechselwirkungen zwischen bildender Kunst, Theater und Tanz seit den 1960er Jahren. Von 2017-2018 war er Fellow am Internationalen Kolleg Verf lechtungen von Theaterkulturen, wo er zu ikonoklastischen Inszenierungen forschte. Parallel zur wissenschaftlichen Tätigkeit ist Mirčev als bildender Künstler, Dramaturg und Kurator aktiv. Er untersucht Schnittstellen unterschiedlicher Medien (Fotografie, Performance, Tanz, Text und Video) sowie die Möglichkeiten eines kritisch-dialektischen Dialogs zwischen Theorie und Praxis. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raum- und Bildtheorie, Intermedialität, Erinnerung und Archiv, kritische Performancetheorie. Zuletzt erschienen: On Dance, af ter Dance (2016, Hrsg.), Lef t Performance Histories (2018, Mithrsg.). Łukasz Ronduda, ist Kurator am Museum für Moderne Kunst in Warschau und Begründer des Filmarchivs Filmoteka Muzeum. Als Dozent ist er ferner am Institut für Visual Culture an der Akademie für Bildende Kunst in Warschau tätig. Er kuratierte Ausstellungen wie 1, 2, 3 ... Avant-Gardes (Warschau; Stuttgart, Bilbao); KwieKulik: Form Is a Fact of Society (Wroclaw); Operator's Exercise: Open Form Film and Architecture (New York); Star City: Future under Communism (Nottingham); As You Can See. Polish Art Today (Warschau), Into the country (Ankara); Oskar Hansen. Open Form in Architecture, Art and Didactic (Barcelona, Porto) und war für das polnische Pavillon bei der 58 Biennale Venedig ebenfalls als Kurator verantwortlich. Als Regisseur ist er durch die Filme The Performer und Heart of Love bekannt geworden. Zuletzt erschienen: KwieKulik (2012, Mithrsg.); Oskar Hansen – Open Form Architecture, Art and Pedagogy (2014, Mithrsg.); Polish Cine Art: Cinematographic Turn in Polish Contemporary Art (2015, Mithrsg.). Jasmina Tumbas ist wissenschaftliche Assistentin für zeitgenössische Kunstgeschichte und Performance Studies am Institut für Global Gender & Sexuality Studies an der University at Buffalo. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied des Squeaky Wheel Film & Media Art Center. Sie promovierte 2013 in Kunstgeschichte an der Duke University. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind moderne und zeitgenössische Kunstgeschichte und -theorie, Geschichten und Theorien der Performance, Körper- und Konzept-
Autorinnen und Autoren
kunst, Kunst und Aktivismus und feministische Kunst. Sie arbeitet momentan an ihrem Buch I Am Jugoslovenka! Eine visuelle Exegese der Frauenemanzipation während und nach dem jugoslawischen Sozialismus. In Buffalo kuratierte Tumbas Selma Selmans erste Einzelausstellung in den USA (Galerie Dreamland 2016), die anschließend auch in Wien gastierte. Ihre jüngsten Publikationen sind in ArtMargins (2012), Art and Documentation/Sztuka i Dokumentacja (2014), Camera Obscura: Feminism, Culture, and Media Studies (2016), Art in America (2018) und Art Monthly (2019) sowie in den Anthologien Shif ting Corporealities in Contemporary Performance (2018) und Performance Art in the Second Public Sphere (2018) erschienen.
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Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)
Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur + Kritik (Jg. 7, 2/2018) 2018, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4455-5 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4455-9
María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
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Kulturwissenschaft Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., zahlr. Abb. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2
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